Nur Erinnerungen und Steine sind geblieben: Leben und Sterben einer polnisch-jüdischen Stadt: Tarnów 1918-1945 9783506760098, 9783657760091, 3506760092

Dies ist die Geschichte einer Stadt in Polen, Tarnów, in den Jahren 1918-1945, in der die Hälfte der Bevölkerung vor dem

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Nur Erinnerungen und Steine sind geblieben: Leben und Sterben einer polnisch-jüdischen Stadt: Tarnów 1918-1945
 9783506760098, 9783657760091, 3506760092

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Nur Erinnerungen und Steine sind geblieben

FOKUS Neue Studien zur Geschichte Polens und Osteuropas New Studies in the History of Poland and Eastern Europe Publikationsreihe des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften/Series of the Center for Historical Research Berlin of the Polish Academy of Sciences

Herausgegeben von/Series Editor Hans-Jürgen Bömelburg, Maciej Górny, Dietlind Hüchtker Igor Kąkolewski, Yvonne Kleinmann, Markus Krzoska Wissenschaftlicher Beirat/Advisory Board Hans Henning Hahn Dieter Bingen Eva Hahn Joanna Jabłkowska Kerstin Jobst Beata Halicka Jerzy Kochanowski Magdalena Marszałek Michael G. Müller Jan M. Piskorski Miloš Řezník Isabel Röskau-Rydel Izabella Surynt

Band 5

Agnieszka Wierzcholska

Nur Erinnerungen und Steine sind geblieben Leben und Sterben einer polnisch-jüdischen Stadt: Tarnów 1918–1945

Die Autorin: Agnieszka Wierzcholska ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Institut in Paris. Davor arbeitete sie in Lehre und Forschung am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsgebiete sind u.a. Holocaust-Studien und polnisch-jüdische Beziehungen. Umschlagabbildung: Alltag in Tarnów, um 1940, Privatarchiv Marek Tomaszewski

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Freie Universität Berlin, Dissertation, 2019 Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2022 Brill Schöningh, Wollmarktstraße 115, D-33098 Paderborn, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISSN 2698-5020 ISBN 978-3-506-76009-8 (hardback) ISBN 978-3-657-76009-1 (e-book)

Für alle Jüdinnen und Juden aus Tarnów, deren Namen hier nicht erwähnt, deren Geschichten noch unerzählt sind.

Inhalt Vorwort zur Reihe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII ‫ – טארנע‬Tarnów: Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



1 Zeitliche Rahmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Der Ort der Untersuchung: der urbane Raum Tarnów . . . . . . . . . . 6 Der mikrohistorische Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Interaktionsräume im Fokus – zum Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . 16 Ethnizität ohne Gruppen – Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 „Polen – Juden“ – ein schwieriges Begriffspaar . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

teil i Die Zweite Polnische Republik, 1918–1939 1.

Tarnów vermessen – eine Einführung in den Stadtraum . . . . . . . . . 45 1.1 Arbeitswelten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 1.2 Religiöse Welten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 1.3 Sportliche Welten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 1.4 (Stadt-) Raum und Ethnizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 1.5 Private Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

2.

Lokalpolitik und die schrittweise Politisierung von Ethnizität . . . . 87 2.1 Der Stadtrat in der Zweiten Polnischen Republik als Untersuchungsgegenstand für das multiethnische Miteinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 2.2 Der Stadtrat 1918–1933. Ethnische, politische und ökonomische Konfliktpotenziale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2.2.1 Das Erbe der k. u. k. Monarchie: der Tarnower Stadtrat nach dem Ersten Weltkrieg (1918–1924) . . . . . . . . . . . . . . 97 2.2.2 Autonomie der Stadträte in der moralischen Diktatur? Der Stadtrat von Tarnów nach dem Maiputsch 1926 . . . 108 Exkurs: der Bund in Tarnów und das Verhältnis zur PPS  . . . . . . . . . . . 117



viii

Inhalt

2.3 Der demokratische Stadtrat 1933–1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 2.3.1 Die ersten demokratischen Wahlen 1933 . . . . . . . . . . . . . 126 2.3.2 Der Stadtrat nimmt die Arbeit auf (1934–1936)  . . . . . . . 141 2.3.3 Der Fall Silbiger 1936 – und der Antisemitismus in Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 2.3.4 Nach dem Sturz Silbigers – neue Mehrheiten im Tarnower Stadtrat der späten Zweiten Republik . . . . . . 181 2.4 Die Wahlen von 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 2.4.1 Polnische Christliche Vereinigung (Polskie Zjednoczenie Chrzescijańskie – PZCh) . . . . . . . . . . . . . . . 191 2.4.2 Stronnictwo Narodowe – SN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 2.4.3 Vereinter Jüdischer Wahlblock (Zjednoczony Żydowski Blok Wyborczy) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 2.4.4 PPS und Bund/Poale Zion gewinnen die Stadtratswahlen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 2.4.5 Die Arbeit des Stadtrats 1939 und das Ende der Zweiten Polnischen Republik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 3.

Interaktionsraum Schule  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 3.1 Schulen in der Zweiten Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 3.2 Gemeinsam die Schulbank drücken – die allgemeinen Schulen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 3.2.1 Wie Lehrende über jüdische Schüler in der Czacki-Schule schrieben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 3.2.2 Ähnliche Probleme, andere Lösungen: die ersten Jahre der Staszic-Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 3.2.3 Patriotismus, Nation und Religion in den allgemeinen Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 3.2.4 Juden und Katholiken – die Sprache der Lehrendenprotokolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 3.2.5 Pädagogische Konzepte an den Grundschulen . . . . . . . . 245 3.2.6 Die späten 1930er Jahre und der Spießrutenlauf jüdischer Schüler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 3.3 Die Sekundarstufe – staatliche Gymnasien und die Safa Berura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 3.3.1 Safa Berura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 3.3.2 Die staatlichen Gymnasien in Tarnów  . . . . . . . . . . . . . . . 253

Inhalt

ix

teil ii Die Shoah, 1939–1945 4.

Das Fallbeispiel Marian H. und Władysław Ł. oder: Hinführung zum Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 4.1 Methodologische Überlegungen: Besatzungsgesellschaften und Mikrogeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 4.2 Nachtrag: Marian H. und sein Brief an Moczar, oder: Über die Retter und die Fallstricke der Geschichte  . . . . . . . . . . 275

5.

Kriegsbeginn und erste Phase der Verfolgung, Tarnów 1939–1942  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 5.1 Die Präsenz der deutschen Besatzer in der Stadt . . . . . . . . . . . . 284 5.2 Fluchtwellen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 5.3 Die alten Eliten und die Enthauptung der Stadt . . . . . . . . . . . . . 291 5.4 Terror gegenüber der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 5.5 Die Verfolgung der jüdischen Lokalbevölkerung  . . . . . . . . . . . . 302 5.5.1 Der Raub jüdischen Eigentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 5.5.2 Der Judenrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 5.5.3 Die Zerstörung aller Synagogen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 5.5.4 Arbeit, Verpflegung und Alltag in der besetzten Stadt  . . 316 5.6 Radikalisierungsschub 1941 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 5.7 Nähe und Distanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323

6.

Genozid vor der Haustür – die erste „Aktion“ in Tarnów . . . . . . . . . 329 6.1 Der Weg zur „Aktion Reinhardt“ 1942 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 6.2 Vorbereitungsmaßnahmen vor Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 6.3 Die Stempel zum Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 6.4 Die Schauplätze  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 6.4.1 Schauplatz Rynek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 6.4.2 Schauplatz jüdischer Friedhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 6.4.3 Auf Tarnóws Straßen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 6.4.4 Schauplatz Czacki-Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 6.4.5 Schauplatz Zbylitowska Góra  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 6.5 Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 6.6 Die Shoah im Stadtraum und die Reaktionen der nichtjüdischen Bevölkerung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368

x 7.





Inhalt

Das Ghetto, der Zaun und die Beobachtenden. Tarnów in der Zeit der Ghettoisierung (1942–1943) . . . . . . . . . . . . . . 373 7.1 Non-Jewish space: die „arische“ Seite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 7.1.1 Die Hälfte der Stadt und ihre Dinge – der Raub jüdischen Eigentums  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 7.1.2 Die Situation nichtjüdischer Polinnen und Polen 1942 . 391 7.2 The Jewish space – Überleben und Sterben im Ghetto . . . . . . . . 393 7.2.1 Alltag und Jewish agency in Tarnów . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 Einbruch: die zweite „Aktion“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 7.2.2 Alltag von Kindern und Jugendlichen im Ghetto . . . . . . 409 7.2.3 Neue „Eliten“: Judenrat und Ordnungsdienst . . . . . . . . . 412 7.2.4 Selbstbehauptung und Widerstand/Amidah . . . . . . . . . . 421 Einbruch: die dritte „Aktion“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 7.3 Der Zaun und die Beobachtenden – Interaktionsräume zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung während der Ghettozeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 7.3.1 Am Zaun  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 7.3.2 Über den Zaun – auf der „arischen“ Seite . . . . . . . . . . . . . 432 7.3.3 In den Werkstätten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 7.4 „Liquidierung“ des Ghettos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 7.5 Opferzahlen der Shoah in Tarnów . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454

8.

Polen in Uniform: der polnische Baudienst und die Blaue Polizei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 8.1 Die Blaue Polizei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 8.2 Der Baudienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 8.2.1 Forschungsstand zum Baudienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 8.2.2 Der Baudienst im Generalgouvernement . . . . . . . . . . . . . 466 8.2.3 Zwang und Strafe – Kontextualisierung der Handlungsoptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 8.2.4 Beteiligung des Baudienstes an der Judenvernichtung . . 481 8.2.5 „Unsere“ Jungen und der Mord an den Jüdinnen und Juden – soziale Dynamik in den Besatzungsgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492

9.

Den Jüdinnen und Juden helfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 9.1 Die Flucht organisieren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 9.1.1 Die Entscheidung, das Ghetto zu verlassen . . . . . . . . . . . 501 9.1.2 „Arische“ Papiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 9.1.3 Nach Hilfe fragen – agency von Jüdinnen und Juden . . . 513

Inhalt



xi

9.2 Tarnóws Mietshäuser auf der „arischen“ Seite als Interaktionsräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 Exkurs: Die Ambivalenz von Hilfe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 9.3 Wer half? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 9.3.1 Jüdische Kinder und Jugendliche auf der „arischen“ Seite und ihre Helfenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530 9.3.2 Netzwerke aus der Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 9.3.3 Wer also half? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540 9.4 Die dritte Phase der Shoah  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 9.4.1 In der Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543 9.4.2 Tarnower Jüdinnen und Juden außerhalb Tarnóws . . . . 546 9.5 Helfen als dynamischen Prozess erzählen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554

10. Zur Rolle nichtjüdischer Polinnen und Polen während der Shoah – ein Fazit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 10.1 Kräftefeld  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 10.2 Der Abschied vom Bystander – über die Diskussion neuer Kategorien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570 11.

Ausblick: Eine „Geisterstadt“? – Tarnów nach dem Krieg . . . . . . . . 577



Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599

Abbildungsverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619

Quellen- und Literaturverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623



Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655



Personenregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657

Publikationsreihe des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften FOKUS. Neue Studien zur Geschichte Polens und Osteuropas In dieser Buchreihe erscheinen wissenschaftliche Monographien und Sammelbände, die der neuesten Forschung zur Geschichte Polens und Osteuropas gewidmet sind. Die darin veröffentlichten Arbeiten verbinden verschiedene Disziplinen der Kultur- und Sozialgeschichte. Auch wenn der thematische Schwerpunkt der Reihe auf Polen und Osteuropa liegt, so sollen in ihr Arbeiten erscheinen, die die Vergangenheit dieses Teils unseres Kontinents im Rahmen einer möglichst breiten Forschungsperspektive behandeln und auf diese Weise die Forschung zu ähnlichen Themen anderer Regionen Europas inspirieren. In der Buchreihe FOKUS: Neue Studien zur Geschichtlichen Polens und Osteuropas werden u. a. auch herausragende akademische Qualifikationsarbeiten erscheinen, wie z. B. für den Wissenschaftlichen Förderpreis des Botschafters der Republik Polen in Deutschland eingereichte Dissertationen.

‫ – טארנע‬Tarnów: Einleitung Als der Soldat der britischen Streitkräfte Zvi Ankori 1945 nach Tarnów im südöstlichen Polen reiste, stiegen Erinnerungen aus der Vergangenheit in ihm auf. On the right – the residence of Dr. Feig, physician of the Hebrew school […]. The studio of photographer Hutter, the socialist, liked even by his opponents. The home of Janek Borgenicht and Idek Biberberg, Hesiek’s friend.1

Ankori wurde als Hersch Wróbel, genannt „Hesiek“, 1920 in Tarnów geboren und wanderte bereits vor dem Zweiten Weltkrieg nach Palästina aus, wo er seinen Namen änderte.2 Während des Krieges kämpfte er in den Reihen der britischen Streitkräfte und reiste im Herbst 1945 in seine Heimatstadt. Als Ankori die Straßen Tarnóws abschritt, sah er dieselben Gebäude, die ihm aus Kinderjahren vertraut waren, aber die Menschen, die sie noch wenige Jahre zuvor bewohnt hatten, waren nicht mehr da. Vor 1939 blühte in Tarnów das jüdische Leben, annähernd die Hälfte der Stadtbevölkerung war jüdisch gewesen. Doch nahezu alle Jüdinnen und Juden – vermutlich über 27 000 – wurden während der Shoah ermordet. Die Erinnerungen an die einstigen jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner  – im Zitat bewusst im Präsens formuliert  – überlagerten die Realität, die der Reisende Zvi Ankori 1945 erblickte. The nearest street: 3 St. Anna Street – the ‚Safa Berura‘ Hebrew school. The Dr.  Spann lending library. Eva Leibel, the beautiful librarian. […] The Temple where Weinberg officiates as cantor – a prayer house avoided by Orthodox Jews, who wouldn’t even walk near it […]. From there to the Rynek, the Central Square. The cathedral and the Town Hall. The grocery owned by Hannah, whose grandson Buziek, is in Hesiek’s class and youth movement group […] to Żydowska Street. The ‚old Synagogue‘. Dudek Schiff, Hesiek’s classmate.3

Die verschiedenen Zeitschichten, die sich in Ankoris im Jahr 2003 verfassten Erinnerungen überlagern  – der Alltag des jüdischen Lebens in Tarnów in der Zweiten Polnischen Republik, das Bewusstsein um die Verfolgung, Entrechtung und Ermordung der Judenheiten und schließlich die Rückkehr in ein Polen ohne Jüdinnen und Juden – dienen in vielerlei Hinsicht als Metapher 1 Ankori: Chestnuts, S. 207–210. 2 Der hebräische Name „Ankori“ bedeutet so viel wie „Spatz“, bezieht sich also auf denselben signifié wie „Wróbel“ im Polnischen. 3 Ankori: Chestnuts, S. 207–210.

© Brill Schöningh, 2022 | doi:10.30965/9783657760091_002

2

Tarnów: Einleitung

und Inspiration für die vorliegende Studie. Ankori schritt den Stadtraum ab, dessen Gebäude, Straßenzüge und materielle Spuren größtenteils unzerstört geblieben waren, an denen jedoch Erinnerungen hafteten, die von einer vernichteten Welt zeugten. Mit den ins Gedächtnis gerufenen jüdischen Tarnowianerinnen und Tarnowianern der Vorkriegszeit füllte Ankori die Leerstellen vor seinem inneren Auge. Die vorliegende Untersuchung holt die unterschiedlichen Zeitschichten hervor und erzählt die Geschichte einer jüdisch-polnischen Stadt jenseits der Zäsuren von 1939 und 1945 in den lebensgeschichtlichen Zusammenhängen ihrer Bewohnerinnen und Bewohner. Den Gegenstand der vorliegenden Studie bildet die Untersuchung der Beziehungen und Begegnungsräume zwischen der jüdischen und der nichtjüdischen Bevölkerung in Polen in der Zeit von 1918 bis 1945, mit einem Ausblick auf die Nachkriegszeit. Dabei konzentriert sich der Blick der Betrachtenden auf Tarnów, eine mittelgroße Stadt in Südpolen, in der vor dem Zweiten Weltkrieg nahezu die Hälfte der Bevölkerung jüdisch war. Keineswegs geht es hier jedoch um eine Stadtgeschichte. Vielmehr verstehe ich den urbanen Raum als Verdichtungsraum multiethnischer Beziehungskonstellationen, welcher durch ausgewählte „Tiefenbohrungen“ untersucht wird. Es geht in dieser Arbeit darum, einzelne Interaktionsräume, in denen die jüdische sowie die nichtjüdische Bevölkerung agierte, in den Blick zu nehmen und durch eine dichte Quellenanalyse auszuloten, was die Mikrogeschichte hierbei leisten kann. Wenn wir uns näher an die Diskussionen im Stadtrat, in den Klassenraum einer öffentlichen Schule, in Mietshäuser während der Besatzungszeit und andere Orte wagen, inwiefern erblicken wir dann die Beziehungen zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung in einem neuen Licht? Diese minutiöse Quellenanalyse bedeutet aber keineswegs eine Detailbesessenheit um ihrer selbst willen, sondern setzt sich zum Ziel, wie Hans Medick schrieb, „den weiten Horizont zu eröffnen, der über das Dorf oder die lokale Gesellschaft, über die Kleingruppe oder das Individuum als scheinbar abgeschlossene und autonome Handlungseinheiten hinausführt und den Blick auf deren Vernetzung in umfassendere Zusammenhänge ermöglicht“.4

Zeitliche Rahmung

Die Untersuchung überschreitet bewusst historische Zäsuren: Die Dynamik der Interaktionen zwischen Jüdinnen/Juden und Nichtjüdinnen/Nichtjuden werden in der Zeitspanne von 1918, also den Anfängen der Zweiten Polnischen 4 Medick: Quo vadis Historische Anthropologie?, S. 87.

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Republik (Teil I), und während der deutschen Besatzung und der Shoah untersucht (Teil II). Im Anschluss folgt ein Ausblick auf die Nachkriegszeit. 1956 verließen fast alle der noch circa 200 in Tarnów lebenden Jüdinnen und Juden mit der sogenannten Gomułka-Aliyah die Stadt. Alle bis dahin noch in der Stadt verbliebenen jüdischen Institutionen wurden aufgelöst.5 Hier, im Jahre 1956, endet auch die vorliegende Arbeit. Gerade die Analyse der jeweiligen Zeitabschnitte in ihrer Abfolge erlaubt es trotz der Brüche und Zäsuren, die im Vordergrund stehen, nach Kontinuitäten und nach Tendenzen während der gesamten Zeitspanne zu fragen. Bis heute gilt das Thema des Verhaltens der nichtjüdischen Polinnen und Polen gegenüber ihren jüdischen Nachbarinnen und Nachbarn während der Shoah als „explosives Material“, da es neuralgische Punkte der polnischen Identitätskonzeption zu berühren scheint.6 Die Diskussion darüber wird in der polnischen Öffentlichkeit mit aller Heftigkeit geführt. Seit der JedwabneDebatte um das breit diskutierte Buch von Jan  T.  Gross  Nachbarn im Jahre 2000, welches den Mord an den Jüdinnen und Juden des Dorfes Jedwabne durch ihre nichtjüdischen polnischen Nachbarinnen und Nachbarn am 10. Juli 1941 behandelte, bekam das Narrativ einer polnischen Martyrologia Risse.7 Übergeordnete Fragen nach nationalem Selbstverständnis und nach tradierten Geschichtsbildern wurden hierbei verhandelt. Scharfe Auseinandersetzungen um kollektive Identifikationspotenziale wurden in der Öffentlichkeit ausgetragen.8 Würde Jedwabne, als Chiffre für die Erzählung von der polnischen (Mit-)Schuld, nun die Westerplatte, also das polnische Heldenund Opfernarrativ, ersetzen oder würden sie nebeneinander Bestand haben?9 Darüber stritten sich Historikerinnen und Historiker, Publizistinnen und Publizisten sowie zuweilen Familienmitglieder am Esstisch. In der Folge dieser Auseinandersetzung intensivierte sich die Forschung zur Shoah und ihren Nachwirkungen in Polen, dennoch bleibt das Thema weiterhin in der Öffentlichkeit hoch umstritten. Im Spannungsfeld zwischen der „neuen Geschichtspolitik“ einerseits, durch die ein national affirmatives Bild der Vergangenheit 5 Siehe zu 1956 im gesamtpolnischen Kontext: Machcewicz: Polski rok 1956 (besonders Kapitel zum Antisemitismus) und Węgrzyn: Wyjeżdżamy? 6 Kula: Uparta sprawa, S. 5. 7 Gross: Sąsiedzi (im Folgenden zitiere ich die englische Ausgabe: Gross: Neighbors); zu weiteren Studien über die Pogrome in der Region siehe: Machcewicz/Persak (Hg.): Wokół Jedwabnego. 8 Zu den Debatten unmittelbar nach dem Erscheinen des Buches: Polonsky/Michlic (Hg.): The Neighbors. 9 Stellvertretend für diese Auseinandersetzung: Machcewicz: Westerplatte und Jedwabne!; Nowak: Westerplatte oder Jedwabne?

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propagiert wird, und der kritischen Aufarbeitung durch Historikerinnen und Historiker sowie Kulturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler andererseits werden weiterhin kontroverse und emotionale Debatten über Geschichtsund kollektive Selbstbilder ausgefochten.10 In diesen Kontroversen zum Verhalten nichtjüdischer Polinnen und Polen gegenüber Jüdinnen und Juden während der deutschen Besatzung betonten Historikerinnen und Historiker wiederholt, dass der Themenkomplex erst dann angemessen beschrieben werden kann, wenn  – verkürzt gesagt  – die „polnisch-jüdische Beziehungsgeschichte“11 in einem breiteren zeitlichen Rahmen und größeren Kontext untersucht wird. Genau hier setzt die vorliegende Arbeit an. Als deutsche Truppen im Jahre 1939 Polen besetzten, schritten sie nicht in „luftleere“ Räume ein, sondern marschierten in Städte ein, die ein gewachsenes, soziales Gewebe hatten. Die Zweite Polnische Republik war ein Nationalitätenstaat gewesen, die urbanen Räume waren seit Generationen multiethnisch und multireligiös geprägt. Neben den vielfachen Begegnungen, Schnittstellen und Verflechtungen in der Stadt existierte auch Feindseligkeit gegenüber Jüdinnen und Juden: Antisemitische Muster waren in der polnischen Kultur, in der Katholischen Kirche, im nationalen Gedankengut verankert. Als zudem der nationalisierende polnische Staat verstärkt auf die „Hebung“ der sogenannten Titularnation setzte, traten Exklusion und Diskriminierung gegenüber den Jüdinnen und Juden vermehrt auf und eskalierten zusehends in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre. Auch in Tarnów wurden antisemitische Praktiken sowie Gewalt- und Ausschlusserfahrungen im Alltagsleben spürbarer. Zunehmend formierten sich rechtsnationale Kreise und agierten im öffentlichen Raum. Was passierte mit diesen Mustern der Anfeindungen seitens nichtjüdischer Polinnen und Polen unter deutscher Besatzung seit 1939, wie wurden diese von den neuen Machtkonstellationen und der deutschen Gewaltherrschaft überlagert? Welche Netzwerke aus Vorkriegszeiten erwiesen sich dagegen als resilient? Welche Handlungsoptionen hatten die Bewohnerinnen und Bewohner und welchen Eigensinn legten sie an den Tag? Die sozialen Konstellationen innerhalb der ethnisch gemischten Lokalbevölkerung während der Shoah können kaum erzählt werden, wenn die soziale Beschaffenheit dieser Gesellschaften vor dem Krieg ignoriert wird. Der 10 11

Über den langfristigen Backlash infolge der Jedwabne-Debatte siehe Forecki: Po Jedwabnem. Der Begriff der Beziehung impliziert eine symmetrische Konstellation, was jedoch die Machtverhältnisse zwischen dominierender Mehrheitsgesellschaft und Jüdinnen und Juden in Polen verschleiert, weshalb der Begriff insbesondere für die Zeit der deutschen Besatzung unpassend ist. Deshalb ist er hier in Anführungszeichen gesetzt.

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Blick auf die besetzten Gesellschaften im Zweiten Weltkrieg aus der bottomup-Perspektive erlaubt zudem, sich der Frage zu nähern, was im Einzelnen in den Städten und Städtchen im Generalgouvernement passierte und welche sozialen Dynamiken die NS-Besatzung innerhalb der Lokalbevölkerung auslöste. Schließlich fand die Ermordung des jüdischen Teils der Bevölkerung – in Tarnów war es die Hälfte der Stadt  – durch die deutschen Besatzer vor den Augen ihrer nichtjüdischen Nachbarinnen und Nachbarn statt. Welche Konsequenzen brachte dieser Massenmord für die Stadt mit sich? Die soziale Dynamik unter der Lokalbevölkerung während der NS-Besatzung ist ein bedeutender Teil der Shoah-Geschichte, obschon häufig in der deutschen Täterforschung marginalisiert. Die Zweite Republik und die Shoah bis 1945 bilden den Kern der vorliegenden Untersuchung. In einem Ausblick am Schluss soll gerade danach gefragt werden, was in den Städten passierte, als die deutschen Besatzer diese 1944 bzw. 1945 verließen. Wer füllte die Leerstellen hinter den Ermordeten? Wie bauten sich die Überlebenden – die wenigen jüdischen und die mehrheitlich nichtjüdischen – ihr Leben wieder auf? Und wie gestalteten sich dann die Interaktionen zwischen dem jüdischen Teil der Bevölkerung und dem nichtjüdischen Teil? Der Wiederaufbau geschah nunmehr in Städten, die das erste Mal in ihrer Geschichte ethnisch-national fast homogen waren. Die Gewalt und der Antisemitismus in Polen in den unmittelbaren Nachkriegsjahren sind ohne die moralischen und materiellen Verwüstungen, ohne die menschlichen Verluste, welche die NS-Besatzung hinterlassen hat, nicht zu verstehen. Die Studie an einem Ort zu bündeln, erlaubt es daher, die unterschiedlichen Zeitabschnitte gerade in ihrer verheerenden Abfolge zu untersuchen und durch die mikrohistorische Perspektive diverse Akteurinnen und Akteure in ihrer Interaktion miteinander über Zäsuren hinweg in den Blick zu nehmen. Jene, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit in den Städten lebten, waren in der Zweiten Polnischen Republik groß geworden und gingen mit diesem Erfahrungsraum in den Krieg hinein. Aus ihrem Blickwinkel können die Jahre also durchaus in lebensgeschichtlichen Zusammenhängen erzählt werden. In der Arbeit steht also die polnisch-jüdische Stadtbevölkerung im Fokus, und zwar bevor die deutschen Besatzer diese unterwarfen und ermordeten, während der Gewaltherrschaft und auch nachdem die Besatzer wieder abgezogen waren. Gerade für den deutschen Leserkreis ist diese Perspektive insofern bereichernd, als dass die Opfer des deutschen Vernichtungskriegs nicht nur in eben dieser Opferrolle gezeigt werden, sondern in einem breiteren Licht: als Menschen, die vor dem Krieg ein eigenes Leben führten, und – sofern sie überlebten – sich in diesem Überlebt-Haben voller Verluste einrichten mussten.

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Der Ort der Untersuchung: der urbane Raum Tarnów

Die Geschichte der Städte in Polen bietet ein alternatives Erzählmuster zum nationalen Masternarrativ der Geschichte der (ethnischen) Polinnen und Polen. Die Städte zeigen auf, wie verflochten die Welten der Jüdinnen und Juden mit denen der nichtjüdischen Polinnen und Polen waren. Die Zweite Polnische Republik war ein Nationalitätenstaat: Über  30  % aller polnischen Staatsbürgerinnen und -bürger gaben in der Volkszählung von 1931 eine andere Sprache als Muttersprache und eine andere Konfession als römischkatholisch an.12 Fast  10  % der Gesamtbevölkerung der Zweiten Polnischen Republik deklarierte das Judentum als Religionszugehörigkeit und 8,6  % Jiddisch oder Hebräisch als Muttersprache.13 Eine Mehrheit von 76,4  % der über drei Millionen Personen zählenden jüdischen Bevölkerung lebte dabei in Städten. Dagegen lebten 78 % der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung auf dem Land.14 In den Großstädten stellten Jüdinnen und Juden einen Anteil von rund einem Viertel bis zu einem Drittel der Population dar. In Warschau lag der Anteil jüdischer Bewohnerinnen und Bewohner bei 29–33 % während der Zweiten Republik,15 in Krakau bei ca. 25–26 %16 und in Lwów bei ca. 33 %.17 In vielen Kleinstädten im Osten Polens bestand die Mehrheit der Bewohnerinnen und Bewohner aus Jüdinnen und Juden, wie in Izbica (Wojewodschaft Lublin) 12

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10,1 % der Staatsbürger der Zweiten Polnischen Republik gaben Ukrainisch als ihre Muttersprache an, 3,8  % Ruthenisch, 3,1  % Belarussisch, 2,3  % Deutsch und 0,4  % Russisch. Daten aus: Historia polski w liczbach, S. 159. Welche Sprache „Ruthenisch“ neben dem Ukrainischen und Belarussischen war, bleibt unklar, vielleicht sollte so der Anteil an Ukrainerinnen und Ukrainern in der Gesamtbevölkerung verschleiert werden. Die Volkszählung von 1921 erhob Daten nach Nationalität, einschließlich jüdischer Nationalität. Die Daten waren wie folgt: 69,2 % Polnisch, 14,3 % Ruthenisch, 3,9 % Belarussisch, 3,9 % Deutsch, 7,8 % Jüdisch, siehe ebd., S. 157. 1931 wurde auch die Konfession der Bürgerinnen und Bürger erhoben: Laut der Volkszählung waren rund 64,8  % römisch-katholisch, etwas über 10,4 % griechisch-katholisch, 11,8 % russisch-orthodox und 2,8 % evangelisch. Mit jüdisch gaben 9,8  % der Bürgerinnen und Bürger ihre Religionszugehörigkeit an, siehe ebd., S. 161. Für 1921 lauten die Angaben zur Konfession wie folgt: 63,8 % römischkatholisch, 11,2  % griechisch-katholisch, 10,5  % russisch-orthodox, 3,7  % evangelisch, 10,5 % jüdisch, siehe ebd., S. 158. Hebräisch war wahrscheinlich eine national-politische Deklaration, kaum jemand konnte im Jahr 1931 Hebräisch als Muttersprache gehabt haben. Wie problematisch eine Volkszählung auf Grundlage der Muttersprache sein kann, siehe Tomaszewski: Niepodległa, S. 157–158. Sienkiewicz (Hg.): Atlas Historii Żydów, S. 253. Polonsky: Warsaw. Brzoza: Jewish Participation, S. 213. Manekin: L’viv.

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mit 84–92 %,18 in Piaski mit 71 % oder in Biłgoraj mit 60–66 %.19 In Tarnów bildeten Jüdinnen und Juden im Jahr 1936 ca. 47 % der Gesamtbevölkerung.20 Jüdinnen und Juden waren also vor allem eine urbane Bevölkerung, und die Stadt war ein Raum, in dem sich verdichtet inter-ethnische Interaktionen im Alltag abspielten. Zugleich war in den urbanen Räumen die ethnische Zusammensetzung eine gänzlich andere als auf Gesamtlandesebene. Zuweilen waren Minderheits- und Mehrheitsverhältnisse umgedreht: Die polnische „Titularnation“ konnte durchaus eine Minderheit darstellen. Weder der ökonomische Kreislauf noch die Lokalpolitik oder der Alltag der Städte in Polen lassen sich „ohne Jüdinnen und Juden“ überhaupt erzählen. Erst durch das Prisma des urbanen Raums wird erkennbar, wie sehr die Lebenswelten der Jüdinnen und Juden ein integraler Bestandteil der Geschichte Polens sind. Im östlichen Europa gab es vor dem Zweiten Weltkrieg im Grunde seit Jahrhunderten keinen städtischen Raum, der ethnisch, religiös und/oder im modernen Sinne „national“ homogen gewesen wäre. Die Erfahrung von Alterität in der Stadt war seit Generationen etwas „Normales“ und alltäglich Erlebtes. Netzwerke, interethnische Allianzen und gemeinsame städtische Politik waren das Alltagsgeschäft dieser Städte. Bereits in den 1920er und 1930er Jahren forderten daher jüdische Historiker zunehmend, Städte stärker in den Fokus historischer Untersuchungen zu rücken.21 Majer Bałaban widmete sich der Geschichte Lublins und Krakaus, Mojżesz Schorr schrieb über Przemyśl und der aus Buczacz stammende und in Nowy Sącz aufgewachsene Emanuel Ringelblum schrieb vor dem Zweiten Weltkrieg über Warschau.22 Auch Raphael Mahler, Filip Friedman und Bałabans Studierende widmeten ihre Abhandlungen Städten wie Sanok, Częstochowa oder Żurawno.23 Die Schriften zur urbanen Geschichte, die diese Historiker hervorbrachten, schufen zugleich eine „intellectual landscape in which Jews were part of Poland’s landscape“.24 Die vorliegende Studie zu Tarnów leistet einen Beitrag dazu, eine integrierte Geschichte Polens zu schreiben, denn in ihr werden jüdische und nichtjüdische urbane Akteurinnen sowie Akteure in den Blick genommen und ihre Interaktionsräume und Verflechtungen untersucht. 18 19 20 21 22 23 24

https://sztetl.org.pl/en/towns/i/668-izbica/100-demography/20857-demography (letzter Zugriff: 02.04.2019). https://sztetl.org.pl/en/towns/b/1911-bilgoraj/100-demography/20380-demography (letzter Zugriff: 02.04.2019). ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT: 44 Ewidencja ludności, 24.04.1936. Aleksiun: Setting the Record Straight. Ebd., S. 137–138. Ebd., S. 138–139. Ebd., S. 128.

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Warum ausgerechnet Tarnów? Bevor die Recherche zur vorliegenden Arbeit begann, stand das Forschungsdesign fest: In dieser Untersuchung sollten das Geflecht von Begegnungen, Beziehungen und Interaktionen zwischen Jüdinnen/Juden und Nichtjüdinnen/Nichtjuden in einer Stadt vor dem Krieg, während des Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit analysiert werden. Wichtig war dabei, dass der Ort dieser Untersuchung nicht in die Großstädte Polens, wie Warschau, Krakau, Łódź oder Lublin, verlagert wird. Zum einen sind diese zum Teil bereits untersucht worden. Zum anderen sollte gerade eine Stadt in den Blick geraten, die „weitab vom Schuss“ war und in der keine Institutionen oder Entscheidungsträger ihren Sitz hatten, die auf ganz Polen Ausstrahlungskraft besaßen. Denn erst aus dieser Sicht kann deutlicher gezeigt werden, inwiefern dennoch das Gewöhnliche, der Alltag und die „kleinen“ Leute in allgemeinere Zusammenhänge verflochten sind. Allzu klein durfte die Stadt allerdings nicht sein, damit das Quellenmaterial für das Forschungsvorhaben ausreicht. Weitere Auswahlkriterien waren: Die Stadt sollte vor und nach dem Zweiten Weltkrieg in den Grenzen des polnischen Staates liegen, um eine Vergleichbarkeit der Vor- und Nachkriegszeit gewährleisten zu können. In der Stadt sollten auch nach dem Krieg Jüdinnen und Juden leben und ein jüdisches Kreiskomitee bestehen, um für die Nachkriegszeit nicht nur eine Geschichte der Leere zu erzählen, sondern auch um die Versuche der jüdischen Überlebenden, sich dort wieder ein Leben aufzubauen, einschließen zu können. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es nicht mehr sehr viele mittelgroße Städte mit einer jüdischen Community, die sowohl vor 1939 als auch nach 1945 in den Grenzen Polens lagen. Nach einer ersten Sichtung von Quellen im Archiv des Jüdischen Historischen Instituts zu Siedlce, Chełmno, Nowy Sącz und Tarnów fiel die Entscheidung aufgrund der Quellenlage auf Tarnów. Tarnów liegt ca. 80  km östlich von Krakau, auf der Bahnlinie Krakau  – Tarnów  – Przemyśl  – Lwów. Die ersten Erwähnungen jüdischer Bewohner stammen aus dem 15. Jahrhundert. Der im 16. Jahrhundert angelegte jüdische Friedhof ist bis heute erhalten. Die alte Synagoge, die sich nur einige Meter vom Marktplatz im Zentrum der Stadt befand und bis zu ihrer Zerstörung durch die deutschen Besatzer 1939 als Gebetshaus fungierte, wurde im 17. Jahrhundert erbaut. Vor dem Ersten Weltkrieg gehörte Tarnów zum Königreich Galizien und Lodomerien und damit zum österreichischen Teil der k. u. k. Monarchie. Nach 1918 lag Tarnów nunmehr in der Zweiten Polnischen Republik. 1936 zählte Tarnów ca. 53  000 Einwohnerinnen und Einwohner, wovon 52 % römisch-katholische Polinnen und Polen waren, während 47 %,

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also ca. 25  000 Menschen, jüdisch waren.25 Andere Minderheiten waren so klein, dass sie kaum ins Gewicht fielen. Während des Zweiten Weltkrieges befanden sich über 30 000 Jüdinnen und Juden in Tarnów, was vermutlich zu dem Zeitpunkt die Anzahl der nichtjüdischen Lokalbevölkerung überstieg.26 Innerhalb eines halben Jahres – zwischen Juni 1942 und Januar 1943 – wurden rund 80 % aller Jüdinnen und Juden von Tarnów ermordet, oft vor den Augen ihrer nichtjüdischen Nachbarinnen und Nachbarn. Kurz nach dem Ende der deutschen Besatzung der Stadt, im Februar 1945, zählte Tarnów nur noch 232 Jüdinnen und Juden. Dies entspricht etwas weniger als 1 % der jüdischen Vorkriegsbewohnerinnen und -bewohner Tarnóws. Dies ist also auch eine Erzählung über die radikalen Brüche und Veränderungen der Stadtgesellschaften in Polen im Zweiten Weltkrieg am Beispiel Tarnóws. Die Judenheiten Polens, die zu 78 % in Städten gelebt hatten, stellten eine sogenannte middlemen minority dar und ihre Eliten verkörperten die städtische Bürgerlichkeit. Diese jüdische urbane Bevölkerung wurde während der Shoah durch die deutschen Besatzer fast vollständig ermordet. Die Bevölkerungszusammensetzung der Städte im Nachkriegspolen veränderte sich dadurch enorm. Eine breite Umschichtung fand statt, und neue Aufstiegschancen für nichtjüdische Polinnen und Polen vom Land wurden nach dem Krieg möglich. Diesen Prozess in den urbanen Räumen benennt Andrzej Leder als Teil einer „Revolution im Wachtraum“, die sich zwischen den Jahren 1939 und 1956 vollzog.27 Die vorliegende Studie über eine mittelgroße polnische Stadt leistet einen Beitrag zum Verständnis, wie dieser Prozess im Einzelnen vor sich ging.

Der mikrohistorische Ansatz

Die Untersuchung einer 53 000 Menschen zählenden Stadt ist kaum als Mikrohistorie zu bezeichnen. Diese Arbeit versteht sich daher weder als Stadt- noch als Lokalgeschichte, in der umfassend und wie in einem Panorama möglichst viele Aspekte der Beziehungen zwischen der jüdischen und nichtjüdischen 25

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1936 stellte die Stadt genau 53 230 Einwohnerinnen und Einwohner, die prozentuale Aufteilung nach Religion gab 1936 das statistische Büro der Stadtverwaltung heraus: ANKr. Odd. T. (Archiwum Narodowe w Krakowie, Oddział w Tarnowie) 33/1/ZMT (Zarząd Miasta Tarnowa): 44 Ewidencja ludności, 24.04.1936. Hembera: Die Shoah, S. 189. Leder: Prześniona rewolucja.

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Stadtbevölkerung dargestellt werden. Vielmehr nutze ich den mikrohistorischen Ansatz, um einzelne, ausgewählte Interaktionsräume dieser urbanen Gesellschaft, in denen sich Jüdinnen/Juden und Nichtjüdinnen/ Nichtjuden begegneten und miteinander agierten, zu untersuchen. In diese ausgewählten Interaktionsräume zoomen wir immer kleinteiliger hinein, um so dicht wie möglich an die historischen Akteurinnen und Akteure, an deren Wahrnehmungen von der Welt und deren Handlungsoptionen zu gelangen. Während der Recherche zum Thema fand ich es zunehmend reizvoller, die Möglichkeiten der Mikrogeschichte an ausgewählten Beispielen auszuloten. Die erste Studie zum Stadtrat wurde durch einen Quellenfund inspiriert, der sich mir auf den ersten Blick nicht erschlossen hat. Es war mir zunächst unverständlich, warum der Vizepräsident der Stadt Tarnów, Zygmunt Silbiger, im Jahr 1936 seinen Posten räumen musste. Die Argumente, die während der Debatten im Stadtrat ausgefochten wurden, blieben für mich merkwürdig verschlüsselt. Robert Darntons Ausgangpunkt zu seiner Studie über Arbeiter im vorrevolutionären Frankreich war ein Witz, den sich Drucker über ein Katzenmassaker erzählt hatten und den Darnton nicht verstand. Bekanntlich ist es nie sinnvoll, wenn ein Witz erst erklärt werden muss, aber Darntons Erklärung gab den Lesenden einen tiefen Einblick, wie Arbeiter den Aufstand probten, um den Verfasser zu paraphrasieren, und er leistete damit einen Beitrag zur neuen Kulturgeschichte Frankreichs.28 Das Nicht-Verstehen leitete zum großen Teil auch mein wissenschaftliches Interesse. Ich entschied mich, von diesem Quellenfund, der sich letztlich aus einem close reading der Protokolle des Stadtrats ergab, auszugehen und in minutiöser Rekonstruktion aus dem Schicksal eines Einzelnen zu größeren und übergeordneten Fragen zu gelangen. Die Analyse des Silbiger-Falls führte mich letztlich zu einer Geschichte der schrittweisen Politisierung von Ethnizität und der Aushandlung von Teilhabe durch Jüdinnen und Juden in der lokalpolitischen Arena der Zweiten Polnischen Republik.29 Erst die dichte Beschreibung der ausgewählten Interaktionsräume und die Analyse der Verflechtungen in größere Zusammenhänge förderten neue Erkenntnisse zutage, da sie den großen strukturellen Erklärungsmustern zum Teil zuwiderliefen. Die Aushandlungsprozesse im Stadtrat funktionierten ganz anders als in den repräsentativen Gremien auf Landesebene wie dem Sejm. In der Stadt waren die ethnischen Mehrheits-/Minderheitsverhältnisse 28 29

Darnton: The Great Cat Massacre. Arena verstehe ich hier in Anlehnung an die Definition von Karsten Holste, Dietlind Hüchtker und Michael G. Müller als begrenztes und performativ gestaltetes Handlungsfeld von Akteurinnen und Akteuren (Eliten), die besonderen Regeln folgen. Arenen sind damit Schauplätze der Inszenierung und der Praktiken von Sinnstiftung und Legitimation, Vgl. Holste/Hüchtker/Müller: Aufsteigen und Obenbleiben, S. 10.

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gänzlich verschieden von denen auf Landesebene – immerhin war in Tarnów fast die Hälfte der Wählerschaft jüdisch. Zuweilen mussten große Ideologien dem alltäglichen Pragmatismus weichen. Zugleich bildete ein zunehmend nationalisierender Staat, in dem die Diskriminierung von Jüdinnen und Juden immer deutlicher zutage trat, den Rahmen dieser Aushandlungen. Wie agierten die Menschen vor Ort in der Realität einer multiethnischen Stadt und wie und durch welche lokalen Akteurinnen und Akteure setzte sich der nationalisierende Staat durch? Diese Herangehensweise, von dem Einzelnen oder der Kleingruppe auszugehen und nach den Verflechtungen in größere Zusammenhänge zu fragen, unterscheidet den mikrohistorischen Ansatz von der Lokalgeschichte, denn letztere hat einerseits die ganze Stadt oder zuweilen auch Region im Fokus. Andererseits bleibt sie auf das Lokale begrenzt und zielt nicht darauf ab, die Verflechtung eines Einzelfalls in umfassendere Zusammenhänge herauszuarbeiten. Allzu oft tendieren Lokalhistoriker in der Praxis zudem dazu, die urbane Bevölkerung a  priori in separate ethnische bzw. religiöse Gruppen zu unterteilen und sie jeweils aus der „eigenen“ Perspektive zu beschreiben, beispielsweise der ethnischen Polinnen und Polen. Die jüdische Bevölkerung wird dann (wenn überhaupt) als „Minderheit“ in separaten Abschnitten abgehandelt. Oder andersherum können das jüdische Leben und jüdische Institutionen wie die kehillah (die jüdische Gemeinde) beschrieben werden. Die vorliegende Studie beleuchtet explizit jene Räume der Interaktion, in denen Jüdinnen/Juden und Nichtjüdinnen/Nichtjuden dieser urbanen Gesellschaft zusammenkamen, sich begegneten und Teilhabe aushandelten oder in denen eben die Asymmetrie der Beziehungsstrukturen sichtbar wurde. Hierbei spielte sowohl das Lokale als auch das Übergeordnete eine Rolle – etwa die wirtschaftlichen Abhängigkeiten oder die politische Lage in Polen, zuweilen auch in ganz Europa. Gerade die Mikrohistorie biete eine qualitative Erweiterung der historischen Erkenntnismöglichkeiten, schrieb Hans Medick, denn hier könnten die „Wechselbeziehungen kultureller, sozialer, ökonomischer und politischherrschaftlicher Momente als lebensgeschichtlicher Zusammenhang“ untersucht werden.30 Das bedeutet, dass nicht der Untersuchungsgegenstand „mikro“ ist (hier sind es die Beziehungsdynamiken zwischen Jüdinnen/ Juden und Nichtjüdinnen/Nichtjuden in Polen), sondern der Untersuchungsmaßstab (Tarnóws Interaktionsräume).31 Denn in der Mikrogeschichte wird dezidiert nicht die Bedeutung von Makroprozessen negiert. Um Hans Medick 30 31

Medick: Mikro-Historie, S. 45. Zu einer Reflexion über den Maßstab in der Geschichte siehe auch das mittlerweile zum Standardwerk avancierte Buch von Revel (Hg.): Jeux d’échelles; zum Verhältnis zwischen

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noch einmal zu paraphrasieren: Der Einzelne oder eine Kleingruppe waren keine „autonomen Handlungseinheiten“.32 Sie waren auf vielfältige Weisen in die sie umgebende Gesellschaft eingebunden: Die ökonomische Situation (des Einzelnen, der Berufsgruppe, der Region, des Staates), der politische Kontext sowie kulturelle Wert- und Normvorstellungen prägten die Menschen und ihr Handeln. Von diesem Einzelnen auszugehen und die Verflechtung in größere Zusammenhänge zu analysieren und zu erläutern, ist Ziel der Mikrogeschichte. Damit wird in einer mikrohistorischen Studie weit mehr als der Einzelfall beschrieben und erklärt, denn hierbei werden der Kontext, die Mechanismen, die Interdependenzen, mit einem Wort: die relevante Welt, in welcher der jeweilige Einzelfall so möglich geworden ist, untersucht. Zugleich erkennt man aus dieser Perspektive den Einzelnen (oder die Kleingruppe) als historisches Subjekt an und fragt nach dessen Handlungsoptionen und Wahrnehmungen und nach der Gesamtheit seiner Interaktionen mit der sozialen Welt. Dabei geht es in der Mikrogeschichte nicht um repräsentative Fallbeispiele, sondern darum, die vielfältigen Vernetzungen des Einzelnen nachvollziehbar zu beschreiben. Dieser Perspektivwechsel hat Tradition: Die Mikrogeschichte entwickelte sich in den 1970er und 1980er Jahren zunächst als eine Art Gegenrichtung zur Sozialgeschichte. Zeichnete die strukturgeschichtliche Forschung die „großen Linien“ der Entwicklung der Moderne nach, so sah Carlo Ginzburg, dessen 1976 veröffentlichtes Buch Der Käse und die Würmer den mikrohistorischen Ansatz auch über die Grenzen Italiens hinweg populär machte, die Hinwendung zur kleinteiligen Analyse auch als „Reaktion auf das Zerbrechen von Fortschrittsgläubigkeit“.33 In der Mikrogeschichte sollte es gerade nicht darum gehen, die großen quantifizierbaren Strukturen zu erkennen und eine Totalgeschichte der Gesellschaft zu schreiben. Der mikrohistorische Ansatz stellte vielmehr das Individuum oder die Kleingruppe als Subjekte der Geschichte in den Fokus. Es ging darum zu erkennen, wie der Einzelne oder die Kleingruppe sich in der Welt verorteten, welche Eigeninitiativen sie an den Tag legten und in welchen Interaktionsfeldern sie agierten. Diese Hinwendung zum Einzelnen und weg von der Gesamtgeschichte bedeutete einen methodologischen Perspektivwechsel, eine Suche nach neuen Narrativen der Geschichtsschreibung.34 Neue Fragestellungen traten in den Vordergrund. In

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Mikro- und Makrogeschichte siehe auch Meier: Notizen zum Verhältnis von Makro- und Mikrogeschichte. Medick: Quo vadis, S. 87. Schulze: Einleitung, S. 10; Vgl. Ginzburg: Der Käse und die Würmer. Eine Überblicksdarstellung zu den Anfängen der Mikrogeschichte in Italien und ihre Rezeption im Ausland bietet Kroll: Die Anfänge der microstoria.

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den 1980er Jahren erschienen mit Robert Darntons Das große Katzenmassaker und Giovanni Levis Das immaterielle Erbe. Eine bäuerliche Welt an der Schwelle zur Moderne weitere Arbeiten, die heute als Meilensteine der Mikrohistorie angesehen werden.35 Allen hier erwähnten Autoren war gemein, dass sie neue Akteure, wie Müller, Bauern und Drucker, deren Wahrnehmung der Welt und die von ihnen hinterlassenen, vereinzelten Quellen für die Geschichtswissenschaft „entdeckten“. Es handelte sich also zugleich um eine Betrachtung von Gesellschaftsgruppen, die nicht den Eliten angehörten und deswegen lange Zeit nicht als „Motoren“ der Geschichte angesehen wurden. Sie wurden nun auch nicht mehr als gesamte Schichten oder Klassen untersucht, sondern in ihrer Subjektivität in der Welt. Diese sozialen Gruppen hinterließen jedoch meistens wenige Quellen. Die Historiker machten es sich daher zur Aufgabe, aus den wenigen Quellen eine kontextualisierte Erzählung zu entwickeln. Diese induktive Methode erwies sich als Vorteil und leistete das, was Giovanni Levi als experimental bezeichnete, da es nicht darum gehe, „observed cases to an existing law“ anzupassen.36 Denn im mikrohistorischen Ansatz geht es nicht darum, im Kleinen das Große zu zeigen. Der Perspektivwechsel erlaubt es vielmehr, die Handlungen des Einzelnen und der Kleingruppen zu verstehen und sie dann in größeren Zusammenhängen zu kontextualisieren. Das führt zuweilen zu Erkenntnissen, die denen aus der strukturgeschichtlichen Perspektive zuwiderlaufen. Bis heute gibt es nicht die eine allgemeingültige Definition von Mikrogeschichte. Sie entfaltete sich in diversen Ländern unterschiedlich, indem jeweils andere Schwerpunkte gesetzt wurden.37 In Deutschland wurden die Ansätze der Mikrogeschichte mit der Alltagsgeschichte der 1970 und 1980er Jahre verbunden, der Geschichte von unten und von den „kleinen Leuten“. Ab den 1990er Jahren prägte vor allem die historische Anthropologie, wiederum federführend durch Hans Medick, die Mikrogeschichte in der deutschen Forschungslandschaft.38 Auch methodisch schöpfte die Mikrohistorie aus dem Repertoire der Anthropologie, vor allem der Ansatz der dichten Beschreibung, wie ihn Clifford Geertz konzeptualisierte, fand Eingang in historische

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Darnton: The Great Cat Massacre; Levi: Das immaterielle Erbe. Levi: On Microhistory, S. 99. Vgl. Ginzburg: Mikro-Historie; zu den unterschiedlichen Entwicklungslinien der Mikrogeschichte in unterschiedlichen Wissenschaftskulturen siehe Trivellato: Microstoria/ Microhistoire/Microhistory. Vgl. Schulze: Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte; Medick: Quo vadis; Medick: Historische Anthropologie.

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Untersuchungen.39 Winfried Schulze fasste pointiert die Forschungsantagonismen zwischen Sozial- und Mikrogeschichte zusammen, als er schrieb, Mikrohistoriker nahmen „für sich in Anspruch, durch die Methodik einer der anthropologischen Forschung entlehnten ‚dichten Beschreibung‘ jene begriffliche Vergewaltigung der historischen Welt zu vermeiden, die sie als Merkmal der bisherigen ‚klassischen‘ Sozialgeschichtsforschung ausmachten.“40 Auch in der vorliegenden Studie werden die Interaktionsräume durch ein close reading der Quellen zum Teil dicht beschrieben. Da die Mikrogeschichte in Deutschland stark von der Anthropologie geprägt wurde und gerade in dieser der subjektive Standort des Forschenden von Bedeutung ist, verwende ich in der vorliegenden Arbeit – wenn notwendig – die „ich“-Form und mache meinen Standpunkt zu den Quellen als Historikerin transparent. Inzwischen erweiterten Mikrohistorikerinnen und -historiker den Untersuchungsgegenstand und definierten den Ansatz vor allem durch die methodologische Perspektivierung. Längst liegt der Fokus nicht mehr ausschließlich auf marginalisierten, sozial nicht privilegierten Akteurinnen oder Akteuren. So konnte Angelika Epple beispielsweise überzeugend darstellen, warum ihre Geschichte der erfolgreichen Unternehmer Stollwerck  – der, wie sie selbst schrieb, „dead white men“ –wegen ihres methodischen Zugangs zu den Quellen durchaus als Mikrogeschichte zu verstehen ist, zumal als „Mikrogeschichte der Globalisierung“.41 Denn sie zielte darauf ab, ein „Geflecht an Interaktionen“ zu rekonstruieren, indem sie die subjektive Weltsicht und individuelles Handeln und das soziale Gefüge ihrer Akteure in einer sich verändernden Welt um die Jahrhundertwende integriert betrachtete.42 Die vorliegende Arbeit erweitert insofern den Gegenstand der Mikrohistorie, als dass sie den mikrohistorischen Zugriff in einem so „explosiven“ Feld wie der „polnisch-jüdischen Beziehungsgeschichte“ erprobt und ebenso nach dem Geflecht von Interaktionen fragt, um diese in breitere Zusammenhänge der sozialen und kulturellen Welt einzuordnen. Dabei kommt dieser Arbeit auch zugute, dass gerade die neueste Holocaustforschung sich zunehmend genau dieses Ansatzes bedient, sodass die Überschreitung der Zäsur von 1939 auch methodologisch sinnvoll erscheint. Die Mikrogeschichte als Ansatz, um die Shoah zu untersuchen, ist seit einigen Jahren in den Fokus der Geschichtswissenschaften gerückt.43 Verstärkt geht es dieser neuen historiografischen Richtung darum, den Einzelnen und 39 40 41 42 43

Siehe Geertz: Dichte Beschreibung. Schulze: Einleitung, S. 8. Epple: Das Unternehmen Stollwerck, S. 32. Ebd., S. 32. Vgl. Zalc/Brutman: Toward a Microhistory of the Holocaust.

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seine Handlungen im Gesamtkontext zu untersuchen. Das betrifft einerseits die Täterinnen- und Täterforschung und die Frage danach, welche Handlungsoptionen diese jeweils vor Ort hatten, wie die Entscheidungsfindung genau ablief und durch welche Schritte sich letztlich die Radikalisierung des Mordes an Jüdinnen und Juden vollzog.44 So wurde immer deutlicher, dass Einzelne und Kleingruppen als Gelenkstellen fungierten, die den weiteren Gang der Shoah an einem Ort oder in einer Region entscheidend beeinflussten. Andererseits wurde die mikrohistorische Perspektive zunehmend für die Untersuchung der besetzten Lokalgesellschaften genutzt. Hierbei standen zum einen die Jüdinnen und Juden im Fokus, wie sie ihre Handlungsoptionen ausloteten, aus dem Geschehen Sinn zu machen versuchten und Überlebensstrategien entwarfen.45 Die Opfer wurden somit nicht nur als Objekte deutscher Besatzungspolitik betrachtet, sondern als Akteurinnen und Akteure mit Eigeninitiative. Zudem kann aus dieser bottom-up-Perpektive auch die nichtjüdische Lokalbevölkerung im östlichen Europa in die Untersuchung der Shoah integriert werden. Das erzeugt eine Multiperspektivität, die einlöst, was Saul Friedländer als integrierte Geschichte des Holocaust einforderte.46 Mit dieser, so Friedländer, sollen nicht nur deutsche Maßnahmen und Behörden im Vordergrund stehen, sondern auch die jüdische Erfahrungsdimension. Er monierte, dass sich – pointiert gesagt – deutsche Forschende mit deutschen Tätern auseinandersetzten und die Wahrnehmungen sowie Quellen jüdischer Überlebender allenfalls den jüdischen Historikern überließen. Zudem sollte auch der Blickwinkel der umgebenden Gesellschaften stärker in die Holocaustforschung miteinbezogen werden. Jan Grabowski hat bereits konstatiert, dass dieser Forderung Friedländers verstärkt durch mikrohistorische Untersuchungen für das besetzte Polen Rechnung getragen wird.47 Die vorliegende Arbeit sieht sich als Teil dieser neuen mikrohistorischen Praxis in der Holocaustforschung. Der mikrohistorische Zugang erlaubt es, eine dichte Beschreibung multiethnischer Beziehungskonstellationen vorzulegen und durch die Einbettung in größere Zusammenhänge eine komplexe Verflechtungsgeschichte zu erzählen. Gerade durch den Fokus auf Interaktionsräume in urbanen Gesellschaften 44 45 46 47

Beispielhaft dafür sei die Untersuchung zum Polizei-Bataillon  101 von Christopher Browning genannt: Browning: Ganz normale Männer, zur Mikrogeschichte der Shoah in einer Stadt, siehe auch: Christ: Die Dynamik des Tötens. Vgl. z. B. Engelking/Grabowski (Hg.): Dalej jest noc. Das Konzept der integrierten Geschichte skizzierte Friedländer kurz in Friedländer: Eine integrierte Geschichte; ansonsten siehe sein monumentales Werk: Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. Vgl. dazu auch Grabowski: Microhistory of the Holocaust in Poland, S. 132.

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leistet dieses Vorhaben einen Beitrag zu einer integrierten Geschichte Polens, die sich dem nationalen Narrativ entzieht, indem sie die interethnische Bevölkerungszusammensetzung als einen festen und untrennbaren Bestandteil eben dieser polnischen Geschichte versteht. Zudem schreibt diese Sichtweise die Shoah in die Geschichte Polens ein – der sich im besetzten Polen abspielende Holocaust kann nicht mehr als etwas angesehen werden, dass im Grunde nur „die deutschen Besatzer“ und „die Jüdinnen/Juden“ betraf. Der mikrohistorische Blick richtet sein Augenmerk auf die Interaktionsräume, in denen sich auch nichtjüdische Polinnen und Polen bewegten. Deswegen wird in dieser Studie dezidiert nach der Rolle der nichtjüdischen Lokalbevölkerung während der Shoah gefragt. Der Forschung zu NS-Täterinnen und -Tätern setzt die Arbeit die Perspektive der Besatzungsgesellschaften entgegen, und durch die Überbrückung der Zäsuren von 1939 und 1945 wird hier ein komplexer Prozess von Brüchen und Veränderungen innerhalb der Stadtgesellschaften Polens nachgezeichnet. Interaktionsräume im Fokus – zum Aufbau der Arbeit Die Literaturanthropologin Eugenia Prokop-Janiec forderte in einem Essay aus dem Jahr 2017 ein, das Konzept der Kontaktzonen aus den postcolonial studies stärker für die Untersuchung des polnisch-jüdischen Beziehungsgeflechts zu nutzen.48 Sie definierte diese als Zonen, in denen die Ambivalenz dieser Beziehungen deutlich wird. Hier haben sowohl Austausch, Zusammenarbeit, Aushandlung, Konfrontation als auch Gewalt stattgefunden und hier wurde auch die Asymmetrie dieser Beziehungen deutlich. Diese Interaktionsräume werden in der vorliegenden Arbeit mit dem mikrohistorischen Zugang erforscht, um die Komplexität des Beziehungsgeflechts auf mehreren Ebenen zu beschreiben. Bei der Auswahl der zu untersuchenden Interaktionsräume leitete mich unter anderem die Quellendichte. Den Lesenden werden womöglich einige Bereiche fehlen, da nicht alle Arenen des urbanen Lebens en détail untersucht wurden. Zum einen musste eine Auswahl getroffen werden, zum anderen waren nicht für alle Aspekte genügend Quellen für eine „Tiefenbohrung“ vorhanden. Sicherlich hätten sonst auch die Arbeitswelt, die religiöse Welt, das blühende sportliche Vereinsleben oder der Handel auf dem Marktplatz jeweils eine eigene Mikrostudie verdient. So gibt es beispielsweise Hinweise darauf, dass es auf der gewerkschaftlichen Ebene eine enge Zusammenarbeit 48

Prokop-Janiec: Kontakt i konflikt. Polsko-żydowska contact zone.

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zwischen jüdischen und nichtjüdischen Arbeitenden gab, der Arbeitsmarkt aber weitestgehend „ethnically split“ war.49 Doch weder zu den Betrieben noch zu den Gewerkschaften ließen sich in den Archiven Tarnóws, Krakaus oder Warschaus weiterreichende Quellen finden. Für das religiöse Leben beispielsweise sind die Quellen der jüdischen Gemeinde fast vollständig zerstört, für die Untersuchung der katholischen Welten könnte der Bestand des Diözesenarchivs in Tarnów aufschlussreich sein. Kirchenarchive sind jedoch weiterhin nicht öffentlich, und der Verfasserin wurden trotz mehrmaliger Nachfragen nur wenige, vereinzelte Quellen zugänglich gemacht, was eine tiefergehende Untersuchung unmöglich machte. Allerdings konnte ich aus der illustrierten Zeitschrift Nasza Sprawa [Unsere Sache] der Tarnower Diözese schöpfen. Der erste Teil der Arbeit widmet sich der Zeit der Zweiten Polnischen Republik. Zunächst dient Kapitel 1 „Tarnów vermessen“ dazu, einen Überblick über die demografischen, topografischen und wirtschaftlichen Aspekte der Stadt zu erlangen. Hier werden jene Arenen thematisiert, die für das Zusammenleben zwischen jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerung von Bedeutung, für die jedoch nicht ausreichend Quellen für eine eigene „Tiefenbohrung“ vorhanden waren, zum Beispiel das oben erwähnte Arbeits- und Vereinsleben oder religiöse Welten werden hier kursorisch beschrieben. Im Kapitel 2 „Lokalpolitik und die schrittweise Politisierung von Ethnizität“ beginnt im engeren Sinn die mikrohistorische Untersuchung des SilbigerFalls, der zu einer Geschichte des Stadtrats führte, des wichtigsten politischen Gremiums auf Lokalebene, in dem Juden wie Nichtjuden vertreten waren (fast alle waren Männer, ab 1933 erhielt auch eine Frau – Lidia Ciołkosz (1902– 2002) – ein Mandat als Stadträtin). Des Weiteren bündelten sich auf dieser lokalpolitischen Bühne Konflikte, die viele Aspekte des städtischen Lebens betrafen  – die Schulen, die Wirtschaft, den ansteigenden Antisemitismus etc., sodass die Studie zur Lokalpolitik zugleich mehrere Problemstellungen und Arenen des städtischen Lebens umfasst, die hier thematisiert werden können. Letztlich erlaubte die Quellenlage diese Mikrostudie: Die Protokolle der Stadtratssitzungen sind für nahezu den gesamten Zeitraum der Zweiten Republik erhalten, darunter Dokumente zu den Stadtratswahlen (Broschüren, Wahlposter, amtliche Wahlergebnisse) sowie die lokale Berichterstattung über die städtische Politik aus unterschiedlichen Blickwinkeln (Tygodnik Żydowski [Jüdisches Wochenblatt], Hasło [Parole], Nasza Sprawa [Unsere Sache], Głos

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Zu der Bedeutung eines „ethnically split labor market“ für die Entwicklung der Arbeiterparteien, jedoch für die Zarenzeit, siehe Peled: Split labor market.

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Ziemi Tarnowskiej [Die Stimme der Tarnower Erde], Ziemia Tarnowska [Die Tarnower Erde]). Der Stadtrat bleibt jedoch vor allem eine Bühne, auf der die (lokalpolitischen) Eliten agierten, deswegen gehe ich zusätzlich auf andere Akteurinnen und Akteure ein: die Arbeiterschicht und die Kinder. Die PPS (Polska Partia Socjalistyczna/Polnische Sozialistische Partei) war in Tarnów stark vertreten und die Zusammenarbeit mit dem Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund, kurz Bund, verlief äußerst gut. In einem Exkurs gehe ich auf diese enge Bindung zwischen PPS und Bund ein. Ein anderes Kapitel (Kapitel 3 „Interaktionsraum Schule“) widmet sich Schulen. Rund 80 % aller jüdischen Kinder in der Zweiten Republik besuchten eine öffentliche polnische Schule. Obschon das polnische Schulsystem sowie die privaten jüdischen Schulen erforscht wurden, bleibt die Frage offen, was in den Klassenräumen einer öffentlichen Schule mit einem hohen Prozentsatz jüdischer Kinder geschah. In Tarnów sind die Protokolle der Lehrendenkonferenzen einiger Grundschulen für fast den gesamten Zeitraum der Zweiten Republik erhalten. So frage ich in diesem Kapitel nach dem Alltag in einem Klassenzimmer einer öffentlichen Schule, in der die Hälfte der Schüler jüdisch war. Während die multiethnische Realität dieser Stadt hier sichtbar wurde, denn jüdische und nichtjüdische Schüler drückten gemeinsam die Schulbank, waren öffentliche Schulen in der Zweiten Polnischen Republik zugleich Transmissionsriemen des Staates mit dem Auftrag, zur Nation zu erziehen. Wie trafen diese beiden Realitäten im Klassenraum aufeinander? Die Quellenbestände zu den Interaktionsräumen (vor allem Protokolle des Stadtrats und der Lehrendenkonferenzen) dicht zu lesen, bildet in meinen Augen den Mehrwert der vorliegenden Studie. Der zweite Teil zum Zweiten Weltkrieg beginnt wieder mit einer auf den ersten Blick verwirrenden Geschichte über Marian H. und Władysław Ł. Aus diesem Einzelfall generierte ich übergeordnete Fragen, die mich zu einer Geschichte der sozialen Prozesse in den Besatzungsgesellschaften führten. Schnell wurde dabei deutlich, dass der zweite Teil zur Shoah nicht nach thematischen Mikrostudien geordnet werden kann. Die NS-Vernichtungspolitik gegenüber Jüdinnen und Juden wurde Schritt für Schritt radikaler und immer brutaler in die Praxis umgesetzt. Dieser schrittweisen Radikalisierung muss Rechnung getragen werden, indem die Darstellung weitestgehend dieser Chronologie folgt. Der formale Bruch in der Narration spiegelt auf eine Art auch den ungeheuren realen Bruch, den die Stadtbevölkerung erlebte. Interaktionsräume und deren Wandel bleiben dennoch wie ein roter Faden als Fokussierungsstellen bestehen. Die erste sogenannte Aussiedlungsaktion, die zu einem öffentlich ausgetragenen Blutbad wurde, verrät uns viel über den Besatzungsalltag und die sozialen Prozesse, die die brutale deutsche

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Besatzungsherrschaft in der Lokalbevölkerung auslöste (Kapitel  6 „Genozid vor der Haustür“). Gleich nach der „Aktion“ wurden Tarnower Jüdinnen und Juden ghettoisiert. Das nächste Kapitel (Kapitel 7 „Das Ghetto, der Zaun und die Beobachtenden. Tarnów in der Zeit der Ghettoisierung (1942–1945)“) teilt sich auf in die Untersuchungen des non-Jewish space im Stadtraum, des Jewish space und der Interaktionsräume dazwischen. Diese Interaktionsräume waren a) der Ghettozaun selbst, b) durch illegale Zaunüberquerungen entstandene Räume und c) die Arbeitsplätze außerhalb des Ghettos, wo Jüdinnen und Juden zusammen mit nichtjüdischen Polinnen und Polen arbeiteten. Die mikrohistorische Perspektive schärft zudem den Blick auf neue Akteure, wie zum Beispiel den Baudienst, der noch kaum erforscht wurde (Kapitel  8 „Polen in Uniform“). Die kleinteilige Analyse erlaubt zudem, neue Erkenntnisse zu altbekannten Themen zu gewinnen: beispielsweise dass Jüdinnen und Juden in dem Überlebens- und Rettungsprozess während der Shoah eine unglaubliche Eigeninitiative bewiesen, die häufig in der Forschung und in der öffentlichen Diskussion vor allem dadurch verschleiert wird, dass wir uns auf die rettenden Nichtjüdinnen und Nichtjuden konzentrieren. Auch hier leistet die vorliegende Arbeit einen Beitrag dazu, die Rettung genauer zu untersuchen und als einen dynamischen und relationalen Prozess zu beschreiben, an dem Jüdinnen und Juden aktiv teilnahmen (Kapitel 9 „Juden und Jüdinnen helfen“). All die oben genannten Beispiele zeigen, dass der methodologische Perspektivwechsel zugleich eine Erweiterung des Erkenntnishorizontes darstellt. Durch diese mikrohistorische Untersuchung einer mittelgroßen Stadt weitab vom Zentrum kann zudem die Diversität der Shoah-Erfahrungen aufgezeigt werden – sowohl aus der Perspektive der Jüdinnen und Juden als auch der Nichtjüdinnen und Nichtjuden. Diese verschiebt zudem das Verständnis von den Bystandern, also der Rolle der nichtjüdischen Gesellschaft (Kapitel 10 „Zur Rolle nichtjüdischer Polinnen und Polen in der Shoah“). Um die lebensgeschichtlichen Zusammenhänge stärker herauszuarbeiten, erscheinen die Akteurinnen und Akteure aus dem ersten Teil der Arbeit in der weiteren Untersuchung zum Zweiten Weltkrieg wieder: Die Schicksale der alten Stadträte werden  – soweit möglich  – verfolgt. Übergeordnet stellt sich die Frage, welche Rolle die alten Eliten unter der Besatzung noch spielten und inwiefern neue Eliten nunmehr aufstiegen. Auch frage ich nach kinderspezifischen Kontakten während der Kriegszeit. Die Schüler der CzackiSchule erscheinen im Kapitel zum Zweiten Weltkrieg erneut, wie auch das Schulgebäude selbst. Doch zugleich kann es keine einfache Kontinuität in der Erzählung geben, wo es sie realiter nicht gab. Die Schicksale vieler Menschen brechen ab, einige können wir bis zu dem Zeitpunkt des Todes verfolgen, andere verschwinden aus unserem Blickwinkel.

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Usher Bleiweis (1907–1985) begegnen wir im ersten Teil als engagiertem Bundisten und Gewerkschaftsaktivisten. Er überlebte den Krieg in Tarnów und begann als einer der ersten mit dem Neuaufbau des jüdischen Lebens in Tarnów nach 1945. Der Ausblick am Schluss (Kapitel 11 „Ausblick: Eine „Geisterstadt“ – Tarnów nach dem Krieg“) thematisiert diese Bemühungen jüdischer Überlebender um einen Wiederaufbau jüdischer Institutionen in Tarnów. Doch die Überlebenden waren antisemitischen Übergriffen ausgesetzt, sodass die jüdische Bevölkerung federführend unter eben jenem Usher Bleiweis sich bewaffnen musste, um sich nach 1945 gegen die nichtjüdische Lokalbevölkerung verteidigen zu können. Ethnizität ohne Gruppen – Begriffsklärung Um die Fragestellung nach den Beziehungskonstellationen zwischen dem jüdischen und dem nichtjüdischen Teil der Stadtbevölkerung untersuchen zu können, musste ich zunächst den Begriff der Beziehung operationalisierbar machen und damit auch definieren, zwischen wem genau diese Beziehungen bestanden. Schnell stellte sich dabei die Frage, inwiefern es überhaupt ratsam ist, eine städtische Bevölkerung im 20. Jahrhundert a priori in zwei separate Gruppen – „die Jüdinnen und die Juden“ einerseits und die polnischen „Nichtjüdinnen und Nichtjuden“ andererseits  – zu unterteilen und nach deren „Beziehung“ zueinander zu fragen. Betone ich damit nicht von vornherein deren Differenz, anstatt zunächst einmal zu untersuchen, was die urbane Gesellschaft spaltete, wo Verflechtungen, wo Alterität zu sehen waren? Waren im Alltag nicht andere Faktoren als nur die Ethnizität der Menschen für Gruppenbildungsprozesse in einem urbanen Raum wichtiger? Die Forschung hat sich inzwischen von essenzialistischen Definitionen von Ethnizität verabschiedet. Anstatt von festgeschriebenen Identitäten gehen Forschende von fluiden und polyvalenten Zugehörigkeitsmustern aus, die zudem einen Konstruktionscharakter besitzen.50 Das Zugehörigkeitsgefühl zu einer bestimmten ethnischen Gruppe kann aber dennoch sehr wirkmächtig sein und auf folgenden Pfeilern beruhen: Für die Ethnizität spielen soziokulturelle Gemeinsamkeiten (wie beispielsweise Sprache, Religion) eine Rolle sowie die Überzeugung, dass man eine gemeinsame geschichtliche Erfahrung oder ein Gruppenschicksal teilt. Deswegen ist die Konstruktion von Mythen für die Konsolidierung einer ethnischen Gruppe bedeutsam. Die Vorstellung von einer gemeinsamen Herkunft oder Abstammung ist für das 50

Einen Überblick über die Forschung zu dem Thema bietet Heckmann: Ethnische Minderheiten, S. 30–56.

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Zugehörigkeitsgefühl zu einer Ethnie wichtig, aber auch die Aufrechterhaltung von ethnischen Abgrenzungsmechanismen (Verbot von Eheschließungen außerhalb der ethnischen Gruppe, gewisse Essensvorschriften). Des Weiteren spielen für die Konstituierung und Konsolidierung einer ethnischen Gruppe die auf Selbstbewusstsein und Fremdzuweisung gegründeten kollektiven Identitäten sowie ein Zusammengehörigkeits- und Solidarbewusstsein eine Rolle.51 Faktoren von außen wie offene Feindschaft oder Assimilierungsdruck können ein Gruppenzugehörigkeitsgefühl nach innen hin verstärken. Die oben genannten Faktoren können zur Gruppenkonsolidierung auf ethnischer Basis führen, doch muss unterstrichen werden, dass es situative Bedingungen von Ethnizität gibt: Die Relevanz derselben kann je nach Situation und Kontext variieren. Bereits Jonathan Okamura führte daher den Terminus „situative Ethnizität“ ein.52 Ethnizität kann demnach in gewissen sozialen Situationen eine Rolle spielen, muss es aber nicht zwangsläufig, da andere Zugehörigkeiten wie Schicht, Religion, Beruf oder Geschlecht unter Umständen eine größere Relevanz haben können. Okamura fügte jedoch hinzu, dass zugleich strukturelle Rahmenbedingungen (z.  B.  staatliche  Diskriminierung aufgrund der Ethnie) hierbei berücksichtigt werden müssen.53 Ethnizität kann eine Ressource sein, die in gewissen Situationen und für bestimmte Zwecke mobilisiert wird. Manchmal spielt sie keine Rolle, manchmal wird sie jedoch zur Belastung.54 Die Stadtbevölkerung Tarnóws war vor dem Zweiten Weltkrieg sehr heterogen, nicht nur ethnisch, religiös, sondern auch ökonomisch, politisch und sozial, was sich auf die Gruppenbildungsprozesse auswirkte. Anhand der Quellen wird schnell deutlich, dass sich die Menschen ganz unterschiedlichen Gruppen und Zugehörigkeitsmustern zuordneten, wobei Ethnizität nicht immer eine Rolle spielen musste. Die ethnische Zugehörigkeit ist daher nicht immer „the most appropriate principle around which social activity or identity may be organized“.55 Während sich in Tarnów jüdische Intellektuelle, Rechtsanwälte oder Ärzte abfällig über traditionelle, religiöse Jüdinnen und Juden äußern konnten, konnte ein Nichtjude aus dem Arbeiterviertel Grabówka sich daran erinnern, dass alle Nichtjüdinnen/Nichtjuden und Jüdinnen/Juden „im Grunde im gleichen Boot saßen  – der Armut, der gemeinsamen Armut“.56 51 52 53 54 55 56

Die Zusammenstellung basiert auf Heckmann: Ethnische Minderheiten, S. 35–37. Okamura: Situational Ethnicity. Ebd., S. 454. Vgl. Heckmann: Ethnische Minderheiten, S. 32. Wallman: Foreword, S. x. Garmada, Ludwik: Interview 7329, 05.12.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff:  10.03.2021); Brodzianka-Gutt, Elżbieta: Interview 25736, 04.12.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff:  09.03.2021).

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Schicht und ökonomische Lage waren in dem Fall für das Gemeinschaftsgefühl auch ausschlaggebend. Um die Relevanz von Ethnizität in ihrer Kontextgebundenheit zu analysieren, schlug Rogers Brubaker vor, Ethnizität ohne Gruppen zu untersuchen. Sein Ansatz prägte die vorliegende Arbeit maßgeblich. Brubaker wendet sich der bottom-up-Perspektive zu. Es geht ihm darum zu erkennen, welche Rolle Ethnizität im Alltag „kleiner Leute“ spielte. Brubaker kritisiert, dass Forschende dazu neigen, ethnische Gruppen als substanzielle Einheiten zu verstehen, anstatt ihren performativen Charakter zu analysieren. Mit anderen Worten: Ethnizität an sich schafft keine Kollektivsubjekte, denen man ein gemeinsames soziales Handeln und gleiche Interessen etc. unterstellen könnte. Vielmehr wird Ethnizität erst durch bestimmte Akteurinnen oder Akteure (entrepreneurs) mobilisiert, um gemeinsames Handeln und Gruppenzugehörigkeit zu erreichen. Ethnizität, Nation und „Rasse“ seien keine Entitäten an sich, sondern werden relational, prozessual, dynamisch und wechselvoll hergestellt.57 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen diese Prozesse der Mobilisierung von Ethnizität untersuchen und erklären, anstatt ethnische Gruppen als feststehende Analysekategorien zu verdoppeln und zu verstärken. Deswegen sollte die oder der Forschende Kategorien stärker von Gruppen unterscheiden und vielmehr danach fragen, was Menschen mit den Kategorien machen, die sie sich und anderen zuschreiben.58 Zugleich aber haben diese Kategorien und Mechanismen der Gruppenbildung sehr wohl eine reale Auswirkung auf die Menschen im Alltag. Dadurch dass ethnische Gruppen konstruiert sind, sind sie nicht weniger real. Ethnizität geschieht im Alltag: durch Begegnungen, Common-Sense-Wissen, kulturelle Idiome, kognitive Schemata, diskursive Deutungsmuster und auch Verwaltungsvorgänge.59 Die Frage danach, wie dies im Alltag geschieht, nennt Brubaker den „kognitiven Ansatz“ und fasst wie folgt zusammen: „Anstatt ‚Gruppen‘ als die grundlegende Einheit der Analyse zu begreifen, verlagert der kognitive Ansatz die Aufmerksamkeit auf den Akt der ‚Bildung von Gruppen‘ und das ‚Gruppieren‘ in Form von Klassifikation, Kategorisierung und Identifikation.“60 Aus diesen Überlegungen ergibt sich für mich die folgende Fragestellung: Ausgehend von bestimmten Interaktionsräumen, in denen jüdische

57 58 59 60

Klimek, Rahel: Interview, 24.05.2013, Ramat HaSharon, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska; das Zitat stammt von Dagnan, Aleksander: Interview, 06.03.2013, Tarnów, Polen, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. Brubaker: Ethnizität ohne Gruppen, S. 20–21. Ebd., S. 23–25. Ebd., S. 10. Ebd., S. 116–117.

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und nichtjüdische Tarnowianerinnen und Tarnowianer miteinander interagierten, ist zu fragen, welche Rolle Ethnizität dabei überhaupt spielte und wann, von wem, wie, zu welchem Zweck und mit welcher Wirkung Ethnizität mobilisiert wurde. Machtgefälle, Kampf um Teilhabe, Aushandlungsprozesse und Allianzbildung sind diesen Gruppenbildungsprozessen inhärent. Der Sprachwissenschaftler und politische Publizist Jan Baudoin de Courtenay (1845–1929) schrieb im Jahre 1923 zum Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in Polen: Man könnte hier beispielsweise die Bewohner eines Hauses oder einer Ortschaft nehmen. Ungeachtet ihrer Herkunft, ihrer Ansichten und ihrer politischen Überzeugungen besitzen sie doch gemeinsame und unglaublich bedeutende Interessen, was hauswirtschaftliche, ökonomische, juristische usw. Angelegenheiten betrifft. Sie müssen also gemeinsam bemüht sein, dass sich in diesen Aspekten alles zum Besten entwickelt.61

Im Grunde versucht die vorliegende mikrogeschichtliche Studie genau dies zu realisieren: Sie schaut vertieft auf so einen gemeinsamen Wohnort und fragt nach gemeinsamen Interessen der Bewohnerinnen und Bewohner, nach den Allianzen, Aushandlungs- und Gruppenbildungsprozessen sowie nach der Rolle von Ethnizität dabei. Komplementär zur bottom-up-Perspektive muss zugleich der größere Kontext  – der Staat, die Nation, die rechtliche Lage, die dominierende Kultur – in die Betrachtung dieser Fragestellung miteinbezogen werden. Seit den 1980er Jahren erschienen zur Verbindung von Ethnizität und Nationsbildungsprozessen sowie zum Konstruktionscharakter moderner Nationen zahlreiche Veröffentlichungen, wobei die Schriften von Benedict Anderson, Ernest Gellner und Eric Hobsbawm zu Standardwerken avancierten.62 Die Forschungsliteratur zum Thema sieht die Nationsbildung weitestgehend als Homogenisierungsprozess innerhalb eines Nationalstaats. Im Kontrast zu der sich formenden Mehrheit, die politische Forderungen stellt und einen Akkulturationssog oder -zwang auslöst, entsteht eine „nationale Minderheit“. Das heißt, dass das Konzept der „ethnischen oder nationalen Minderheiten“ ein Verständnis von der „Nationswerdung als Form moderner Vergesellschaftung“ voraussetzt.63

61 62 63

Baudoin de Courtenay: Kwestia żydwoska, S. 32. Anderson: Imagined Communities; Gellner: Nations and Nationalism; Hobsbawm: Nations and Nationalism. Heckmann: Ethnische Minderheiten, S. 38.

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Für Polen so wie auch für weite Teile Ost(mittel)europas ist festzuhalten, dass sich Nationsbildungsprozesse im 19.  Jahrhundert zunächst in multiethnischen und multireligiösen Regionen unter imperialer Überschichtung, aber nicht innerhalb eines sich homogenisierenden Nationalstaates vollzogen. Das wirft die Frage danach auf, welche Gruppen diesen nationalen Homogenisierungsprozess tatsächlich mittrugen und inwiefern (und wie lange) unter der Bevölkerung noch weiterhin eine „national indifference“ herrschen konnte.64 Nach dem Ersten Weltkrieg war die Bevölkerung der Zweiten Polnischen Republik ethnisch heterogen und ein Nationalstaat musste sich erst noch konsolidieren. Die Frage, ob die Zweite Republik als Nationaloder Nationalitätenstaat verfasst war bzw. sein sollte, wurde zu einem der wichtigsten Spannungsfelder und Konfliktherde des jungen Staates. Die Zweite Republik war de facto ein Nationalitätenstaat, der sich wie ein Nationalstaat gebärdete oder  – um mit Brubaker zu sprechen  – ein „nationalisierender Staat“. Das heißt, dass die dominierenden Eliten die Sprache, Kultur, Position, den Wirtschaftsaufschwung und die politische Hegemonie der sogenannten Titularnation begünstigten und förderten.65 Diese „Kernnation“ wurde dabei ethno-kulturell definiert und setzte sich in Opposition zu den „Minderheiten“ positiv ab, indem sie Dominanz sowie politische, wirtschaftliche und soziale Privilegien für sich beanspruchte. Einige Aspekte, wie die Zweite Republik als nationalisierender Staat agierte, führten Stephan Stach und Christhard Henschel in einem Themenheft der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung aus.66 Stephanie Zloch untersuchte, wie sich „die Nation“ in der Zweiten Republik durchsetzte: in Sejm, Schule, durch Feiertage, in Stadträten.67 Diese top-down-Perspektive vom Staat und der dominierenden Kultur muss in den Betrachtungen zu Tarnów berücksichtigt werden. Letztlich kann diese Arbeit aufzeigen, wie der nationalisierende Staat vor Ort, im Lokalen, „geschah“. Wann und wie konnte sich in einem multikulturellen urbanen Raum in der Peripherie das Primat der ethnisch definierten polnischen Nation durchsetzen und wirkmächtig werden? Wie wirkte sich dies auf die Gruppenbildungsprozesse in der Stadt aus? Inwiefern wurde Ethnizität politisiert? Wann dagegen gestaltete der Alltagspragmatismus um gemeinsame lokale Ziele die Realität einer multiethnischen Stadt? 64 65 66 67

Zur national indifference siehe Zahra: Imagined Noncommunities; Zahra: Kidnapped Souls; Ginderachter/Fox (Hg.): National Indifference; für Schlesien siehe Service: Germans to Poles; Bjork: Neither German nor Pole. Brubaker: Nationalism Reframed, S. 57. Henschel/Stach: Nationalisierung und Pragmatismus. Zloch: Polnischer Nationalismus.

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Auch unterlag das Verständnis vom Jüdischsein an sich einem Wandel  – bedeutete jüdisch eine religiöse, nationale oder ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit oder benannte sie nur die Herkunft, die Tradition, in der man sich bewegte? Säkulare Jiddischisten, polonisierte Zionisten oder die Vorstellung von einer jüdischen Polonität, um den Begriff von Kathrin Steffen aufzugreifen, all dies war auch in Tarnów zeitgleich mit chassidischen Dynastien und orthodoxen Judenheiten präsent.68 Deswegen nutze ich im Folgenden den Begriff Judenheiten, um einerseits die rein religiöse Konnotation des Begriffs Judentum zu erweitern und um andererseits durch den Plural mehrere Optionen des Jüdischseins zu inkludieren. Weiter ist zu fragen, wie die Lokalbevölkerung mit Spannungen und mit den im ersten Teil herausgearbeiteten „Prozessen der Gruppenbildung“ umging, als die deutschen Besatzer der Gesellschaft eine eindeutige, brutale rassistische Hierarchisierung aufoktroyierten. All diejenigen, die unabhängig von ihrer Selbstwahrnehmung als „Jüdinnen/Juden“ eingruppiert wurden, wurden von den deutschen Besatzern verfolgt, entrechtet und letzten Endes ermordet. Wie verhielt sich die nichtjüdische polnische Lokalbevölkerung dazu? Inwiefern hatten alte Vorkriegskategorien, Normen und Glaubenssätze noch Bestand, welche haben sich verstärkt, welche Normen sind erodiert? All das lässt sich spezifisch anhand der hier im Fokus stehenden Interaktionsräume nachzeichnen, ohne dass wir in die Falle essenzialistischer Kategorisierung tappen müssen. Die Überlegungen zur fluiden und situativen Ethnizität ohne Gruppen bedeuten nicht, dass die Alterität zwischen Jüdinnen/Juden und Nichtjüdinnen/Nichtjuden auf gewissen Ebenen im Alltag nicht spürbar gewesen wäre. Es geht im Folgenden nicht darum, Unterschiede zu verwischen, sondern komplexe Gruppenbildungsprozesse zu erforschen. Die Mehrheit (ca. 80 %) der polnischen Judenheiten sprach Jiddisch als Muttersprache und war in der jiddischen Kultur lebensweltlich verankert. Jüdinnen und Juden gehörten einer anderen Religion an und hatten andere Traditionen und Bräuche als Nichtjüdinnen und Nichtjuden. Traditionelle Chassidim kleideten sich anders und waren mit Shtrayml und Kaftan auch optisch auffällig. Auch die Fremdwahrnehmung und die zunehmende Exklusion riefen den Betreffenden ihr Jüdischsein ins Bewusstsein. Zugleich muss jedoch unterstrichen werden, dass sprachliche oder religiöse Alterität zur Norm der Stadtgesellschaften gehörte – und das seit Jahrhunderten, wie weiter oben ausgeführt. Eine ethnisch/ religiös homogene Stadtbevölkerung gehörte seit Generationen nicht in den Erfahrungsraum der im urbanen Raum lebenden Menschen im östlichen 68

Steffen: Jüdische Polonität.

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Europa. Jüdinnen und Juden in der Stadt waren also nicht etwas Fremdes oder Unbekanntes, sondern die vertrauten Anderen. Diese seit Generationen gelebte multiethnische Norm wird häufig im Rückblick unterschätzt.69 Die Vorstellung von einer ethnisch-national homogenen Gesellschaft, welche die Norm im heutigen Polen darstellt, darf nicht auf die Vergangenheit projiziert werden. Denn erst dadurch entsteht das Bedürfnis, Alterität als eine von der „Norm“ abweichende Differenz erklären zu müssen. Judenheiten könnten dadurch „problematisiert“ oder als quasi separate Gruppe im Rückblick beschrieben werden, die in Wirklichkeit weder separat noch „eine Gruppe“ war.70 Der Schwerpunkt meiner Betrachtungen liegt auf der Perspektive von Jüdinnen und Juden – obschon nicht ausschließlich. Die Arbeit beansprucht also nicht, die Interaktionsräume symmetrisch aus der Sicht der Minderheiten und der dominierenden Mehrheit zu analysieren. Das hat folgende Gründe: Zum einen stellten Jüdinnen und Juden in Tarnów zwar fast die Hälfte der Stadtbevölkerung, aber auf Gesamtlandesebene waren sie eine Minderheit in einem nationalisierenden Staat. Ihre Sichtweise erscheint deswegen aufschlussreicher, da sie gerade nicht die Perspektive der dominierenden Mehrheit einnahmen. Wie Jüdinnen und Juden ihr Jüdischsein verhandelten, welche Teilhabe sie an der Lokalgesellschaft hatten oder erst einfordern mussten, inwiefern der nationalisierende Staat und die dominierende römischkatholische Kultur ihre Handlungsweisen bestimmten und wie sich dies auf den Alltag einer polnisch-jüdischen Stadt auswirkte  – Antworten auf diese Fragen ergeben ein neues Bild dieser urbanen Gesellschaften. Zusätzlich sind es die Quellen von Jüdinnen und Juden, die oft noch nicht erschlossen sind – die jiddischen yizker bikher beispielsweise oder Erinnerungen und Berichte in jiddischer Sprache.71 Zum anderen besteht für die Zeit des Zweiten Weltkrieges 69 70

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So wundert sich beispielsweise der Lokalhistoriker Stanisław Potępa über ein jüdischchristliches Wahlbündnis, vgl. Potępa: Przed Wojną, S. 88–89. In einigen Büchern zur Stadtgeschichte findet sich ein Narrativ, welches vor allem den ethnischen Polinnen und Polen gewidmet ist und die jüdische Bevölkerung, wenn überhaupt, in einem kleinen Extrakapitel beschreibt, als wäre diese ein Zusatz zum Ganzen und nicht ein integraler Bestandteil. Adam Bartosz gibt einige Beispiele zu Tarnów in Bartosz: What Happened to Tarnów’s Jews?, S.  405–406. Jan Bochenek widmet sein ganzes Buch dem Zweiten Weltkrieg und nur einen Absatz den Jüdinnen und Juden, siehe Bochenek: Na Posterunku; Pietrzykowa schrieb nur ein Kapitel zum Leid der Judenheiten im Zweiten Weltkrieg in ihrer ansonsten umfangreichen Monografie zum Zweiten Weltkrieg in der Region Tarnów, siehe Pietrzykowa: Region Tarnowski, S. 181–195. Yizker bikher sind sogenannte Erinnerungsbücher einzelner Städte. In der Tradition der alten „Pinkasim“ wurden nach dem Zweiten Weltkrieg Sammelbände über die einzelnen Städte und Städtchen herausgegeben, die an die jüdische Bevölkerung dieser erinnern

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das Problem, dass kaum Berichte oder Erinnerungen von nichtjüdischen Polinnen und Polen vorhanden sind, die die Shoah in Tarnów thematisieren. Zwar widmen sich nichtjüdische Polinnen und Polen in ihren Erinnerungen ausgiebig dem Zweiten Weltkrieg, erwähnen das Leid der Jüdinnen und Juden aus ihrer Perspektive aber eher marginal. „Polen – Juden“ – ein schwieriges Begriffspaar Als Ludwik Garmada 1995 für das Visual History Archive interviewt wurde, beschrieb er die Bevölkerung im Tarnów der Vorkriegszeit – die polnische und die jüdische. Dann stockte er und fügte hinzu: „Aber damals hat das keiner so gesagt, polnisch und jüdisch. Bei uns im Gymnasium zum Beispiel sagte man nicht Polen und Juden, sondern Katholiken und Juden. Das war der Unterschied. Man betrachtete alle als Polen. Nur die Religion unterschied uns.“72 Bis heute wird im Polnischen häufig auch in wissenschaftlichen Arbeiten von „Polen und Juden“ geschrieben. Damit wird diskursiv eine Dichotomie hergestellt, die in vielerlei Hinsicht zu hinterfragen ist. Zum einen schafft sie zwei distinkte Gruppen, die hermetisch voneinander abgeschottet sind. Dieses essenzialistische Verständnis ist problematisch, wie bereits im Unterkapitel „Ethnizität ohne Gruppen“ dargestellt. Es postuliert substanzielle Einheiten, wo im Sinne Brubakers erst nach dem performativen Charakter von Gruppenbildungsprozessen gefragt werden müsste. Das Begriffspaar erlaubt nicht, polyvalente oder hybride Zugehörigkeitsmuster zu denken und zu beschreiben. Es schafft eine normative Gruppeneinteilung, die mitnichten eine objektive Zustandsbeschreibung ist. Marcin Kula verwies auf diese Problematik, entschied sich aber dennoch mangels besserer Begrifflichkeiten, von „Juden“ und „Polen“ zu schreiben sowie eine zusätzliche Kategorie hinzuzufügen, die der „Polen jüdischer Herkunft“ – um für akkulturierte Jüdinnen und Juden eine erweiterte Gruppe der

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sollten. Yizker bikher wurden von landsmanshaftn der jeweiligen Städte herausgegeben, die sich in der Welt verstreut organisiert hatten, und waren zumeist auf Jiddisch und Hebräisch von den Überlebenden selbst verfasst. Zu Tarnów/Tarne sind zwei yizker bikher, 1954 und 1968, herausgegeben worden: Tarne. Kiem un hurbn; Tarnow-Tarne. Seyfer Zikhorn. Allgemein zu den yizker bikhern, deren Entstehungsgeschichte und ihrer Nutzung als historische Quellen siehe Boyarin/Kugelmass (Hg.): From a Ruined Garden; Adamczyk-Garbowska (Hg.): Tam był kiedyś mój dom. Garmada, Ludwik: Interview 7329, 05.12.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 10.03.2021).

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„Dritten“ zu erschließen und die strikte Polarisierung etwas abzumildern.73 Überzeugend ist diese Verfahrensweise nicht, da sie im Grunde weiterhin die essenzialistische Aufteilung nach ethnischen Gruppen doppelt. Ich störe mich an der begrifflichen Dichotomie „Polen – Juden“, da ich sie als exkludierend wahrnehme. Sie definiert „die Polen“ als Gegensatz des Jüdischseins und impliziert, dass Jüdinnen/Juden keine Polinnen/Polen sein konnten. Damit haftet dieser Dichotomie eine überaus essenzialistische Normativität an. Kann sie im heutigen Sprachgebrauch unreflektiert von Historikerinnen und Historikern übernommen werden? „Pole“ oder „Polak“ repräsentiert heute ein breiteres semantisches Bedeutungsspektrum. Es kann eng als ethnische Kategorie definiert werden, aber auch breiter im Sinne von Bewohnerinnen und Bewohner Polens oder Staatsbürgerinnen und Staatsbürger verstanden werden. In dieser Begriffsbestimmung geht es im Grunde um zwei Konzepte national definierter Vergemeinschaftungsprozesse: ein auf ethnischer Zugehörigkeit basierendes Verständnis von nationaler Gemeinschaft (zur Definition von Ethnizität siehe Unterkapitel „Ethnizität ohne Gruppen“)  – dieses wird von mir im Folgenden als ethno-national bezeichnet – und ein staatsbürgerliches Verständnis. Forschende haben zu Recht betont, dass in Polen, zumal in der Zweiten Republik, das ethno-nationale Verständnis dominant gewesen sei und sich ein staatsbürgerliches nicht durchgesetzt habe. Daraus leiten sie ab, dass die ethno-nationale Aufteilung „Polen – Juden“ durchaus berechtigt sei, weil das exkludierende Moment in den Begriffen der historischen Realität entspreche. Auch wenn ich der Aussage, dass die ethno-nationale Kategorisierung dominierend gewesen sei, weitestgehend zustimme, so möchte ich in der vorliegenden Studie diese sprachlich nicht noch verstärken und damit den Anschein erwecken, als handle es sich um objektive Gruppenzuschreibungen. Im Geiste von Brubakers kognitivem Ansatz soll vielmehr danach gefragt werden, wann, von wem und zu welchem Zweck Begriffe mit welchen Bedeutungsinhalten gefüllt wurden. Des Weiteren bleibt zu fragen, inwiefern wir als Forschende Quellenbegriffe und historische Begriffsdefinitionen als quasi „neutrale“ Kategorien nutzen können. Beide Aspekte möchte ich kurz ausführen. Für den Untersuchungszeitraum der Zweiten Republik stellte der Begriff „Pole“ rein rechtlich eine staatsbürgerliche Kategorie dar. Als Polinnen und Polen können alle Bürgerinnen und Bürger der Zweiten Republik betrachtet werden. Das spiegelt sich auch in dem Zitat von Garmada wider. In seinen Erinnerungen war es die religiöse und nicht die ethnisch-nationale Kategorisierung, die eine Rolle spielte. Für ihn war diese Unterscheidung so 73

Kula: Uparta Sprawa, S. 5.

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wichtig, dass er sie noch 1995 in seinem Interview heraushob. Ein „Pole“ zu sein, blieb nach seinem Verständnis eine offene Kategorisierung und konnte Juden – also auch ihn selbst – inkludieren. In allen von mir untersuchten Schulprotokollen aus der Zweiten Republik wird beispielsweise von Katholiken und Juden geschrieben (nicht aber von „Polen und Juden“). Durch den Gebrauch des Begriffspaares „Polen  – Juden“ wird die staatsbürgerliche Bedeutung des Wortes „Pole“ geflissentlich ignoriert und „Polak/Polacy“ rein als ethno-nationale Gruppe konzipiert. Dieses Verständnis wird bis in den heutigen Sprachgebrauch verstärkt und verdoppelt. Wenn sich der Begriff „die Polen“ als Gegensatzpaar zu „den Juden“ bilden lässt, dann wird der Signifikant des Wortes „der Pole“ eng definiert: Die Konfession (römisch-katholisch) verschmilzt mit einer essenzialistischen Vorstellung von ethno-nationaler Herkunft. Benutzen wir diese enge Kategorie ohne weitere Reflexion, verdoppeln wir im Grunde dieses essenzialistische, statische Verständnis von dem Polen als ethno-national, katholisch. Diese Engführung der Wortbedeutung von „Pole“ entspricht der Definition der Nationaldemokraten, die keine Präzisierungen gebrauchten, um zu markieren, wen sie mit „den Polen“ meinten und wen sie dabei ausschlossen. Es sollte im nationaldemokratischen Verständnis allen ohne jeglichen Zusatz verständlich sein, dass mit „den Polen“ tout court die römisch-katholisch, ethno-national definierten Polen gemeint sind. Im Grunde wird diese nationalistische Engführung des Begriffs „Pole“ durch die Benutzung der Dichotomie „Polen – Juden“ nachträglich legitimiert. Dabei war diese Engführung ein Erbe der Nationsbildungsprozesse des 19.  Jahrhunderts. Eine Ethnie wurde durch die Nationsbildung zu einer politischen Handlungseinheit erhoben und beanspruchte in der Zweiten Republik als „Titularnation“ nunmehr Privilegien, die sie anderen (Nichtpolinnen und Nichtpolen) verweigerte. Reinhart Koselleck schrieb: „Begriffe verweisen auf die Selbstorganisation und Selbstwahrnehmung politischer Handlungseinheiten sowie auf die jeweils davon ausgeschlossenen. […] Selbstund Fremdwahrnehmung werden dabei oft durch dieselben Begriffe wechselseitig konstituiert.“74 Die Einteilung in zwei Gruppen „Polen – Juden“ ist also zugleich eine Folge des nationalisierenden Staates, der die „eigene“ ethnonational definierte Gruppe an die Spitze der Hierarchie der Staatsgemeinschaft setzte und andererseits die „anderen“ ausschloss. Allein die Begriffskonstruktion verweist auf den performativen Charakter der Gruppenbildungsprozesse und auf die ihnen inhärenten Machtverhältnisse. In der vorliegenden Arbeit soll es aber gerade um die Untersuchung dieser Gruppenbildungsprozesse gehen, nicht um die diskursive Verdopplung essenzialistischer Kategorisierungen. 74

Koselleck: Volk, Nation, Nationalismus, S. 142.

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Die Begriffe „Polen und Juden“ unreflektiert für eine wissenschaftliche Untersuchung als quasi „unschuldige“ Gruppenzuschreibungen zu übernehmen, halte ich deswegen für unzulässig. Die Problematik um das Begriffspaar wurde bereits während der Zweiten Republik durchaus erkannt. Im Spannungsfeld der Diskussionen, ob die Republik als National- oder Nationalitätenstaat verfasst sein sollte, wurde auch um Begriffe gerungen. In einem Quellenband zur Zweiten Republik und der jüdischen Minderheit wird deutlich, dass zeitgenössische Akteurinnen und Akteure auch andere Begriffspaare nutzten, wie „Juden – Christen“ oder „Juden – Nichtjuden“.75 Zuweilen wird „den Polen“ ein Adjektiv hinzugefügt, um zu unterstreichen, dass es sich in dem jeweiligen Kontext um die enge, d. h. ethnische, Bedeutungsdimension handelt: „ludność żydowska – rdzenna ludność polska“ (die jüdische Bevölkerung  – die angestammte polnische Bevölkerung).76 Die Frage nach den passenden Begriffen war auch in Tarnów präsent. In Garmadas Beispiel wurde die religiöse Differenz hervorgehoben. Ein anderer Tarnowianer, der nach dem Krieg nach Frankreich ausgewandert war, beschrieb in seinen Erinnerungen Tarnóws Bevölkerung als „polonais juifs et polonais non-juifs“. Allerdings kann diese Terminologie auch auf die Nachkriegserfahrung Leo Kleins in Frankreich zurückgeführt werden, wo die citoyenneté für das französische nation-building ausschlaggebend war.77 Elżbieta Brodzianka-Gutt, die zeitlebens in Polen lebte, spricht jedoch in ihrem Interview für das Visual History Archive ebenfalls von „Juden“ und „Nichtjuden“.78 Zeitgenössisch hatten die Redakteure des Tygodnik Żydowski zuweilen diese Begriffe (jüdische – nichtjüdische Bevölkerung) verwendet.79 Auch im yizker bukh finden wir auf Jiddisch die Bezeichnung „yidn un nishtyidn“.80 In der weiteren Analyse dieser Arbeit werde ich darauf eingehen, wie im damaligen Tarnów zeitgenössisch über Jüdinnen und Juden sowie Nichtjüdinnen und Nichtjuden geschrieben wurde und welche Begrifflichkeiten dabei benutzt wurden. Nun muss eine Wissenschaftlerin oder ein Wissenschaftler sich dessen bewusst sein, dass die Kategorien, die sie oder er benutzt, nie ganz objektiv sein 75 76 77 78 79 80

Baudouin de Courtenay: Kwestia żydowska, S. 34. Okólnik ministerstwa spraw wewnętrznych Stanisława Wojciechowskiego w przedmiocie zapobiegania nadużyciom względem ludności żydowskiej 1.2.1919, zitiert nach Żebrowski: Dzieje Żydów, S. 53. Klein: Le singulier destin, S. 21. Brodzianka-Gutt, Elżbieta: Interview 25736, 04.12.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). Z wydarzeń miejskich. In: Tygodnik Żydowski, 05.06.1936, S. 5–6. Chomet: Yidishe virtshaftlekhe organizatsies, S. 251.

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können und bereits mit Bedeutungsinhalten befüllt und mit Konnotationen versehen sind. Die Kulturwissenschaftlerin Elżbieta Janicka gibt zu bedenken, dass es in Polen keine Kultur gab, in staatsbürgerlichen Kategorien zu denken. Die ethnisch kodierte Nation war das beherrschende Prinzip der Vorstellungswelten der Zweiten Republik. Die dominierende Kultur war die nationalpolnische, und „das Polnische“ stand an der Spitze der wahrgenommenen Hierarchie der Gesellschaft – Jüdinnen und Juden wurden dabei in den Status der Minderheit verbannt. Janicka betont, dass der Forschende sich entweder neuer, universeller Kategorien bedienen oder aber die aus der zu erforschenden Kultur stammenden Begriffe übernehmen kann, da sie zur fraglichen Zeit wirkmächtig waren und so der Zustandsbeschreibung besser dienen können. Beide Modelle haben ihre Fallstricke. Neue Kategorien bergen die Gefahr, so Anna Zawadzka, dass sie ihren Gegenstand quasi kolonisieren und die Stimmen aus der Vergangenheit nicht sprechen lassen.81 Sie würden der historischen Realität andere Begriffe überstülpen, die unpassend seien. Diese Einwände lösen jedoch das Dilemma nicht auf, dass die Analysekategorien des Forschenden die Engführung der Quellensprache nicht unreflektiert übernehmen können (z. B. die enge Definition der Nationaldemokraten von „den Polen“). Die oben genannten Beispiele haben zudem gezeigt, dass auch die Sprache der Quellen keine eindeutige war und schon Zeitgenossinnen und Zeitgenossen um die richtigen Begrifflichkeiten in der Zweiten Republik rangen. Deswegen muss in diesem Kontext im Sinne Brubakers und Kosellecks danach gefragt werden, von wem, wie und zu welchem Zweck welche Begriffe mit welchen Bedeutungsinhalten belegt wurden. Erst eine solche Frage erlaubt es, diskursive Strategien der Exklusion und Inklusion in ihrem Prozess nachzuzeichnen und nach der identitätsbildenden Funktion von Sprache bei der Bildung von Gruppen zu fragen. Für die vorliegende Arbeit entschied ich mich, mit möglichst offenen Kategorien zu arbeiten, um die zeitgenössisch genutzten Begriffe auch im Sinne der oben gestellten Frage dekonstruieren zu können. Zunächst spreche ich von „Jüdinnen“ bzw. „Juden“ und „Judenheiten“. Das Jüdischsein definiere ich nicht  – es kann die religiöse und/oder die nationale, sprachliche sowie kulturelle Zugehörigkeit bedeuten, aber auch eine Fremdzuschreibung sein. Damit bleibt der Begriff offen und so können auch die innerjüdischen Aushandlungsprozesse über die Bedeutung des „Jüdischseins“ nachgezeichnet werden. Alle Menschen, die sich als nichtjüdisch verstehen oder verstanden werden, benenne ich als „Nichtjüdinnen“ bzw. „Nichtjuden“. Wenn es sich um Polinnen und Polen handelt, expliziere ich, ob ich damit nichtjüdische 81

Zawadzka: Żydokomuna, S. 213.

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Polinnen und Polen meine. Dagegen verzichte ich auf die Dichotomie Christinnen/Christen  – Jüdinnen/Juden, da diese Unterscheidung nur die religiöse Dimension des Jüdischseins umfasst und säkulare Jüdinnen und Juden hierbei gar nicht gedacht werden können. Das Begriffspaar Jüdinnen/ Juden und Nichtjüdinnen/Nichtjuden ist zugegebenermaßen subversiv, es erhebt das Jüdischsein zur Referenz, anhand welcher, die oder der „Andere“ – die nichtjüdische Polin/der nichtjüdische Pole – definiert wird. Forschungsstand Gerade weil die vorliegende Studie sehr viele Aspekte der Beziehungskonstellationen zwischen jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerung sowie unterschiedliche Zeitschichten in der Untersuchung zu Tarnów bündelt, muss sie sich in verschiedene geschichtswissenschaftliche Diskurse einschreiben. Sie tritt in Dialog mit Historikerinnen und Historikern, die Minderheiten in der Zweiten Republik untersuchten, mit Holocaustforscherinnen und -forschern und mit jenen, die den Alltag in der Volksrepublik Polen und den dortigen Staatssozialismus erforschten. Zu den Judenheiten der Zweiten Republik existiert mittlerweile eine breite Literatur.82 War in der angelsächsischen Forschung seit den 1970er Jahren der Blick auf die „Zwischenkriegszeit“ oft von dem, was danach passierte  – der Shoah –, überschattet gewesen, hat sich inzwischen eine reiche Historiografie herausgebildet, welche die Diversität des jüdischen Lebens in der Zweiten Republik betont.83 Neben der Politik- und Sozialgeschichte, zu der maßgeblich Ezra Mendelsohn, Joseph Marcus, Gershon Bacon, Jerzy Tomaszewski und Antony Polonsky beitrugen,84 erweiterte vor allem in der deutschsprachigen Forschungslandschaft die neue Kulturgeschichte den Blick auf die Judenheiten 82 83

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Einen Forschungsüberblick gibt Polonsky: The Jews of Poland, S.  56–59; Stach: Minderheitenpolitik. Heller: On the Edge of Destruction; Melzer: No way out. Die beiden Ansätze paradigmatisch zusammengefasst in der Frage von Mendelsohn: Interwar Poland: Good for the Jews or Bad for the Jews? Warum sich eher die Bezeichnung Zweite Polnische Republik gegenüber dem Begriff der Zwischenkriegszeit durchgesetzt hat, da letztere von ihrem Ende her gedacht wird, siehe Stach: Minderheitenpolitik, S. 412. Zur Politik- und Sozialgeschichte: Polonsky/Mendelsohn/Tomaszewski (Hg.): Jews in Independent Poland; Gutman/Mendelsohn u. a. (Hg.): The Jews of Poland; Tomaszewski: Najnowsze Dzieje; Tomaszewski: Ojczyzna; Marcus: Social and Political History; Bacon: Agudath Israel in Poland; Mendelsohn: Zionism in Poland; Mendelsohn: On Modern Jewish Politics; Mendelsohn: The Jews of East Central Europe.

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in Polen.85 Wie der (nationalisierende) Staat und die Nation sich in verschiedenen Institutionen und bis zur Alltagsebene hin durchgesetzt haben, analysierte umfassend Stephanie Zloch.86 Neuere Untersuchungen erforschen die Teilhabe von Juden in staatlichen Institutionen wie beispielsweise im Sejm und in der Armee.87 Seit einigen Jahren gewinnt das Themenfeld der Beteiligung von Juden an der Kommunalpolitik an Aufmerksamkeit in der Forschung.88 Wurde zunächst die politische Aktivität von Juden in gesamtstaatlichen (wie dem Sejm) und innerjüdischen Institutionen (wie der kehillah) erforscht, erscheinen seit einigen Jahren vermehrt Beiträge zur kommunalen Ebene.89 So stellte Hanna Kozińska-Witt den vermeintlichen „lack of integrationalism“ der Juden an politischen Institutionen in Polen infrage. Die fehlende jüdische Beteiligung an letzteren sei eine historiografische Konstruktion.90 Vielmehr beweist sie, dass Juden – und zwar fast aller Gruppierungen – sich sehr rege an den kommunalen politischen Institutionen beteiligten, und das nicht allein in den innerjüdischen wie der kehillah, sondern eben auch in Stadträten.91 Die jüngste polnische Forschung nimmt zunehmend neue Akteurinnen und Akteure in den Blick – für mich waren hierbei vor allem Studien zu Kindern und Jugendlichen von großem Interesse.92 Während jüdische Schulen und Jugendorganisationen in der Zweiten Polnischen Republik bereits vielfach Gegenstand von Untersuchungen wurden (obschon bei Weitem noch nicht ausgiebig genug), bleibt der Klassenraum einer öffentlichen Schule als Interaktionsraum 85

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So untersuchte Gertrud Pickhan den Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund nicht nur als politische Partei, sondern zugleich das Selbstverständnis der Bundisten (bunidshe mishpokhe), die Arbeit außerhalb der Institutionen (oyf der gas), die bundischen Jugendund Kultureinrichtungen sowie polyvalente Zugehörigkeitsmuster der Bund-Anhänger, siehe Pickhan: „Gegen den Strom“; Pickhan: Kulturelle Vielfalt und Mehrsprachigkeit; Kathrin Steffen arbeitete in ihrer Analyse der polnischsprachigen jüdischen Presse heraus, wie durch diskursive Aushandlung Identifikationsprofile konturiert wurden, die Steffen als „jüdische Polonität“ bezeichnete, siehe Steffen: Jüdische Polonität. Zloch: Polnischer Nationalismus; vgl. auch: Henschel/Stach: Nationalisierung und Pragmatismus. Rudnicki: Żydzi w parlamencie; Henschel: Jabłonna. Für einen Überblick siehe Kozińska-Witt/Silber (Hg.): Schwerpunkt: Jewish Particpation in Municipal Self-Administrations. Zum Sejm und kehillah, vgl.: Rudnicki: Żydzi w parlamencie; Bacon: The Politics of Tradition; Kopstein/Wittenberg: Between State Loyalty and National Identity; Tomaszewski: Najnowsze Dzieje; Polonsky: The Jews in Poland and Russia. Bd. 3, S. 150–184. Kozińska-Witt: Jewish Participation, S. 190–191. Ebd., S. 191–194. Kozłowska: Świetlana przyszłość?; zu bundischen Jugendorganisationen siehe auch: Jacobs: Bundist Counterculture.

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weiterhin ein Desiderat.93 Dabei besuchten rund 80 % der jüdischen Kinder in Polen eine öffentliche Schule.94 Die Frage nach Akkulturation wurde in der Forschung bereits anhand staatlicher Schulpolitik, Schulbüchern und autobiographischen Schriften untersucht.95 Eine bislang unerforschte Quelle in diesem Kontext sind Protokolle der Lehrendenkonferenzen in öffentlichen Schulen, die in dieser Studie genauer analysiert werden. Die Holocaustforschung hat sich in den letzten Jahrzehnten rasant verändert und internationalisiert. Andrea Löw und Frank Bajohr unterstrichen in ihrem Band zum Holocaust in den europäischen Gesellschaften, dass sich der aktuelle Forschungstrend von der Politikgeschichte der NS-Führungs- und Ausführungsorgane hin zu einer Geschichte der sozialen Prozesse und Dynamiken in den lokalen Gesellschaften verschoben hat.96 Stand in den Untersuchungen zum Holocaust lange Zeit die Frage im Vordergrund, wie es zum Holocaust kommen konnte, und lag der Fokus damit aus unterschiedlichen Perspektiven auf der NS-Tätermaschinerie, verschieben sich nun Ort und Untersuchungsgegenstand hin zu den „killing fields“ im östlichen Europa, wobei dadurch der Täterinnen- und Täterbegriff erweitert wurde, und zu den besetzten Gesellschaften.97 Hatte beispielsweise der Historiker Omer Bartov 1991 ein Buch über die Wehrmacht vorgelegt, erschien 2018 seine Lokalgeschichte zu den polnischjüdisch-ukrainischen Beziehungen in der Stadt Buczacz.98 Forderungen nach einer Sozialgeschichte des Holocaust hatten der Forschung zum Thema bereits wichtige neue Impulse gegeben.99 In diesem Trend entstand auch das von Tatjana Tönsmeyer und Peter Haslinger geleitete Projekt „Societies under German Occupation“, welches den Besatzungsalltag der lokalen Bevölkerung und die Besatzungsbedingungen in den Fokus stellt.100 Auf dem von Tatjana 93

Zuletzt zur jüdischen Mädchenschule Seidman: Sarah Schenirer; Szyba: Die neue jüdische Schule; Schmidt Holländer: Vielfalt in der Einheit; Frost: The Jewish School System. 94 Bacon: National Revival, S. 76. 95 Heller: On the Edge; Wojtas: Learning to Become Polish; Landa-Cazjka: Syn będzie Lech; Kijek: Dzieci modernizmu; Prokop-Janiec: Klasa szkolna. 96 Bajohr/Löw: Beyond the ‚Bystander‘, S. 4–5. 97 Zur neuen Täterinnen- und Täterforschung siehe Bajohr: Neuere Täterforschung. 98 Bartov: Hitler’s Army; Bartov: Anatomy of a Genocide; eine Studie zu Berditschew legte Michaela Christ vor: Christ: Die Dynamik des Tötens. 99 Für eine Sozialgeschichte des Holocaust plädierte bereits Gross: Themes for a Social History, S.  15–35. Auch Gerlach versteht seine Studien zu extrem gewalttätigen Gesellschaften als eine Sozialgeschichte der Gewalt, siehe Gerlach: Extremely Violent Societies; Gerlach: The Extermination of the European Jews; weiterführend zur Erforschung sozialer Prozesse im Holocaust siehe auch Bajohr/Löw (Hg.): The Holocaust and European Societies; Bajohr/Löw (Hg.): Der Holocaust. 100 Vgl. die Projektbeschreibung „Societies under German Occupation“ unter der URL: http://www.societies-under-german-occupation.com (letzter Zugriff 07.04.2020).

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Tönsmeyer entwickelten Konzept der Besatzungsgesellschaften und den von Alf Lüdtke definierten Begriff des Kräftefeldes baue ich methodologisch den zweiten Teil der Arbeit auf.101 In Polen entstand inzwischen eine „neue Schule“ der Holocaustforschung, die mikrogeschichtliche Ansätze, anthropologische und kulturwissenschaftliche Methoden verbindet und neue Quellengattungen heranzieht. Federführend für diese Entwicklung in der polnischen Forschungslandschaft ist das 2003 gegründete Centrum Badań nad Zagładą Żydów (Zentrum für HolocaustStudien) in Warschau, das etablierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie Barbara Engelking, Dariusz Libionka, Jan Grabowski, Jacek Leociak, Alina Skibińska sowie wissenschaftlichen Nachwuchs aller Stufen versammelte. Ihre Forschungen leisteten bereits einen beeindruckenden Beitrag zur Aufarbeitung dessen, wie die Shoah im besetzten Polen verlief, wie Jüdinnen und Juden darauf reagierten und wie die nichtjüdische Bevölkerung sich verhielt.102 Vor allem ist die seit 2005 erscheinende Zeitschrift Zagłada Żydów. Studia i materiały (Der Holocaust. Studien und Materialien) zu einer der wichtigsten periodischen Publikationen der Holocaustforschung avanciert. In dem 2018 veröffentlichten Sammelband Dalej jest noc (Weiter ist nur Nacht), herausgegeben durch Barbara Engelking und Jan Grabowski, untersuchten Historikerinnen und Historiker neun Kreishauptmannschaften bzw. Landkreise im besetzten Polen.103 Dabei zeichnen sie die Überlebenswege von möglichst allen Jüdinnen und Juden nach, die in der dritten Phase der Shoah noch am Leben waren. Diese mikrohistorischen Untersuchungen zeigten zum einen die Eigeninitiative von Jüdinnen und Juden auf, wodurch diese viel stärker als Subjekte erscheinen. Zum anderen dekonstruieren sie den Bystander-Begriff für die nichtjüdische Lokalbevölkerung. Die neuere Forschung in Polen beschäftigt sich zudem ausgiebig mit den unmittelbaren und Langzeiteffekten des Zweiten Weltkrieges. Zum einen wurde der Antisemitismus in Polen nach 1945 untersucht,104 zum anderen jüdische Überlebende und ihre Institutionen in den Blick genommen.105 101 Siehe dazu Kapitel  4.1 „Methodologische Überlegungen: Besatzungsgesellschaften und Mikrogeschichte“. 102 Die Publikationen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zentrums haben die Holocaustforschung entscheidend vorangebracht, siehe Grabowski: „Judenjagd“; Engelking: „Szanowny panie gistapo“; Engelking: Jest taki piękny słoneczny dzień. 103 Engelking/Grabowski: Dalej jest noc. 104 Gross: Angst; Tokarska-Bakir: Pod klątwą; Cichopek: Pogrom Żydów; Engel: Patterns of Anti-Jewish Violence. 105 Zur Heimkehr von Jüdinnen und Juden in ihre Heimatstädte am Beispiel Radom siehe Krzyżanowski: Dom, którego nie było; zu verschiedenen politischen Optionen erschienen beispielsweise Aleksiun: Dokąd dalej?; Rusiniak-Karwat: Nowe życie na zgliszczach; siehe

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Einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der in Polen verbliebenen Habe der überlebenden Jüdinnen und Juden leistete der 2016 erschienene Sammelband Klucze i Kasa (Schlüssel und Geld).106 Andererseits erscheinen seit einigen Jahren Studien zum gesamtgesellschaftlichen sozialen Wandel Polens nach dem Krieg. Marcin Zaremba untersuchte das Gefühl der Angst als sozial wirksames Element nach 1945.107 Andrzej Leder analysierte die Konsequenzen des Krieges für das soziale Miteinander der Nachkriegsgesellschaft.108 Er erklärte zudem, dass zwischen 1939 und 1956 große soziale Verschiebungen in Polen stattfanden, aber quasi ohne das Zutun breiter Gesellschaftsschichten – daher der Titel Revolution im Wachtraum. Durch die Vernichtung die intellektuellen Eliten und eines großen Teils der Stadtbevölkerungen (durch die Ermordung der Jüdinnen und Juden) während des Zweiten Weltkriegs konnten ganz neue Gruppen diese Leerstellen im urbanen Raum nach dem Krieg füllen und in dem neuen politischen System aufsteigen. Ein Desiderat bleibt aber weiterhin eine Untersuchung, wie genau und von wem diese sozialen, menschlichen und materiellen Leerstellen in den Städten, wo vor allem die jüdische Minderheit gelebt hatte, gefüllt wurden. Dazu kann die vorliegende Studie einen Beitrag leisten. 2018 legte Joanna Tokarska-Bakir eine umfangreiche, zweibändige Studie zum Pogrom in Kielce 1946 vor, bei welchem die Ritualmordlegende wieder wirkmächtig wurde.109 Durch eine minutiöse Untersuchung zeigt Tokarska-Bakir die Verhaltensmuster der Täterinnen und Täter sowohl im biografischen Kontext als auch durch eine dichte Beschreibung des fraglichen Tages auf. Dabei weist sie nach, dass die am Pogrom beteiligten Milizen bereits während der Kriegszeit Jüdinnen und Juden töteten. Das legt die Frage nahe, auf wen sich die neuen Machthaber nach 1945 lokal stützten, um womöglich personelle Kontinuitäten dort zu erkennen, wo im ersten Moment nur der totale Bruch zu stehen schien. Dies bleibt weiterhin zu beforschen. Antisemitismus bzw. tradierte judenfeindliche Glaubensvorstellungen in Polen sind von Historikerinnen und Historikern sowie Kulturanthropologinnen und Kulturanthropologen vor allem in der longue durée untersucht worden. Alina Cała veröffentlichte eine erste größere Monografie zum Antisemitismus

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auch Adamczyk-Garbowska/Tych (Hg.): Następstwa Zagłady Żydów; in komparatistischer Perspektive Cichopek-Gajraj: Beyond Violence. Das Jüdische Historische Institut gibt seit 2014 die Reihe „Geschichte des Zentralkomitees der Juden in Polen“ heraus: Die veröffentlichten Bände beinhalten jeweils eine thematische Studie zu einer Abteilung des CKŻP und veröffentlichen Quellen, siehe z. B. Cała: Ochrona bezpieczeństwa. Grabowski/Libionka (Hg.): Klucze i kasa. Zaremba: Wielka Trwoga. Leder: Prześniona rewolucja. Tokarska-Bakir: Pod Klątwą.

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in der polnischen Kultur, die essenziell den Untersuchungszeitraum vom 19.  Jahrhundert bis zur Dritten Polnischen Republik umfasst.110 Agnieszka Pufelska analysierte eindringlich die Entstehung und Instrumentalisierung der Vorstellung von einer żydokomuna in einem breiten Kontext, der historische Zäsuren überbrückt.111 Joanna Beata Michlic arbeitet in ihrer Langzeitstudie heraus, inwiefern Jüdinnen und Juden im Bewusstsein nichtjüdischer Polinnen und Polen die konstituierenden Anderen waren, die als Bedrohung wahrgenommen wurden, und inwiefern sich das Nationsverständnis aus diesem vermeintlichen Bedrohungsszenario speiste.112 Aus anthropologischer Perspektive untersuchte Joanna Tokarska-Bakir die Hartnäckigkeit, mit der sich der Glaube an die Ritualmordlegende hielt.113 Diese Arbeiten bilden den Hintergrund, vor dem die vorliegende Mikrostudie in größere Ordnungen eingebettet werden kann. Gerade in Stadträumen lässt sich untersuchen, wie die hier genannten großen Themen (nationalisierender Staat, Aushandlung von Teilhabe und Zugehörigkeit, Antisemitismus und kulturell tradierte Vorstellungen von dem „Anderen“) im Alltag „geschahen“ bzw. produziert wurden sowie Wahrnehmungen und Handlungen der Einzelnen prägten. Die Perspektive, eine Stadt ins Zentrum der Untersuchung zu stellen und von dieser ausgehend die Umwälzungen des 20. Jahrhunderts, Nationalisierungsprozesse, interethnische Beziehungsgeflechte und Handlungsoptionen der Stadtbewohnerinnen und -bewohner zu analysieren, hat sich in den letzten Jahren verstärkt in der Forschung niedergeschlagen.114 Zuletzt legte Omer Bartov 2018 eine Geschichte interethnischer polnisch-jüdisch-ukrainischer Beziehungen in Buczacz vor und zeigte im Detail auf, wie ethnische Konflikte sich anbahnten, wie sie lokal gesteuert und ausgelebt wurden, um letztlich in einer Eruption von Gewalt während der Weltkriege zu eskalieren.115 Diese Studie ist extrem aufschlussreich, da sie die lokalen entrepreneurs, um mit Brubaker zu sprechen, der Mobilisierung von Konflikten darstellt und ihre Vielschichtigkeit aufzeigt. Bartov bleibt allerdings weitestgehend den essenzialistischen Vorstellungen 110 Cała: Żyd – wróg odwieczny? Alina Cała erforschte zudem das Bild „vom Juden“ in der polnischen Volkskultur, siehe dazu Cała: Wizerunek Żyda. 111 Pufelska: Die „Judäo-Kommune“; später nahm sich auch Paweł Śpiewak des Themas an, siehe Śpiewak: Żydokomuna; zu einer anthropologischen Untersuchung des Stereotyps der Żydokomuna siehe Zawadzka: Żydokomuna. 112 Michlic: Poland’s Threatening Other. 113 Tokarska-Bakir: Legendy o krwi; siehe auch Żyndul: Kłamstwo krwi. 114 Van Rahden: Juden und andere Breslauer; Ackermann: Palimpsest Grodno; Musekamp: Zwischen Stettin und Szczecin. 115 Bartov: Anatomy of a Genocide.

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von ethnischen Gruppen verhaftet, obschon er auch andere Konfliktebenen aufzeigt. Des Weiteren erschienen in den letzten Jahren mehrere Studien, die interethnische Beziehungen in den Städten des östlichen Europas untersuchen, um interethnische Konflikte und Gewaltausbrüche zu erklären.116 Die Studie zu Tarnów stellt sich einerseits in die Reihe dieser longitudinalen Untersuchungen und geht ebenso wie Felix Ackermann oder Till van Rahden vom Konstruktionscharakter ethnischer/nationaler Gruppen aus, die sich im Alltag wechselvoll gestalteten, Konturen annahmen, aber auch Zwänge auslösten und von Zwängen „von oben“ extrem abhängig waren. Die Untersuchung geht jedoch viel stärker vom mikrohistorischen Ansatz als Methode aus und untersucht auch für Tarnów ausgewählte Aspekte in minutiöser Rekonstruktion, um Eigeninitiative und Entscheidungsfindung des Einzelnen (in der Welt) vertiefter zu untersuchen. Auch konzentriert sich ein Großteil der Arbeit auf die Shoah, ohne aber eine teleologische Geschichte der interethnischen Konflikte zu schreiben, die zwangsläufig in beispielloser Brutalität enden mussten. Zu Tarnów konnte ich außerdem aus einer Fülle von Lokalstudien schöpfen. Für den Zweiten Weltkrieg sind allen voran die Arbeiten von Aleksandra Pietrzykowa zu erwähnen. Sie konzentrierte sich auf das Leid der politisch verfolgten nichtjüdischen Polinnen und Polen sowie den Widerstand, hat in ihrem Buch jedoch auch ein Kapitel der Shoah gewidmet. Dieses Kapitel und ein von Pietrzykowa verfasster Artikel waren lange Zeit die einzige Forschung, die es zur Judenvernichtung in Tarnów gab.117 2016 legte Melanie Hembera eine Dissertation zur Shoah in der Stadt Tarnów vor, basierend auf einer gründlichen und umfangreichen Archivrecherche.118 Hembera bezieht die Perspektive von Jüdinnen und Juden mit ein, konzentriert sich aber auf den Täterapparat, die Entscheidungsträger und deren Konkurrenz untereinander. Auch inkludiert sie Kurzbiografien der deutschen Täter in ihr Buch. Allerdings vernachlässigt sie weitestgehend die nichtjüdische polnische Lokalbevölkerung in ihrer Studie, sodass das vorliegende Buch genau hier ansetzen und zugleich Hemberas Darstellung durch den mikrohistorischen Blick in einigen Punkten nuancieren kann.

116 Mick: Kriegserfahrungen; Ther: Chancen und Untergang. 117 Pietrzykowa: Region Tarnowski; Pietrzykowa: Z dziejów Zagłady. 118 Hembera: Die Shoah.

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Quellen Um die Interaktionsräume dicht beschreiben zu können und zugleich der hier mehrmals postulierten Multiperspektivität gerecht zu werden, habe ich für die vorliegende Arbeit eine Bandbreite an diversen Quellengattungen untersucht, die auf Polnisch, Jiddisch und Deutsch verfasst wurden. Einerseits bediente ich mich hierbei, wie bereits beschrieben, offizieller Quellen wie der Protokolle des Stadtrats und der Lehrendenkonferenz, flankierte diese aber mit Schulberichten, Wahlkampfmaterialien, der lokalen Berichterstattung sowie Polizeiund Gerichtsakten aus der Zweiten Republik. Von hoher Bedeutung waren zudem Ego-Dokumente von jüdischen wie nichtjüdischen Tarnowianerinnen und Tarnowianern, vor allem Berichte, Memoiren und vereinzelt auch Korrespondenz, die im Jüdischen Historischen Institut (AŻIH  – Archiwum Żydowskiego Instytutu Historycznego) Warschau, im Yad Vashem-Archiv (YVA) in Jerusalem oder im Archiv der Neuen Akten (AAN – Archiwum Akt Nowych) in Warschau lagern. Besonders die in der unmittelbaren Nachkriegszeit für die historische Kommission in Polen (AŻIH Bestand 301) und in den DP-Camps (YVA Bestand M.1.) verfassten Berichte jüdischer Überlebender über die Shoah in polnischer und jiddischer Sprache waren sehr aufschlussreich. Die beiden bereits erwähnten yizker bikher zu Tarnów dienten mir als besonders wertvolle Quellen.119 Unveröffentlichte Erinnerungen, aber auch Fotografien habe ich meistens dank der Großzügigkeit der Familien überlebender Jüdinnen und Juden aus Tarnów bekommen, mit denen ich in Kontakt getreten bin. Die Interviews habe ich teilweise selbst geführt, zudem habe ich aus dem Visual History Archive der USC Schoah Foundation geschöpft. Einen sehr ergiebigen Aktenbestand boten die Gerichts- und Staatsanwaltschaftsakten, die den Zeitraum des Zweiten Weltkriegs betrafen. Diese lassen sich in drei Gruppen gliedern: 1) Die Ermittlungsakten der polnischen Staatsanwaltschaft aus der Zeit des Krieges.120 Die polnische Gerichtsbarkeit wurde während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg nicht in Gänze ausgesetzt. Die polnische Staatsanwaltschaft hatte also noch die Aufgabe, Ermittlungen in Strafsachen einzuleiten, wenn ein Verbrechen angezeigt wurde, das innerhalb der Lokalbevölkerung geschehen und ohne Beteiligung der Besatzer verübt worden war. Wenn also nichtjüdische Polinnen und Polen die Jüdinnen und Juden erpressten, ihr Eigentum raubten, zum Beispiel nach Deportationen oder nach der Ghettoisierung, so untersuchte die 119 Tarne. Kiem un hurbn; Tarnow-Tarne. Seyfer Zikhorn. 120 Ich danke Dagmara Swałtek-Niewińska für ihren Hinweis auf diesen Bestand im Tarnower Archiv.

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Staatsanwaltschaft den Fall, befragte Zeuginnen und Zeugen, etc. Nicht immer leitete sie ein Ermittlungsverfahren ein, aber allein schon die Zeuginnen- und Zeugenbefragungen und die Beweissicherungen sind von großem Erkenntniswert. Diese Akten sind sehr wertvoll, da sie zeitgenössisch, also noch während des Krieges, entstanden. Hier kommen Personen zu Wort, die den weiteren Verlauf des Krieges noch nicht kannten, also nicht retrospektiv berichteten. Die Akten gewähren von daher eine Einsicht in das Geschehen vor Ort und lassen Menschen zu Wort kommen, die den Krieg nicht überlebt haben, was eine Seltenheit bei der Quellenlage ist. Diese Akten lagern im Staatsarchiv in Tarnów. Auch für Gesamtpolen ist festzustellen, dass dieser Aktenbestand der örtlichen Staatsanwaltschaften während des Krieges weitestgehend unerforscht ist. 2) Die zweite Gruppe bilden die Anklagen wegen Kollaboration in Polen nach 1945, die sogenannten sierpniówki-Akten, die überwiegend im IPN (Instytut Pamięci Narodowej/Institut für Nationales Gedenken) in Warschau einsehbar sind, aber in Berufungsfällen an den zuständigen Lokalarchiven verblieben sind.121 3) Die dritte Gruppe dieser Quellengattung bilden die Prozesse gegen deutsche Täter, die im Aktenbestand der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg liegen. Des Weiteren sichtete ich die Berichte der Untergrundbewegung im AAN (Warschau) und die lokalen Untergrundzeitungen, die das Kreismuseum Tarnów zur Verfügung stellte, das Ringelblum-Archiv, Dokumente jüdischer Institutionen im Krieg (Jüdische Soziale Selbsthilfe) und nach dem Krieg (CKŻP  – Centralny Komitet Żydów Polskich/Zentralkomitee der Juden in Polen, TSKŻ – Towarzystwo Społeczno-Kulturalne Żydów w Polsce/ Sozial-kultureller Verband der Juden in Polen), die im Archiv des Jüdischen Historischen Instituts (Warschau) lagern. Ein wichtiger Aktenbestand waren die Akten der deutschen Behörden – der Kreishauptmannschaft Tarnów sowie der Regierung des Generalgouvernements (hier vor allem die Akten zum Baudienst) im AAN. Die Akten zu Rettern von Jüdinnen und Juden habe ich im Yad Vashem-Archiv (Jerusalem) und im AAN gesichtet. Im YIVO New York habe ich einige wenige Plakate aus Tarnów gefunden. Leider befanden sich unter den Biografien von Jugendlichen, die im Rahmen des Wettbewerbs des YIVO 1932, 1934 und 1939 eingesandt wurden, nur zwei Quellen aus Tarnów.122

121 Für eine eingehende Beschreibung dieser Quellengattung siehe das Kapitel 4 „Das Fallbeispiel Marian H. und Władysław Ł. oder: Hinführung zum Thema“. 122 YIVO RG 4/3739; YIVO RG 4/3671; zu den Wettbewerben des YIVO siehe auch Shandler: Awakening Lives; Kijek: Dzieci modernizmu.

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Für die Nachkriegszeit verwendete ich die Stimmungsberichte der UB (Urząd Bezpieczeństwa/Sicherheitsbehörde) aus dem IPN-Archiv in Warschau. *** Formale Anmerkungen Im Folgenden wird bei Personenbezeichnungen grundsätzlich die ausführliche Doppelnennung beider grammatikalischer Geschlechter gebraucht, es sei denn die Individuen einer angesprochenen Personengruppen gehören nur einem biologischen Geschlecht an – in diesem Falle wird auch nur die jeweils passende grammatikalische Form verwendet.123 Bei Paraphrasierungen von Zitaten, in denen das weibliche Geschlecht nicht explizit genannt wurde, wird hingegen auf die Doppelnennung verzichtet, um den Zeitzeuginnen und -zeugen nicht eine gendergerechte Sprache in den Mund zu legen. Die Doppelnennung erlaubt einerseits, die Präsenz der Frauen als historische Akteurinnen sprachlich zu verankern, und andererseits deren Fehlen zu markieren, zum Beispiel als Stadträtinnen. Die Doppelnennung veranlasst die Forschenden dazu, sich viel stärker der Frage zu stellen, ob zu einer gewissen Personengruppe auch Frauen gehörten bzw. wann Frauen explizit von den Zeitgenossinnen und -genossen benannt wurden, wie bei einem Plakat des Bund und der Poale-Zion: „Towarzysze! Towarzyszki! Robotnicy! Robotnice!“/ ‫ארבעטער און ארבעטערינס‬ – eine herausfordernde, aber lohnende Aufgabe.124 „Tarnów“ heißt die untersuchte Stadt im Polnischen, „Tarne“ im Jiddischen und „Tarnow“ im Deutschen. Ich entschied mich, in der Arbeit polnische Stadtnamen zu benutzen. Konsequenterweise wird daher auch im Folgenden von Rzeszów, Przemyśl, aber auch von Lwów die Rede sein. Dies ist zwar unter Umständen problematisch, soll aber nicht auf eine diskursive „Kolonialisierung“ der Stadt hinweisen, sondern dient der Vereinheitlichung des Textes. Die Großstädte Warschau und Krakau bilden eine Ausnahme  – hier werden die deutschen Bezeichnungen benutzt, da sie sich zum einen im Deutschen fest etabliert haben und zum anderen feststehende Begriffe wie Warschauer Ghetto oder Distrikt Krakau nicht umschrieben werden sollen.

123 Andere Formen als die Doppelnennung, also beispielsweise der Unterstrich oder die Binnenmajuskel („I“), waren wegen der Lautverschiebung bei Jüdinnen/Juden nicht praktikabel. 124 Bund und die Linke Poale Zion in Tarnów benutzten auf Plakaten und Aufrufen zu ErsteMai-Demonstrationen beide grammatikalische Geschlechter, ANKr. Odd. T. 33/PT 110.

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Viele meiner jüdischen Protagonisten wechselten im Laufe des Lebens ihre Namen: In den „arischen“ Papieren hatten sie einen anderen Namen als den Geburtsnamen. Oft behielten sie den Namen aus der Kriegszeit gänzlich oder zum Teil nach dem Krieg. Namen wurden nach der Ankunft in Palästina oder Israel hebraisiert. Frauen heirateten und änderten ihre Namen, manchmal mehrfach. Ich entschied mich dafür, die Namen aus den Quellen zu benutzen, um Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten. Im Falle von Interviews, die in der Nachkriegszeit geführt wurden, benutze ich also häufig jenen Namen, die die Person zum Zeitpunkt des Interviews trug, auch wenn sie über die Vorkriegszeit sprach. Dennoch erwähne ich die Vorkriegsnamen, um Familienverhältnisse und Bezüge zu der Vorkriegszeit darzustellen. Auch sind beide Namen im Personenregister erwähnt, nicht um Menschen als jüdisch „zu entlarven“, sondern um Kontinuitäten nachvollziehbar machen zu können. Wenn nicht anders gekennzeichnet, stammen alle Übersetzungen der Originalzitate aus dem Jiddischen und dem Polnischen von der Verfasserin. Die Umschrift aus dem Jiddischen richtet sich nach den YIVO-Standards der Transliteration und ist an die englische Phonetik angelehnt.

teil i Die Zweite Polnische Republik, 1918–1939

Abbildung 1 Tarnóws „Skyline“, 1930er Jahre. Im Westen der Kirchturm der Kathedrale, Symbol für die katholische Bevölkerung, in der Mitte der Uhrturm des Rathauses, Symbol der säkularen Macht, im Osten die Kuppel der neuen Synagoge, Symbol der jüdischen Bevölkerung

kapitel 1

Tarnów vermessen – eine Einführung in den Stadtraum Seit 1911 verkehrte eine Straßenbahn durch Tarnów. Sie begann am unverwechselbar galizischen Hauptbahnhofsgebäude (siehe Abbildung 3), führte dann die Krakowska Straße entlang, eine mit Gründerzeithäusern gesäumte Flaniermeile, hinauf in Richtung des Marktplatzes. Die Tram bog kurz vor dem auf einer kleinen Anhöhe gelegenen alten Stadtkern von Tarnów in die Wallstraße ab, umkreiste den historischen Stadtkern und setzte ihren Lauf Richtung Osten in der Lwowska Straße fort. Damit markierten bereits die Straßennamen Tarnóws die wichtigsten Referenzpunkte für die Lage der Stadt im alten Galizien  – vom Stadtkern führte der Weg im Westen nach Krakau und im Osten nach Lemberg. Der alte Stadtkern, das war ein quadratisch angelegter Marktplatz  – der Rynek (siehe Abbildung 4). In seiner Mitte thronte das aus dem 16.  Jahrhundert stammende Renaissance-Rathaus, welches Symbol der säkularen Macht war. Bis Oktober 1931 hatte hier der Stadtrat Tarnóws getagt.1 Noch zu Beginn des 20.  Jahrhunderts wachte auf dem Turm des alten Rathauses ein Feuerwehrmann. Seine Trompete erklang über der Stadt zu jeder Viertelstunde (zuweilen zum Leidwesen der Bewohnerinnen und Bewohner), und der Ton eines langgezogenen Signals sollte die Stadtbevölkerung vor Gefahren warnen.2 Als im Jahre 1988 die Tarnów-Landsmannschaft in einer Wohnung in Tel-Aviv zusammentraf, unter ihnen Zvi Ankori, fragte ein Filmemacher die Versammelten: „Wenn ich nur ein Objekt in Tarnów filmen könnte, welches würdet ihr auswählen?“ Daraufhin antwortete einer von ihnen: „Ich sage, der Rynek und der Ratusz müssen gezeigt werden. Das ist das Wahrzeichen der Stadt, nicht nur für die Juden.“3 1 Potępa: Tarnów międzywojenny, S. 95, 100. Der Stadtrat zog dann in ein größeres Gebäude im Südosten des alten Stadtkerns auf der Bernardyńska/Ecke Szeroka Straße. Im Rathaus befand sich seit jeher das städtische Museum. 2 Potępa: Fiakrem po Tarnowie, S. 114. 3 Unfinished talk, Israel 1988, Regie: Igal Burstein, Min: 01:47–02:17. Obwohl das Gespräch auf Hebräisch stattfand, wurden die polnischen Ausdrücke „Rynek“ und „Ratusz“ verwendet.

© Brill Schöningh, 2022 | doi:10.30965/9783657760091_003

Abbildung 2

Karte

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Abbildung 3

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Straßenbahn vor dem Tarnower Bahnhof

Tarnów war seit seiner Gründung 1330 eine adelige Privatstadt, in der die Adelsfamilie den Bürgern Rechte und Privilegien gewährte, darunter auch den seit dem 15. Jahrhundert in der Stadt angesiedelten Juden. Tarnóws Juden hatten traditionell eine Mittlerposition zwischen dem Bauerntum und dem Adel inne und betätigten sich als Händler und Handwerker. Der Adel konnte als Schutzherr der Juden auftreten. Nach einem verheerenden Brand in Tarnów Anfang des 18.  Jahrhunderts hatte Fürst Sanguszko Juden das Recht erteilt, sich innerhalb der Stadtmauern und direkt am Marktplatz niederzulassen, mit dem Ziel, so den schnellen Wiederaufbau der Stadt anzukurbeln.4 Dass Jüdinnen und Juden am Marktplatz wohnten, war in der longue durée sichtbar. Noch heute verweisen die östlich vom Markt abgehenden Straßennamen, 4 Bańburski: Żydzi w Tarnowie, S. 16.

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Abbildung 4

kapitel 1

Das Rathaus von Tarnów

Żydowska und Wekslarska, auf die Präsenz von Jüdinnen und Juden im alten Stadtkern. Wie aus den Grundbucheinträgen hervorgeht, gehörte bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs der weitaus größte Teil der Häuser direkt am Rynek Jüdinnen und Juden.5 Einer der Besitzer war der Rechtsanwalt und Stadtrat Zygmunt Silbiger, der Protagonist der ersten Mikrostudie zum „Lokalparlament“.6 Der 1895 geborene Historiker Salo W. Baron wohnte ebenso direkt am Tarnower Rynek. Er erhielt Gemara-Unterricht von Zvi Ankoris Vater, reb Aazik Wróbel.7 Bis in die 2000er Jahre waren Spuren von mezuzot (Kapsel mit Schriftenrolle mit Abschnitten aus der Schma Jisrael am Türpfosten) in den Hauseingängen am Marktplatz von Tarnów sichtbar. Der Marktplatz, der Rynek, rund um das Rathaus, war während der Zweiten Polnischen Republik der zentrale Ort des Handels. Hier hatten jüdische Kleinkrämer ihre Geschäfte und stellten ihre Marktstände auf. Hier blühte der 5 ANKr. Odd. T.  33/2: Zarząd miejski i Prezydium Miejskiej Rady Narodowej w Tarnowie/ Au 194. 6 Zygmunt Silbiger besaß das Gebäude Rynek  2, Ecke Kathedralenplatz  7 und hat 1937 die Auflage von der Stadt bekommen, es zu sanieren, APT  33/2: Zarząd miejski i Prezydium Miejskiej Rady Narodowej w Tarnowie/Au 194. 7 Nachdem Baron in die USA auswanderte, war er von 1930 bis 1963 Professor für jüdische Geschichte an der Columbia University in New York. Später folgte ihm Zvi Ankori selbst als Geschichtsprofessor für einige Zeit an die Columbia.

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Abbildung 5

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Rynek Aufstellung am Markttag, 1930

Kleinhandel, an den sich Tarnowianerinnen und Tarnowianer lebhaft erinnern konnten: „In der Stadt brach der Morgen oft mit viel Lärm an. Vom Markt her, mit seinen Geflügelhändlern und Krämern, erschallten die Rufe der Verkäufer und Käufer, die sich um die Stände drängten.“8 Alle Läden im Rathausgebäude gehörten ausnahmslos jüdischen Kleinkrämern.9 Das Erdgeschoss der umliegenden Häuser am Rynek wurde oft zu Kramläden umfunktioniert.10 An Markttagen kamen Bäuerinnen und Bauern vom Umland in die Stadt und die meist jüdischen Handwerker und Kleinhändler boten auf dem Marktplatz ihre Waren feil. Die soziale und ethnische Schichtung erzeugte Neid und Spannungen, wie wir noch im weiteren Verlauf der Studie sehen werden. Der Rynek wurde zunehmend zu einem contested space. 8 9 10

Klein: Le singulier destin, S. 20; Vgl. auch Lavyel, Shulamith: Interview, 01.06.2013, Haifa, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. Protokoll des Stadtrats vom 04.03.1926, ANKr. Odd. T. 33/1/Akta miejskie ZMT 1. Simche: Tarnów, S. 111.

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kapitel 1

Abbildung 6

Handel am Marktplatz I

Abbildung 7

Handel am Marktplatz II

Tarnów vermessen

Abbildung 8

Handel am Marktplatz III, im Hintergrund der Turm der Kathedrale

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kapitel 1

Abbildung 9 Alte Synagoge

Nordwestlich vom Marktplatz ragt bis heute der Turm der Tarnower Kathedrale in die Höhe, der Bischofssitz der Tarnower Diözese (vgl. Abbildung 1 und 8). Die Glocken der Kathedrale riefen die Gläubigen über die Stadt hinweg zu den Gottesdiensten. Nach dem deutschen Überfall auf Polen 1939 setzte sich der Priester Jan Bochenek (1893–1976) dafür ein, dass die Glocken während der Besatzungszeit weiterhin ertönen konnten.11 Auf der anderen Seite des Rynek, nordöstlich, nur rund 100  Meter vom Rathaus entfernt, befand sich die alte Synagoge aus dem 17. Jahrhundert (vgl. Abbildung 9). Sie wurde – wie alle anderen Synagogen Tarnóws – am 9. November 1939 von den deutschen Besatzern zerstört. Das historische Ensemble beschrieb Zvi Ankori in seinen anfangs zitierten Erinnerungen an seine Rückkehr nach Tarnów 1945: „From there to the Rynek, the Central Square. The cathedral and the Town Hall […]. The ‚old Synagogue‘.“12 Verdichtet an einem Ort hatten hier sowohl die jüdische als auch die römisch-katholische Gemeinde je ein Gottes- bzw. Gebetshaus sowie die säkulare Macht einen Sitz im Rathaus. Dazwischen auf dem Marktplatz florierte der Handelsaustausch. Ein topografischer Ort der Interaktion, an dem zuweilen auch die Asymmetrie der Kontakte der nichtjüdischen zu der jüdischen Bevölkerung sichtbar wurde, wie wir noch sehen werden. 11 12

Bochenek: Na Posterunku, S. 19–20. Ankori: Chestnuts, S. 209.

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Vom frühneuzeitlichen Stadtensemble im historischen Stadtkern ausgehend blicken wir nach Westen der Straßenbahn nach  – die Krakowska entlang. Tarnów entwickelte sich seit dem ausgehenden 19.  Jahrhundert zu einer modernen Stadt, als sich hier vermehrt Industrie ansiedelte. Um die Jahrhundertwende entstanden gutbürgerliche Gründerzeithäuser, die die Krakowska säumten (vgl. Abbildung 10). Sie wurde zu DER Flaniermeile der Stadt. Die Publizistin Antonia Pisz schrieb 1910: „Bei uns wird die Straße zum Salon: Menschen treffen sich, halten an, stehen in Gruppen herum und unterhalten sich, begrüßen sich oder tun so, als würden sie sich nicht erkennen, sie lachen und haben Spaß, lästern über andere, belügen und kritisieren einander oder machen einander Komplimente […].“13 Die Bevölkerungszahlen wuchsen zu Beginn des 20. Jahrhunderts rasant. Um 1900 lebten rund 32 000 Menschen in Tarnów, bereits 1931 rund 45 000 und 1938 56 000, wobei der letzte Sprung durch Eingemeindungen zustande kam.14 Im Jahre 1931 deklarierten 56,3 % der Bevölkerung römisch-katholisch als Religion und 43 % jüdisch. Dagegen gaben 64,1 % Polnisch als Muttersprache an, während 35,6 % Jiddisch oder Hebräisch angaben.15 Im Jahre 1936 wuchs der Anteil von Jüdinnen und Juden auf rund 47  % der Stadtbewohnerinnen und -bewohner.16 Laut Angaben im yizker bukh gehörten rund 90 % aller Häuser auf den Straßen Krakowska, Wałowa, Brodziński, Goldhammer, Nowa, Szpitalna, Koszarowa – also im Westen und Norden des alten Stadtkerns  – Jüdinnen oder Juden.17 In den westlich und nördlich vom Stadtkern gelegenen Vierteln Strusina und Pogwizdów hielten sich jüdische und nichtjüdische Bewohnerinnen und Bewohner die Waage, während in Zabłocie, einem im Süden gelegenen, dünn bebauten Gebiet ca.  90  % der Einwohnerinnen und Einwohner nichtjüdische Polinnen und Polen waren.18 Folgen wir nun der Straßenbahn vom Rynek nach Osten, die Lwowska Straße entlang, erblicken wir zunehmend ein ärmlicheres Tarnów. Nördlich der Lwowska zog sich das Arbeiterviertel Grabówka hin, zum Teil mit dörflich anmutenden, einstöckigen Holzhäusern und nicht gepflasterten Straßen. 13 14 15

16 17 18

Pisz, Aniela in: Pogoń, 18.12.1910, zitiert nach Potępa: Fiakrem po Tarnowie, S. 126. Gołębiowski: Stosunki społeczno-ekonomiczne, S. 409–456. In absoluten Zahlen: Aus der Gesamtbevölkerung von 44 927 Einwohnerinnen und Einwohnern der Stadt Tarnów 1931 gaben 25 305 an römisch-katholischer und 19 330 jüdischer Religion anzugehören, während 28  786 Polnisch als Muttersprache deklarierten und 13 962 „Jüdisch“ (żydowski). Drugi powszechny spis ludności z dn. 09.12.1931 r., Tabelle 11, S. 32, Tabelle 12, S. 35. Zur Problematik dieser Volkszählung und zum Bias der Angabe der Muttersprache siehe Tomaszewski: Niepodległa Rzeczpospolita, S. 157–158. ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT/44 Ewidencja ludności, 24.04.1936. Vgl. Chomet: Tsu der geshikhte, S. 11. Ebd, S. 7–8.

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kapitel 1

Abbildung 10

Blick auf die Krakowska Straße mit der Straßenbahn, hinten die Türme der Missionarskirche

Es war der am „chaotischsten“ angelegte Stadtteil.19 Und hier lebten zu 77 % Jüdinnen und Juden, wie aus dem Wählerinnen- und Wählerverzeichnis von 1939 hervorgeht.20 In der post-Holocaust-Erinnerung von Eliezer Wurtsel wird der Stadtteil belletristisch aufgeladen und mit Versatzstücken aus wohlbekannten Mustern der Shtetl-Literatur ausgeschmückt.21 Weit von dem städtischen Glanz, von den hohen gotischen Klosterspitzen, von den schönen hohen Häusern im modernen und mittelalterlichen Stil, lag den Berg herab Grabuvke [jidd. für das Stadtviertel – AW] – das große Viertel jüdischer Arbeiter, Heimarbeiter und armer Handwerker. Wie Schlangen zogen sich die Gassen und Gässchen zwischen den hölzernen Hütten und in die Erde eingesunkenen Lehmhäusern hindurch.22

Doch obwohl hier die große Mehrheit jüdisch war, lebten unter ihnen auch nichtjüdische Familien. Aleksander Dagnan beschrieb einige der Holzhäuser in Grabówka wie folgt: In der Mitte lag eine Diele. Während auf der einen Seite eine jüdische Familie lebte, so wohnte auf der anderen eine nichtjüdische. 19 20 21 22

Simche: Tarnów, S. 113. Nach dem Wählerverzeichnis zur Stadtratswahl 1939: Z Frontu Wyborczego. In: Tygodnik Żydowski, 17.02.1939, S. 2. Zu den Vorstellungen über das „Shtetl“ als Erinnerungsort siehe Wierzcholska: Shtetl. Wurtsel: Funem yidishn arbeyter kampf, S. 668.

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Nachbarschaftliche Kontakte waren hier an der Tagesordnung.23 Die Straßenbahn erreichte am Ende der Lwowska ihre Endhaltestelle und fuhr zurück. Obschon der Stadtrat von Tarnów mehrmals darüber debattierte, die unrentable Straßenbahn abzuschaffen, welche die Krakowska mit dem alten Stadtkern und Grabówka verband, blieb sie bis heute in den Erinnerungen vieler Tarnowianerinnen und Tarnowianer als bedeutendes Element bestehen.24 „Ah, and something else“, fiel es Shulamith Lavyel (née Feig, einer Verwandten von Zvi Ankori) in einem Interview in Haifa über ihre Kindheit in Tarnów ein, „when we went back home, sometimes she [my mother – AW] would take the tramway. And it was a real treat.“25 Tarnów sei „kein Shtetl gewesen, es war eine Kreisstadt mit einer Straßenbahn, da waren wir stolz drauf,“ berichtete Ludwik Garmada.26 Letztlich wurde die Straßenbahn von den deutschen Besatzern 1942 eingestellt.27 1.1 Arbeitswelten Tarnów war also kein Shtetl, sondern eine mittelgroße Stadt mit einer namhaften Industrie. Zwar waren auch in Tarnów viele Jüdinnen und Juden im Handel tätig, besaßen kleine Handwerksbetriebe, aber zunehmend hatte sich auch ein Industrieproletariat ausgebildet, das in größeren Betrieben beschäftigt war. Im Folgenden soll die soziale und ökonomische Struktur der Stadt skizziert und zudem der Frage nachgegangen werden, inwiefern der Arbeitsmarkt ethnically split war und wo und wie sich gemeinsame Interaktionsräume eröffneten. Zunächst ist einmal festzuhalten, dass sich die historisch gewachsene soziale Struktur der jüdischen Bevölkerung als middlemen minority in den Städten der Zweiten Republik niederschlug. 96 % der arbeitenden jüdischen Bevölkerung im Polen der Zwischenkriegszeit war für ihren Lebensunterhalt 23 24

25 26 27

Dagnan, Aleksander: Interview, 06.03.2013, Tarnów, Polen, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. Posiedzenie rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 23.12.1938, S.  1–2. Die Sitzung war allein der Straßenbahn gewidmet. Über die Abschaffung der Straßenbahn wurde auch vier Jahre zuvor debattiert: Z rady miejskiej. In: Hasło, 13.09.1934, S. 1–2; vgl. auch Potępa: Przed Wojną, S. 34, 142–143. Lavyel, Shulamith: Interview, 01.06.2013, Haifa, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. Garmada, Ludwik: Interview 7329, 05.12.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 10.03.2021). Barszcz: Tramwaje, S. 466.

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kapitel 1

auf Tätigkeiten außerhalb der Landwirtschaft angewiesen.28 Dies stand im diametralen Gegensatz zur nichtjüdischen Bevölkerung des Landes, die zu 80 % im Agrarsektor tätig war. Diese Zahlen erklären zugleich die StadtLand-Verteilung zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung.29 Weiter ist zur Sozialstruktur von beruflich aktiven Jüdinnen und Juden in der Zweiten Republik hervorzuheben, dass rund 35 % im Handelssektor und 32 % in Handwerk und Industrie tätig waren, also insgesamt rund zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung.30 Was Handwerk und Industrie angeht, so muss dabei bedacht werden, dass die Hälfte aller jüdischen Betriebe in ganz Polen keine Angestellten hatte. Es waren also vor allem selbstständige Handwerksleute – Schuster, Schneider etc., die eigenständig arbeiteten. Insgesamt  90  % aller jüdischen Betriebe in Polen hatten drei oder weniger Angestellte.31 Das heißt jüdische Handwerksbetriebe in Polen waren mehrheitlich kleine Betriebe. Hinzu kamen noch die Heimarbeiter und -arbeiterinnen, deren Zahl schwer zu schätzen ist. Die Heimarbeit war meist saisonbedingt, manchmal mit einer anderen Tätigkeit gekoppelt, zum Beispiel in einer Fabrik, und oft arbeitete die Familie mit.32 Das sind Zahlen für Gesamtpolen, doch auch in Tarnów wird deutlich sichtbar, dass sich einige Berufssparten traditionell nach ethnischen Gesichtspunkten teilten. Der Handel in der Stadt war von jüdischen Bewohnerinnen und Bewohnern geprägt. Davon zeugen die Stände auf dem Marktplatz, die Läden im Rathaus gehörten ebenso ausnahmslos jüdischen Menschen. Im yizker bukh behauptet Salomon Spann, dass schätzungsweise rund 95 % aller Geschäfte in der Stadt von Jüdinnen oder Juden betrieben wurden.33 Für Tarnóws Gesamtbevölkerung wurde laut der Volkserhebung von 1931 folgende berufliche bzw. soziale Schichtung erhoben, wobei die Arbeitenden nicht nach ethnischer Herkunft unterschieden wurden. Im Jahre 1931 war rund 37 % der arbeitenden Bevölkerung in Industrie und Handwerk tätig, ca. 21 % im Handelssektor (hier mehrheitlich Jüdinnen und Juden) und bei Versicherungen, rund 11 % arbeiteten im öffentlichen Dienst, während ca. 9 % im Kommunikations- und Transportwesen tätig waren.34 Unter den Ärzten und Rechtsanwälten von Tarnów war ein hoher Anteil an Juden (ob Jüdinnen unter 28 29 30 31 32 33 34

Marcus: Social and Political History, S. 29. Vgl. Einleitung in diesem Buch, Unterkapitel „Der Ort der Untersuchung: der urbane Raum Tarnów“. Castellan: Remarks on the Social Structure, S. 188. Ebd., S. 196. Marcus: Social and Political History, S. 55. Spann: Areynfir-vort, S. XIII. Drugi powszechny spis ludności z dn. 09.12.1931 r., Tabelle 18, S. 72; Gołębiowski: Stosunki społeczno-ekonomiczne, S. 436.

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ihnen waren, ist nicht bekannt). Der Arztsohn Ludwik Garmada schätzte, dass über die Hälfte aller Ärzte in Tarnów jüdisch waren.35 Es gab aber auch rund 10 % Arbeitslose in der Stadt.36 Neben den vielen jüdischen Kleinkrämern, selbstständigen Handwerkern, kleineren Schneidereien, die als Familienbetriebe geführt wurden, und ärmeren Heimarbeitenden, die zum Teil um ihr Überleben kämpfen mussten, gab es durchaus auch größere Handelsbetriebe in der Stadt, deren jüdische Geschäftsführer es zu einem gewissen Wohlstand brachten. Cesia Honig aus Tarnów erinnerte sich an ein wohlhabendes und behütetes Leben vor dem Krieg. Ihr Vater Naftali Honig hatte ein eigenes Handelsunternehmen gegründet und vertrieb unter anderem bäuerliche Produkte wie Getreide.37 Der Vater von Elżbieta Brodzianka-Gutt (vor dem Krieg hieß sie Gizela Lamensdorf) repräsentierte eine Textilfirma aus Łódź, und das Geschäft lief gut.38 Der Protagonist der Studie zum Stadtrat, Zygmunt Silbiger, war kurzzeitig Vorsitzender das Handelsverbandes von Tarnów.39 Er stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie, die es zum Besitz einiger Immobilien in der Stadt gebracht hatte, unter anderem direkt am Rynek. So gab es ebenfalls eine wohlhabende bürgerliche jüdische Elite in der Stadt. Seit dem ausgehenden 19.  Jahrhundert entwickelte sich in Tarnów die Textilindustrie. Während der Zeit der Zweiten Republik zählte Tarnów 61  Textilbetriebe, deren Eigentümer zumeist jüdisch waren. Über  50 der Betriebe hatten mehr als vier Angestellte. Sie nahmen sich unterschiedlicher Sparten an, von der Hut- bis zur Schuhindustrie war alles vertreten: Wäsche, Trikot, Lederwaren, Gummifertigungen, alle Kleidungssorten für Männer und Frauen, vom Alltagsgebrauch bis zu luxuriösen Gütern.40 Im Jahre 1931 waren rund 1200 Arbeitende in der Konfektionsindustrie angestellt, mehrheitlich Jüdinnen und Juden, wobei diese Zahl erheblich nach oben korrigiert werden müsste, wenn man die Scharen der Heimarbeitenden mitberücksichtigt, die zumeist die Arbeit in ihren Behausungen im ärmeren Grabówka verrichteten.41 Doch die Zahl der Arbeitenden in der Textilbranche wuchs an. Der Verband der in der Kleidungsindustrie Beschäftigten, dessen Vorsitz der Bundist 35

Garmada, Ludwik: Interview 7329, 05.12.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 10.03.2021). 36 Gołębiowski: Stosunki społeczno-ekonomiczne, S. 436. 37 Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 38 Brodzianka-Gutt, Elżbieta: Interview 25736, 04.12.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 39 Chomet: Yidishe virtshaftlekhe organizatsies, S. 244. 40 Zayden: Konfektsie-industrie, S. 236; Simche: Tarnów, S. 204. 41 Chomet: Tsu der geshikhte, S. 122; Simche: Tarnów, S. 204.

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kapitel 1

Abbildung 11

Arbeiterinnen in der Firma „Wurzel und Daar“

Shlomo Sporn innehatte, zählte 3000 Mitglieder.42 Vier größere Betriebe aus Tarnów, darunter der Gummihersteller „Wurzel und Daar“, schlossen sich zu „DressExport“, einem Exportunternehmen, zusammen, das Tarnower Mode in ganz Europa und darüber hinaus vertrieb.43 1939 erhielten drei jüdische Textilbetriebe aus Tarnów, darunter auch die stadtbekannte Firma „Gans und Hochberger“, den Zuschlag vom polnischen Generalstab, Uniformen für die polnischen Streitkräfte zu nähen. Sie produzierten um die 100 000 Uniformen monatlich und mussten zusätzliche Arbeitende anstellen.44 Zu den größeren jüdischen Arbeitgebern der Stadt gehörten auch die Ziegelei von Brach und Goldman, Silberpfennigs Schuhleistenfabrik, die Szancer Mühle, die Gerberei 42 43

44

Sporn: Der algemeyner yidisher arbeyter-bund, S. 651; über 3000 Arbeitende in der Textilbranche vor dem Zweiten Weltkrieg berichtet auch Chomet: Tsu der geshikhte, S. 123. Zayden: Konfektsie-industrie, S.  237. Mendel Daar war Teilhaber von „Wurtsel und Daar“, er ist vor dem Krieg in die USA ausgewandert und dort 1940 verstorben. Seine Frau Mina wurde während des Krieges in Auschwitz ermordet. Die Tochter versteckte sich in Wieliczka. Für den Einblick in die Familienerinnerungen von Mendel Daar danke ich seinem Enkel Henry Wassermann, Wasserman, Henry: Interview, 25.05.2013, Tel-Aviv, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. Zayden: Konfektsie-industrie S. 238; Bartosz: Tarnowskie Judaica, S. 28.

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von Abraham Dawid und viele andere.45 Laut der Volkszählung von 1931 waren insgesamt rund 10 000 Menschen (jüdische wie nichtjüdische) in Tarnów als Lohnarbeitende in Handwerk und Industrie beschäftigt, das waren rund 22 % der gesamten Stadtbevölkerung.46 Tarnów war wahrlich kein Shtetl, sondern eine namhafte mittelgroße Stadt, mit einem Industrieproletariat, das sich untereinander organisierte, worauf wir im weiteren Verlauf der Arbeit noch zurückkommen werden. Was nun die ethnische Aufteilung des Arbeitsmarktes anbelangt, so haben wir hierfür einige Informationen, aus denen sich ein schemenhaftes Bild ergibt. So notiert Abraham Chomet, dass in der Hutindustrie die 82 Arbeiten­ den ausschließlich jüdisch waren, während in den Wäschebetrieben mit 127  Arbeitenden rund 70  % jüdisch waren.47 Die Textilindustrie gehörte in großer Mehrheit Juden, die Belegschaften war größtenteils jüdisch, aber nicht ausschließlich. Als 1932 bei „Wurzel und Daar“ ein Streik ausbrach, zählte die Polizei unter den 47 Streikenden 40 Jüdinnen (mehrheitlich) und Juden sowie sieben Nichtjüdinnen.48 Wie sich der prozentuale Anteil von Jüdinnen/Juden bzw. Nichtjüdinnen/Nichtjuden in anderen Textil-Großbetrieben darstellte, konnte trotz intensiver Recherche nicht ermittelt werden. Dennoch können wir aus den Zahlen und Berichten aus dem yizker bukh und aus Erinnerungen von Überlebenden schlussfolgern, dass in der Textilindustrie überwiegend Jüdinnen und Juden arbeiteten. Dagegen gab es andere Wirtschaftszweige, in denen vorwiegend nichtjüdische Arbeitende tätig waren. Die Glanzzeit der Adelsfamilie Sanguszko, der die Privatstadt Tarnów in der Frühen Neuzeit gehört hatte, war zwar längst Vergangenheit, aber die Nachfahren lebten weiterhin in der Stadt und besaßen Ländereien, Fabriken und eine Brauerei. Damit waren die Sanguszkos ein wichtiger Arbeitgeber. Im Jahre 1927 verkaufte Fürst Sanguszko ein großes Landstück in Świerczków bei Tarnów an die Stadt, und dort entstand auf Initiative des damaligen polnischen Staatspräsidenten Ignacy Mościcki (1867– 1946) persönlich eine moderne staatliche Stickstofffabrik. (Seither wurde die Gemeinde in Mościce umbenannt.) Es war die zweitgrößte staatliche Industrieinvestition in Polen nach dem Ausbau des Gdinger Hafens. Die Bedeutung des Prestigeprojekts ist auch daran abzulesen, dass in den Jahren 1930 bis 1935 Eugeniusz Kwiatkowski  (1888–1974) zum Direktor ernannt wurde, der zuvor Minister für Handel und Industrie war. Zudem war er maßgeblich am Ausbau 45 46 47 48

Ebd., S. 28. Vgl. Drugi powszechny spis ludności z dn. 09.12.1931 r., Tabelle 18, S. 72. Chomet: Tsu der geshikhte, S. 123; vgl. auch Simche: Tarnów, S. 206. ANKr. Odd. T. 33/97 PSOT (Prokuratura Sądu Okręgowego w Tarnowie)/PT 48/2457/32.

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des Gdinger Hafens beteiligt. Anschließend, ab 1935, bekleidete er das Amt des Vizepremierministers in der polnischen Regierung. Mościce wurde in die Stadt Tarnów eingemeindet, woraufhin hier nun ein modernes städtebauliches Projekt mit Wohnanlagen, Baugenossenschaften, Sportplätzen und anderen Freizeitmöglichkeiten, die der Ingenieurselite und den Arbeitenden der Fabrik dienen sollten, entstand.49 Der Stadtteil Mościce war seither Sinnbild eines modernen Polens und stand im Kontrast zum alten Tarnów, mit dessen mittelalterlich und frühneuzeitlicher Architektur, den Gründerzeitbauten aus dem 19. Jahrhundert, mit dem ärmlichen, etwas heruntergekommenen Grabówka und mit seiner ethnisch gemischten Sozialstruktur. In Mościce dagegen arbeiteten kaum Jüdinnen und Juden.50 Adam Bartosz gab an, dass sich die Belegschaft in Mościce aus 4327 nichtjüdischen Polinnen und Polen und lediglich 14 Jüdinnen und Juden zusammensetzte.51 Des Weiteren arbeiteten rund 2685 Personen in Tarnów im öffentlichen Dienst (służba publiczna).52 Wie wir im weiteren Verlauf der vorliegenden Studie sehen werden, wurden Jüdinnen und Juden bei der Anstellung in städtische oder kommunale Betriebe diskriminiert, was wiederholt zum Thema der Debatten im Stadtrat wurde. Ein wichtiger staatlicher Arbeitgeber waren darüber hinaus die Bahnwerke, die in Tarnów einen Sitz unterhielten. Hier arbeiteten im Jahre 1931 2866 Personen, das waren zu der Zeit  6,5  % der Gesamtbevölkerung Tarnóws.53 Auch hier arbeiteten kaum Jüdinnen und Juden. Die Bahnwerke wurden zum Hort der Gewerkschaftsarbeit. PPSMitglieder wie Eugeniusz Sit (1907–1958) und Gabriel Dusza, beide werden noch als Protagonisten in den Mikrostudien erscheinen, waren hier aktiv.54 Nun gab es eine Fülle von weiteren Betrieben, die an dieser Stelle in der Gesamtheit kaum aufzuzählen sind und über die wir im Hinblick auf die ethnische und religiöse Zusammensetzung kaum etwas wissen. Augustyn Dagnan, ein Nichtjude, besaß beispielsweise ganz in der Nähe des GrabówkaViertels eine Mühle. Er kooperierte mit jüdischen Händlern, wie Mordechai Unger. Während des Zweiten Weltkriegs arbeiteten Juden in seinem Betrieb, 49 50

51 52 53 54

Bułdys: Mościce – sen o nowoczesności, S. 143–191. Vgl. Z prasy lokalnej. In: Tygodnik Żydowski, 10.02.1939, S. 2. Harry Berkelhammer erinnert sich, dass sein Vater einer der wenigen Juden war, die in Mościce gearbeitet haben. Berkelhammer, Harry: Interview 14300, 16.04.1996, Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 14.03.2021). Bartosz: What Happened to Tarnów’s Jews?, S. 411. Drugi powszechny spis ludności z dn. 09.12.1931 r., Tabelle 18, S. 72. Ebd. Ermittlungen gegen Eugeniusz Sit, Mitglied der Gewerkschaft der Bahnarbeiter, 20.5.1932, ANKr. Odd. T. 33/97 PSOT/PT 48/1838/32

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Abbildung 12

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Bahnwerke in Tarnów

und Unger sowie seine Familie versteckten sich schließlich in Dagnans Mühle. Augustyn Dagnan war zudem Hobbyfotograf. Ihm verdanken wir einige Aufnahmen vom Tarnower Alltag vor und während der Besatzungszeit. Im Februar 1939, zu einer Zeit als ethno-nationale Konflikte immer weiter in Polen im Allgemeinen und in Tarnów im Besonderen anschwollen, antwortete ein Redakteur des Tygodnik Żydowski auf eine Polemik im Robotnik Katolicki [Katholischer Arbeiter], in der die angeblich schlechtere Position der „rdzenni Polacy“ [angestammten Polen] auf dem Arbeitsmarkt im Vergleich zu Juden moniert wurde. Die Replik im Tygodnik Żydowski gibt einen Hinweis auf die ethnisch getrennte Arbeitswelt in Tarnów und zugleich auf die ethno-nationale Konfliktlage im Berufsleben: Wie viele Juden sind denn in Mościce und anderen großen Industriebetrieben beschäftigt? Wie viele jüdische Arbeiter gibt es bei der Bahn und in den Bahnbetrieben? Welche Anzahl jüdischer Arbeiter und Angestellter sind in den Industriebetrieben des Fürsten Sanguszko beschäftigt? Wo und wann hat irgendein christlicher Fabrikbetreiber Juden beschäftigt? Dagegen stellen jüdische Industrielle im Prinzip „angestammte Polen“ ein, obschon viele Juden arbeitslos und ohne Broterwerb sind und sich gern jedweder Arbeit, auch der härtesten, annehmen würden.55 55

Z prasy lokalnej. In: Tygodnik Żydowski, 10.02.1939, S. 2.

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Trotz des ethnisch gespaltenen Arbeitsmarktes lassen sich Hinweise auf eine gute Zusammenarbeit in den Gewerkschaften verzeichnen. „Wir hatten sehr gut organisierte Gewerkschaften“, erinnerte sich Israel Baicher (früher Bajczer).56 Bundisten und die PPS hätten Hand in Hand zusammengearbeitet, um Jüdinnen und Juden zu schützen, so Baicher. Daran erinnerte sich auch Harry Berkelhammer: Jüdische und nichtjüdische Arbeitende hätten in den Gewerkschaften gegen den Antisemitismus gekämpft.57 Mindestens dreimal betonte Eliezer Wurtsel in seinem Bericht im yizker bukh, dass die jüdischen Arbeiter mit „den Poliakn“ zusammengekämpft hätten: „Zusammen mit Poliakn haben jüdische Kameraden den Kampf für ein freies demokratisches Polen gekämpft, gegen Rassenhass und Antisemitismus, gegen den Verrat der polnischen Regierung.“58 Ethnizität konnte im Kampf der Arbeitenden zuweilen in den Hintergrund treten, wie am folgenden Beispiel deutlich wird. Während eines Streiks von Schneiderinnen und Schneidern in Tarnów holte ein jüdischer Arbeitgeber, Jakub Weinman, drei Nichtjuden aus dem Umland zu sich in den Betrieb, um die Arbeit voranzubringen. Mit Gewaltandrohung zwangen Gewerkschaftler vom Allgemeinen jüdischen Arbeiterbund (kurz Bund) die drei nichtjüdischen Schneider zum Verlassen von Weinmans Betrieb. Der Gewerkschaftler Usher Bleiweis ließ diese nichtjüdischen Polen ins Lokal des Bund führen, gab ihnen eine Entschädigung, ließ ihnen Mittagessen in der Kantine aushändigen und die Fahrkarten nach Hause bezahlen.59 Die Arbeitswelten und die Gewerkschaftsarbeit könnten durchaus näher als Interaktionsräume der Begegnung untersucht werden. Im Sinne der Fragestellung wäre zu untersuchen, welche Rolle die Ethnizität bei der Arbeit spielte. Wie sah in unterschiedlichen Betrieben die Anstellungspraxis aus? Wurde die Arbeitsruhe an Samstagen bzw. Sonntagen eingehalten und wie wurde dies ausgehandelt? Wie gestalteten sich die Beziehungen unter den Arbeitenden im Betriebsalltag und wann spielte Ethnizität dabei eine Rolle? Wann aber waren andere Interessenallianzen wichtiger als ethnische Zugehörigkeit: z. B. Arbeitnehmende vs. Arbeitgebende oder Streikende vs. Streikbrechende? Interethnische Allianzen und intraethnische Konflikte sind in solchen Konstellationen leicht vorstellbar, wie das oben genannte Beispiel der drei nichtjüdischen Schneider aufzeigt, die während eines Streiks 56 57 58 59

Baicher, Israel: Interview 16493, 25.06.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). Berkelhammer, Harry: Interview 14300, 16.04.1996, Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 14.03.2021). Wurtsel: Funem yidishn arbeyter kampf, S. 669. Ermittlungsverfahren gegen Usher Bleiweis und andere, ANKr. Odd. T.  33/97 PSOT/ PT 120/Akte 138/37. Das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt.

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in Weinmans Schneiderei vom jüdischen Bund versorgt wurden. Auch bei „Wurzel und Daar“ streikten, wie oben beschrieben, Jüdinnen und Nichtjüdinnen zusammen. Welche Rolle die Ethnizität bei Chancen auf dem Arbeitsmarkt in Tarnów spielte, wie sie im Arbeitsalltag „geschah“, wie die gemeinsame Gewerkschaftsarbeit im Einzelnen aussah, wann es Momente eines höheren Mobilisierungsgrads von ethnischer Zugehörigkeit gab, wie letztlich der „nationalisierende“ Staat mit seiner Politik des Etatismus60 die Tarnower Arbeitswelten strukturierte  – Antworten auf diese Fragen versprechen neue, interessante Einblicke in die polnisch-jüdischen Beziehungen in der städtischen Wirtschaftsarena zu liefern, jedoch können sie aufgrund der Quellenlage für Tarnów nicht vertiefend untersucht werden, da hierzu trotz eingehender Recherche in mehreren Archiven und Sammlungen nur wenige, vereinzelte Quellen zu finden waren. 1.2 Religiöse Welten Tarnów war eine Bischofsstadt. Im Jahre 1786 wurde in Tarnów eine Diözese gegründet und der erste Tarnower Bischof eingesetzt. Dies geschah zu einer Zeit, als Krakau noch nicht, Tarnów aber sehr wohl aufgrund der ersten Teilung Polen-Litauens unter die Habsburger Monarchie gelangt war. In den Folgejahren wurde zeitweilig der Bischofssitz nach Krakau, später nach Tyniec verlegt. Ab 1825 wurde der Bischofssitz langfristig in Tarnów angelegt.61 Tarnów war seit dem 19. Jahrhundert nicht nur innerhalb der katholischen Kirche Galiziens zu einer wichtigen Stadt avanciert, auch für die Stadtbevölkerung selbst hatte die Kirche eine enorme Ausstrahlungskraft und prägte den Alltag, die Topografie der Stadt, die lokalen Machtstrukturen und letztlich auch das gesellschaftliche Gefüge. Geistliche gestalteten die Stadtpolitik in den Lokalgremien aktiv mit, zum Beispiel Józef Lubelski, Absolvent des Tarnower Priesterseminars, Religionslehrer an einem Gymnasium in Tarnów, Stadtrat und zugleich SejmAbgeordneter.62 Auch andere Priester wie Józef Chrząszcz, Walenty Chrobak, Kasper Mazur, Stanisław Bulanda, Jan Bochenek (die beiden letzteren waren Vertreter des Domkapitels) hielten ein Mandat im Stadtrat. Der Priester M. Rec war im Ehrenkollegium der lokalen BBWR (Bezpartyjny Blok Współpracy z

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Zu den Folgen des Etatismus für die jüdischen Betriebe in Tarnów siehe Chomet: Yidishe virtshaftlekhe organizatsies, S. 244, 250; Zayden: Kofektsie industrie, S. 237. Kumor: Dzieje polityczno-geograficzne, S. 103. Vgl.: Hasło, 16.08.1935; Hasło, 15.05.1936; Potępa: Tarnów międzywojenny, S. 160

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Rządem/Parteiloser Block zur Zusammenarbeit mit der Regierung). Auch die beiden Bischöfe, die während der Zweiten Republik dieses Amt in der Diözese bekleideten – Leon Wałęga (1901–1933) und Franciszek Lisowski (1933–1939) – mischten sich aktiv in die Politik ein.63 Lisowski vor allem dadurch, dass er die Diözesen-Illustrierte Nasza Sprawa herausgeben ließ, die hochpolitische, stimmungsmachende und ab 1936 offen antisemitische Artikel veröffentlichte und dadurch die lokale Öffentlichkeit prägte. Die lokalen Machtstrukturen und die katholische Kirche waren eng miteinander verquickt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden ein Priesterseminar und ein Theologie-Institut im Herzen Tarnóws gegründet und ab den 1920er Jahren ausgebaut.64 Heute ist es das größte Priesterseminar Polens. Mehrere Frauenund Männerorden unterhielten Klöster in Tarnów.65 Die Kirche der Heiligen Familie, auch Missionarskirche genannt, war durch ihre zwei hohen Türme am Ende der Krakowska Straße bereits von Weitem zu erkennen. Die Krakowska wurde im Osten von der Kathedrale und im Westen von der Missionarskirche „gerahmt“. Letztere wurde auf einem durch Fürst Sanguszko geschenkten Grundstück Anfang des 20.  Jahrhunderts erbaut  – auch dies verweist auf die enge Bindung zwischen Kirche und bedeutsamen Akteuren lokaler Machtstrukturen. Eine Fotografie aus dem Vorkriegs-Tarnów zeigt (vgl. Abbildung 1), wie auffällig einerseits der Kathedralenturm und andererseits die Kuppel der neuen Synagoge das Stadtpanorama prägten. Am  18.  August  1908, dem Geburtstag des k.u.k Kaisers Franz Joseph I., öffnete die neue Synagoge, auch Jubiläumssynagoge genannt, ihre Pforten für die Gläubigen (vgl. Abbildung 15). Doch vielen Jüdinnen und Juden galt sie als zu modern und gerade die zahlreichen Chassidim in der Stadt missbilligten sie.66 In Tarnów gab es mehrere große Gebetshäuser, die auch die religiöse Vielfalt des Tarnower Judentums widerspiegelten: Die alte Synagoge stammte aus dem 17.  Jahrhundert und war in unmittelbarer Nähe des Rynek gelegen.67 An der reformierten Tempelsynagoge in der Sankt-Anna-Straße gingen die orthodoxen Jüdinnen und Juden aus Verachtung nicht einmal vorbei, wie sich der eingangs zitierte Ankori erinnerte (vgl. Abbildung 13).68 Diese frequentierte jedoch einer der wichtigsten

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Kumor: Diecezja tarnowska, S. 285–292. Die Inauguration fand 1838 statt, davor gab es mehrere Vorläufer, vgl. Kumor: Diecezja ternowska, S. 478–487. 65 Ebd., S. 625–631. 66 Kahana-Awrech: Tarne, a tsenter fun toyre, S. 189–190. 67 Ebd. 68 Ankori: Chestnuts, S. 206.

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Abbildung 13

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Eines der wenigen Fotos des fortschrittlichen „Tempels“ in der Sankt-Anna-Straße

PPS-Männer Tarnóws und langjähriger Stadtrat, Maurycy Hutter, an hohen Feiertagen.69 In der Ogrodowa Straße im Westen befand sich die Strusiner Synagoge.70 Insgesamt sind die Adressen von 40  Gebetshäusern, beth-midrashim und shtiblekh bekannt, also kleineren Gebetsräumen, die alltäglich für minyamin, Gebete und religiöse Studien genutzt wurden.71 Es gab Gebetshäuser, die nach ihren Stiftervätern und -müttern benannt wurden, wie die Deborah Menkes shul oder jene von Hermann Merz gestiftete.72 Manche shtiblekh waren auch nach Berufsgruppen benannt, wie jenes der Schneider in der Wekslarska Straße 7 oder jenes der Träger in der Starodąbrowska.73 Zu erwähnen ist noch das große und auffällige Gebäude der Mikwe im mauretanischen Stil, das östlich vom alten Stadtkern thronte und bis heute erhalten blieb (vgl. Abbildung 14). Die kehillah, die jüdische Gemeinde, entwickelte sich in der Zweiten Republik zunehmend zu einer säkularen Institution. Es existierte eine Vielzahl von jüdischen Bruderschaften, wie die Bestattungsvereinigung chevra kadisha und andere. 69 70 71

Chomet: Maurycy Huter, S. 785–788. Bartosz: Tarnowskie Judaica, S. 43. Ebd., S.  41–44; Bartosz bezieht sich hierbei auf eine Aufstellung der Gebetshäuser im „Informator Tarnowski“ aus dem Jahr 1926/27. 72 Kahana-Awrech: Tarne, a tsenter fun toyre, S. 189–190. 73 Bartosz: Tarnowskie Judaica, S. 41–43.

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Abbildung 14

kapitel 1

Die Mikwe – das jüdische Badhaus im mauretanischen Stil

Abbildung 15 Neue Synagoge, auch Jubiläumssynagoge genannt, 1937

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Abbildung 16

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Busbahnhof, im Hintergrund eine Synagoge

Das jüdische religiöse Leben in Tarnów war reich und vielfältig gewesen. Unterschiedliche orthodoxe jüdische Gruppierungen hatten hier ihre Glaubenshäuser. Es gab religiöse Schulen, von den chederim, talmud-toyre Schulen bis zu kleinen yeshivot.74 Tarnów war zugleich ein wichtiges Zentrum von Chassidim „aller Farben und Schattierungen“.75 Der Chassidismus (abgeleitet vom Wort „chassid“ für „fromm“, also „die besonders Frommen“) hatte sich im 18. Jahrhundert vor allem in Podolien entwickelt. Die Anhänger beriefen sich auf die Lehren des 1760 verstorbenen Baal Shem Tov und wurden dadurch charakterisiert, dass das religiöse Erleben im Vordergrund stand und dieses zuweilen, besonders in der Begegnung mit charismatischen Führungspersönlichkeiten, ekstatische oder mystische Formen annehmen konnte. Im  19.  Jahrhundert entwickelte sich der Chassidismus im östlichen Europa zu einer Massenbewegung, rief aber unter den (osteuropäischen) jüdischen Gelehrten viel Kritik hervor.76 Tarnower Chassidim gruppierten sich zumeist 74 Kahana-Awrech: Tarne, a tsenter fun toyre, S. 208. 75 Ebd., S. 193. 76 Ein umfangreiches Kompendium zur Definition, Struktur, Entwicklung, Führungspersönlichkeiten und den sozialen Strukturen der Anhänger des Chassidismus bietet Wodziński: Chasydyzm.

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um chassidische Dynastien, die sich verkürzt nach den Herkunftsorten ihrer Führungspersönlichkeiten benannten und ihre eigene shuln oder shtiblekh hatten: Dzikower, Ropczycer, Pokrzewicer, Belzer, Bobower, Rymanower, Szczuciner, Grodzisker, Alt-Sandzer etc.77 Wo sich ihre Gebetshäuser in Tarnów befanden, ist nicht mehr vollständig zu rekonstruieren.78 Viele waren in Grabówka oder östlich vom Stadtkern beheimatet. Wichtige Zweige waren die Rimanower und die Sandzer Chassidim, die Nachfolger der HalbersztamFamilie waren.79 Anhänger des Żabner Rabbis Dawid Unger nutzten im Alltag Gebetsräume in der Lwowska Straße, zu Feiertagen versammelten sie sich in der Żabner shtibl an der Ecke des Rynek und der Żydowska Gasse.80 Jüdische Gelehrte, Rabbiner und Tsaddikim hatten ihre jeweiligen Anhänger und Schüler, die ihre Lehren verbreiteten.81 Die religiöse Praxis spielte im Alltag eine große Rolle. Ein Rabbiner erinnerte sich, dass die Synagogen und Gebetshäuser ständig voll waren und dass sich das jüdische Tarnów am Schabbat verwandelte: „Herrlich schön sah der shabes und der yon-tef [der Feiertag] in Tarne aus. Alle jüdischen Geschäfte waren geschlossen. Seine Majestät, der shabes, verbreitete sein Königreich über alle Gassen und Viertel, wo Juden mit seidenen kapotes und shtraymlekh umhergingen.“82 Bereits durch diese kursorische Beschreibung wird deutlich, dass das religiöse Leben eine bedeutsame Arena im Alltag der Stadtbevölkerung war. Eine enorme Vielfalt an religiösen Ausrichtungen und Praktiken unter den Judenheiten prägte die Stadt. Zugleich war die Religion eine Arena, in der die jüdische und christliche Welt getrennt voneinander bestanden. Orthodoxe und im Besonderen Chassidim waren durch ihre traditionelle Kleidung, den shtrayml, die peyes oder den langen Bart auch äußerlich als gläubige Juden erkennbar. Zugleich lagen die beiden Welten in unmittelbarer Nähe zueinander: Die Topografie der Stadt war von jüdischen und katholischen Gottes- bzw. Gebetshäusern geprägt, der Schabbat war für die Christinnen und Christen ein bekannter Feiertag, der auch für sie sichtbar war (allein schon dadurch, dass die meisten Geschäfte in der Stadt geschlossen waren), 77 78 79 80 81 82

Gefen: Dos yidishe religieze Tarne, S. 206. Bartosz: Tarnowskie Judaica, S. 43. Kahana-Awrech: Tarne, a tsenter fun toyre, S. 193. Bartosz: Tarnowskie Judaica, S. 41–43. Kahana-Awrech: Tarne, a tsenter fun toyre, S.  189–191. Einige Gelehrte wie Mair Azak, der 1922 aus Buczacz nach Tarnów kam, oder Rabbi Josef Engel, der in Tarnów geboren wurde, galten als „große Gaone“. Gefen: Dos yidishe religieze Tarne, S. 207.

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die Glocken der Kirchen waren sonntags für die Jüdinnen und Juden hörbar gewesen. In öffentlichen Schulen erteilten Religionslehrer mosaischen und katholischen Glaubens Unterricht. Eine Anekdote, wie der katholische Priester mit dem jüdischen Religionslehrer in ein freundschaftliches Gespräch in den Hofpausen vertieft war, kursierte lange Zeit als Symbol einer vermeintlichen „Symbiose“ der christlich-jüdischen Alltagswelt Tarnóws.83 Im Stadtrat wurden Subventionen an beide Religionsgemeinden ausgehandelt.84 Zugleich war Religion ein klarer Marker der Differenz zwischen Jüdinnen/Juden und Nichtjüdinnen/Nichtjuden. Ehen zwischen Jüdinnen und Christen bzw. zwischen Juden und Christinnen gab es nur vereinzelt.85 Konversionen von Jüdinnen und Juden zum Christentum waren ebenfalls Einzelfälle.86 Welche Verflechtungen und Interaktionsräume sich trotz klarer Trennungslinien ergaben, welche Begegnungen dort tatsächlich möglich waren oder inwiefern primär Abgrenzung, Asymmetrien bzw. Exklusion wirkmächtig wurden, wie religiös tradierte Judenfeindschaft in einer Stadt geäußert wurde, in der die Bevölkerung zur Hälfte jüdisch war, all das sind noch ausstehende Fragen. Doch die Akten der kehillah von Tarnów sind zerstört. Trotz mehrmaliger Versuche wurde mir der Zugang sowohl zum Diözesenarchiv als auch zu den Ordensarchiven 83 Überliefert in den Erinnerungen von Brandstetter: Przypadki, S. 131–132; zur ambivalenten Überlieferung dieser Anekdote siehe Bartosz: What Happened to Tarnów’s Jews?, S. 409. 84 Vgl. dazu Kapitel 2.2.2 „Autonomie der Stadträte in der moralischen Diktatur? Der Stadtrat von Tarnów nach dem Maiputsch 1926“. 85 Von den 398 im Jahr 1936 geschlossenen Ehen in Tarnów, waren 241 unter römischkatholischen Partnerinnen und Partnern sowie 157 unter jüdischen Partnerinnen und Partnern geschlossen worden. Es gab in diesem Jahr keine Ehen zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen. Diese Daten sind nur für das Jahr 1936 erhalten. ANKr. Odd. T. 33/1/62: Statystyka. Eine prominente Ehe zwischen einer Frau jüdischer Herkunft und einem Mann aus einer nichtjüdischen Familie war die zivil geschlossene Ehe von Lidia und Adam Ciołkosz, siehe auch „Exkurs: Der Bund in Tarnów und das Verhältnis mit der PPS“. 86 Durchgesehen habe ich die Taufbücher der Pfarreien Śródmieście und Strusina ADT (Archiwum Diecezji Tarnowskiej) Liber natorum, Śródmieście, 1890–1946, Bd.  V; Liber natorum, Strusina 1911–1934, V.XII ADT MT III/6. Die nachweislich existierenden Bücher über Konversionen (in einem der Taufbücher war ein Hinweis darauf) wurden mir nicht zugänglich gemacht oder sind zerstört. In meiner Recherche bin ich auf einige getaufte Jüdinnen und Juden gestoßen. Inwieweit aber Konversionen ein zunehmender Trend waren oder ob Konversionen ein wesentlicher Faktor in der Stadtgesellschaft waren, kann ich auf der Quellengrundlage nicht beantworten. Ein lokalbekannter Fall war der promovierte Geograf Zdzisław Simche, der in den 1920er Jahren zum Christentum übergetreten war. Er hat mehrere Bücher über Tarnów und die Region verfasst. Die von mir genutzten Stadtpläne von 1930 wurden von ihm erstellt. Er verstarb 1940 in Auschwitz, wo er als Jude registriert wurde. Vgl. Bańburski: Zdzisław Simche.

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größtenteils verwehrt. Nur einzelne Dokumente wurden mir zugänglich gemacht, sodass auch hier eine mikrogeschichtliche „Tiefenbohrung“ aufgrund der Quellenlage nicht möglich war. Allerdings gab die Diözese seit 1933 die illustrierte Zeitschrift Nasza Sprawa heraus.87 Diese schloss ich in meine Untersuchung ein, sie wird uns noch im Kapitel 2 „Lokalpolitik und die Schrittweise Politisierung von Ethnizität“ beschäftigen. 1.3

Sportliche Welten

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bildeten sich in Tarnów die ersten Sportvereine heraus, doch erst nach dem Ersten Weltkrieg entstand in der Stadt ein vielfältiges Sportwesen. Körperliche Ertüchtigung war eng mit Prozessen der Modernisierung, Industrialisierung, einem neuen Verständnis des Körperkults und der „Entdeckung“ der Freizeit verbunden.88 Zugleich wurde der Sport eng mit nation-building Prozessen verknüpft und als „nationales Phänomen par excellence“ verstanden.89 Auf den ersten Blick scheint das Sportwesen in Tarnów ethnisch kodiert gewesen zu sein – hier „die Juden“, dort die ethnischen „Polen“. Doch bei näherem Hinschauen wird deutlich, dass auch die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht oder einer politischen Gruppierung eine wesentliche Rolle in der Vereinsausgestaltung spielte und zuweilen ganz andere Faktoren (wie zum Beispiel der sportliche Ehrgeiz) wichtiger waren als die ethno-nationale Abgrenzung. Die Historikerin Anke Hilbrenner plädierte dafür, Sport stärker als transnationales Phänomen und eigensinnige Praxis zu untersuchen, welche auf die „Vieldeutigkeit der Verhaltensweisen historischer Akteure jenseits der Einordnung in die großen Strukturen ‚der‘ Geschichte – also etwa Politik oder nationale Zugehörigkeit“ verweisen.90 Der erste Sportklub Tarnóws (gegründet 1883) war ein regionaler Ableger des 1867 ins Leben gerufenen polnischen Sokół-Vereins in Lemberg.91 Der Sokół (wörtlich „Falke“) war polnisch-national gesinnt und verband körperliche Ertüchtigung mit einer Erziehung der Jugend zur Nation. Getragen wurde der Verein vom städtischen Bildungsbürgertum. Das ukrainische Pendant Sokil existierte seit 1894 parallel in Galizien. Beide richteten sich in der Verbindung von Sport und dem jeweiligen nationalen Programm an der ebenfalls national 87

Bereits vor 1933 erschienen einige kleinere katholische Blätter in Tarnów wie Dobry Pasterz [Der gute Hirte], Cześć Maryi [Ave Maria] oder Duszpasterz Młodzieży [Der Hirte der Jugend], vgl. Krużel: „Nasza Sprawa“, S. 24–28. 88 Vgl. Mendelsohn: Preface, S. vii–x; Blecking: Jews and Sports in Poland, S. 17–35. 89 Hilbrenner: Sport, S. 71. 90 Ebd., S. 73. 91 Łoziński: Sport i turystyka, S. 685.

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orientierten und zunehmend exkludierenden deutschen Jahn’schen Turnbewegung aus.92 Der erste Fußballverein Tarnóws war allerdings der Samson, der 1912 ins Leben gerufen wurde.93 Er stand von Beginn an der zionistischen Bewegung nahe. Die ideologische Bedeutung des Sports für den Zionismus im Allgemeinen wurde von dessen Gründervätern bereits Ende des 19. Jahrhunderts erkannt. So sprach beispielsweise Theodor Zlocisti (1874–1943) von „der körperlichen und geistigen Regeneration unseres Volkes“, und Max Nordau (1849– 1923) setzte dem stereotypen Bild des ewig studierenden yeshive-bokher ein neues entgegen – jenes des „Muskeljuden“.94 In der Folge bildeten sich diverse zionistische Sportvereine aus, oft nach jüdischen Aufständischen der Antike benannt wie Makkabi oder Bar Kochba. Ein Makkabi-Weltverband wurde gegründet und 1921 ein Netzwerk aller Makkabi-Vereine in Polen.95 In Tarnów war die Verbindung zwischen dem zionistisch gesinnten Milieu und dem ersten Fußballverein durch die personelle Zusammensetzung des Vorstands gegeben, dem unter anderem der bereits von Zvi Ankori zu Beginn des Buches erwähnte Arzt Dr. Jeshajahu Feig angehörte.96 Feig war auch im Vorstand der zionistischen Jugendorganisation Hashomer Hatsair und der jüdisch-national orientierten Privatschule Safa Berura, in der der Verein trainierte und Sportaktivitäten für Jugendliche anbot.97 Im Laufe der Zeit kamen noch weitere zionistische Sportklubs dazu, so zum Beispiel die Gordonia, Dror und diverse andere.98 Nach dem Ersten Weltkrieg, im Jahr 1918, wurde der erste polnisch-nationale Fußballklub Tarnovia als Untergruppe des Sokół-Sportvereins gegründet.99 Er war zunächst der einzige nichtjüdische Fußballverein von Tarnów und schaffte 92

Zum polnischen Sokół und zum ukrainischen Sok’il in Lwów und deren nationale Ausrichtung siehe Bunkus: Zwischen slawischer Bruderschaft und nationaler Souveränität, S. 113; vgl. auch Blecking: Jews and Sports, S. 18. 93 Łoziński: Sport i turystyka, S. 685. 94 Zit. nach Zimmermann: Muskeljuden, S. 15. 95 Vgl. Jacobs: Die Politik der jüdischen Sportbewegung, S. 97–98. 96 Zum Vorstand des Samson gehörten auch Dr. Salomon Spann, zionistisches Mitglied der kehillah und seit 1939 Tarnower Stadtrat, ebenfalls Vorstand der Hashomer Hatsair; vgl. Tygodnik Żydowski, 04.04.1928, S.  4; Tygodnik Żydowski 16.02.1934, S.  2; Tygodnik Żydowski, 27.06.1939; ANKr. Odd. T.  33/1/ZMT  18; Feig: Zikhroynes; Chomet: Funem yidishn sport-gimnastishn vezn. 97 Synergieeffekte zwischen jüdischen Privatschulen und jüdischen Sportvereinen waren auch in anderen Städten eher die Regel, vgl. Hilbrenner: Die Wurzeln des jüdischen Sports, S. 86–87. 98 Die Żydowska Młodzież Sportowa war der Sportjugendverband der Revisionisten, die linke Poale-Zion hatte den Sportklub Gwiazda-Shtern gegründet, vgl. Chomet: Funem yidishn sport-gimnastishn vezn, S. 728; Bartosz: Tarnowskie Judaica, S. 32. 99 Łoziński: Sport i turystyka, S. 688.

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Abbildung 17

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Einweihung des Fußballplatzes des Samson, 1939. Rahel Goldberg (in weiß, stehend), mit ihrem Vater Samuel Goldberg (sitzend, mit Augenklappe) und der Mutter

es sogar bis in die Krakauer Kreisliga. Die Tarnovia trainierte ebenso wie der Samson im Stadtpark, dem Strzelecki-Park.100 Ob es dort gemeinsame Turniere gab, Auseinandersetzungen oder Streitigkeiten unter den Fans ist nicht überliefert. Ab 1922 war das Fußballspielen im Strzelecki-Park allerdings untersagt worden und beide Vereine bezogen jeweils eigene Spielfelder. Der Samson-Fußballverein erweiterte nach dem Ersten Weltkrieg sein Sportangebot auf zwölf Disziplinen (u. a. Tennis, Leichtathletik), benannte sich bald in Jüdische Sport- und Gymnastik-Gesellschaft Samson um, verzeichnete viele sportliche Erfolge und unterhielt auch Frauenmannschaften.101 Milek Shif, der eine öffentliche Schule in Tarnów besuchte, und zwar das II. Hetman-JanTarnowski-Gymnasium (also keine Ausbildung in der zionistisch gesinnten jüdischen Privatschule Safa Berura erhielt), trainierte in seiner Freizeit im Tarnower Samson Tischtennis mit so viel Erfolg, dass er vier Mal die polnischen

100 Ebd., S. 688–689. 101 Chomet: Funem yidishn sport-gimnastishn vezn, S.  717. Die Tennisspieler Tarnóws erzielten Welterfolge bei der Makkabiade, vgl. ebd., S. 722.

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Abbildung 18

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Nach dem Krieg in Israel: Milek Shif (Mitte) mit Dr. Jeshajahu Feig (rechts außen mit Brille) und seine Tochter Shulamith Feig (verheiratete Lavyel) hinten mittig

Meisterschaften gewann und schließlich Polen in internationalen Turnieren repräsentierte.102 Die beiden Tarnower Turnvereine Sokół mit dem Fußballklub Tarnovia sowie der Samson sind als Bausteine im Prozess des jeweiligen nation-building zu verstehen. Beide verbanden die körperliche Ertüchtigung mit nationaler Erziehung – zur polnischen Nation einerseits und zur jüdischen andererseits. Nicht der Sport an sich spaltete ethnisch, sondern die national gesinnten Gründerväter machten den Sport zu einem Vehikel, welches der jeweiligen nationalen Sache dienen sollte. Zugleich wiesen beide Vereine Parallelen auf: Beide wurden von bildungsbürgerlichen Schichten getragen. Hier trainierte die Gymnasialjugend, die städtische Intelligenz förderte beide Klubs und der Stadtrat, in dem die lokalen Eliten saßen, unterstützte sie finanziell bzw. durch die Vergabe von Grundstücken für Sportplätze.103 Vereine sind „Institutionen bürgerlicher Gesellschaft“ und so waren sie auch im Lokalen zu Trägern

102 Ebd., S. 719. 103 Łoziński: Sport i turystyka, S. 688.

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national-gesinnter bürgerlicher Vergemeinschaftung geworden.104 Vermutlich spielten Samson und Tarnovia auch gegeneinander. Bei Wettbewerben gegen andere Städte liehen sie sich allerdings, zumindest laut Überlieferungen, gegenseitig Spieler aus.105 Auch dies war in anderen Städten durchaus gang und gäbe, wie Anke Hilbrenner in ihren Studien gezeigt hat.106 Doch Feindschaft und antisemitische Attacken blieben nicht aus. Im März 1936, als eine organisierte Attacke auf jüdische Läden in Tarnów stattfand, wurden auch Scheiben im Vereinslokal des Samson von unbekannten Tätern eingeschlagen.107 Neben den bürgerlichen Sportvereinen Tarnovia und Samson gab es etliche Arbeitersportvereine. Die Bahnarbeiter gründeten 1922 den Fußballverein Metal, die Stickstoffarbeiter 1927 ihre Mannschaft Mościce.108 Sowohl die Bahnwerke als auch die Fabrik waren staatlich und hier arbeiteten kaum Juden, sodass in diesen Klubs vermutlich nichtjüdische Arbeiter Fußball spielten. Jedoch trainierte ein ehemaliger Cracovia-Spieler den Mościce-Klub.109 Cracovia war ein Krakauer Fußballklub, der in der Fremdwahrnehmung als „jüdisch“ galt. Dass ein Cracovianer den eindeutig nichtjüdischen Mościce-Verein trainieren konnte, verweist bereits darauf, dass die „nationale“ Abgrenzung in der Tarnower Vereinswelt in der sportlichen Praxis situativ durchaus überwindbar war. Neben den betrieblichen Sportklubs gab es auch parteinahe Vereine. PPSnahe Arbeiter trainierten im Sportklub Zorza (zu Deutsch: Morgenröte), der lediglich drei Jahre (von 1924–1927) bestand.110 Inwiefern hier sowohl Juden wie Nichtjuden zusammen spielten  – was bei der engen Zusammenarbeit in den Arbeitermilieus um die PPS durchaus wahrscheinlich scheint  –, ist nicht bekannt. Der Jüdische Allgemeine Arbeiterbund gründete noch früher, 1922, den Sportklub Morgnshtern (auf Polnisch: Jutrzenka) in Tarnów.111 Der Morgnshtern war auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene der Sportklub der Bund-Partei und etablierte in ganz Polen 170 lokale Dependancen.112 1932 soll

104 105 106 107 108 109 110 111 112

Vgl. dazu auch Behringer: Kulturgeschichte des Sports, S. 10. Bartosz: What happened, S. 407. Hilbrenner: Die Wurzeln des jüdischen Sports, S. 81–82. ANKr. Odd. T.  33/97: Prokuratura Sądu Okręgowego w Tarnowie (lata 1918/20–1939) (Staatsanwaltschaft Tarnów)/PT 109/878/36. Łoziński: Sport i turystyka, S. 691. Ebd., S. 694–695. Ebd., S.  693–694. Es gab auch den eng mit der Zorza zusammenarbeitenden Sportverband der Jugend der TUR (Towarzystwo Uniwersytetu Robotniczego  – Verein der Arbeiteruniversität). Sporn: Der algemeyner yidisher arbeyter-bund, S. 659. Hilbrenner: Sport, S. 78.

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der bundische Fußballklub Morgnshtern von Tarnów – wie zuvor die Tarnovia und Mościce – in die Kreisliga aufgestiegen sein.113 In den Erinnerungen des Trainers der Mannschaft, Aron Sporn, der außerdem ab 1934 den Bund im Stadtrat vertrat, nahmen vor allem Spiele mit dem zionistischen Samson viel Raum ein, obwohl der Morgnshtern auch gegen nichtjüdische polnische Vereine spielte. Bei dem Fußballwettkämpfen mit dem Samson ging es nicht nur um sportliche, sondern auch um weltanschauliche Auseinandersetzungen. Sollte die jüdische Arbeiterklasse oder die zionistisch orientierten Bürgerlichen den Sieg davontragen? Auch in anderen Städten wurde die Konkurrenz zwischen zionistischen und bundischen Sportvereinen mit Vehemenz ausgetragen.114 Dieser ideologische Wettbewerb zwischen zwei jüdischen Mannschaften schien in den Erinnerungen Sporns mehr Platz einzunehmen als ein „polnisch-jüdischer“ Wettkampf. Als bei einem der ersten Spiele der Morgnshtern 1:0 gegen den Samson gewann, war dies für die Bundisten eine große Genugtuung. Nachweislich fanden die Spiele auch an Samstagnachmittagen statt, was auf den säkularen Charakter beider Vereine hindeutet.115 Aron Sporn erinnerte sich an eine Begebenheit: Einmal traf er auf dem Weg zum Spiel zwei Mütter, deren Söhne sich bald im Wettkampf begegnen würden. Der eine spielte bei Morgnshtern und der andere bei Samson. Die beiden Frauen gingen zwar gemeinsam zum Spiel, teilten Sporn aber mit, dass sie sich während des Matches auseinandersetzen müssten, da sie mit Vehemenz die „eigene“ Mannschaft anfeuern würden.116 Nach dem Einmarsch der deutschen Besatzer im Herbst 1939 wurden alle jüdischen Organisationen geschlossen  – damit auch die Sportklubs. Der Samson verlor seinen erst 1939 eingeweihten Sportplatz. Eine neue Verwendung fand sich zwar rasch, doch auf Kosten der jüdischen Bevölkerung. Bereits im Dezember 1939 bat ein nichtjüdischer Tarnowianer um die Erlaubnis, auf dem Grundstück des nun nicht mehr existenten jüdischen Vereins Samson eine Eisbahn betreiben zu dürfen. Der Bitte wurde entsprochen.117 Was als Erstes bei der Beschäftigung mit den Freizeit- und Sportangeboten in Tarnów auffällt, ist, dass sie weitgehend ethnisch getrennt waren. Doch auf den zweiten Blick wird deutlich, dass auch die Schichtzugehörigkeit eine wesentliche Rolle bei der Ausformung der Freizeitangebote spielte. Sowohl Tarnovia als auch Samson agierten in ihren jeweiligen bildungsbürgerlich, national 113 Sporn: Der algemeyner yidisher arbeyter-bund, S. 659 114 Jacobs: Die Politik der jüdischen Sportbewegung, S. 97–110; Hilbrenner: Die Wurzeln des jüdischen Sports, S. 80–81. 115 Sporn: Der algemeyner yidisher arbeyter-bund, S. 659–660. 116 Ebd., S. 659–660. 117 ANKr. Odd. T. 33/1: Akta Rady Miejskiej/Zarząd miejski, ZMTo 3, S. 819.

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gesinnten Milieus. Außerdem gab es aber noch Arbeitervereine, die sich entweder in den Betrieben oder durch politische Parteien wie Bund und PPS organisierten. Am Beispiel der Wettkämpfe zwischen Bundisten und Zionisten wird das sportliche und zugleich das politisch-gesellschaftliche Konkurrenzverhalten auch innerhalb der Judenheiten Tarnóws deutlich. Jene Akteure, die das Sport- und Freizeitangebot organisierten, hatten eine politische Agenda, sodass sich das Sportwesen deswegen dieser Agenda folgend in Sparten (ethnisch/sozial/politisch) aufteilte. Wie diese Abgrenzungen im Alltagsleben letztlich ausagiert oder aber überschritten wurden und der sportliche Ehrgeiz die (ethnischen) Trennlinien in den Hintergrund schob, zum Beispiel, wenn bei Auswärtsspielen Spieler ausgeliehen wurden oder wenn SamsonSpieler Milek Shif Polen in internationalen Wettbewerben repräsentierte, bilden weiterführende Fragen. Dass Sportvereine „nicht so definitiv entlang der sozialen und ideologischen Trennlinien verliefen“, wie es zunächst schien, hat Anke Hilbrenner in ihren Studien gezeigt.118 Anstatt den Amateursport und die Freizeit weiterhin in jeweils ethno-national getrennten Sparten zu beforschen (also entweder die jüdischen Vereine oder die national-polnischen bzw. slawischen Vereine getrennt voneinander), könnte gerade dieses Feld im Lokalen, also in den polnischen Städten, der Untersuchung der contact zones dienen: Wie fanden in dieser Arena Begegnungen zwischen Jüdinnen/Juden und Nichtjüdinnen/Nichtjuden statt, wann und wie wurden ethno-nationale Abgrenzungsmechanismen wirkmächtig, wie „geschah“ Ethnizität hier im sportlichen Alltag und wann, wie und von wem wurde sie mobilisiert, wann aber situativ überwunden? 1.4 (Stadt-) Raum und Ethnizität Das heterogene und polyphone Tarnów fand seinen Ausdruck in den urbanen soundscapes. Der durchdringende Schall verband den gesamten Raum Tarnóws, die Arbeiterwelten und die religiösen Welten, wie sich Zvi Ankori erinnerte. Es war ein Morgen in seiner Heimatstadt der 1920er Jahre: The horn of the Brach’s factory is joined by all the many other industries that girdle Tarnów in a red brick belt of toil: another factory for building blocks […], the brewery owned by Roman Sanguszko, the town duke […] Hollender’s saw mill; Schantzer and Dagnan’s flour mills […]. Adding to the great bugle cry are the horns of the nail factory and the kopyciarnia (a plant for wooden lasts), both also owned by Szajek Silberpfennig. And the chimneys of the factories, and of dozens 118 Hilbrenner: Die Wurzeln, S. 82.

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of smaller ones, emit a lingering toot, their calls intermingling. […] And now the church bells join hands with the factories, opening their mouths in wonder and presiding with the peal of chimes over the factory horns. First and foremost, among them is the old Carillon of the cathedral in the town’s historic center. This is followed by the pair of merry bells from the twin spires of the Church of the Missionaries, […] and the small impish gong of the old wooden Church of the Virgin Mary […] and they in turn are greeted by the choir of the „Great Synagogue“, delivering an enthusiastic „Hallelujah“. […] These are answered by the choir of the Jewish Reform Temple, which also includes women (and, some say, even gentiles).119

Und wie schlug sich diese Polyphonie auf den Stadtraum nieder? Mit anderen Worten: Welche Rolle kam ethnischen Zuschreibungen bei der Ausformung der urbanen mental maps zu? Die mit Gründerzeithäusern gesäumten Straßen im Westen und Norden des alten Stadtkerns zeugten vom wohlsituierten Bürgertum, während das östlich gelegene Grabówka als „Armenhaus“ Tarnóws galt. Grabówka wurde als ein Stadtteil beschrieben, in dem einerseits fromme Jüdinnen und Juden lebten und andererseits die Jugend bereits moderne politische Ideen aufgesogen hatte. Eliezer Wurtsel erinnerte sich an Grabówka wie folgt: Wenn man in Tarnów durch die Hauptgassen oder durch die reichen Stadtteile ging, mochte man denken, dass in Tarnów alle Juden reich seien – Hauseigentümer, Rechtsanwälte, dies fiel sehr stark ins Auge. Wer sich aber die Mühe machte und in die feuchten Kellerwohnungen hinabstieg oder in die verstaubten Wohnungen in Vierteln wie Grabówka oder auf der Jüdischen Gasse, der hat gesehen, wie hier Armut und Hunger an den Menschen nagen und Not herrscht. Die Mütter sangen ihren hungernden Kindern Gute Nacht Lieder über „Rosinen und Mandeln“ und „Challa mit Milch wirst du essen“. Nicht der Reichtum war das wahre Leben von Tarnów, sondern diese Gassen. Hier war der Kampf angesiedelt, von hier kam das Bedürfnis nach neuem Leben, nach Recht auf Menschlichkeit und menschliche Existenz.120

Diesen Kampf der Arbeitenden beschrieb Eliezer Wurtsel mit großer Sym­ pathie. Grabówka war also nicht nur das arme Stadtviertel, sondern die Wirkungsstätte der jüdischen Arbeiterbewegung in Tarnów. Auch der Bund hatte in Grabówka in der Ochronkagasse sein Parteihaus. Immer mehr Jugendliche hätten sich von ihren religiösen Studien abgewendet und trugen unter den Kaftanen Werke von „Marx, Engels, Lenin, Gorki, Heine, Peretz, SholemAleykhem, Mendele, Bialik“.121 Wurtsel nennt sozialistische, kommunistische, 119 Ankori: Chestnuts, S. 22–23. 120 Wurtsel: Funem yidishn arbeyter kampf, S. 667–668. 121 Ebd., S. 669.

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moderne jiddische und hebräische, aber auch russische und deutsche Literatur. Der Aufbruch in eine moderne Welt wurde hier vom Verfasser signalisiert – die genaue Richtung, die die jungen Menschen einschlagen würden, war jedoch noch nicht sicher. Auch Nichtjüdinnen und Nichtjuden lebten in Grabówka, auch wenn sie in der Minderheit waren. Aleksander Dagnan, dessen Vater die DagnanMühle besaß, selbst ein Nichtjude, erinnert sich an kleine nachbarschaftliche Begebenheiten. Seine Mutter pflegte mit ihrer jüdischen Nachbarin, der Frau eines orthodoxen Rabbiners, zu plaudern, wobei der Sohn gern lauschte. Als eine katholische Frau schwer krank geworden war, fuhr ihre jüdische Nachbarin mit einem Kutscher los, um den Priester zu holen. Dagnan selbst hatte einige Sätze Jiddisch aufgeschnappt. Obwohl dies subjektive Erinnerungen an Grabówka sind, zeigen sie dennoch, dass nachbarschaftliche Nähe im Alltag als etwas Normales wahrgenommen werden konnte. Eine Distanz fühlte Dagnan gegenüber den streng gläubigen Jüdinnen und Juden. Diese Distanz empfanden jedoch auch die gutbürgerlichen säkularisierten Jüdinnen und Juden sehr stark, denen das religiöse Regelwerk bereits fremd geworden war.122 Eliezer Wurtsel beschrieb Grabówka mit viel Sympathie. Doch blieb der abfällige Blick anderer nicht aus. Durch eine judenfeindliche Linse verschmolzen ethnische Zuschreibungen mit Bildern von Schmutz und Armut zu einem antisemitischen Stereotyp, in dem Jüdinnen und Juden orientalisiert und ein Kulturgefälle konstruiert wurde. So wurde in der Tarnower Zeitung Nasz Głos abfällig über Grabówka im Jahre 1937 geschrieben: Geh ins jüdische Viertel, wo der Schmutz mit der Schlamperei verschwägert ist. Ist das „Händewaschen“, also das Anfassen einer nassen Scheibe eines Wagens, nicht schon Symbol genug dafür, was diese rückständigen Schmutzfinken unter „Hygiene“ verstehen? […] Es ist besser nicht über die Schlupfwinkel, Höfe und Läden zu schreiben, sonst vergeht einem noch der Appetit für die nächsten zehn Jahre.123

Die Zeitung Nasz Głos hat sich seit den 1920er Jahren besonders hervorgetan, Tarnóws Stadtraum ethnisch zu kodieren. Das Periodikum stand der Chadecja (Christlich-demokratische Partei) nahe und war ein antisemitisches und antisozialistisches Blatt. Ein Sammelsurium an antisemitischen Klischees und 122 In den Interviews äußern sie sich sehr abfällig über Grabówka, Garmada, Ludwik: Interview 7329, 05.12.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 10.03.2021); Brodzianka-Gutt, Elżbieta: Interview 25736, 04.12.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff:  09.03.2021); Klimek, Rahel: Interview, 24.05.2013, Ramat HaSharon, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. 123 7 plag Tarnowa. In: Głos Ziemi Tarnowskiej, 29.08.1937, S. 3.

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Hasskommentaren lässt sich in der Publizistik ausmachen, dabei bezogen sich die Verfasser wiederholt auf den Stadtraum. Ein Dorn im Auge war beispielsweise das Ziehen des eruv. Traditionell markierten Juden (oder auch Jüdinnen) einen eruv, auch Schabbatzaun genannt, um innerhalb seiner Grenzen jene Tätigkeiten ausführen zu können, die ansonsten wegen der Schabbat-Ruhe verboten waren. In Tarnów markierte ein Draht den eruv, welcher von den Redakteuren des Nasz Głos 1927 nicht nur verspottet, sondern auch als Markierung des vermeintlich „eigenen“ Territoriums kritisiert wurde. „Vielleicht sollen sie [die Drähte  – AW] ausdrucksvoll symbolisieren, dass unsere jüdischen Mitbürger nicht nur fast alle Immobilien in unserer Stadt eingestrichen haben, sondern auch die Straßen beherrschen, […] und sie versuchen uns mit ihren Drähten ins Gedächtnis zu rufen, dass sie die einzigen Hausherren seien.“124 Besitz und Anrecht auf den Stadtraum wurden hier zur Disposition gestellt – der Stadtraum erschien als ein contested space, den Jüdinnen/Juden den Nichtjüdinnen/Nichtjuden vermeintlich streitig machten. In der Auseinandersetzung ging es im Grunde um die Hegemonie der ethnischen Polinnen und Polen über die Stadt – also darum, zu zeigen, wer die „Hausherren“ im urbanen Raum sind. In einem „humoristischen“ Gedicht in derselben Zeitung hatte ein anonymer Verfasser moniert, dass Jüdinnen und Juden immer weiter aus „ihrem“ Stadtviertel Grabówka herausgehen und sich „ausbreiten“ würden. Der Stadtpark, der Ogród Strzelecki, war ein beliebter Freizeitort für alle Tarnowianerinnen und Tarnowianer. Hier spielten die Fußballvereine, hier verbrachten Schülerinnen und Schüler und Familien mit Kindern ihre Nachmittage. „Wir gingen immer dorthin“, erinnerte sich Shulamith Lavyel, die Tochter vom Samson-Vorstand Dr. Jeshajahu Feig, im Winter konnte man dort wunderbar rodeln.125 Hier verabredeten sich Jungen mit Mädchen zu einem Rendezvous und im Sommer waren ausgiebige Sonnenbäder angesagt.126 Die Redakteure der Zeitung Nasz Głos publizierten folgendes Gedicht mit dem Titel „Wszistko (sic!) dla nas“ [Alles für uns], dessen Sprache ein jiddelndes Polnisch imitieren sollte, was zusätzlich markierte, dass Tarnóws Jüdinnen und Juden nicht zu dem nationalen „Wir“ gehörten und kein ‚richtiges‘ Polnisch sprächen: 124 Bezkarne nadużycia. In: Nasz Głos, 31.07.1927, S. 3–4. 125 Lavyel, Shulamith: Interview, 01.06.2013, Haifa, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. 126 Vgl. Mikołaj Łoziński über die Familienerinnerungen der Stramers, Łoziński, Mikołaj: Interview, 16.09.2013, Warschau, Polen, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. Łoziński verarbeitete die Familiengeschichte seiner Großvätergeneration in dem Roman Stramer, siehe Łoziński: Stramer; über die „halb nackten“, kreischenden Jugendlichen im Sommer berichtete unter anderem die Zeitung Hasło am 03.07.1936, S. 4.

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kapitel 1 Ciągną wonne, lepkie masy Tałatajstwa cały sznur Gdzieś z Grabówki wszystkich dziur […] A ten ogród nasz Strzelecki Czy ochronką żydziąt jest Tak w nim pachnie czasem fest.

Es ziehen die riechenden, klebrigen Massen Des Gesindels ganze Reihen Aus allen Löchern Grabówkas […] Und unser Strzelecki-Garten Ist das etwa ein Heim für Judenbengel Denn dort riecht’s zuweilen streng.

Wszędzie wózki, niańki, dziecki I pod krzaczkiem pewien gest …

Überall Kinderwagen, -frauen und Kinder Und unterm Bäumchen eine gewisse Geste …

Tam to Izraela córy Co jest pryma cud natury, Na pół nagie jak na plaży Wygrzewają dekoltaży […] Wszystko Pan Bóg zrobił dla nas, Daktyl, figę i ananas Dla nas domy, kamynice, Wille, bady i Krynice.127

Dort wärmen Israels Töchter, an sich ein prima Wunder der Natur, Halb nackt wie am Strand ihre Dekolletés […] Alles hat der Herrgott für uns gemacht Datteln, Feigen, Ananas, Für uns die Häuser und die Mietshäuser, Villen, Bäder und Kurorte.

In dem Gedicht vermischen sich antisemitische Vorstellungen mit Kategorien wie Raum, Gender und Besitzverhältnissen. Sexualisierter Antisemitismus war in der veröffentlichten Meinung in Tarnów präsent, Jüdinnen und Juden wurde vorgeworfen, Pornografie zu verbreiten.128 Anzügliche Sprichwörter über Jüdinnen sowie Phantasma über ihre angebliche Promiskuität sind bis heute in der polnischen Sprache und Kultur erhalten geblieben.129 Einerseits wurden in dem Gedicht Jüdinnen und Juden orientalisiert und als minderwertig dargestellt, beispielsweise als vom schmutzigen Gesindel die Rede war, andererseits war der Neid auf reiche Jüdinnen und Juden, die alles besitzen, gleichzeitig präsent. Die oben erwähnten Elemente sind Versatzstücke aus dem Fundus antisemitischer Vorstellungswelten, die wiederholt verbreitet wurden. Besonders ist jedoch hier, wie der Stadtraum als umkämpfter Raum dargestellt und nach ethnischen Gesichtspunkten kodiert wurde. Aus Grabówka 127 Auszug aus dem Gedicht Wszistko (sic!) dla nas. In: Nasz Głos 15.08.1926, S. 4; Arbeitsübersetzung der Verfasserin. 128 Z życia. In: Nasza Sprawa, 13.03.1938, S. 144; in den Kommunikationswissenschaften wird die veröffentlichte Meinung (in der Presse, in Massenmedien, durch Meinungsführer) von der öffentlichen Meinung unterschieden. Letztere wird durch sozialwissenschaftliche Methoden wie Umfragen erhoben und ist nicht nur auf das Meinungsbild der publizierenden Eliten (der Meinungsführer) beschränkt. Zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung gibt es jedoch auch Korrelationen. 129 Vgl. z. B. Cała: Wizerunek Żyda, S. 66.

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heraus hätten – im Duktus dieses antisemitischen Gedichts – Jüdinnen und Juden mehr und mehr Raum „erobert“  – einen Raum, der ihnen angeblich nicht zustehen würde. Ein geflügeltes Sprichwort der damaligen Zeit „Wasze ulice, nasze kamienice“ [Eure Straßen, unsere Immobilien], welches Jüdinnen und Juden in den Mund gelegt wurde, sollte ausdrücken, dass Jüdinnen und Juden den nichtjüdischen Polinnen und Polen nur die Straßen „zugestehen“, während sie selbst die Immobilien „einheimsen“ würden. Auch in dem Gedicht spiegelt sich diese Vorstellung wider: „Für uns die Häuser und Mietshäuser“. Das Gedicht ist ein Sammelsurium an antisemitischen Glaubenssätzen: Verschwörungstheorien von allmächtigen Jüdinnen und Juden; der soziale Neid auf die vermeintlich reicheren Jüdinnen und Juden; die Vorstellung, dass die Städte letzteren gehörten; die Frage danach, wer die eigentlichen „Hausherren“ der polnischen Städte sein sollten und einiges mehr. Und dieses Gedicht, ähnlich wie die Kritik am eruv, verlagerte jene antisemitischen Denkmuster auf die konkrete Topografie Tarnóws. Der Stadtraum wurde somit als ein contested space wahrgenommen, in dem – denken wir im Geiste des Gedichts weiter – die nichtjüdischen Polinnen und Polen ihren (urbanen) Raum verteidigen müssten. Diese antisemitischen Vorstellungsmuster werden uns im Folgenden noch weiter beschäftigen. Solche Stimmen waren in Tarnów während der Zeit der Zweiten Republik präsent, sie mehrten sich jedoch im Verlauf der 1930er Jahre zunehmend und wurden salonfähig, was in der Mikrostudie zum Stadtrat noch genauer untersucht wird. 1.5

Private Räume

Die Erinnerungen und Berichte über die Privatsphäre als Interaktionsraum zwischen Jüdinnen/Juden und Nichtjüdinnen/Nichtjuden sind sehr divers. Fast alle jüdischen Interviewten bezeichneten Beziehungen zwischen Jüdinnen/Juden und Nichtjüdinnen/Nichtjuden im Vorkriegs-Tarnów als gut, aber das Private und die Freizeit spielten sich für viele innerhalb der eigenen „ethnischen Gruppe“ ab. Andere wiederum berichteten über gegenseitige Besuche zu Hause. So erinnerte sich Gershon Francoz, dass sein Großvater Hermann Mütz, langjähriger Vize-Bürgermeister Tarnóws (Dienstjahre mit Unterbrechung: 1912–1932), bei dem er gewohnt hatte, nichtjüdische Freunde hatte, sie aber eher in Cafés in der Stadt als zu Hause traf.130 Gershon selbst hatte zwar nichtjüdische Schulfreunde, aber außerhalb der Schule nicht 130 Francoz, Gershon: Interview, 02.06.2013, Haifa, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska.

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kapitel 1

sonderlich viel mit ihnen zu tun. Die mehrmals erwähnte Shulamith Lavyel, die Tochter von Dr. Jeshajahu Feig, der Zionist und zugleich im Vorstand des Samson und der Safa Berura war, erinnerte sich nur an Jüdinnen und Juden, die ihre Wohnung in der Krakowska Straße besuchten.131 Allerdings hatten die Feigs ein christliches Dienstmädchen, ebenso wie die Goldbergs, Wróbels und Goetzes.132 Ihr späterer Ehemann Amos Lavyel (damals Leibel) besuchte dieselbe öffentliche Schule wie Gershon Francoz, hatte jedoch im Gegensatz zu ihm sehr viele nichtjüdische Freunde, die nach dem Schulabschluss das Priesterseminar besuchten und mit denen er auch nach Kriegsende weiterhin Kontakt hatte. Sie kamen ihn auch in Israel besuchen.133 Israel Baicher berichtete, dass sogar die meisten seiner Freunde Nichtjuden waren.134 Sophie Gotlob erinnerte sich, dass sie viele nichtjüdische Freundinnen hatte  – die Mädchen besuchten sich häufig privat und dies, obwohl Sophie ein sehr religiöses Zuhause hatte. „Here, they call it religious“, gab sie in einem 1996 in den USA geführten Interview zu bedenken. „But in Poland we didn’t call it religious, any Jewish home was like that, kosher, different dishes for meat, different dishes for dairy, different dishes for passover, it was a traditional home.“135 Doch das hinderte sie nicht daran, ihre nichtjüdischen Freundinnen zu Hause zu empfangen. Rahel Klimek, née Goldberg, stammte aus einer akkulturierten jüdischen Familie. Ihr Vater Salomon Goldberg war Rechtsanwalt und Stadtrat. Beide sind auf einer Fotografie von der Einweihung des Samson-Sportklubs zu sehen (siehe Abbildung  17). Sie wohnten in einer vornehmen Wohnung im Zentrum, in der Wallstraße 18. In dem Haus, an dem auch die Straßenbahn vorbeifuhr, wohnten nur Jüdinnen und Juden, wie sich Rahel erinnerte. Manche waren religiös, andere nicht. „Aber ich unterteile Juden, zumindest die in Tarnów, in zwei Welten“, berichtete Rahel Klimek. „Die eine Welt, das waren die Intellektuellen, gebildet, größtenteils nicht religiös, auf der anderen Seite diejenigen, die Jiddisch sprachen.“136 Im Zensus von 1931 gaben 19  330 131 Lavyel, Shulamith: Interview, 01.06.2013, Haifa, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. 132 Ankori: Chestnuts; Lavyel, Shulamith: Interview, 01.06.2013, Haifa, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska; Klimek, Rahel: Interview, 24.05.2013, Ramat HaSharon, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska; Goetz: I Never Saw My Face. 133 Lavyel, Shulamith: Interview, 01.06.2013, Haifa, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. 134 Baicher, Israel: Interview 16493, 25.06.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 135 Gotlob, Sophie: Interview 16833, 03.07.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 136 Klimek, Rahel: Interview, 24.05.2013, Ramat HaSharon, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska.

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Tarnowianerinnen und Tarnowianer an, jüdischen Glaubens zu sein und 13  962, dass Jiddisch oder Hebräisch ihre Muttersprache ist.137 Demnach müssten rund 5300 Personen in Tarnów laut der Statistik als jüdischen Glaubens mit polnischer Muttersprache kategorisiert werden. Diese Zahlen sind mit äußerster Vorsicht zu genießen, denn die Angaben waren oft durch diverse Faktoren beeinflusst.138 Dennoch können wir davon ausgehen, dass ein geringerer Anteil, wenn auch in absoluten Zahlen beträchtlicher Teil der Jüdinnen und Juden Tarnóws Polnisch als primäre Muttersprache ansah. Für Rahel Klimek war diese Unterscheidung wesentlich und an den sozialen Status gekoppelt. Das Viertel Grabówka bezeichnete Rahel als eine Art „Ghetto“. In ihrem Zuhause wurde kein Jiddisch gesprochen, mit Ausnahme des Vaters, der sich manchmal mit seinen Kunden auf Jiddisch unterhielt. Die Familie war nicht religiös und sehr eng mit einer katholischen Juristenfamilie aus Tarnów befreundet. Die Väter hatten sich während ihres Dienstes in der österreichischen Armee im Ersten Weltkrieg kennengelernt. Feiertage wurden gemeinsam bei den Freunden begangen. Rahel Klimek erinnerte sich, dass sie die christlichen Feiertage durch ihre katholischen Freunde besser kannte als die jüdischen. Gleichzeitig war der Vater politisch ein Zionist, er schrieb regelmäßig für den zionistisch gesinnten Tygodnik Żydowski und schickte die Tochter in eine private jüdische Schule, die Safa Berura, in der sie Hebräisch lernte. Aber es fanden sich in Tarnów nur wenige solcher Familien wie ihre, die so enge Freundschaften mit Nichtjüdinnen und Nichtjuden pflegten, gab Rahel zu bedenken.139 Elżbieta Brodzianka-Gutt berichtete, dass zu ihnen vorwiegend Jüdinnen und Juden zu Besuch kamen, aber nicht ausschließlich. Sie lebte, ebenso wie Rahel Klimek, in der Wallstraße. Beide Mädchen kannten sich, da sie jeweils 1920 bzw. 1921 geboren worden waren und in dieselbe Schule gingen. Das Haus in der Wallstraße, in dem Elżbieta wohnte, war allerdings von Jüdinnen und Juden sowie Nichtjüdinnen und Nichtjuden bewohnt. Auch die nachbarschaftlichen Kontakte seien gut gewesen. Genau wie Rahel war sie gegenüber religiösen Jüdinnen und Juden eher reserviert: „Wir mochten diese Schläfenlockenträger nicht.“140 Abfällig sprach sie von dem „schmutzigen Pöbel“, der irgendwo an der Lwowska Straße beheimatet war.141 137 Drugi powszechny spis ludności z dn. 09.12.1931 r., Tabelle 11, S. 32, Tabelle 12, S. 35. 138 Zur Problematik dieser Volkszählung und zum Bias der Angabe der Muttersprache siehe Tomaszewski: Niepodległa Rzeczpospolita, S. 157–158. 139 Klimek, Rahel: Interview, 24.05.2013, Ramat HaSharon, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. 140 Brodzianka-Gutt, Elżbieta: Interview 25736, 04.12.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 141 Ebd.

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kapitel 1

Ähnlich äußerte sich Ludwik Garmada. Garmada war nur etwas älter als seine Freundinnen Elżbieta Brodzianka-Gutt und Rahel Klimek. Er wurde 1917 in eine akkulturierte jüdische Familie hineingeboren. Damals hieß er noch Zygmunt Schönfeld, behielt aber nach dem Krieg, ebenso wie die beiden Frauen, seinen „arischen Namen“ bei. Sein Vater war Arzt, gehörte zum Milieu der städtischen Intelligencja, was Garmada in dem Interview stolz hervorhob. Jüdische Feiertage spielten zu Hause keine Rolle. Allerdings hatte die Familie auch keinen Weihnachtsbaum aufgestellt, wie andere jüdische Familien, denn das empfand der Vater als ein „Nachäffen“. Garmada besuchte die öffentliche polnische Schule, sprach nur Polnisch, hatte gute Kontakte mit seinen nichtjüdischen Mitschülern, aber privat traf er eher Kinder der elterlichen Freunde, die auch jüdisch waren. Die große Mehrheit in Tarnów war assimiliert, aus meiner Umgebung zumindest. Die jüdischen Freunde, da konnte keiner Jiddisch. Man sprach Polnisch, Polnisch war meine Sprache, seit den ersten Worten. Ich kenne viele Sprachen […], aber ich entspanne mich nur, wenn ich auf Polnisch lese.142

Nun wissen wir, dass nicht die große Mehrheit der Tarnower Jüdinnen und Juden akkulturiert waren. Aber es gab, wie oben beschrieben, ein relativ großes Milieu, das primär Polnisch als Muttersprache ansah und in dem sich Garmada vermutlich vorwiegend bewegte. Die Schönfelds haben jedoch in allen offiziellen Dokumenten als Nationalität jüdisch eingetragen, da der Vater sich politisch zionistisch verortete, obschon sie tief in der polnischen Kultur verankert waren. Zugleich aber schickte er den Sohn nicht in die Safa Berura, sondern in die öffentliche polnische Schule. Als Garmada in dem Interview für das Visual History Archive die Bevölkerung Tarnóws zu beschreiben versuchte, rang er um Worte. Einerseits sah er eine Differenz zwischen der jüdischen und der nichtjüdischen Welt – es habe eine unsichtbare Mauer gegeben. Aber er stellte zugleich fest, dass es Begegnungsfelder gab: Tarnów war eine Stadt, aber darin lebten zwei Gesellschaften […]. Doch die Begegnungsfelder waren riesig. Mein Vater hatte viele katholische Patienten, man kaufte in jüdischen Geschäften, weil 90  % aller Läden jüdisch waren, also kauften Katholiken in jüdischen Läden. An Markttagen kaufte man bei polnischen Bauern. Also war die Begegnung vielfach, überall, auf Schritt und Tritt, und doch gab es Mauern, diese Abgrenzungen. Das waren natürlich keine Ghettomauern, sie waren unsichtbar, aber sie waren da.143 142 Garmada, Ludwik: Interview 7329, 05.12.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 10.03.2021). 143 Ebd.

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Doch schon bald machte Garmada auf andere als ethnische Differenzen aufmerksam. Die sozialen Grenzen verliefen horizontal und nicht vertikal […]. Das heißt nicht so sehr Katholiken und Juden […]. Der Unterschied zwischen einem wohlhabenden Juden und einem armen Juden war bedeutend größer als zwischen einem reichen Juden und einem reichen Katholiken. Genauso zwischen einem armen Juden und einem armen Katholiken.144

Was zunächst wie ein Widerspruch zur ersten Aussage anmutet, verstehe ich vielmehr als Ausdruck polvalenter Zugehörigkeitsmuster, die nicht einfach in Eindeutigkeiten überführt werden können. Es muss vielen Tarnowianerinnen und Tarnowianern ähnlich ergangen sein. Diese Polyvalenz der Zugehörigkeit, oder anders ausgedrückt eine selbstverständliche Mehrfachbezügigkeit, die das „Polnische“ und das „Jüdische“ einschloss, ebenso wie die eigene Schichtzugehörigkeit und den Erfahrungsraum alltäglicher Begegnungen, die Widersprüche zuließ, kann in einer heterogenen, ethnisch-gemischten Stadtbevölkerung durchaus als etwas Normales verstanden werden. Zugleich grenzte sich Garmada vehement von der Welt der Jiddisch sprechenden, religiösen Jüdinnen und Juden ab. „Für mich waren sie etwas Fremdes. […] Das war etwas ‚Minderes‘ in Anführungszeichen.“145 In den Ausführungen von Garmada werden die wichtigsten Punkte verdeutlicht: Einerseits eine Wahrnehmung der Alterität zwischen Jüdinnen/Juden und Nichtjüdinnen/Nichtjuden, andererseits oder vielleicht zugleich die Bedeutung anderer Kategorien im Alltag wie ökonomische Situation, sozialer Status und die Wichtigkeit von Interaktionsräumen – wie Arzt-Patienten-Beziehungen, Schule oder Handel. *** „Tarnów vermessen“ – dieses Kapitel bot einige Einblicke in die topografischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen der Stadt. Arenen wie Arbeitsmarkt, Religion, Sport, aber auch solche Felder wie ethnic mental mapping und „Privates“ wurden hier kurz vorgestellt, um uns der Stadtbevölkerung anzunähern, sie gedanklich um- und einzukreisen. Mit den folgenden Kapiteln tauchen wir näher in die einzelnen Interaktionsräume ein.

144 Ebd. 145 Ebd.

kapitel 2

Lokalpolitik und die schrittweise Politisierung von Ethnizität Dr. Zygmunt Szaja Silbiger war eine einflussreiche Persönlichkeit im Tarnów der Zweiten Polnischen Republik.1 Der promovierte Jurist und Immobilieneigentümer kam aus einer stadtprominenten jüdischen Familie. Bereits der Vater Juliusz Silbiger war 1912 stellvertretender Bürgermeister Tarnóws gewesen. Der Sohn trat in die väterlichen Fußstapfen, zunächst als Stadtrat und ab 1934 als Vizepräsident der Stadt Tarnów. Darüber hinaus saß er von 1931 bis 1932 der jüdischen Gemeinde vor. Der Mittfünfziger hatte Mitte der 1930er Jahre scheinbar alles erreicht. Doch diese Erfolgsgeschichte hatte ihre Schattenseiten: Die Staatsanwaltschaft ermittelte wiederholt gegen Silbiger  – wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder, Vetternwirtschaft und Vorteilsnahme im Amt.2 Im Jahre 1936 entbrannte im Tarnower Stadtrat eine scharfe Auseinandersetzung um die Person Silbigers, der schließlich sein Amt als Vizepräsident niederlegen musste. Doch die Affäre war mehr als nur ein Personalienstreit in einer mittelgroßen Stadt. Was als solcher begann, gewann erst dadurch an Sprengkraft, dass er als ethnischer Konflikt ausgetragen wurde. Denn in der Auseinandersetzung um den Verbleib eines jüdischen Politikers im Präsidium einer mittelgroßen Stadt äußerte sich zugleich ein übergeordnetes Thema: die Zurückdrängung von Juden aus verantwortlichen Positionen bzw. aus dem öffentlichen Leben überhaupt im Polen der zweiten Hälfte der 1930er Jahre. Die Causa Silbiger ist von daher ein Lehrstück, wie im Polen der 1930er Jahre Ethnizität politisiert wurde. An diesem Fallbeispiel wird das Wechselspiel zwischen lokalen Dynamiken sowie nationaler und europäischer Politik sichtbar. Dr. Zygmunt Silbiger trat nach Piłsudskis Maiputsch 1926 auf die lokalpolitische Bühne.3 Im Stadtrat repräsentierte er die „alten jüdischen Eliten“. Er inszenierte sich als lokalpolitischer Anführer diverser Gruppen jüdischer Orthodoxer, welche sich im Laufe der Zeit unterschiedlichen Wahlbündnisse 1 Die Kontextualisierung der Affäre Silbiger erschien bereits in einer Kurzfassung: Wierzcholska: Polen, Juden, Tarnowianer? 2 Akten der Staatsanwaltschaft Tarnów: ANKr. Odd. T. 33/97/PT 56/I DS 2512/33; ANKr. Odd. T. 33/97/PT 142/I Ds 803/38. 3 Siehe dazu das Kapitel  2.2.2 „Autonomie der Stadträte in der moralischen Diktatur? Der Stadtrat von Tarnów nach dem Maiputsch 1926“.

© Brill Schöningh, 2022 | doi:10.30965/9783657760091_004

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und Fraktionen im Stadtrat anschlossen.4 Ab 1934 schloss sich diese Gruppe unter Silbiger dem Sanacja-Lager im Stadtrat an, welches die sogenannte moralische Diktatur Piłsudskis unterstützte. Zu den politischen Kontrahenten dieses Lagers zählte der oppositionelle Sozialistische Klub im Stadtrat, der aus der PPS und dem Bund bestand. Die späte Sanacja-Zeit polarisierte die beiden Lager, doch zunächst nach politischen und nicht nach ethno-nationalen Kategorien. Im März 1935 forderte der PPS-Stadtrat Ludwik Huppert, dass mehr Juden in den städtischen Einrichtungen beschäftigt werden sollten.5 Diese Forderung war nicht ungewöhnlich  – Jüdinnen und Juden waren meistens nicht proportional zu ihrem Bevölkerungsanteil in den städtischen Institutionen beschäftigt. Forderungen, dass sich dies ändern müsse, waren häufig auch in anderen Städten zu vernehmen. Eine Antwort auf diese Forderung kam prompt aus dem Präsidium: Jüdische Arbeiter würden gar nicht arbeiten wollen.6 Diese Antwort gab kein geringerer als Dr. Zygmunt Szaja Silbiger selbst. Als Mitglied des Sanacja-Lagers war Silbiger ein entschiedener Gegner der sozialistischen Opposition. Silbiger kämpfte gegen die Forderungen des Sozialistischen Klubs, auch wenn er sich dabei gegen die Interessen der jüdischen Arbeitenden stellte. Als der Bundist David Batist (?–1942) gegen solche verleumderischen Behauptungen und gegen den Antisemitismus in der Stadtverwaltung zu protestieren versuchte, wurde er daraufhin von der Stadtratssitzung ausgeschlossen. Die Redakteure der zionistischen Lokalzeitung Tygodnik Żydowski waren über Silbigers Verhalten empört und sprachen ihm sein Jüdischsein ab, da er die Interessen von Juden verleumde und lediglich als Marionette des Sanacja-Lagers auftrete. Fortan schrieben sie über Silbiger, immerhin den Anführer der orthodoxen jüdischen Gruppierungen im Stadtrat, als „de[n] ‚jüdische[n]‘ Vizepräsident[en]“ – „jüdisch“ war wohlgemerkt in Anführungszeichen gesetzt.7 Silbiger wurde zum Ausgangspunkt einer vom Tygodnik Żydowski angeheizten innerjüdischen Debatte darüber, 4 Er war Anführer der lokalen Aguda-Partei und vereinte hinter sich auch verschiedene chassidische Clans und orthodoxe Gruppierungen wie die Gruppe der Chassidim aus Belz, aus Bobowa, aus Dzików, aus Szczucin, aus Grodzisk, aus Żabno und den Verein „Kloyz“; vgl. die Liste der Unterstützer von Zygmunt Silbiger bei den Wahlen 1939, Silbiger, Zygmunt: Obywatele! Żydzi! In: Hasło, 04.12.1933, S. 2–3. Die zionistische Zeitung Tygodnik Żydowski betitelte Silbiger abschätzig als „selbst ernannten Führer der Orthodoxie“ von Tarnów: Smutna rola. In: Tygodnik Żydowski, 29.03.1935, S. 1. 5 Stadtratsprotokoll vom 27.03.1935, ANKr. Odd. T.  33/1/ZMT 1a: Dopływy; ausführlicher Kommentar zur Sitzung: Z Rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 29.03.1935, S. 2–3. 6 Z Rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 29.03.1935, S. 2–3. 7 Ebd.

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was Jüdischsein im Allgemeinen und jüdische Repräsentanz im Stadtrat im Besonderen eigentlich bedeuteten. Die entwertende Äußerung Silbigers gegenüber den Arbeitenden zeigt zudem, dass Grabenkämpfe zwischen Sanacja-Anhängern und Sozialisten ethnisch-motivierte Allianzen nicht zuließen. Die politischen Grabenkämpfe verliefen strikt nach diesen beiden Lagern und nicht etwa nach ethnischnationaler Solidarität – so erinnert sich der Bundist Aron Sporn: In der fünfjährigen Kadenz des Stadtrats ist es kein einziges Mal vorgekommen, dass die jüdischen bürgerlichen Ratsmänner den Bund unterstützt hätten, sogar wenn es sich um Vorschläge zum Wohle jüdischer gesellschaftlicher und kultureller Institutionen handelte. Unser einziger Verbündeter war die PPS.8

Dass diese Erinnerung nicht ganz mit der Realität übereinstimmte, wird im weiteren Verlauf der Studie deutlich. Durch seine Äußerungen wurde Silbiger zum Feindbild des Sozialistischen Klubs, in dem Juden und Nichtjuden (sowie Lidia Ciołkosz, eine PPS-Rätin jüdischer Herkunft) vertreten waren. Mehrmals forderten die Sozialisten den Rücktritt Silbigers. Dabei bauten die Sozialisten auf die moralische Diskreditierung Silbigers, nachdem die Staatsanwaltschaft gegen ihn ermittelt hatte. Zwar polarisierte die angespannte politische Situation der späten Sanacja-Zeit in den 1930er Jahren sehr wohl den Tarnower Stadtrat, doch anfangs traten nicht die ethnisch-nationalen oder religiösen Differenzen, sondern politische Konfliktlinien in den Vordergrund. Diese Polarisierung entfaltete zunächst auch eine integrierende Wirkung innerhalb der jeweiligen politischen Gruppierungen, in Tarnów des Pro-Regierungslagers einerseits und der Sozialisten andererseits, und führte zu einer starken Abgrenzung gegenüber den (politisch) „Anderen“. Doch die Auseinandersetzung um Zygmunt Silbigers Verbleiben im Amt 1936 kann in vielerlei Hinsicht als eine Bruchstelle gedeutet werden, an der die Verschiebung von Grenzziehungen  – im Hinblick auf die Bestimmung des „Anderen“  – deutlich wird. Als 1936 die Sozialisten erneut den Rücktritt Silbigers forderten, hatten sie keine neuen Argumente als bereits 1934 und 1935 vorgebracht. Doch damals blieben ihre Forderungen ungehört. Warum gewannen 1936 die alten Vorwürfe gegen Silbiger auf einmal an Sprengkraft? Juden waren zu diesem Zeitpunkt bereits lange (seit 1867) im Stadtrat vertreten, aber die Stadträte der frühen Zweiten Republik waren nicht primär damit beschäftigt, ob sie Juden waren oder nicht. Es ging um allgemeine städtische Belange: um Finanzen, um Straßenbeleuchtung, Kanalisation und 8 Sporn: Der algemeyner yidisher arbeyter-bund, S. 653.

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kapitel 2

Strompreise. Das Jüdischsein oder Nichtjüdischsein der Stadträte schien bis dahin eine untergeordnete Rolle in der Entscheidungsfindung in diesem „Lokalparlament“ gespielt zu haben. Es war für mich als Forscherin für die ersten Jahre der Zweiten Republik sogar sehr schwierig, überhaupt nach Beziehungen zwischen „den Juden“ und „den Nichtjuden“ im Stadtrat zu fragen, weil diese ethnische Kategorisierung sich weder in den Quellen noch in den Diskussionen oder Entscheidungen im Stadtrat widerspiegelte. Es gab christlich-jüdische Wahlbündnisse, die heutige Lokalhistoriker in Erstaunen versetzen, tatsächlich aber nichts Ungewöhnliches in der Region waren.9 Aus diesen Gründen erschien mir der Ansatz von Rogers Brubaker gewinnbringend, der Ethnizität nicht über Gruppenzugehörigkeit definiert und nach anderen zugehörigkeitsstiftenden Merkmalen in Gruppenbildungsprozessen fragt.10 Doch in den 1930er Jahren wurde Ethnizität in der Öffentlichkeit zunehmend mobilisiert. In diesem Kontext ist auch die Causa Silbiger zu verstehen. Im Zuge der Auseinandersetzung um Silbiger entstand zum ersten Mal ein „Jüdischer Klub“ im Tarnower Stadtrat. Gegen die Absetzung der höchst umstrittenen Personalie argumentierte der Klub nicht etwa damit, dass die Vorwürfe gegen Silbiger unhaltbar seien oder dass er hervorragend für das Amt geeignet sei, vielmehr wurde sein Jüdischsein zum zentralen Argument erhoben. In seiner Protestnote berief sich der Jüdische Klub auf das „durch die Tradition geheiligte Recht der jüdischen Bevölkerung“ von Tarnów, dass ein Jude im Präsidium der Stadt vertreten sein müsse.11 Von der anderen politischen Seite blieben antisemitische Attacken nicht aus. Während der heißen Phase um Silbiger beklagte die Zeitung Głos Ziemi Tarnowskiej, dass zu viele Juden Schlüsselpositionen in der Stadt besäßen.12 In der Auseinandersetzung um Silbiger wurde die Frage, wer ein Jude sei, zum öffentlich diskutierten Politikum, das auch die Gruppierungen innerhalb des Stadtrats sprengte. Erschien mir auf den ersten Blick der Schlagabtausch über Silbiger zunächst merkwürdig verschlüsselt, so schälte sich durch ein close reading der Quellen zur Causa Silbiger langsam heraus, dass dieser Fall nur so zu verstehen ist, dass es hierbei im Grunde darum ging – obschon dies zu Beginn nicht offen ausgesprochen wurde –, ob ein Jude in einem zunehmend nationalistisch geprägten Polen des Jahres 1936 noch als Vizepräsident einer mittelgroßen Stadt haltbar sei. Vergleicht man die Stadtratswahlen in Tarnów von 1933 und 1939, so stellt man fest, dass in der ersten Wahl fast ausschließlich ethnisch-gemischte 9 10 11 12

Vgl. zu anderen Städten beispielsweise Wierzbieniec: Lwów, Przemyśl, and Rzeszów. Brubaker: Ethnizität, S. 23–25; siehe auch Unterkapitel „Ethnizität ohne Gruppen“ in der Einleitung. Erklärung des Jüdischen Klubs vom 25.06.1936, MTH 843. Zit. nach Z wydarzeń miejskich. In: Tygodnik Żydowski, 05.06.1936, S. 5–6.

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Wahlgruppierungen gegeneinander antraten, während in letzterer die Wahlgruppierungen fast ausschließlich ethnisch homogen waren. Dazwischen fand die Affäre Silbiger mit der massiven Mobilisierung ethno-nationaler Zuschreibungen statt. Wie kam es in einer multiethnischen Stadt wie Tarnów zu einer solchen Verschiebung? Sicherlich war es nicht die SilbigerAffäre selbst, welche die Tarnower Bevölkerung in ethno-nationale Gruppen polarisierte, vielmehr manifestierten sich während dieser Affäre Konflikte, die sich bereits latent angebahnt hatten. Aus der zunächst unverständlich erscheinenden Affäre Silbiger generierte ich immer größere Fragen zur Rolle von Ethnizität bei der Aushandlung von Teilhabe in der Lokalpolitik in urbanen Räumen der Zweiten Republik. Den Stadtrat verstehe ich als einen Aushandlungsraum, in dem verschiedene lokale Gruppen Überzeugungsarbeit leisteten sowie ihre jeweiligen Interessen verhandelten und durchzusetzen versuchten. Im folgenden Kapitel gehe ich der Frage nach der Politisierung von Ethnizität nach und untersuche, wie diese bei der Verteilung von Macht auf lokalpolitischer Bühne verhandelt wurde. Wie gestaltete sich in einer mittelgroßen Stadt wie Tarnów, deren jüdische Bevölkerung einen Anteil von fast 50 % stellte, die (lokal-)politische Willensbildung und welche Interessengruppen entwickelten sich? Welche Rolle spielte Ethnizität bei der Ausübung der Macht? Wann dagegen nahmen andere Kategorien (soziale Herkunft, ökonomische Interessen, politische Ziele) eine bedeutendere Rolle ein? Wie wurde in Bezug auf Ethnizität über die Ressource Macht und Finanzen verhandelt? Wie prägten nationale und internationale Entwicklungen, Ereignisse und Spannungen die lokalpolitische Bühne im Hinblick auf die Beziehungen zwischen Jüdinnen/Juden und Nichtjüdinnen/Nichtjuden? Dabei wird in der Mikroperspektive deutlich, wie sich ethno-nationale Konflikte mit politischen, ökonomischen, ideologischen und lokal-pragmatischen Streitfragen überlagerten und auf mehreren Ebenen (lokal, gesamtgesellschaftlich, im Alltag, in ideologischen Vorstellungswelten) miteinander verflochten waren. 2.1

Der Stadtrat in der Zweiten Polnischen Republik als Untersuchungsgegenstand für das multiethnische Miteinander Die Zusammenarbeit zwischen jüdischen und polnischen Gruppierungen gestaltete sich in den Stadträten weitaus besser als im Sejm. Es gab zwar durchaus Konflikte, aber die Notwendigkeit, die alltäglichen Sorgen zu lindern, wirkte ohne Zweifel mildernd, denn sogar die Antisemiten mussten von ihren propagandistischen, auf Mythen aufgebauten Thesen Abstand nehmen  – zugunsten eines reinen Pragmatismus. Die jüdischen Stadträte dagegen beschäftigten sich konsequent mit der allgemeinen Stadtpolitik, sie stimmten

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kapitel 2 zuweilen ungleichen Verteilungen finanzieller Subventionen zu, die Viertel diskriminierten, in denen die jüdische Bevölkerung lebte. Sie respektierten auch die gängigen Konventionen und verzichteten auf exponierte Posten innerhalb der städtischen Machtorgane.13

So charakterisierte die Historikerin Alina Cała in ihrem Buch über den Antisemitismus in Polen die Arbeit der Stadträte in der Zweiten Republik. Die Stadträte als Verhandlungsorte erlauben einen Einblick in die Beziehungen zwischen Jüdinnen/Juden und Nichtjüdinnen/Nichtjuden, die sich sowohl von der gesamtgesellschaftlichen Perspektive (wie dem Sejm) als auch von innerjüdischen Organisationen (wie der kehillah) abheben. Das Augenmerk soll hier betont von rein innerjüdischen Institutionen wegführen und es auf Gremien lenken, in denen Teilhabe an lokalen Machtstrukturen von unterschiedlichen, ethnisch und religiös diversifizierten Gruppierungen ausgehandelt wurde. Da die Jüdinnen und Juden Polens in ihrer überwältigenden Mehrheit eine urbane Bevölkerung darstellten, spielten Stadtverwaltungen für sie eine bedeutende Rolle, da hier unmittelbar über Belange der städtischen Gesellschaften verhandelt wurde. Die beschlossenen Maßnahmen wirkten sich in der Folge direkt auf die Stadtbevölkerung aus. Jüdische Wählerstimmen fielen in Städten anders ins Gewicht als beispielsweise bei Sejm-Wahlen, da in Städten die jüdische Bevölkerung prozentual einen höheren Anteil als auf gesamtgesellschaftlicher Ebene stellte, was zugleich den Wettbewerb um die Wählergunst, Wahlversprechen und Wahlprogramme, vor allem aber eingegangene Koalitionen und Bündnisse prägte. Durch die Nähe zur Bevölkerung und ihrem Alltag sowie durch die unmittelbare Auswirkung von Entschlüssen ergab sich innerhalb der Stadträte eine andere Funktionsweise, wie Politik betrieben wurde. In Tarnów waren die Stadträte nicht hauptberuflich tätig, sondern erfüllten ein Ehrenamt. Sie kamen von daher aus der Mitte derjenigen, die sie repräsentierten. Die alltäglichen Sorgen und Fragen der Bevölkerung konnten auf diese Wiese schnell in den Debatten des Stadtrats aufgegriffen werden. Umgekehrt nahmen die Beschlüsse des Stadtrats unmittelbar Einfluss auf den Alltag und verursachten fühlbare Veränderungen. Die kommunalen Probleme mussten häufig pragmatisch gelöst werden. In Bezug auf die nationalen Minderheiten hatte die PPS den Wert der Stadträte bereits früh erkannt und diese als integrierende Einrichtungen verstanden, als Einübung des multinationalen Miteinanders. 1928 stellte Adam Pragier (1886–1976), einer der führenden Köpfe der PPS, zur territorialen 13

Cała: Żyd – Wróg odwieczny?, S. 343.

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Selbstverwaltung14 fest: „Das ist eine Institution, die die Bürger aufgrund der Interessen der gemeinsamen Nachbarschaft und aufgrund verwandter Anliegen eint, um zusammen für das Gemeinwohl zu arbeiten.“15 Gerade in den konkreten gemeinsamen Zielen auf Lokalebene sah Adam Pragier die einigende Kraft der Stadträte, hinter denen ethnische Grenzziehungen hintangestellt werden konnten. Allgemein stellt sich zudem die Frage, was jüdische Repräsentanz auf Lokalebene eigentlich bedeutete. Ob es bei der Erforschung der Beteiligung von Juden an der territorialen Selbstverwaltung tatsächlich sinnvoll ist, nach „jüdischen“ und „kommunalen“ Themen zu unterscheiden, wenn es um das Gemeinwohl einer multiethnischen Gemeinde geht, stellten bereits Hanna Koźińska-Witt und Marcos Silber infrage.16 Juden sahen sich nicht zwangsläufig nur als Vertreter jüdischer Interessen im Stadtrat, sondern verfolgten allgemeine kommunale Ziele oder Ziele ihrer jeweiligen Parteien. Als Beispiel dafür, dass die religiöse Zugehörigkeit oder ethnische Herkunft der Räte bei Weitem nicht ausschlaggebend dafür war, dass sie sich für spezifisch jüdische Belange einsetzten, zitierte die zionistische Tarnower Wochenzeitung Tygodnik Żydowski als Mahnung die Aussage eines jüdischen Stadtrats aus dem rund 80 km entfernten Krakau: „Bitte unterscheiden Sie uns vier [Mitglieder des nationaljüdischen Klubs im Stadtrat  – AW], erklärte Dr. Zimmerman, vom Rest der jüdischen Stadträte, die in diesem Stadtrat vertreten sind. Denn letztere sind an die Parteidisziplin ihrer jeweiligen Gruppierungen gebunden und wollen oder können nicht die Interessen der jüdischen Bevölkerung verteidigen.“17 Bereits im einleitenden Zitat verwies Alina Cała darauf, dass jüdische Stadträte für das Allgemeinwohl handelten und dabei nicht unbedingt jüdische Interessen vertraten oder diesen gar entgegenwirkten. Zudem verzichteten sie laut Cała auf hohe Ämter, um den Konventionen zu entsprechen. Welchen tatsächlichen Spielraum hatten also Juden in den Stadträten? Wann setzten sich jüdische Stadträte für spezifisch jüdische Belange ein und wann wurden sie von anderen hauptsächlich in ihrer Eigenschaft als „Juden“ wahrgenommen? Der Gesamtkontext der Zweiten Republik erschließt zudem noch eine zusätzliche Bedeutung der Stadträte. Unterhalb der nationalen Ebene bildeten sich kommunale Strukturen heraus, die zum Ziel hatten, autonom über die 14 15 16 17

In Polen werden Gremien auf lokaler Ebene als territoriale Selbstverwaltungseinheiten bezeichnet, daneben gab es auch berufliche und ökonomische Selbstverwaltungsgremien, vgl. Sidor: Samorząd terytorialny, S. 7. Zit. nach Ebd., S. 78. Kozińska-Witt/Silber: Introduction, S. 119. Panu Inż. Szancerowi do wiadomości. In: Tygodnik Żydowski, 30.03.1934, S. 2.

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Belange der Stadt bzw. der Gemeinde zu entscheiden, was je nach Region und Zeitpunkt in der Zweiten Republik in unterschiedlichem Maße möglich war. Nach Piłsudskis Staatsstreich im Mai 1926 wurde Polen zunehmend autoritär regiert. Die demokratischen Kräfte sahen von daher gerade in den Stadträten die Möglichkeit, ein Gegengewicht zur Staatsmacht zu etablieren und mit ihr in Konkurrenz zu treten.18 Während die Regierung und der Marschall Piłsudski (1867–1935) selbst zunehmend die Wirkungsmöglichkeiten der parlamentarischen Institutionen beschnitten und oppositionelle Abgeordnete verhaften ließen, konnte sich ein Teil der gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse von der nationalen Ebene auf die lokalpolitische Bühne verlagern. Zwar war die Autonomie der Stadträte klar beschränkt – in Galizien zunächst durch das Erbe der Teilungszeit und später durch das PiłsudskiRegime, besonders nach der Reform von 1933, als die kommunale Selbstverwaltung immer stärker als Mittel der Durchsetzung staatlicher Direktiven bis auf die Kommunalebene genutzt wurde. Dennoch hatte die demokratische Opposition in den Stadträten noch (Ver-) Handlungsspielräume. Der Bund war beispielsweise nie im Sejm vertreten und die PPS boykottierte die SejmWahlen von 1935 und 1938, sodass  – nach der Einschätzung von Gertrud Pickhan – der Arbeit in den Stadtparlamenten gerade für diese Parteien eine „kompensatorische Ersatzfunktion“ zukam.19 So sahen einige gesellschaftliche Gruppen, wie hier die Arbeiterparteien oder auch nationale Minderheiten, in den Lokalverwaltungen ein Vehikel zum „empowerment“. Inwiefern die Beteiligung im Tarnower Stadtparlament als Momentum genutzt wurde, um Ziele von Interessengruppen durchzusetzen, die auf nationalstaatlicher Ebene nicht mehr repräsentiert wurden, sich nicht effektiv artikulieren konnten oder erst im kommunalen Kontext an Bedeutung gewannen, und welche Interessengruppen sich hier überhaupt bildeten, soll im Folgenden dargestellt werden. Rahmenbedingungen der Lokalautonomie 1918–1933 Der Grad der Autonomie territorialer Selbstverwaltungen – und damit auch der Stadträte – war in der Zweiten Republik ein kontroverses Thema. Einerseits sollten Reformen die Selbstverwaltung vereinheitlichen, da in den ehemaligen Teilungsgebieten sehr unterschiedliche Regelwerke galten.20 Bestehende Wahlordnungen  – wie das nach Vermögensverhältnissen gestaf­ felte Dreiklassenwahlrecht in Galizien  – sollten demokratisiert werden. Andererseits waren die Reformentwürfe umstritten, schreckte die Warschauer 18 19 20

Vgl. Pickhan: „Gegen den Strom“, S. 353–354. Ebd., S. 354. Izdebski: Samorząd terytorialny w II Rzeczpospolitej. Część I, S. 34.

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Regierung doch davor zurück, mit einer starken Selbstverwaltung in einigen Gebieten den ethnischen Minderheiten eine weitreichende Autonomie einzuräumen. In der Auseinandersetzung, ob die Zweite Polnische Republik als Nationalstaat oder als Nationalitätenstaat verfasst sein sollte, kam dem Grad der Autonomie lokalpolitischer Institutionen eine Schlüsselrolle zu. Das Ausmaß der Zentralisierung oder Dezentralisierung des Staates war ebenfalls eine entscheidende Frage bei den Verhandlungen über die kommunale Selbstverwaltung.21 In der Frage nach der Ausgestaltung territorialer Selbstverwaltungen verdichteten sich komplexere Problematiken der Verfasstheit der Zweiten Polnischen Republik im Allgemeinen, was letztlich eine Neuordnung der Selbstverwaltungen erheblich – und zwar bis 1933 – verzögerte. Bereits am 27. November  1918, also nur wenige Tage nach dem Waffenstillstand von Compiègne am 11.  November, welcher später als polnischer Unabhängigkeitstag gefeiert wurde, erließ Staatschef Piłsudski (Naczelnik Państwa) eine Reihe von Dekreten für das ehemalige Königreich Polen, die die territorialen Selbstverwaltungen auf diesem Gebiet von Grund auf demokratisierten.22 Da die Grenzen des neu entstehenden Staates bis 1921 nicht abschließend geklärt und zum Teil umkämpft waren, konnte vorerst keine allgemeingültige Neuordnung der Lokalpolitik stattfinden. Schrittweise wurden jedoch die oben genannten Dekrete auf jene Gebiete ausgedehnt, die dem polnischen Staat einverleibt wurden und ehemals zum russischen Teilungsgebiet gehört hatten. Bereits 1919 fanden in Zentralpolen Stadtratswahlen statt, so auch in den Großstädten Warschau und Łódź.23 Bis Mai 1919 fanden in 52  Städten Stadtratswahlen statt, bei denen Juden durchschnittlich 33  % der Sitze zufielen, in Piaseczno beispielsweise 25  %, in Zamość 46  % oder 62  % in Grójec.24 Im ehemals österreichischen und preußischen Teilungsgebiet dagegen blieben zunächst die Kommunalordnungen von vor 1918 in Kraft. In Galizien herrschte noch immer das nach Vermögensverhältnissen gestaffelte Dreiklassenwahlrecht von 1866, ergänzt durch eine Verordnung von 1918. Letztere ließ eine „vierten Kurie“ bei Kommunalwahlen zu, in der jene Bevölkerungsschichten, die keine Steuern zahlten, vertreten waren.25 Jedoch war damit die Wahlordnung nicht grundlegend demokratisiert, da die Stimmen weiterhin nach Vermögen gewichtet wurden. 21 22 23 24 25

Zu den Auffassungen unterschiedlicher politischer Parteien und Bewegungen vgl. Sidor: Samorząd terytorialny. Izdebski: Samorząd terytorialny w II Rzeczpospolitej. Część I, S. 37. Szwed: Udział Żydów w samorządach, S. 96. Ebd., S. 97. Izdebski: Samorząd terytorialny w II Rzeczpospolitej. Część I, S. 37.

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Schließlich regelte die Märzverfassung von 1921 die Kompetenzen der territorialen Selbstverwaltung. In ihr wurde den Selbstverwaltungen eine gewisse Autonomie zugestanden, da sowohl die Zuständigkeiten als auch Einnahmen der Gemeinden von denen der Zentralregierung klar getrennt wurden. Die Selbstverwaltungen konnten Gesetze erlassen, über ihre Einnahmen verfügen und waren nur in Ausnahmefällen an die Ministerien weisungsgebunden. Nationalen Minderheiten wurde eine „volle und freie Entfaltung ihrer Zuständigkeiten“ garantiert.26 Doch die Formulierungen zur Autonomie der Selbstverwaltungen wurden im Verfassungstext allgemein gehalten und in der Folge auch tatsächlich sehr frei interpretiert.27 Die Verfassung setzte auch nicht automatisch die bestehenden Ordnungen in den ehemaligen Teilungsgebieten außer Kraft, diese mussten erst durch neue Gesetze explizit verändert werden.28 Aufgrund der Brisanz des Themas  – Autonomie der Stadträte und der Lokalpolitik, bei dem es letztlich darum ging, inwiefern der Staat zentralistisch verfasst sein und breite Einwirkungsmöglichkeiten auf die Kommunen haben sollte oder ob letztere sich autonom vom Staat entwickeln und dadurch potenziell zu konkurrierenden Institutionen werden könnten, waren weitere Reformentwürfe in den Sejm-Debatten höchst umstritten und versandeten schließlich.29 Diese ungeregelten Verhältnisse hatten zur Folge, dass im alten Galizien Neuwahlen zum Stadtrat verschleppt wurden, Ratsmänner und Bürgermeister jahrelang im Amt blieben und einige Gremien gar nicht mehr berufen wurden. In Tarnów begannen bereits 1919 Debatten über die Legitimation des amtierenden Stadtrats, der 1912 gewählt worden war, da die Mandate fast aller Amtsträger ausgelaufen waren.30 Selbst einige der Stadträte im Amt hatten Vorbehalte und forderten  – ebenso einige Gruppierungen außerhalb des Stadtrats (beispielsweise Zionisten) – Neuwahlen. Doch im Oktober 1919 fasste der Stadtrat einen Beschluss, dass Neuwahlen nur nach einer neuen Wahlordnung durchgeführt werden könnten, die der „neuen Zeit“ entspräche. Man müsste von daher zuallererst vom Sejm eine allgemeingültige Neuregelung verlangen.31 Dies bedeutete, dass in einer demokratisch verfassten Republik keine Wahlen nach dem in der k. u. k. Monarchie geltenden Dreiklassenwahlrecht durchgeführt werden konnten und sollten.

26 27 28 29 30 31

Ebd., S. 38. Ebd. Vgl. Tomaszewski: Niepodległa, S. 182. Zu Reformentwürfen der unterschiedlichen politischen Gruppierungen in Polen und deren Gesetzesvorschlägen siehe Sidor: Samorząd terytorialny. Potępa: Przed Wojną, S. 12. Zitiert nach Ebd., S. 12.

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Doch im Sejm liefen die Gesetzesentwürfe zur territorialen Selbstverwaltung zunächst ins Leere, da das Thema kontrovers debattiert wurde und die Mehrheiten im Sejm in rascher Abfolge wechselten. Im Besonderen die PPS setzte sich dafür ein, dass wenigstens bis zur allgemeinen Neuordnung der Kommunalverwaltung die Dekrete von 1918, die in Zentralpolen galten, auch auf das ehemalige Galizien ausgedehnt werden, um so auch in diesen Gebieten wenigstens eine schrittweise Demokratisierung zu ermöglichen. Obwohl sich hier vor allem Adam Ciołkosz (1901–1978), ab 1928 der erste PPS-Abgeordnete im Sejm aus dem Tarnower Wahlkreis, im Parlament dafür einsetzte, wurden die Dekrete letztlich nicht auf Kleinpolen ausgeweitet.32 Schließlich blieben in Tarnów die 1912 gewählten Ratsmänner und die 1918 kooptierten Vertreter der nicht-vermögenden Bevölkerung noch bis 1929 im Amt, ohne dass Neuwahlen ausgeschrieben wurden. In Krakau blieb der alte Stadtrat sogar bis 1931 und in Lwów von 1913 bis 1927 bestehen.33 Eine Ausnahme bildeten in Tarnów die Jahre von 1924 bis 1926, als eine kommissarische Stadtverwaltung eingesetzt wurde. Die Praxis, kommissarische Stadtverwaltungen von oben zu bestimmen, zeigte ebenso, wie leicht die in der Verfassung garantierte Autonomie der Gemeindeinstitutionen de facto außer Kraft gesetzt werden konnte. 2.2

Der Stadtrat 1918–1933. Ethnische, politische und ökonomische Konfliktpotenziale

Das Erbe der k. u. k. Monarchie: der Tarnower Stadtrat nach dem Ersten Weltkrieg (1918–1924) Dass  17 Jahre lang keine Wahlen zum Stadtrat von Tarnów stattfanden (von 1912 bis 1929), kommentierte der Tygodnik Żydowski wie folgt: 2.2.1

Mächtige Imperien zerfielen und an deren Stelle entstanden neue Staaten, […] die gesellschaftliche Struktur, die Mentalität der zeitgenössischen Menschheit haben sich von Grund auf verändert – das Politische wird in ganz anderen Kategorien gedacht – nur wenn man sich unsere Kommunalpolitik anschaut, ist es so, als ob sich gar nichts auf der Welt verändert hätte – dieselben Leute, alles geht seinen alten, eingefahrenen Gang. Als ob sich im mächtigen Schmelztiegel historischer Evolutionen und Revolutionen eine kleine Insel behaupten konnte, zu der nicht einmal das Echo der Neuanfänge und großen Veränderungen durchdringt.34 32 33 34

Sidor: Samorząd terytorialny, S. 90–94. In Krakau war der alte Stadtrat sogar bis 1931 im Amt, ebenfalls mit Ausnahme der kommissarischen Stadtverwaltung von 1924–1926, siehe hierzu: Kozińska-Witt: Jewish Participation, S. 208. Z Rady Miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 04.04.1928, S. 1.

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Tatsächlich hatte die neue geopolitische Lage in Europa und im Besonderen die Neuordnung Ostmitteleuropas nach dem Ersten Weltkrieg keine größeren Umwälzungen bei der personellen Besetzung des Tarnower Stadtrats nach sich gezogen. Dies war in anderen galizischen Städten ebenso der Fall.35 In der demokratisch verfassten Zweiten Republik waren die „alten Stadträte“ problematisch, weil sie nicht die realen politischen Verhältnisse in den Städten repräsentierten. Die einzige unmittelbare Veränderung war die Kooptierung von Vertretern der nicht steuerzahlenden Bevölkerung. In Tarnów wurden bereits im November 1918 zehn Mitglieder der PPS und zwei Gewerkschaftler als Stadträte ernannt und kooptiert.36 Die weiteren rund 30 Räte entstammten dem 1912 nach der alten Ordnung gewählten bürgerlich-vermögenden Lager. Politisch allerdings unterstrich der „alte“ Stadtrat seine volle Loyalität zum neu entstehenden Staat Polen.37 Diese Prägung war sicherlich dem Einfluss des seit 1907 amtierenden, polnisch-patriotisch gesinnten Bürgermeisters Tadeusz Tertil (1864–1925) geschuldet, der dem Polnischen Klub im Wiener Reichsrat vorgestanden hatte und am Ende des Ersten Weltkriegs den Übergang von Teilen Galiziens in den entstehenden polnischen Staat im Liquidationsausschuss Galiziens und Teschener Schlesiens aktiv mitgestaltete.38 Unter Tertils Ägide drückte der Stadtrat von Tarnów bereits am 31. Oktober 1918 die Treue der Stadt zum neu entstehenden polnischen Staat aus. Deutschsprachige Schilder sowie Straßennamen wurden innerhalb der nächsten Monate geändert und der Stadtrat sprach sich gegen den Deutschunterricht an Schulen aus.39 Die Lokalpolitik der ersten Nachkriegsjahre von 1918 bis 1922 war von der Versorgung und dem Aufbau der Stadt geprägt  – nach den Verwüstungen des Ersten Weltkriegs und der durch Tarnów verlaufenden Front. Nahrungsund Heizmittelbeschaffung hatten höchste Priorität und Dringlichkeit.40 Die Versorgung mit Brennmaterial und Mehl zur Herstellung von Brot war katastrophal.41 Straßenzüge und öffentliche Plätze mussten erneuert, vor allem jedoch Wohnraum geschaffen werden. Die wenigstens rudimentäre Sanierung 35 36 37 38

39 40 41

Vgl. dazu Kozińska-Witt/Silber: Introduction, S. 118; Wierzbieniec: Lwów, Przemyśl, and Rzeszów, S. 255–272; Szwed: Udział Żydów, S. 95–113. Potępa: Przed Wojną, S. 6–7. Ebd., S. 6–8. Tertil setzte sich aktiv im national-polnischen Turnverein Sokół ein, pflegte die Begehung der Jahrestage des Januaraufstandes, darüber hinaus war er seit 1911 Abgeordneter im Reichsrat in Wien, zunächst als Teil der polnischen National-Demokratie, von der er sich jedoch später distanzierte, alsbald aber dem Polnischen Klub im Reichsrat vorstand. Bańburski: Tadeusz Tertil, S. 42–46; Potępa: Życie codzienne w Tarnowie, S. 67. Potępa: Przed Wojną, S. 6–8. Potępa: Tarnów międzywojenny, S. 17. Potępa: Przed Wojną, S. 8–14.

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der im Krieg zum Teil zerstörten Abwasseranlagen und Straßenbeleuchtung stand ebenso an.42 Die Verschuldung der städtischen Gas-, Strom- und Wasserwerke, die allgemeine Staatsverschuldung und die Inflation stürzten die kommunalen Haushalte in eine verzweifelte Lage. Die kooptierten Vertreter der Arbeiterschicht drängten auf den Bau von Sozialwohnungen und entschiedene Aktionen gegen die Arbeitslosigkeit, die zu Beginn der 1920er Jahre drastisch anstieg.43 Zumindest wurden auch in dieser Zeit Grundstücke zum Bau von Wohnungen für ärmere Schichten erworben und Häuser gebaut.44 Die Versorgung der Stadt und ihr Wiederaufbau hatten oberste Priorität bei allen Stadträten, dennoch flammten Konflikte zwischen Juden und Nichtjuden durchaus auf  – doch war dies in den 1920er bis Mitte der 1930er Jahre eher selten der Fall. „Reaktionäre Assimilanten“, „sozialistisches Gewissen und jüdisches Herz“ – Juden im Tarnower Stadtrat bis 1924 Die Beteiligung von Juden an Stadträten hatte in Galizien seit der Gleichberechtigung in der k.k.  Monarchie 1855 und im Besonderen seit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich und der Autonomie Galiziens 1867 Tradition, anders als beispielsweise im russischen Teilungsgebiet.45 Die zunehmend föderative Struktur der Monarchie wirkte sich ebenfalls auf die Entfaltungsmöglichkeiten der Stadträte aus. Die lokalen Machtverhältnisse in Tarnów während der Zweiten Republik waren aufgrund der historischen Entwicklung vor allem mit anderen ehemals galizischen Städten vergleichbar, besonders da bis 1933 hier noch immer die alten Wahlgesetze der Monarchie galten. In Tarnów waren Juden seit den Stadtratswahlen von 1867 im Stadtrat vertreten und stellten rund ein Viertel der Räte.46 In Krakau waren rund 20 % der Stadträte vor dem Ersten Weltkrieg jüdisch.47 In Städten, in denen Juden eine Mehrheit bildeten, im Besonderen in Ostgalizien, erlangten Juden auch eine Mehrheit innerhalb der jeweiligen Stadträte. 1907 waren beispielsweise jüdische Stadträte in 28 galizischen Städten in der Mehrheit (wie Kolbuszowa, 42 43 44 45 46 47

Ebd., S. 10. Ebd., S. 14–23. Ebd. Vgl. dazu Wierzbieniec: Lwów, Przemyśl, and Rzeszów, S. 256. Kozioł: Żydowski Tarnów, S. 199. Juden waren seit 1867 gleichberechtigte Bürger in der k. u. k. Monarchie. In Poznań waren die Juden eine kleine Minderheit (4  % der Bevölkerung, aber wohlhabend, sodass sie für 25  % des Steuereinkommens aufkamen und dadurch überproportional im Stadtrat vertreten waren  – ein Drittel der Stadträte vor dem Ersten Weltkrieg). In Krakau war rund ¼ der Bevölkerung jüdisch, sie stellten aber weniger als 20 % der Stadträte, siehe Kozińska-Witt: Jewish Participation, S. 194.

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Ustrzyki, Przemyśl u.  a.).48 Im selben Jahr gab es in 24  Städten Galiziens jüdische Bürgermeister (darunter in Brody, Buczacz, Komarno, Ustrzyki u. a.).49 In Tarnów wurde im Jahr 1906 der erste jüdische Vizebürgermeister vom Stadtrat gewählt. Es war der Rechtsanwalt Eliasz Goldhammer – wegen seiner Verdienste für die Stadt ist bis heute eine der zentralen Straßen Tarnóws nach ihm benannt. Seit seiner Wahl galt es als ungeschriebene Tradition, dass Juden zu Stellvertretern eines nichtjüdischen Bürgermeisters vom Stadtrat gewählt wurden. Nach Goldhammer folgte von 1907 bis 1912  Juliusz Silbiger, der Vater von Zygmunt Silbiger, und anschließend Hermann Mütz. Letzterer blieb auch nach 1918 stellvertretender Bürgermeister und bis 1932 im Amt, mit Ausnahme der Kriegsjahre und der ersten kommissarischen Stadtregierung von 1924 bis 1926.50 Diese Tradition eines ethnisch gemischten BürgermeisterDuos wurde auch in anderen galizischen mittelgroßen und Großstädten gepflegt, so in Lwów (1909–1927 und dann wieder 1934–1939), in Rzeszów und in Przemyśl (1928–1939).51 Diese ethnisch/religiös gemischte Doppelspitze sollte dem Bemühen nach interethnischem Ausgleich in der Verteilung lokaler Machtstrukturen Ausdruck verleihen. Sie verweist zugleich auf ein Machtgefälle: Die nichtjüdische polnische Bevölkerung Tarnóws stellte wie selbstverständlich den Bürgermeister, während Juden sich mit dem Posten des Stellvertreters abfinden mussten. Dies galt für die mittelgroßen und Großstädte – bei kleineren Städten mit einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil waren Bürgermeister, wie oben beschrieben, oft jüdisch. Das Bemühen nach interethnischem Ausgleich darf nicht über die Heterogenität innerhalb der jüdischen Stadträte hinwegtäuschen. Seit Anbeginn jüdischer Repräsentanz im Stadtrat waren innerjüdische Grabenkämpfe lokaler Eliten an der Tagesordnung. Sie entluden sich zwischen Einflusspersonen der jüdischen Gemeinde, was sich in unterschiedlichem Maße auf die Arbeit im Stadtrat auswirkte.52 Zu einer engen Verflechtung zwischen jüdischen Gemeindevorständen und jüdischer Repräsentanz im Stadtrat kam es neben Tarnów auch in anderen galizischen Städten, was darauf verweist, wie lokalpolitische Machtpositionen lange Zeit innerhalb städtischer Eliten konzentriert waren.53 Der erwähnte Eliasz Goldhammer und seine Weggefährten konkurrierten um die wichtigsten Posten in der kehillah mit den 48 49 50 51 52 53

Wierzbieniec: Lwów, Przemyśl, and Rzeszów, S. 255. Ebd., S. 256. Potępa: Tarnów, S. 20; Chomet: Di letste, S. 802. Vgl. Wierzbieniec: Lwów, Przemyśl, and Rzeszów, S. 257, 261, 265. Vgl. dazu Kozioł: Żydowski Tarnów, S. 197–212. In Rzeszów war Wilhelm Hochfeld Vizebürgermeister der Stadt 1905–1932 und Vorstand der jüdischen Gemeinde, in Lwów war Wiktor Chajes von 1929–1937 Vorstand der

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Kontrahenten Hermann Merz, der wiederum im Stadtrat eine Allianz mit dem national-patriotischen Tertil gegen Goldhammer einging.54 Schließlich wurde 1906 Goldhammer zum Vizebürgermeister und 1907 Tertil zum Bürgermeister gewählt, was auch als Ausgleich zwischen diesen Interessengruppen (und nicht nur als interethnischer Ausgleich) interpretiert werden kann. Durch die nach Vermögensklassen gestufte Wahlordnung war vor dem Ersten Weltkrieg die sozioökonomische Schicht, aus der sich die Stadträte rekrutierten, relativ homogen. Die Repräsentanz der Juden in der Lokalpolitik war zwar dem Willen nach einem interethnischen Ausgleich geschuldet, aber letztlich nur innerhalb der vermögenden bürgerlichen Schicht. Zunehmend wurde aber diese Machtkonzentration von anderen Interessengruppen infrage gestellt, die eine Teilhabe an der Lokalpolitik einforderten. Die Entstehung der Zweiten Polnischen Republik nach dem Ersten Weltkrieg und die in der Märzverfassung von 1921 zugesicherte Gemeindeautonomie bargen das Versprechen nach mehr (lokal-)politischer Teilhabe unterschiedlicher Interessengruppen. Hanna Kozińska-Witt und Marcos Silber verweisen in ihrer Forschung darauf, dass es durch die schrittweise Demokratisierung der Gemeindeautonomie in der Zweiten Republik zu Auseinandersetzungen zwischen den alten städtischen Eliten, zu denen gut situierte Juden gehörten, und neuen Interessengruppen kam. Nach 1918 wurde die „emancipation and rise of homines novi“ möglich.55 In Galizien war diese Entwicklung zwar verzögert, da die Stadträte aus der Vorkriegszeit noch lange Zeit im Amt blieben. Mit der Kooptierung von PPS-Abgeordneten und Gewerkschaftlern 1918 in Tarnów wurden aber erste Anzeichen dieser Konfliktebene spürbar. In den alten galizischen Stadträten saßen vor allem Akkulturationsbefürworter56 (wie beispielsweise Goldhammer) und orthodoxe Juden, so auch in Lwów, zum Teil in Rzeszów57 und in Tarnów. Als 1928 die Zionisten der Stadt ihr eigenes Sprachrohr, den Tygodnik Żydowski, gründeten, kritisierten sie das zähe Festhalten der alten Eliten an den städtischen Posten, die sie

54 55 56

57

jüdischen Gemeinde und 1930–1939 stellvertretender Bürgermeister, vgl. Wierzbieniec: Lwów, Przemyśl, and Rzeszów, S. 261, 268; siehe auch Chajes: Semper fidelis. Vgl. dazu Kozioł: Żydowski Tarnów, S. 202–203. Kozińska-Witt/Silber: Introduction, S. 118. Rückblickend unterteilte der letzte jüdische Gemeindevorsteher Abraham Chomet die Akkulturation von Jüdinnen und Juden in Galizien unter der k.  u.  k.  Monarchie in zwei Kulturräume  – eine weiß-rote Akkulturation in die polnische Kultur und eine Akkulturation in die österreichisch-deutsche Kultur, nach Kozioł: Żydowski Tarnów, S. 202–203; zum Erbe unterschiedlicher Zugehörigkeitsmuster aus der Teilungszeit und seiner Auswirkung auf die Lokalpolitik in der Zweiten Republik siehe Kozińska-Witt: Jewish Participation, S. 189–213. Wierzbieniec: Lwów, Przemyśl, S. 260, 268.

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als „magistrale Clique“ verunglimpften.58 Durch die Verschleppung der Neuwahlen hatten diese alten Eliten die Lokalpolitik sehr lange bestimmt, während die Zionisten als homines novi politische Teilhabe einforderten. Daher dieser Antagonismus. Die Zionisten kritisierten die Orthodoxen,59 ebenso wie die Befürworter der Akkulturation und nannten sie pejorativ „Assimilanten“, zuweilen auch „reaktionär-assimilatorisches“ Milieu.60 Das entsprach wohl kaum der Selbstzuschreibung von Hermann Mütz (Dienstjahre als Vizebürgermeister mit Unterbrechungen: 1912–1932) und seinen Weggefährten.61 In den späten 1920er Jahren gründete er eine „Jüdische Volkspartei“, die sich von beiden jüdischen Identifikationsprofilen zu unterscheiden versuchte, also weder zionistisch noch assimilatorisch war. Diese Parteigründung von Mütz ist wohl auch als Neuausrichtungsversuch der alten Eliten im Zuge des zunehmenden politischen Wettbewerbs mit anderen Gruppierungen zu verstehen. Sowohl die Zionisten als auch die alten jüdischen Stadteliten mussten sich politisch neu (er-)finden – in dem neuen staatlichen Gefüge im Allgemeinen und innerhalb lokaler Machtstrukturen im Besonderen – und Lobbyarbeit für ihre Ziele betreiben. Diese Heterogenität und das innerjüdische Kräftemessen waren einem allgemeinen jüdischen Zusammenschluss zu einer Fraktion hinderlich und förderten Allianzen zwischen unterschiedlichen, nicht ethnisch- oder religiös geprägten Interessengruppen. Unter den zwölf 1918 in den Stadtrat kooptierten Vertretern der vierten Kurie waren keine Juden dabei. Anfang der 1920er Jahre rückten dann zwei PPS-Aktivisten jüdischer Herkunft in den Stadtrat nach, der Rechtsanwalt Eliasz Simche und der Fotograf Maurycy Hutter. Hutter war ein extrem sozial engagierter und äußerst beliebter Lokalpolitiker, der bei Stadtratswahlen viele Wählerstimmen hinter sich vereinen konnte. Als Zvi Ankori 1945 nach Tarnów zurückkehrte, erinnerte er sich gerade auch an Maurycy Hutter, in dem zu Beginn der Studie zitierten Ausschnitt: „Hutter, the socialist, liked even by his opponents“.62 Hutter war in vielerlei Hinsicht ein Grenzgänger. Er war im Vorstand der PPS und zugleich war er entschiedener Gegner einer eigenständigen jüdisch-sozialistischen Partei und sprach sich nach der Gründung der Jüdischen 58 59

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Nasza praca w kahale. In: Tygodnik Żydowski, 04.04.1928, S. 3. Nur einige Beispiele: Im Tygodnik Żydowski erschienen beispielsweise Satiren auf „Zyguś“ (Zygmunt Silbiger) Kłopoty bezpartyjnych (Narada u Zygusia). In: Tygodnik Żydowski, 22.06.1928, S. 2–3; Rab Zyguś u „chusetów“ . In: Tygodnik Żydowski, 29.06.1928, S. 2; Pan Dr. Silbiger i jego klika. In: Tygodnik Żydowski, 02.11.1928, S. 2. O co walczymy? In: Tygodnik Żydowski, 11.05.1928, S. 1. Zu Mütz’ Weggefährten im Stadtrat zählten Ignacy Maschler, Artur Margulies, Max Eichhorn und andere. Ankori: Chestnuts, S. 207.

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Sozialdemokratischen Partei (JSDP) im Jahr 1905 vehement gegen diese aus.63 Hutter gehörte der jüdischen reformierten Tempelgemeinde Tarnóws an, an hohen jüdischen Feiertagen konnte man ihn dort antreffen und er war sogar im Vorstand des Tempel-Vereins64 – zum Missfallen seiner PPS-Parteifreunde. Ab 1929 war er Vorsitzender des jüdischen Handwerkervereins Yad Charuzim.65 Als Fotograf bewegte er sich sowohl in jüdischen als auch nichtjüdischen Kreisen. Zu katholischen Gelegenheitsfeiern, wie der Erstkommunion, fertigte er Porträts und Standbilder an.66 Er hatte gute Beziehungen zu seinen polnischen nichtjüdischen Parteifreunden – zum Beispiel zu Adam Ciołkosz. Hutter trat stets für die Entrechteten und für eine starke Autonomie der Stadtverwaltung ein. Der Zionist Abraham Chomet erinnerte sich an Hutter wie folgt: „Ein ganzer Mensch, ein Humanist, und er hat immer danach gehandelt, wie es ihm sein sozialistisches Gewissen und sein jüdisches Herz diktiert haben.“67 Zu betonen ist jedoch, dass Hutter und Simche Mitglieder der PPS waren. Anders sah es beispielsweise in den Anfangsjahren des Krakauer Stadtrats aus. Hier wurde nach 1918 auf Drängen der PPSD (Polska Partia SocjalnoDemokratyczna Galicji i Śląska Cieszyńskiego/Polnische Sozialdemokratische Partei Galiziens und Teschener Schlesiens) ein Mitglied der Jüdischen Sozialdemokratischen Partei (die 1920 mit dem Bund fusionierte) in den Stadtrat berufen. Er gründete eine eigene Fraktion, nach Brzoza ein „one-man ‚socialist Jewish club‘“.68 Das war in Tarnów nicht der Fall. Inwiefern und wann Hutter spezifisch jüdische Themen im Stadtrat ansprach, soll weiter unten in der genaueren Analyse der Jahre 1934–1939 herausgearbeitet werden. Ging es bislang vornehmlich um die personelle Beteiligung von Juden am Stadtrat von den Anfängen bis in die 1920er Jahre, so sollen im Folgenden Konfliktthemen zwischen Juden und Nichtjuden in den ersten Jahren nach Ende des Ersten Weltkriegs skizziert werden. Bereits 1918 kam es zu einem schweren Zerwürfnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Stadträten. Die Auseinandersetzungen betrafen die unterschiedlichen Folgen des Ersten Weltkriegs für einerseits die jüdische und andererseits die nichtjüdische Bevölkerung Tarnóws. Während der Besetzung der Stadt durch russische Einheiten zu Beginn des Krieges zwischen 1914–1915 waren Jüdinnen und Juden 63 64 65 66 67 68

Landau: Yidishe sotsialistishe partay; vgl. auch Kuhn: Organizing Yiddish-Speaking Workers. Vgl. Tygodnik Żydowski, 08.05.1936. Vgl. Chomet: Maurycy Huter, S. 785–788. Erhalten sind zum Beispiel einige Fotografien von Erstkommunionen, die Hutter gemacht hat, Privatarchiv von Marek Tomaszewski. Eine Fotografie ist im Besitz der Verfasserin. Chomet: Maurycy Huter, S. 787. Brzoza: Jewish Participation, S. 216.

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massiven Gewalterfahrungen ausgesetzt. Viele Jüdinnen und Juden aus vermögenden Kreisen flohen vor der Front in Richtung Wien, darunter auch der Vizebürgermeister Hermann Mütz. Ihren Besitz ließen sie in Tarnów zurück. Häufig eignete sich die nichtjüdische polnische Bevölkerung diesen an oder er wurde von der russischen Armee „beschlagnahmt“.69 Als Vizebürgermeister klagte Hermann Mütz nach seiner Rückkehr den Bürgermeister Tadeusz Tertil an, er habe der de-facto-Enteignung jüdischer Bürgerinnen und Bürger nichts entgegengesetzt und diese nicht zu verhindern versucht. Aufgrund dieser Vorwürfe demissionierten die nichtjüdischen Stadträte gemeinsam mit dem Bürgermeister, schließlich wurde jedoch die Auseinandersetzung beigelegt und die Erklärungen der nichtjüdischen Seite wurden angenommen.70 In anderen galizischen Städten, wie den nahe gelegenen Przemyśl, Rzeszów Kołbuszowa und vor allem in Lwów, kam es am Ende des Ersten Weltkriegs zu Pogromen an der jüdischen Bevölkerung.71 Nach Krakau flüchteten Ende 1918 mehrere Hundert jüdische Pogromopfer aus der Umgebung. Jüdische Aktivisten und Anwälte gründeten in Krakau ein Komitee zur Verteidigung der jüdischen Bevölkerung.72 Die jüdischen Stadträte in den betroffenen Städten protestierten mit allen Mitteln gegen die Gewalt gegen Jüdinnen und Juden und richteten Hilfsfonds und spezielle Kommissionen ein.73 In Tarnów kam es zu keinem Pogrom.74 Die Ahnung davon, was in den nahe gelegenen Städten passierte, verursachte ein Gefühl von Angst und Bedrohung unter der jüdischen Bevölkerung. Der im Tarnower Stadtrat zur Sprache gekommene Konflikt, in welchem spezifisch jüdische Gewalterfahrungen problematisiert wurden, war von daher ein Widerhall der Bedrohungsatmosphäre, der Jüdinnen und Juden in den Nachkriegswehen ausgesetzt waren. Dieser Konflikt hatte das Potenzial, langjähriges Misstrauen zu säen, doch er wurde in Tarnów relativ schnell beigelegt. In den 1920er Jahren waren die Konfliktlinien zwischen Jüdinnen/Juden und Nichtjüdinnen/Nichtjuden selten Thema im Stadtrat. Eine weitere Auseinandersetzung fand sich in den Protokollen von 1923, als ein Wohnungsblock in der Warzywna Straße fertiggestellt wurde, die Wohnungen jedoch – nach Aussage jüdischer Stadträte – zuungunsten von Jüdinnen und Juden verteilt wurden.75 Der Ausgang der 69 70 71 72 73 74 75

Zur Lage der Jüdinnen und Juden in Tarnów während des Ersten Weltkriegs siehe Kozioł: Żydowski Tarnów, S. 197–212; Szewczyk: Tarnów podczas inwazji rosyjskiej. Potępa: Przed Wojną, S. 6. Vgl. Hagen: Anti-Jewish Violence, S. 255–286. Brzoza: Żydzi Krakowa, S. 10–12. Wierzbieniec: Lwów, Przemyśl, and Rzeszów, S. 255–272. Sporn: Der algemeyner yidisher arbeyter-bund, S. 643. Potępa: Przed Wojną, S. 28.

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Anfrage jüdischer Stadträte ist anhand der Archivmaterialien leider nicht mehr festzustellen. Es war diese Art von Auseinandersetzungen, die bis Mitte der 1930er Jahre den Stadtrat beschäftigten, aber doch selten angesprochen wurden. Vielmehr standen allgemeine Themen im Vordergrund  – in den Jahren 1918–1922 waren dies der Wiederaufbau der Stadt und die Versorgung der gesamten Stadtbevölkerung. Die Krise 1923 und die kommissarische Stadtverwaltung Der stetige Kaufkraftverlust der Polnischen Mark, schließlich die Hyperinflation von 1923 sowie die steigende Arbeitslosigkeit führten auch in Tarnów zu schwerwiegenden ökonomischen und sozialen Problemen.76 Der Stadtrat hatte mit der Hyperinflation der Polnischen Mark zu kämpfen, das 1923 beschlossene Budget war bereits zwei Monate später obsolet, die städtischen Angestellten konnten nicht mehr entlohnt werden und die Stadt nahm immer mehr kurzzeitige Kredite auf.77 Der Bürgermeister Tadeusz Tertil meldete sich krank und Hermann Mütz übernahm die Regierungsgeschäfte in einer sozial und wirtschaftlich äußerst angespannten Lage.78 Die nicht besitzenden Schichten waren existenziell auf ihre Gehälter angewiesen, deren Kaufkraft stetig sank und sich ab Herbst 1923 im freien Fall befand. Die daraus resultierende Unzufriedenheit manifestierte sich in zahlreichen Protesten und Streiks, auch vor dem Rathaus.79 Die Tarnower PPS unterstützte die Arbeitenden sowie die Arbeits- und Obdachlosen nach Kräften, auch in ihrer Stadtratspolitik. Die Räte Kasper Ciołkosz (1875–1942) und Maurycy Hutter, beide PPS, wurden mit einem speziellen Budget ausgestattet, um die Arbeitslosigkeit in Tarnów zu bekämpfen.80 Dieser Kommission standen also ein Jude und ein Nichtjude vor, doch eine ethnische Folie hierfür anzulegen, scheint der Handlungslogik des damaligen Stadtrats nicht gerecht zu werden. Vielmehr waren diese Krisenjahre von sozialen und ökonomischen Konflikten geprägt. Die Sozialisten nahmen die schlechte wirtschaftliche und soziale Lage zum Anlass, massive Kritik an der Regierung unter Władysław Sikorski (1881– 1943) (Dezember 1922–Mai 1923) zu üben. Im Februar 1923 entschied auf Initiative des PPS-Rats Kasper Ciołkosz der Stadtrat von Tarnów einstimmig über ein Memorandum an die Regierung, in dem es hieß, diese müsse entschiedener die Inflation bekämpfen, Militärkosten senken, Steuerreformen 76 77 78 79 80

Zur allgemeinen wirtschaftlichen Lage siehe Tomaszewski/Landau: Zarys historii gospodarczej. Potępa: Przed Wojną, S. 26–27; dazu vgl. auch: Potępa: Życie codzienne, S. 80–82. Potępa: Przed Wojną, S. 14–23. Ebd., S. 14–23. Potępa: Życie codzienne, S. 78.

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durch- und Sequestrationen für die Verteilung von Lebensmitteln einführen, nebst weiteren Vorschlägen zur Bekämpfung der Teuerungen.81 Die Sozialisten konnten in dieser Krisensituation zum Teil auch das alte bürgerliche Lager für eine gemeinsame Resolution gewinnen. Die Proteste der Arbeiter weiteten sich im Laufe des Jahres 1923 aus: Im Juli streikten in Tarnów Bauarbeiter, weil Arbeitgeber sich nicht an die Lohnvereinbarungen hielten. Im Herbst nahm nun bereits unter der rechtsnationalen Regierung von Wincenty Witos (1874–1945) die Hyperinflation in rasantem Ausmaß zu. Im Oktober streikten die Bahnarbeiter der Bahnwerke PKP, die in Tarnów große Werkstätten unterhielten. Andere Arbeiter traten in einen Solidaritätsstreik. Im November  1923 kam es im 80  Kilometer entfernten Krakau zu einer gewaltsamen Unterdrückung der Proteste, bei denen rund 30 Menschen getötet wurden.82 In Tarnów wurde im November 1923 ein Generalstreik ausgerufen, bei Auseinandersetzungen mit der Polizei starben fünf Arbeiter.83 Die PPS-Aktivisten Kasper Ciołkosz und sein Sohn Adam hielten flammende Reden bei den Trauerfeierlichkeiten. Sie wurden deswegen in Gewahrsam genommen, der Vater Kasper, Lehrer am örtlichen Gymnasium und Stadtrat, wurde strafversetzt.84 Die sozialen und ökonomischen Span­ nungen entluden sich jedoch nicht in ethnischen Auseinandersetzungen. Am darauffolgenden 1. Mai im Jahr 1924 gingen jüdische und nichtjüdische Arbeiterinnen und Arbeiter zusammen zu einer Maidemonstration unter dem Banner der PPS und des Bund. Die beiden Parteien manifestierten so ihren Zusammenhalt und eroberten die „Straße“ als ihre Öffentlichkeit und ihre Tätigkeitsarena. In Warschau marschierten Bundisten und PPS erst 1928 geeint, was auf eine besonders gute Zusammenarbeit beider Parteien in Tarnów schließen lässt. Diese soll in einem Exkurs zu PPS und Bund näher betrachtet werden.85 Die rechtsnationale Regierung Witos, die den Rückhalt in der Bevölkerung verlor, musste im Dezember 1923 abdanken, der Präsident beauftragte den bisherigen Finanzminister Grabski mit der Regierungsbildung. Diese wurde von einer Mehrheit im Sejm nur toleriert, genoss jedoch das volle Vertrauen des Präsidenten. Die Regierung Grabski, die schnell und entschieden handeln wollte, erhielt in der Krisensituation 1923/1924 weitreichende Vollmachten vom Parlament, die es möglich machten, zeitweise durch Präsidialdekrete 81 82 83 84 85

Ebd., S. 80. Brzoza/Sowa: Historia Polski, S. 180. Friszke: Adam Ciołkosz, S. 49–52; Potępa geht von insgesamt sieben Arbeitern aus, Potępa: Tarnów międzywojenny, S. 33. Friszke: Adam Ciołkosz, S. 49–52. Siehe Exkurs „Der Bund in Tarnów und das Verhältnis mit der PPS“.

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zu regieren.86 Auch in Tarnów veränderten sich die Machtkonstellationen: Bürgermeister Tertil legte Ende 1923 sein Amt nieder. Daraufhin stellten die beiden PPS-Stadträte Eliasz Simche und Maurycy Hutter im Dezember 1923 eine Anfrage, inwiefern die Gerüchte zuträfen, dass der Stadtrat aufgelöst und eine kommissarische Stadtverwaltung berufen werden sollte.87 Diese Befürchtungen bewahrheiteten sich bereits rund zwei Monate später. 1924 legalisierte ein Präsidialdekret die Praxis, kommissarische Stadtverwalter durch den Finanzminister zu ernennen.88 Im Februar 1924 wurde der alte Stadtrat von Tarnów aufgelöst und eine kommissarische Stadtverwaltung eingesetzt. Die Praxis der Warschauer Regierung, kommissarische Stadtverwaltungen, an deren Spitze ein „Regierungskommissar“ stand, einzusetzen, setzte die Gemeindeautonomie außer Kraft und höhlte die demokratischen Grundprinzipien der Zweiten Republik aus. Somit konnte der Staat Städte und Kommunen stärker kontrollieren. Die schwierige Situation des Jahres 1923 mit der anhaltenden Inflation und Arbeiterunruhen, die in Tarnów, Krakau und Borysław Todesopfer gefordert hatten, war eine Ausnahmesituation, die eine Rechtfertigung zum harten Durchgreifen der Regierung bot. Die kommissarische Stadtverwaltung war der Regierung unterstellt, hatte kaum autonome Befugnisse, wurde lediglich ernannt und nicht etwa demokratisch gewählt. Zum „Regierungskommissar“ Tarnóws wurde Janusz Rypuszyński bestellt, sein Stellvertreter war ebenso ein Nichtjude. Ihnen wurde ein „provisorischer Rat“ zur Seite gestellt, der jedoch nur selten einberufen wurde. Letzterer bestand aus 27 ernannten Räten, aus denen Sozialisten und Gewerkschaftler völlig ausgeschlossen wurden. Er setzte sich nunmehr zusammen aus Konservativen, zwei Priestern und zwei Sympathisanten der Nationaldemokratie, die in Tarnów allerdings schwach vertreten war. Aus dem alten Stadtrat wurden lediglich drei Männer jüdischer Herkunft übernommen, die die alte Elite repräsentierten.89 Auch in Krakau wurde im selben Jahr ein kommissarischer Stadtrat eingesetzt, auch hier wurde die Anzahl jüdischer Mandatsträger dezimiert.90 Das Organ Praca, das dem Kommissar nahestand, schrieb: „Der provisorische Kommissar ing. Rypuszyński übernahm die Führung der Stadt in einer äußerst schwierigen Situation nach der roten

86 87 88 89 90

Brzoza/Sowa: Historia Polski, S. 181–184. Potępa: Przed Wojną, S. 31. Siehe dazu auch Garncarska-Kadary: The Po’ale-Zion Left, S. 66. Potępa: Przed Wojną, S. 33. Brzoza: Jewish Participation, S. 218.

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Regierung.“91 Diese „rote Regierung“ der Stadt war allerdings imaginiert, denn lediglich eine Minderheit von zwölf Räten aus PPS und Gewerkschaftlern waren im alten Stadtrat vertreten. Die Angst vor einer „roten Gefahr“ in den Stadtparlamenten, besonders nach den Arbeiterunruhen von 1923, war jedoch zumindest Anlass gewesen für die Einsetzung der kommissarischen Stadtverwaltungen. Die Regierung Grabski, mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet, führte Finanzreformen durch, die die Inflation stoppten, die Staatsfinanzen stabilisierten und schließlich im April  1924 eine neue Währung  – den Polnischen Złoty einführten. Zum ersten Mal hatte der Staat keine neuen Schulden aufgenommen. Dieser neue Kurs half auch den städtischen Finanzen. Das Organ Praca rechnete die ersten Erfolge der kommissarischen Stadtverwaltung zu: Gehälter wurden ausgezahlt, Gehsteige erneuert und Straßen wieder beleuchtet.92 Die Arbeitslosigkeit in Tarnów und die steigende Anzahl Obdachloser beschäftigten dennoch den provisorischen Rat über die zwei Jahre seiner Amtszeit.93 Allerdings litt die Sozialpolitik zunehmend unter der kommissarischen Stadtverwaltung, was alsbald auch das anfänglich Rypuszyński wohlgesonnene Organ Praca zugeben musste.94 Die provisorisch eingesetzte kommissarische Stadtverwaltung währte zwei Jahre, denn nach dem Maiputsch 1926 veränderte sich die politische Situation abermals. Autonomie der Stadträte in der moralischen Diktatur? Der Stadtrat von Tarnów nach dem Maiputsch 1926 Nach dem Maiputsch von Józef Piłsudski im Jahr 1926 wurde in Tarnów der alte Stadtrat, ebenso wie in Krakau, wiedereingesetzt und die kommissarische Verwaltung damit aufgelöst. Anfänglich stand die PPS dem Staatsstreich des ehemaligen PPS-Mitbegründers Piłsudski noch ambivalent, wenn nicht zuversichtlich gegenüber. Emil Bobrowski, PPS-Sejm-Abgeordneter, setzte sich im Parlament gleich 1926 für die schnelle Abschaffung der kommissarischen Stadtverwaltungen ein, aus denen die Sozialisten weitestgehend entfernt worden waren, und für die Rehabilitierung der alten Stadträte, wofür ihm der Stadtrat Tarnóws auf Initiative der PPS offiziell dankte.95 Doch inwiefern konnte sich die Gemeindeautonomie innerhalb eines Regimes entwickeln, 2.2.2

91 92 93 94 95

Zit. nach: Potępa: Przed Wojną, S.  40 (Zitat aus der Zeitung Praca ohne genaue Datumsangaben). Zit. nach ebd., S. 40. Vgl. beispielsweise: Stadtratsprotokolle vom 25.05.1925, 03.12.1925, 25.02.1926, 04.03.1926, ANKr. Odd. T. 33/1/Akta miejskie ZMT 1. Potępa: Przed Wojną, S. 46. Stadtratsprotokoll vom 20.11.1926, ANKr. Odd. T. 33/1/Akta miejskie ZMT 1.

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das zunehmend autoritäre Züge annahm und sich zur „moralischen Diktatur“ Piłsudskis zur Gesundung (Sanacja) des Staates erhob? Die Entwicklung des Sanacja-Regimes nach dem Maiputsch Piłsudskis kann in mehrere Phasen eingeteilt werden. Waldemar Paruch, Forscher zur politischen Ideengeschichte des Piłsudski-Lagers, unterscheidet drei Zeitabschnitte dieses Lagers: die Übergangsphase der Jahre 1926–1928, die Jahre der Tätigkeit des BBWR 1928–1935 und schließlich die schrittweise Auflösung des Piłsudski-Lagers nach dessen Tod und die Tätigkeit des OZN (Obóz Zjednoczenia Narodowego/Lager der Nationalen Einheit) von 1935–1939.96 Obschon das Sanacja-Lager kein geschlossenes politisches Programm hatte und auch deswegen unterschiedliche Anhängergruppen hinter sich vereinen konnte, so gab es doch einige ideologische Prämissen, die den Kern des politischen Handelns Piłsudskis untermauerten und für den hier behandelten Kontext von Bedeutung waren. Die Bedeutung des Staates war übergeordnet, seine Sicherheit, Souveränität und die raison d’état hatten in Piłsudskis Vorstellungen vor allem anderen Vorrang. Dem Staat zu dienen, oblag demnach jedem Bürger (und jeder Bürgerin). Was als raison d’état gelten sollte, war der engen Führung bzw. zum Teil Piłsudski selbst vorbehalten. Gesellschaftliche Autonomie wurde zunehmend eingeschränkt und die Gewaltenteilung dem Glauben an die Unteilbarkeit von Herrschaft (uniformity of power) hintangestellt.97 Der Konflikt mit dem Sejm spitzte sich besonders in den Jahren 1929/1930 zu. Nach den Sejm-Wahlen von 1928 erstarkte die Opposition gegen Piłsudski, die sich 1929 zu dem Mitte-Links-Bündnis Centrolew zusammengeschlossen hatte, zu dem die PPS, PSL-Wyzwolenie (Polskie Stronnictwe Ludowe/Polnische Bauernpartei – Befreiung), PSL-Piast, Stronnictwo Chłopskie (Bauernpartei), Narodowa Partia Robotnicza (Nationale Arbeiterpartei) und Chrzescijańska Demokracja (Christdemokraten) gehörten.98 Die Opposition weigerte sich, das Sanacja-Regime anzuerkennen. Nach einem Eklat um den Finanzminister erschienen im Oktober 1929 bewaffnete Offiziere im Parlamentsgebäude. Der ehemalige Weggefährte Piłsudskis aus der PPS und damalige Sejm-Marschall Ignacy Daszyński (1866–1936) weigerte sich, die Sitzung unter „Gewehren und Bajonetten“ zu eröffnen. Der Schlagabtausch entfaltete eine symbolische, zuweilen mythologisierte Wirkung und verlieh dem Konflikt zwischen 96 97 98

Für eine englischsprachige Zusammenfassung siehe Paruch: The Piłsudski Camp, S. 70; zur politischen Ideengeschichte des Piłsudski-Lagers mit Blick auf nationale Minderheiten siehe Paruch: Od konsolidacji państwowej. Vgl. hierzu Paruch: The Piłsudski Camp. Friszke: Ciołkosz, S. 88–89.

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Parlamentarismus und autoritärem Herrschaftsanspruch Piłsudskis Ausdruckskraft.99 In der Folge sank der Einfluss des Sejms auf die Politik durch Unterbrechungen von Sitzungen und die Praxis, Sitzungen gar nicht erst einzuberufen. Schließlich wurde der Sejm im August 1930 aufgelöst. Im September desselben Jahres wurden 84 ehemalige Sejm-Abgeordnete verhaftet und in Bereza Kartuska festgehalten, weitere 5000 Personen kamen ins Gefängnis.100 Zu den arretierten Abgeordneten gehörte der äußerst beliebte PPS-Mann aus Tarnów, Adam Ciołkosz, Sohn des PPS-Stadtrats Kasper Ciołkosz. Unter der Einschränkung der gesellschaftlichen und politischen Autonomie hatten auch die territorialen Selbstverwaltungsorgane zu leiden. Für die PPS galt besonders nach 1929/1930 der Stadtrat als letzte Bastion der Demokratie. Dieses Gremium wurde zudem als eine Art Konkurrenzinstitution zur autoritären Regierung wahrgenommen, soweit dies überhaupt möglich war.101 Dies galt bis 1933 jedoch nur eingeschränkt für das ehemals österreichische Teilungsgebiet, in dem noch immer das Dreiklassenwahlrecht galt. Das „Stadtparlament“ stellte ein wichtiges politisches Handlungsfeld für die Partei dar – gerade weil sich einige gesellschaftliche Aushandlungsprozesse von der parlamentarischen Ebene auf die Stadträte verlagerten. Parteien und gesellschaftliche Gruppen, die sich auf parlamentarischer Ebene nicht mehr artikulieren konnten, taten dies in den Stadtparlamenten umso mehr. In Tarnów war im November 1926 zunächst eine Rückkehr des alten, neu eingesetzten Stadtrats von vor der Zeit der kommissarischen Stadtverwaltung (1924–1926) möglich.102 Herman Mütz stand diesem nun vor. Der Stadtrat übte sogleich harsche Kritik an dem „Regierungskommissar“ Rypuszyński: Neuwahlen seien verschleppt worden und der Kommissar habe Ausgaben für einen Cadillac als Dienstauto ohne Zustimmung des „provisorischen Rates“ getätigt, während er zugleich Anträge für den Bau von Sozialwohnungen abgelehnt habe.103 Der alte/neue Stadtrat war jedoch ebenfalls nicht durch Wahlen legitimiert und musste sich neu konstituieren. Um den Ausgleich unterschiedlicher gesellschaftlicher pressure groups bemüht, grenzte sich der Stadtrat einerseits von der kommissarischen Stadtverwaltung ab, integrierte andererseits einzelne Personen in das Gremium und kooptierte neue Mitglieder. Unter ihnen waren auch verstärkt Zionisten, die nun auch Teilhabe am Stadtrat haben sollten, unter ihnen Wolf Schenkel und Józef Heuman. Das 99 100 101 102 103

Vgl. dazu Borodziej: Geschichte Polens, S. 172–173. Ebd., S. 173. Vgl. Sidor: Samorząd terytorialny, S. 77–78. Stadtratsprotokoll vom 13.11.1926, ANKr. Odd. T. 33/1/Akta miejskie ZMT 1. Stadtratsprotokoll vom 20.11.1926 sowie vom 10.02.1927, ANKr. Odd. T. 33/1/Akta miejskie ZMT 1.

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Gremium wuchs auf über 50 Ratsmänner an, von denen sich rund 30 % religiös oder kulturell/national als jüdisch definierten. Auch in Krakau wurde nach der kommissarischen Stadtverwaltung der Jahre 1924–1926 der alte Stadtrat eingesetzt, und die Anzahl jüdischer Räte wuchs wieder: Insgesamt bekleideten in den Jahren 1918–1931 über 30 jüdische Stadträte ein Amt in dem Krakauer Gremium.104 Die Zeit von 1926 bis 1929 unter dem Bürgermeister Julian Kryplewski (1877–1949) war eine Zeit größerer Investitionen in Tarnów und einer relativen Stabilisierung.105 Der Stadtrat ging auf einige Forderungen der Sozialisten ein: So wurden Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beschlossen, Sozialwohnungen gebaut und auch Investitionen für einen neuen Schlachthof und ein Volksbad waren geplant.106 Der Vorort Świerczków (später Mościce), in dem eine Stickstofffabrik entstand, wurde eingemeindet und die Fabrik wurde zu einem der wichtigsten Arbeitgeber der Stadt.107 Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden im Stadtrat zwischen 1926–1929 Aus den Listen erteilter Subventionen durch den Stadtrat der Jahre 1926–1929 geht hervor, dass rund 30  % aller Zuschüsse an jüdische Institutionen, Verbände oder Vereine gingen.108 Ein weit geringerer Anteil wurde christlichen Institutionen oder Verbänden gewährt, von denen Jüdinnen und Juden dezidiert ausgeschlossen waren (im Jahre 1928 rund 20  %, im Jahre 1929 unter 5  %).109 Der größte Anteil der Subventionen war für Organisationen bestimmt, die keine dezidiert religiöse oder ethnisch-kulturelle bzw. nationale Denomination hatten, darunter viele Arbeitervereine, Arbeiterfürsorge, Fürsorge für Kinder, Bildungseinrichtungen, wie die großzügig geförderten TSL (Towarzystwo Szkoły Ludowej / Verein der Volksschulen) und TUR (Towarzystwo Uniwersytetu Robotniczego/Verein der Arbeiteruniversität), von denen auch jüdische Arbeitende profitierten. Allerdings ist anzunehmen, dass in einigen „allgemeinen“ Organisationen de facto keine Jüdinnen und

104 Brzoza: Jewish Participation, S. 219. 105 Potępa: Przed Wojną, S. 65–67. 106 Siehe im Besonderen die Haushalte für die Jahre 1926 und 1927, Stadtratsprotokolle 04.03.1926, 02.03.1927, 18.05.1927, 17.04.1928, ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT1. 107 Potępa: Przed Wojną, S. 67. 108 Vgl. Stadtratsprotokolle, 02.03.1927, 09.03.1927, ANKr. Odd. T.  33/1/ZMT1; Stadtratsprotokoll vom 21.06.1928, ANKr. Odd. T.  33/1/Akta miejskie/ZMT  1, S.  1743; ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT 5a), S. 5. 109 Vgl. Stadtratsprotokoll vom 21.06.1928, ANKr. Odd. T. 33/1/Akta miejskie/ZMT 1, S. 1743; ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT 5a), S. 5.

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Juden vertreten waren, was sich im Einzelnen jedoch nicht immer feststellen lässt. Verbände, die ähnliche Funktionen hatten, jedoch vor allem von religiösen Trägern finanziert wurden und dadurch getrennt waren, wie die jüdische und christliche Armenfürsorge oder der jüdische und christliche Invalidenverband, wurden stets mit jeweils gleichen Summen vom Stadtrat subventioniert.110 Jüdische Schulen, wie die Safa Berura, eine staatlich anerkannte, von zionistischen Eliten gegründete Privatschule, oder die BaronHirsch-Schule (Yavne-Schule), wurden zum Teil sehr großzügig gefördert.111 Auch Einzelinvestitionen oder Schenkungen für jüdische Organisationen und Institutionen waren kein Einzelfall: Der Bund sollte ein Grundstück erhalten, um ein Arbeiterhaus zu bauen.112 Das jüdische Krankenhaus wurde bezuschusst, bei Bedarf von Umbauten erhielt es einmalige höhere Investitionsbeiträge.113 Allerdings wurde das Krankenhaus (neben dem staatlichen Krankenhaus) nicht nur von Jüdinnen und Juden besucht.114 Der Verein jüdischer Handwerker, Yad Charuzim, gegründet vom Vater des Vizebürgermeisters Hermann Mütz (letzterer stand diesem auch bis 1929 vor),115 erhielt ebenfalls ein Grundstück von der Stadt.116 Die Fördersummen und Förderdichte für jüdische Organisationen wichen unter diesem Stadtrat (1926–1929) stark von der Zeit der kommissarischen Stadtverwaltung der Jahre 1924–1926 ab. Obschon die Protokolle des „provisorischen Rats“ keinen profunden Einblick erlauben, so kann den Beschlüssen entnommen werden, dass beispielsweise im Frühjahr 1926 das staatliche Krankenhaus, nicht aber das jüdische gefördert wurde und Gelder für den katholischen Friedhof, nicht aber für den jüdischen bestimmt wurden. Nur zwei jüdische Kinderheime wurden 110 Vgl. beispielsweise Stadtratsprotokoll vom 19.12.1928, ANKr. Odd. T.  33/1/ZMT1; List komisji budżetowej do Komisarza Rządowego Magistratu ANKr. Odd. T.  33/1/ZMT 5a) Stowarzyszenia ogółem, S. 619. 111 Stadtratsprotokolle, 02.03.1927, 09.03.1927, ANKr. Odd.T.  33/1/ZMT1; Stadtratsprotokoll vom 21.06.1928, ANKr. Odd. T. 33/1/Akta miejskie/ZMT 1, S. 1743; ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT 5a), S. 5; Zu den Schulen siehe Kapitel 3 „Interaktionsraum Schule“. 112 Stadtratsprotokoll vom 31.01.1927, ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT1; Ze spraw miejskich. In: Nasz Głos, 06.02.1927, S. 2–3. 113 Zum Beispiel: List komisji budżetowej do Komisarza Rządowego Magistratu ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT 5a) Stowarzyszenia ogółem, S. 620; eine Einzelinvestition von einer Million Polnischer Mark erhielt das jüdische Krankenhaus bereits 1921/1922, vgl. Potępa: Przed Wojną, S. 23. 114 Dazu entspann sich eine Debatte im Stadtrat 1937, als David Batist anprangerte, dass das staatliche, nicht aber das jüdische Krankenhaus von der Stadt bezuschusst wurde, Stadtratsprotokoll vom 29.03.1937, ANKr. Odd. T. 33/1/Akta miejskie/ZMT 1c. 115 Uroczystość odsłonięcia portretu Dr. Mütza w Stow. „Jad Charuzim“. In: Tygodnik Żydowski, 28.04.1928, S. 3; Chomet: Di letste, S. 802. 116 Stadtratsprotokoll vom 12.12.1927, ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT 1.

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gefördert.117 Die kommissarische Stadtverwaltung bezuschusste also im Vergleich zum Stadtrat der Jahre 1926–1929 jüdische Einrichtungen in einem weit geringeren Umfang.118 Die jüdische Gemeinde, die kehillah, musste sich als religiöses und immer stärker werdendes öffentliches Gremium in der Zweiten Republik neugestalten. Die kehillot waren ursprünglich religiöse Gemeindeinstitutionen, die der jahrhundertealten Tradition jüdischer Autonomie in den polnischen Ländern entsprangen. In der Zweiten Polnischen Republik wandelte sich die kehillah zu einer öffentlichen Institution, die viele Angelegenheiten des Alltags der jüdischen Minderheit regelte. Obschon das Wahlrecht beschränkt war (es galt beispielsweise nicht für Frauen), bewarben sich auch säkulare Parteien, wie beispielsweise der Bund um Sitze in den kehillot.119 Die jüdische Gemeinde Tarnóws unterhielt eine Reihe von Fürsorgeinstitutionen und es oblag ihr, einige Aufgaben der Standesämter zu erfüllen. Sie war zuständig für das Geburts- und Sterberegister, die Verzeichnisse der Wehr- und Schulpflichtigen, Verzeichnisse über durchgeführte und ausstehende Impfungen der jüdischen Bevölkerung, Angelegenheiten jüdischer Invaliden. Aufgrund eines Beschlusses des Tarnower Stadtrats von 1908 wurde sowohl die jüdische Gemeinde als auch die katholische Pfarrei für diese Art der Dienstleistungen von der Stadt regelmäßig bezuschusst. Da aber zunächst in den Jahren 1922/1923 durch Inflation, danach Hyperinflation und Währungswechsel der festgesetzte Betrag obsolet und nicht ausbezahlt wurde, wandte sich im Mai 1926 die jüdische Gemeinde mit der Bitte an die Stadt, einen neuen, stabilen Betrag festzulegen sowie um rücklaufende Zahlungen für die Jahre 1922–1926. In dem Brief vom Mai 1926 berief sich die jüdische Gemeinde auf eine ähnliche Bitte der katholischen Pfarrei, um die „Zuschüsse gleichmäßig zu verteilen“.120 Im November  1926 schrieb die jüdische Gemeinde erneut einen Brief und beschwerte sich über die ungleiche Verteilung: Während die Pfarrei einen Zuschuss von jährlich 200 Złoty und Rückzahlungen für die letzten drei Jahre erhielt, wurden der kehillah lediglich 100 Złoty jährlich zugesprochen und rückläufige Zahlungen verweigert. Dies prangerte die jüdische Gemeinde als Unrechtsbehandlung 117 Stadtratsprotokoll vom 04.03.1926, ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT 1. 118 Jüdische Einrichtungen wurden von unterschiedlichen Seiten finanziell unterstützt – die städtischen Finanzen waren nur eine der Geldquellen. Neben privaten Zuwendungen, Mitgliedsbeiträgen bzw. Schulgeld wurden einige Institutionen von der jüdischen Gemeinde, der kehillah, und auch vom JOINT (American Jewish Joint Distribution Committee) gefördert. Vgl. z.  B.: Opieka nad sierotami żyd. w Tarnowie. In: Tygodnik Żydowski, 27.04.1928, S. 2. 119 Shaprio: The Polish Kehillah Elections. 120 Izraelicki urząd metrykalny, 10.05.1926, ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT 45, S. 47.

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an.121 Schließlich wurden auch dem „israelitischen Standesamt“ 1926 die 200 Złoty jährlich zugesprochen.122 Die Argumentationsstruktur zeigt auf, dass die jüdische Gemeinde sich auf die Tradition der Gleichbehandlung beider Religionen in einer Stadt, in der fast die Hälfte der Bevölkerung jüdisch war, berief, jedoch musste diese Gleichbehandlung wiederholt eingefordert und erkämpft werden. In diesen Jahren des Stadtrats von 1926–1929 kamen auch an anderer Stelle Ungleichbehandlungen von Jüdinnen und Juden zur Sprache. Der Zionist Dr. Wolf Schenkel sah es als „Bürger dieses Landes als seine Pflicht an“, auf eine „verfassungswidrige“ Stellenausschreibung zum Sekretär des Gemeinderates (rada powiatowa) hinzuweisen, die die römisch-katholische Konfessionszugehörigkeit zur Einstellungsbedingung machte. Der Bürgermeister Julian Kryplewski beschwichtigte, dies sei ein Missverständnis und versprach, dieses alsbald aufzuklären.123 Der Ausgang dieser Auseinandersetzung ist nicht dokumentiert. Im September 1928 beschwerte sich ebenfalls Wolf Schenkel über die Tarnower Wohnungsnot, unter der im Besonderen die jüdische Bevölkerung zu leiden hätte, da sie in unwürdigen Verhältnissen lebe. Die Polizei aber, die für Ordnung auf den Straßen sorgen solle, schikaniere zum Teil die jüdische Bevölkerung.124 Für den gesamten Zeitraum des alten, neu eingesetzten Stadtrats in den Jahren 1926 bis 1929 sind in den Protokollen nur die oben erwähnten Klagen über Ungleichbehandlung und Diskriminierung von Juden verzeichnet. Es waren die Zionisten, die nun antraten, um spezifisch jüdische Interessen zu vertreten. Weitere Hinweise auf konfliktbehaftete Beziehungen zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung in Tarnów lassen sich den Protokollen nicht entnehmen. Vielmehr stand die allgemeine Stadtpolitik im Vordergrund. Aus den Subventionslisten ist, wie oben angeführt, keine diskriminierende Finanzpolitik ersichtlich. Die unklare rechtliche Stellung des Stadtrats, dessen fehlende Legitimation durch demokratische Wahlen und die Furcht vor einer möglichen Auflösung führten zu einer Konsenspolitik, die um einen Ausgleich der städtischen Interessengruppen bemüht war – der politischen, ökonomischen und religiösen bzw. ethnisch-nationalen pressure groups. Möglichen sozialen Spannungen oder Benachteiligungen einzelner Gruppen versuchten der Bürgermeister, sein Stellvertreter und die Stadträte 121 Izraelicki urząd metrykalny, 15.11.1926, ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT 45, S. 45. 122 Dies geht aus einem Brief des Izraelicki urząd metrykalny vom 02.01.1936 hervor, ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT 45, S. 75. 123 Stadtratsprotokoll vom 17.04.1928, ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT1; Z rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 20.04.1928, S. 2. 124 Rada miejska. In: Tygodnik Żydowski, 05.10.1928, S. 2.

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durch Kompromisslösungen und Vorab-Einigungen vorzubeugen. Diese Konsenspolitik manifestierte sich deutlich in den Stadtratswahlen von 1929. Die Wahlen von 1929 und der Erfolg des bürgerlichen christlich-jüdischen Wahlblocks Die ersten Stadtratswahlen im Tarnów der Zweiten Republik fanden im Juni 1929 statt, 17 Jahre nach der letzten Wahl von 1912. Allerdings war noch immer die Wahlordnung von 1866 in Kraft, die Wählerstimmen nach Vermögen gewichtete. Einzige Neuerung des Dreiklassenwahlrechts bestand in der Zulassung einer vierten Kurie zu den Wahlen. Um die Ungleichheit bezüglich der Teilhabe an der Politik bei solchen Wahlen im ehemaligen österreichischen Teilungsgebiet zu demonstrieren, führte der polnische Historiker Andrzej Friszke ein Rechenbeispiel der Wahlen im nahe gelegenen Przemyśl durch: Die erste Kurie zählte 800  Personen, die zweite 450, die dritte 5000 und die vierte 24 800, und alle Kurien wählten die gleiche Anzahl von Stadträten.125 Adam Ciołkosz, ab 1928 PPS-Sejm-Abgeordneter aus Tarnów, soll laut Friszke zu Stadtratswahlen in Stanisławów, ebenfalls ehemaliges Galizien, geäußert haben, dass hier die Stimme eines Kaufmanns so viel Wert wäre wie die Stimmen von 55  Arbeitern.126 Dennoch waren die Wahlen von dem Wojewodschaftsamt angeordnet worden, obwohl eine allgemeine Reform der Stadträte noch ausstand. Der Wojewode empfahl, dass die unterschiedlichen Gruppierungen sich vorab über eine Einheitsliste verständigen sollten, über die dann abgestimmt werden würde.127 Unterschiedliche Interessengruppen waren gezwungen, vorab Mandate auf der Einheitsliste unter sich zu verteilen. Dies zielte auf eine Konsenspolitik ab, die jedoch in Tarnów an der PPS scheiterte, die nicht mit dem bürgerlichen Lager auf einer Wahlliste kandidieren wollte und eine separate Liste zusammen mit dem Bund aufstellte, mit dem Ziel, gegen die Bourgeoisie zu kämpfen.128 So entstanden zwei politische Wahllisten – die Sozialistische Liste der PPS und des Bund einerseits und der christlich-jüdische Wahlblock andererseits, vornehmlich bestehend aus Zionisten, Sanacja-Unterstützern und zum Teil den alten Eliten. In der Wahlliste des bürgerlichen „christlich-jüdischen Blocks“ in Tarnów kam den Zionisten eine bedeutende Stellung zu. Diese Wahlliste war bereits von den neuen politischen Weichenstellungen geprägt. Die Zionisten verbanden sich mit BBWR-Anhängern und Sanacja-Unterstützern, zum Teil 125 126 127 128

Friszke: Adam Ciołkosz, S. 85. Ebd., S. 85. Potępa: Przed Wojną, S. 88–89. Ebd., S. 88–89.

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auch mit den alten Eliten wie Hermann Mütz und seinen Weggefährten, um in den Stadtrat einzuziehen.129 Die wichtigsten Posten des Wahlblocks wurden sowohl an nichtjüdische Sanacja-Anhänger als auch an zionistische Aktivisten vergeben.130 Eine solche Einigung über religiöse und ethnische Grenzen hinweg war zu der Zeit durchaus möglich. Die jahrelange Erfahrung der Arbeit im Stadtrat, in der interethnische Allianzen an der Tagesordnung waren, mag diesen Zusammenschluss begünstigt haben. Konfliktpotenziale zwischen Juden und Nichtjuden gab es durchaus, wie oben beschrieben, sie waren jedoch im politischen Tagesgeschäft der Jahre 1926–1929 eher marginal. Die Bereitschaft zu einer gemeinsamen christlich-jüdischen Wahlliste war größer als spaltende Kräfte. Bereits bei dieser Stadtratswahl von 1929 zeigte sich, dass die cleavages politischer Natur waren und die Rolle ethnischer Zuschreibungen für das Verhalten der Wahllistenaufstellung im Hintergrund stand – hier der „christlich-jüdische Block“, dort die PPS mit dem Bund. Interethnische Wahllisten waren zu diesem Zeitpunkt nicht außergewöhnlich. In Przemyśl wurde beispielsweise 1928 eine Wahlliste aufgestellt, zu der sich alle drei Nationalitäten der Stadt verständigten: der Drei-Nationalitätenblock bestand aus Zionisten, BBWR-Anhängern (Juden und Nichtjuden) und UNDO (Ukrajinske Nacjonalno-Demokratyczne Objednannia). Dieser Zusammenschluss im Stadtrat hatte laut Wierzbieniec ethnischen Konflikten den Boden entzogen und sorgte für „decreasing distances and relieving animosities on the ethnic plane“.131 Der „christlich-jüdische Block“ von Tarnów besetzte bei der Stadtratswahl von 1929 alle 48 Sitze im Stadtrat, die Liste der PPS und des Bund erhielten keine Mandate.132 20 der neuen Räte (also rund 42  %) waren in jüdischen Organisationen tätig oder der jüdischen Gemeinde verbunden, davon waren sechs Zionisten und vier Teil der von Vizebürgermeister Hermann Mütz geführten Żydowskie Stronnictwo Ludowe (Jüdische Volkspartei). Andere jüdische Räte waren Unternehmer, standen der jüdischen Gemeinde nahe oder auch der Silbiger-Familie. Zygmunt Silbiger selbst war bei dieser Wahl ebenfalls in den Stadtrat gewählt worden. Der Tarnower Stadtrat, der 1929 gewählt wurde, hatte mit den verheerenden Folgen der Weltwirtschaftskrise zu kämpfen, die seit 1929 auch Polen sehr hart traf. Erste Anzeichen machten sich bereits ab Mitte 1928 in der Agrarproduktion bemerkbar, aber die Rezession griff in den Folgejahren auf andere Sektoren wie 129 Vgl. dazu Kowal: BBWR, S. 51–52; Bekanntmachung der Wahlergebnisse am 27.06.1929, ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT 18; Hampel: Życie polityczne, S. 491. 130 Potępa: Przed Wojną, S. 88–89. 131 Wierzbieniec: Lwów, Przemyśl, and Rzeszów, S. 265. 132 Bekanntmachung der Wahlergebnisse am 27.06.1929, ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT 18.

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die Industrieproduktion, die um 41 % sank, über.133 Die Krise weitete sich auf den Handel, das Transport-, Bank- und Finanzwesen aus und erreichte ihren Höhepunkt in Polen in den Jahren 1931 und 1932. Allein zwischen 1929–1933 stieg die Arbeitslosigkeit in ganz Polen von rund 70 000 auf 780 000, also um das Elffache.134 Der Lebensstandard sank merklich, ebenso wie die Löhne, da immer mehr Menschen bereit waren, auch für sehr niedrige Löhne zu arbeiten. Soziale Unruhen und Proteste weiteten sich auf das ganze Land aus. Da die Sozialisten seit den Wahlen von 1929 aufgrund des Dreiklassenwahlrechts nicht mehr im Stadtrat vertreten waren, verlagerten sie ihr Betätigungsfeld auf die Straßen von Tarnów, um politischen Druck aufzubauen. Beim „Agitieren“ auf den Straßen erwies sich die Zusammenarbeit von PPS, Bund und Gewerkschaften als besonders tragfähig und führte zu einigen Erfolgen. Weil die beiden sozialistischen Parteien zu einer zunehmend wichtigen politischen Kraft in Tarnów heranwuchsen und sich ihre Zusammenarbeit im Vergleich zu anderen Städten als äußerst eng und ertragreich erwies, ist es sinnvoll, an dieser Stelle einen kurzen Exkurs zu den Beziehungen zwischen der lokalen PPS und dem Bund einzufügen.

Exkurs: der Bund in Tarnów und das Verhältnis zur PPS

Aron Sporn, ein Bundist aus Tarnów, ab 1934 für den Bund im Stadtrat aktiv, erinnerte sich an seine Begegnung mit Henryk Ehrlich (1882–1942) im Jahr 1920. Henryk Ehrlich, einer der führenden Bundisten der Zweiten Republik, begrüßte die Anwesenden aus Galizien, darunter Sporn, mit den Worten, diese seien zwar junge Bundisten, aber alte Sozialisten.135 Damit hieß er die Parteimitglieder aus Galizien in den bundischen Reihen willkommen. 1897 in Vilnius gegründet, entwickelte sich der Jüdische Allgemeine Arbeiterbund, kurz Bund, in der Zweiten Republik zu einer sozialistischen Partei, die marxistische Ideologie mit der Forderung nach national-kultureller Autonomie innerhalb Polens verband.136 Der Bund operierte vor dem Ersten Weltkrieg illegal im Russländischen Reich, in Galizien dagegen gab es keinen Bund. Jedoch wurde 1905 die ŻPSD (Żydowska Partia Socjal-Demokratyczna/ Jüdische Sozialdemokratische Partei) gegründet und im selben Jahr auch in Tarnów aktiv. Der Gründervater in Tarnów war Jehoshua Landau, der sich 133 134 135 136

Potępa: Przed Wojną, S. 123. Brzoza/Sowa: Historia Polski, S. 208. Sporn: Der algemeyner yidisher arbeyter-bund, S. 647. Zum Bund in der Zweiten Polnischen Republik und der Idee der national-kulturellen Autonomie siehe Pickhan: „Gegen den Strom“; Gechtman: Conceptualizing NationalCultural Autonomy.

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politisch sehr an den Schriften von Bundtheoretikern orientierte.137 Die ŻPSD war anders als die PPSD nicht Teil der SDAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei) Österreichs – die Hauptkontroverse zwischen ŻPSD und SDAP betraf die Frage nach der Notwendigkeit einer eigenständigen jüdischen sozialistischen Partei, auf die hier nicht näher eingegangen wird.138 In Tarnów gab es parallel Auseinandersetzungen zwischen lokaler PPSD und ŻPSD. Beispielsweise sprach sich Maurycy Hutter, selbst jüdischer Herkunft, der seit 1918 die PPS im Stadtrat vertrat, dagegen aus, dass jüdische Sozialisten ihre „eigene“ Partei haben sollten. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Unabhängigkeit Polens fusionierte die galizische PPSD mit der polnischen PPS und ein Jahr darauf die ŻPSD mit dem Bund – von daher auch die Worte Ehrlichs im Jahr 1920, die sich Aron Sporn ins Gedächtnis einbrannten: Die Galizianer seien junge Bundisten und alte Sozialisten. Grundzüge des bundischen Programms in der Zweiten Polnischen Republik fußten neben den sozialistisch-marxistischen Gesellschaftsvorstellungen auf Forderungen nach einer national-kulturellen Autonomie. Das heißt „nach staatlicher Anerkennung des Rechts auf freie Entfaltung der ethno-kulturellen Identität und den damit verbundenen Selbstverwaltungskörperschaften“.139 Somit betonten Bundisten sehr wohl das Zugehörigkeitsgefühl zu einer jüdischen, jiddischsprachigen, ethnisch-kulturellen Gruppe des „Arbeitsmenschen“. Der Stellenwert des Jiddischen als Sprache der jüdischen Arbeitermassen war für Bundisten dementsprechend sehr hoch  – jiddischsprachige Kultur und Bildung wurden von den Aktivisten aufgebaut und gefördert. Zugleich sprachen sie sich gegen die Emigration aus und strebten gesellschaftliche Veränderungen gerade in ihrer Heimat an, also in dem Land, in dem sie lebten. Daher folgten Bundisten dem Prinzip der doikeyt (vom jiddischen Wort „do“ für „hier“).140 Der Bund entwickelte eine umfassende politische Arbeit durch Kultureinrichtungen, Bildungs- und Erziehungsorganisationen, Sportvereine, Schulen und Medien in Polen.141 Auch in Tarnów existierten die Jugendorganisation Tsukunft, SKIF (Sotsyalistisher Kinder Farband), die Sportgruppe Morgnshtern, eine Theatersektion, arbeyter-heymen, Bibliotheken und Sommerlager für die Jugend.142 Viele Bundisten waren ebenso in den Gewerkschaften aktiv. Bevor das Engagement des Tarnower Bund in den 137 138 139 140 141 142

Landau: Yidishe sotsialistishe partay, S. 632–640. Vgl. dazu für Galizien: Kuhn: Organizing Yiddish-Speaking Workers. Pickhan: „Gegen den Strom“, S. 263. Vgl. ebd., S. 282–283. Vgl. ebd., S. 230–248; Jacobs: Bundist counterculture; Kozłowska: Świetlana przyszłość? Zum Bund in Tarnów und zur Zusammenarbeit mit der PPS siehe auch Wierzcholska: Relations between the Bund and the Polish Socialist Party.

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lokalpolitischen Gremien begann, hatte die Partei ein breites Netz an Kulturund Jugendeinrichtungen sowie an Gewerkschaftsarbeit gesponnen, welches für Anhängerinnen und Anhänger sowie Sympathisierende im Alltag spürbar war. Bundisten erreichten dadurch viele Menschen (in ihrer Muttersprache Jiddisch) und waren im urbanen Raum, besonders in den ärmeren Arbeitervierteln wie Grabówka, sehr präsent. In Grabówka lag der Anteil an jüdischen Bewohnerinnen und Bewohnern bei 76–77 %.143 Eliezer Wurtsel erinnerte sich im yizker bukh wie folgt: Dort sind wie Pilze nach dem Regen Kinder geboren und aufgewachsen, die mit der Zeit den Platz ihrer Eltern in den Fabriken, Werkstätten oder Läden übernommen haben. Und sie haben den Kampf für Arbeitsrechte und ihr Recht auf ein würdiges Leben weitergeführt. Die Bewohner von Grabuvke befreiten sich von […] bürgerlichen Träumen, die sie an ihrem Kampf gehindert haben, den sie zusammen mit polnischen Arbeitern für die einfachen, elementaren Rechte und die menschliche Existenz geführt haben. Grabuvke lebte ein dynamischpolitisches und jüdisch-kulturelles Leben. Grabuvke führte einen Klassenkampf. Durch ihre verkrümmten Gassen haben sich Arbeiterdemonstrationen gezogen.144

Wurtsel betonte mit Stolz den Kampf der jüdischen Arbeiterschichten, berief sich jedoch explizit auf die Kooperation mit den „polnischen Arbeitern“. Obwohl die Beziehungen zwischen PPS und Bund während der Zweiten Republik auf gesamtgesellschaftlicher Ebene voller Spannungen waren, näherten sich beide Parteien im Laufe der Zeit immer weiter an.145 Abraham Brumberg charakterisierte die Beziehungen durch „intermittent friction, mutual suspicion and occasional collaboration alternating with repeated failures“.146 Trotz der Unterschiede und Konflikte der beiden Parteien, die sich um ideologische Schwerpunkte drehten, wie die breit verstandene „nationale Frage“, die (Un-) Möglichkeit der Kooperation mit dem bürgerlichen Lager oder die Integration (bzw. Nicht-Integration) in die Sozialistische Arbeiterinternationale, gingen PPS und Bund dennoch aufeinander zu, auch wenn Gertrud Pickhan das Tempo dieser Annäherung mit der Wendung „zwei Schritte vor, einen zurück“ charakterisierte.147 Adam Ciołkosz spielte bei diesem 143 Nach dem Wählerverzeichnis zur Stadtratswahl 1939: Z Frontu Wyborczego. In: Tygodnik Żydowski, 17.02.1939, S. 2. 144 Wurtsel: Funem yidishn arbeyter kamf, S. 668. 145 Zu einer kurzen Diskussion in der Forschungsliteratur, was die Kooperation zwischen PPS und Bund lange Zeit behinderte, siehe Pickhan: „Gegen den Strom“, S. 326–327. 146 Brumberg: The Bund and the Polish Socialist Party, S. 75. 147 Pickhan: „Gegen den Strom“, S. 329. Da hier die Beziehungen zwischen Bund und PPS auf gesamtgesellschaftlicher Ebene nicht in ihrer Breite dargestellt werden können,

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Aufeinanderzugehen seitens der PPS schon früh eine bedeutende Rolle. 1929 befürwortete er in Nasza Walka [Unser Kampf] eine engere Zusammenarbeit der PPS mit dem Bund in Stadträten, Gewerkschaften, Arbeiterkrankenkassen und Genossenschaften. Dies könne ein erster Schritt zur Zusammenarbeit mit anderen sozialistischen Parteien der Minderheiten sein.148 In demselben Jahr entstand eine Verständigungskommission zwischen PPS, Bund und der DSAP (Deutsche Sozialistische Arbeitspartei Polens). Im Herbst 1929 fand in Warschau eine gemeinsame Kundgebung von PPS und Bund statt.149 Obwohl der Bund die Verständigungskommission im Jahr darauf wieder verließ, ist es für den hier verhandelten Kontext wichtig, dass der linke PPS-Flügel, unter anderem vertreten durch Zygmunt Zaremba (1895–1967) und Adam Ciołkosz, sich weiterhin für eine Annäherung an den Bund aussprach und bundische Positionen unterstützte.150 In dem 1937 verabschiedeten Parteiprogramm nahm die PPS schließlich die Forderungen des Bund nach national-kultureller Autonomie für nicht-territoriale Minderheiten auf.151 Nicht nur stand Adam Ciołkosz in der PPS auf gesamtgesellschaftlicher Bühne für eine engere Kooperation mit dem Bund, sondern er setzte diese in Tarnów auch in die Praxis um. Ein wichtiges Momentum waren die Trauerfeierlichkeiten für die durch die Polizei erschossenen Arbeiter 1923 und die gemeinsame Maidemonstration mit PPS und Bund im darauffolgenden Jahr. Bund und PPS marschierten gemeinsam durch Tarnóws Gassen, fünf Jahre bevor dies in Warschau möglich war. Weitere gemeinsame Demonstrationen folgten. Nach der Wahl Ciołkosz’ zum Sejm-Abgeordneten im Jahr 1928, feierten auf einer Manifestation Bund und PPS gemeinsam mit ca. 2000 Menschen und einem Orchester vorneweg.152 In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre erreichten die gemeinsamen Maidemonstrationen dann sogar Zahlen von bis zu 6000 Teilnehmenden.153 Die Zusammenarbeit der beiden Parteien gestaltete sich in Tarnów also besonders gut. Für diese gute Kooperation waren die engen persönlichen Kontakte sehr wichtig. Dass gerade die Familie Ciołkosz auf Lokalebene die PPS-Linien bestimmte, erwies sich als Katalysator der Annäherung zwischen der polnischen Partei und dem Bund auf Lokalebene. Kasper Ciołkosz, geboren 1875, zog nach

148 149 150 151 152 153

verweise ich auf das Kapitel „Konflikt und Kooperation: Die Beziehungen zu PPS“ in ebd., S. 326–351. Ciołkosz, Adam. In: Nasza Walka 1929, Nr. 1, zit. in: Friszke: Adam Ciołkosz, S. 84. Pickhan: „Gegen den Strom“, S. 330–331. Ebd. Ebd., S. 341. Potępa: Tarnów międzywojenny, S. 71. 1 Maja w Tarnowie. In: Tygodnik Żydowski, 07.05.1937, S. 4.

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seinem Universitätsstudium in Krakau, wo er bereits der PPS angehört hatte, nach Tarnów. Hier wurde er Lehrer am III. Adam-Mickiewicz-Gymnasium und einer der Anführer der lokalen PPS. Seit 1918 vertrat er die Arbeiterinteressen im Tarnower Stadtrat und stand außerdem dem lokalen Verein der Arbeiteruniversität vor (TUR  – Towarzystwo Uniwersytetu Robotniczego), den für Arbeiterinnen und Arbeiter organisierten Krankenkassen sowie dem Jugendverein.154 Sein Sohn Adam wurde 1928 als erster PPS-Kandidat aus dem Tarnower Wahlkreis in den Sejm gewählt. Letzterer erwies sich als charismatische Führungspersönlichkeit und war in seiner Heimatstadt äußerst beliebt. 1939 wurde er zum Stadtrat in Tarnów und zum Vorsitzenden des Stadtparlaments gewählt. Verheiratet war er mit Lidia Ciołkosz, die aus einer jüdischen Familie aus Łódź stammte und promovierte Polonistin war. Die Ehe der Ciołkoszs war für die damalige Zeit sehr modern. Sie war zivil geschlossen worden und wurde von einigen Tarnower katholischen Kreisen harsch kritisiert. Ein Journalist der christlich-patriotischen, antijüdischen und antikommunistischen Tarnower Zeitung Nasz Głos warf Ciołkosz 1928 vor  – in dem Jahr, als Adam Ciołkosz Sejm-Abgeordneter wurde – „dass er von der katholischen Kirche abgefallen ist, dass er eine jüdin (sic!) in der Starostei geheiratet hat, was jeder gläubige Katholik als wilde Ehe ansieht und dass ihn die juden (sic!) vom Bund dafür besonders liebten.“155 Die akkumulierten Entwertungen der Eheleute Ciołkosz in dieser Aussage werden auch an der Schreibweise der beiden Ausdrücke „jüdin“ und „juden“ deutlich, welche kleingeschrieben wurden, was als Zeichen der Missachtung gewertet werden kann. Hier vermischen sich antijüdische Stereotype mit antilinken Haltungen und einem sexualisierten Antisemitismus (Vorstellungen von einer „wilden Ehe“, da sie zivil geschlossen wurde). In diesem Zitat überlagern sich exemplarisch unterschiedliche Vorurteile konservativer Katholiken, mit denen die sozialistische Opposition zu kämpfen hatte. Die Zusammenarbeit von PPS und Bund befeuerte noch zusätzlich Angst vor einer vermeintlichen „roten Gefahr“ in der Stadt und gab den Vorstellungen von einem Nexus zwischen Judenheiten und der Linken neuen Nährboden. Zumal im weiteren linken Spektrum die verbotene kommunistische Partei in Tarnów zu großen Teilen von Juden getragen wurde. Diese besaß zwar nur eine marginale Bedeutung, gelangte jedoch durch die Verhaftungen, über die in der Presse berichtet wurde, in den Fokus der Öffentlichkeit, ebenso wie die (jüdisch klingenden) Namen der Aktivisten. Erstaunlicherweise blieben jedoch großflächige Schmähungen gegenüber Lidia Ciołkosz als Jüdin und 154 Ciołkosz, Kasper. In: Nasza droga, 01.11.1946, S. 16; Potępa: Tarnów międzywojenny, S. 53. 155 Zit. nach Potępa: Przed wojną, S. 72.

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Sozialistin in der Tarnower Öffentlichkeit, bis auf wenige Ausnahmen wie die oben zitierte, nach meiner Kenntnis aus. Sie selbst zog 1934 als erste Frau in das Tarnower Stadtparlament ein, wo sie die sozialistische Opposition aus PPS und Bund anführte und feurige Reden hielt. Ihr Stellvertreter war David Batist vom Bund. Die Ciołkosz-Familie war eng mit Batist, dem Anführer des lokalen Bund, befreundet.156 David Batist war Schneider, der sich seinen guten Ruf dadurch erarbeitet hatte, dass er sich noch als Jugendlicher während des Ersten Weltkriegs in der Fürsorge engagiert und vielen Menschen geholfen hatte.157 Und das in einer Zeit, als die älteren Parteigenossen während des Ersten Weltkriegs eingezogen wurden. Er zeichnete sich durch sein organisatorisches Talent aus und soll – laut Zeitzeugen – ein begnadeter Redner gewesen sein, der sowohl auf Parteiversammlungen und Demonstrationen als auch im Stadtrat das Wort ergriff. Des Weiteren engagierte er sich in überregionalen bundischen und gewerkschaftlichen Gremien. Lokal stand ihm die Gewerkschaftsbewegung nahe, wo er gute Kontakte mit nichtjüdischen polnischen Arbeitenden knüpfte. Bei antisemitischen Ausschreitungen organisierte er gemeinsame Aktionen der jüdischen und nichtjüdischen Arbeitenden. Er galt als Bundist, der in Tarnów „die beste Zusammenarbeit mit der polnischen Arbeiterbewegung in Polen“ erreicht hatte.158 Das ist wohl nicht ausschließlich, aber auch auf seine Freundschaft mit der Ciołkosz-Familie zurückzuführen. Die gemeinsamen Aktivitäten von PPS und Bund oyf der gas, also auf der Straße und in der Öffentlichkeit, waren extrem wichtig, zumal die PPS nach den Lokalwahlen 1929 keine Mandate mehr im Stadtrat besaß, und in einer Zeit, als Polen mit den Folgen der Weltwirtschaftskrise kämpfte, welche die Schicht der Arbeitenden und die ärmste Bevölkerung am härtesten traf. Die Straße wurde in der Folge zunehmend zu einem wichtigen Betätigungsfeld. Im Dezember 1929 versammelten sich PPS-Mitglieder, Bundisten und Gewerkschaftler im Arbeiterhaus und setzten eine Resolution auf. Rund 150 Menschen marschierten dann zum Rathaus mit ihren Forderungen, an der Spitze stand der PPS-Anführer und Sejm-Abgeordneter Adam Ciołkosz zusammen mit dem Bundisten David Batist.159 Solche Aktionen, die öffentlich inszeniert waren, blieben den Menschen unvergessen. Im Mai 1930 fanden erneute Protestaktionen vor dem Rathaus statt, sodass sich der Bürgermeister 156 157 158 159

Ciołkosz: Spojrzenie wstecz, S. 79. Vgl. Sporn: Der algemeyner yidisher arbeyter-bund, S. 642. Aleksandrovitsch: David Batist, S. 211. ANKr. Odd. T. 33/97 PSOT/PT 32/U 152/30 Demonstracja bezrobotnych pod starostwem, 08.01.1930.

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sogar verbarrikadierte.160 Die PPS versuchte, Gelder vom Stadtrat für die Arbeitslosenhilfe zu erwirken sowie Arbeitnehmer zu Neueinstellungen zu bewegen.161 In einer flammenden Rede wandte sich Ciołkosz an die versammelten Arbeitslosen. Die Rede ist lediglich durch einen Beobachter der Polizei überliefert und für die Staatsanwaltschaft paraphrasiert worden. Laut diesem Bericht habe Adam Ciołkosz einen Vorschlag dafür unterbreitet, woher der Stadtrat die Gelder für die Arbeitslosen nehmen solle: Wenn die Stadtverwaltung fragt, woher sie das Geld nehmen solle, dann kann die Delegation der Arbeitslosen die Stadtverwaltung darauf hinweisen, dass sie ruhig die Subventionen für die „Safa Barura“ [private, zionistisch ausgerichtete Schule – AW], die rund 7000 Złoty betragen, streichen kann, denn hier lernen die Kinder der jüdischen Bourgeoisie. Wenn sie Hebräisch lernen wollen, sollen sie das selbst finanzieren. Auch die für die „Mizrachi“ [religiöse Zionisten – AW] bestimmten Subventionen kann der Stadtrat an die Arbeitslosen verteilen, denn sie ist eine politische Partei.162

Ob Ciołkosz tatsächlich die Bedürfnisse der Arbeitslosen einerseits und die Bildung jüdischer Kinder gutbürgerlicher Schichten andererseits auf diese Weise gegeneinander ausgespielt hatte oder ob dies von einem nicht wohlwollenden Beobachter nur so dargestellt wurde, ist nicht mehr festzustellen, da keine anderen Berichte dieser Rede überliefert sind. Auch lassen sich weder Reaktionen noch Stimmungen der Anwesenden oder der Tarnower PPS-Basis rekonstruieren. Festzuhalten ist aber, dass Ciołkosz die Politik der Zionisten, die auf die jüdische Bourgeoisie orientiert gewesen sei, auch bei anderen Gelegenheiten harsch kritisierte.163 Hierbei wird deutlich, dass Ethnizität keineswegs zu Gruppenbildungen beitrug. Vielmehr bildeten sich interethnische Interessengruppen aus: Ausschlaggebend für den Zusammenschluss war zum einen die politische Positionierung in Bezug auf das Sanacja-Regime und zum anderen die Schichtzugehörigkeit und ökonomische Lage. Die Interessen der Arbeitenden und Sozialistinnen und Sozialisten waren zu einem Katalysator der Verbindung zwischen PPS und Bundisten geworden, ebenso wie die gemeinsamen Interessen der bürgerlichen Schichten zum Zusammenschluss zum christlich-jüdischen Wahlblock beitrugen. Eine innerethnische Solidarität über politische Trennlinien hinweg war weder von jüdischer noch nichtjüdischer Seite in der Stadtpolitik gewollt. Das Feindbild der PPS in Gestalt 160 161 162 163

ANKr. Odd. T. 33/97 PSOT/PT 34/U 594/30. Ebd. Ebd. Ciołkosz, Adam: List otwarty do towarzystwa Vanderweldego. Prawda o syjonizmie. In: Naprzód, 23.06.1929, zit. nach: Friszke: Adam Ciołkosz, S. 84.

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der jüdischen Bourgeoisie und der Kapitalisten blieb bis in die 1930er Jahre Teil des politischen Diskurses. Der Erfolg der beiden sozialistischen Parteien auf den Straßen, in einer Zeit, als sie wegen des Drei-Klassen-Wahlrechts aus dem Stadtrat ausgeschlossen waren, sowie ihre gute Zusammenarbeit auf Lokalebene verhalfen ihnen letztlich dazu, im Jahre 1933 Mandate im Stadtrat zu erlangen. Erneute kommissarische Stadtverwaltung 1930–1933 Der 1929 gewählte Stadtrat, bestehend aus dem „christlich-jüdischen Wahlblock“, blieb allerdings nur etwas über ein Jahr lang im Amt. Am 22. Dezember 1930 ereilte die Lokalpolitiker ein Brief mit der Ankündigung, dass der Wojewode den Tarnower Stadtrat und sein Präsidium auflösen und eine kommissarische Stadtverwaltung samt einem provisorischen Rat einsetzen werde. Die neuen Funktionäre waren in diesem Brief bereits namentlich benannt.164 Als Grund für die Auflösung wurde vor allem die wirtschaftliche Inkompetenz des Stadtrats angeführt. Die Einsetzung der kommissarischen Stadtverwaltung in Tarnów fand in der Hochphase der Auseinandersetzungen zwischen Piłsudskis-Regime und dem Sejm statt. Nach der Auflösung des Sejms im August 1930 wurden für den kommenden November Neuwahlen angekündigt. Durch die Erstarkung der Centrolew-Opposition gegen Piłsudski konnten die Neuwahlen zunächst als Zugeständnis der Sanacja an den Parlamentarismus erscheinen. Doch seit den Verhaftungen der oppositionellen Sejm-Abgeordneten im September 1930 und der massiven Einschüchterung der Opposition erwiesen sich die Sejm-Wahlen von 1930 als ein Mittel zur Stärkung des BBWR im Sejm, der knapp 47 % der Wählerstimmen hinter sich vereinte und die absolute Mehrheit der Mandate erhielt. Letztlich führten die Wahlen zu einer Stärkung des Sanacja-Lagers, das sich nun des Rückhalts im Parlament sicher sein konnte. Die Einschränkung gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse im Parlament wurde damit offenbar, und kurz danach, im Dezember 1930, wurde auch das „Stadtparlament“ von Tarnów aufgelöst. Auch in Krakau wurden oppositionelle Parteien aus der kommissarischen Stadtverwaltung der Jahre 1931–1933 ausgeschlossen.165 Damit wurde also zusätzlich die Gemeindeautonomie eingeschränkt. Die Zusammensetzung der kommissarischen Stadtverwaltung und des Rats in Tarnów unterschied sich wesentlich von dem Vorgänger-Stadtrat. Alle Zionisten waren aus dem Stadtrat ausgeschlossen, ebenso wie PPS-Räte. Auch in Lwów wurde 1930 eine neue kommissarische Stadtverwaltung eingesetzt, in 164 Brief an den Magistrat vom 22.12.1930, ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT 18: Wybory. 165 Brzoza: Jewish Participation, S. 220–221.

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der sieben Zionisten (von 130 Räten) und zwei jüdische Sozialisten saßen.166 Von den 25 Mitgliedern des provisorischen Rates in Tarnów, die zum Teil aus dem ehemaligen Stadtrat übernommen wurden, waren acht mit jüdischen Institutionen oder Parteien verbunden, auch der ehemalige Vizebürgermeister Hermann Mütz wurde nun zum Vize-Regierungskommissar.167 1932 trat er jedoch zurück, und das Amt übernahm sein Weggefährte Edward Szalit aus der Żydowskie Stronnictwo Ludowe (Jüdische Volkspartei).168 Die kommissarische Stadtverwaltung berief den provisorischen Rat seltener ein, zum Teil waren Pausen von rund einem halben Jahr zwischen zwei Sitzungen zu verzeichnen.169 Die Protokolle des Rates beschränkten sich auf knapp gehaltene Abstimmungen, Diskussionen wurden kaum protokolliert. Es entsteht insgesamt der Eindruck eines reinen „Abnickorgans“ der kommissarischen Stadtverwaltung. Themen, die die jüdische Bevölkerung betrafen, wurden hierbei nicht protokolliert. Aus einer Liste von Subventionen für das Jahr 1931/1932 geht hervor, dass 43 % aller Subventionen jüdischen Organisationen zukamen. Anders als während der kommissarischen Stadtverwaltung von 1924–1926 kann innerhalb der Jahre 1930–1933 keine wiederholte Ungleichbehandlung auf ethnischer oder religiöser Grundlage festgestellt werden. Allerdings weisen die Quellen für diese Zeitspanne erhebliche Lücken auf, sodass ein abschließender Eindruck schwer zu gewinnen ist. Der Lokalhistoriker Stanisław Potępa charakterisiert die Arbeit der Jahre von 1930–1933 wie folgt: Kleinere infrastrukturelle Maßnahmen wurden in der Stadt durchgeführt, vor allem um die neu geschaffene Stickstofffabrik im nun eingemeindeten Mościce stärker in den Stadtraum zu integrieren. Trotz der wachsenden Arbeitslosigkeit hatten Projekte wie der soziale Wohnungsbau oder die gerechte Verteilung von Wohnraum keine Priorität auf der Agenda der kommissarischen Stadtverwaltung. Es kam sogar zum Abriss von Sozialwohnungsbauten.170 Gerade in der Zeit der schärfsten Auswirkungen der wirtschaftlichen Krise, der drastisch ansteigenden Arbeitslosigkeit und der wiederholten Streiks in Tarnów im Jahr 1931 vermittelte das politische Handeln der kommissarischen Stadtverwaltung den Eindruck von Klientelpolitik gegenüber den wohlhabenden Schichten.171 Die Situation des Stadtrats änderte

166 167 168 169 170 171

Wierzbieniec: Lwów, Przemyśl, and Rzeszów, S. 261. Brief an den Magistrat vom 22.12.1930, ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT 18: Wybory. Potępa: Tarnów międzywojenny, S. 108. Zum Beispiel zwischen September 1932 und März 1933, ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT 1. Potępa: Przed Wojną, S. 127–138. Zu den Streiks siehe Friszke: Adam Ciołkosz, S. 120–122; Potępa: Tarnów międzywojenny, S. 98–100.

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kapitel 2

sich erheblich mit der gesamtgesellschaftlichen Neuordnung der territorialen Selbstverwaltung vom März 1933, der einschneidenden ustawa scaleniowa. 2.3

Der demokratische Stadtrat 1933–1939

2.3.1 Die ersten demokratischen Wahlen 1933 Mit rotem Abzeichen im Knopfloch trafen sich die 17 sozialistischen Stadträte, zwölf Mitglieder der PPS und fünf des Allgemeinen jüdischen Arbeiterbund im Mai 1934 vor dem „Haus des Arbeiters“. Feierlich gingen sie gemeinsam mit ihren Anhängern durch die Gassen von Tarnów zur ersten Sitzung des demokratisch gewählten Stadtrats. An der Ecke der Goldhammerstraße, benannt nach dem ersten jüdischen Vizebürgermeister der Stadt, trieb die Polizei die Anhänger auseinander.172 Vermutlich wollte die Staatsgewalt keinen sozialistischen Aufmarsch gleich bei der ersten Stadtratssitzung. Nach den Wahlen im Dezember 1933 prägte Erstaunen die veröffentlichte Meinung, dass in der ersten demokratischen Wahl zum Stadtrat ganze 17 Mandate von insgesamt 40 dem sozialistischen Block zufielen.173 Eine neue Etappe war in der Lokalpolitik angebrochen. Was war passiert? Im März 1933 vereinheitlichte die sogenannte ustawa scaleniowa (Vereinheitlichungsgesetz) die Selbstverwaltungen der Zweiten Republik.174 Die Neuordnung kam jedoch zu einem Zeitpunkt, als der Staat zunehmend autoritär regiert und die lokale Autonomie immer mehr eingeschränkt wurde. Das Gesetz von 1933 war dem Geiste nach bereits nahe an der Aprilverfassung von 1935, die auf das Regime von Piłsudski ausgerichtet war. So konnten etwa die Stadträte aufgelöst (wie in Poznań) und kommissarische Stadtverwaltungen eingesetzt oder Bürgermeister „von oben“ bestimmt werden.175 Die Kommunalverwaltung wurde aus Sicht der Sanacja-Regierung vor allem dazu genutzt, um Direktiven von oben bis auf die Lokalebene zu implementieren. Das Gesetz von 1933 beschränkte die Autonomie der Selbstverwaltung und unterstellte sie der Regierungsadministration. Damit standen die kommunalen Institutionen in direkter dienstlicher Abhängigkeit von den jeweiligen „Aufsichtsorganen“ der Regierung. In erster Instanz war es das Wojewodschaftsamt, dann das Innenministerium.176 Des Weiteren wurden städtische Präsidien, die von den Stadt172 173 174 175 176

Pierwsze Posiedzenie Rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 18.05.1934, S. 2–3. Vgl. Potępa: Tarnów międzywojenny, S. 112. Izdebski: Samorząd terytorialny w II Rzeczpospolitej. Część II, S. 46–47. Kozińska-Witt: Jewish Participation, S. 211. Izdebski: Samorząd terytorialny w II Rzeczpospolitej. Część II, S. 46–49.

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räten gewählt und kontrolliert wurden, mit größeren Befugnissen ausgestattet und konnten unter Umständen auch Beschlüsse der Räte aufheben. Während die Präsidien auf zehn Jahre gewählt wurden, blieben die Stadtparlamente fünf Jahre im Amt.177 Alle Kandidaten mussten die polnische Sprache nun in Wort und Schrift beherrschen, was in einigen Gebieten zu Unmut bei Vertretern nationaler Minderheiten führte und als Schritt zur „Polonisierung“ der kommunalen Verwaltung wahrgenommen wurde. Die Historikerin Stephanie Zloch zeigt in ihrer Studie zum polnischen Nationalismus auf, dass das neue Gesetz die territoriale Selbstverwaltung staatlichen und nationalen Zielen unterordnete. Seinem Geiste nach höhlte es somit die Lokalautonomie aus und stellte die Selbstverwaltungen in den Dienst der Regierung.178 Wurde das Gesetz im restlichen Polen vornehmlich als ein restriktives verstanden, das die Autonomie der kommunalen Selbstverwaltung beschnitt und zur stärkeren Zentralisierung des autoritär geführten Staates beitrug, ermöglichte es paradoxerweise die ersten demokratischen Stadtratswahlen in vielen Städten Galiziens, so auch in Tarnów. Nach dem neuen Gesetz fanden in den Jahren 1933–1934 flächendeckend in der Zweiten Polnischen Republik Stadtratswahlen statt, im Dezember 1933 auch in Tarnów. Die Stadt hatte mittlerweile einige umliegende Ortschaften eingemeindet und war auf eine Bevölkerungsgröße von über 50  000 Einwohnerinnen und Einwohnern angewachsen. Somit konnte die Stadt – nach dem neuen Gesetz von 1933 – einen Stadtrat mit 40 Sitzen aufstellen, der einen Präsidenten und einen Vizepräsidenten wählte. Bei Bedarf konnte auch ein zweiter Vizepräsident gewählt werden. Darüber hinaus wurden – proportional zu den im Stadtrat vertretenen Gruppierungen  – vier Assessoren in das Präsidium gewählt. Für Tarnów wurde diese Wahl in vielerlei Hinsicht eine Premiere. Das neue Gesetz von 1933 veränderte die Lokalpolitik grundlegend. Bis 1933 prägten wegen der fehlenden Wahlregelungen für das ehemalige Galizien die alten Eliten den Tarnower Stadtrat, die eine Konsenspolitik führten, aber auch zunehmend um einen Ausgleich mit neuen Interessengruppen bemüht waren. Ab 1933 löste der freie Wettbewerb um die Wählerinnen- und Wählergunst eine Ausdifferenzierung der politischen Gruppierungen sowie eine offene Konkurrenz zwischen ihnen aus. Die Logik, nach der Allianzen nun geschmiedet werden konnten, war seither eine gänzlich andere. Denn nun hatten neue Wählerinnen- und Wählergruppen (wie beispielsweise Arbeitende, Arbeitslose und Frauen) dasselbe Stimmgewicht wie früher 177 Ebd., S. 48–50. 178 Zloch: Polnischer Nationalismus, S. 303–304.

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Männer aus privilegierten Schichten. Welche Allianzen bei diesen Wahlen gebildet wurden und welche Rolle die Ethnizität in einer Stadt spielen sollte, in der fast die Hälfte der Bevölkerung jüdisch war, soll im Folgenden untersucht werden. Mehrere Gruppierungen gingen 1933 mit dem Ziel in den Wahlkampf, ein möglichst breites Bündnis  – unabhängig von Ethnizität, Nationalität oder Religion, wie betont wurde – zu schaffen, um den durch die Wirtschaftskrise der frühen 1930er Jahre zerrütteten städtischen Haushalt zu konsolidieren. Zur Wahl stellte sich der lokale Ableger des BBWR. Der BBWR wurde 1928 unter anderen von Walery Sławek (1879–1939) gegründet, um bei den Sejm-Wahlen eine starke Liste zu haben, welche die Regierung unterstützte. Es war ein Zusammenschluss unterschiedlicher Gruppierungen, die quasi „überparteilich“ durch ihre Unterstützung für das Sanacja-Regime Piłsudskis geeint waren. Die Beteiligung des BBWR an den Stadtratswahlen der Jahre 1933/1934 und die Beherrschung der „Stadtparlamente“ der Zweiten Republik durch den BBWR waren sicherlich ein Versuch, einen weiteren Pfeiler der Regierung in den Kommunalverwaltungen zu stärken. Dies kam einer weiteren Aushöhlung der parlamentarischen Demokratie gleich. In Tarnów stellte die PPS zusammen mit dem Bund eine sozialistische Liste auf, des Weiteren kandidierten das Bürgerliche Lager, zu dem Juden und Nichtjuden gehörten, und schließlich die linke Poale Zion mit einer eigenen Liste sowie die Liste der Hitachdut und Poale Zion Ichud. Die allgemeinen Zionisten wollten zunächst ein Bündnis mit dem BBWR eingehen, was jedoch an Differenzen mit den im BBWR organisierten Orthodoxen (unter anderem mit Zygmunt Silbiger) scheiterte. Die allgemeinen Zionisten traten schließlich gar nicht erst zu den Stadtratswahlen von 1933 an. BBWR als integrierendes Jagiellonen-Modell in Tarnów? Eines der in der Zweiten Polnischen Republik am kontroversesten diskutierten Themen war deren Verfasstheit als National- oder Nationalitätenstaat. Dabei ging es primär um das Verhältnis des Staates zu den nationalen Minderheiten, die rund ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachten, und um deren Handlungsmöglichkeiten innerhalb des staatlichen Rahmens. In Bezug darauf wurden die Positionen zwischen Piłsudski und seinem Widersacher in der Nationaldemokratie, Roman Dmowski (1864–1939), verkürzt als Jagiellonen- vs. Piasten-Konzeption benannt. Die erste beruhte, schematisch skizziert, auf der Tradition der Vielvölkerrepublik der polnisch-litauischen Adelsrepublik und integrierte (unter bestimmten Bedingungen) kulturelle und religiöse Diversität in das Staatsmodell. Demgegenüber stand der Rückbezug auf das durch die Piasten geeinte mittelalterliche Polen, aus welchem

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das Ideal eines ethnisch-national konsolidierten Polens destilliert wurde. Stephanie Zloch verweist in ihrer Studie auf eine Diskrepanz zwischen dem „emanzipatorischen Nationalismus“ des ausgehenden 19. Jahrhunderts unter den Teilungsmächten und dem „Staatsnationalismus“ nach 1918. Ersterer ging nach der Staatsgründung der Zweiten Republik nicht einfach in den letzteren über. Wie sehr beide Konzepte sich ausschließen konnten, demonstriert Zloch an einem Zitat aus Andrzej Walickis Typologisierung unterschiedlicher Traditionen von Nation: „Nothing was more alien and more horrifying to Polish patriots than the idea of identifying nation with state, nationality with citizenship, and patriotism with loyalty to the existing state.“179 Nation war also nicht gleichbedeutend mit Staat, Nationalität keine staatsbürgerliche Kategorie. Mit anderen Worten: Wer zum Staat gehörte, gehörte nicht zwangsläufig zur national definierten „Wir-Gruppe“, weil sich dieses Nationale primär über die ethnische Herkunft konsolidierte. Zloch zeigt die Varianz von Nationsentwürfen in der Zweiten Republik auf, die erst ausgehandelt werden mussten.180 Die unterschiedlichen Konzepte von der polnischen Nation und vom neuen Staatsgefüge und die jeweiligen Integrationskapazitäten bilden den ideologischen Überbau, vor dessen Hintergrund sich die Aushandlungsprozesse im Lokalen, im Stadtrat, abspielten. Der Bezug auf den Staat konnte zwar die Minderheiten integrieren, aber er war nicht gleichbedeutend mit nationaler Zu(sammen)gehörigkeit. Zugleich bot der Bezug auf die ethnisch verstandene polnische „Titularnation“ in multiethnischen Städten keine aussichtsreichen Chancen, Mehrheiten zu erlangen, denn jüdische Wählerinnen- und Wählerstimmen machten unter der urbanen Bevölkerung einen hohen Prozentsatz aus, in unserem Beispiel war die Hälfte der Wählerschaft jüdisch. In der nun demokratisierten Wahlordnung mussten die kandidierenden Gruppierungen dieser Konstellation Rechnung tragen. An den Stadtratswahlen lassen sich daher diese Prozesse der Aushandlung kollektiver Bezugsgrößen wie auch des Platzes der nationalen Minderheiten im polnischen Staatsgefüge sehr gut ablesen. In Tarnów startete der BBWR eine breit angelegte Kampagne, die in einer umfassenderen Pro-Regierungsliste alle Tarnowianerinnen und Tarnowianer für die Unterstützung des Piłsudski-Regimes vereinen sollte. Die Wahlaufrufe richteten sich stets an alle „obywatele“ (Staatsbürger), gleich welcher ethnischer oder nationaler Zugehörigkeit oder welcher Religion. Die Tarnower Wochenzeitung Hasło, die sich im linken Sanacja-Flügel positionierte, proklamierte: „Ein aufrechter polnischer Staatsbürger und ein aufrechter jüdischer 179 Walicki: Three Traditions, S. 2, zitiert nach Zloch: Polnischer Nationalismus, S. 21. 180 Zloch: Polnischer Nationalismus, S. 21.

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Staatsbürger kann am 10. Dezember nur die Liste Nr. 1 [Pro-Regierungsliste – AW] wählen.“181 Hier stand die Notion des Staatsbürgers im Vordergrund – die ethno-nationale Zuschreibung, solange es sich um einen „aufrechten“ Juden handelte, trat hinter dem Dienst am Staate zurück. Das Pro-Regierungslager stellte somit den Staat und die Unterstützung für Piłsudskis Regime über die ethnische oder religiöse Zugehörigkeit und bot ein integrierendes Modell für die Wählerinnen und Wähler, das eine starke Anziehungskraft entwickelte. Am Beispiel Tarnóws wird deutlich, wie dieses Konzept lokal an Triebkraft gewann und wie letztlich die „Regierten“ weit außerhalb des politischen Zentrums sich dieses aneigneten. Im Wahlkampf 1933/1934 verdichteten sich die ideologischen Prämissen des BBWR in zwei Begriffen: zum einen in „upaństwowienie“ [Ausrichtung auf den Staat] und zum anderen in „odpolitykowanie“ [Entpolitisierung]. Die Ausrichtung auf den Staat bedeutete vor allem eine staatliche Zentralisierung, die alle Bereiche des politischen, aber auch öffentlichen Lebens betraf. Dieser Slogan fand sich auch Ende der 1920er Jahre und Anfang der 1930er Jahre in den Schulen wieder, im Sinne einer Erziehung der Kinder zu guten Staatsbürgerinnen oder Staatsbürgern.182 Der Staat galt aus Sicht der Sanacja und des BBWR als Garant für das Gemeinwohl aller, weshalb auch alle Bürgerinnen und Bürger für dieses Gemeinwohl, sprich den Staat, arbeiten sollten. Die kommunalen Selbstverwaltungen sollten folgerichtig nicht als Organe dienen, in denen die (Zivil-) Gesellschaft sich autonom organisiert und in Konkurrenz zur Staatsmacht tritt, sondern vielmehr als Institution des Staates, der die Gesellschaft organisiert. Die „Selbstverwaltung“ sollte dazu dienen, den Bürgerinnen und Bürgern die Teilnahme und Teilhabe am Staat zu ermöglichen.183 Die Politikwissenschaftlerin Monika Sidor urteilte: „Nach Auffassung des Chefs des Innenministeriums  Bolesław  Pieracki (1895–1934) sollte die Selbstverwaltung breite soziale Massen praktisch in den Prozess der upaństwowienie hineinziehen, um zu garantieren, dass die gesellschaftlichen Bedürfnisse, die am wichtigsten und für die Bürger am dringendsten sind, bedient werden.“184 Die Tarnower Lokalzeitung Hasło brachte diese Linie im Wahlkampf deutlich auf den Punkt: „Die Regierung und die Selbstverwaltung können nicht unterschiedliche Wege einschlagen, sondern müssen einander für das Allgemeinwohl unterstützen und ergänzen. […] Wir wollen 181 „Prawy obywatel – Polak i prawy Żyd obywatel głosować może w dniu 10 grudnia jedynie na listę nr. 1“ [pro-Regierungsliste]. Smutne i oburzające. In: Hasło, 04.12.1933, S. 2. 182 Vgl. Kapitel 3 „Interaktionsraum Schule“. 183 Vgl. Sidor: Samorząd terytorialny, S. 280 ff. 184 Zit. nach ebd., S. 283.

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die Gesundung der Selbstverwaltung.“185 Das Schlagwort der „Gesundung“ des Staates, was Sanacja wörtlich bedeutet, wurde hier mit der Lokalebene verwoben: die Gesundung des Staates durch die Gesundung der Selbstverwaltung. Zugleich wurde der Begriff der „upaństwowienie“ von der Sanacja (zunächst) nicht mit einer polnisch-nationalen oder „Volkszugehörigkeit“ gleichgesetzt. Jeder Bürger und jede Bürgerin hatten die Aufgabe, dem Wohle des Staates zu dienen und wurde nach seinem bzw. ihrem Verdienst in dieser Hinsicht beurteilt. Gerade im Slogan der „upaństwowienie“ sah die Sanacja die integrierende Kraft des Staates für ethnische bzw. nationale Minderheiten. Die Kommunalpolitik sollte dabei  – besonders für die Minderheiten  – ein Vehikel darstellen, um gemeinsam dem Staat auf Lokalebene zu dienen. Marian Zyndram-Kościałkowski (1892–1946), von 1934 bis 1935 Innenminister, bezeichnete die Selbstverwaltung gar als „natürliches Terrain, auf dem sich verschiedene ethnische Gruppen treffen können, um im nüchternen Kompromiss gemeinsam für das Wohl ihrer Nächsten und das Wohl des Staates zu arbeiten“.186 Die Sanacja und der BBWR, der das „Parteilose“ bereits im Namen trug („Bezpartyjny“), stellten sich nicht als politische Parteien, sondern als quasi überpolitische Gruppierungen dar, einzig in der Sorge um das Wohlergehen – die Gesundung  – des Staates geeint. Das „Politische“ wurde dabei begrifflich diffamiert als Zänkerei und letztlich bedeutungsloser Zwist von kleinen Parteien, die nur auf ihren Nutzen und Machtzugewinn schielten, das große Ganze aber längst aus dem Blick verloren hätten. Der Kern demokratischer Auseinandersetzungen zwischen und innerhalb der Parteien wurde damit begrifflich entwertet. Die Sanacja-nahe Wochenzeitung Hasło wiederholte die Forderung nach „odpolitykowanie“: „Um diese Postulate zu verwirklichen, müssen wir zuallererst unser Terrain entpolitisieren. Weg mit der ungesunden Politikmacherei [politykierstwem], alle Kräfte müssen sich in der konkreten wirtschaftlichen Arbeit vereinen.“187 In Tarnów entstand damit die paradoxe Situation, dass zur ersten demokratischen Wahl zum Stadtrat 1933 die aussichtsreichste politische Gruppierung mit der Forderung nach „Entpolitisierung“ in den Wahlkampf zog. Mit den beiden Slogans „upaństwowienie“ und „odpolitykowanie“ stand der Staat und nicht die ethnisch definierte Nation an erster Stelle. Jüdinnen und Juden sollten, sofern sie die Werte der Sanacja vertraten, eine Teilhabe 185 Obywatele wyborcy. In: Hasło, 23.11.1933, S. 1. 186 Marian Zyndram-Kościałkowski, 1935, zit. nach Sidor: Samorząd terytorialny, S.  288, Fußnote 237. 187 Wybory do samorządu. In: Hasło, 03.11.1933, S. 1.

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am BBWR  – auch in den Stadträten  – bekommen. Denn das Konzept der „odpolitykowanie“ wandte sich zugleich gegen die Politisierung von Ethnizität und stellte damit den Konkurrenten im rechten Spektrum, vornehmlich der Endecja, ein anderes Verständnis der polnischen Gesellschaft entgegen. Die Endecja (eigentlich ND, Nationaldemokratie, nach der polnischen Aussprache des Akronyms meistens Endecja genannt) wurde Ende des 19.  Jahrhunderts ins Leben gerufen, ihr Anführer war Roman Dmowski. Die Bewegung kann als nationalistisch, konservativ und antisemitisch bezeichnet werden. Die SN (Stronnictow Narodowe/Nationale Partei) war seit 1928 der politische Arm der Endecja.188 In Tarnów allerdings gab es zu diesem Zeitpunkt noch keinen nennenswerten Ableger der SN. Das Angebot des BBWR versprach Teilhabe für alle, die den Staat unterstützten: Nicht die ethnische oder nationale Zugehörigkeit der Sanacja-Anhänger war ausschlaggebend, sondern vielmehr ihre Verdienste um den Staat und ihre Loyalität. Zumindest theoretisch wurde somit in beiden Entwürfen des BBWR der polnische Staat nicht allein mit der polnischen Nation gleichgesetzt. Reaktionen der Zionisten Nicht für alle Gruppierungen erwies sich das Konzept des BBWR als ein attraktives politisches Angebot. Die allgemeinen Zionisten, die sich um ihr Sprachrohr, den Tygodnik Żydowski, versammelten, sahen in der Aufforderung zur „Entpolitisierung“ ein Instrument, die Macht zu monopolisieren und keinen Pluralismus mehr zuzulassen. Die Zionisten warnten, dass Juden die Wahl bliebe, entweder die Sanacja zu unterstützen oder als ihre Gegner wahrgenommen zu werden. Raum, um spezifisch jüdische Interessen durchzusetzen, gäbe es dabei kaum.189 Ursprünglich wollten sich die Zionisten im Wahlkampf 1933 allerdings der Pro-Regierungsliste-Liste anschließen. Doch konnten sie sich vorab nicht mit den Orthodoxen, deren Anführer Zygmunt Silbiger war, über ihren Sitzanteil im künftigen Stadtrat einigen und verließen daraufhin die Wahlgruppierung. Der Streit mit den orthodoxen jüdischen Gruppierungen hatte die Zionisten letztlich die Repräsentanz in dem „lokalen Parlament“ gekostet. Danach stellten sie zwar keine eigene Liste zur Wahl auf, doch profilierten sie sich besonders in ihrer Zeitung als alleinige Fürsprecher spezifisch jüdischer Interessen, gerade im Kontrast zu den Juden des Pro-Regierungslagers. Der Konflikt zwischen dem Streben der Zionisten nach nationalen Rechten und den orthodoxen Juden, die ihre agency primär 188 Zur Rolle der Selbstverwaltung in der SN sowie die Heraushebung der Nation als Leitachse der SN in den Stadträten siehe Radomski: Samorząd terytorialny. 189 Walka o żydowskiego wiceprezydenta miasta. In: Tygodnik Żydowski, 26.01.1934, S. 1.

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als religiöse Minderheit innerhalb des polnischen Staatsgefüges sahen, wurde hier „im Kleinen“ stellvertretend in der Tarnower Öffentlichkeit ausgetragen. Die Aguda Isroel wurde 1912 als politische Partei gegründet, die zum Ziel hatte, die Interessen der orthodoxen Judenheiten zu vertreten und für religiöse Rechte, unter anderem religiöse Bildung einzutreten. Aguda-Anhänger engagierten sich in die Ausbildung der Jugend, gründeten eigene jüdische Privatschulen und Jugendorganisationen. Der Historiker Gershon Bacon charakterisiert sie daher zu Recht als Antwort traditioneller Orthodoxer auf die Herausforderungen in der Moderne.190 Auf Sejm-Ebene war die Aguda mit dem BBWR zusammengegangen. Die Partei sah in der Sanacja einen Garanten gegen den Aufstieg rechtsnationaler Kräfte der Nationaldemokratie. Dass der BBWR Wahllisten mit Aguda-Kandidaten aufstellte, schien das Wohlwollen von ersterem gegenüber der jüdischen Minderheit zu bestätigen.191 Keine der beiden Seiten, so Bacon, erreichte letzten Endes durch das Bündnis die erhofften Ziele, doch einte sie zu Beginn ein gewisser Optimismus hinsichtlich gemeinsamer Wertvorstellungen: „As a fairly conservative, businessmanbacked, ‚non-partisan‘ Jewish political movement, Aguda did not find it hard to identify in principle with a regime that preached non-partisan, competent government for the benefit of the whole country and made imprecise but frequent proclamations about a just Polish society.“192 In der Folge unterstrichen die Aguda-Parlamentarier wiederholt ihre Loyalität zum Staat. Die Zionisten im Sejm, allen voran Icchak Grünbaum (1879–1970), wärmten dagegen ihre Rhetorik gegen die „verräterische“ Aguda seither auf.193 Ein Widerhall dieser ideologisch-politischen Auseinandersetzung zwischen Zionisten und Aguda schlug sich im lokalpolitischen Kontext nieder. Besonderes Reizthema für die Tarnower Zionisten war, dass sich die Juden in den Dienst nichtjüdischer Parteien stellten und für deren Zwecke instrumentalisieren ließen. Dies käme einem Verrat an spezifisch jüdischen Interessen gleich, so der Tenor des Tygodnik Żydowski. In dieser Auseinandersetzung werden zugleich innerjüdische und in die Allgemeinheit zielende Aushandlungsprozesse um die Deutungshoheit des Jüdischseins an sich und um den Platz von Jüdinnen und Juden im Gefüge der Zweiten Republik deutlich. Eng damit verflochten ist die Frage, inwiefern Jüdinnen und Juden eine „nationale“ Minderheit seien, welche Rechte daraus abgeleitet werden 190 Bacon: Agudath Israel in Poland. 191 Vgl. Bacon: Agudath Israel in Interwar Poland, S.  31–32; vgl. auch: Tomaszewski: Niepodległa, S. 224–225. 192 Bacon: Agudath Israel in Poland, S. 431. 193 Ebd., S. 432–433.

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können und wie die Selbstzuschreibungen als „Jüdin“ bzw. „Jude“ aussahen. Sollte in einer zunehmend säkularen Welt das Jüdischsein als religiöse, ethnische, nationale oder ethno-kulturelle Zugehörigkeit definiert werden? Und was bedeutete dann jüdische Repräsentanz? Für die Zionisten sollte eine Repräsentanz in den Lokalgremien nationale Interessen „der Juden“ als Gruppe vertreten, die Orthodoxen hatte eine andere Agenda, da sie sich primär als religiöse Minderheit verstanden, während der Bund die jiddischsprachigen Arbeitsmenschen repräsentieren wollte. Die Distanzierung der Zionisten von den (orthodoxen) Juden aus der BBWR ging so weit, dass die Tarnower zionistische Presse antijüdische Schimpfwörter übernahm, die gewöhnlich Nichtjüdinnen und Nichtjuden benutzten. So wurden die BBWR-nahen Juden im Tygodnik Żydowski pejorativ und kleingeschrieben als „żydki“ bezeichnet oder auch „moszki“. Letzteres Wort kommt von dem Vornamen „Moshe“, im Jiddischen auch „Moyshe“, und ist eine äußerst abfällige Generalisierung von Juden. In den öffentlichen Diskurs fand es vermutlich durch die antisemitische Schrift von Julian Ursyn Niemcewicz Eingang. 1858 wurde seine Dystopie „Das Jahr 3333 oder ein unerhörter Traum“ veröffentlicht, in welcher er eine düstere Vision von einem durch Jüdinnen und Juden völlig dominierten Warschau zeigt, das nunmehr „Moszkopolis“ hieß. Die Zionisten Tarnóws griffen also auf ein Arsenal antijüdischer Stereotype zurück, die der Begriff „moszki“ durch sein Konnotationsfeld eröffnete und der hervorragend zur Haltung der Juden des Pro-Regierungslagers zu passen schien. Mit diesem Begriff wurden Eigenschaften evoziert wie Feigheit, Gerissenheit oder die Mentalität eines Händlers, der weder Ehre noch Stolz besitzt. All dies schrieben Zionisten auch in der gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung den Orthodoxen zu, die mit der „jüdischen Ehre“ feilschten, um im Gegenzug von der polnischen Regierung Zugeständnisse z.  B. für religiöse Schulen etc. zu erhalten. Diese Position der Tarnower Zionisten verdichtet sich beispielsweise im folgenden Zitat, in dem die pejorative Wendung „moszki“ substantiviert wurde. Der Neologismus „moszkowstwo“ sollte eine vermeintliche Haltung der Orthodoxen beschreiben, die mit Versatzstücken negativer Stereotype gefüllt wurde: mit der „jüdischen Ehre“ handelnder, sich nicht national-jüdisch verhaltender Juden. Dieses Feindbild diskreditierte im innerjüdischen Grabenkampf den Gegenspieler. Hinzu kam noch die pejorative Wendung „żydki“ anstatt „Żydzi“ für Juden. Uns tut die Rolle jener Juden (żydki) weh, die sich vor den Karren unterschiedlicher nichtjüdischer Parteien spannen lassen. Wir bekämpfen moszkowstwo, wo auch immer es uns begegnet. Für uns ist jeder Jude ein moszek, der sich vor den Karren dieser oder jener nichtjüdischen politischen Partei spannen

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lässt  – weil wir uns zum Prinzip einer eigenständigen nationalen jüdischen Politik bekennen.194

Die Schmähungen der Zionisten riefen Silbiger selbst, der sich als politischer Führer der orthodoxen Jüdinnen und Juden inszenierte, auf den Plan. In der Sanacja-nahen Zeitung Hasło kritisierte er die Partikularinteressen der Zionisten. Silbiger veröffentlichte im Hasło einen Aufruf „An die jüdischen Staatsbürger“ [Obywatele Żydzi] und übernahm damit die staatsbürgerliche Rhetorik der BBWR. Er prangerte die Abspaltung der Zionisten von der durch den BBWR initiierten Pro-Regierungswahlliste an. Hauptkritikpunkt war die Verblendung der Zionisten durch die „partyjniackie politykierstwo“ [parteiische Politikmacherei]. Dabei, so Silbiger, missachteten die Zionisten, wie sehr sich die Regierung um alle Bürger sorge [„troskliwość“]. Mit der Wortwahl stimmte Silbiger in das paternalistische Narrativ des Sanacja-Regimes gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern ein und verlieh den Tarnower Zionisten den Stempel selbstsüchtiger parteipolitischer Akteure, die sich aus der Gemeinschaft der, so wörtlich, „für den Staat Arbeitenden“ verabschiedeten.195 Silbiger fügte sich damit nahtlos in den Sanacja-Diskurs des „odpolitykowanie“ und „upaństwowienie“ ein. Inwiefern die orthodoxen Juden ihre „jüdischen und polnischen Ideale“ innerhalb des BBWR vereinen konnten, legte die Wochenzeitung Hasło gerade im Kontrast zu den Zionisten dar: Sie [die Zionisten – AW] schlagen mit Beleidigungen und Unterstellungen um sich, die gegen die Bürger und ihre Glaubensbrüder gerichtet sind. Und das nur deshalb, weil letztere ihre jüdischen und polnischen Ideale haben. Sie möchten nicht auf dem Pfad jener Zionisten laufen, die vergessen, dass sie in Polen leben, dass die Hauptpflicht jedes Bürgers das Staatswohl sein muss und dass dieses Staatswohl nur so verstanden werden kann wie die Piłsudski-Regierung es definiert.196

Getreu wiederholten die Redakteure des Hasło die Slogans des BBWR, jeder Bürger solle für das Staatswohl arbeiten, und was dieses sei, das bestimme Piłsudski selbst. Dabei könne das Polnischsein nur innerhalb der ProRegierungs-Reihen mit dem Jüdischsein vereint werden. Auf große Kritik stieß bei den Redakteuren dieser Sanacja-Wochenschrift die Mobilisierung jüdischer Ethnizität seitens der Zionisten. Ein Hasło-Redakteur verglich die Zionisten gar mit der Nationaldemokratie. Dass die Zionisten die Schmähung 194 Niepoprwani … In: Tygodnik Żydowski, 30.03.1934, S. 2. 195 Silbiger, Zygmunt: Obywatele Żydzi. In: Hasło, 04.12.1933, S. 2–3. 196 Głos prawdy żydowskiej. In: Hasło, 04.12.1933, S. 2–3, hier S. 2.

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„moszki“ überhaupt in den Mund nahmen, schien die These des Redakteurs nur zu bestätigen. Verächtlich nennen die Zionisten all jene Juden moszki, die Folgendes verstehen und zum Ausdruck bringen: Wenn man in Polen lebt, soll man auch ein Pole sein. Die Zionisten irren, wenn sie denken, dass die polnische Gesellschaft und Regierung sich für die Angelegenheiten und Kämpfe nicht interessieren, die unter den Mitbürgern, in diesem Fall unter den Juden, stattfinden. Seit einiger Zeit ahmen die Zionisten die Nationaldemokraten und Nationalsozialisten nach. Sie nennen sich „nationale Juden“ und sprechen damit allen Nichtzionisten ihr Jüdischsein ab.197

Dieses Zitat verweist auf eine innerjüdische Auseinandersetzung um die Deutungshoheit des Jüdischseins (und zugleich Polnischseins), zielt aber auch darauf ab, Jüdinnen und Juden im Gefüge des polnischen Staates zu positionieren. Im obigen Zitat inkludierte die Wendung, ein Pole zu sein, zumindest sprachlich durchaus auch Juden. Dabei blieb die Frage offen, inwiefern das staatsbürgerliche Ideal und die Realität der Gleichbehandlung voneinander divergierten. Aber zu diesem Zeitpunkt war dieses staatsbürgerliche Ideal zumindest innerhalb der BBWR eine gemeinsame Bezugsgröße. Doch die Zionisten kritisierten die angebliche „Entpolitisierung“ der Ethnizität. Denn auf diese Weise ignoriere man ein gravierendes Problem – die Diskriminierung der Jüdinnen und Juden – eben nur aus dem Grunde, weil sie jüdisch waren, egal welcher politischer Einstellung. Um dies zu verdeutlichen, schrieben die Zionisten im Tygodnik Żydowski: „Für die einen sind wir Feinde, die verhassten Juden, für die anderen sind wir schmutzige, unnütze Juden (żydki), und für die mit dem Antisemitismus ‚kämpfenden‘ Sozialisten aus der PPS sind wir bourgeoise Juden. So oder anders – tragisch ist unser Schicksal. Und viele Juden wollen das nicht verstehen.“198 Das Bürgerliche Lager Das Bürgerliche Lager war eine Wahlvereinigung von Immobilieneigentü­ mern, der sowohl Jüdinnen und Juden als auch Nichtjüdinnen/Nichtjuden angehörten und die auf eine ähnliche Wählerklientel wie das Pro-Regierungslager abzielte. Ihr Anführer Józef Manaczyński machte in diesem Wahlkampf noch die gemeinsamen Interessen der bürgerlichen Schicht stark, hinter denen nationale Zuschreibungen zurücktraten. Seine Wahlaufrufe, nota bene auch im Tygodnik Żydowski publiziert, richteten sich explizit an „das gesamte 197 Z kahalu tarnowskiego. In: Hasło, 24.01.1935, S. 3. 198 Niepoprawni … In: Tygodnik Żydowski, 30.03.1934, S. 2.

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Bürgertum, egal welchen Glaubens oder welcher Nationalität“.199 Manaczyński selbst stand dabei dem rechten politischen Spektrum nahe. Je nachdem, was gesamtpolitisch gerade opportun erschien, wandte er sich zunächst den Christdemokraten zu und gründete in den späten 1930er Jahren den Tarnower Ableger der SN (Stronnictwo Narodowe/Nationales Lager). Der Sanacja-nahe Hasło mahnte von daher bereits im Wahlkampf 1933 zur Vorsicht gegenüber Manaczyńskis Äußerungen. Ihnen würden nur unaufgeklärte Immobilieneigentümer aufsitzen, und auch die Jüdinnen und Juden dieser Verbindung müssten sich bald von diesem „Hitler-Programm“ abwenden.200 Mit dieser Wortwahl versuchte der Hasło Manaczyńskis Politik zu diskreditieren und ihn als Vertreter des rechtsnationalistischen Spektrums zu entlarven, in dem Juden keinen Platz hätten. Hasło dagegen warb dezidiert gegen den Nationalismus und für eine gemeinsame Politik der „Gesundung“, die Juden einschloss. Hierbei wird auch die Konfliktlinie zwischen dem lokalen Sanacja-Flügel, welchem die Zeitung Hasło nahestand, und Politikern wie Manaczyński deutlich, die sich noch weiter rechts positionierten. Die außenpolitische Lage, besonders die Situation in Deutschland, war im Dezember 1933 als Echo im lokalpolitischen Wahlkampf wahrnehmbar. Die Sanacja-nahe Zeitung Hasło diffamierte Manaczyńskis Politik als „Hitler-Programm“ und die Zionisten als Nachahmer der Nationalsozialisten. Die Redakteure der Zeitung hoben das staatsbürgerliche Ideal hervor, auf welchem sich lokalpolitisch der Wahlkampf der Sanacja-Anhänger in Tarnów stützte, und rückten alle Narrative des „Nationalen“ in die Nähe des nationalsozialistischen Deutschlands. Dies ist deswegen bemerkenswert, weil sich diese Rhetorik in den nächsten Jahren enorm wandeln sollte. Manaczyński machte bei den Lokalwahlen 1933 Wahlkampf mit und für die jüdische Minderheit. An dieser politischen Konstellation wird deutlich, dass die politische Rechte in einer ehemals galizischen Stadt wie Tarnów, deren Bevölkerung fast zur Hälfte jüdisch war, de  facto marginalisiert wurde und sich lange Zeit nicht konsolidieren konnte. Ihr Anführer Manaczyński war ein Opportunist, der – ohne ein klares politisches Programm zu haben – nach Verbündeten in unterschiedlichen Lagern suchte, 1933 aber auf die jüdischen Wählerinnen und Wähler angewiesen war, wenn er ein tatsächlich bürgerliches Bündnis ins Leben rufen wollte. Er selbst war zudem in einem christlichjüdischen Immobilienverein tätig. Doch im Laufe der 1930er Jahre sollte dieses rechte Spektrum aufgrund der sich verändernden gesamtgesellschaftlichen 199 Na falach polityki miejskiej (Wywiad z p. prof. K. Ciołkoszem i p. radcą Manaczyńskim). In: Tygodnik Żydowski, 09.02.1934, S. 1–2, hier S. 2. 200 Sprawy wyborcze. In: Hasło, 16.11.1933, S. 1–2.

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politischen Konstellationen stetig an Zulauf gewinnen, und in den nächsten Wahlkampf zum Stadtrat zog Manaczyński dann mit der SN und einer eigenen Liste sowie antijüdischen Parolen. PPS und Bund – ein integrierendes Modell für „Arbeitsmenschen“? Die sozialistische Liste vereinte die PPS und den Bund, die bereits 1929 zusammen im Wahlkampf um den Stadtrat angetreten waren, jedoch an der Dreiklassenwahlordnung scheiterten.201 Der Erfolg auf der Straße in den Jahren 1929–1933 verschaffte den beiden Parteien die nötige Selbstvergewisserung, um sich nun gemeinsam um öffentliche Ämter zu bewerben. Für die PPS, zu der Jüdinnen und Juden wie Nichtjüdinnen und Nichtjuden gehörten, sollte die ethnische Herkunft eine sekundäre Rolle spielen. Die entscheidende Trennlinie innerhalb der Bevölkerung war der soziale und ökonomische Stand. So betonte der langjährige PPS-Stadtrat Kasper Ciołkosz, der Vater von Adam Ciołkosz, in einem Interview für den Tygodnik Żydowski: „Die PPS hebt in ihren Anschauungen keinerlei religiösen oder nationalen Differenzen hervor.“202 1933 trat der politische Kampf gegen das autoritäre Regime und vor allem gegen die Beschneidung der parlamentarischen Demokratie in den Vordergrund der politischen Arbeit der PPS. Zum Feindbild wurden der BBWR und das Sanacja-Regime. Besonders nach dem Maiputsch 1926 wurde der Stadtrat von der PPS zunehmend als letzte Bastion der Demokratie wahrgenommen und auch als Konkurrenzinstitution zur autoritären Regierung genutzt.203 Zudem boykottierte die PPS die Sejm-Wahlen von 1935 und 1938, da der Sejm eine Regime-stützende Funktion übernahm. Dadurch stellten die Stadtparlamente ein wichtiges politisches Beteiligungs- und Handlungsfeld für die Partei dar. Dieser Kampf verstärkte in Tarnów einerseits die integrierende Kraft der sozialistischen Parteien PPS und Bund nach innen und andererseits die Divergenz zum Pro-Regierungslager. Zusammenschlüsse, die auf einer ethnonationalen Solidarität beruhten, waren in Tarnów in dieser Zeit kaum vorstellbar. Sozialisten und Sanacja-Anhänger, das Bürgerliche Lager, orthodoxe Juden, Bundisten und Zionisten hatten jeweils eine eigene Agenda, und die Konfliktlinien untereinander verliefen nicht entlang ethnischer, religiöser oder nationaler Grenzziehungen. 201 Siehe dazu Kapitel 2.2.2 „Die Autonomie der Stadträte in der moralischen Diktatur? Der Stadtrat von Tarnow nach dem Maiputsch 1926“, im Besonderen das Unterkapitel „Die Wahlen von 1929 oder der Erfolg des bürgerlichen christlich-jüdischen Wahlblocks“. 202 Na falach polityki miejskiej (Wywiad z p. prof. K. Ciołkoszem i p. radcą Manaczyńskim). In: Tygodnik Żydowski, 09.02.1934, S. 1–2, hier S. 1. 203 Vgl. dazu Sidor: Samorząd terytorialny, S. 77–78.

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In Tarnów war die Auseinandersetzung mit dem Sanacja-Regime auch dadurch angeheizt worden, dass hier der erste PPS-Sejm-Abgeordnete aus dem Tarnower Wahlkreis, Adam Ciołkosz, eine äußerst charismatische und beliebte Persönlichkeit, im September  1930 im Zuge der Inhaftierungen oppositioneller Sejm-Abgeordneter durch das Piłsudski-Regime ebenfalls verhaftet und in Brześć ohne Gerichtsurteil festgehalten wurde. Dies löste unter den PPS-Mitgliedern große Entrüstung aus.204 Sowohl der Vater Kasper als auch Adams Frau Lidia Ciołkosz engagierten sich in der Lokalpolitik und kämpften entschlossen gegen die Vormacht des Pro-Regierungslagers. Dass auch Juden in das Lager eintraten, kommentierte Kasper Ciołkosz als reinen Opportunismus. Juden träten einem Zusammenschluss bei, der zwar durch das Regime Piłsudskis an der Spitze der Macht stehe, doch ideologisch seien sie dieser Bewegung fern. Ciołkosz senior verwies dabei auch auf die europäische Bedrohungskulisse. Im Dezember 1933 waren die ersten Folgen von Hitlers Politik gegenüber Jüdinnen und Juden in Deutschland spürbar. Die besorgniserregende Lage im Nachbarland würde die polnischen Judenheiten stärker an das Sanacja-Regime binden. Doch diese Verbindung sei längerfristig nicht tragfähig. In einem am 9. Februar 1934 im Tygodnik Żydowski veröffentlichten Interview sagte Ciołkosz: Juden sind ideell nicht mit der Sanacja verbunden. Sie gehen mit der Sanacja zusammen, weil diese Konjunktur hat. Hitlers Machtübernahme in Deutschland hat bewirkt, dass Juden sich an die Sanacja angenähert haben, und Polen wurde zum Asylland für Flüchtlinge. Sobald Polen den Pakt mit Hitler unterschreibt, werden die Sympathien der Juden für die Sanacja schwinden.205

Das Interview wurde erst nach der Unterzeichnung des Nichtangriffspaktes zwischen Polen und Deutschland am 26. Januar 1934 veröffentlicht. Durch die Thematisierung der Situation in Deutschland wird erneut deutlich, dass die europäische Bedrohungskulisse sehr wohl bis in die polnische Lokalpolitik hineinwirkte. Hitlers Machtübernahme spielte bei Wahlentscheidungen von polnischen Jüdinnen und Juden eine Rolle – so schätzte es zumindest Ciołkosz ein. Im September desselben Jahres, 1934, kündigte die polnische Regierung den Minderheitenschutzvertrag auf, den polnische Vertreter im Zuge der Unterzeichnung des Versailler Vertrages 1919 unterschrieben hatten. Die Aufkündigung verursachte, dass die Lage nationaler Minderheiten im Land immer prekärer wurde und dass diese Rechtsunsicherheiten befürchten mussten. Mit 204 Vgl. Ciołkosz: Spojrzenie wstecz, S. 61–62. 205 Na falach polityki miejskiej (Wywiad z p.prof. K. Ciołkoszem i p. radcą Manaczyńskim). In: Tygodnik Żydowski, 09.02.1934, S. 1–2, hier S. 2.

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dieser Politik stellte die Sanacja die Position von Juden innerhalb des eigenen Lagers infrage – aller Rhetorik um das staatsbürgerliche Ideal zum Trotz. Dies entlarvte Kasper Ciołkosz in dem obigen Interview mit aller Deutlichkeit. Im Gegensatz zur PPS betonte der Bund sehr wohl die national-kulturelle Herkunft seiner Mitglieder und machte eine Politik für die jüdischen „Arbeitsmenschen“. Die Bund-Anführer in Warschau legten gesteigerten Wert auf die Arbeit in der Kommunalpolitik, da diese „‚näher zum durchschnittlichen Volksmenschen‘ war als der Sejm“.206 Zumal der Bund nach freien Wahlen kein Mandat im Sejm erhielt und, ebenso wie die PPS, die letzten Sejm-Wahlen von 1935 und 1938 boykottierte. Die Beteiligung an den Stadtparlamenten ermöglichte jedoch eine Teilhabe an der lokalen Politik und dadurch auch, wie Gertrud Pickhan es formulierte, „in Konkurrenz zur Staatsmacht zu treten“.207 Anführer des Bund, besonders in Warschau und Łódź, benannten als Ziele bundischer Handlungsfelder auf Kommunalebene vor allem die Sozialpolitik, die „Umschichtung des städtischen Budgets zugunsten der unteren Schichten“ sowie die Stärkung des Gesundheitssystems und des sozialen Wohnungsbaus.208 Dem Kampf um nationale Rechte wurde auch in der städtischen Politik Rechnung getragen: Bundisten sollten sich für die Anstellung jüdischer Arbeiterinnen und Arbeiter bei den städtischen Einrichtungen und für die Erhöhung der Subsidien für lokale TSYSHO-Schulen (Tsentrale yidishe shul organizatsye/Zentrale Schulorganisation) einsetzen sowie die Anerkennung der jiddischen Sprache in der Verwaltung einfordern.209 Bei den Wahlen von 1933/34 beteiligte sich der Bund an den Stadtratswahlen in 98  Ortschaften, konnte in 47  Orten Mandate erlangen und schloss in 32  Städten ein Wahlbündnis mit der PPS, darunter auch in Tarnów. Trotz der Betonung der nationalen und kulturellen Rechte waren die Bundisten streng antizionistisch ausgerichtet, sodass ein Wahlbündnis auf Lokalebene mit den Zionisten ideologisch nicht möglich schien und tatsächlich in Tarnów auch nie angestrebt wurde. Der wichtigste Verbündete des Bund war die PPS. *** Der erste demokratische Wahlkampf in Tarnów 1933 mobilisierte auf der lokalen Bühne politisch oder ökonomisch motivierte Zusammenschlüsse, hinter denen ethno-nationale oder religiöse Trennlinien zurücktraten. Die 206 Di geshikhte fun bund. Bd. 5. New York 1981, S. 22, zit. nach Pickhan: „Gegen den Strom“, S. 354. 207 Pickhan: „Gegen den Strom“, S. 354. 208 Ebd., S. 355. 209 Ebd., S. 356–357.

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einigende Klammer der Sanacja war allein die Unterstützung für das Piłsudski-Regime. Die PPS und Bund betonten ihr intergierendes Programm für „Arbeitsmenschen“ und gegen die Sanacja. Eine wie auch immer verstandene ethnisch-nationale Solidarität unter „den Juden“ oder den im ethnonationalen Sinne verstandenen „Polen“ schien zu dem Zeitpunkt weder möglich noch erwünscht. Um diese Dynamik nicht als „Sonderweg“ oder „Ausnahmeerscheinung“ von einer scheinbar „natürlichen“ Teilung der Wählerinnen und Wähler in ethnisch-nationale Interessengruppen zu verstehen, hilft der Bezug auf Brubakers Konzept der Ethnizität ohne Gruppen: Aufgrund von Ethnizität bilden sich nicht zwangsweise Entitäten mit gleichen (politischen) Interessen heraus.210 Ethnische Zugehörigkeit ist kein essenzialistisches Merkmal, sondern ein dynamisches Konzept, das erst dann an Bedeutung gewinnt, wenn es entsprechend aufgeladen wird. Ethnizität ist nicht per se ein politisches Argument, sondern sie wird zu einem solchen erst gemacht. Im Wahlkampf im Dezember 1933 war sie (noch) nicht so weit politisiert, dass sie zu ethnisch homogenen lokalpolitischen Allianzen führte. Im Wahlkampf 1939 dagegen traten fast nur ethnisch homogene Gruppierungen an. Dies wirft die Frage auf, wie es zu solch einer rasanten Verschiebung von Trennlinien innerhalb der Lokalpolitik kommen konnte. Binnen relativ kurzer Zeit wurde auf lokalpolitischer Bühne die ethnisch-nationale Polarisierung der Stadtbevölkerung wirkmächtig. Insofern ist die Auseinandersetzung um Zygmunt Silbiger im Jahr 1936 aus dieser Perspektive eine Bruchstelle, an deren Beispiel die Mechanismen der fortschreitenden ethnisch-nationalen Mobilisierung nachgezeichnet werden können. 2.3.2 Der Stadtrat nimmt die Arbeit auf (1934–1936) In den Lokal- und Regionalwahlen der Jahre 1933–1934 in Polen wurde der BBWR zur stärksten Kraft.211 Dabei wurden dem Regierungsblock massive Wahlmanipulationen vorgeworfen. In Tarnów erreichte das ProRegierungslager  23 von 40 Mandaten im Stadtrat.212 Das Lager bestand aus BBWR-Mitgliedern, zwei Priestern, einem Schulrektor und einem Militärangehörigen. Die neun jüdischen Stadträte der Pro-Regierungsliste waren Vertreter unterschiedlicher jüdisch-orthodoxer Gruppierungen sowie Anhänger der Aguda und jüdische Vertreter der freien Berufe.213 Mit neun von 23  Mandaten stellten Juden im Pro-Regierungslager einen Anteil von rund 40  %. Zeitzeugen kritisierten die Instabilität dieser heterogenen 210 211 212 213

Brubaker: Ethnizität, S. 20–21. Sidor: Samorząd terytorialny, S. 413. Potępa: Tarnów międzywojenny, S. 112. Siehe dazu Silbiger, Zygmunt: Obywatele Żydzi! In: Hasło, 04.12.1933, S.  2–3; Stadtratsprotokoll vom 12.05.1934, ANKr. Odd. T. 33/1 Akta miasta Tarnowa/ZMT 2.

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Verbindung bereits in den Jahren 1933/1934 vielfach.214 Tatsächlich war sie ein Sammelsurium, das durch Piłsudskis Autorität und die Unterstützung für seine „moralische Diktatur“ zusammengehalten wurde. In der Opposition versammelten sich 17 Stadträte im Sozialistischen Klub, die gemeinsame Fraktion der PPS (12 Mandate) und des Bund (5 Mandate). Auch in der PPS gab es jüdische und nichtjüdische Ratsmänner und eine Ratsfrau. Der Bund zog bei dieser Wahl zum ersten Mal in den Stadtrat von Tarnów ein. Dem Pro-Regierungslager mit der absoluten Mehrheit stand nun die sozialistische Opposition im Stadtrat gegenüber, da alle anderen Wahllisten keine Mandate erzielten. Eine so starke sozialistische Fraktion löste in der veröffentlichten Meinung Verwunderung aus.215 Doch ist dieses Wahlergebnis darauf zurückzuführen, dass 1933 zum ersten Mal in Tarnów demokratische Wahlen stattfanden und sich neue Interessengruppen tatsächlich politisch durchsetzen konnten. Zudem hatten die PPS und der Bund bereits in den Jahren zuvor auf der Straße die Massen mobilisiert. Wegen Verfahrensfehlern wurde die Wahl in drei Wahlbezirken im Februar 1934 wiederholt, was jedoch am Endergebnis nichts änderte.216 Am  5.  Juli 1934 verlas der Sozialistische Klub die gemeinsamen Ziele von PPS und Bund für die nächste Amtszeit. Zunächst übte die Opposition harsche Kritik an den Vorgängerstadträten, die zum großen Teil die Vertretenden der Arbeiterschicht ausgeschlossen hätten und mit ihrer bourgeoisen Politik gescheitert wären. Des Weiteren kritisierte sie das neue Gesetz zur Selbstverwaltung. Als konkrete Ziele nannte der Klub den Ausbau von Arbeiterkinderfürsorge, Kranken- und Altenfürsorge, Bildungsarbeit, die Stärkung der Sozialleistungen sowie den Kampf gegen Arbeits- und Obdachlosigkeit. Der Sozialistische Klub setzte sich entschieden für „das Wohl der Massen in Tarnów“ und gegen Nationalismus und Antisemitismus ein: Wir sind der tiefen Überzeugung, dass das Wohl einer Gemeinde nicht existiert, ja nicht existieren kann, ohne das Wohl und die Interessen breiter Bevölkerungsschichten zu berücksichtigen, welcher Religion oder Nationalität sie auch seien. […] Wir betonen das Recht der jüdischen Arbeiter auf Arbeit in den städtischen Betrieben, mit allen Mitteln werden wir uns allen Anzeichen von Nationalismus und Antisemitismus entgegenstellen.217

214 I posiedzenie rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 11.05.1934, S.  3; Na falach polityki miejskiej (Wywiad z p.  prof. K.  Ciołkoszem i p. radcą Manaczyńskim). In: Tygodnik Żydowski, 09.02.1934, S. 1–2. 215 Potępa: Przed Wojną, S. 143 ff. 216 Ebd., S. 145–146. 217 Deklaracja Klubu radnych socjalistycznych. ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT 2, S. 195–197.

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Des Weiteren verwiesen die Räte des Sozialistischen Klubs auf die divergierende Qualität der beiden so unterschiedlichen interethnischen Zusammenschlüsse im Stadtrat: Im Gegensatz zu der unredlichen und heuchlerischen Freundschaft der bürgerlichen Wahlbündnisse polnischer und jüdischer Gruppierungen haben die polnischen und jüdischen sozialistischen Stadträte einen gemeinsamen Klub gegründet, der solidarisch darum kämpfen wird, die ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der polnischen und jüdischen Bevölkerungsmassen zufriedenzustellen.218

Die Erklärung wurde von der Vorsitzenden des Sozialistischen Klubs, Lidia Ciołkosz (PPS), und ihrem Stellvertreter, David Batist (Bund), unterschrieben. Diesen polnisch-jüdischen Freundschaftsbund sahen die Sozialisten als einen echten solidarischen interethnischen Pakt an, während sie den interethnischen Zusammenschluss im bürgerlichen Lager als ein opportunes, gar „heuchlerisches“ Zweckbündnis kritisierten. Pro-Regierungsmehrheit und sozialistische Opposition – divergierende Vorstellungen von der Rolle des Stadtrats Mit dem Einzug des Regierungsblocks einerseits und der sozialistischen Opposition andererseits standen sich nicht nur zwei unterschiedliche politische Wertvorstellungen gegenüber, sondern auch gegensätzliche Konzeptionen davon, was der Stadtrat als Institution leisten sollte und konnte. Für den BBWR stellten die Stadträte eine Art Ausführungsorgan staatlicher Direktiven dar, die den einzelnen Bürger oder Bürgerin stärker an den Staat binden sollten. Die Stadträte waren Transmissionsriemen, auf denen Entscheidungen von oben in die Kommunalebene implementiert werden sollten.219 Im Gegensatz zum Pro-Regierungslager sah die sozialistische Opposition den Stadtrat nicht als verlängerten Arm der Regierung, sondern als Konkurrenzinstitution zur Staatsmacht. Seit Beginn der Zweiten Polnischen Republik kämpfte die PPS dafür, die Stadtparlamente zu autonomen, demokratischen Institutionen zu entwickeln. Da von 1921 bis 1933 die Rechtslage der Selbstverwaltungen uneinheitlich blieb, bot dieses Terrain ein wichtiges Diskussionsund Betätigungsfeld für die PPS. Gerade durch die Nähe zur Arbeiterschicht erlangte die Kommunalpolitik für diese Partei große Bedeutung. Mehrfach beschäftigte sich das Presseorgan der PPS, der Robotnik [Der Arbeiter], mit den 218 Ebd. 219 Zur Wahrnehmung des Stadtrats im Denken des BBWR siehe Sidor: Samorząd terytorialny, S. 278–332.

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Aufgaben und Funktionen, die der Stadtrat erfüllen sollte.220 Nach Mieczysław Niedziałkowski, PPS, stellte die Beteiligung an den Stadtparlamenten eine Art Einübung des Regierens im Kleinen für die Arbeiterklasse dar, da sie hier über wirtschaftliche, politische und kulturelle Belange auf Lokalebene entscheiden konnten.221 Die ideologischen und politischen Differenzen der Pro-Regierungsmehrheit und der sozialistischen Opposition, vor allem ihr so gegensätzliches Verhältnis zu Piłsudskis Regime, äußerten sich in fast jeder Sitzung des neu gewählten Stadtrats von Tarnów. Dabei ging es auch darum, inwiefern die Stadtparlamente „im Kleinen“ jene „Kompensationsfunktion“ für Interessengruppen leisten konnten, die sich in dem zunehmend autoritär geführten und den Parlamentarismus stark beschneidenden Sanacja-Regime nicht mehr artikulieren konnten. Auch das Gesetz zu den Stadträten von 1933, welches das Prinzip der „Mutmaßungen über eigene Kompetenzen“ in die Kommunalpolitik einführte, wie es der Rechtshistoriker Hubert Izdebski formulierte, sollte auf Lokalebene das Pro-Regierungslager stärken und der Opposition einen Riegel vorschieben.222 Ähnlich wie die Aprilverfassung von 1935 das Präsidialsystem stärkte, so gestand auch die lokalpolitische Neuordnung von 1933 dem städtischen Präsidium mehr Einflussmöglichkeiten zu und beschnitt die Rechte des Stadtrats. Das Präsidium konnte beispielsweise Beschlüsse des Stadtrats aufheben.223 Kritisiert wurde die ustawa scaleniowa von der Opposition auch dafür, eine „Personaldiktatur“ (dyktatura jednostki) einzuführen, und der Sanacja große Einwirkungsmöglichkeiten auf die „Selbstverwaltung“ zuzugestehen.224 Gleich zu Beginn der Legislaturperiode 1934 in Tarnów beschloss das Pro-Regierungslager ein Regelwerk, das die Befugnisse des Stadtrats zugunsten des (vom Regierungslager gewählten) Präsidiums beschränkte.225 In den Augen der Kritiker verwandelte sich der Stadtrat damit zu einem reinen „Abnickorgan“ des Stadtpräsidenten.226 Damit räumte das Pro-Regierungslager der sozialistischen Opposition im „Stadtparlament“ nur wenige Wirkungsmöglichkeiten ein. Sozialistischen Räten wurde bei Debatten das Wort entzogen oder sie wurden aus den Sitzungen ausgeschlossen.227

220 221 222 223 224 225

Ebd., S. 74–77. Vgl. Ebd., S. 77. Izdebski: Samorząd terytorialny w II Rzeczpospolitej. Część II, S. 48. Ebd., S. 46–49. Vgl. Sidor: Samorząd terytorialny, S. 318. Siehe Stadtratsprotokoll vom 12./13./17.09.1934, ANKr. Odd. T. 33/1: Akta Miasta Tarnowa/ ZMT 2. 226 Rada miejska czy raport miejski. In: Tygodnik Żydowski, 21.09.1934, S. 1–2. 227 Z. B. Stadtratsprotokoll vom 24.10.1934, ANKr. Odd. T. 33/1 Akta miasta Tarnowa/ZMT 2.

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Ungeachtet der Differenzen sahen beide Lager die Stadtparlamente als Raum für ein multiethnisches Regieren, das Menschen unterschiedlicher ethnischer Zuschreibungen auf der Grundlage gemeinsamer nachbarschaftlicher Interessen eint. Im Selbstverständnis sowohl des BBWR als auch der PPS sollten Jüdinnen und Juden sowie Nichtjüdinnen und Nichtjuden gemeinsam für das Gemeinwohl arbeiten. Die integrierende Haltung des BBWR, was die jüdischen Minderheiten in den Stadträten betraf, wurde bereits oben ausführlich dargestellt. Auch die PPS hatte in Bezug auf die nationalen Minderheiten den Wert der Stadträte bereits früh erkannt und diese als integrierende Einrichtungen verstanden, als Einübung eines multinationalen Miteinanders. Gerade in den konkreten gemeinsamen Zielen auf Lokalebene sah Adam Pragier, Mitglied des Zentralvorstands der PPS, die einigende Kraft der Stadträte.228 Pragiers Idealvorstellung kann für unser Beispiel wie folgt interpretiert werden: Hier konnten die Stadträte vor allem als Vertreterinnen und Vertreter der Arbeiterschichten Tarnóws agieren, bevor sie als Repräsentierende der Interessen einer ethnischen Gruppe handelten. Von jüdischen Stadträten, die ihre Repräsentationsfunktion vor allem über die Zugehörigkeit zum „jüdischen Volk“ definierten – so wie die Zionisten dies forderten –, hielten PPS-Vorsitzende nicht viel.229 Doch wie sahen diese Idealvorstellungen in der Praxis aus? Der erste Lackmustest: Wer ist ein Jude? Oder: Silbiger wird Vizepräsident Ob Silbiger ein „richtiger Jude“ sei, ob er ein moralischer Mensch sei, wessen Rückhalt er eigentlich noch genieße und ob Tarnów überhaupt einen zweiten Vizepräsidenten brauche – all diese Fragen schieden die Geister bereits in den ersten Sitzungen des neu gewählten Stadtrats, als es darum ging, das Präsidium zu wählen. Laut dem Gesetz zur Neuordnung der territorialen Selbstverwaltung der Zweiten Republik von 1933 konnten jeder Stadt mit mehr als 25 000 Einwohnerinnen und Einwohnern neben dem Präsidenten – in der Wortwahl des neuen Gesetzes nicht mehr „Bürgermeister“ – ein oder maximal zwei Vizepräsidenten vorstehen, die vom Stadtrat gewählt und von einer übergeordneten Instanz bestätigt werden mussten.230 Für Großstädte wie Warschau, Krakau, Łódź, Poznań, Lwów und Wilno gab es für die Anzahl der Vizepräsidenten gesonderte Regelungen.231 Da es in Tarnów tatsächlich eine ungeschriebene Tradition gab, dass  – wie seit 1906  – es einen nichtjüdischen Bürgermeister und einen jüdischen 228 Vgl. Sidor: Samorząd terytorialny, S. 78. 229 Nasza taktyka w samorządie. In: Robotnik, 28.05.1927, zit. nach Sidor: Samorząd terytorialny, S. 78–79. 230 Izdebski: Samorząd terytorialny w II Rzeczpospolitej. Część II, S. 49. 231 Siehe dazu ebd., S. 49; Sidor: Samorząd terytorialny, S. 297.

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Vizebürgermeister gab, beherrschte die Auseinandersetzung um das Amt auch die Frage, inwiefern die unterschiedlichen Gruppierungen im Stadtrat in Zeiten der „moralischen Diktatur“ dieser Tradition des ethnisch/religiös gemischten Bürgermeisterduos gerecht werden konnten oder wollten. Die Frage nach der Besetzung der begehrten Präsidentschaftsposten schien auch das Pro-Regierungslager zu spalten. Zugleich bestand auch die Frage, ob in der späten Sanacja-Zeit und im ersten demokratisch gewählten Stadtrat einem interethnischen Ausgleich in der Machtverteilung Rechnung getragen werden könne und solle. Als regelrechten „Kampf um einen jüdischen Vizepräsidenten“ betitelte der zionistische Tygodnik Żydowski diese Auseinandersetzung. In diesem Konflikt im Stadtrat wurde das noch im Wahlkampf vom BBWR propagierte integrative Konzept, alle Jüdinnen und Juden, die für das Wohl des Staates arbeiten, in den gestaltenden Prozess der „upaństwowienie“ einzubeziehen, auf die Probe gestellt. Die Zionisten sahen sich durchaus darin bestätigt, dass die Juden des Pro-Regierungslagers sich tatsächlich vor einen nichtjüdischen Karren hatten spannen lassen, der nun eine andere Richtung einschlug, als noch die Wahlversprechen vermuten ließen: „Vielleicht verstehen ja nun unsere moszki, dass sie nur für Wahlen etwas taugen.“232 In der Frage nach dem jüdischen Vizepräsidenten entlarvte ein anonymer Autor im Tygodnik Żydowski ironisch den Slogan der Entpolitisierung: Eine gemeinsame Liste – ohne religiösen Unterschied – alle arbeiten zusammen für das Wohl der Stadt, alle sind gehorsame Mitglieder des BBWR. Ist das nicht ein Paradies auf Erden? […] Heute, wo die städtische Wirtschaft „entpolitisiert“ wurde, wo die wirtschaftliche Zusammenarbeit aller Bürger, gleich welcher Religion oder Nationalität, für das Wohl der Stadt zum zentralen Slogan erhoben wurde – heute soll den Juden der Zutritt zum Amt des Vizepräsidenten verwehrt bleiben.233

Ganz anders bewertete die PPS die Frage nach ethnischer bzw. religiöser Herkunft des künftigen Vizepräsidenten. In einem Interview im Tygodnik Żydowski äußerte sich der PPS-Stadtrat Kasper Ciołkosz dazu wie folgt: Die PPS legt keinen Wert auf einen Verteilungsschlüssel für die Besetzung der Posten in der Stadtverwaltung, der sich nach der Nationalität der Kandidaten richtet. In ihrer Weltanschauung schreibt die PPS religiösen oder nationalen Differenzen keine Bedeutung zu. […] Ich habe nichts dagegen, dass Juden im Präsidium eine entsprechende Repräsentation erhalten – ob zur Aufrechterhaltung der Tradition oder um der jüdischen Bevölkerung einen Gefallen zu 232 Pozbyto się Żydów. In: Tygodnik Żydowski, 20.04.1934, S. 2. 233 Walka o żydowskiego wiceprezydenta miasta. In: Tygodnik Żydowski, 26.01.1934, S. 1.

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erweisen. Ich denke, es wäre eine Frage der Taktik und Dankbarkeit seitens der Sanacja, dass die jüdische Bevölkerung doch ihre Repräsentation in der städtischen Regierung bekommt.234

In der zentralen Frage, inwiefern Ethnizität für die Besetzung von Ämtern ausschlaggebend sein solle, äußerte sich Kasper Ciołkosz ambivalent. Einerseits gab er eine ideologisch mit der PPS konforme Antwort – es soll bei der Besetzung der Ämter keine Rolle spielen, wer jüdisch ist und wer nicht. Andererseits sollte der Tradition jüdischer Repräsentanz Rechnung getragen werden. Ciołkosz übte auf diese Weise Druck auf seinen politischen Kontrahenten, die Pro-Regierungsmehrheit, aus. Ebenfalls übte der Tygodnik Żydowski Druck auf das Sanacja-Lager im Stadtrat aus, indem es diesen Konflikt in eine breite Öffentlichkeit trug. Damit konnte sich die Zeitung wiederum als einziges Sprachrohr spezifisch jüdischer Interessen profilieren, da die Juden im Stadtrat unfähig wären, diese zu vertreten. „Die Tarnower Juden haben kein Vertrauen zu diesem Stadtrat – denn die moszki mit und ohne Schläfenlocken, die sich in den Stadtrat einschlichen, repräsentieren nicht die jüdische Bevölkerung von Tarnów.“235 Mit dieser Aussage machten die Zionisten aus dem Tygodnik Żydowski die Debatte um die Besetzung des Vizepräsidentenposten mit einem Juden zu einem Lackmustest für die Stellung von Juden in der (Lokal-) Politik. Der Sozialistische Klub (also PPS und Bund) hatte allerdings noch eine andere Agenda jenseits der Frage nach Ethnizität oder Religion. Die sozialistischen Räte sprachen sich gegen die Schaffung des Postens eines zweiten Vizepräsidenten aus. Ein einziger Vizepräsident sollte für eine Stadt der Größe Tarnóws genügen.236 Waren die Stadträte ehrenamtlich tätig, so wurden die Posten im Präsidium entlohnt und zum Teil mit Privilegien wie Dienstauto u. ä. ausgestattet. Das optionale Amt eines zweiten Vizepräsidenten würde den sanierungsbedürftigen Haushalt der Stadt empfindlich belasten. Um Kosten einzusparen und das Geld für soziale Fürsorge, Häuserbau und Arbeitsplatzschaffung sinnvoller zu nutzen, sprachen sich die Sozialisten daher gegen das Amt eines zweiten Vizepräsidenten aus. Nach zähen Verhandlungen darüber, ob Tarnów überhaupt einen zweiten Vizepräsidenten bräuchte, und wenn ja, wer für dieses Amt kandidieren sollte, entschloss sich das Pro-Regierungslager dafür, zwei nichtjüdische Kandidaten für die Ämter des Präsidenten und des ersten Vizepräsidenten und einen 234 Na falach polityki miejskiej (Wywiad z p. prof. K. Ciołkoszem i p. radcą Manaczyńskim). In: Tygodnik Żydowski, 09.02.1934, S. 1–2, hier S. 1. 235 Policzek czy kpiny. In: Tygodnik Żydowski, 20.04.1934, S. 1. 236 Dieses Argument wendet beispielsweise David Batist (Bund) ein, siehe Pierwsze Posiedzenie Rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 18.05.1934, S. 2–3,

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jüdischen Kandidaten für das Amt des zweiten Vizepräsidenten zu stellen. Damit wurde die seit 1906 geltende Tradition eines nichtjüdisch-jüdischen Bürgermeisterduos aufgeweicht, denn nun wurde einem Juden nur das Amt des zweiten (!) Vizepräsidenten eingeräumt, das notfalls wieder abgeschafft werden konnte. Dass der jüdische Kandidat ausgerechnet Zygmunt Silbiger war, erzeugte Entrüstung beim Tygodnik Żydowski. Spätestens seit seiner Anklage 1932 wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder als Vorsteher der jüdischen Gemeinde, wegen Vorteilsnahme im Amt und Vetternwirtschaft war Silbiger politisch wie persönlich diskreditiert.237 Die Redakteure des zionistisch gesinnten Tygodnik Żydowski sahen in der Aufstellung Silbigers einen faulen Kompromiss, der zugleich zum Taktieren des BBWR zu passen schien. Der BBWR mache ein scheinbares Zugeständnis an die jüdischen Räte seines Lagers. Doch zugleich besetze er ein optionales Amt, das notfalls abgeschafft werden kann, mit einem höchst umstrittenen Mann. Wegen seiner umstrittenen Stellung werde Silbiger keine eigenständigen Positionen durchsetzen können, da er auf die Gunst des Präsidenten in höchstem Maße angewiesen sei, so ein Redakteur des Tygodnik Żydowski. Es sei Antisemitismus, wenn man so einen Juden wie Silbiger zum Vizepräsidenten machte, denn die Juden Tarnóws misstrauten ihm offen.238 „Den Juden warf man die Reste zu und wollte, dass sie anbeißen, aber in Wirklichkeit hat man ihnen ins Gesicht gespuckt und man spottete über sie.“239 Der Topos, dass das ProRegierungslager die jüdischen Stadträte nur für die Wahl bräuchte, aber ansonsten über sie spottete, wurde im Tygodnik Żydowski als regelrechtes Muster der städtischen Politik dargestellt. So kommentiert ein Redakteur der Zeitung unmittelbar nach der Aufstellung Silbigers als Kandidaten für das Amt des zweiten Vizepräsidenten: „Man spuckt ihnen [den jüdischen Stadträten – AW] und allen Juden ins Gesicht, und sie tun so, als würde es regnen.“240 Denn die Redakteure der zionistischen Zeitung warfen den Orthodoxen vor, völlig ignorant gegenüber jüdischen Interessen zu sein und um jeden Preis der Parteidisziplin des Pro-Regierungslagers zu gehorchen. Im Mai 1934 wählte die Mehrheit des Pro-Regierungslagers Mieczysław Brodziński (1895–?) zum Präsidenten und Tadeusz Kołodziej (1898–1941) zum ersten Vizepräsidenten.241 Silbiger jedoch erhielt nicht die erforderliche absolute Mehrheit der Stimmen, obschon das Pro-Regierungslager, das ihn aufgestellt hatte, diese besaß. Damit zeigte sich, wie sehr Silbiger auch im eigenen 237 Akten der Staatsanwaltschaft Tarnów: ANKr. Odd. T.  33/97/PT  56/I DS 2512/33; ANKr. Odd. T. 33/97/PT 142/I Ds 803/38. 238 Policzek czy kpiny. In: Tygodnik Żydowski, 20.04.1934, S. 1. 239 Smutna rola. In: Tygodnik Żydowski, 29.03.1935, S. 1. 240 Policzek czy kpiny. In: Tygodnik Żydowski, 20.04.1934, S. 1. 241 Protokoll der Wahl vom 12.05.1934, ANKr. Odd. T. 33/1/Akta miejskie ZMT 1c.

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Lager umstritten war. Leider existieren keine Quellen zur Auseinandersetzung innerhalb des Pro-Regierungslagers. Die jüdischen Stadträte des BBWR waren über den Wahlausgang entsetzt.242 Noch während der Sitzung las einer von ihnen ein Schreiben der Staatsanwaltschaft vor, um zu beweisen, dass diese die Ermittlungen gegen Silbiger ergebnislos eingestellt hatte.243 Dennoch kam die notwendige absolute Mehrheit nicht zustande, und erst in der folgenden Sitzung wurde Silbiger schließlich zum zweiten Vizepräsidenten gewählt, obschon auch hier nicht das gesamte Pro-Regierungslager für ihn votierte.244 Nach der knappen Wahl Silbigers wurde dieser vom Wojewoden in Krakau zunächst nur für ein Jahr im Amt bestätigt, und nicht etwa für zehn Jahre wie seine Kollegen im Präsidium und wie es das Gesetz vorsah.245 Das Auslaufen dieser einjährigen Probezeit rief weitere Attacken der sozialistischen Opposition gegen Person und Amt hervor.246 Denn nach einem Jahr wurde Silbiger nicht abgesetzt, verblieb im Amt und seine Bezüge liefen weiter. Hierbei wurde die Willkür des Pro-Regierungslagers deutlich, wogegen sich die sozialistische Opposition sträubte.247 Nach dem ersten Amtsjahr wurde das Thema Silbiger wiederholt zu einem Lackmustest – einerseits auf der ethnischen Ebene, andererseits als Machtspiel zwischen sozialistischer Opposition und der Pro-Regierungsmehrheit.248 Zu unterschiedlichen Zeiten hatten die Auseinandersetzungen um Silbiger jeweils einen anderen Ausgang. Aus diesen Gründen ist gerade der Silbiger-Fall eine äußerst aufschlussreiche Fallstudie, wie sich in der Lokalpolitik ethnisch-motivierte Konflikte gestalteten – und sie verraten viel über die Komplexität politischer, wirtschaftlicher, ideologischer und gesellschaftlicher Interdependenzen sowie über machtpolitische Konflikte, um die es bei ethno-nationalen Aushandlungsprozessen immer auch geht. 242 243 244 245

Vgl. Pierwsze posiedzenie rady miejskiej w Tarnowie. In: Hasło, 17.05.1934, S. 1–2. Protokoll der Wahl vom 12.05.1934, ANKr. Odd. T. 33/1/Akta miejskie ZMT 1c. Protokoll der Wahl vom 28.05.1934, ANKr. Odd. T. 33/1/Akta miejskie ZMT 1c. Nowy zarząd miasta zatwierdzony. In: Tygodnik Żydowski, 29.06.1934, S. 4; zur Gesetzeslage siehe Izdebski: Samorząd terytorialny w II Rzeczpospolitej. Część II, S. 48. 246 Siehe dazu die Stadtratsprotokolle vom 01.08.1935 und vom 16.10.1935, ANKr. Odd. T. 33/1/ Akta miejskie ZMT 1a: Dopływy; vgl. auch die Berichterstattung: Zdekompletowane posiedzenie Rady miejskiej. Demonstracja radnych socjalistycznych przeciw wiceprezydentowi p. Drowi Silbigerowi. In: Tygodnik Żydowski, 18.10.1935, S. 1; Posiedzenie Rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 25.10.1935, S. 2. 247 Posiedzenie Rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 25.10.1935, S. 2. 248 Siehe dazu die Stadtratsprotokolle vom 01.08.1935 und vom 16.10.1935, ANKr. Odd. T. 33/1/ Akta miejskie ZMT 1a: Dopływy; vgl. auch die Berichterstattung: Zdekompletowane posiedzenie Rady miejskiej. Demonstracja radnych socjalistycznych przeciw wice­ prezydentowi p. Drowi Silbigerowi. In: Tygodnik Żydowski, 18.10.1935, S.  1; Posiedzenie Rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 25.10.1935, S. 2.

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Die „widerspenstige Linke“ und die „träge Rechte“ – die ersten Jahre des demokratisch gewählten Stadtrats Die beiden Gruppierungen, die sich ab 1934 im Tarnower Stadtrat gegenübersaßen, konnten unterschiedlicher nicht sein: rechts die Sanacja-Mehrheit, links die sozialistische Opposition. Zum ersten Mal war die Sitzordnung im Tarnower Stadtrat nach links und rechts aufgeteilt, wie die Lokalpresse bemerkte.249 Beide Lager vertraten jeweils unterschiedliche politische Wertvorstellungen, besaßen divergierende Auffassungen über die parlamentarische Demokratie und schließlich über die Funktion und Bedeutung des Stadtrats als Gremium. Da die Machtfülle des Stadtpräsidenten auf Kosten des Stadtrats ausgebaut wurde und die Sanacja-Fraktion die absolute Mehrheit innehatte, hatte die Opposition zunächst einen schweren Stand. In der Anfangsphase des Stadtrats, in der Zeit vom Beginn des Jahres 1934 bis Ende 1935, hatte die sozialistische Opposition kaum Wirkungsmöglichkeiten. Ihre Anträge wurden ohne Diskussion abgelehnt, den sozialistischen Räten wurde das Wort entzogen oder sie wurden teilweise auch aus den Sitzungen ausgeschlossen. Im Mai 1935 wurde dieses Verhältnis im Stadtrat von der Sanacja-nahen Zeitung Hasło wie folgt charakterisiert: „Die Sitzungen – Schreie und widerspenstige Auftritte der Linken, Trägheit und mangelnde Aufmerksamkeit bei der Rechten.“250 Die beiden politischen Lager, der Ableger des BBWR einerseits und der Sozialistische Klub andererseits, lieferten sich seit 1934 harsche Auseinandersetzungen, die sich vor allem um die Rechte der Arbeiter, die Lage der Einzelund Markthändler und der ärmsten Bevölkerungsschichten sowie um den sozialen Wohnungsbau drehten.251 Lidia Ciołkosz, Maurycy Hutter (beide PPS) und David Batist (Bund) waren hierbei die Wortführer. Erstere setzte sich wiederholt für höhere Löhne für Angestellte ein und gegen Entlassungen aus den städtischen Gas- und Elektrowerken.252 Gegen den Rauswurf von Familien aus Wohnhäusern protestierten PPS-Stadträte wiederholt, unter ihnen Karol Nowak, der die unsoziale Politik der Stadt als „łajdactwo“ (Niederträchtigkeit) bezeichnete.253 Daraufhin schloss ihn der Präsident von der Sitzung aus. 249 Pierwsze posiedzenie rady miejskiej w Tarnowie. In: Hasło, 17.05.1934, S. 1–2. 250 Bez obsłonek, niedole i bolączki miasta. In: Hasło, 31.05.1935, S. 1–2. 251 Stadtratsprotokoll vom 24.10.1934, ANKr. Odd. T.  33/1/ZMT  2; Z rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 26.10.1934, S. 2; Z miasta. In: Hasło, 25.10.1934, S. 3; Czy istnieje kryzys w zarządzie miejskim. In: Tygodnik Żydowski 11.10.1935, S. 1; Posiedzenie Rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski 25.10.1935, S. 2. 252 Stadtratsprotokoll 28.02.1935, ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT. Den Stadträten David Batist (Bund) und Lidia Ciołkosz (PPS) wurden daraufhin die Stimmen entzogen; Z rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 29.03.1935, S. 2–3. 253 Stadtratsprotokoll vom 01.08.1935, ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT 1a. „Łajdactwo“ kann sowohl die Haltung des Präsidiums – Niederträchtigkeit – meinen als auch die Akteure selbst (im Sinne von „Lumpenpack“).

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Das Präsidium machte die Opposition häufig auf diese Weise mundtot. Der Präsident der Stadt, der den Stadtratssitzungen vorsaß, ließ ohne Diskussionen abstimmen – bei Protesten des linken Lagers ermahnte er zunächst die sozialistischen Räte und ließ sie dann aus dem Sitzungssaal entfernen. Wiederholt wurde das Verhältnis des städtischen Präsidiums zu den Arbei­ tenden, die bei der Stadt beschäftigt waren, zum Streitfall. Der Sozialistische Klub forderte erneut, Juden Zugang zu Stellen, die von der Stadt ausgeschrie­ ben wurden, zu gewähren. Die Unterrepräsentierung von Jüdinnen und Juden in städtischen Betrieben schien auch in anderen Städten ein Dauerproblem zu sein.254 Des Weiteren kündigte die Stadt einer Reihe von Arbeitenden, ohne die Kündigungsfrist einzuhalten und ohne die vollen Sozial- bzw. Rentenbeiträge abgeführt zu haben. Arbeiterstreiks waren die Folge; schließlich klagten die entlassenen Arbeitenden 1934 gegen das städtische Präsidium Tarnóws. Sie wurden von dem Rechtsanwalt Dr. Alfred Agatstein vertreten. Dieser war selbst Mitglied der PPS, jüdischer Herkunft, arbeitete eng mit dem Sozialistischen Klub zusammen und errang für die PPS ein Stadtratsmandat bei den Wahlen 1939.255 Zudem war er ein enger Freund der Ciołkosz-Familie.256 Das Präsidium dagegen wurde vor Gericht von Dr. Zygmunt Silbiger vertreten.257 Letzterer wurde durch seine Einstellungen und Handlungen gegen Arbeitende zum Feindbild des Sozialistischen Klubs. Es verwundert daher auch nicht, dass beim wiederholten Auslaufen seiner auf ein Jahr befristeten Amtszeit der Sozialistische Klub die Streichung seiner Bezüge und die Aufhebung des Postens verlangte. Der Konflikt zwischen Sanacja-Lager und sozialistischer Opposition in Bezug auf die Arbeitenden brach einmal mehr in einer Sitzung im März 1935 aus, als der PPS-Stadtrat Ludwik Huppert forderte, dass mehr Juden in den städtischen Institutionen beschäftigt werden sollten.258 Dies wurde bereits zu Beginn dieser Fallstudie geschildert. Silbiger hatte sich damals abfällig über jüdische Arbeiter geäußert.259 Die aufgeheizte Atmosphäre zwischen den beiden Lagern eskalierte erneut, als das Präsidium den Text der Aprilverfassung von 1935 vorlas, die weitgehend auf Piłsudski zugeschnitten war und die Exekutive stärkte. Das Pro-Regierungslager setzte eine Erklärung auf, dass der Stadtrat von 254 Vgl. Wierzbieniec: Lwów, Przemyśl, and Rzeszów, S. 263. 255 ANKr. Odd. T. 33/1: Akta Miasta Tarnowa/ZMT 39 wybory: I 8 a–2/39. 256 Korrespondenz zwischen Agatstein und Ciołkosz aus dem Ciołkosz-Nachlass: AAN 365/ II/1 und AAN 365/III-2, S. 35. 257 Robotnicy miejscy skarżą Zarząd miejski. In: Tygodnik Żydowski, 16.11.1934, S. 3. 258 Stadtratsprotokoll vom 27.03.1935, ANKr. Odd. T.  33/1/ZMT 1a: Dopływy; ausführlicher Kommentar zur Sitzung: Z Rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 29.03.1935, S. 2–3. 259 Vgl. Beginn des Kapitels 2 „Lokalpolitik und die schrittweise Politisierung von Ethnizität“.

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kapitel 2

Tarnów dankbar für und voller Freude über die Verfassung sei. Da das ProRegierungslager Proteste der Opposition befürchtete, stellte einer der Räte einen Eilantrag, diese Erklärung ohne Diskussion abzustimmen. Der Antrag wurde von der BBWR-Mehrheit sofort angenommen, dagegen protestierte die Anführerin des Sozialistischen Klubs, Lidia Ciołkosz, denn zusammen mit ihrem Kollegen vom Bund, David Batist, wollte sie die Deklaration der Minderheiten vorlesen.260 Ungehört wurden die Protestierenden zur Ruhe gerufen und des Raumes verwiesen. Als sie sich weigerten, diesen zu verlassen, wurde die Sitzung vertagt. Der Sozialistische Klub verließ geschlossen den Raum mit dem „Czerwony sztandar“ [Rote Fahne] auf den Lippen, der Hymne der PPS.261 Das Pro-Regierungslager stimmte „Boże, coś Polskę“ [Herr, der Du Polen] an.262 Es bleibt zu bezweifeln, ob die jüdischen Räte des Pro-Regierungslagers in das patriotisch-katholische Lied ihres Lagers einstimmten, was weder durch das Sitzungsprotokoll noch durch die Berichterstattung in der Lokalpresse überliefert ist. Auch ist nicht bekannt, wenn dies auch wahrscheinlich ist, ob die Bundisten den „Czerwony sztandar“ mitsangen. Die polarisierte Politik der beiden sich gegenüberstehenden Lager verhinderte zwar eine auf ethnischer bzw. religiöser Grundlage basierende Solidarität, und der Gegensatz zwischen der Sanacja-Mehrheit und der sozialistischen Opposition stand lange im Vordergrund, doch konnten die nationalistischen Tendenzen, die immer stärker in der polnischen Politik Fuß fassten, nicht ausgespart bleiben. 1934 wurde der Minderheitenschutzvertrag vonseiten der polnischen Regierung aufgekündigt. In Tarnów wurde eine Manifestation aus diesem Anlass veranstaltet, unter anderem nahm 260 Die Deklaration der Minderheiten ist in den Quellen des Stadtrats nicht erhalten. 261 „Czerwony sztandar“, die „Rote Fahne“, wurde zur Hymne der PPS und 1937 offiziell in das PPS-Statut aufgenommen. Das Lied verfasste Bolesław Czerwieński 1882, die Melodie schrieb Jan Kozakiewicz. Es fußt auf dem 1877 von Paul Brousse in der Schweiz zum Jahrestag des Beginns der Pariser Kommune verfassten Lied „Le Drapeau Rouge“. Das polnische Lied wurde unter Arbeitenden sehr populär und während Streiks und Demonstrationen gesungen. Die deutsche Übersetzung verfasste Rosa Luxemburg. Zakrzewski: Sztandar i krew. 262 Stadtratsprotokoll vom 25.03.1935, ANKr. Odd. T.  33/1/Akta miejskie ZMT 1a: Dopływy. „Boże, coś Polskę“ ist ein katholisches, polnisch-patriotisches Lied, das Gott und Vaterland erhebt. Ursprünglich von Alojzy Feliński zur Musik von Jan N. P. Kraszewski im Jahr 1816 geschrieben, wurde es mehrmals umgedichtet und schließlich zum Lied der polnischen Unabhängigkeitsbewegung während der Teilungszeit. Das Lied sollte zur Nationalhymne nach der Unabhängigkeit Polens nach dem Ersten Weltkrieg avancieren, schließlich setzte sich aber „Noch ist Polen nicht verloren“ durch. Piotrowska: Polskie pieśni o funkcji hymnu narodowego, S. 157, 160.

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der örtliche BBWR daran teil, um seine Solidarität mit Außenminister Józef Beck (1894–1944) zu bezeugen.263 Im Tarnower Stadtrat standen die Diskriminierung von Jüdinnen und Juden und der Antisemitismus bereits auf der Agenda, wenn auch noch nicht in dem Ausmaß wie in den Folgejahren. Der Kampf explizit für die jüdischen Arbeitenden, die von der Stadt nicht angestellt wurden, die Anschuldigung, der Stadtrat sei antisemitisch sowie die beginnende Auseinandersetzung um die jüdischen Kleinhändler, die aus dem Stadtbild getilgt werden sollten, stehen beispielhaft für die Tendenz, dass auch in Tarnów Antisemitismus und ethnisch-kodierte Konflikte in der späten Sanacja-Zeit an Boden gewannen.264 Thematisiert wurden diese Probleme zwar, und dies im größeren Ausmaß als vor 1933, jedoch stand vor allem die Auseinandersetzung der beiden politischen Gruppen im Vordergrund. 2.3.3 Der Fall Silbiger 1936 – und der Antisemitismus in Polen Im März 1936 war es nicht das erste Mal, dass Zygmunt Szaja Silbiger Gegenstand hitziger Debatten im Stadtrat wurde. Der umstrittene zweite Vizepräsident, an dem sich viele Spannungen im lokalpolitischen und polnisch-jüdischen Geflecht entluden, wurde einmal mehr von der Opposition harsch angegriffen. Während der konfrontativen Auseinandersetzung um den Haushalt für das kommende Jahr hatte der oppositionelle Sozialistische Klub gefordert, die Bezüge Silbigers zu streichen und das Amt des zweiten Vizepräsidenten abzuschaffen.265 Die harschen und wiederholten Angriffe auf Silbiger monierte die jüdische Wochenzeitung Tygodnik Żydowski wie folgt: [Silbiger] ist der Sündenbock für alle Sünden und Fehler der Stadtverwaltung, für alle Krankheiten der Tarnower Wirtschaftslage haben die Sozialisten eine Medizin  – Silbiger zu entfernen. Die verheerende Obdachlosigkeit  – Silbiger muss gehen, dann haben wir auch mehr Geld, Baracken zu bauen. Der niedrige Lohn von Arbeitern – Silbiger muss gehen. Die Arbeiter beschweren sich über die Stadtverwaltung – Silbiger ist an allem schuld.266

263 Wielka manifestacja. In: Hasło, 27.09.1934, S. 1. 264 Zur Auseinandersetzung um die Kleinhändler siehe Kapitel 2.3.3 „Der Fall Silbiger 1936 – und der Antisemitismus in Polen“ sowie 2.3.4 „Nach dem Sturz Silbigers – neue Mehrheiten im Tarnower Stadtrat der späten Zweiten Republik“, hier im Besonderen das Unterkapitel „Debatten über Antisemitismus“. 265 Vgl. Protokolle des Stadtrats vom 26.03.1936 und 28.03.1936, Archiv des Kreismuseums Tarnów, MTH 843. 266 Budżet na radzie miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 06.04.1936, S. 6–7.

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kapitel 2

Nach hitzigen Debatten im Stadtrat267 legte schließlich der Sozialistische Klub in seiner Erklärung vom 26.03.1936 offen, dass alle seine Mitglieder geschlossen gegen den Haushalt stimmen würden.268 Erstens sei der Klub gegen die Erweiterung des Haushaltsdefizits der ohnehin schon verschuldeten Stadt. Zweitens berücksichtige das Budget nur unzureichend die Interessen der arbeitenden Bevölkerung. Drittens sei dieses Votum zugleich ein Misstrauensvotum gegenüber dem Präsidium.269 Über den zweiten Vizepräsidenten Zygmunt Silbiger hatte der Sozialistische Klub bereits häufig seinen Unmut geäußert. Die Animositäten zwischen den sozialistischen Vertretern der Arbeiterschichten und Silbigers wiederholtes Auftreten gegen Arbeiterinteressen verschärften die Fehde. Die vom Sozialistischen Klub öffentlich vorgebrachte Kritik stützte sich primär auf zwei Pfeiler: zum einen auf moralische und ethische Unzulänglichkeiten Silbigers. Spätestens seit seiner Anklage 1932 wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder war Silbiger politisch wie persönlich diskreditiert. Der Sozialistische Klub bewertete Silbiger als „moralisch disqualifiziert“.270 Zum anderen missbilligten die Sozialisten das als überflüssig erachtete Amt des zweiten Vizepräsidenten. Da Silbiger wegen seiner fragilen Stellung innerhalb des Pro-Regierungslagers 1934 nur auf ein Jahr vereidigt worden war, seine Bezüge aber auch 1936 weiter ausbezahlt wurden, verschärfte sich der Unmut der Sozialisten über die Unrechtmäßigkeit und Willkür, mit der das Pro-Regierungslager in Tarnów herrschte. Diese Argumente waren nicht neu und bereits häufig vorgebracht worden. Warum sie jedoch gerade 1936 an neuer Sprengkraft gewannen und sich zu einer regelrechten lokalpolitischen Krise mit Breitenwirkung auswuchsen, ist einerseits mit der Funktion dieses Konflikts innerhalb der lokalpolitischen Arena und andererseits mit seiner Verflechtung in gesamtgesellschaftliche Dynamiken zu erklären. Denn das Machtgefüge in der Zweiten Republik hatte sich 1936 bereits empfindlich verändert. Wohl wissend um die fragile Stellung Silbigers innerhalb des ProRegierungslagers (er besaß noch nie den Rückhalt der ganzen Fraktion) und 267 Vgl. Protokolle des Stadtrats vom 25.–28.03.1936, Archiv des Kreismuseums Tarnów, MTH  843; Z Rady Miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 27.03.1936, S.  3; Budżet na radzie miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 06.04.1936, S. 6–7. 268 Erklärung des Sozialistischen Klubs vom 26.03.1936, Archiv des Kreismuseums Tarnów, MTH 843. 269 Ebd. 270 Als „moralisch disqualifiziert“ bewertete in einer Erklärung vom Oktober 1935 der Sozialistische Klub den Vizepräsidenten Silbiger: „Klub socjalistyczny radnych miejskich dla zaznaczenia swego stanowiska wobec P. Dr. Silbigera moralnie zdyskwalifikowanego, postanowil na znak protestu nie jawić się na dzisiejszym posiedzeniu Rady Miejskiej.“ Stadtratsprotokoll vom 16.10.1935, ANKr. Odd. T. 33/1/Akta miejskie ZMT 1a: Dopływy.

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aus dem Impetus heraus, einen (weiteren) Keil in das Lager zu treiben und so eine weitere Zersplitterung zu erreichen, forderte der Sozialistische Klub während der Debatten um den Haushalt im März 1936 erneut, die Bezüge Silbigers und das Amt des zweiten Vizepräsidenten zu streichen – so gewann der Fall an Brisanz. Da Silbiger auch im eigenen Lager eine schwache Position besaß, forderte die Opposition Geheimwahlen über diesen Antrag in der Hoffnung, die Räte des Pro-Regierungslagers würden dann entgegen ihrer Parteidisziplin stimmen.271 Geheimwahlen, so vermutete die Lokalzeitung Hasło, die sich im linken Spektrum des Sanacja-Flügels positionierte, hätten im März 1936 womöglich die Mehrheit des Pro-Regierungslagers gesprengt.272 Der Streitfall Silbiger hätte zu einem Präzedenzfall werden können, bei dem ein Antrag des Sozialistischen Klubs mit den Stimmen einiger BBWRRäte hätte angenommen werden können. Damit wäre auch Stadtpräsident Brodziński in Bedrängnis geraten, da er keine geschlossene Mehrheit mehr hinter sich gewusst hätte. Um dies zu verhindern, schlug er sich auf die Seite Silbigers.273 Die Konsolidierung der Mehrheit war für den Stadtpräsidenten für sein politisches Überleben notwendig geworden, und die Attacken der sozialistischen Opposition auf den „Schwachpunkt“ Silbiger drohten diese Mehrheit zu sprengen. Des Weiteren hatte der Präsident bereits zuvor angekündigt, dass er – sollte Silbiger abgesetzt werden – das Amt des zweiten Vizepräsidenten nicht neu besetzen würde.274 Das hieße jedoch, dass kein Jude mehr im Präsidium vertreten wäre. Mit dieser Drohung, die den Forderungen der sozialistischen Opposition durchaus entsprach, hatte er sowohl die jüdischen Stadträte innerhalb seines Lagers als auch die jüdische Lokalpresse für den Erhalt des Amtes und damit auch für Silbiger einnehmen wollen. Denn für beide Gruppen  – sowohl für die jüdischen Stadträte des Pro-Regierungslagers als auch für den zionistisch gesinnten Tygodnik Żydowski – wäre ein ersatzloses Ausscheiden des einzigen jüdischen Vizepräsidenten ein Debakel gewesen und ein Zeichen für die Zurückdrängung von Juden aus wichtigen Positionen. In den nahe gelegenen Städten Przemyśl und Rzeszów wurden ab Mitte der 1930er Jahre Juden aus den Ämtern der Vizepräsidenten gedrängt.275 So war auch auf der lokalen Ebene der Machtkampf um zukünftige politische Entwicklungslinien 271 Vgl. Stadtratsprotokoll vom 26.03. und 28.03.1936, Archiv des Kreismuseums Tarnów, MTH 843. 272 Kłótnie w Radzieckim Klubie Pracy. In: Hasło, 17.04.1936, S. 3. 273 Vgl. Budżet na radzie miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 06.04.1936, S. 6–7. 274 Jeszcze o wiceprezydenturze żydowskiej. In: Tygodnik Żydowski, 31.05.1935, S. 1. 275 Vgl. dazu Wierzbieniec: Lwów, Przemyśl, and Rzeszów, S. 270.

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eng mit der Frage nach der Stellung von Jüdinnen und Juden verknüpft, die in Tarnów am Falle Silbigers stellvertretend ausgefochten wurde. Schon bald beschäftigte der Konflikt um Silbiger eine breitere lokale Öffentlichkeit. Die Wochenzeitung Głos Ziemi Tarnowskiej kritisierte, dass zu viele Juden Schlüsselstellungen in Tarnów besäßen.276 Der zionistisch gesinnte Tygodnik Żydowski inszenierte sich als alleiniger Vertreter spezifisch jüdischer Interessen. Bund und PPS brachten ihre Anhänger in Stellung. Auf der Erste-Mai-Demonstration 1936 erschienen Transparente mit der Aufschrift „Weg mit dem korrupten Vizepräsidenten“.277 Bei einer öffentlichen Sitzung des Stadtrats am 7. Mai 1936 wurde Silbiger von den Rängen ausgebuht, was wiederum einen Nachhall in der Lokalpresse fand.278 Schließlich wurde der Fall an eine höhere Instanz verwiesen. Die Stadträte und ihre Präsidien waren seit dem neuen Gesetz der territorialen Selbstverwaltung von 1933 den zuständigen Wojewoden untergeordnet.279 Letztere waren dafür zuständig, die Stadtpräsidenten im Amt zu bestätigen. Da Silbigers Amtszeit 1935 ausgelaufen war und nun die Opposition nochmals seinen Rücktritt forderte, verwies die Stadtverwaltung den Fall nach hitzigen Debatten im Frühjahr 1936 an das zuständige Wojewodschaftsamt in Krakau. Zugleich begann eine intensive Lobbyarbeit für und gegen Silbiger. Wie Hasło berichtete, entstanden dabei skurrile Situationen – einige Räte des Pro-Regierungslagers setzten sich beim Krakauer Wojewoden für Silbiger ein, während andere desselben Lagers für seine Absetzung waren. Der Streitfall hatte sich zu einer breiteren lokalpolitischen Krise ausgewachsen, bei der die Ethnizität des Betroffenen im Kontext der späten Zweiten Republik zu einem Politikum wurde. Der Antisemitismus in Polen 1936 – Der gesamtgesellschaftliche Kontext der Affäre Silbiger Zwischen März und Juni 1936 fand die Hochphase der Affäre Silbiger statt, doch sie wurde nicht in einem luftleeren Raum verhandelt. Die Zweite Republik der späten 1930er Jahre war bereits in einem Wandel begriffen, bei dem der Rechtsruck in Politik und Gesellschaft deutlich wurde und sich zunehmend verfestigte. Um den Bezugsrahmen zu verstehen, in dem die Affäre Silbiger lokal diskutiert wurde, ist es unerlässlich, den gesamtgesellschaftlichen Kontext zu skizzieren. Denn die Ratsmänner und -frau waren keine „abgeschlossene und 276 Zit. nach Z wydarzeń miejskich. In: Tygodnik Żydowski, 05.06.1936, S. 6. 277 Z miasta. In: Tygodnik Żydowski, 08.05.1936, S. 4. 278 Stadtratsprotokoll vom 07.05.1936, Archiv des Kreismuseums Tarnów, MTH 843; Z miasta. In: Tygodnik Żydowski, 15.05.1936, S. 2; Rada miejska. In: Hasło, 15.05.1936, S. 2. 279 Izdebski: Samorząd terytorialny w II Rzeczpospolitej. Część II, S. 46–50.

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autonome Handlungseinheit“, wie Hans Medick schrieb, sondern tief vernetzt in umfassendere Zusammenhänge der späten Zweiten Republik.280 Mitte der 1930er Jahre verdichteten sich politische Momente, die den Wandel der Zweiten Republik einleiteten. Oben erwähnt wurden bereits die Aufkündigung des Minderheitenschutzvertrages 1934 und der deutsch-polnische Nichtangriffspakt. Das Jahr 1935 erwies sich zudem als weiterer Einschnitt. Am 23. April 1935 trat die neue Verfassung in Kraft, die auf Piłsudskis Vorstellung von einem zentralistischen Staat mit starker Präsidialmacht zugeschnitten war. Der Staatspräsident war nunmehr vor „Gott und Geschichte“ verantwortlich, berief den Ministerpräsidenten, die höchsten zivilen und militärischen Funktionäre, ein Drittel des Senats und konnte den Sejm auflösen.281 Der Sejm wurde um mehr als die Hälfte der Sitze verkleinert und seine Macht stark beschnitten. Dem Präsidenten unterstanden die wichtigsten Staatsorgane, wie Parlament, Regierung und Streitkräfte.282 Der polnische Historiker Włodzimiez Borodziej schätzt die Wegmarke der Aprilverfassung wie folgt ein: „Die Diktatur hatte den rechtlichen Rahmen zurechtgerückt.“283 Doch am 12. Mai 1935 verstarb Józef Piłsudski. In großer Staatstrauer und mit überwiegend tiefer Betroffenheit verabschiedete die Bevölkerung Polens diesen Staatsmann und konsolidierte in den Bestattungszeremonien und -zügen sowie in der Öffentlichkeit den Kult um seine Person, der bereits zu seinen Lebzeiten geblüht hatte.284 Auch die jüdische Minderheit publizierte in ihrer Presse Nachrufe voller Ehrerbietung, in den Synagogen wurden Trauergottesdienste gefeiert.285 Piłsudski wurde in der zionistisch gesinnten polnischsprachigen Presse als „standhafter Ritter“,286 „Erbauer Polens“,287 als beinahe unsterblich dargestellt.288 Vor allem aber wurde sein Tod als Unglück für die Jüdinnen und Juden verstanden, da Piłsudski selbst großes Verständnis für die jüdische Minderheit gehabt habe.289 Auch der Tarnower Tygodnik Żydowski veröffentlichte eine Trauerausgabe, in der der Chefredakteur Abraham Chomet die gesamte erste Seite Piłsudskis Tod widmete und sich in das allgemeine heroisierende Trauernarrativ einreihte. In pathetischem Duktus schrieb er von 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289

Medick: Quo vadis Historische Anthropologie?, S. 87. Borodziej: Geschichte Polens, S. 182. Ebd., S. 182. Ebd., S. 182. Zum Piłsudski-Kult siehe Hein-Kircher: Der Piłsudski-Kult. Vgl. z.  B.  die  Berichterstattung der polnisch-sprachigen, zionistisch gesinnten Tageszeitung Nasz Przegląd, 13.05.–21.05.1935. Nasz Przegląd, 13.05.1935, S. 2. Nasz Przegląd, 16.05.1935, S. 17. Nasz Przegląd, 15.05.1935, S. 4. Ebd., S. 4.

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einem Ritter, der sich vor allem um die staatliche Unabhängigkeit Polens verdient gemacht habe: „Auch wir Juden verneigen uns vor dem großen Erbauer Polens und mit schmerzendem Herzen stehen wir an seinem Sarg.“290 Nach Piłsudskis Tod veränderten sich die politischen Konstellationen, da seine „moralische Diktatur“ auf der persönlichen Autorität dieses Staatsmannes, der offiziell kein Amt innehatte, beruhte. So konnte er divergierende Interessengruppen hinter sich vereinen. Mit dem Wegfall dieser politischen Säule entstand eine Leerstelle, um deren Ausfüllung unterschiedliche Flügel des Obristen-Regimes konkurrierten. Ein Riss ging durch das alte Piłsudski-Lager. Zunächst verweigerte der Präsident der Republik, Ignacy Mościcki, seinen Rücktritt zugunsten des amtierenden Premierministers Walery Sławek, einem engen Weggefährten Piłsudskis, Mitbegründer des BBWR im Jahre 1928 und dessen erster Vorsitzender sowie gestaltende Kraft hinter der Aprilverfassung von 1935. Im Machtkampf um Piłsudskis Nachfolge geriet Sławek zunehmend in Bedrängnis. Er versuchte die Prämissen der von ihm in erheblichem Maße mitgestalteten Verfassung umzusetzen, anstatt eine neue persönliche Führung zu etablieren.291 Doch er erlitt Niederlagen gegen den aufsteigenden General Edward Śmigły-Rydz (1886–1941) und seine Entourage, zu der unter anderem Adam Koc (1891–1969) und Eugeniusz Kwiatkowski gehörten. Letzterer war bis 1935 Direktor der Stickstofffabrik in Tarnów-Mościce gewesen. Obwohl Premierminister Sławek sich gegen die Bestätigung Eugeniusz Kwiatkowskis in der Regierung aussprach, setzte sich letzterer als Vizepremierminister durch. Sławek verlor auch die Führung des Polnischen Legionistenverban­ des, einer einflussreichen Organisation, die Piłsudski unterstützte, diesmal zugunsten von Adam Koc. Die Wahlen zum nun stark verkleinerten Sejm im September 1935 wurden erheblich boykottiert, und nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten nahm daran teil. Daraufhin löste Sławek im Oktober 1935 den BBWR auf und demissionierte im selben Monat als Premierminister. Seine Versuche, eine neue Gruppierung zu gründen, schlugen fehl, da in der Zwischenzeit Edward Śmigły-Rydz seine Machtstellung ausbauen konnte. Mit der Auflösung des BBWR und Sławeks Demission war das alte ObristenRegime zum Erliegen gekommen, um einem neuen Platz zu machen.292 Auch in der Lokalpolitik hinterließen Piłsudskis Tod und die Auflösung des BBWR ein Machtvakuum. Es entbrannte ein Machtkampf um nichts weniger als um die machtpolitische Nachfolge in der lokalpolitischen Arena. Das durch Piłsudskis Autorität und sein Sanacja-Regime zusammengehaltene 290 Chomet: Chylimy czoła. In: Tygodnik Żydowski, 17.05.1935, S. 1. 291 So zumindest einer seiner Vertrauten – Jędrzejewicz: W służbie idei, S. 213– 236. 292 Marcus: Social and Political History, S. 354–355.

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Pro-Regierungslager im Tarnower Stadtrat musste sich seit 1935 inneren Zerfallserscheinungen stellen. Denn der ohnehin lose Zusammenschluss verlor nun, seit der Auflösung des BBWR auf Landesebene, sein „politisches Rückgrat“.293 Das lokale Wochenblatt Hasło berichtete über „Sodom und Gomorra“ im Pro-Regierungslager.294 In einer internen Sitzung kritisierten zwei Stadträte offen den Präsidenten und entbanden sich selbst vom Fraktionszwang.295 Damit waren auch im lokalen Machtgefüge Risse aufgetreten und Mehrheitsbildungen mussten neu verhandelt werden. Der Fall Silbiger erwies sich in dieser Situation aus Sicht der Opposition als hervorragendes Vehikel für eine weitere Destabilisierung des Pro-Regierungslagers. Dies war erst jetzt, 1936, möglich geworden, nach den Zerfallserscheinungen des BBWR, der sein politisches Rückgrat in Warschau verloren hatte. General Edward Śmigły-Rydz, Weggefährte Piłsudskis, avancierte nach dessen Tod zum Generalinspekteur der polnischen Streitkräfte und erhielt 1936 den Titel „Marschall Polens“, der früher Piłsudski selbst gebührt hatte. Es gelang Śmigły-Rydz, seine Machtposition auf politischer Bühne auszubauen und Teile der ehemaligen Vertrauten Piłsudskis hinter sich zu vereinen, auch dank seiner Stellung an der Spitze der polnischen Streitkräfte. Śmigły-Rydz stieg rasch zu einem der wichtigsten Männer der Republik auf. Seine Machtposition tarierte er mit dem Präsidenten Mościcki aus und konnte sie bis Ende 1936 verfestigen.296 Śmigły-Rydz’ Aufstieg stand für die weitere Militarisierung der politischen Führung.297 Gemeinsam mit dem Militär Adam Koc baute er sukzessive ein neues Lager auf, das sich im Februar 1937 als OZN (Obóz Zjednoczenia Narodowego/Lager der Nationalen Vereinigung, auch OZON genannt) konsolidierte. Die Gründung des OZN war ein deutliches Zeichen des Rechtsrucks in der polnischen Politik und in den Teilen des ehemaligen Obristen-Lagers, die sich um Edward Śmigły-Rydz gruppierten.298 Die Macht des OZN stützte sich auf die Autorität von Śmigły-Rydz sowie Adam Koc und wurde von der führenden Riege der Militärs getragen. Ihnen gelang es, einen Teil der Sejm-Abgeordneten, der staatlichen Verwaltung sowie einige wichtige Nicht-Regierungsorganisationen in die Gruppierung miteinzubeziehen.299 Am 21. Februar 1937 stellte das OZN sein Programm vor. In diesem sind als Fundamente die Aprilverfassung und die Armee mit ihren Führern, 293 294 295 296 297 298 299

Posiedzenie Rady Miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 15.10.1937, S. 1–2. W radzieckim Klubie Pracy – Sodoma i Gomora. In: Hasło, 26.06.1936, S. 2–3. Ebd. Marcus: Social and Political History, S. 354–355. Vgl. ebd., S. 364. Borodziej: Geschichte Polens, S. 183. Jędrzejewicz: W służbie idei, S. 237.

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namentlich Śmigły-Rydz, benannt.300 In der Erklärung verwies das OZN auf die enge Verbindung zwischen der „polnischen Nation“ und der katholischen Kirche und konsolidierte somit das Bild des „Polak = Katholik“. Des Weiteren enthielt die Erklärung einige grundsätzliche Vorschläge zu Industrialisierung, Urbanisierung und Agrarreformen. Obwohl das OZN in der Erklärung von 1937 religiöse Toleranz sowie das staatliche Konzept einer gleichgestellten Bürgergesellschaft propagierte, wendete es sich im Punkt neun explizit den polnischjüdischen Beziehungen zu. Darin sprachen sich die Verfasser der Erklärung gegen gewalttätige Ausschreitungen aus, erachteten jedoch die „Selbstverteidigung“ der ethnischen Polen gegen Juden in kultureller und ökonomischer Hinsicht als notwendig und verständlich.301 Im rechten Spektrum bildete sich also neben der Nationaldemokratie aus einem Flügel des einstigen SanacjaZusammenschlusses ein Lager heraus, das ein nationalistisches Programm verfolgte. Die ethnisch-national verstandenen „Polen“ zielten als „Titularnation“ darauf ab, ihren Hegemonialanspruch gegen die ethnischen Minderheiten mit allen Mitteln durchzusetzen. Juden wurden dabei als Bedrohung wahrgenommen und attackiert. Wieweit sich das OZN von der Staatsidee Piłsudskis entfernt hatte, berichtete Janusz Jędrzejewicz (1885–1951), ein enger Vertrauter Piłsudskis der ersten Stunde. Er war im engeren Führungskreis des BBWR tätig und von 1931 bis 1934 Minister für Bildung und Religionsangelegenheiten.302 Koc persönlich stellte der ehemaligen Führungsriege der Sanacja im Februar 1937 das Programm des OZN vor, bei einem dieser Treffen war auch Jędrzejewicz dabei. Er berichtete in seinen Memoiren eindrucksvoll über die tiefe ideologische Spaltung des einstigen Sanacja-Lagers: Koc las die programmatische Erklärung des OZN vor und referierte darüber. Danach kommentierten alle Anwesenden [Mitglieder der Polnischen Militärorganisation  – POW303] die Erklärung und sprachen sich einheitlich gegen sie aus. Wir kritisierten insbesondere Punkt neun der Erklärung, der die Juden betraf. Ich kann mich an kein tragischeres Treffen erinnern. Wir waren alle Freunde, verbunden im gemeinsamen Kampf unter dem Banner Piłsudskis, dem wir so ergeben waren. Und nun stellt einer von uns, und zwar einer der 300 Deklaracja ideowo-polityczna Obozu Zjednoczenia Narodowego [1937]. o.  O.  Verlag Środkowy Wschód 19462, S. 9–10. 301 Ebd., S. 17–18. 302 Als Bildungsminister war Jędrzejewicz auch für die allgemeine Schulreform 1932 verantwortlich, vgl. Jędrzejewicz: W służbie idei, S. 23. 303 POW – Polska Organizacja Wojskowa – eine auf Initiative Piłsudskis bereits 1914 gegründete konspirative Militärgruppierung, die zum Ziel hatte, gegen die russische Teilungsmacht zu kämpfen. 1917 waren Piłsudski und Śmigły-Rydz die Anführer.

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führenden, Adam Koc, den man den „Edlen“ zu nennen pflegte, das Programm einer politischen Organisation vor, die in unserem Verständnis weit von den Grundsätzen entfernt ist, zu denen wir uns jahrelang bekannt hatten.304

Später, im Jahre 1938, sollten Vertreter des OZN 13 Thesen verkünden, durch welche Jüdinnen und Juden aus der Gruppierung ausgeschlossen wurden. Der seit Langem existierende Antagonismus zwischen Sanacja und Endecja, der die Zweite Republik in dem knappen Jahrzehnt von Piłsudskis autoritärer Herrschaft prägte, verwischte sich nach seinem Tod. Die Vorstellung von einer integrierenden Staatsideologie, die so oft wiederholte idea państwa, die divergierende Interessengruppen, aber auch Minderheiten durch die Loyalität zu einem Staat nach Piłsudskis Auffassung verband, wurde zunehmend von einer exkludierenden ethno-nationalen Ideologie verdrängt, die sich der Vorstellung der Endecja von einem Nationalstaat gefährlich näherte. Die politischen Umwälzungen nach Piłsudskis Tod 1935 leisteten einem immer aggressiver werdenden exklusiven Ethnonationalismus Vorschub, der auf allen Ebenen des Lebens spürbar wurde. Der Historiker Emanuel Melzer bezeichnete die Jahre 1935 bis 1939 deswegen als eine „distinct history of interwar Poland as well as in the history of the country’s Jewish community“.305 Obschon die neuere historische Forschung diese harte Zäsur aufweicht und auf antisemitische Kultur und Praktiken vor 1935 verweist, blieb in Tarnów das Jahr 1936 als Bruchstelle sehr präsent. Es wurde zu einem Verdichtungsmoment, in dem sich latente Konfliktlinien offen Bahn brachen. Ein Kommentar des zionistischen Tygodnik Żydowski vom März 1936, als die Affäre Silbiger gerade begann, manifestierte, wie sehr die Veränderungen im gesamtgesellschaftlichen Kontext im Lokalen wahrgenommen wurden: „In Tarnów bleibt die Endecja ohne Einfluss, und sie ist auch völlig überflüssig. Schließlich verwirklicht das Sanacja-Lager […] das Programm der Endecja – nur ist erstere salonfähig, macht dies in Handschuhen, ohne Schlagstöcke und Messer. […] Und das mithilfe einiger Juden.“306 Hier spiegeln sich jene Prozesse der Annäherung der einstigen Sanacja an die Positionen der Nationaldemokratie wider, die auch an der Spitze der Politik, in Warschau, vollführt wurden. Wie aber sollten die Tarnower Juden, die einst den BBWR und die Sanacja unterstützten, auf die Veränderungen reagieren? Die Redakteure des Tygodnik Żydowski sahen sich dahingehend bestätigt, dass die jüdischen Ratsmänner des Pro-Regierungslagers noch nie jüdische Interessen vertreten hätten. In der 304 Jędrzejewicz: W służbie idei, S. 237; vgl. auch Heller: On the Edge of Destruction, S. 93. 305 Melzer: Antisemitism, S. 126. 306 Przed nominacją do nowego zarządu kahalnego. In: Tygodnik Żydowski, 13.03.1936, S. 1.

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politischen Situation im Jahre 1936, so die zionistische Wochenzeitung, wiege ihre Passivität umso schwerer, denn damit trügen sie die Rechtswendung ihrer Partei mit. Der Tygodnik Żydowski prangerte an, dass die Auseinandersetzung um Silbiger dazu diene, Juden aus öffentlichen Ämtern heraus zu drängen. Juden und Jüdinnen wurden zwar nicht mit „Schlagstöcken und Messern“ bedroht, aber aus verantwortlichen Positionen verdrängt. Dazu war nicht einmal die Nationaldemokratie nötig, denn das Pro-Regierungslager hatte begonnen, die Ideen vom nationalisierenden Staat umzusetzen. „In Handschuhen“, denn niemand im Stadtrat sprach offen aus, dass Silbiger als Jude entpflichtet werden sollte. Es gab ja auch genug andere Gründe, ihn abzusetzen – doch diese Gründe gab es bereits vor 1936, sie wurden aber erst jetzt wirksam, um den letzten Juden aus dem Präsidium zu drängen. Neben der politischen Dimension der Causa Silbiger, die das Konfliktpotenzial zwischen dem Pro-Regierungslager einerseits und dem Sozialistischen Klub andererseits steigerte, und neben der persönlichen Ebene der Integrität des vermeintlich korrupten Politikers wurde der Streitfall von einer ethnischen Dimension überlagert: Das Jüdischsein des infrage stehenden Politikers und damit die Stellung und die Rechte der Jüdinnen und Juden in Tarnów und in der Zweiten Republik im Allgemeinen gaben diesem Konflikt eine Sprengkraft, die von der sozialistischen Opposition im März 1936 vermutlich nicht in dem Maße intendiert war. Alles begann als personengebundener Streit um Silbiger und entwickelte sich dann zum politischen Spielball zwischen Pro-Regierungslager und Sozialistischem Klub. Auf einer anderen Ebene ging es zugleich um politische Durchsetzungskraft, nachdem die Piłsudski-Mehrheit nach dessen Tod ins Wanken geraten war. Doch in der veränderten Großwetterlage bezog der Fall seine eigentliche Sprengkraft aus dem Jüdischsein des Betroffenen, da an ihm stellvertretend in der Lokalpolitik die Stellung der Jüdinnen und Juden in der Post-Piłsudski-Ära der Zweiten Republik in einer zunehmend antisemitisch aufgeladenen gesellschaftlichen Atmosphäre ausgehandelt wurde. Die Exklusion der jüdischen Minderheit wurde seit dem Tod Piłsudskis immer weiter forciert  – sowohl auf politischer als auch wirtschaftlicher, kultureller und gesellschaftlicher Ebene. Viele Momente dieses Prozesses verdichteten sich gerade im Jahr 1936, und die Auseinandersetzung um den Verbleib des letzten Juden im Präsidium einer mittelgroßen Stadt muss vor diesem Hintergrund des wachsenden Antisemitismus  – nicht nur auf politischer Bühne, sondern gerade auch im Alltag in ganz Polen – betrachtet werden. Diese breitere Einbettung ist für den Streitfall Silbiger fundamental, denn der Stadtrat und die Tarnower Öffentlichkeit waren in die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen und Zusammenhänge eng eingebunden. Im Februar und März

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1936, als in Tarnów der Stadtrat den Fall Silbiger diskutierte, beschäftigte sich der polnische Sejm mit der Lesung des Gesetzesentwurfs zum Schächtverbot. Die Sejm-Abgeordnete Janina Prystor (1881–1975), Frau von Aleksander Prystor (1874–1941), einem ehemaligen hochrangigen Mitglied des Obristen-Regimes, unterbreitete einen Gesetzesvorschlag zum Verbot des rituellen Schächtens. Das Verbot wurde mit dem Tierschutz begründet, wandte sich jedoch letztlich gegen die jüdische Minderheit. Das Gesetz trat in abgemilderter Form ab 1. Januar 1937 in Kraft und minimierte quantitativ die rituelle Schächtung nach Anteil der jüdischen (und muslimischen) Minderheiten der jeweiligen Regionen.307 Das Schächtverbot wurde von Historikerinnen und Historikern unterschiedlich interpretiert. Joseph Marcus sah den Gesetzesvorschlag als Instrument im Machtkampf um Piłsudskis Nachfolge, um das alte SanacjaLager mit einem höchst umstrittenen Gesetzesentwurf zu bedrängen und eher rechts-konservative politische Entwicklungstendenzen durchzusetzen.308 Nach Celia Heller zielte das Schächtverbot darauf ab, die jüdische Minderheit aus der Fleischverarbeitungsindustrie zu drängen und beförderte somit die ökonomische Ausgrenzung von Jüdinnen und Juden in der späten Zweiten Republik.309 Der antisemitische Trend setzte sich in den Folgejahren auch in anderen Bereichen fort und entzog vielen jüdischen Familien die Existenzgrundlage. Die Debatte um das Schächtverbot wies zudem stark judenfeindliche Züge auf. Der Priester Stanisław Trzeciak (1873–1944) publizierte bereits seit 1935 in einem hoch antisemitischen Ton ausgiebig zum Thema, was wiederum Antworten seitens polnischer Rabbiner hervorrief.310 Der Historiker Jerzy Tomaszewski machte zudem darauf aufmerksam, dass das Gesetz letztlich der Landwirtschaft geschadet hätte, da es einen Teil von Fleischabnehmern aus dem Markt ausgeschlossen hätte. Deswegen war das Landwirtschaftsministerium, das mit der Umsetzung betraut wurde, letztlich an der Abmilderung bzw. gar Umgehung des Gesetzes interessiert.311 In dieser Auseinandersetzung spiegelte sich das Verhältnis der Zweiten Republik zu seiner jüdischen Minderheit. Es wurde ein Gesetz beschlossen, das ökonomisch nicht sinnvoll war, scheinbar dem Tierschutz verpflichtet war, sich jedoch vor allem gegen die jüdische Minderheit richtete und in einem stark judenfeindlichen Diskurs debattiert wurde.

307 308 309 310 311

Marcus: Social and Political History, S. 357. Ebd., S. 357. Vgl. dazu Heller: On the Edge of Destruction, S. 107. Vgl. dazu Modras: The Catholic Church, S. 234–238. Tomaszewski: Niepodległa, S. 194–195.

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Die Schriften des oben erwähnten Priesters Stanisław Trzeciak bezeugen die anwachsende öffentlich geäußerte Judenfeindschaft in der katholischen Kirche. Das Jahr 1936 erscheint auch in diesem Zusammenhang als Verdichtungsmoment, in dem sich judenfeindliche Diskurse manifestierten. Am  29.  Februar 1936 zirkulierte der Hirtenbrief des polnischen Kardinals August Hlond (1881–1948), der Juden pauschal als unmoralisch diffamierte. Juden hätten einen schlechten Einfluss auf die polnische Gesellschaft, im Besonderen aber auf die Jugend, sie seien verantwortlich für die Verbreitung von Pornografie und Schund, seien von Natur aus Betrüger und Wucherer und insgesamt schädlich für Polen. Hlond befürwortete den ökonomischen Boykott jüdischer Geschäfte, verbot jedoch jedwede Gewalt gegen Juden oder ihren Besitz. Die jiddischsprachige Zeitung Haynt kommentierte, einen solchen judenfeindlichen Pastorenbrief der höchsten Autorität der katholischen Kirche in Polen hätten sich die Verfasser vor einigen hundert Jahren vorstellen können, nicht aber heute.312 Für die Soziologin Celia Heller zeigt der Hirtenbrief vom Februar 1936 vor allem, wie weit die gesamte polnische Gesellschaft bereits den antisemitischen Pfad eingeschlagen hatte. Denn Hlond galt bislang als gemäßigter Vertreter innerhalb der katholischen Kirche, anders als der extreme Priester Stanisław Trzeciak.313 Auch in Tarnów zeigte sich dieser Wandel 1936 in der katholischen Presse. Die Zeitung der Tarnower Diözese Nasza Sprawa [Unsere Sache] verlor ihren bisherigen gemäßigten Chefredakteur Józef Chrząszcz, einen Priester, der sich vor allem in der Jugend- und Bildungsarbeit verdient gemacht und der von 1930–1932 im Tarnower kommissarischen Stadtrat ein Mandat innehatte.314 Als er überraschenderweise 1935 verstarb, trat im Dezember 1935 der Priester Józef Paciorek seine Nachfolge an. Das Blatt tendierte seit 1936 zu extrem judenfeindlicher, anti-PPS- und antikommunistischer Hetze. Im August druckte das Blatt einen Artikel des Priesters Stanisław Trzeciak ab, der die „Entjudung“ des Devotionalienhandels forderte.315 Das Lokalblatt reihte sich in die judenfeindliche Redaktionslinie des Mały Dziennik [Kleines Tagblatt] ein, einer zwischen 1935 und 1939 erscheinenden überregional rezipierten katholischen Zeitschrift. In der Berichterstattung des Tarnower Blattes forderten die Autoren, das Schächtverbot durchzusetzen, den ökonomischen Boykott jüdischer Geschäfte, die „Entjudung“ der Städte und des Kleinhandels

312 313 314 315

Vgl. dazu Modras: The Catholic Church, S. 345–347. Heller: On the Edge of Destruction, S. 110–114. ANKr. Odd. T. 33/1: Akta miasta Tarnowa/ZTM 2a; Krużel: „Nasza Sprawa“, S. 41–43. Odżydzić wytwórczość i sprzedaż dewocjonaliów. In: Nasza Sprawa, 30.08.1936, S. 478.

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sowie die Auswanderung der Juden aus Polen.316 Sie propagierte bewusst das Bild der żydokomuna, die eine Gefahr für die Polen darstellen würde.317 Die Auflage von Nasza Sprawa wuchs stetig, 1933 lag sie bei 5000 Exemplaren, 1935 bei 9000 und 1939 bereits bei 12 000 Exemplaren.318 Besonders scharf kämpfte Maciej Suwada gegen Juden, Kommunisten und Sozialisten. Er selbst stammte aus einer sehr religiösen katholischen Familie und war zugleich Polnischlehrer am II.  Hetman-Jan-Tarnowski Gymnasium in Tarnów, wodurch er auch als Multiplikator innerhalb der Jugend fungierte.319 Seine Einstellungen fasste er selbst im folgenden Satz im Mai 1936 zusammen: Juden „deformieren und vergiften unsere polnische, katholische Seele und Kultur“.320 Zur gleichen Zeit erreichte die Auseinandersetzung um Silbiger ihren Höhepunkt. Der Marktplatz von Tarnów, in dessen Mitte das Rathaus stand, wurde zu einem realen und symbolischen Ort der Auseinandersetzung um den Platz von Jüdinnen und Juden in Tarnów.321 Vehement verlangte die Tarnower katholische Zeitschrift Nasza Sprawa, den Kleinhandel und die Marktstände zu „entjuden“. In den hier erschienenen Artikeln feierten die Redakteure mehrmals „Erfolge“ der polnischen Nichtjuden, die auf den Märkten zunehmend Juden verdrängten. Als ich neulich eine unserer Kreisstädte am Markttag besuchte, standen die Verkaufsstände am Ringplatz dicht gedrängt und Gruppen von Käufern strömten zum Platz. Als ich genauer hinblickte, sah ich etwas völlig Ungewöhnliches. Von den rund 80 Ständen gehörten ungefähr 15 polnischen Katholiken. Hinter den Ständen sah ich tatsächlich junge Bauern, die aus den umliegenden Dörfern kamen. Wahrlich war dieser Anblick bis Ende 1935 in unserer Gegend kaum anzutreffen. Ich war erstaunt, dass in dieser verjudeten Stadt polnische Verkaufsstände am Markt erscheinen.322

Die traditionelle Mittlerposition wurde Juden streitig gemacht. Der Kleinhandel wurde in diesem Artikel als lukrative Betätigung dargestellt, durch welche Juden  – so die antisemitischen Denkmuster  – sich mit Wucherpreisen an den eigentlich hart arbeitenden, den Boden beackernden Bauern bereicherten. Nun sollten Juden aus dem Kleinhandel verdrängt werden und 316 Nasza Sprawa, 08.03.1936, 30.08.1936, 01.11.1936, 06.12.1936, 20.12.1936, 21.02.1937, 28.02.1937, 03.10.1937, 28.11.1937. 317 Nasza Sprawa, 06.12.1936, 20.12.1936; Nasza Sprawa: Kalendarz na rok 1938. 318 Krużel: „Nasza Sprawa“, S. 38. 319 Ebd., S. 47, S. 91–104. 320 M.S. [Maciej Suwada]: Nasz stosunek do żydów (sic!). In: Nasza Sprawa, 10.05.1936, S. 258– 259, hier S. 259. 321 In dem Rathaus fanden zu dieser Zeit jedoch nicht mehr die Stadtratssitzungen statt. 322 Chłop za ladą straganu. In: Nasza Sprawa, 21.02.1937, S. 102.

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stattdessen ethnische Polen diese soziale Rolle übernehmen. Dabei wurden die „Bauern am Marktstand“, wie der oben zitierte Artikel betitelt wurde, regelrecht gefeiert. Die nichtjüdische Bevölkerung, die ja in ihrer großen Mehrheit von der Landwirtschaft lebte, sollte – so die Redaktionslinie der Illustrierten Nasza Sprawa – vom Land in die Städte strömen und Positionen und Berufsfelder der Juden übernehmen. Der Marktplatz wurde zum Austragungsort dieser antisemitisch motivierten Versuche, Juden aus dem Kleinhandelssektor zu vertreiben und durch die „eigene“ Gruppe zu ersetzen. Dabei stellten die Wörter „verjudet“ und „entjuden“ diskursive Strategien dar, um ein Bild der Säuberung entstehen zu lassen, vom „Wegmachen“ dessen, was jüdisch sei und im scharfen Kontrast zum „Polnischen“ stehe. Nicht nach religiösen Trennlinien wie jüdisch/christlich oder jüdisch/katholisch wurde hier unterschieden, sondern das vermeintliche Gegensatzpaar jüdisch/polnisch konsolidiert. Damit verschmolzen diskursiv Ethnizität, Religion und nationale Identität (und Loyalität) zu einer Entität, der gegenüber das „Andere“ stand. In diesem Sinne verlangte Nasza Sprawa in einem extrem judenfeindlichen Duktus, den Handel zu polonisieren.323 Antisemitische Flugblätter, die dazu aufriefen, nur in christlichen Geschäften zu kaufen, und die Adressen dieser Geschäfte abdruckten, kursierten auch in Tarnów.324 Diese Strategien, Jüdinnen und Juden aus dem Handel auszuschließen, begannen bereits zuvor. Im Stadtrat von Tarnów berieten die Stadträte 1935 mehrmals darüber, wie die Marktstände aus dem Stadtbild getilgt werden könnten. Ästhetische Gründe und die Erneuerung des Stadtbildes wurden ins Feld geführt, um den Kleinhandel von den traditionellen Marktflächen zu vertreiben. Doch diese Marktstände und kleineren Läden auf dem Tarnower Marktplatz waren fast ausschließlich von Jüdinnen und Juden betrieben, und so zielten diese Debatten und vor allem die Geldbußen auf die Schwächung, wenn nicht gar die Entziehung der Existenzgrundlage jüdischer Kleinhändler.325 Dass Silbiger als Jude nichts dagegen unternehme, kritisierte das zionistische Wochenblatt Tygodnik Żydowski vielfach bereits im Frühling 1935.326 Vor allem Maurycy Hutter, der jüdische PPS-Stadtrat, kämpfte für den Erhalt des Kleinhandels von Jüdinnen und Juden auf den Märkten im 323 Chłop za ladą straganu. In: Nasza Sprawa, 21.02.1937, S.  102; Bezrobotni do handlu. In: Nasza Sprawa, 05.07.1936, S.  368; Odżydzić wytwórczość i sprzedaż dewocjonaliów. In: Nasza Sprawa, 30.08.1936, S. 478; Miasto bez żydów (sic!). In: Nasza Sprawa, 12.09.1937, S. 523; O Polski handel w Tarnowie. In: Nasza Sprawa, 02.01.1938, S. 10. 324 Archiv des Kreismuseums Tarnów, Sammlung Ulotki antysemickie: MTH 1542/2 und MTH 1545; MTH 1936. 325 Z Rady Miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 08.03.1935, S. 4. 326 Vgl. Jeszcze o wiceprezydenturę. In: Tygodnik Żydowski, 31.05.1935, S. 1.

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Stadtzentrum.327 Doch sollte sich diese Debatte noch bis in die späten 1930er Jahre hinziehen und weiter an Schärfe gewinnen. Der „Kampf um die Marktstände“ spitzte sich in ganz Polen ab 1936 zu und zog das Interesse einer breiten Öffentlichkeit an. Er erwies sich als ein ausgesprochen fruchtbares Feld für antisemitische Hetze.328 Im Jahre 1936 kam als Eskalationsmoment in Tarnów hinzu, dass die Boykottbewegung jüdischer Geschäfte, die meist von der radikalen Jugend getragen wurde, sich nicht darauf beschränkte, antisemitische Flugblätter zu verteilen, sondern nun mit gewalttätigen Ausschreitungen einherging. In Polen hatte sich der „moderatere“, sogenannte ABC-Flügel des ONR (Obóz Narodowo Radykalny/ National-radikales Lager)  – einer radikal nationalistischen, bereits 1934 verbotenen Organisation  – mit der Jugendorganisation des OZN verbunden. Daraufhin wurde ein ehemaliges ONR-Mitglied zum Anführer dieser Związek Młodej Polski (Verband des Jungen Polens).329 Auch in Tarnów beteiligten sich ONR-Mitglieder an der Boykottbewegung, wobei das Einschlagen von Scheiben jüdischer Geschäfte und Drohungen gegen Jüdinnen und Juden Teil des „wirtschaftlichen Boykotts“ wurden. Im Juni 1936 hielt der Premierminister der Regierung, Felicjan Sławoj-Składkowski (1885–1962), eine viel beachtete Rede im Sejm. Er lehnte zwar Gewalt gegen Jüdinnen und Juden ab, ein „Wirtschaftskrieg“ solle aber „durchaus“ [owszem] geführt werden. Die danach benannte „polityka owszemowa“ legitimierte de facto die wirtschaftliche Diskriminierung von Jüdinnen und Juden.330 Die lange Tradition des Wirtschaftsantisemitismus bekam somit eine Legitimation, wenn nicht eine Ermunterung von oberster Stelle und wurde gleichzeitig durch die Publizistik der Kirche verstärkt. Der staatlich sanktionierte ökonomische Antisemitismus mündete im Alltag häufig in Gewalt. Im März 1936, als Tarnower Stadträte über den Verbleib Silbigers im Amt diskutierten, fand in der Stadt Przytyk, rund 200  km von Tarnów entfernt, ein Pogrom statt. Dabei starben drei Juden, es gab rund 24 Verletzte.331 Dem Pogrom ging das Einschlagen von Scheiben jüdischer Geschäfte unmittelbar voraus.332 Im Frühjahr 1936 ereigneten sich auch Pogrome in Grodno und Mińsk Mazowiecki sowie antijüdische Ausschreitungen in

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Z Rady Miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 08.03.1935, S. 4. Vgl. dazu Gröschel: Zwischen Antisemitismus, S. 243–248. Marcus: Social and Political History, S. 365. Vgl. dazu mehr in Marcus: Social and Political History, S. 365–366. Żyndul: Zajścia antyżydowskie, S.  37. Żyndul bezeichnet die antijüdischen Ausschreitungen nicht als Pogrome, siehe dazu ebd. S. 41 ff. 332 Penkalla: The ‚Przytyk incidents‘; Gröschel: Zwischen Antisemitismus, S. 184.

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vielen anderen Städten.333 Im August 1936 erließ das Handelsministerium die Verordnung, dass Geschäftsinhaber ihren in der Geburtsurkunde eingetragenen Namen sichtbar aushängen müssten.334 Laut Celia Heller vereinfachte dieser Schritt, jüdische Geschäfte zu erkennen, um sie zu boykottieren.335 Der Angriff auf die polnischen Jüdinnen und Juden mit „Schlagstöcken und Messern“, wie das Tarnower Wochenblatt Tygodnik Żydowski befürchtete, ließ nicht lange auf sich warten. Zur selben Zeit wie in Przytyk  – im März 1936  – wurden in Tarnów wiederholt die Scheiben jüdischer Geschäfte eingeschlagen und Jüdinnen und Juden mit Messern angegriffen.336 Die Polizei registrierte eine Welle von Beschädigungen jüdischer Kaufhäuser, Betriebe, Synagogen, Vereine und Privatwohnungen.337 Es waren organisierte Aktionen, da die einzelnen Gewalttaten an unterschiedlichen Stellen der Stadt zur selben Zeit stattfanden und in den Wochen nach dem Przytyk-Pogrom zwischen dem 13. und dem 22. März 1936 gehäuft auftraten. Meistens waren die Täter junge Erwachsene, häufig Gymnasialschüler, einige ältere gehörten in der Universitätsstadt Krakau nationalistischen Jugendorganisationen wie der Młodzież Wszechpolska [Allpolnische Jugend] an.338 Die Młodzież Wszechpolska versammelte Studierende in ihren Reihen und agierte immer offener antisemitisch und gewalttätig. Mit tätigen Übergriffen forcierte sie beispielsweise die Umsetzung des so gennanten getto ławkowe [Ghettobänke] in den Hörsälen, das heißt die Trennung von jüdischen und nichtjüdischen Studierenden. Auch in Tarnów bildeten sich nationalistische bojówki [Schlägertrupps].339 „Bij Żyda!“ [Schlag den Juden] lautete ihre Parole und sie übersäten die Stadt mit antisemitischen Flugblättern.340 Der zionistische Tygodnik Żydowski berichtete von einer „Welle von Exzessen und einer blutigen judenfeindlichen Bewegung“.341 Die Situation der Jüdinnen und Juden wurde in der

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Żyndul: Zajścia antyżydowskie, S. 37; Cała: Żyd – wróg odwieczny?, S. 368–373. Heller: On the Edge of Destruction, S. 104. Ebd., S. 104. ANKr. Odd. T. 33/97 PSOT/PT 109. ANKr. Odd. T. 33/97 PSOT/PT 109/878/36; Wybryki antyżydowskie. In: Tygodnik Żydowski, 20.03.1936, S. 3. ANKr. Odd. T. 33/97 PSOT/PT 109. ANKr. Odd. T. 33/97 PSOT/PT 112/I Ds 4640/36; PT 110/I Ds 1052/36. Vgl. Dokoła spraw miejskich. In: Tygodnik Żydowski, 12.06.1936. Zu der Sammlung antisemitischer Flugblätter siehe Archiv des Kreismuseums Tarnów MTH 1542/2 und MTH 1545; MTH 1936, Gefährliche Körperverletzung eines Juden durch eine Gruppe Jugendlicher, die „Bij Żyda!“ schrien, Dezember 1936, ANKr. Odd. T.  33/97 PSOT/PT  112/I DS 4640/36. W obronie godności i praw ludności żydowskiej. In: Tygodnik Żydowski, 26.03.1936.

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Zeitung im März 1936 wie folgt eingeschätzt, allerdings wurde diese Nummer von der Polizei zensiert. Sie ist nur in den Polizeiakten als Quelle erhalten: Das polnische Judentum ist seiner Sicherheit beraubt, Leben und Habe sind bedroht. Das polnische Judentum ist schärfsten Angriffen ausgesetzt, erschüttert im Mark seines nationalen Lebens und der wirtschaftlichen Existenz, und durch das Schächtverbot diskriminiert. Die wichtigsten religiösen und Menschenrechte wurden außer Kraft gesetzt.342

Erschwerend kam noch der Ausschluss von Jüdinnen und Juden aus immer mehr Berufsverbänden und Genossenschaften hinzu, die sich zunehmend ethnisch polarisierten.343 Damit wurden den Jüdinnen und Juden sukzessive ihre Einkommensgrundlagen entzogen und sie sahen sich der Bedrohung ihrer materiellen Existenz und physischen Unversehrtheit ausgeliefert. Viele Tarnower Jüdinnen und Juden erinnerten sich an die zweite Hälfte der 1930er Jahre als an eine Zeit, in der sie, im Rückblick häufig zum ersten Mal, Antisemitismus als spürbare Erfahrung der Exklusion erlebten.344 Diskriminierung wurde zu einer spürbaren Alltagserfahrung. Die alltäglich erlebte Alterität wandelte sich in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre in Tarnów zu einer allseits wahrnehmbaren und sich steigernden Erfahrung von Distanz, Verdrängung, Exklusion und Gewalt. Im November  1936 erschien in der Tarnower Lokalzeitung Głos Ziemi Tarnowskiej, einem dem rechten Sanacja-Flügel nahen Periodikum, ein Leser­ brief, der pointiert die diffusen antisemitischen Imaginationen eines Tarnower Bürgers zusammenfasste.345 Dieser Brief belegt, wie wirkmächtig antijüdische Stereotype waren und wie der ideologische Diskurs vom Juden als Feind in die Lebenswelt der Einzelnen eindrang, internalisiert wurde und mit eigenen antisemitischen Haltungen und Glaubenssätzen verschmolz. Der Leser begann mit einer historischen Ausführung, wie Juden nach Polen kamen und dort zunächst mit Großzügigkeit und Toleranz empfangen wurden. Juden erwiesen sich jedoch, so dieser Leser, als undankbar und höhlten die polnische 342 Ebd., diese Nummer wurde aufgrund des Artikels konfisziert, die zitierten Stellen wurden ebenso wie alle Erwähnungen blutiger, judenfeindlicher Ausschreitungen von den Polizeibehörden zensiert. ANKr. Odd. T. 33/97/PT 110/I Ds 1030/36. 343 Vgl. Gröschel: Zwischen Antisemitismus, S. 203 ff. 344 Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021); Baicher, Israel: Interview 16493, 25.06.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021); Garmada, Ludwik: Interview 7329, 05.12.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 10.03.2021). 345 U źródeł antysemityzmu. In: Głos Ziemi Tarnowskiej, 22.11.1936, S. 2–3.

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Wirtschaft, den Handel sowie die freien Berufe aus. Dabei zeichneten sich Juden als Betrüger und Schwindler durch Niederträchtigkeit und Gemeinheit aus: „Sie vergessen ihre Rolle als Gast und die daraus resultierende Beziehung zu den Hausherren.“ Der Diskurs von Gästen und den eigentlichen Herren macht deutlich, wie die ethnischen, christlichen Polen die Herabsetzung und Exklusion der Minderheiten als Verteidigung ihres vermeintlichen Hausrechtes ansahen und die „Andersartigkeit“, wie es im Text hieß, von Juden als etwas Polenfeindliches, nicht Dazugehöriges und Illoyales bewerteten. Der Topos der „undankbaren Juden“ taucht in diesem Leserbrief ebenfalls auf. Des Weiteren mischten sich in das Narrativ stark antimoderne Haltungen. Die Juden würden es zwar als Fortschritt verkaufen, schrieb der Leser, aber in Wirklichkeit priesen sie Gottlosigkeit sowie den Kommunismus an und wandten sich gegen Tradition und Familie. Auch sexualisierte Jüdinnenfeindschaft findet sich im Brief. Den Grund für den Antisemitismus in Polen sieht der Verfasser allein bei den Juden, die durch ihre „widerwillige, illoyale und nicht-bürgerliche Beziehung zur polnischen Gesellschaft“ eine gerechtfertigte Judenfeindschaft auf sich ziehen würden. Insofern schrieb der Leser in seinem Brief aus seiner Warte „folgerichtig“ von „Selbstverteidigung“ der polnischen Nation. Als Lösung sieht der Verfasser den Wirtschaftsboykott, um den Juden, die alle – so der Verfasser – wesentlichen Zweige des polnischen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Lebens unterhöhlten, nicht noch „unser schwer verdientes Geld“ zu bringen. Die Hegemonialansprüche der christlichen, ethnischen Polen in „ihrem Land“ waren bis auf die Lokalebene manifest: auf ideologischer Ebene ebenso wie in der alltäglichen Praxis und in der kulturell tradierten Vorstellungswelt. Silbigers Fall kann auch in diesen interpretatorischen Rahmen eingeordnet werden – es ist die Performanz jener vermeintlichen Verteidigung des „Hausrechts“ der ethnischen Polen auf lokalpolitischer Bühne. Der politisch sanktionierte Antisemitismus, der bis in die Tarnower Lebenswelten deutlich spürbar war, und die Ausschlusserfahrung von Jüdinnen und Juden in sehr vielen Lebensbereichen bildeten den Hintergrund des SilbigerFalls. Ethnizität wurde mobilisiert und zum politischen Argument. Dies zu ignorieren, schien auch in Tarnów kaum mehr möglich, insbesondere als im Stadtrat ein jüdischer Politiker zur Disposition stand. 1936 manifestierte sich die Politisierung von Ethnizität mit aller Deutlichkeit in Politik und zugleich auf der Alltagsebene im Tarnower öffentlichen Raum. Die Frage, wer jüdisch war und wer nicht, schien in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre in Tarnów andere Zugehörigkeitsmuster zu überlagern. Die Mechanismen und Muster, mit denen die Tarnowianerinnen und Tarnowianer „die Jüdinnen/Juden“ und „richtige“ Polinnen/Polen unterteilten, waren schnell zur Hand. Sie basierten

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auf tradierten, altbekannten antisemitischen Vorstellungen, die nun mit aller Deutlichkeit manifest wurden und mit denen man – sogar in Tarnów – Lokalpolitik betreiben konnte.346 Die ethno-nationale Zugehörigkeit war also wie eine Matrix des sozialen Zusammenlebens, auf die die Bevölkerung schnell zurückgreifen konnte und deren Codes alle zu kennen schienen, um sich ihrer zu bedienen. Im Silbiger-Fall wurde nun manifest, was bereits latent vorhanden war. Aber jetzt fanden Ethnizität als politisches Argument und antisemitische Vorstellungsmuster auch Eingang in die lokalpolitischen Gruppenbildungsprozesse und wurden maßgeblich für einen bedeutenden Teil der städtischen politischen Eliten. Man griff aber erst dann darauf zurück, als auf Landesebene der Rechtsruck eingeleitet, die Diskriminierung von Jüdinnen und Juden politisch gewollt und der antisemitische Diskurs an oberster Stelle gebilligt wurde. Die Zustimmung „von oben“ schuf eine neue Norm, die den Alltag bis in die Peripherie veränderte. In Städten mit einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil schien das Verdrängen von Jüdinnen und Juden für die Nichtjüdinnen und Nichtjuden soziale Aufstiegsmöglichkeiten sowie ökonomische und lokalpolitische Teilhabe zu eröffnen. Im Kampf um die Marktstände kristallisierte sich dieses Bestreben der ethnisch polnischen, zumeist agraren Landbevölkerung sehr konkret: Die Verdrängung „der Juden“ sollte soziale Aufstiegschancen in urbanen Räumen ermöglichen. In einer solch zugespitzten Situation, in der die Jüdinnen und Juden Tarnóws, die fast die Hälfte der Gesamtbevölkerung ausmachten, sich ausgegrenzt und bedroht fühlten, gab am 25. Mai 1936 der Wojewode in Krakau bekannt, dass er Zygmunt Silbiger nicht im Amt des zweiten Vizepräsidenten bestätige.347 Die Causa Silbiger im Jahr 1936 eingebettet in weitere Bezüge zeigt auf, wie das ethno-national exkludierende Programm der Machthaber nach Piłsudskis Tod bis in die Peripherie hineinreichte und seine Dynamiken bis in die Lebenswelten der Tarnower Bevölkerung entfaltete. Wurde bislang für Tarnów von einer situativen Ethnizität ausgegangen, die im Alltag zwar eine Rolle spielen konnte, aber nicht zwingend musste, so muss für die zweite Hälfte der 1930er Jahre Folgendes festgehalten werden: Auch auf der Alltagsebene war die politische Mobilisierung von Ethnizität so weit fortgeschritten, dass letztere gleichbedeutend mit der Zugehörigkeit zu einer a priori festgelegten Gruppe, die mit essenzialistischen Eigenschaften und Bedeutungen versehen 346 Einige tradierte antisemitische Muster wurden weiter oben ausgeführt, zu einer profunderen, anthropologischen Analyse für Polen, siehe Cała: Wizerunek Żyda; Cała: Żyd – Wróg odwieczny?; Tokarska Bakir: Legendy o krwi. 347 Reskript, vorgelesen während der Stadtratssitzung, Stadtratsprotokoll vom 30.06.1936, Archiv des Tarnower Kreismuseums, MTH 843. Eine Begründung ist weder im Tarnower noch im Krakauer Archiv zu finden.

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war und der eine politische Agenda zugeschrieben wurde. Jüdischsein wurde zum Politikum und zu einer alltäglich erfahrenen Stigmatisierung in bislang in Tarnów unbekanntem Ausmaß. Es war nicht das erste Mal, dass antisemitische Parolen in Tarnów zu vernehmen waren, aber nun gingen sie einher mit tätlichen Angriffen, waren weitaus häufiger, lautstärker und flächendeckend und fügten sich darüber hinaus in das gesellschaftliche Klima der späten Zweiten Republik ein. Antisemitismus wurde zunehmend „salonfähig“. Die Zeiten einer alltäglich gelebten Alterität veränderten sich und ein exkludierendes und ethnisch-motiviert polarisierendes Weltbild schien vorherrschend. In diesem sollten „die Polen“ ihre Hegemonialansprüche in Tarnów durchsetzen – beim Handel auf dem Marktplatz, im öffentlichen Raum, in der Wirtschaftsarena und besonders bei der Frage nach Machtansprüchen auf lokaler Ebene. So fasste der Tygodnik Żydowski pointiert zusammen: Das sollen sich die jüdischen Ratsmänner [aus dem Pro-Regierungslager – AW] merken: Dr. Silbiger wurde weder von den Zionisten noch von den Sozialisten gestürzt. Das, was Zionisten und Sozialisten Dr. Silbiger vorwarfen, war bereits vor mehr als zwei Jahren und vor seiner Nominierung hinlänglich bekannt. Alle Vorwürfe, die in den letzten zwei Jahren gegen Herrn Dr. Silbiger erhoben wurden, waren vergeblich, sie hatten keinen Einfluss, keinerlei Bedeutung. Erst als der Antisemitismus legalisiert wurde, als die Atmosphäre im Klub der ökonomischen Arbeit [Pro-Regierungslager  – AW mit der Hochspannung judenfeindlicher Phrasen überladen war, erst dann verlieh man der neuen Ideologie Ausdruck. […] Deswegen musste der „jüdische“ Vizepräsident Dr. Silbiger gehen.348

Jüdische Reaktionen in Tarnów auf den Silbiger-Fall Der Fall Silbiger war mehr als ein Personalienstreit in der Peripherie. An ihm wurde stellvertretend ausgehandelt, welche Stellung der jüdischen Minderheit noch im Post-Piłsudski-Polen zukam. Dies verstanden auch die Redakteure des national-gesinnten jüdischen Wochenblatts in Tarnów. Als zwischen März und Juni 1936 die Affäre Silbiger ihren Höhepunkt erreichte, kannte der Tygodnik Żydowski kaum noch ein anderes Thema.349 In dieser aufgeheizten Atmosphäre gegen den jüdischen Vizepräsidenten nahm der Tygodnik Żydowski eine klare pro-jüdische Position ein. Die zionistische Zeitung sprach sich gegen Silbiger und vor allem gegen die orthodoxen Juden des Pro-Regierungslagers aus, aber für die Neubesetzung des Amtes des zweiten Vizepräsidenten mit einem kompetenteren Juden.350 Der Unmut der Redakteure des zionistischen Wochenblatts richtete sich vor allem gegen die jüdischen Ratsmänner des Pro-Regierungslagers. Sie sahen 348 Na fali wydarzeń (z miasta). In: Tygodnik Żydowski, 26.06.1936, S. 5. 349 Vgl. dazu Tygodnik Żydowski, April bis Juni 1936. 350 Z wydarzeń miejskich. In: Tygodnik Żydowski, 05.06.1936.

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es als eine Schmach an, dass diese Juden in einer antisemitisch aufgeladenen öffentlichen Stimmung und politischen Situation hauptsächlich in der Affäre schwiegen. Die jüdischen Ratsmänner des Pro-Regierungslagers seien lediglich Marionetten ihrer Partei. „Für sie existiert die jüdische Sache anscheinend gar nicht im Stadtrat“, warf ein anonymer Autor im Tygodnik Żydowski den jüdischen Ratsmännern des Pro-Regierungslagers vor.351 Gerade jetzt, wo „das polnische Judentum, die 3,5  Millionen, eine Tragödie erleben und um ihre elementaren Rechte kämpfen“, treten die jüdischen Ratsmänner nicht für die Rechte von Jüdinnen und Juden ein.352 Einmal mehr zeigte sich an diesem Beispiel die divergierende Auffassung von jüdischer Repräsentanz im Stadtrat. Für das zionistische Wochenblatt sollten jüdische Ratsmänner ihre Loyalitäten vor allem an eine national-kulturelle Entität  – „das jüdische Volk“  – binden und nicht an die Parteidisziplin der alten Sanacja-Garde. Die politische Realität der späten Zweiten Republik mit dem ansteigenden Antisemitismus und der Exklusion von Jüdinnen und Juden aus allen Bereichen des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens, die sich am Fall Silbiger gerade auch vor den Augen aller auf der lokalpolitischen Bühne abspielte, schien den Standpunkt der Redakteure des Wochenblatts zu bestätigen. Die politisierte Ethnizität schien hierbei andere Zugehörigkeitsmuster und politische Loyalitäten zu überlagern. Die Redakteure des Tygodnik Żydowski forderten deswegen ein entschiedenes Handeln der jüdischen Stadträte, die für diese Umwälzungen blind zu sein schienen. Umso schmerzhafter war es für die im Stadtrat nicht vertretenen Zionisten, zu sehen, wie die jüdischen Ratsmänner des ProRegierungslagers in dieser heiklen Lage nichts unternahmen und sich ihrer Partei gar anbiederten. Alle, die unter dem Markenzeichen der Sanacja die Losungen der Endecja in Bezug auf die Juden verwirklichen, brauchen solche Juden. Ist es nicht geradezu eine Freude, mit diesen Juden zu tun zu haben, die fügsam und demütig alles annehmen, sogar wenn man ihnen ins Gesicht spuckt? […] Sie sind Werkzeuge in einer Aktion, die gegen das Tarnower Judentum gerichtet ist.353

Explizit erklärte der zionistische Tygodnik Żydowski, die jüdischen Stadträte trügen Mitschuld am Antisemitismus des Regierungsblocks. „Unsere jüdischen Ratsmänner sind Werkzeuge in den Händen jener, die konsequent eine Politik durchsetzen wollen, die den Juden jedwede Repräsentanz im städtischen Präsidium verweigert.“354 Die Zeitung berichtete seither nicht mehr von 351 352 353 354

Budżet na radzie miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 06.04.1936, S. 6–7. Przed nominacją do zarządu kahalnego. In: Tygodnik Żydowski, 13.03.1936, S. 1. Ustąpić … In: Tygodnik Żydowski, 05.06.1936, S. 5. Ebd.

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jüdischen Ratsmännern, sondern von Stadträten „mosaischen Glaubens“.355 Die nationalpolitische Bedeutung des „Jüdischseins“ wurde ihnen somit abgesprochen und nur die religiöse Komponente erwähnt. Natürlich ist diese Auseinandersetzung über das Jüdischsein in Zeiten der Bedrohung in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre nicht nur als ein innerjüdischer Diskurs zu verstehen, sondern muss vor der Folie gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen verstanden werden. Zugleich aber wird hierbei deutlich, wie sich durch letztere die innerjüdischen Bezugsrahmen und Verhandlungsfelder veränderten und zuspitzten. Wie reagierten die jüdischen Stadträte des Pro-Regierungslagers auf die Affäre und die Absetzung Silbigers? Immerhin fußten die Gruppierungen im Stadtrat bislang nicht primär auf religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit, sondern auf Parteizugehörigkeit. Auf der einen Seite waren die Unterstützer der Sanacja, auf der anderen der Sozialistische Klub. Es gab keine innerethnischen Solidaritätsbekundungen. Hier seien noch einmal die Erinnerungen des BundStadtrats Aron Sporn zitiert, der beklagte, dass die jüdischen bürgerlichen Ratsmänner kein einziges Mal den Bund unterstützt hätten, und konstatierte: „Unser einziger Verbündeter war die PPS.“356 Als 1935 die beiden Lager, wegen der Bewertung der Aprilverfassung unversöhnlich, mit ihrem jeweiligen Liedgut auf den Lippen den Sitzungssaal verließen, besiegelten sie auch auf diese symbolische Weise ihre Unvereinbarkeit. Ethnische oder religiöse Zugehörigkeit bzw. Loyalität spielten lange Zeit im Stadtrat eine untergeordnete Rolle, das ist auch im Verhalten Silbigers wiederholt deutlich geworden. Immer wieder stellte er sich gegen den Sozialistischen Klub, auch wenn es um das Wohl jüdischer Arbeitender ging, und nahm sogar öffentlich gegen diese Stellung. Doch die politische Lage verschärfte sich nach 1935, als sich das ProRegierungslager von innen zu zersetzen begann und seine integrative Kraft durch das Fehlen eines politischen Rückgrats in Warschau einbüßte. Der rechte Flügel des ehemaligen Sanacja-Regimes an der Spitze der Politik wies zunehmend Nationalisierungstendenzen auf, und so gewann auch der ethnonationale Konflikt innerhalb des Stadtrats durch die Silbiger-Affäre an akuter Sprengkraft. Die Angelegenheit hatte sich mittlerweile zu einem Streitfall innerhalb und außerhalb des Stadtrats ausgewachsen, der parteipolitische Konsequenzen nach sich zog. Die Absetzung Silbigers schwächte das Pro-Regierungslager. Als der Stadtpräsident Brodziński seiner Fraktion eine Resolution zur Ehrung des entlassenen Silbigers vorlegte, lehnte das Pro-Regierungslager 355 Ebd., S. 5–6. 356 Sporn: Der algemeyner yidisher arbeyter-bund, S. 653.

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diese ab. Nachdem der letzte Jude das Präsidium verlassen musste, gerieten die jüdischen Stadträte des Pro-Regierungslagers  – auch durch die Berichterstattung des Tygodnik Żydowski  – unter Druck. Da die bisherigen parteipolitischen Konstellationen im Stadtrat ins Wanken gerieten, berief der Präsident, der nun um den eigenen Machterhalt fürchten musste, den Stadtrat für einige Zeit nicht mehr ein.357 Erst Ende Juni 1936, rund einen Monat nach der Absetzung der so brisant diskutierten Personalie Silbiger, tagte der Stadtrat erneut. Doch tatsächlich hatte sich nun die Parteienlage gewandelt. Auch die jüdischen Stadträte konnten kaum den zunehmenden Antisemitismus in allen Lebensbereichen ignorieren, insbesondere als ein Jude aus dem zweithöchsten Amt in der Stadtpolitik verdrängt wurde. Der Rechtsruck innerhalb der alten Sanacja-Garde war nicht mehr zu übersehen. Hinzu kam, dass der zionistische Tygodnik Żydowski erheblichen Druck auf die jüdischen Stadträte ausübte, indem er implizit und explizit dazu aufforderte, die parteipolitische Loyalität bzw. die Loyalität zur Stadtratsgruppierung der Sanacja zugunsten einer „jüdischen Loyalität“ aufzugeben. Der sich vollziehende Rechtsruck der alten Sanacja-Garde stürzte die jüdischen Sanacja-Stadträte in Tarnów in ein tiefes Dilemma, denn sie konnten unmöglich die Position ihrer Fraktion weiter mittragen. Dieser Zwiespalt der jüdischen Unterstützer der Sanacja manifestierte sich auf Lokalebene geradezu im Fall Silbigers, der deswegen zu einem Lackmustest für die interethnischen Beziehungen im Stadtrat wurde. Die jüdischen Stadträte fanden schließlich zu einer eigenständigen Position und spalteten sich als „Jüdischer Klub“ vom Regierungslager ab.358 Seine Unabhängigkeit demonstrierte der Jüdische Klub, indem seine neun Mitglieder bei der Sitzung im Juni 1936 fehlten und eine Erklärung einreichten. Darin protestierten sie entschieden gegen die Absetzung Silbigers. Die jüdische Bevölkerung, die 46  % der Gesamtbevölkerung Tarnóws ausmache, habe schließlich ein Recht dazu, eine Repräsentanz im höchsten Gremium der Stadt zu besitzen.359 Es sei eine „Verletzung des begründeten und durch die Tradition geheiligten Rechts der jüdischen Bevölkerung“, einen Vertreter im Präsidium zu haben.360 Im Duktus der Protestnote wird die fortgeschrittene Politisierung von Ethnizität deutlich. Der Jüdische Klub berief sich in seiner Argumentation ausschließlich auf das Jüdischsein der betroffenen Person. Dass Silbiger für 357 Dlaczego nie zwołuje p. prezydent Rady Miejskiej. In: Hasło, 19.06.1936, S. 4. 358 Bereits im Dezember 1935 hatte sich der Jüdische Klub als Untergruppe des ProRegierungslagers gegründet, spaltete sich aber erst nach der Absetzung Silbigers formal vom Pro-Regierungslager ab. 359 Deklaracja Klubu Żydowskiego, Stadtratsprotokoll vom 25.06.1936, Archiv des Kreismuseums Tarnów MTH 843. 360 Ebd.

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das Amt hervorragend geeignet sei oder dass die Anschuldigungen gegen ihn unhaltbar seien, blieb dagegen unerwähnt. Tatsächlich ging es im Jahre 1936 längst nicht mehr darum. Lediglich sein Jüdischsein wurde in der Protestnote zum zentralen Argument erhoben. Im Zuge der Affäre Silbiger entstand eine gänzlich neue Situation im Stadtrat. Aus dem ehemaligen Pro-Regierungslager mit seinen 23 Mandaten scherten zwei Räte individuell aus und neun spalteten sich im Zuge der Gründung des Jüdischen Klubs ab. Der Rumpf des Pro-Regierungslagers besaß nun nur noch zwölf Mandate. Der Sozialistische Klub dagegen hielt seine 17  Sitze. Keine Gruppierung hatte mehr die absolute Mehrheit. Der Jüdische Klub wurde so bei Abstimmungen zum sprichwörtlichen „Zünglein an der Waage“, um welches das Pro-Regierungslager und die Opposition buhlen mussten. Damit mussten jüdische Themen anders verhandelt werden. Es wäre naheliegend, zu vermuten, dass die Reaktion der jüdischen Stadträte, die ehemals dem Sanacja-Lager angehörten und sich aufgrund der Affäre Silbiger von diesem abspalteten, lobende Worte im Tygodnik Żydowski ernten würde. Das war jedoch nicht der Fall. Diese „‚Revolte‘ der jüdischen Stadträte erschreckt niemanden“, und es sei nur ein Sturm im Wasserglas, kommentierte ein Publizist im Tygodnik Żydowski.361 Der Austritt aus dem ProRegierungslager gehe nicht weit genug, so der Tenor der Berichterstattung.362 Vielmehr hätten die jüdischen Ratsmänner selbst zu der Absetzung Silbigers beigetragen, indem sie in der gesamten Amtszeit nie jüdische Interessen vertreten hätten. „Und wenn die jüdischen Ratsmänner keinen Selbsterhaltungsinstinkt haben, dann sollten sie besser ihre Mandate niederlegen. Niederlegen und gehen. Je schneller, desto besser für die Stadt und für die Juden.“363 Dass eine zionistische Zeitung postuliert, es sei besser für Jüdinnen und Juden, wenn neben Silbiger auch andere jüdische Stadträte das Gremium verließen, erscheint zunächst paradox. Es zeigt aber die national-politische Linie der Zeitung – es reichte eben nicht, jüdischer Herkunft oder Religion zu sein. Es ging darum, spezifisch jüdische Interessen als jene einer nationalen Minderheit in Polen zu vertreten. Somit inszenierte sich die Zeitung in der Tarnower Öffentlichkeit als einzig wahrer Vertreter der Judenheiten und diskreditierte damit die religiöse Fraktion und Silbigers Weggefährten. Im selben Jahr  – 1936  – sollten noch die Wahlen zur kehillah, der jüdischen Gemeinde, stattfinden. Die Fraktion der orthodoxen Juden rund um Silbiger und die Aguda zu diskreditieren, weil diese sich nicht um die Belange der Jüdinnen und Juden kümmerten, war sicherlich auch ein innerjüdisches politisches Taktieren im 361 Z wydarzeń miejskich. In: Tygodnik Żydowski, 05.06.1936, S. 5–6. 362 Dokoła spraw miejskich. In: Tygodnik Żydowski, 12.06.1936, S. 2. 363 Ustąpić … In: Tygodnik Żydowski, 05.06.1936, S. 5.

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Hinblick auf die Wahl zu diesem Gremium, um die eigene Gruppierung der Zionisten als die alleinigen Fürsprecher jüdischer Belange zu positionieren. Der neu geschaffene Jüdische Klub bestand wohl gemerkt nicht aus allen Juden im Stadtrat, sondern aus Juden, die ehemals dem Pro-Regierungslager angehörten. Eine andere jüdische Partei im Stadtrat, die bereits 1934 eingezogen ist, war der Bund mit fünf Sitzen, der sich mit der PPS zum Sozialistischen Klub verband. Leider existieren kaum Quellen zum lokalen Bund, sodass die internen Aushandlungsprozesse nicht nachverfolgt werden können. Zusammen mit der PPS führte der Bund einen Kampf gegen Nationalismus und Chauvinismus, wie es in der gemeinsamen Erklärung des Sozialistischen Klubs aus dem Jahr 1934 hieß. Es waren auch wiederholt PPS-Mitglieder, die die Rechte von jüdischen Arbeitenden einforderten.364 Als zu Beginn der Silbiger-Affäre im März 1936 der Sozialistische Klub eine Erklärung gegen den zweiten Vizepräsidenten aufsetzte, unterschrieben diese alle Mitglieder des Sozialistischen Klubs – PPS-Mitglieder wie Bundisten. Am 1. Mai 1936 brachte die PPS ihre Anhänger gegen Silbiger in Stellung, sodass auch Silbiger-feindliche (aber nicht judenfeindliche) Transparente hochgehalten wurden – „Weg mit dem korrupten Vizepräsidenten“.365 Da die Stimmung im Mai 1936 in ganz Polen bereits wegen der vielen judenfeindlichen Übergriffe, Gesetzgebungen und öffentlichen Diskussionen und Pamphlete höchst aufgeheizt war, nahm der Bund in Tarnów in dem Aufruf zur ErstenMai-Demonstration 1936 genau diese Thematik auf. Auf dem Plakat des Bund prangerte dieser die „exzessive judenfeindliche Agitation“ an. Die Antwort auf den „Rassenhass“ müsse aber die Solidarität mit der nichtjüdischen polnischen Arbeiterschaft sein, um der antisemitischen Hetze etwas anderes entgegenzustellen.366 Tatsächlich marschierten zum 1. Mai 1936 PPS-nahe Arbeiterinnen und Arbeiter mit Bundisten und der Poale Zion links und rechts in einem gemeinsamen Umzug, insgesamt ca. 5500 bis 6000 Menschen.367 Im Jahr darauf notierte die Presse einen gemeinsamen Umzug von Bund und PPS mit 6000 Teilnehmenden.368 Die Unterstützung durch die städtische Bevölkerung wurde in den wachsenden Maiumzügen sichtbar. 364 Siehe dazu das Beispiel Ludwik Huppert 1935, zu Beginn des Kapitels 2 „Lokalpolitik und die schrittweise Politisierung von Ethnizität“ sowieKapitel 2.3.2 „Der Stadtrat nimmt die Arbeit auf“ und hier besonders das Unterkapitel „Die ‚widerspenstige Linke‘ und die ‚träge Rechte‘ – die ersten Jahre des demokratisch gewählten Stadtrats“. 365 Z miasta. In: Tygodnik Żydowski, 08.05.1936, S. 4. 366 Aufruf zur Erste-Mai-Demonstration durch den Bund: ANKr. Odd. T. 33/97 PSOT/PT 110/ I DS 1369/36. 367 Pierwszego Maja w Tarnowie. In: Tygodnik Żydowski, 08.05.1936, S. 6; 1 maja. In: Hasło, 07.05.1936, S. 4. 368 1. Maja w Tarnowie. In: Tygodnik Żydowski, 07.05.1937, S. 4.

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Abbildung 19 Aufruf zur Demonstration am 1. Mai 1936

Am Ende der Affäre im Juni 1936 setzte der Sozialistische Klub eine Erklärung auf.369 Hierin drückte er seine Zufriedenheit über die Absetzung Silbigers aus. Diese Juni-Erklärung wurde lediglich von einem Bundisten – David Batist, dem Anführer des Tarnower Bund – unterzeichnet. Die weiteren vier bundischen Stadträte waren der ersten Sitzung nach Silbigers Absetzung ferngeblieben, ebenso wie der Jüdische Klub, der aus dem pro-Regierungslager ausgeschieden war. Letzterer tat dies laut eigener Erklärung aus Protest gegen Silbigers Absetzung. Ob das Fehlen der vier Bundisten ebenso als Protestzeichen gedeutet werden sollte, ist heute nicht mehr festzustellen, ebenso nicht, ob die Bundisten in einen Loyalitätskonflikt geraten waren. Einerseits hatte der Sozialistische Klub die Absetzung Silbigers gefordert, andererseits wollten die bundischen Räte womöglich nach der ganzen öffentlichen Debatte über das Jüdischsein Silbigers keine Erklärung über die Genugtuung seiner Absetzung unterzeichnen, gerade wegen des gesamtgesellschaftlichen Kontextes, in dem sich der ansteigende Antisemitismus überdeutlich manifestierte. Das Fehlen der Bundisten bei der ersten Stadtratssitzung nach Silbigers Absetzung kann 369 Erklärung vom 25.06.1936, Stadtratsprotokoll vom 30.06.1936, Archiv des Kreismuseums Tarnów, MTH 843.

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heute auf Grundlage des Quellenmaterials leider nicht mehr geklärt werden. Tatsache ist jedoch, dass die meisten jüdischen Stadträte nicht an der ersten Sitzung nach Silbigers Absetzung teilnahmen. Auf der anderen Seite ist durchaus zu verzeichnen, dass PPS-Stadträte jüdischer Herkunft wie Maurycy Hutter und die PPS-Stadträtin jüdischer Herkunft Lidia Ciołkosz die Juni-Erklärung der Sozialistinnen und Sozialisten unterzeichneten. Inwiefern die Tarnower Bundisten mit dem wachsenden Antisemitismus in Polen in einen Loyalitätskonflikt gerieten – zwischen den Positionen der PPS und der Vertretung ausdrücklich jüdischer Interessen – manifestierte sich ebenso in den Debatten im Stadtrat in den Folgejahren. Einer der führenden Köpfe des Tarnower Bund, David Batist, verwies in einer seiner Äußerungen im April 1936 im Stadtrat auf dieses Bemühen, einerseits nicht die ethno-nationalen Trennlinien der Rechten zu übernehmen, andererseits nicht die Augen vor judenfeindlichen Diskriminierungen zu verschließen und diese als Repräsentant einer jüdischen Partei anzuprangern. Die Aussage Batists ist im zionistischen Tygodnik Żydowski überliefert und sie verdeutlicht den Prozess der sich wandelnden dominierenden Zugehörigkeitsmuster innerhalb und außerhalb des Stadtrats. Batist habe zu Beginn seiner Ausführungen im Stadtrat deutlich gemacht, dass er gegenüber jüdischen Angelegenheiten („na punkcie żydowskim“) nicht „übersensibilisiert“ sei: „Denn die Trennlinien verlaufen nicht nach nationaler Zugehörigkeit, sondern nach Klassenzugehörigkeit. Hier das Proletariat und die Armen, dort die Bourgeoisie und die Reaktion. Dennoch gibt es ein jüdisches Problem und wir dürfen es nicht verschweigen.“ Batist zählte auf, dass jüdische Organisationen kaum vom Stadtrat subventioniert würden, dass zwei jüdischen Sportklubs die Sportfelder weggenommen würden, dass die wenigen jüdischen Angestellten der Stadt langsam verschwinden und dass man bei öffentlichen Baumaßnahmen keine Juden beschäftigen würde. In den von der Stadt subventionierten Wohnungen gäbe es kaum jüdische Familien, und sieben dieser wenigen Familien sei vor Kurzem gekündigt worden.370 Dieser Redebeitrag David Batists ist ein gutes Beispiel für den Wandel der dominierenden Zugehörigkeitsmuster. Das von der Kultur, der ethnischen Herkunft und der Religion vermittelte Zugehörigkeitsprofil war kein essenzialistischer oder organischer Marker eines Menschen, der ihn „natürlich“ von „den Anderen“ trennte. Ethnizität kann aber zu einem politischen Argument konstruiert werden und erweist sich dann als äußerst wirkungsvoll. Die offene Diskriminierung von Jüdinnen und Juden bedurfte einer Reaktion. Die in Tarnów auf der lokalpolitischen Bühne alltäglich gelebte religiöse, kulturelle und sprachliche Alterität stand 370 Budżet na radzie miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 06.04.1936, S. 6–7.

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zuvor politischen Bündnissen nicht im Wege. Vielmehr waren interethnische bzw. interreligiöse Allianzen in der Lokalpolitik eine Normalität. Doch im Zuge der Affäre Silbiger trat offen zu Tage, wie sich die Zugehörigkeitsmuster immer mehr hin zu ethno-national verstandenen Kollektiven verschoben, die interethnische politische Allianzen überlagerten, gefährdeten oder gar sprengten. Das Dilemma dieses Prozesses fasste Batist für die Lokalpolitik treffend in dem oben zitierten Redebeitrag zusammen. Zum einen glaubte der Bund-Führer die Trennlinien, die die Gesellschaft unterteilten, nicht primär in ethno-nationaler Zugehörigkeit begründet. Vielmehr sah er die Differenz zwischen den Tarnowianerinnen und Tarnowianern in der ökonomischen Situation, in der „Klasse“. Dies verdeutlicht, dass die Tarnower Bevölkerung sich nicht zwingend in nationale Gruppen unterteilte, als wäre dies ein natürliches Ordnungsprinzip. Der erbitterte Kampf zwischen jüdischen SanacjaAnhängern und jüdischen Sozialisten verweist deutlich auf die politischen Trennlinien. Doch zugleich wurde die Diskriminierung von Jüdinnen und Juden so offenkundig. Die Fremdzuschreibung als jüdisch rückte unweigerlich in den Vordergrund, und die Jüdinnen und Juden mussten darauf reagieren. Batist prangerte diese Ungerechtigkeiten offen an. *** In der Causa Silbiger manifestierten sich die schrittweise Mobilisierung und Politisierung von Ethnizität. Variierende Interessengruppen nutzten diesen Konflikt auf unterschiedliche Weise für sich. Die PPS nutzte ihn als Vehikel um das Pro-Regierungslager nach dem Zusammenbruch des BBWR zu spalten. Eine eigenständige Position der Bundisten kann heute hingegen nicht mehr zufriedenstellend rekonstruiert werden. Der Präsident der Stadt stellte sich auf die Seite Silbigers, um seine Mehrheit zu sichern. Das alte Pro-Regierungslager musste sich inneren Zerfallserscheinungen stellen, und ein Teil der Stadträte orientierte sich an dem neuen, offen nationalistischen Kurs der Warschauer Regierung. Die jüdischen Stadträte gerieten in einen Loyalitätskonflikt zwischen politischer Fraktionsbindung und dem Willen, eine spezifisch jüdische Repräsentanz zu erlangen. Die Zionisten wiederum profilierten den Tygodnik Żydowski als Sprachrohr spezifisch jüdischer Interessen und diskreditierten die religiösen Juden der Sanacja  – auch im Hinblick auf die bevorstehenden kehillah-Wahlen. Die rechts-nationalen Redakteure nutzen in ihrer Zeitung Głos Ziemi Tarnowskiej das antisemitische Moment, um ihrer Forderung, Juden aus Schlüsselpositionen in der Stadt zu verdrängen, Nachdruck zu verleihen. Deutlich wurde hierbei, dass ethnische, nationale oder religiöse Zugehörigkeiten nicht in einem luftleeren Raum geschahen, sondern

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mit Bedeutungen belegt wurden, was erst in einem breiteren gesellschaftlichen Zusammenhang hinreichend erklärt werden kann. Der Rechtsruck in der polnischen Politik nach Piłsudskis Tod 1935 sowie der zunehmende Nationalismus und Antisemitismus in der späten Zweiten Republik begünstigten jene politischen Kräfte, die ein ethnozentriertes, nationales und exkludierendes Programm verfolgten. In diesem Sinne muss die Auseinandersetzung um den Verbleib des letzten Juden im Präsidium einer mittelgroßen Stadt in einem übergreifenden Zusammenhang betrachtet werden. Letztlich ging es auch darum, wie der „nationalisierende Staat“ agierte und die Exklusion bis in die Peripherie vorantrieb.371 Die Entwicklungen in ganz Europa, die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Deutschland, die Erlassung der Nürnberger Gesetze 1935 oder auch der Spanische Bürgerkrieg wurden in Tarnów sehr genau verfolgt. Ein Gefühl der Bedrohung in Europa, in Polen und auf Tarnóws Straßen machte sich 1936 unter der jüdischen Bevölkerung bemerkbar. Es war in dieser Großwetterlage, in der auf der lokalpolitischen Bühne der Ausschluss des letzten jüdischen Vizepräsidenten vollführt wurde. Nach dem Sturz Silbigers – neue Mehrheiten im Tarnower Stadtrat der späten Zweiten Republik Im November 1936 wählte der Stadtrat einen Tarnower Vertreter für eine Fürsorgevereinigung, in der alle Städte der Wojewodschaft repräsentiert sein sollten. Obwohl der Posten nicht mit besonderen Privilegien ausgestattet war, entzündete sich an dieser Wahl eine Grundsatzfrage um die Machtverteilung im Stadtrat nach der Affäre Silbiger. Jede Fraktion der nunmehr drei Gruppierungen im Stadtrat stellte einen Kandidaten für diesen Posten auf: der Sozialistische Klub (17  Mandate) Kasper Ciołkosz, der Rumpf des ProRegierungslagers (12 Mandate) den Priester und Sejm-Abgeordneten Dr. Józef Lubelski und der Jüdische Klub (9 Mandate) schickte sich an, einen eigenen Kandidaten, den Zahnarzt Dr. Lantner, ins Rennen zu schicken. Doch mit dieser Aufstellung hätte der Jüdische Klub dem Sozialisten Ciołkosz zu dem Posten verholfen, denn nach der Affäre Silbiger hatten sich die Mehrheitsverhältnisse im Tarnower Stadtrat verschoben. Der Sozialistische Klub wurde zur stärksten Gruppierung. Paradoxerweise ging der Sozialistische Klub gestärkt aus der Affäre Silbiger hervor, zu einer Zeit, als sich in ganz Polen und auf gesamtstaatlicher Ebene ein Rechtsruck in Politik und Gesellschaft vollzog. Der Jüdische Klub dagegen, der sich aus ehemaligen Mitgliedern des Pro-Regierungslagers 2.3.4

371 Zur Zweiten Republik als nationalisierendem Staat siehe Henschel/Stach: Nationalisierung und Pragmatismus; sowie Unterkapitel „Ethnizität ohne Gruppen“ in der Einleitung.

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zusammensetzte, mutierte in dieser Situation zum entscheidenden Akteur bei Abstimmungen. Wegen dieser Umverteilung der Macht begannen die Räte des Pro-Regie­ rungslagers mit dem Jüdischen Klub zu verhandeln: Der jüdische Zahnarzt Lantner hätte mit den neun Stimmen des Jüdischen Klubs keine Chance auf eine Wahl als Vertreter für die Fürsorgevereinigung gehabt. Deswegen suchten die Räte des Pro-Regierungslagers den Jüdischen Klub davon zu überzeugen, ebenso für den Priester Lubelski zu stimmen. Dafür boten sie Lantner den Stellvertreterposten an. Dieses Wahlverhalten hätte den Sozialisten Kasper Ciołkosz verhindert und zugleich Lantner wenigstens den Stellvertreterposten zugesichert. Das hier zum Ausdruck kommende Taktieren und Werben um den Jüdischen Klub war etwas Neues im Stadtrat, und der seit Juni 1936 formal abgespaltene Jüdische Klub hatte dadurch auch mehr Verhandlungsspielräume und Druckmittel, um eigene jüdische Positionen oder, wie in diesem Fall, Kandidaten durchzusetzen. Die Räte des Jüdischen Klubs ließen sich auf diesen Pakt ein, was ihnen massive Kritik sowohl aus den Reihen der bundischen Räte als auch von den Publizisten des Tygodnik Żydowski einbrachte, denn der mit den Stimmen des Jüdischen Klubs gewählte Geistliche Lubelski war als Sejm-Abgeordneter zugleich Befürworter der „polityka owszemowa“.372 So hatte zwar der Jüdische Klub seinen Stellvertreter durchgesetzt, aber um den Preis eines rechtskonservativen Priesters. Die Redakteure des Tygodnik Żydowski bezweifelten, ob dies wirklich jüdischen Interessen diene. Der Repräsentant des Bund sah in diesem Wahlverhalten eine bereits erprobte Taktik, alle Vorschläge des Sozialistischen Klubs zu boykottieren, auch wenn das in diesem Fall hieß, dass ein Befürworter des Wirtschaftsantisemitismus mit den Stimmen von Juden gewählt wurde. Dieses Taktieren sollte sich in ähnlichen Situationen wiederholen. Der Jüdische Klub setzte verstärkt Druckmittel ein, um jüdische Kandidaten durchzusetzen. Bei der Nachwahl eines Assessors im Jahre 1938 schwankte der Jüdische Klub wieder einmal. Die jüdischen Räte verhandelten sowohl mit dem Pro-Regierungslager als auch mit dem Sozialistischen Klub und beabsichtigten diesmal, einen jüdischen Kandidaten zu wählen, auch wenn er aus dem sozialistischen Lager stammen sollte.373 Der Jüdische Klub agierte zunehmend selbstständiger, und die ethnische Zugehörigkeit wurde zum politischen Spielball in den Verhandlungen im Stadtrat. Die Abspaltung des Jüdischen Klubs im Zuge der Silbiger-Affäre hatte gravierende Folgen für die Arbeit des Stadtrats. Während in ganz Polen sich 372 Z Rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 13.11.1936, S. 5. 373 Walka o stanowisko ławnika miejskiego. In: Tygodnik Żydowski, 04.02.1938, S. 1.

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der Rechtsruck des OZN in Politik und Gesellschaft ausbreitete, wuchs der Sozialistische Klub mit 17 von 40 Mandaten zur stärksten Fraktion innerhalb des Stadtrats. Auch wenn der Jüdische Klub bei Abstimmungen zu den Positionen des Pro-Regierungslagers, zu dem die Räte ehemals gehörten, tendierte, so waren die Kräfteverhältnisse nicht mehr eindeutig verteilt. Bereits im Oktober 1936 kam es zu einem Präzedenzfall, als die Anträge des Sozialistischen Klubs unter anderem zum Bau von billigem Wohnraum für Arbeitslose in Höhe von 10 000 Złoty mit der Mehrheit der Stimmen angenommen wurden.374 Im März 1937 debattierte der Stadtrat über die Zwangsexmittierung von Händlern aus dem Rathaus, mitten am Rynek. Die Geschäfte, die sich im Gebäude des Rathauses befanden, wurden ausschließlich von Jüdinnen und Juden betrieben.375 Maurycy Hutter, einer der beliebtesten Stadträte aus der PPS, kämpfte in den 1930er Jahren erbittert gegen die Diskriminierung von Kleinhändlern.376 Im März 1937 griff er das Thema erneut auf: „Wenn die Marktbuden nicht gesetzeskonform sind, dann müssen wir uns eben um entsprechende Marktstände bemühen, aber man kann nicht einfach den Menschen ihr letztes Stück Brot wegnehmen und sie ihrem Schicksal überlassen.“377 In dieser Debatte ging es wiederholt um die allgemeine Frage der Zurückdrängung von Jüdinnen und Juden aus dem Handel, der auf dem Markt als zentralem Ort des Austauschs und des Miteinander-Handelns zwischen Jüdinnen/Juden und Nichtjüdinnen/Nichtjuden besonders präsent war. Die Debatte der Zwangsausweisung jüdischer Händler im Jahr 1937 hatte überdies den Beigeschmack, den antisemitisch-nationalistischen Forderungen nach „Entjudung“ des Kleinhandels nachzukommen. Der Sozialistische Klub stellte sich entschieden dagegen. Der Jüdische Klub stimmte in diesem Fall in Übereinstimmung mit dem Sozialistischen Klub ab, und so bewahrten beide gemeinschaftlich jüdische Händler aus dem Rathaus vor dem Ruin.378 Bei derselben Sitzung jedoch zog der Jüdische Klub seinen Antrag auf Zuschussfinanzierung des jüdischen Spitals auf Anraten des Stadtpräsidenten zurück.379

374 Z Rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 12.10.1936, S. 1. 375 Protokoll des Stadtrats vom 04.03.1926, ANKr. Odd. T. 33/1/Akta miejskie ZMT 1. 376 Zu Maurycy Hutter siehe Kapitel 2.2.1 „Das Erbe der k.u.k. Monarchie: der Tarnower Stadtrat nach dem Ersten Weltkrieg (1918–1924)“, hier besonders das Unterkapitel „‚Reaktionäre Assimilanten‘, ‚sozialistisches Gewissen und jüdisches Herz‘ – Juden im Tarnower Stadtrat bis 1924“. 377 Auch andere PPS-Abgeordnete kämpften gegen die Exmittierung des Handels; Protokoll der Haushaltsdiskussion im Stadtrat, 22.03.197, ANKr. Odd. T. 33/ZMT 1c, S. 67–68. 378 Sesja budżetowa Rady Miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 26.03.1937, S. 3–4. 379 Ebd.

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Hier taktierte der Jüdische Klub, um dem Präsidium nicht zu viele Zugeständnisse abzuverlangen. Die Position des Sozialistischen Klubs erstarkte innerhalb des Stadtrats, sodass der Stadtpräsident gezwungen war, Konzessionen an die Sozialisten zu machen. So ließ er immer häufiger Diskussionen über den Haushalt sowie über Anträge der Sozialisten zu, auch wurden seither Kommissionen anteilig mit Vertretern aus dem Sozialistischen Klub besetzt.380 Die Publizisten der pro-zionistischen Wochenzeitung Tygodnik Żydowski schrieben von einer „ugoda“, einem „Vergleich“ zwischen Sozialistischem Klub und dem Stadtpräsidenten. Mit diesem Ausdruck verwiesen die Journalisten zugleich auf die „ugoda“ von 1925 zwischen der jüdischen Fraktion im Sejm und der Regierung – eine Politik, die in den späten 1930er Jahre auf gesamtstaatlicher Ebene nicht mehr denkbar war. Der Sozialistische Klub konnte sich im Stadtrat wahrlich etablieren: Seine Anträge wurden wiederholt von der Mehrheit der Räte angenommen und seine Mitglieder wurden nicht mehr wie in den Jahren 1934 und 1935 mundtot gemacht und bei kritischen Äußerungen des Raumes verwiesen. Von einer sozialistischen „Opposition“, die nicht zu Wort kam, konnte kaum noch die Rede sein.381 Nun konnte der Sozialistische Klub seine politische Ausstrahlungskraft im Stadtrat entfalten. Das wiederum trug zur Popularität der Verbindung zwischen PPS und Bund bei. Dies stellte eine paradoxe Situation dar: In einem zunehmend autoritär, nationalistisch und offen antisemitisch regierten Land konnte sich 1936 durch den Zerfall der einstigen BBWR-Mehrheit die sozialistische Linke im Stadtparlament durchsetzen, da die jüdischen Stadträte des einstigen Sanacja-Lagers nicht mehr mit der Pro-Regierungsmehrheit stimmten. Ob auch in anderen Städten die Linke durch den Zerfall der BBWR de facto mehr Macht erhielt und sich eine paradoxe Situation zwischen OZN-regiertem Land und einer Konkurrenz- bzw. Alternativsituation in den (multiethnischen) Städten etablierte, bleibt noch zu untersuchen. Die Wahlen zu den Stadträten 1938/1939 scheinen zumindest darauf hinzudeuten. Debatten über Antisemitismus „Juden behandelt man im Allgemeinen schlecht,“ so begann David Batist vom Bund auf der Stadtratssitzung im März 1937 seine Ausführungen zur Lage der 380 Ebd.; Posiedzenie Rady Miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 09.04.1937, S.  3; Posiedzenie Rady Miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 25.02.1938, S. 3. 381 Posiedzenie Rady Miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 09.04.1937, S.  3; Posiedzenie Rady Miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 18.06.1937, S.  2; Sesja budżetowa Rady Miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 19.03.1938, S. 1–2.

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Jüdinnen und Juden in Tarnów.382 Seit dem Jahr 1936 häuften sich Diskussionen über Judenfeindschaft in den Stadtratssitzungen. Gründe dafür sind in zweierlei Momenten zu suchen: Zum einen mehrten sich tatsächlich, wie bereits oben beschrieben, in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre antisemitische Vorfälle und Tendenzen, die auf allen Ebenen des politischen wie gesellschaftlichen Lebens spürbar waren. Der Rechtsruck der polnischen Politik, mit der Bildung des OZN im Februar 1937, gaben dem Antisemitismus in Polen neuen Auftrieb und machten ihn „salonfähig“ in allen gesellschaftlichen Räumen und auch als Alltagserfahrung in Tarnów spürbar. Deswegen fanden die Diskriminierungen auch häufiger Eingang in die Debatten des Stadtrats. Zum zweiten konnte Judenfeindschaft in diesem Gremium auch deshalb thematisiert werden, da der Sozialistische Klub, vor allem der Bund, der den Kampf gegen Antisemitismus und „nationalen Chauvinismus“ auf seine Fahne geschrieben hatte, seit der Auflösung des BBWR nicht mehr mundtot gemacht und aus den Sitzungen ausgeschlossen wurde. Seit die Sozialisten zur stärksten Fraktion im Stadtrat avancierten, gelang es dem Bund, die Judenfeindschaft in der Stadt offen anzuprangern. Da die einzelnen Redebeiträge der Sitzung im März 1937 ausführlich protokolliert sind und die Räte hier gleich mehrere substanzielle Probleme ansprachen, soll sie im Folgenden als Leitfaden dienen, um den öffentlich diskutierten und ethnisch motivierten Konflikten nachzugehen. Was waren die Themen, die David Batist im März 1937 in einer flammenden Rede ansprach? Zunächst stellte Batist, wie schon in seiner AntisemitismusRede ein Jahr zuvor, seine primäre Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse fest: „Ich spreche hier nicht als Vertreter der verarmten jüdischen Massen, sondern der Arbeiterklasse und der sozialistischen Partei.“383 Danach warf Batist der Stadtverwaltung und dem Pro-Regierungslager eine systematische Diskriminierung von Juden und Gleichgültigkeit gegenüber jüdischen Belangen vor. Vor allem seien die städtischen Beamten gegenüber Juden negativ eingestellt und verweigerten ihnen die Anstellung in städtischen Einrichtungen oder bei städtischen Baumaßnahmen. Juden im öffentlichen Dienst würden zuerst entlassen und seit Jahren keine Beförderung mehr erhalten. Dies hatten der Bund und auch die PPS wiederholt moniert. Das Thema der Beschäftigung Juden durch die Kommunen war zudem ein Pfeiler der bundischen Lokalpolitik in ganz Polen.384 In vielen anderen Städten rügten jüdische Räte

382 Protokoll der Haushaltsdiskussion im Stadtrat, 22.03.1937, ANKr. Odd. T.  33/ZMT 1c, S. 67–68. 383 Ebd. 384 Vgl. Pickhan: „Gegen den Strom“, S. 355–356.

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genau dieses Problem wiederholt. Doch es schien nichts zu nutzen, denn im Folgejahr konstatierte Batist, in Anspielung auf die Diskriminierung Juden an der Universität, einen Numerus nullus bei der Einstellung jüdischer Bewerberinnen und Bewerber in den städtischen Einrichtungen.385 Zudem kritisierte Batist fehlende Subventionen für das jüdische Spital, das jüdische Altersheim sowie das jüdische Kinderheim. Dies sei ein grobes Unrecht.386 Des Weiteren beklagte er den in der Öffentlichkeit spürbaren Antisemitismus, propagiert durch die Zeitung Głos Ziemi Tarnowskiej. Dieser Vorwurf hatte auch in den Folgejahren ein Nachspiel, denn das Präsidium des Stadtrats schaltete wiederholt Anzeigen in dieser Zeitung und subventionierte somit mittelbar ein Blatt, das judenfeindliche Stereotype verbreitete. Laut Tygodnik Żydowski konnte sich die Zeitung nur durch die Anzeigen städtischer Einrichtungen und des Präsidenten halten.387 Letzteres dementierte die betreffende Zeitung vehement.388 Jede Anzeige im Głos Ziemi Tarnowskiej, so David Batist später, im September 1937, sei eine „Provokation für die jüdische Bevölkerung“.389 In seiner Rede im März 1937 sah Batist einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Verweigerung städtischer Angestellter, Juden an die „Schaufel zu lassen“, und der Tatsache, dass so viele Juden im Kleinhandel tätig waren, da sie keine anderen Erwerbsmöglichkeiten für sich sahen. In den 1930er Jahren und besonders seit 1936 wurden Jüdinnen und Juden zudem sukzessive aus dem Handel verdrängt. Die Bemühungen des Stadtrats, aus „ästhetischen Gründen“ die Marktstände auf den städtischen Plätzen abzuschaffen, waren angeblich Maßnahmen zur Modernisierung des Stadtbildes, aber zugleich eine Form des wirtschaftlichen Antisemitismus sowie ein Mittel, um die polityka owszemowa in die Kommunalpolitik zu implementieren. Zunehmend betrieb der rechte Flügel der ehemaligen Sanacja eine Klientelpolitik gegenüber Nichtjüdinnen und Nichtjuden, zum Beispiel in öffentlichen Aufforderungen in den Lokalzeitungen nach wirtschaftlicher „Selbstverteidigung“.390 In der öffentlich und politisch wiederholt beschworenen vermeintlichen wirtschaftlichen Konkurrenzsituation zwischen Jüdinnen/Juden und Nichtjüdinnen/ 385 Sesja budżetowa Rady Miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 19.03.1938, S. 1–2. 386 Protokoll der Haushaltsdiskussion im Stadtrat, 22.03.1937, ANKr. Odd. T.  33/ZMT 1c, S. 67–68. 387 Posiedzenie Rady Miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 10.09.1937, S.  3–4; siehe auch Posiedzenie Rady Miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 15.10.1937, S. 1–2. 388 Z Rady Miejskiej. In: Głos Ziemi Tarnowskiej, 26.09.1937, S. 2. 389 Posiedzenie Rady Miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 10.09.1937, S. 3–4. 390 Obóz Zjednoczenia Narodowego. In: Głos Ziemi Tarnowskiej, 20.12.1937, S. 4.

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Nichtjuden forderten letztere eine Vertretung ihrer Interessen durch die Kommunalpolitiker ein. In der Lokalöffentlichkeit waren diese Forderungen sehr präsent, so in der Zeitung Nasza Sprawa und im Głos Ziemi Tarnowskiej.391 Die Zeitung, so bemängelten einige Räte bei einer Stadtratssitzung, stiftete Jugendliche sogar zu antijüdischen Boykotten und folglich Unruhen an, was tiefes Misstrauen zwischen der „katholischen und jüdischen Bevölkerung“ säe.392 Dennoch verlautbarte der Präsident der Stadt Tarnów im polnischen Radio, in Tarnów gebe es zu wenig polnisch-katholische Händler.393 Er reihte sich damit nahtlos in den Kampf um die Marktstände und den wirtschaftlichen Antisemitismus ein. Immer weiter breiteten sich die Wogen judenfeindlicher Gesinnungen im öffentlichen Raum aus, was seinen Widerhall auch im Stadtrat fand. Bis in die Klassenräume reichten die Anfeindungen, wie der Stadtrat Józef Sukman vom Sozialistischen Klub bemängelte. Es kam den Räten zu Ohren, dass jüdische Kinder schlecht behandelt und von Lehrerinnen und Lehrern mit Ausdrücken wie „ścierwo żydowska“ (jüdische Kanaille) beschimpft wurden.394 Im Oktober des Jahres 1937 verurteilte der Sozialistische Klub erneut den grassierenden Antisemitismus in den Schulen. In der Staszic-Grundschule solle sogar geplant sein, ähnlich wie in den Universitäten, Ghetto-Bänke einzuführen, um jüdische und nichtjüdische Kinder zu segregieren.395 Auch seien Subventionen für eine Sommerkolonie vom Stadtrat gestrichen worden, als klar wurde, dass eine Jüdin das Ferienlager leiten würde.396 Nach dem Pogrom in Brest am Bug im Mai 1937 reichte der Sozialistische Klub einen Antrag ein, in dem der Stadtrat von Tarnów die Ereignisse aufs Schärfste kritisierte. Die Erklärung wurde jedoch nicht laut vorgelesen, da sich vermutlich die Räte vorab geeinigt hatten, den Antrag in der Form an das Präsidium zu übergeben. In der Resolution erklärten alle Räte Folgendes:

391 Siehe Kapitel  2.3.3 „Der Fall Silbiger 1936 – und der Antisemitismus in Polen“, hier besonders Unterkapitel „Der Antisemitismus in Polen – der gesamtgesellschaftliche Kontext der Affäre Silbiger“. 392 Posiedzenie Rady Miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 15.10.1937, S. 1–2. 393 Z dnia Tarnowa w polskim radio. In: Tygodnik Żydowski, 16.09.1938, S. 2. 394 Protokoll der Haushaltsdiskussion im Stadtrat, 22.03.1937, ANKr. Odd. T.  33/ZMT 1c, S. 67–68. 395 Posiedzenie Rady Miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 15.10.1937, S.  1–2; zum Vorwurf der Ghettobänke in der Staszic-Grundschule siehe auch Kapitel 3.2.6 „Die späten 1930er Jahre und der Spießrutenlauf jüdischer Schüler“. 396 So Lidia Ciołkosz in Budżet na radzie miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 06.04.1936, S. 6–7.

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kapitel 2 Vorfälle dieser Art müssen von allen Staatsbürgern streng verurteilt werden, die die grundlegenden Prinzipien des Zusammenlebens in einem Staat achten, das heißt Gleichheit vor dem Gesetz unabhängig von Religion, Rasse oder Nationalität. […] Der Stadtrat verurteilt die Pogrome und die dabei auftretende Agitation. Sie trüben das einvernehmliche Miteinander aller Nationalitäten Polens, sie schaden dem guten Ruf der polnischen Nation, seiner ganzen Tradition, seinen Idealen und lebenswichtigen Interessen.397

In diesem Aufruf fanden sich einige Anklänge an eine staatsbürgerliche Konzeption der polnischen Gesellschaft, die unterschiedliche Religionen und Nationalitäten einschloss. Sie wirkte jedoch zu der Zeit ihrer Verfassung appellativ, sie erinnerte an Rechtsgleichheit, an Multikulturalität und Multiethnizität, die de  facto immer schwieriger zu leben waren. Dennoch waren diese appellativen Mahnungen 1937 im Tarnower Stadtrat noch konsensfähig. Andererseits konsolidierte sich im rechten Spektrum der alten SanacjaGruppierung Tarnóws bereits ein OZN-Ableger. Im Dezember 1937 gab es in Tarnów ein Gründungstreffen des lokalen OZN, bei dem auch der Präsident der Stadt Brodziński anwesend war. Der Referent der Veranstaltung zitierte Mussolini, huldigte Piłsudski und auch Śmigły-Rydz sowie dem Militär. Das OZN gab sich klar als nationalistisch zu erkennen und schloss Jüdinnen und Juden a  priori aus seiner Vereinigung aus. „Wir vereinen uns nur unter Polen für unsere Ziele. Wir wollen, dass nur Polen Hausherren in Polen sind, bei der Gewährung von entsprechenden Verfassungsformen für andere.“398 Bemerkenswert an dem Zitat ist nicht nur der Rückgriff auf die bewährte Formel der Herren im eigenen Haus, sondern dass hier von „den Polen“ und „unseren Zielen“ gesprochen wurde, ohne zu explizieren, dass es sich hier um christliche, ethnische bzw. nichtjüdische Polen handelte. Die Verschmelzung der Semantik von „Pole“ mit der Bedeutung von „ethnischer Pole“, d.  h. mit eindeutiger religiöser und ethnischer Zugehörigkeit bzw. sogar Abstammung, machte 1937 bei einer OZN-Veranstaltung in der Peripherie eine genauere Bestimmung des Begriffs „Pole“ obsolet. Dabei überschrieben die OZNRädelsführer die noch zu Piłsudskis Zeiten so wichtige staatsbürgerliche Kategorie und nutzten den Begriff „Pole“ nur in einem engen ethno-nationalen Sinn. Auch mussten sie davon ausgehen, dass ihre Zuhörenden dies unmissverständlich in genau diesem Sinn auffassen würden. Des Weiteren sprach der Referent in der Versammlung nicht von Minderheiten und durch die Verfassung verbürgten Minderheitenrechten, sondern „den Anderen“, die „den

397 Z Posiedzenia Rady Miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 18.06.1937, S. 2. 398 Obóz zjednoczenia Narodowego powstaje w Tarnowie. In: Głos Ziemi Tarnowskiej, 12.12.1937, S. 1–3, hier S. 2.

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Polen“ gegenüberstanden. Dieser diskursive Rahmen der von den „Anderen“ bedrohten Polinnen und Polen ebnete dann auch konsequent den Weg für die Schlussfolgerung, wie zu handeln sei: Der wirtschaftliche Antisemitismus wurde befürwortet, und der Aufruf erging, die polnische Wirtschaft zu stärken. Insgesamt war in den Jahren 1936–1939 ein rasanter Anstieg an Debatten über Judenfeindschaft in der Stadt sowie über ethno-national motivierte Konflikte zu verzeichnen. Zwar waren auch allgemeine Themen, wie Arbeitslosigkeit, Verschuldung der Stadt, Gas- und Elektrizitätswerke, Verschönerung des Stadtbildes oder sozialer Wohnungsbau, weiterhin im Stadtrat präsent. Aber immer häufiger brachen jetzt Klagen über Judenfeindschaft, über die Diskriminierung von Jüdinnen und Juden in Schulen, in der Wirtschaft und in öffentlichen Ämtern sowie über gewalttätige Ausschreitungen in die Diskussionen des Stadtrats ein. Diese Häufung des Themas auf der Agenda des Stadtrats war noch einige Jahre zuvor in Tarnów unbekannt. Dabei verstanden sich die eng ethnisch (und katholisch) definierten Polen als „Titularnation“ oder anders von den Zeitzeugen ausgedrückt als „Hausherren“, und sie strebten die Hegemonie auf allen Ebenen des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens an. Die bloße Existenz von Jüdinnen und Juden und deren historisch tradierte soziale Stellung in Städten wurde von „den Polen“ als Konkurrenzsituation gedeutet. In dieser zugespitzten Situation fanden die Wahlen zum Stadtrat im März 1939 statt. Die Politisierung von Ethnizität manifestierte sich darin, dass nun – ganz anders noch als 1933 – fast alle Gruppierungen, die sich zur Wahl stellten, ethnisch homogen waren und der Wahlkampf sich vor allem um ethnische Themen drehte. 2.4

Die Wahlen von 1939

17 Juden im Stadtrat, zwei jüdische Assessoren im Präsidium und ein Jude viel zu lange als Vizepräsident der Stadt  – das kritisierte aufs Schärfste die SN (Stronnictwo Narodowe) auf einem Wahlplakat zu den am 5.  März 1939 stattfindenden Stadtratswahlen in Tarnów. Die Anspielung galt natürlich Zygmunt Silbiger, der vor allem in seiner Eigenschaft als Jude angegriffen wurde. Zu lange  – so hieß es im äußerst aggressiv gestalteten Wahlaufruf  – sei die Stadtpolitik Tarnóws jüdischen Einflüssen ausgesetzt gewesen. Nun aber müsse Tarnów zu einer „nationalen und katholischen“ Stadt werden. Auf knallrotem Hintergrund richtete sich das Plakat an „Polacy!“ – die Polen. Links prangerte das Parteizeichen der SN, ein Schwert umringt von einer Schleife in den polnischen Nationalfarben (vgl. Abbildung 20). Der Kampfdiskurs der nationalen und katholischen „Polen“ gegen den „jüdischen Feind“ erreichte im Wahlkampf zum Stadtrat von Tarnów 1939 einen Höhepunkt.

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kapitel 2

Abbildung 20 Wahlplakat SN, 1939

Juden und katholische Polen – diese Dichotomie und die Bataille um die jeweiligen „nationalen“ Interessen prägten den Wahlkampf zum Tarnower Stadtrat im Jahr 1939. Die Trennlinien in der Stadt lagen – schenkt man der Wahlkampagnenrhetorik Glauben – nicht mehr zwischen sozialen Gruppen oder den (ethnisch gemischten) politischen Bewegungen, sondern verliefen strikt nach ethnisch-nationalen Kategorien. Die Politisierung von Ethnizität, das heißt die Konsolidierung einer Gruppe durch ein Nationalgefühl mit politischer Agenda und klaren Feindkonstruktionen außerhalb der eigenen ethnischen Gruppe, war im Wahlkampf 1939 ein wirkmächtiger Faktor in der Gestaltung der Lokalpolitik. Noch im Dezember 1933 waren fast alle Wahllisten in Tarnów ethnisch gemischt und warben in ihrem Wahlkampf für einen breiten, religiös und ethnisch übergreifenden Zusammenschluss, um eine Politik für das Wohl der gesamten Stadt zu gestalten. Im März 1939 hatte sich die Situation in ihr Gegenteil verkehrt. Fast allen Wahllisten (mit Ausnahme der PPS) waren ethnisch homogen. Folgende Wahlblöcke stellten Kandidatenlisten auf: ganz rechts außen die SN, die Nationaldemokratie, die sich erst Ende der 1930er Jahre in Tarnów etabliert hatte und 1939 zum ersten Mal bei Stadtratswahlen kandidierte. Die Polnische Christliche Vereinigung (PZCh – Polskie

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Zjednoczenie Chrzescijańskie) war ein polnisch-nationales Wahlbündnis und kann als eine Art Ableger des OZN auf lokaler Ebene verstanden werden. Demgegenüber formierte sich – auch ein Novum in der Stadtgeschichte – ein eigenständiger Vereinter Jüdischer Wahlblock. Die PPS trat diesmal auf einer getrennten Liste vom Bund zur Wahl an, letzterer kandidierte zusammen mit der linken Poale Zion. Da zum Wahlkampf der PPS und des Bund/linke Poale Zion im Jahr 1939 keine Quellen erhalten sind, konzentriere ich mich im Folgenden auf die Wahlmottos, Diskurse und Protagonisten von drei Gruppierungen: der SN, der Polnischen Christlichen Vereinigung sowie dem Vereinten Jüdischen Wahlblock. Polnische Christliche Vereinigung (Polskie Zjednoczenie Chrzescijańskie – PZCh) Das Wahlbündnis gründete sich im Januar 1939.399 Die Initiative zur Vereinigung ging auf ehemalige Mitglieder des BBWR zurück. Die Spaltung des alten Sanacja-Lagers auf gesamtgesellschaftlicher Ebene in eine rechte Fraktion, die sich seit 1937 im OZN konsolidierte, und einen zunehmend geschwächten Rumpf, der kaum noch politische Bedeutung besaß, geschah parallel auf der lokalpolitischen Bühne. Nach Piłsudskis Tod 1935 und beschleunigt durch die Causa Silbiger 1936 zerfiel das Pro-Regierungslager in Tarnów. Das rechte Spektrum des Lagers konsolidierte sich im Januar 1939 zur PZCh. Mindestens vier der Stadträte des Pro-Regierungslagers waren unter den Gründungsmitgliedern der PZCh.400 Fünf weitere Gründungsmitglieder der PZCh waren BBWR-Mitglieder ohne Stadtratsmandat gewesen. Andererseits schlossen sich sieben Männer des Pro-Regierungslagers, darunter einige Geistliche, der neuen PZCh nicht an.401 Diese letzteren verloren jedoch rasch an politischer Bedeutung und sind auf keiner anderen Wahlliste verzeichnet, vermutlich da sie in der nun ethno-nationalistisch polarisierten politischen Arena keinen Raum mehr für sich beanspruchen konnten. Mehrheitlich waren die Gründungsmitglieder der PZCh Bildungsbürger, viele Lehrer, klein- und mittelständische Unternehmer sowie Geistliche wie der Priester Jan Bochenek vom Domkapitel.402 Der Vereinigung schlossen 2.4.1

399 Polskie zjednoczenie chrześcijańskie. In: Tygodnik Żydowski, 13.01.1939, S.  3; Walka o miasto. In: Hasło. 27.01.1938. S.  2; Polskie zjednoczenie chrześcijańskie. In: Ziemia Tarnowska, 11.02.1939, S. 1–2. 400 Kandydaci na radnych Polskiego Zjednoczenia Chrzescijańskiego. In: Ziemia Tarnowska, 25.02.1939, S. 2–3. 401 Z Frontu Wyborczego. In: Tygodnik Żydowski, 17.02.1939, S. 2. 402 Kandydaci na radnych Polskiego Zjednoczenia Chrzescijańskiego. In: Ziemia Tarnowska, 25.02.1939, S. 2–3.

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kapitel 2

sich auch die SP (Stronnictwo Pracy/Partei der Arbeit), die NSP (Narodowe Stronnictwo Pracy/Nationale Arbeiterpartei), Ludowcy (Volkspartei) sowie 16 unabhängige Organisationen und Berufsverbände an.403 Für die PZCh kandidierten 1939 auch zwei Frauen.404 Zwei Tage vor der Stadtratswahl rief eine anonyme Wählerin und Anhängerin der PZCh in der Ziemia Tarnowska dazu auf, dass Frauen, die immerhin 52 % der städtischen Wählerschaft ausmachten, eine weibliche Repräsentanz wählen sollten.405 Weibliche Stadträte seien besonders befähigt, sich um Bereiche wie Bildung und Soziales zu kümmern. Die Verfasserin erwähnte allerdings die seit fünf Jahren im Stadtrat tätige Lidia Ciołkosz (PPS) mit keinem einzigen Wort. Es war jedoch das erste Mal, dass Frauenthemen im Wahlkampf überhaupt eine Rolle spielten. Die PZCh unterschied sich diametral vom Tätigkeitsprofil des seit 1934 im Stadtrat amtierenden Pro-Regierungslagers. Zum einen war der Ausschluss von Jüdinnen und Juden bereits im Namen der Vereinigung verankert  – es war eine christliche Vereinigung, zu der letztere per Definition keinen Zutritt mehr hatten. Noch in den Jahren 1933–1934 speiste sich das Selbstverständnis des Pro-Regierungslagers aus der Integration von gemeinsamen Interessen von sowohl Nichtjüdinnen und Nichtjuden als auch Jüdinnen und Juden, die das Sanacja-Regime gemeinsam unterstützten und dem Aufbau des Staates nach Piłsudskis Façon loyal dienten. Auch kämpften die BBWR-Politiker 1933 noch um jüdische Wählerstimmen. Die ersten Brüche wurden im Umgang mit Silbiger 1936 deutlich, wie in den vorangegangenen Kapiteln dargestellt. Im März 1939 war nichts mehr übrig von einem auf den Staat ausgerichteten, die jüdische Minderheit integrierenden Jagiellonen-Modell des BBWR.406 Vielmehr wurde die PZCh zu einem ethno-nationalen, exkludierenden Block im Geiste des OZN. Die rechtsnationalen Kräfte hatten Rückenwind aus Warschau, und es schien nun opportun, gänzlich auf die ethno-nationalistische Karte in den Stadtratswahlen zu setzen. Ein Kommentar im Tygodnik Żydowski zeigt sowohl die Konsolidierungsmechanismen des polnischen Bündnisses, die Konstruktion des Feindbildes

403 Polskie Zjednoczenie Chrześcijańskie. In: Ziemia Tarnowska, 11.02.1939, S. 1–2. 404 Laut der Aufstellung in Kandydaci na radnych Polskiego Zjednoczenia Chrzescijańskiego. In: Ziemia Tarnowska, 25.02.1939, S. 2–3; Joanna Rumianowa (Ehefrau eines Arztes) und Maria Rosieńska kandidierten für die PZCh-Liste. Maria Rosieńska (1882–1971), ab 1926 Direktorin der J.  Słowacki-Schule in Tarnów, erhielt nach dem Zweiten Weltkrieg ein Mandat im Städtischen Nationalrat. Sierkowicz: Rosieńska, Maria, S. 363–364. 405 Rola kobiety w wyborach (Kürzel S. D.). In: Ziemia Tarnowska, 03.03.1939, S. 2. 406 Siehe dazu Kapitel 2.3.1 „Die ersten demokratischen Wahlen 1933“, hier im besonderen Unterkapitel „BBWR als integrierendes Jagiellonen-Modell in Tarnów?“.

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als auch den vergleichenden Kontext mit der Zeit des 1933 gewählten Stadtrats aus der Perspektive der Zionistinnen und Zionisten auf: Jene, die heute diese Schreckgespenster [von einer jüdischen Front  – AW] fabrizieren, kämpften im Stadtrat fünf Jahre lang Hand in Hand mit den jüdischen Räten gegen die Sozialisten. Es sind dieselben, die vor fünf Jahren, als sie jüdische Wählerstimmen brauchten, geradezu die Kippa verherrlichten und wiederholt den Refrain sangen: „Wir wählen die besten Menschen aus, aufgrund ihrer Loyalität und ihres Fachwissens.“407

Da die lokalen Eliten im Allgemeinen bekannt waren, war die personelle Kontinuität von BBWR zu PZCh nicht zu verheimlichen und stellte eine sichtbare Paradoxie dar: von „Verherrlichern“ der Kippa zu Verteidigern des ethnisch-national-katholisch verstandenen „Polentums“ gegen eine „jüdische Gefahr“. Die Ziele der PZCh deckten sich mit den ethnisch-national definierten „polnischen“ Interessen. Im Vordergrund stand die „Verteidigung“  – der Diskurs ist direkt aus dem Wortschatz des OZN übernommen – der polnischen städtischen Strukturen und der „polnischen“ Wirtschaft. Hier setzte die PZCh deutlich auf den Wirtschaftsantisemitismus, der von der polnischen Regierung sanktioniert und vom OZN propagiert wurde. In einem PZCh-Wahlaufruf war zu lesen: „[…] wir haben die Pflicht, für ein polnisches Antlitz Tarnóws zu kämpfen, um die breite wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Stadt, um eine gerechtere Verteilung aller Lasten.“408 „Gerechtere“ bedeutete: von der vermeintlichen Dominanz der Jüdinnen und Juden befreite Verteilung – ein aus der nationaldemokratischen Argumentation übernommenes Versatzstück. Doch was hieß es schon, einen höchst komplexen Wirtschaftskreislauf in einer Stadt mit einem jüdischen Bevölkerungsanteil von fast 50 % zu „polonisieren“? Außer dem wohlbekannten „Kampf um die Marktstände“ und dem Versuch, mehr Nichtjüdinnen und Nichtjuden im Kleinhandel sichtbar zu etablieren, blieb die PZCh eine Antwort auf diese Frage schuldig. Der amtierende Stadtpräsident von Tarnów äußerte kurz vor der heißen Wahlkampfphase im polnischen Radio, dass es in der Stadt zu wenige „polnische“ Händler gäbe.409 Doch letztlich hatte die PZCh kein politisches Programm vorzuweisen, stattdessen basierte die Kampagne darauf, den Kampf um das „polnische Tarnów“ wie ein Mantra zu wiederholen. 407 Chomet, Abraham: Straszak Przedwyborczy. In: Tygodnik Żydowski, 12.08.1938, S. 2. 408 Wahlaufruf der PZCh, zit. nach: Przed wyborami do rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 27.01.1939, S. 2. 409 Z dnia Tarnowa w polskim radio. In: Tygodnik Żydowski, 16.09.1938, S. 2.

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kapitel 2

Die PZCh war eine Art lokaler Ableger des OZN, allerdings gestaltete sich der Fang der Wählerstimmen in einer Stadt, in der fast die Hälfte der Bevölkerung jüdisch war, schwieriger als auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Vielleicht versuchte die PZCh auch deswegen Frauenstimmen zu mobilisieren, da die Wahlgruppierung a priori auf jüdische Wählerstimmen verzichtete. Die PZCh strebte von daher ein möglichst breites „allpolnisches“ Bündnis an, das sich über alle Parteiengrenzen hinwegsetzen sollte. Die einigende Klammer sollte allein die ethnisch-religiöse Zugehörigkeit sein. Einerseits war dies nur ideologisch konsequent, andererseits pragmatisch notwendig, um genügend Wählerstimmen zu bekommen. Schon verhandelte die PZCh sowohl mit der PPS als auch mit der SN, sich ihrem Wahlbündnis anzuschließen. Dass so unterschiedliche Parteien wie die Sozialisten und die extreme Rechte unter dem Banner des „Polnischen“ zusammengehen sollten, verweist zum einen auf das zusammenschweißende Potenzial der ethnisch definierten Nation, auf das die PZCh setzte. Zum anderen zeigt es auch, wie bedeutungslos 1939 die politische Agenda im Angesicht der Loyalitäten zu diesem „Polnischen“ wurde, zumindest im Verständnis der PZCh. Das ist sicherlich ein gravierender Unterschied zu dem Wahlkampf zum Stadtrat im Jahr 1933, als die politischen Trennlinien ethnisch-religiöse Unterschiede überlagerten. Es schien damals unvorstellbar, dass die Sanacja mit der PPS und der ND gegen „die Juden“ zusammenarbeiten würde. Fünf Jahre später hatte ein Teil der alten SanacjaGarde, die sich in der PZCh versammelte, genau dies vor. Natürlich war auch politisches Kalkül im Spiel, denn die PPS war eine starke Partei in Tarnów, und ohne sie und die jüdischen Wählerstimmen hatte die PZCh nur wenig Chancen, die absolute Mehrheit zu erlangen. Deswegen offerierte die PZCh der PPS bereits einen fixen Anteil an Sitzen. Sollte die PPS sich mit der PZCh zusammenschließen, würde sie 13 Stadträte und sogar den Stadtpräsidenten stellen können.410 Ebenso verhandelte die PZCh mit der Nationaldemokratie, die sich über das gleiche Angebot an die PPS entrüstet zeigte und ablehnte. Auch die PPS verweigerte sich diesem Zusammenschluss. Die Ablehnungen beider Parteien, sich in den von der PZCh geformten Schoß der „Polonität“ zu begeben, besonders die Absage der Nationaldemokratie, wurden in der Lokalpresse aufs Schärfste kritisiert.411 Die Nationaldemokratie wurde als Verräter des Polnischen diffamiert: „Was wollen Sie eigentlich?“, schrieb ein empörter Redakteur des Hasło an die Endecja-Vertreter: „Entrüstet Sie es denn so sehr, dass die Polnische Christliche Vereinigung ihre Hand zu 410 Przed wyborami do rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 27.01.1939, S. 2. 411 Naokoło Spraw wyborczych. In: Hasło, 03.02.1939, S. 3; Endecja strzela – kule bija w płot. In: Hasło, 03.02.1939, S. 4.

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allen Polen ausstreckt, egal welcher Gruppierung, von der Endecja bis zur PPS, um eine polnische Mehrheit auf dem Magistrat zu erreichen? Aber meine Herren – Sie sind es, die sich unwiederbringlich kompromittieren, da Sie diese polnische Hand zurückweisen, um Verwirrung zu stiften.“412 Frappierend ist, wie sehr diese Rhetorik formal dem Wahlkampf von 1933 ähnelte, jedoch inhaltlich in ihr Gegenteil verkehrt wurde. Noch 1933 sollte eine Mehrheit zum Wohlergehen der Stadt, zur Sanierung des Haushalts geschaffen werden, unabhängig von der Politikmacherei – alle Sanacja-Anhänger, die Staatsbürger, sollten an einem Strang ziehen. Nun aber sollten alle ethnischen Polinnen und Polen eine Mehrheit schaffen und an einem Strang gegen die Jüdinnen und Juden ziehen. Wer der relevante „Andere“ war, das hatte sich in den letzten fünf Jahren diametral verschoben. Diese Verschiebung hatte sich an der Bruchstelle Silbiger im Jahr 1936 mit aller Deutlichkeit manifestiert. Seit es die Endecja ablehnte, in die Wahlgruppierung der PZCh einzutreten, konnte sich letztere endgültig als Bewahrer „des Polnischen“ inszenieren. So forderten die Redakteure der rechten Wochenzeitung Ziemia Tarnowska einen gesellschaftlichen Boykott der Endecja-Politiker, die als Vaterlandsverräter stigmatisiert wurden. Folgendes Zitat ist direkt auf die Nationaldemokratie gemünzt: „Wer gegen uns [die Polnische Christliche Vereinigung] ist, ist gegen die polnischen Interessen, ist ein Verräter und ein Schädling der nationalen Sache.“413 Dem rechten Spektrum wurde somit abgesprochen, die wahren Vertreter des „Polnischen“ zu sein. Vielmehr versuchte die PZCh die Nationaldemokratie in ihren nationalistischen Diskursen zu überbieten. Als mitten im Wahlkampf zu den Stadtratswahlen im Januar 1939 der langjährige Anführer der Nationaldemokratie Roman Dmowski verstarb, ehrte ihn das Pro-Regierungslager im Stadtrat mit einer Deklaration.414 Eine Abgrenzung von den Nationaldemokraten war seitens der PZCh im Wahlkampf 1939 nicht mehr notwendig. Der ideologische Annäherungsprozess zwischen dem rechten Sanacja-Flügel und den nationaldemokratischen Wertvorstellungen ließ sich bereits während des Silbiger-Falls verfolgen. Nun manifestierte sich im Wahlkampf 1939 das Ergebnis dieser Annäherung in dem neu geschaffenen christlich-polnischen Wahlbündnis. Die PZCh versuchte, die Endecja als Konkurrenz auszuschalten, sie in die (lokal-)politische Bedeutungslosigkeit zu 412 Ebd. 413 Polskie zjednoczenie chrześcijańskie do polskich katolickich wyborców. In: Ziemia Tarnowska, 11.02.1939, S. 1–2. 414 Zdekompletowane posiedzenie. In: Tygodnik Żydowski, 10.02.1939, S.  1. Die jüdischen Stadträte und der Sozialistische Klub blieben dieser Sitzung fern. Potępa: Przed Wojną, S. 183.

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zwingen, um letztlich ihren Platz auf der politischen Bühne und im rechten Spektrum zu übernehmen. Polonität, verstanden im ethno-nationalistischen Sinn, dominierte den Wahlkampf der PZCh. Der diffuse Sammelbegriff des „Polnischen“ fungierte als Schlagwort, hinter dem alle anderen Zugehörigkeiten oder Loyalitäten verschwanden und welcher zudem ein konkretes politisches Programm ersetzte. Die rechte Wochenzeitung Ziemia Tarnowska warb für die PZCh mit den Worten: „An uns ist es, den polnischen und katholischen Charakter unserer Stadt zu verteidigen.“415 In eine ähnliche Kerbe schlug die Wochenzeitung Hasło, zugleich wurde die fehlende Loyalität seitens der Nationaldemokratie zur PZCh als Verrat am „Polnischen“ diffamiert: „Der Stadtrat Tarnóws muss polnisch und christlich sein. Wer die PZCh daran behindert, Mandate im Stadtrat zu erlangen, ist ein Feind Polens, ein Feind Tarnóws.“416 Bei diesem Wahlkampf war die semantische Verschiebung auffällig. Hatte dieselbe Zeitung noch 1935 im Wort „Pole“ auch Juden inkludiert417, so war nun „Polnisch“ zu einem Bedeutungsfeld geworden, welches mit christlich, vornehmlich römisch-katholisch, synonym war. Es stand im Kontrast zu allem Jüdischen. Das Adjektiv „polnisch“ und die Bezeichnung einer Menschengruppe als „Polacy“ schlossen in diesem diskursiven Kontext nicht mehr die Interessen aller polnischen Staatsbürger ein, sondern waren eine Form der diskursiven Exklusion. Diese Verschiebung war nicht nur der nationaldemokratischen Rechten vorbehalten, sondern kam von der dem Sanacja-Bündnis entwachsenen PZCh. Noch im Wahlkampf 1933 stand für die SanacjaUnterstützer die Notion vom Staatsbürger im Vordergrund, 1939 war die PZCh angetreten, um für die Interessen der katholisch, ethno-national bzw. „völkisch“ verstandenen Polen zu kämpfen. Diese semantischen Felder hatten sich zum Teil schon während der Silbiger-Affäre und in ihrem Nachgang verschoben, manifestierten sich aber 1939 mit aller Deutlichkeit. Dass Jüdinnen und Juden vermutlich auch Wählerstimmen und Stadtratssitze bekommen würden, daran zweifelten die Redakteure der Wochenzeitung Hasło nicht. Jedoch sollten diese möglichst niedrig gehalten werden, denn „die Hausherren waren, sind und bleiben wir  – das polnische christliche Bürgertum“.418 In dieser Terminologie manifestierten sich einmal mehr die Hegemoniebestrebungen des polnischen Bürgertums: Sie seien die „Hausherren“ in der 415 Polskie zjednoczenie chrześcijańskie do polskich katolickich wyborców. In: Ziemia Tarnowska, 11.02.1939, S. 1–2. 416 Stan trzeci w szrankach walki wyborczej. In: Hasło, 19.02.1939, S. 1–2. 417 Vgl. Kapitel 2.3.1 „Die ersten demokratischen Wahlen 1933“. 418 Stan trzeci w szrankach walki wyborczej. In: Hasło, 19.02.1939, S. 1–2.

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eigenen Stadt. Die Begrifflichkeit reduzierte den jüdischen Bevölkerungsanteil, der bei fast 50 % lag, zu bloßen Gästen. Jüdinnen und Juden prägten die Stadt über mehrere Jahrhunderte, die Terminologie von Hausherren und Gästen dezimierte ihre Bedeutung, ihre Leistungen und auch ihre Rechte. Die Tarnower Jüdinnen und Juden wurden begrifflich zu Fremden stilisiert und ihr Aufenthalt im „Gastland“ Polen erschien so als etwas Terminierbares. Denn Gäste sollten auch wieder gehen. Jede Einlassung „der Polen“ auf „die Juden“ erschien in dieser Terminologie als Geste der Gastfreundschaft, für die Gäste dankbar sein sollten. Mit dieser Begrifflichkeit wurde die Asymmetrie, ja das absolute Gefälle der Beziehungen zwischen „den Polen“ als den Einheimischen, den ‚eigentlichen Bewohnern‘ und den Anderen unterstrichen. Die Wortwahl von „Hausherren“ und „Gästen“ tauchte bereits im Zuge der Affäre Silbiger in den Lokalzeitungen auf und nun konnte ein offener Wahlkampf mit diesen Begrifflichkeiten stattfinden. Aus den jüdischen Staatsbürgerinnen und -bürgern – das Schlagwort des Wahlkampfes 1933 – die in den Prozess der Politisierung hineingezogen werden sollten und mit denen das Pro-Regierungslager fünf Jahre lang gemeinsam Stadtpolitik gemacht hatte, wurden Gäste, die gefährlichen „Fremden“.419 Alle Jüdinnen und Juden waren, anders als noch 1933, zu den signifikant Anderen geworden. 2.4.2 Stronnictwo Narodowe – SN Zum ersten Mal stellte sich die SN im Jahr 1939 zur Stadtratswahl in Tarnów auf. Das aggressiv gestaltete und eingangs des Kapitels abgebildete Plakat gab bereits einen Vorgeschmack darauf, mit welch drastischer Rhetorik der Wahlkampf geführt wurde. Die SN war auf Landesebene 1928 als politischer Arm der nationalistischen Bewegung der Endecja unter Roman Dmowski gegründet worden. Sie agierte als der Widersacher des Sanacja-Regimes von rechts außen. Hatte die Partei in einigen Regionen durchaus Erfolge verbuchen können, so hatte sie in Tarnów nur schwer Fuß gefasst. Erst im Zuge des allgemeinen Rechtsrucks nach Piłsudskis Tod konnte sie sich als politischer Akteur lokal etablieren. Getragen wurde der Tarnower Parteiableger von der kleinbürgerlichen, unternehmerischen Mittelschicht.420 Nur fünf von den 34 Kandidaten waren Akademiker. Und nur einer, der promovierte Lehrer Leszek Dziama, war bereits

419 Joanna Michlic hat den Begriff des bedrohlichen Anderen geprägt, vgl. Michlic: Poland’s Threatening Other. 420 Laut der Aufstellung der lokalen Kandidaten der SN in den Stadtratswahlen von Tarnów am 05.03.1939. Archiv des Kreismuseums Tarnów, MTH 2340.

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als Stadtrat tätig gewesen.421 Es engagierten sich hier also viele zum ersten Mal auf der lokalpolitischen Bühne. 17 von 34 Männern, die sich als Kandidaten der SN im Jahr 1939 aufstellen ließen, waren Händler und Handwerker. Sie repräsentierten jene Schicht, die die Zielgruppe der katholischen Wochenschrift Nasza Sprawa darstellte. Diese richtete sich mit ihren antisemitischen Slogans genau an diese Berufssparte. Ihre schlechte ökonomische Lage erklärten die Redakteure der Illustrierten mit der vermeintlichen Dominanz „der Juden“ genau in diesen Wirtschaftszweigen und forderten die Verdrängung letzterer aus Handel und Handwerk. Der Tenor der Zeitung schuf ein Bild von einem wirtschaftlichen Wettbewerb innerhalb der Gesellschaft Polens, in welchem sich die katholischen Polinnen und Polen „endlich“ gegen eine vermeintliche Übermacht „der Juden“ behaupten müssten. So unterfütterten die Redakteure den Sozialneid „der Polen“ gegenüber „den Juden“.422 In diesem Sinn kritisierte die SN auf ihrem Wahlplakat, dass Juden bei städtischen Baumaßnahmen bevorzugt eingestellt und jüdische Institutionen Subventionen erhielten. Überhaupt besäßen Juden  80  % der Immobilien in Tarnów und nähmen den Polen buchstäblich das Brot aus der Hand. Deswegen forderte die SN schließlich: „Tarnów – einst polnisch, katholisch, hat derzeit wegen der großen, zusammenhaltenden 48 %-igen jüdischen Massen einen fremden und roten Charakter und muss jetzt wieder national und katholisch werden.“423 Józef Manaczyński, ein Beamter, war der Vorsitzende der lokalen SN in Tarnów.424 Im letzten Wahlkampf zum Stadtrat 1933 hatte er das Bürgerliche Wahlbündnis gegründet, einen Zusammenschluss von überwiegend Immobilieneigentümern, der um bürgerliche Wählerstimmen „egal welchen Glaubens, Religion oder welcher Nationalität“ im Tygodnik Żydowski warb.425 Nun machte er Wahlkampf mit Slogans wie „Wer soll regieren? Wir  … oder die Bienenstocks?“426 Die „Bienenstocks“ standen exemplarisch für jüdische Familien und im Kontext des Zitats repräsentierten sie symbolisch deren Einfluss auf das politische Geschehen. In Tarnów lebte tatsächlich eine Familie Bienenstock. Diese war zionistisch orientiert, und eines ihrer 421 In der von oben eingesetzten Tymczasowy Zarząd Miejski (Provisorische Stadtverwaltung) in den Jahren 1924–1926. 422 Dieser Neid war bis in die Sprache kodiert, vgl. das gängige Sprichwort „Nasze ulice, wasze kamienice“. („Unsere Straßen, eure Häuser“). 423 Wahlplakat des Stronnictwo Narodowe im Vorfeld der Stadtratswahlen vom 05.03.1939, aus der Sammlung im Kreismuseum Tarnów MTH 2340. 424 Potępa: Tarnów międzywojenny, S. 148. 425 Na falach polityki miejskiej (Wywiad z p. prof. K. Ciołkoszem i p. radcą Manaczyńskim). In: Tygodnik Żydowski, 09.02.1934, S. 1–2, hier S. 2. 426 Zit. nach Potępa: Przed Wojną, S. 186.

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Mitglieder, Max Bienenstock, war von 1922 bis 1923 Sejm-Abgeordneter für den Minderheitenblock.427 Seine Schwester Sara war auf der lokal-politischen Bühne aktiv. Sie unterstützte beispielweise bei den Stadtratswahlen 1929 den bürgerlichen christlich-jüdischen Wahlblock. Zusammen mit ihrem Namen fand sich damals auf der Liste der Unterstützer auch Józef Manaczyński – auf Polnisch und in hebräischen Lettern geschrieben. Das holten nun im Jahre 1939 die Redakteure des Hasło genüsslich hervor und druckten die Namen von Sara Bienenstock und Józef Manaczyński auf der damaligen Liste in hebräischen Lettern noch einmal ab.428 Das lokal-kollektive Gedächtnis holte Manaczyński ein und er verlor jedwede Glaubwürdigkeit. Sein Verhalten ist jedoch durchaus nachvollziehbar – Manaczyński strebte lokalpolitisch eine Machtstellung an und bewegte sich im konservativen bürgerlichen Lager. In einer Stadt, in der fast die Hälfte der Einwohnerinnen und Einwohner jüdisch war, schien es zunächst sinnvoll, um Unterstützung unter jüdischen Bürgerlichen zu werben. Erst als sich ein vollständiger Rechtsruck in Polen vollzogen hatte, der Antisemitismus salonfähig und zu einem wirkmächtigen Instrument politischer Mobilisierung wurde, konnte Manaczyński auf die SN setzen. Das Verhalten eines Opportunisten gibt von daher durchaus Aufschluss über den Wertewandel in der späten Zweiten Republik und über antizipierte Erfolgschancen von politischen Gruppierungen. Die lokale SN war zudem bemüht, die noch diffus agierenden nationalradikalen Kräfte in der Stadt zu bündeln und sie unter die eigene politische Ägide zu bringen. Denn nationalistische Jugendliche machten die Tarnower Straßen schon lange vor den Wahlen 1939 unsicher. Junge Sympathisanten der SN veranstalteten Boykotte gegen jüdische Läden, griffen einzelne Menschen tätlich an und kolportierten antisemitische Flugblätter.429 Im September 1937 gründete die Endecja-nahe Jugend eigene „bojówki“, also Schlägertrupps, und lieferte sich Straßenschlachten mit der PPS.430 Im Jahre 1937 verübten SN-Sympathisanten einen Anschlag auf Eugeniusz Sit, den Vorsitzenden des 427 Lavyel, Shulamith: Interview, 01.06.2013, Haifa, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. 428 Egzotyczny kwiatek z historii walk wyborczych. In: Hasło, 24.02.1939, S. 2. 429 Siehe Akten der Staatsanwaltschaft von Tarnów: Hier wurden Vergehen, wie antisemitisches Agitieren von SN-Sympathisanten oder das Kolportieren antisemitischer Flugblätter, von der Polizei protokolliert. Der SN-Sympathisant Aleksander Bryg befindet sich häufig darunter. ANKr. Odd. T.  33/97 PSOT/PT  121/1475/37; ANKr. Odd. T.  33/97 PSOT/PT  121/643/37; ANKr. Odd. T.  33/97 PSOT/PT  122/379/37; ANKr. Odd. T.  33/97 PSOT/PT  141/678/38; ANKr. Odd. T.  33/97 PSOT/PT  141/700/38; ANKr. Odd. T.  33/97 PSOT/PT  142/970/38; ANKr. Odd. T.  33/97 PSOT/PT  142/1010/38; ANKr. Odd. T.  33/97 PSOT/PT 217/W 2446/37; ANKr. Odd. T. 33/97 PSOT/PT 219/W 437/38. 430 Potępa: Tarnów międzywojenny, S. 147–148.

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Kreiskomitees der PPS. Vorangegangen war laut Adam Ciołkosz eine Auseinandersetzung auf der Straße. PPS-Leute hatten jüdische Schüler verteidigt, die von SN-Trupps daran gehindert wurden, Lehrmaterialien zu kaufen. Die SN-Sympathisanten warnten die PPS-Anhänger, erst seien die Juden dran, dann die Sozialisten und drohten namentlich Sit.431 Der angeschossene Sit kam mit dem Leben davon und ließ sich 1939 für den Stadtrat auf der PPS-Liste aufstellen. Seine Geschichte und die seiner Widersacher wird auch im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit eine Rolle spielen. Das Ermittlungsverfahren gegen den Hauptverantwortlichen für das Attentat, Aleksander Bryg, wurde eingestellt.432 Während des Wahlkampfes für den Stadtrat 1939 agitierte dieser dann wieder aggressiv für die SN, sodass die Polizei ihn abermals inhaftierte.433 Etwas über zwei Jahre später wurde Bryg von der Gestapo zu Tode gefoltert. Er starb am 18.12.1941 mit 27 Jahren im Tarnower Gefängnis.434 Nicht nur die Straße, auch die städtische Öffentlichkeit hatte sich seit 1936 durch offen zur Schau gestelltes nationalistisches und antisemitisches Gedankengut empfindlich verändert. Ein wichtiger Akteur dabei war die katholische Kirche, vor allem die wöchentlich erscheinende lokale Illustrierte Nasza Sprawa.435 Diese mischte sich zwar nicht direkt in den Wahlkampf für den Stadtrat 1939 ein, goss aber mit ihren antisemitisch aufgeladenen Artikeln Öl ins Feuer der nationalistischen Rhetorik. Neben einer regelmäßigen Rubrik mit beleidigenden Witzen über Jüdinnen und Juden,436 war das Hauptanliegen ihrer Redakteure, dass Christen den Dienst- und Handelssektor übernehmen sollten.437 Bewusst warben sie äußerst aggressiv dafür, Jüdinnen und Juden aus dem Wirtschaftszweig völlig zu verdrängen und sprachen sich für deren Emigration aus Polen aus.438 Die Illustrierte der Diözese gab Auskunft, wo 431 Aussage Adam Ciołkosz, ANKr. Odd. T. 33/97 PSOT/PT 121/1475/37. 432 ANKr. Odd. T. 33/97 PSOT/PT 121/1475/37. 433 „Za bójki w czasie akcji przedwyborczej policja aresztowała i przekazała władzom sądowym Aleksandra Bryga, działacza Stronnictwa Narodowego.“ In: Tygodnik Żydowski, 17.03.1939, S. 3. 434 IPN BU 2448/503 (Ankiety GKBZH (Głównej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich/ Hauptkommission zur Verfolgung der Hitler’schen Verbrechen) w Polsce oraz Okręgowej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich w Warszawie, zebrane w latach 1968–1972), S. 52. 435 Krużel: „Nasza Sprawa“. 436 Die neue Rubrik „Wesoły kącik“ („Lustige Ecke“) wartete ab April mit antisemitischen Witzen auf: Nasza Sprawa, 17.04.1938, S. 221; weiteres Beispiel: Nasza Sprawa 11.09.1938, S. 518. 437 Przyszły cholewkarz i czapnik. In: Nasza Sprawa, 01.01.1939, S. 5. 438 Piskorz, Julian: ‚Wici‘, ‚Znicz‘, księża i żydzi (sic!). In: Nasza Sprawa, 30.10.1938, S.  615; Zażydzenie przemysłu i handlu w Polsce. In: Nasza Sprawa, 20.03.1938, S. 138; Czy wyjadą? In: Nasza Sprawa, 20.03.1938, S. 164.

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genau in der Stadt nichtjüdische Geschäfte eröffneten, um nicht mehr bei „den Juden“ zu kaufen. Im Januar 1939 fragte Maciej Suwada, Lehrer an Tarnóws Gymnasium und zugleich aktiver Publizist in Nasza Sprawa, öffentlich in der Illustrierten, ob Polen eine antijüdische Gesetzgebung brauche.439 Zunächst postulierte er, wie so häufig in diesem Periodikum, dass Juden dem polnischen Staat schaden und in allen Bereichen des wirtschaftlichen Lebens, in der Industrie und im Handel „unverschämt“ ihren Einfluss ausüben würden. Die Maßnahmen gegen Jüdinnen und Juden im NS-Deutschland kritisierte der Autor allerdings als zu brutal. Die judenfeindliche Politik Polens  – für den Verfasser durchaus positiv besetzt  – hinke aber im europäischen Vergleich hinterher. Er sprach sich offen für judendiskriminierende Gesetze aus: „[…] wir sollten eher dezidierter, planmäßiger und ausdauernder irgendeine Lösung der Judenfrage anstreben.“440 In diesem Zitat wird auch die Verschärfung des Diskurses deutlich  – von der Forderung nach „Entjudung“ des Kleinhandels um 1936/37 hin zur allgemeinen Lösung der „Judenfrage“. Obwohl sich die Illustrierte nicht offen in den Wahlkampf zum Stadtrat einmischte, waren ihre Sympathien deutlich: Es gäbe zwei Lager, so Maciej Suwada, das christlich-nationale auf der einen Seite und das sozialistischjüdische auf der anderen.441 In Wahrheit waren der Vereinte Jüdische Wahlblock einerseits und die sozialistischen Parteien (PPS, Bund und linke Poale Zion) andererseits keineswegs ein einheitliches Lager, sondern Widersacher. Für das national-katholische Blatt allerdings verschmolzen diese Gruppierungen zu einem antipolnischen, antichristlichen und amoralischen Feindbild, welches eine Bedrohung darstellte: „Wenn Ciołkosz in das Rathaus einzieht, werden Priester und Adelige an den Laternen baumeln.“442 Der Autor des Artikels über die Stadtratswahlen, Maciej Suwada, äußerte sich nicht dazu, ob die Tarnowianerinnen und Tarnowianer die SN oder ob sie die PZCh wählen sollten. Er bedauerte, dass das polnisch-nationale Lager entzweit sei. Die Leserinnen und Leser der Illustrierten sollten sich für eine von diesen zwei polnisch-nationalen Optionen entscheiden und vor allem – so sein Anliegen – zur Abstimmung gehen.443 Die Illustrierte hielt sich mit Wahlempfehlungen für die SN vermutlich deswegen zurück, da letztere auf lokaler Ebene nur schwach vertreten war. Die antisemitische Agitation, die nationalisierenden 439 Suwada, Maciej (Pseud. MS): Czy potrzebne są ustawy antyżydowskie? In: Nasza Sprawa, 22.01.1939, S. 44. 440 Ebd. 441 Suwada, Maciej (Pseudonym  M.S.): Głosowanie obowiązkiem. In: Nasza Sprawa, 05.03.1939, S. 128. 442 Ebd. 443 Ebd.

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Töne in der Öffentlichkeit und die Gewaltbereitschaft der Jugend führten nicht zu einer lokalpolitisch bedeutenden Konsolidierung der SN. Insgesamt blieb die Endecja lokal schwach. Trotz der aggressiven Rhetorik der SN war sie keine wirklich ernst zu nehmende Kraft in Tarnów. Sogar der Tygodnik Żydowski schätzte ihren Einfluss als minimal ein.444 Lokalpolitisch war die SN ein neuer Akteur, der über keine ausgebildeten Strukturen verfügte und auch keine eigene Lokalzeitung besaß, um Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren. Durch die opportunistische Haltung ihres Anführers Manaczyński verlor sie zudem an Glaubwürdigkeit. Die PZCh hatte sich dagegen so sehr den ideologischen Vorstellungen der Endecja angenähert, dass sie das Wählerpotenzial der nationalistischen Kräfte hinter sich vereinen und diese der SN streitig machen konnte. Die Positionen der PZCh und der SN verdeutlichen, wie sehr Antisemitismus und nationalistische Wahlpropaganda den Stadtratswahlkampf von 1939 in Tarnów bestimmten. Der Tygodnik Żydowski kommentierte sogar sarkastisch: „Bei uns gibt es weder Probleme noch Programme, die zum Wohle der Stadtbevölkerung anzupacken sind. Bei uns gibt es nur ein Argument: ‚den Juden‘.“445 Der Tygodnik Żydowski dokumentierte die antisemitischen Stimmungsmacher in der Ziemia Tarnowska und in Nasza Sprawa.446 Die Betonung der Andersartigkeit von Jüdinnen und Juden diente als Kontrastfolie, auf der sich die nichtjüdischen Polen als „Hausherren“ wahrnehmen konnten. Die vermeintliche Gefahr, die von „den Juden“ ausging, machte den allgegenwärtigen OZN-Diskurs von der Notwendigkeit der „Selbstverteidigung“ der ethnischen Polinnen und Polen überhaupt erst plausibel. Dieses Schlagwort der „Selbstverteidigung“ mobilisierte die nichtjüdische Bevölkerung und diente gewissermaßen dazu, ihren Judenhass zu legitimieren. Die lokale jüdische Wochenzeitung erkannte und benannte diese Mechanismen der Wählermobilisierung: In diesem Kampf spielt die Judenfrage eine nicht unwesentliche Rolle. Unterschiedliche Kräfte in Polen ließen sich in einem Strom aus Reaktion, Rassenhass und Demagogie mitreißen und fanden im Juden den Sündenbock, in welchem sie die Quelle allen Übels erblicken. Sie wollen den Massen der polnischen Gesellschaft einreden, dass ihre eigenen Bedürfnisse nur dann erfüllt werden, wenn sie Juden geistig und materiell peinigen und ihnen Menschen- und Bürgerrechte absprechen.447

444 Przed wyborami do Rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 03.02.1939, S. 2. Ebenso eingeschätzt werden die Chancen der Endecja bei Potępa: Przed Wojną, S. 182. 445 Z prasy lokalnej. In: Tygodnik Żydowski, 17.02.1939, S. 3. 446 Przegląd prasy lokalnej. In: Tygodnik Żydowski, 27.01.1939, S. 3. 447 Żydzi! Wyborcy! In: Tygodnik Żydowski, 10.02.1939, S. 1.

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Während 1933 das Wohlergehen der Stadt noch durch den Zusammenschluss aller, unabhängig von ihrer Religion oder Nationalität, erreicht werden sollte, ging es nur einige Jahre später um Selbstverteidigung der christlichen Polinnen und Polen gegen eine vermeintliche jüdische Gefahr. Der Wahlkampf 1933 war geprägt von Aufrufen, die alle Tarnowianerinnen und Tarnowianer für das Wohl der Stadt einschlossen. 1939 schrieb die PZCh in ihrem Wahlaufruf dagegen von einem „Bürgerkrieg“.448 Die Vorstellung von „allen Tarnowianern“ als lokaler ‚imaginierter Gemeinschaft‘ war in der Wahlkampfrhetorik von 1939 endgültig in ethno-national definierte Gruppen zerfallen. 2.4.3 Vereinter Jüdischer Wahlblock (Zjednoczony Żydowski Blok Wyborczy) Unter der Federführung der Allgemeinen Zionisten formierte sich der Vereinte Jüdische Wahlblock (Zjednoczony Żydowski Blok Wyborczy). Dieser Zusammenschluss suchte über Parteigrenzen und Anschauungen hinweg, möglichst alle Jüdinnen und Juden in einer Gruppierung zu vereinen. Es versammelten sich hier orthodoxe Jüdinnen und Juden, die Aguda, die MizrachiPartei (religiöse Zionisten), die rechte Poale Zion, die lokalen Ableger der zionistischen Frauenorganisation WIZO (Women’s International Zionist Organization) und andere jüdische Vereinigungen, unter anderem die Jüdische Handelsvereinigung.449 Einstige Widersacher, wie die Zionisten und die Orthodoxen, schlossen sich nun zusammen. Die vielfachen Schmähungen der moszki im zionistischen Tygodnik Żydowski schienen ihre spalterische Kraft eingebüßt zu haben. Der Vereinte Jüdische Wahlblock versuchte sowohl den Bund als auch die Linke Poale Zion in die eigenen Reihen zu integrieren, was aber an der Ablehnung der beiden letztgenannten Parteien scheiterte. Der Bund „schließt sich in seinem kleinen und engen Parteidünkel“ ein, kritisierte ein Redakteur des Tygodnik Żydowski, der zum Sprachrohr der Vereinigung wurde.450 Bund und Linke Poale Zion setzten dem Vereinten Jüdischen Wahlblock eine eigene gemeinsame Wahlliste entgegen. Der Vorstand des Vereinten Jüdischen Wahlblocks war entsprechend der in ihm zusammengeschlossenen diversen Vereinigungen bunt gemischt.451 448 Zit. nach: Przed wyborami do rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 27.01.1939, S. 2. 449 Zusammenschluss folgender Parteien und Organisationen: Allgemeine Zionisten, Mizrachi, SSPP Hitachdut, Poale Zion Rechte, Unia Syjonistów Rewizjonistów, Brith Hachajal, Org. kobiet Narodowo Żyd. „WIZO“, Zrzeszenie kupców i przemysłowców, Blok Agudowsko Bobowski, Zjednoczenie Ortodoksów Tarnowskich. Przed wyborami do Rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 03.02.1939. 450 Spielman, Izrael: O pełne zwycięstwo. In: Tygodnik Żydowski, 17.02.1939, S. 1. 451 Siehe dazu: Utworzenie jednolitej reprezentacji wszystkich frakcji syjonistycznych. In: Tygodnik Żydowski, 28.10.1938, S.  2; Przed wyborami do Rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 03.02.1939, S. 2.

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Den Vorsitz hatte der Zionist Abraham Chomet, Rechtsanwalt und lokalpolitisch ab 1928 in der kehillah aktiv. Er war der letzte Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Tarnóws vor dem Zweiten Weltkrieg und Chefredakteur des Tygodnik Żydowski. 1954 wird er in Israel das erste yizker bukh herausgeben. Neben ihm engagierten sich die Zionisten Henryk Spielman,452 ab 1937 Vorsitzender des Tarnower Handels- und Industrieverbandes, sowie der Anwalt Salomon Goldberg im Präsidium des Wahlblocks. Goldberg hatte bereits 1929 im christlich-jüdischen Wahlblock ein Stadtratsmandat inne.453 Beide gehörten zur lokalen und politisch engagierten Elite der Stadt.454 Des Weiteren waren auch religiöse und orthodoxe Juden Teil des Vereinten Jüdischen Wahlblocks. Elias Gewürz vertrat die lokale Aguda im Vereinten Jüdischen Wahlblock. Auch er war bereits in der jüdischen Gemeinde aktiv gewesen und Teil der kehillah. Er unterstützte seinen Parteifreund Silbiger und hielt zunächst 1929 im christlich-jüdischen Wahlblock ein Stadtratsmandat und dann wieder ab 1934 in der Pro-Regierungsliste. Nach der Affäre Silbiger 1936 spaltete sich Gewürz von der Pro-Regierungsliste ab und wurde Vorsitzender des Jüdischen Klubs. Nach dem Sturz Silbigers übernahm er den Vorsitz der lokalen Aguda.455 Wolf Götzler repräsentierte die Mizrachi-Partei (religiöse Zionisten) im Präsidium des Vereinten Jüdischen Wahlblocks. Er selbst war bereits 1929 mit dem christlich-jüdischen Wahlblock in den Stadtrat eingezogen, und in der kehillah vertrat er die Interessen der Mizrachi ab 1928. Ab 1936 war Götzler stellvertretender Vorsitzender der jüdischen Gemeinde.456 Rubin Strauss war Vertreter der Żabner Chassidim und saß bereits ab 1934 im Tarnower Stadtrat für die Pro-Regierungsliste. Er hatte Zygmunt Silbiger 452 Henryk Spielmans Vater Avraham, ein Kerzenfabrikant, war bereits im Stadtrat von 1929 im christlich-jüdischen Wahlblock aktiv (Bekanntmachung der Wahlergebnisse am 27.06.1929, ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT 18). 453 ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT18. 454 Vgl. Klimek, Rahel (née Goldberg, Tochter von Salomon Godlberg): Interview, 24.05.2013, Ramat HaSharon, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska; Spielman, Elżunia (Elza) (Tochter von Henryk Spielman): Interview, 24.05 2013, Herzliya, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. 455 Koło radnych żydowskich. In: Tygodnik Żydowski, 20.03.1936, S. 3; Gra Agudy. In: Tygodnik Żydowski, 27.03.1936, S.  1; Przed wyborami do Rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 03.02.1939, S. 2; Bekanntmachung der Wahlergebnisse am 27.06.1929, ANKr. Odd. T. 33/1/ ZMT 18; Silbiger, Zygmunt: Obywatele Żydzi! In: Hasło, 04.12.1933, S. 2–3. 456 Informationen aus einzelnen Artikeln in den Lokalblättern: Di talmud-toyre. Vi azoy zi hot gezolt zayn un vos iz oys ihr gevoren. In: Yudish vokhnblat, 04.05.1928, S. 2; Chomet, Abraham: Nasz Wolf Götzler. In: Tygodnik Żydowski, 03.12.1937, S.  3; Utowrzenie jednolitej frakcji reprezentacji wszystkich frakcji syjonistycznych. In:  28.10.1938, S.  2; Przed wyborami do Rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 03.02.1939, S. 2.

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unterstützt und gehörte zu jenen jüdischen Stadträten, die sich nach dessen Sturz mit dem Jüdischen Klub abgespalten hatten.457 Diese Männer hatten also im Pro-Regierungslager mit ihren nichtjüdischen Kollegen zusammengearbeitet, bevor sich ein Teil der letzteren gegen die vermeintliche „jüdische Gefahr“ wandte. Die Kandidaten des Vereinigten Jüdischen Wahlblocks seien hier nur exemplarisch aufgezählt, um die Diversität der Vertreter des Wahlbündnisses aufzuzeigen. Sie entsprangen lokalen jüdischen Eliten, hatten bereits lokalpolitische Erfahrungen (entweder im Stadtrat, in der kehillah und/ oder in der publizistischen Öffentlichkeit), entstammten zumeist dem bürgerlichen Milieu und/oder vertraten religiöse Gruppierungen. Der Vereinte Jüdische Wahlblock setzte es sich zum Ziel, vor allem dezidiert jüdische Interessen zu vertreten. Die zionistischen Publizisten hatten in ihrem lokalen Sprachrohr, dem Tygodnik Żydowski, jahrelang verlautbart, dass eine wirkliche jüdische Repräsentanz bedeutete, die jüdische Bevölkerung als Gruppe mit spezifisch jüdischen Interessen zu vertreten. Silbiger hatten sie als „jüdischen“ Vizepräsidenten nur in Anführungszeichen betitelt, weil er verfehlte, die jüdische Minderheit als solche zu repräsentieren. Die Mobilisierung des Jüdischseins war ein wichtiger Programmpunkt der Zionisten gewesen. Mit anderen Worten, die Zionisten sahen die Zugehörigkeit von Jüdinnen und Juden zu einer „jüdischen Nationalität“ oder zum „jüdischen Volk“458 als bedeutendstes Zugehörigkeitsmuster, in dessen Schatten alle anderen Identifikationsoptionen standen. Daraus leiteten sie politische Interessen aller Jüdinnen und Juden als Gruppe ab. Angesichts des ansteigenden Antisemitismus schien diese Sicht der Dinge nur sinnvoll: Keine Jüdin und kein Jude konnten sich zu Beginn 1939 in Polen noch der Illusion hingeben, dass ihr oder sein Jüdischsein nur situativ eine Rolle spielte. Noch vor kurzem schien es undenkbar, dass sich Zionisten, Aguda und Chassidim in einem Bündnis zusammenfinden würden. 1939 war jedoch ein solcher Zusammenschluss aufgrund der omnipräsenten antisemitischen Praxis und Rhetorik Realität geworden. Spielman schrieb zu den Zielen des Vereinten Jüdischen Wahlblocks:

457 Informationen aus einzelnen Artikeln in den Lokalblättern: Przed wyborami do Rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 03.02.1939, S. 2; Silbiger, Zygmunt: Obywatele Żydzi! In: Hasło, 04.12.1933, S. 2–3. 458 Sowohl die jüdische Nationalität wie auch das jüdische Volk stehen hier in Anführungszeichen, damit deutlich wird, dass es sich hierbei um eine Quellensprache handelt und um den Konstruktionscharakter von Großkollektiven zu unterstreichen.

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kapitel 2 Die künftige jüdische Repräsentanz im Stadtrat muss große und bedeutende Aufgaben schultern. Es wird ihre Pflicht sein, die Sorgen und Hoffnungen der Tarnower Juden auszudrücken, die jüdischen Interessen vorbehaltlos zu vertreten und zu verteidigen, sie muss die gleichmäßige Verteilung öffentlicher Lasten auf alle Schichten fordern, ebenso die Verbesserung der unerträglichen Wohnverhältnisse der armen jüdischen Bevölkerung, das Recht aller Juden auf Broterwerb verteidigen, die Anstellung von Juden bei städtischen Arbeiten fordern und in allen individuellen Fällen zugunsten des Geschädigten intervenieren, da wir eine würdige Repräsentanz im Stadtrat brauchen, die Ausdruck einer eigenständigen, nationalen Politik und ein Faktor zur Verteidigung und zur Rettung der Tarnower Judenheit sein wird.459

Allerdings darf nicht der Eindruck entstehen, die Rhetorik von „polnische versus jüdische Interessen“, die im Wahlkampf vorherrschte, sei eine symmetrische Konstellation gewesen. Der Wahlkampf sowohl der SN als auch der PZCh diente nicht nur der Konsolidierung der eigenen ethno-national definierten Gruppe, sondern die aggressive Diffamierung von Jüdinnen und Juden als Feinden Polens war ein Fundament ihrer Politik geworden. Die nichtjüdischen Polinnen und Polen sprachen im Wahlkampf aus der Position der Stärke einer „Titularnation“, einer ethnischen Mehrheit im Staate, die durch die nationalisierende und national exkludierende Regierung in Warschau Rückenwind erhielt. Die jüdischen Positionen, auch die zionistischen, waren immer die einer Minderheit im Staat und wurden in die Defensive gedrängt. Der Zusammenschluss von Zionisten, Aguda und Chassidim war letztlich durch die Fremdwahrnehmung und -behandlung sowie allgegenwärtige Judenfeindschaft erst möglich geworden. Besonders in den letzten Jahren der Zweiten Republik betrieb die polnische Regierung eine Politik, die danach strebte, die absolute Hegemonie der ethno-national definierten polnischen „Titularnation“ in allen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bereichen gegenüber den Minderheiten durchzusetzen. Durch tätliche Übergriffe wuchs zudem ein Klima der Angst vor physischer Gewalt. Zugleich wurden die polnischen Jüdinnen und Juden als die „Anderen“ und „Fremden“ oder gar als Feinde diffamiert. Dieser Diskurs wurde zu einem kulturellen Code, der sich auch auf die alltägliche Handlungspraxis niederschlug. Boykott der jüdischen Geschäfte, Gewalt gegen Jüdinnen und Juden  – all das war auch in Tarnów zunehmend spürbar und wuchs seit spätestens 1936 exponentiell an. Auch 459 Spielman, Izrael: O pełne zwycięstwo. In: Tygodnik Żydowski, 17.02.1939, S. 1. Es handelt sich hier vermutlich um den oben im Text erwähnten Henryk Spielman, der mit eingetragenem Namen Izrael Hirsch Spielman hieß, aber zumeist die polonisierte Version seines Vornamens nutzte.

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der Wahlkampf um die Sitze im Tarnower Stadtrat begann 1938 mit dem Zerschlagen von Scheiben jüdischer Geschäfte.460 Folglich wurden Antisemitismus und judenfeindliche Gewalt explizit zu einer Strategie im Wahlkampf. Von daher existierte zwar im Wahlkampf zum Tarnower Stadtrat 1939 das Ordnungsprinzip politischer Gruppierungen, die man verkürzt als „polnisch vs. jüdisch“ beschreiben kann, doch das Gefälle zwischen beiden konnte nicht größer sein. Es waren die polnischen Nationalisten, die eine aggressive, antisemitische und exkludierende Politik gegenüber „den Juden“ als Kollektiv führten. Der Vereinte Jüdische Wahlblock argumentierte explizit aus der Defensive und betonte noch 1939 wiederholt die Loyalität von Jüdinnen und Juden zum polnischen Staat. So argumentiert der Zionist Izrael Spielman im Februar 1939: Ein unzertrennliches Schicksal vereinte uns alle durch die Kette des Leids und der Unterdrückung. Der Markthändler und der Handwerker, der Händler und der Akademiker – wir alle krümmen uns unter der Last desselben historischen Schicksals: Wir haben keine Luft mehr zum Atmen, stehen zusammen, dicht gedrängt, umgeben von Mauern aus Böswilligkeit, Intoleranz und engem Egoismus, der uns der Existenzgrundlagen berauben, uns zerschmettern, die Fundamente unseres Daseins brechen will. […] Im Namen unseres gemeinsamen jüdischen Schicksals, unseres gemeinsam erlittenen Leids und der Sorgen stehen wir nun vor Euch, Tarnower Juden, geeint unter dem Banner jüdischer Einigkeit.461

Diese jüdische Einheit wurde im obigen Zitat als historische Schicksalsgemeinschaft dargestellt und die nun erfahrene Ausgrenzung als Aktualisierung vergangener Diskriminierungserfahrungen, welche die Judenheit(en) wiederholt zusammenschweiße. Dabei verschmolzen unterschiedliche soziale Schichten – Markthändler, Handwerker, Akademiker  – durch die „Mauer aus Böswilligkeit und Intoleranz“ zu einer ethnischen und politisch geeinten Gruppe mit eigenen Interessen. „Denn der Antisemitismus“, so ein anderer Autor im Tygodnik Żydowski, „kämpft nicht gegen die einzelnen Gruppierungen innerhalb unserer Gesellschaft – er kämpft gegen uns als Ganzes, ganz gleich welche weltanschaulichen oder sozialen Differenzen uns trennen“.462 Diese Zitate zeigen zweierlei: Ganz anders als noch 1933, als sich die Wahlgruppierungen nicht nach ethnischen oder religiösen Zugehörigkeiten bildeten, konsolidierte nun die Rhetorik des Vereinten Jüdischen Wahlblocks alle Jüdinnen und Juden 460 Chomet, Abraham: Straszak przedwyborczy. In: Tygodnik Żydowski, 12.08.1938, S. 2. 461 Spielman, Izrael: O pełne zwycięstwo. In: Tygodnik Żydowski, 17.02.1939, S. 1. 462 W obliczu wyborów do Rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 23.12.1938, S. 3.

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als Schicksals- und Interessengemeinschaft. Alle anderen Zugehörigkeitsoptionen sowie politischen und sozialen Divergenzen waren zweitrangig. Zum anderen war dieser Zusammenschluss vor allem durch die Diskriminierung von außen und durch den Antisemitismus diktiert. Bund-Anhänger stimmten in diesen Kanon allerdings nicht ein. Trotz der Gefahr von rechts erschien den Bund-Anhängern ein Zusammenschluss aller Jüdinnen und Juden unter einer national-jüdischen Fahne, ungeachtet der politischen Differenzen und divergierenden Interessen, nicht überzeugend. Dies kritisierten Kommentatoren im Tygodnik Żydowski aufs Schärfste. Der Zionist Salomon Goldberg warf dem Bund gar vor, nationale Interessen der Judenheiten ständig zu hintergehen.463 Trotz des Hauptnarrativs von der jüdischen Einheit, die der Vereinte Jüdische Wahlblock wiederholt beschwor, findet sich im Wahlkampf 1939 eine Reminiszenz an das staatsbürgerliche Konzept, an den Staat als höchste Loyalitätsinstanz, zu der sich der Vereinte Jüdische Wahlblock bekannte: In dieser Gegenüberstellung zweier Kräfte, die im Wahlkampf gegeneinander antreten, ist die Haltung der jüdischen Bevölkerung klar und einfach. Als gleichberechtigte Bürger, die sich ihrer Rechte und Pflichten bewusst sind, wollen wir dem Staat ehrlich und loyal alles geben, was der Staat von seinen Bürgern verlangt – wir wollen ausnahmslos alle Pflichten aus Blut und materieller Habe erbringen, die auf uns als Bürgern lasten  – aber wir verlangen die in der Verfassung garantierten Rechte. Um diese Gleichberechtigung und um die Pflichten werden wir an der Seite der polnischen Demokratie kämpfen, deren Sieg existenziell in unserem Interesse liegt.464

Diesen Ausführungen folgt ein Abschnitt, der sich der Frage widmet, warum sich Jüdinnen und Juden jedoch als ein „gesonderter Teil der Gesellschaft mit spezifischen Sorgen und Bedürfnissen“ verstünden und von daher eine eigene jüdische Repräsentanz bräuchten.465 Der Artikel endet mit dem Aufruf zu einer jüdischen Einheit und dazu, die Reihen zu schließen, ungeachtet aller Differenzen.466 *** 463 Goldberg, Salomon: Bund nie może reprezentować interesów narodu żydowskiego. In: Tygodnik Żydowski, 24.02.1939, S. 2. 464 Ebd. 465 W obliczu wyborów do Rady miejskiej. In: Tygodnik Żydowski, 23.12.1938, S. 3. 466 Ebd.

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Tarnóws Bevölkerung war 1939 mit den Entwicklungen auf nationalpolitischer Ebene und mit dem internationalen Geschehen eng verwoben. Die großen Ideologien bestimmten den lokalen Wahlkampf. Für pragmatische, lokale Zielsetzungen schien in dem Wahlkampfdiskurs kein Platz mehr zu sein. Dies wurde im Besonderen an der Wahlrhetorik der PZCh deutlich. Die Aggressivität NS-Deutschlands und die Gefahr eines drohenden Krieges wurden zur Bedrohungskulisse, vor der sich der lokale Wahlkampf abspielte. Im März 1938 annektierte NS-Deutschland Österreich im sogenannten Anschluss, im Oktober den westlichen Teil der Tschechoslowakischen Republik unter Zustimmung Frankreichs und Großbritanniens nach dem Münchener Abkommen. Die Zweite Polnische Republik profitierte von der Schwäche der Tschechoslowakischen Republik und verleibte sich im Zuge der deutschen Annexion selbst drei Bezirke des Olsa-Gebiets ein, die 1919 aufgrund eines Plebiszits der Tschechoslowakischen Republik zugefallen waren. Die Öffentlichkeit feierte diese Annexion als Demonstration der Größe Polens und als patriotischen Triumph.467 Des Weiteren waren die Lokalzeitungen voll von Berichten über die militärische Stärke Polens und mit pragmatischen Tipps zur Kriegsvorbereitung.468 Schulen bereiteten Spenden für die polnische Armee vor.469 In dem oben zitierten Auszug spielte der Autor auf den Krieg an und bekundete die Loyalität der polnischen Judenheit(en) zum Staat – sie seien bereit, für Polen Opfer „aus Blut und materieller Habe“ zu erbringen. Das hieß, dass Jüdinnen und Juden ihre Loyalität im Krieg unter Beweis stellen würden, ungeachtet der jetzigen Diskriminierung. Großen Eindruck auf die Tarnower Jüdinnen und Juden machte zudem die sogenannte Polenaktion im Oktober 1938, als NS-Polizeibehörden in NSDeutschland wohnende Jüdinnen Juden mit polnischer Staatbürgerschaft deportierten. Vorausgegangen war ein Gesetz der polnischen Regierung, welches die Grundlage bildete, um allen polnischen Bürgerinnen und Bürgern, die sich länger als fünf Jahre im Ausland aufhielten, die Staatsbürgerschaft 467 Vgl. z. B. Matyjasik: Reakcja społeczeństwa, S. 295–312. 468 Siehe dazu auch den Tygodnik Żydowski und Aufrufe an seine (jüdischen) Leser, sich freiwillig bei der polnischen Armee zu melden: Tygodnik Żydowski, 14.04.1939, S. 1; Tygodnik Żydowski, 21.04.1939, S. 1: erneuter Aufruf, ins Militär zu gehen für die Verteidigung Polens; Tygodnik Żydowski, 28.4.1939, S. 3: erneut Informationen über Luftabwehr und Spenden für das Militär. Mehrfach in jeder Nummer des Tygodnik Żydowski im Frühjahr 1939 zu finden; auch in nichtjüdischen Zeitungen wurden Informationen veröffentlicht, wie man sich am besten vor Luftangriffen schützen sollte: Hasło, 02.06.1939, S. 4. 469 Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021).

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zu entziehen. Kurz bevor das Gesetz in Kraft trat, wurden am 28.  Oktober 1938 Jüdinnen und Juden mit polnischer Staatsbürgerschaft aus Deutschland abgeschoben. An den Grenzübergängen wurden letztere aber nicht auf polnisches Staatsgebiet gelassen. Viele mussten im Grenzgebiet, beispielsweise im Örtchen Zbąszyń, verharren.470 Die Tarnower Presse berichtete über die – im Grunde erste – Deportation von Jüdinnen und Juden. So rückte auch für die Tarnower Judenheiten die judenfeindliche Politik Hitlers in greifbare Nähe. Spendenaufrufe für die in Zbąszyń festsitzenden Jüdinnen und Juden wurden in der Lokalpresse veröffentlicht.471 Der Tarnower Ingenieur Szancer dankte öffentlich dem Fürsten Sanguszko, dass er jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland Hilfe gewährt hatte.472 Einige hatten Verwandte, die aus dem Deutschen Reich deportiert und die in Tarnów von ihren Familienangehörigen aufgenommen wurden.473 Die aus NS-Deutschland deportierten Jüdinnen und Juden erzählten als Augenzeugen über ihre Lage. Als ein Tarnower Überlebender während des Interviews für das Visual History Archive 1996 standardmäßig danach gefragt wurde, wann ihm die Gefahr NS-Deutschlands bewusst geworden war, gab er sofort Ende 1938 an: „In 1938 Polish Jews were deported from Germany  – then we knew something is going to happen.“474 Das Bedrohungsszenario hatte sich für die Tarnower Jüdinnen und Juden verdichtet, Judenfeindschaft wurde alltäglich spürbar: im Lokalen, im Alltag und zugleich auf der großen politischen Bühne – jener in Warschau und der internationalen. Vor diesem Hintergrund fanden die Wahlen zum Stadtrat am 5. März 1939 statt. Vergleicht man beide Wahlkämpfe zum Stadtrat, den von 1933 und den von 1939, so wird der Wandel politischer Ordnungsmuster und Gruppenbildungsprozesse erschreckend deutlich. 1933 gingen wir noch vom Konzept der „Ethnizität ohne Gruppen“ aus, um die Prozesse der politischen Gruppenund Willensbildung nachzuvollziehen. Die Kategorie des Staatsbürgers spielte zumindest appellativ noch eine Rolle. In der Wahlkampfrhetorik des Jahres 1939 bildete – so scheint es – die ethno-nationale Zugehörigkeit den einzigen 470 Die Tarnower Reaktionen schildern beispielsweise: Brodzianka-Gutt, Elżbieta: Interview 25736, 04.12.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff:  09.03.2021); Baicher, Israel: Interview 16493, 25.06.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021); Zur „Polenaktion“ im Allgemeinen siehe Tomaszewski: Auftakt zur Vernichtung; Bothe/Pickhan (Hg.): Ausgewiesen! 471 Nasza tragedia i pomoc wysiedlonym. In: Tygodnik Żydowski, 04.11.1938, S. 1. 472 Potępa: Przed Wojną, S. 182. 473 So beispielsweise Cesia Honig, die Familie nahm zwei Tanten, die aus dem Deutschen Reich kamen, auf. Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 474 Baicher, Israel: Interview 16493, 25.06.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021).

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politischen Marker, der gar Wahlprogramme überschattete. 1933 war es völlig undenkbar, dass die Sanacja mit der PPS ein Bündnis eingehen würde, 1939 lud die PZCh sowohl die PPS als auch die Endecja zu einer gemeinsamen Gruppierung ein, in den quasi überparteilichen Schoß der „polnischen Nation“. Die antisemitische Kultur und Praxis waren im Wahlkampf 1939 vorherrschend. Jüdinnen und Juden wurden bedroht und zugleich als Bedrohung von der PZCh, der SN und der katholischen Presse dargestellt. In der Wahlkampfrhetorik des Jahres 1939 hat sich gezeigt, was für ein Machtgefälle zwischen der „Titularnation“ und der jüdischen Minderheit auch auf Lokalebene klaffte. Und das sogar in einer Stadt wie Tarnów, in der lange Zeit das galizische Erbe von Ausgleich und Teilhabe vorherrschte. Die Zäsur 1936 mit der Absetzung Silbigers markierte unmissverständlich das Ende dieser Politik des Ausgleichs und der Wahlkampf von 1939 machte umso deutlicher, wie der polnische Nationalismus und der Antisemitismus die lokalen Lebenswelten bestimmten. 2.4.4 PPS und Bund/Poale Zion gewinnen die Stadtratswahlen Zum großen Erstaunen der veröffentlichten Meinung in Tarnów und aller aggressiven nationalistischen Rhetorik zum Trotz gewannen die Sozialisten die Mehrheit im Tarnower Stadtrat. Die PPS und die Liste des Bund und der linken Poale Zion gingen zwar getrennt voneinander zur Wahl, aber in einem „stillen Bündnis“.475 Die PPS holte 16 Sitze, der Bund und die linke Poale Zion sieben Sitze – damit hatte der neue Sozialistische Klub eine Mehrheit von 23 aus 40 Sitzen. Die PZCh hatte zehn Mandate errungen, die SN lediglich zwei und der Allgemeine Jüdische Wahlblock fünf Sitze.476 Es war den Kommentatoren der PZCh-nahen Zeitschrift Hasło unverständlich, wie eine Stadt, in der die Mehrheit nicht „rot“ sei, nun von einem roten Stadtparlament regiert werden würde.477 Bei einer sehr hohen Wahlbeteiligung von fast 80 % scheint die Frage jedoch verfehlt, denn das Wahlergebnis bildete vielmehr die öffentliche Meinung ab.478 Einige Zeitungen verwiesen auf die schwierige und das bürgerliche Lager benachteiligende Aufteilung der Wahlbezirke.479 Doch wenn man sich den allgemeinen Trend bei den Lokalwahlen 1938/39 in ganz Polen anschaut, fügt sich Tarnów in die Wahltendenzen der

475 476 477 478

Potępa: Przed Wojną, S. 183. Po wyborach. In: Hasło, 10.03.1939, S. 1. Ebd. Brief des Krakauer Wojewoden, Krakau 03.06.1939, hier wird die Angabe von 80 % Wahlbeteiligung in Tarnów bestätigt, ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT 39: Wybory; Po wyborach. In: Hasło, 10.03.1939, S. 1. 479 Z frontu wyborczego. In: Tygodnik Żydowski, 17.02.1939, S. 2.

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Abbildung 21

kapitel 2

Ergebnisse der Stadtratswahlen am 05.03.1939 in Tarnów

großen Städten ein.480 In ganz Polen betrug die Wahlbeteiligung  63,8  %,481 sodass Tarnów hier weit voraus lag, was von einer sehr großen lokalen Mobilisierung zeugt. In den Großstädten hatte die PPS großen Erfolg und machte in einigen Städten dem OZN die Macht streitig, in anderen wurde sie zu einer ernst zu nehmenden Konkurrenz für das Regierungslager.482 In Łódź erreichte die PPS 49 % aller Mandate, in Gdynia 39 % und in Krakau 33 %.483 Der Bund ging als stärkste aller jüdischen Parteien aus dieser Wahl in den Städten hervor. Insgesamt hatte der Bund in den Städten rund 38  % aller Stimmen, die an eine jüdische Partei abgegeben wurden, erreicht, die Zionisten  36  % und Aguda  23  %. In Großstädten erreichten Bundisten zuweilen die absolute Mehrheit unter den jüdischen Parteien, beispielsweise in Warschau, Łódź, Wilno, Białystok und Lublin.484 Auch in Tarnów gewann der Bund zwei Sitze mehr als alle anderen jüdischen Parteien im Verbund Vereinter Jüdischer Wahlblock. Izdebski führt an, dass die Wahlen von 1938/1939 in ganz Polen besser die politischen Präferenzen der Bevölkerung widerspiegelten als noch die Wahlen 480 Als Großstadt zählt Izdebski bei dieser Aufstellung alle Städte ab 25 000 Einwohnern. Vgl. Izdebski: Samorząd terytorialny w II Rzeczpospolitej. Część II, S. 52. 481 Ebd. 482 Ebd. 483 Ebd. 484 Pickhan: „Gegen den Strom“, S. 370.

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von 1933/1934, in denen es massiv zu Fälschungen kam.485 Fest stand nun auch für Tarnów, dass sich die Mehrheit der Tarnowianerinnen und Tarnowianer für eine sozialistische Option bei dieser Wahl entschieden hatte. Angesichts der extrem nationalistischen Rhetorik, der Aufteilung der Wählergruppen nach Ethnizität und der öffentlichen Polarisierung der Ethnizität im Wahlkampf überrascht dieses eindeutige Ergebnis und verlangt nach einer Erklärung. Wurde in den vorangegangenen Abschnitten die Wahlkampfrhetorik der Gruppen analysiert, die letztlich als Verlierer aus dieser Wahl hervorgingen, bleibt die Frage nach der Wahlkampagne der PPS und des Bund/Poale Zion noch offen. Hatten beide Parteien ein erfolgreiches Gegennarrativ etablieren können? Und wie sah dieses aus? Leider sind kaum Quellen zum Wahlkampf der PPS und des Bund für den Tarnower Stadtrat im Jahr 1939 erhalten. Aus der Presse ist bekannt, dass beide Parteien mit Flugblättern agitierten, jedoch sind diese weder in den Archiven noch im Tarnower Museum noch in der Jagiellonen-Bibliothek in Krakau erhalten. So muss die Verfasserin vorliegender Arbeit die Analyse der Wahlkampfrhetorik der beiden stärksten Parteien schuldig bleiben. Ganz unbekannt sind die Positionen beider Parteien auf Lokalebene jedoch nicht, da diese im Stadtrat 1934–1939 aktiv die Stadtpolitik gestaltet hatten und dies als Erklärung des Erfolgs im Jahr 1939 dienen kann. Die PPS und der Bund bildeten seit 1934 die Opposition im Stadtrat als gemeinsamer Sozialistischer Klub. Sie verteidigten die Rechte der Arbeitenden und kämpften gegen Nationalismus sowie Antisemitismus. Soziale Themen sowie die Anprangerung antisemitischer Politik standen über fünf Jahre im Vordergrund der Arbeit der Stadträte von Bund und PPS. Sie hatten einen spürbaren Effekt auf die „ganz normalen“ Menschen und vor allem auf die sozial Benachteiligten in Tarnów. Die Auflösung der BBWR auf Landesebene und in deren Folge der Zerfall des Pro-Regierungslagers auf Lokalebene machte den Sozialistischen Klub zur stärksten Fraktion im Stadtparlament. Paradoxerweise konnte dieser in der Zeit zwischen 1936 und 1939 seine Sozialpolitik zum Teil verwirklichen. Das letzte Haus für Arbeitende wurde beispielsweise durch den TOR (Towarzystwo Osiedli Robotniczych/Gesellschaft für Arbeiterwohnsiedlungen) im August 1938 fertiggestellt.486 Des Weiteren hatten beide Parteien die Arbeit auf der Straße und in der Öffentlichkeit nicht vernachlässigt. 1938 protestierten verarmte Frauen vor dem Sitz des Tarnower Stadtpräsidenten, einige fielen vor Hunger in Ohnmacht. Doch der Präsident zeigte keinerlei Sympathien. Da sowohl Ciołkosz als auch Batist dabei anwesend waren, forderten diese schließlich die Vorauszahlung 485 Izdebski: Samorząd terytorialny w II Rzeczpospolitej. Część II, S. 51. 486 Potępa: Przed Wojną, S. 183.

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ihrer Bezüge als Stadträte und verteilten diese an die Frauen.487 Solche Aktionen machten die sozialistischen Anführer sehr populär. Die Zusammenarbeit des Bund und der PPS war nicht nur innerhalb des Stadtrats gut, alljährlich demonstrierten sie diese zu den gemeinsamen Erste-Mai-Feierlichkeiten, die immer mehr Menschen anzogen, 1937 beispielsweise bis zu 6000 Menschen: Bundisten, PPS-ler und Gewerkschaftlerinnen und Gewerkschaftler.488 Zur selben Zeit marschierte in anderen Städten wie Kielce oder Lublin die PPS getrennt vom Bund, da sie fürchtete, durch ein gemeinsames Auftreten mit einer jüdischen Partei potenzielle Wähler abzuschrecken.489 Auch zu anderen Gelegenheiten zeigten jüdische und nichtjüdische Arbeitende gegenseitige Solidarität. Im Februar 1937 unterstützten jüdische Arbeiterinnen und Arbeiter den Hungerstreik von Nichtjüdinnen und Nichtjuden.490 Kurze Zeit später organisierten Bundisten einen Marsch zur Erinnerung an das Pogrom in Przytyk, die nichtjüdischen Genossinnen und Genossen bekundeten ihre Solidarität.491 Als im Oktober 1937 Arbeitende aus Protest gegen die Ghettobänke streikten, solidarisierte sich die PPS.492 Charismatische Führungspersönlichkeiten wie Adam Ciołkosz, seine Frau Lidia und sein Vater Kasper oder auch der äußerst beliebte Maurycy Hutter (PPS), der MorgnshternTrainer Aron Sporn (Bund), der Gewerkschaftler Usher Bleiweis (Bund) und Eugeniusz Sit (PPS) trugen zu dieser guten Zusammenarbeit des Bund mit der PPS und zu deren Popularität bei. Bund und PPS waren die einzigen Parteien, die eine konsistente Politik betrieben und beharrlich die eigene Agenda verfolgten. Die anderen Gruppierungen, die sich 1939 in Tarnów zur Wahl stellten, drehten sich ganz offensichtlich nach dem (politischen) Wind und gingen Konstellationen ein, die noch fünf Jahre zuvor undenkbar schienen. Unter Umständen verloren die Kandidatinnen und Kandidaten auch deshalb an Glaubwürdigkeit bei den Wählerinnen und Wählern. Es scheint, als hätte die pragmatische Politik zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger im Jahr 1939 doch über die ethnonationalistisch aufgeladene Rhetorik in Tarnów gesiegt. Durch die Erfolge der PPS und des Bund in Tarnów, aber auch in anderen Städten Polens wie oben aufgezählt, wird deutlich, dass in den Stadtgesellschaften noch politische Gruppierungen an Zulauf gewannen, wenn nicht gar mehrheitsfähig waren wie 487 Potępa: Tarnów międzywojenny, S. 154. 488 Pierwszego Maja w Tarnowie. In: Tygodnik Żydowski, 08.05.1936, S. 6; 1 maja. In: Hasło, 07.05.1936, S. 4; Tygodnik Żydowski, 07.05.1937, S. 4. 489 Polonsky: The Bund in Polish Political Life, S. 189. 490 ANKr. Odd. T. 33/97 PSOT/PT34/U 594/30. 491 Sporn: Der algemeyner yidisher arbeyter-bund, S. 655. 492 Potępa: Tarnów międzywojenny, S. 149.

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in Tarnów, die eine Alternative zur stark antisemitischen und nationalistisch aufgeladenen OZN-Rhetorik und -Politik bildeten. Die links-laizistischen Wertvorstellungen und das politische Programm der PPS und des Bund waren in den Städten in der späten Zweiten Republik noch tragfähig, in Tarnów gar mehrheitsfähig. Dies erscheint wie eine Art politische „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“. Die PPS und der Bund in Tarnów hatten bereits 1936 paradoxerweise von dem Zerfall der BBWR nach Piłsudskis Tod profitiert. So ähnlich könnte es auch in anderen multiethnischen Städten mit großen Minderheiten gewesen sein, nachdem die einigende Klammer der Staatsideologie nach Piłsudskis Façon wegfiel. Als der BBWR zerfiel, verschoben sich die Machtkonstellationen im Tarnower Stadtrat dahingehend, dass der Sozialistische Klub zuweilen Mehrheiten hinter sich vereinen konnte – mithilfe des abgespaltenen Jüdischen Klubs. Der Rumpf der BBWR, der sich zu einem OZN-nahen Ableger formte und die polnisch-national-katholische Rhetorik und Programmatik übernahm, wurde gesamtgesellschaftlich zur dominierenden Kraft, konnte möglicherwiese aber auch in anderen multiethnischen Städten, in denen sich Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse ganz anders darstellten, keine Mehrheiten hinter sich vereinen, wie wir das in Tarnów gesehen haben. Dieser Befund aus Tarnów wirft Fragen danach auf, ob sich unterhalb des gesamtgesellschaftlichen Radars 1938/1939 in multiethnischen urbanen Gesellschaften alternative politische Angebote und Weltanschauungen zum OZN-Mainstream durchsetzen konnten bzw. eine bedeutende Kraft wurden und wir damit unser Bild von der späten Zweiten Republik möglicherweise neu justieren müssen. Die Arbeit des Stadtrats 1939 und das Ende der Zweiten Polnischen Republik Die Unzufriedenheit der PZCh-nahen bürgerlichen Eliten über den Wahlausgang verzögerte die Arbeit des neuen Stadtrats. Der Präsident einer Stadt war nach dem Gesetz von 1933 mit mehr Macht als der Stadtrat ausgestattet, seine Amtszeit und die seines Stellvertreters betrug zehn Jahre und nicht fünf wie die der Stadträte. Der PZCh-nahe Präsident Brodziński berief den Stadtrat zunächst nicht ein. Da der Haushalt verabschiedet werden musste, hatte sogar der Wojewode dazu aufgerufen, den neuen Stadtrat möglichst schnell zu konstituieren.493 Doch wurde gegen die Wahlen Beschwerde eingelegt, was zunächst einmal die Lokalpolitik paralysierte. Erst am 3. Juni 1939 erging ein Schreiben des Krakauer Wojewoden, der die Beschwerde zurückwies und die 2.4.5

493 Czy Rada będzie rozwiązana? In: Hasło, 21.04.1939, S.  3; Ze spraw miasta. In: Hasło, 28.04.1939, S. 3.

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kapitel 2

Wahlen vom März für gültig erklärte.494 Bald darauf verlautbarte der Stadtpräsident Brodziński, er fahre auf einen sechswöchigen Erholungsurlaub. All diesen Schwierigkeiten zum Trotz tagte der neue Stadtrat zum ersten Mal am 3. Juli 1939. Adam Ciołkosz (PPS) wurde zum Vorsitzenden der Versammlung gewählt und hielt eine flammende Rede, in welcher er sowohl die Gemeinschaft aller Bürgerinnen und Bürger gleich welcher Religion oder Nationalität beschwor als auch den drohenden Krieg thematisierte: Als er den Vorsitz übernahm, hielt Herr  A.  Ciołkosz eine kurze Ansprache, in welcher er deklarierte, dass – sollte dies notwendig werden – die gesamte Tarnower Bevölkerung, egal welcher Religion oder Nationalität, bereit ist, bis zum letzten Atemzug, bis zum letzten Tropfen Blut für den Erhalt der Grenzen der Republik zu kämpfen. Seine Rede beendete Herr Adam Ciołkosz mit einem Ausruf zur Ehre der Republik und der Polnischen Armee  – welcher drei Mal von allen Anwesenden wiederholt wurde.495

In einer weiteren Sitzung deklarierte der Sozialistische Klub aus PPS und Bund die Ziele für die nächste Wahlperiode: Ausbau von Sozialwohnungen, von Infrastruktur in den Arbeitervierteln und Vorstädten, Ausbesserung von Straßen, der Kanalisation und der Straßenbeleuchtung, Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, Verbesserung der Gesundheitsversorgung und Fürsorge für ältere Menschen, eine grundlegende Reform der städtischen Sozialfürsorge, Verbesserung der Ausstattung an den Schulen und Berufsschulen.496 Neu war in diesem Stadtrat, dass offen antisemitische Parolen Eingang in die Sitzungen fanden. So berichtet die Zeitschrift Hasło: „Scharfe judenfeindliche Rede des Herrn mgr. Skowroński [SN], der verlangt, dass alle Subventionen für jüdische Einrichtungen gestrichen werden. Mit dem Stadtrat Skowroński polemisieren die Räte [Leon] Mütz [Bund], Batist [Bund] und Dr. Agatstein [PPS].“497 Es war das erste Mal, dass ein Stadtrat aus Tarnów diese Forderung erhob und dass offene Judenfeindschaft als politisches Ziel so in diesem Gremium geäußert wurde. Wie die Ziele des PPS-Bund-geführten Stadtrats hätten umgesetzt werden können, und welche Aushandlungsdynamiken sich mit der bürgerlichen Opposition ergeben würden  – all das können wir leider nicht erfahren. Am 1. September 1939 überfiel NS-Deutschland Polen. Bereits am 7. September 1939 494 495 496 497

Brief des Krakauer Wojewoden, 03.06.1939, ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT 39: Wybory. Nowa Rada rozpoczęła pracę. In: Hasło, 14.07.1939, S. 1. Ebd. Budżet Tarnowa w świetle politycznych rozgrywek. In: Hasło. 25.08.1939, S.  2 (die Einschübe zur Parteizugehörigkeit der jeweiligen Räte stammen von der Verfasserin).

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marschierte die Wehrmacht in Tarnów ein. Die alten politischen Strukturen, auch jene auf Lokalebene, hörten auf zu existieren. Zygmunt Silbiger, mit dem dieses Kapitel begann, führte nach seiner Absetzung 1936 das Geburts- und Sterberegister der jüdischen Gemeinde. Er verlor nun endgültig seine politische Stellung in der lokalen Gemeinschaft. Doch auch in dieser Funktion wurde 1938 Strafanzeige wegen Korruption gegen ihn gestellt.498 Das Gericht verurteilte Silbiger zu zwei Monaten Haft auf Bewährung. Silbiger legte Berufung ein. Aufgrund von Verzögerungen innerhalb der Behörde und wegen des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs wurde das Urteil erst am 30. Juni 1941 für rechtskräftig erklärt.499 Silbiger war damals noch in Tarnów unter seiner Adresse in der Urszulańska Straße 11 gemeldet. Zu der Zeit befand sich nur einige Hausnummern die Straße weiter unten, in der Urszulańska Straße 18–20, der Sitz der Gestapo in Tarnów. Zygmunt Silbiger überlebte den Krieg nicht. Er starb unter nicht näher bekannten Umständen.500

498 ANKr. Odd. T. 33/97 PSOT/PT 142/I Ds 803/38. 499 ANKr. Odd. T. 33/98 PSOT 44/I 393/41. 500 YVA, Page of testimony submitted by Józef Korniło, digital collection, File ID number 1469336.

kapitel 3

Interaktionsraum Schule „This was my rudest awakening that I was Jewish. I was not Polish, I was horrified!“1 Die Schülerin Cesia Honig schilderte in eindrücklichen Worten die Exklusion aus der polnischen Gemeinschaft im Jahre 1938. Cesia stammte aus einer akkulturierten jüdischen, gutbürgerlichen Familie, in der Polnisch gesprochen wurde. Sie besuchte eine öffentliche polnische Grundschule. „But  I considered myself very Polish, patriotic“, erinnerte sich Cesia mit einem Lächeln.2 Im Gymnasium wechselte sie auf die jüdische Privatschule Safa Berura [„reine Sprache“], da ihre Mutter ihr ein „feeling of Jewishness“ vermitteln wollte.3 Im Jahr 1938, von dem Cesia weiter oben sprach, standen die Zeichen bereits auf Krieg.4 Schulen in ganz Polen sammelten Spenden für das polnische Militär  – ein Akt des Patriotismus, der die Unterstützung der gesamten Bevölkerung für die polnischen Streitkräfte zur Schau stellen sollte. In einem Demonstrationszug präsentierten die Schulen Tarnóws ihre Spenden. Die jüdischen Kinder und Jugendlichen der Safa Berura hatten ein Maschinengewehr als Gabe an die polnische Armee. Während andere Schulen bei dieser öffentlichen patriotischen Zurschaustellung mit Applaus begrüßt wurden, begannen die Zuschauer des Zuges, so erinnerte sich Cesia, die Kinder der jüdischen Schule zu beschimpfen. „Weg mit den Juden!“, riefen sie ihnen entgegen. Für Cesia brach eine Welt zusammen. In diesem Moment der größten Loyalitätsbekundung wurde ihr auf brutale Weise verweigert, zu der Gemeinschaft dazuzugehören, mit der sie sich bis dahin ganz selbstverständlich identifiziert hatte. Das war der Moment ihres „rudest awakening“ – „that I was Jewish. I was not Polish“. Die Mehrfachbezügigkeit, in der Cesia bis dahin selbstverständlich gelebt hatte  – sie war Jüdin, Polnisch war ihre Muttersprache, sie lernte bewusst Hebräisch und nahm sich als polnische Patriotin wahr, wurde ihr im Jahre 1938 auf Tarnóws Straßen durch ihre nicht-jüdischen, polnischen Mitbürgerinnen und Mitbürger abgesprochen. Die Eindeutigkeit, nach der Menschen nun, in den späten 1930er Jahren, in ethno-nationale Gruppen in der alltäglichen 1 Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 2 Ebd. 3 Ebd. 4 Zum Militarismus in den öffentlichen Schulen ab 1937 siehe, Wojtas: Learning to Become Polish, S. 186.

© Brill Schöningh, 2022 | doi:10.30965/9783657760091_005

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kapitel 3

Praxis kategorisiert wurden, ließ all die polyvalenten Zugehörigkeiten, in denen sich viele Jüdinnen und Juden Tarnóws heimisch fühlten, nicht mehr zu. Die damals 12-Jährige behielt diesen Moment schmerzlich in Erinnerung. Viele jüdische Schülerinnen und Schüler hatten öffentliche polnische Schulen besucht. In den staatlichen Einrichtungen drückten jüdische und nichtjüdische Kinder eine Schulbank, spielten gemeinsam in den Pausen und teilten sich Brote, wie Eugeniusz Michalik sich erinnerte.5 Gleichzeitig war die Schule eine Institution des nationalisierenden Staates, in der die nächste Generation „zur Nation“, in der Kultur der ethnisch-polnischen Mehrheitsbevölkerung erzogen werden sollte. Wie also sah der Interaktionsraum Schule im Alltag aus und wie nahmen Kinder und Jugendliche diesen wahr? Bislang wurden in der Forschung Schulerfahrungen jüdischer Kinder meist anhand autobiografischer Schriften beschrieben.6 In diesem Kapitel widme ich mich einer bislang kaum erforschten Quellengattung in Bezug auf „polnisch-jüdische Beziehungen“: den Protokollen der Lehrendenkonferenzen an öffentlichen Schulen in Tarnóws Viertel Grabówka. Sowohl die Czacki- als auch die Staszic-Grundschule haben diese Protokolle, die für den Zeitraum von 1925 bis 1939 bzw. 1940 erhalten sind, dem Stadtarchiv übergeben. Sie geben Einblicke in die Sicht der Lehrenden auf die Schüler. Zudem wurden sie von einem externen Schulinspektor gelesen und kontrolliert, der mit einem Rotstift die Protokolle kommentierte. Die Verfasserinnen und Verfasser der Protokolle waren sich dieser Kontrollinstanz dabei durchaus bewusst. Auch die jährlichen Schulberichte der Gymnasien, die ich in die Untersuchung einschließe, waren an die Schulaufsichtsbehörde adressiert und bilden deswegen ebenfalls nur eingeschränkt ab, was an den Schulen tatsächlich passierte. Auf die Beschränkungen der beiden Quellenarten werde ich im Folgenden noch näher eingehen, wenn möglich konterkariere ich die offiziellen Dokumente mit Erinnerungen ehemaliger Schülerinnen und Schüler. 3.1

Schulen in der Zweiten Republik

Im Nationalisierungsprojekt der Zweiten Republik kam der Schulbildung eine wesentliche Rolle zu. Zu Beginn der Zweiten Republik ging es erst einmal darum, die Gebiete, die vormals drei verschiedenen Reichen angehört hatten, zu homogenisieren. Die Schule übernahm dabei nicht nur eine Bildungsaufgabe im engen Sinne (Alphabetisierung der Bevölkerungsschichten, 5 Michalik: Wspomnienia Eugeniusza Michalika, S. 11. 6 Vgl. Prokop-Janiec: Klasa szkolna; Kijek: Dzieci modernizmu.

Interaktionsraum Schule

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Polnischunterricht), sondern sollte als Instrument des neu entstandenen Staates die patriotische Erziehung fördern und damit zur (kulturellen) Vereinheitlichung des Landes durch eine standardisierte polnische Bildung beitragen. Die Schulbildung sollte zum einen der Demokratisierung dienen und breite Volksschichten zu mündigen Staatsbürgerinnen und -bürgern erziehen, zum zweiten den „nationalen Geist“ stärken.7 Dabei waren die Nationsentwürfe diverser politischer Akteurinnen und Akteure so verschieden, dass auch die Auseinandersetzung um die Ausgestaltung der Schulbildung in den Anfangsjahren der Zweiten Republik letztlich dazu führte, dass der „Streit um die Schule […] zugleich ein Streit um die ‚richtige‘ Nation“ war, wie Stephanie Zloch formulierte.8 Der Minderheitenschutzvertrag von 1919 sah vor, dass die Minderheiten in der eigenen Sprache unterrichtet werden können. Die Schule der Zweiten Republik sollte also Verschiedenes leisten: eine demokratische Schulbildung für alle schaffen, „zur“ polnischen Nation erziehen und zugleich die Diversifizierung des Bildungssystems für die unterschiedlichen Minderheiten im Staat ermöglichen. Das Spannungsfeld zwischen Nationalund Nationalitätenstaat, zwischen der Idee der Staatsbürgerlichkeit und dem Primat der ethnisch definierten polnischen Nation wirkte auf die Debatte um die Schulpolitik und hallte bis in die Klassenräume nach.9 In der Zweiten Republik galt die Schulpflicht vom siebenten bis zum vierzehnten Lebensjahr, also von der ersten bis zur siebenten Klasse. Bereits 1918/19 wurde ein siebenjähriger, verpflichtender und kostenloser Grundschulunterricht eingeführt.10 Dieser allgemeinen Schule (szkoła powszechna) folgten weiterführende Schulen sowie – nach der Reform von Bildungsminister Janusz Jędrzejewicz im Jahr 1932 – ein vierjähriges Gymnasium und ein zweijähriges Lyzeum.11 Die weiterführenden staatlichen Gymnasien und Lyzeen waren kostenpflichtig. Nach dem Minderheitenschutzvertrag war der polnische Staat dazu verpflichtet, in ethnisch heterogenen Regionen Schulen zu schaffen, in denen Kinder ab dem Grundschulalter in einer anderen Sprache als dem Polnischen unterrichtet werden konnten. Polnisch war jedoch ein Pflichtfach an diesen Schulen.12 Die sogenannte lex Grabski von 1924, benannt nach dem 7 8 9 10 11 12

Vgl. Zloch: Polnischer Nationalismus, S. 213–214. Ebd., S. 210. Zu den schulpolitischen Debatten siehe auch Wojtas: Learning to Become Polish. Zloch: Polnischer Nationalismus, S. 214. Bis 1932 war das Schulsystem nicht einheitlich, zur Lage in Galizien und dem Kreis Tarnów, siehe Ruta: Szkolnictwo powszechne. Minderheitenschutzvertrag Artikel 9: „Auf dem Gebiete des öffentlichen Unterrichts soll die polnische Regierung in den Städten und Bezirken, in denen fremdsprachige polnische Staatsangehörige in beträchtlichem Verhältnis wohnen, angemessene Erleichterungen

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kapitel 3

damaligen Religions- und Bildungsminister Stanisław Grabski (1871–1949), regelte die Bestimmungen zu diesem Punkt wie folgt: Öffentliche Schulen mit einer anderen Unterrichtssprache als Polnisch konnten dann errichtet werden, wenn sich mehr als 40  Elternpaare von schulpflichtigen Kindern dafür aussprachen. Wenn mindestens 20  Elternpaare für das Polnische optierten, sollte zweisprachig unterrichtet werden.13 Als Langzeitfolge des Gesetzes zeigte sich, dass jene öffentlichen Schulen, in denen in einer anderen Sprache als Polnisch unterrichtet wurde (meist Ukrainisch), letztlich zu zweisprachigen, sogenannten „utraquistischen“ Schulen umgewandelt wurden.14 Das Jiddische hatte nie den Status einer Minderheitensprache und so gab es in der Zweiten Republik keine staatlichen zweisprachigen Schulen, in denen auf Jiddisch unterrichtet wurde.15 Des Weiteren wurde die Frage auch innerjüdisch verhandelt, welche Sprache (Jiddisch oder Hebräisch) DIE Sprache der polnischen Judenheiten ist bzw. sein soll.16 Als eine Art „Kompromiss“ mit den Forderungen der jüdischen Minderheiten wurden staatliche Schulen geschaffen, in denen einzig auf Polnisch gelehrt wurde, in denen jedoch der schulfreie Tag auf den Samstag und nicht auf den Sonntag fiel. Man nannte diese Schulen szabasówki. Sie durften nicht in der Nähe eines katholischen Gotteshauses stehen, um die Religionsausübung der Christinnen und Christen nicht zu behindern.17 Dennoch führte der Sonntagsunterricht zu Konflikten mit der katholischen Umgebung. Die Popularität dieser Schulen nahm jedoch

13 14 15 16 17

schaffen, um sicherzustellen, dass den Kindern dieser polnischen Staatsangehörigen in den niederen Schulen der Unterricht in ihrer eigenen Sprache erteilt wird. Diese Bestimmung soll nicht ausschließen, dass die polnische Regierung in diesen Schulen die polnische Sprache zum Pflichtfache macht. In den Städten und Bezirken, in denen polnische Staatsangehörige einer völkischen, religiösen oder sprachlichen Minderheit in beträchtlichem Verhältnis wohnen, soll für diese Minderheiten ein gerechter Anteil an dem Genusse und der Verwendung der Summen sichergestellt werden, die in staatlichen, kommunalen oder anderen Haushaltsplänen für Zwecke der Erziehung, der Religion oder der Wohlfahrt ausgeworfen werden.“ Minderheitenschutzvertrag zwischen den Alliierten und Assoziierten Hauptmächten und Polen. Versailles, 28.  Juni 1919, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2007. Online unter: www.europa.clio-online.de/quelle/id/ artikel-3341 (letzter Zugriff: 02.05.2019). Zloch: Polnischer Nationalismus, S. 244–248; Stanisław Grabski war 1925/1926 Religionsund Bildungsminister, war aber schon vorher maßgeblich an der bildungspolitischen Debatte beteiligt, daher trägt das Gesetz von 1924 seinen Namen. Vgl. ebd., S. 244. Ebd., S. 248. Ebd., S. 248–249. Vgl. Heller: On the Edge of Destruction, S. 220. Rozporządzenie Ministra Wyznań Religijnych Oświecenia Publicznego, 22.02.1923, w sprawie nauki w szkołach powszechnych, do których uczęszcza młodzież wyznania mojżeszowego. In: Dziennik Urzędowy 6 (1922) 4 (105), S. 35–37, hier S. 36.

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ab und sie wurden zu Beginn der 1930er Jahre fast gänzlich abgeschafft.18 Neben dem öffentlichen Schulsystem entwickelte sich parallel ein privates Schulnetz. Im privaten jüdischen Schulsektor entfaltete sich ein vielfältiges Bildungsangebot. Diese privaten jüdischen Schulen waren häufig politisch-ideologisch geprägt und konkurrierten miteinander, nicht zuletzt um Finanzmittel (z. B. um Mittel von der kehillah, aus dem Haushalt der jeweiligen Stadt, von ausländischen Trägern). Es gab zwar weiterhin den traditionellen cheder, in dem Jungen ab drei Jahren in den hebräischen Schriften unterwiesen wurden. Der Trend verschob sich jedoch innerhalb der Judenheiten Polens hin zu einer säkular-jüdischen Bildung. Hinzu kam, dass nur chederim überhaupt als Schulen anerkannt wurden, wenn sie gewisse Vorgaben des Bildungsministeriums erfüllten (wie Unterricht weltlicher Fächer, Polnischunterricht mit einer Mindestanzahl an Stunden etc.).19 Viele jüdische Jungen besuchten also zunächst den cheder, wie üblich ab dem dritten Lebensjahr, und wechselten, sobald sie sieben waren und unter die Schulpflicht fielen, auf die polnische staatliche Schule.20 Generell ist festzuhalten, dass einige jüdische Privatschulen Unterricht in jüdischen Fächern und Sprachen komplementär zum Besuch einer öffentlichen Schule anboten (zum Beispiel die Mehrheit der BeysYankev-Schulen für orthodoxe Mädchen), während andere ein volles Bildungsprogramm offerierten (zum Beispiel TSYSHO-Schulen  – Tsentrale Yidishe Shul-Organizatsye/Zentrale Jiddische Schulorganisation).21 Die letzteren Schultypen mussten darum ringen, dass die Abschlüsse staatlich anerkannt wurden. Wenn dies nicht der Fall war, mussten die Schülerinnen und Schüler externe staatliche Prüfungen ablegen. Die privaten jüdischen Schulen hatten neben den jüdischen Fächern, die polnische Sprache, Geschichte und Erdkunde in ihrem Kurrikulum, um die Erfordernisse des Bildungsministeriums zu erfüllen.22 Die meisten jüdischen Bildungseinrichtungen standen einer Partei oder politischen Bewegung nahe. Die Aguda Isroel betrieb die Horev (für Jungen) 18 19 20

21 22

Bacon: National Revival, S. 85; Tomaszewski: Najnowsze dzieje, S. 243; Heller: On the Edge of Destruction, S. 221. Tomaszewski: Najnowsze dzieje, S. 244–245. So zum Beispiel berichten darüber Jacob Gastwirth und William Celnik aus Tarnów: Gastwirth, Jacob: Interview 19034, 29.08.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 02.12.2020); Celnik, William: Interview 1712, 24.03.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 02.12.2020). Auch Bet Ya’akov, Beth Jacob ausgeschrieben, Beys Yankev ist dem Jiddischen am Nächsten, vgl. Kaniel: Beys Yankev; siehe auch Seidman: Sarah Schenirer; zur komplementären Schulbildung siehe Bacon: National Revival, S. 74. Ebd., S. 75.

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und Beys-Yankev-Schulen (für Mädchen).23 Dieser Schultypus war aus der Überzeugung geboren, dass eine religiöse Erziehung notwendig sei, der cheder jedoch einerseits veraltet sei, andererseits in seiner bisherigen Form vom Bildungsministerium nicht als Schule anerkannt werden würde.24 Das rief Schulreformer auf den Plan, die der völligen Assimilation jüdischer Kinder durch den Besuch der öffentlichen Schulen entgegenwirken wollten. Die HorevSchulen zählten 1937 fast 50  000 Schüler (die Beys-Yankev-Schulen  35  000 Schülerinnen).25 Die Mizrachi-Bewegung (religiöse Zionistinnen und Zionisten) hatte 1927 die Dachorganisation Yavne gegründet, unter welche die Mizrachi-Schulen seither gefasst wurden. Hier wurden religiöse und weltliche Fächer auf Hebräisch unterrichtet.26 1937 lag die Stärke der Schülerschaft der Yavne-Schulen bei ungefähr 16 000. Ebenso auf Hebräisch wurde in den TarbutSchulen unterrichtet. Diese Schulen betrieben säkulare Zionistinnen und Zionisten. Im Jahr 1928/29 besuchten sie rund 23 700 Schülerinnen und Schüler, 1937 bereits fast 45 000. Das Netzwerk betrieb 75 Kindergärten, 12 Gymnasien und fünf Lehrerinnen- und Lehrerseminare.27 Auch in den hebräischsprachigen Schulen wurde aufgrund der Auflage des Bildungsministeriums das Fach Polnisch unterrichtet, die Fächer Geschichte und Erdkunde mussten ebenfalls auf Polnisch gelehrt werden. Damit war das Ministerium bemüht, die Stundenanzahl der auf Polnisch unterrichteten Fächer zu steigern.28 Die TSYSHO-Schulen waren säkular und linksorientiert – primär wurden diese vom Bund und der Linken Poale Zion geleitet, der Bund war jedoch federführend. Jiddisch war die Unterrichtssprache, jiddische Literatur und Kultur wurden den Schülerinnen und Schülern nahegebracht, es gab aber keinen Religionsunterricht. Viel Wert wurde auf körperliche Aktivitäten gelegt, auf Gesundheit und Sport. Die polnische Sprache, Geschichte und Kultur gehörten zum Kurrikulum.29 Die Lehrerinnen und Lehrer richteten sich in ihrer Methode nach reformpädagogischen Konzepten.30 In den Jahren 1928/29 besuchten 24 000 Schülerinnen und Schüler die TSYSHO-Schulen, es gab 114 allgemeine Schulen, 46 Kinderheime, 52 Abendschulen, drei Gymnasien und 23 24 25 26 27 28 29 30

Die Schulen wurden 1917 von Sara Schenirer gegründet und 1919 in die Obhut der Aguda genommen. Kaniel: Beys Yankev; siehe auch Seidman: Sarah Schenirer. Frost: The Jewish School System, S. 236–237. Bacon: National Revival, S. 73. Frost: The Jewish School System, S. 237–238. Tomaszewski: Niepodległa, S. 247. Zum Teil versuchten die einzelnen Schulen diese Voraussetzung zu umgehen, indem beispielsweise die polnische Geschichte auf Polnisch, die der Judenheiten auf Hebräisch unterrichtet wurde. Tomaszewski: Niepodległa, S. 246–247. Szyba: Die neue jüdische Schule.

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ein Lehrerinnen- und Lehrerseminar.31 Die Zahl der Schülerschaft nahm jedoch ab und sank 1934 auf 15  500, was der schlechten Wirtschaftslage geschuldet war.32 Ein weiterer linkssäkularer Schultypus war der Shul-Kult, auch mit Jiddisch als Unterrichtssprache, jedoch erheblich kleiner als das TSYSHONetzwerk (1937 rund 2 500 Schülerinnen und Schüler). Der Shul-Kult wurde u. a. von dem aus Tarnów stammenden Historiker Ignacy Shiper (1884–1943) gegründet.33 Sehr beliebt waren zweisprachige jüdische Schulen, die privat betrieben wurden. Bereits 1921 wurde ein zionistisch gesinnter Dachverband gegründet: Związek Zrzeszeń Społecznych Utrzymujących Żydowskie Szkoły Średnie (Verband der Sozialen Vereinigungen zur Unterhaltung der Jüdischen Mittelschulen). Die Schulen wurden in ganz Polen betrieben und waren meistens hebräisch-polnisch, einige auch jiddisch-polnisch. Sie hatten im Grunde das Kurrikulum der staatlichen polnischen Schulen, mit dem Zusatz judaistischer Fächer (Hebräisch oder Jiddisch, jüdische Religion). Die meisten wurden vom Bildungsministerium anerkannt, sodass man auch staatliche Examina ablegen konnte. In den 1930er Jahren gewannen diese Schulen an Zulauf und wurden im Jahr 1937/38 zum dominierenden Schultypus der privaten jüdischen Schulen.34 Die Safa-Berura-Schule in Tarnów gehörte zu diesen zweisprachigen privaten jüdischen Schulen. Sie war die größte und prestigereichste jüdische Schule in Tarnów. Daneben existierten kleine chederim, eine Beys-Yankev-Schule, die Unterricht zusätzlich zur staatlichen Schule anbot, jedoch keine TSYSHOSchule, da dieser Schultypus in Galizien, also im ehemaligen österreichischen Teilungsgebiet, nicht existierte. Zeitweise gab es auch eine Yavne-Schule in Tarnów, bevor sie von der Safa Berura übernommen wurde. Das private Schulsystem erlaubte es, Kindern und Jugendlichen eine jüdische Bildung angedeihen zu lassen. Was jüdische Bildung sei und was sie leisten solle, war Auslegungssache und wurde von den verschiedenen jüdischen schulpolitischen Akteurinnen und Akteuren, wie oben dargestellt, unterschiedlich bewertet. Die private jüdische Schulbildung füllte eine Lücke, da staatliche Einrichtungen größtenteils der Verantwortung nicht nachkamen, die Bildungsbedürfnisse der Minderheiten in den staatlichen Schulen zu berücksichtigen. In den Worten Stephanie Zlochs wurde in der Ausgestaltung des Schulsystems „der Umgang mit der Multiethnizität im Wortsinne privatisiert“.35 31 32 33 34 35

Tomaszewski: Niepodległa, S. 246. Ebd. Ebd., S. 247. Frost: The Jewish School System, S. 244. Zloch: Polnischer Nationalismus, S. 251.

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kapitel 3

Doch viele der jüdischen privaten Schulen kämpften um ihr Überleben. Zugleich wurde der private Schulsektor skeptisch vom Bildungsministerium beäugt – weniger die Schulen der Aguda, umso mehr dafür die links-säkularen Schultypen wie die TSYSHO-Schulen, da sie als ein tendenziell „illoyales Schulwesen“ betrachtet wurden und zum Teil Schikanen von staatlicher Seite ausgesetzt waren.36 3.2

Gemeinsam die Schulbank drücken – die allgemeinen Schulen

Die staatlichen allgemeinen Schulen (Grundschulen) wurden zu wichtigen Interaktionsräumen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Schülerinnen und Schülern. Die meisten jüdischen Kinder in der Zweiten Republik, rund 81 %, besuchten öffentliche polnische Schulen.37 Die staatlichen allgemeinen Schulen waren kostenfrei und nur die wenigsten Familien konnten sich eine private jüdische Bildungsinstitution leisten. Auch wollten einige Eltern, dass ihre Kinder gut Polnisch lernten.38 Jüdische Führungspersönlichkeiten monierten dagegen, dass der Besuch der staatlichen Schulen zur totalen Assimilierung von Jüdinnen und Juden führe und die Kinder vom Judentum entfremde. Schlüsselthemen wie die Tradierung jüdischer Wissens- und Kulturbestände und deren Weitergabe an die nächste Generation waren also mit der Schulwahl aufs engste verbunden. Daher wurde die Debatte um die richtige Schule für jüdische Kinder auch öffentlich in der jüdischen Presse der Zweiten Republik ausgetragen.39 Einige Eltern entschlossen sich, ihre Kinder zwar in einer öffentlichen Schule unterrichten zu lassen, schickten sie jedoch parallel in eine jüdische Privatschule. Gizela Fudem (née Grünberg) aus Tarnów besuchte beispielsweise sowohl die Beys-Yankev-Schule als auch die öffentliche Królowa-Jadwiga-Schule.40 In dieser lag der Anteil jüdischer

36 37 38 39 40

Ebd. Die Zahlen variierten stark nach der Region: in Lwów, Krakau und Tarnopol lag der Anteil bei 90 % oder mehr. Vgl. Bacon: National Revival, S. 76. Zu den Motiven der Eltern, ihre Kinder auf die staatlichen Schulen zu schicken, siehe Kijek: Between a Love of Poland, S. 242–243. Vgl. die Diskussion zur Assimilierung in Bacon: National Revival, S. 86–89; Prokop-Janiec: Klasa szkolna, S. 56. Fudem, Gizela (née Grünberg): Interview 7896, 23.10.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff:  09.03.2021); Bloch, Chana (née Zwikelberg): Interview 7291, 01.10.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021).

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Schülerinnen zwischen 50  % und 70  %.41 Ein weiterführendes Gymnasium wurde ihr dagegen verwehrt, da sie dort auch samstags zur Schule hätte gehen müssen, was für den chassidischen Vater inakzeptabel war.42 Auch in der historischen Forschung wurde die Frage, ob und in welcher Weise öffentliche Schulen in der Zweiten Polnischen Republik die Akkulturation von jüdischen Kindern forcierten, breit diskutiert.43 Celia Heller sieht das öffentliche Schulsystem der Zweiten Republik als erfolgreiche „agents of acculturation“, die eine tiefgreifende Polonisierung jüdischer Kinder bewirkten.44 Kürzlich zeichnete Kamil Kijek in seiner Studie anhand von Autobiografien Jugendlicher ein komplexeres Bild dieses Prozesses nach. Aufgrund ihrer Erziehung in den öffentlichen Schulen identifizierten sich viele Jüdinnen und Juden der jungen Generation zwar mit dem symbolischen Universum der polnischen Nation (Symbole, Helden, historische Erzählungen), zugleich war ihnen aber eine völlige Teilhabe an dieser polnischen „vorgestellten Gemeinschaft“ verwehrt (imaginiert, könnte man hinzufügen, in ethnisch-nationalen Kategorien).45 Dadurch wandten sich viele, so Kijek, jüdischen, zum Teil auch radikalen Bewegungen zu.46 Eine Analyse der Schulprotokolle kann zu diesen Fragen neue Erkenntnisse beitragen, indem die Sprache und Haltung der Lehrenden gegenüber ihren multi-ethnischen Klassen einbezogen werden. In Tarnów gab es insgesamt zehn staatliche Allgemeinschulen, getrennt nach Jungen- und Mädchenschulen, in denen 4461 Schülerinnen und Schüler lernten (Stand 1938/39), 754 Kinder wurden in Privatschulen unterrichtet.47 Die Staszic- und die Czacki-Schule waren für Jungen bestimmt, in letzterer waren in einem separaten Teil der Klassenbücher auch Mädchen verzeichnet.48 Sie wurden vermutlich ab einem gewissen Zeitpunkt getrennt unterrichtet. Die Protokolle der erhaltenen Lehrendenkonferenzen betreffen nur die Schule für Jungen. Die Czacki- sowie die Staszic-Schule säumten das Arbeiterviertel Grabówka, ein ärmliches Viertel, in dem ein hoher Anteil der Bewohnerinnen und 41 42 43 44 45 46 47 48

Vgl. die Klassenbücher der Königin-Jadwiga-Schule: APT 33/373: Szkoła powszechna im. Królowej Jadwigi w Tarnowie 1911–1943/7–31: Katalog klasowy od 1918–43. Fudem, Gizela: Interview 7896, 23.10.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). Heller: On the Edge of Destruction; Landau-Czajka: Syn będzie Lech; Kijek: Dzieci modernizmzu. Heller: On the Edge of Destruction, S. 224–227. Die „vorgestellte Gemeinschaft“ bezieht sich hier und bei Kijek auf das Konzept von Anderson: Imagined Communities. Kijek: Dzieci modernizmu; Kijek: Between a Love of Poland, S. 252–254. Ruta: Szkolnictwo powszechne, S. 558. ANKr. Odd. T. 33/363: Szkoła Czackiego/2: Metryka.

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kapitel 3

Bewohner jüdisch war. Die Czacki-Schule lag im Süden Grabówkas, unterhalb der Lemberger Straße in der Warzywna Straße. Von den fast 500 Schülern der Czacki-Schule war rund die Hälfte jüdisch, für die meisten war Jiddisch ihre Muttersprache.49 Die Staszic-Schule lag nordwestlich des Grabówka-Viertels, in der Nowodąbrowska Straße. Hier lernten etwas über 400 Schüler, von denen ebenfalls fast die Hälfte jüdisch war, allerdings sank ihr Anteil im Schuljahr 1938/1939 auf 33 %.50 Die Mehrheit der Kinder (der jüdischen und der nichtjüdischen) in beiden Schulen kam aus sehr armen Familienverhältnissen. Wie in einem Prisma bündelten sich in den Klassenräumen die Probleme, denen sich die Institution der allgemeinen Schule in der Zweiten Republik stellen musste. Es sollte eine Schule für alle werden, in der die ärmsten Schichten in den Demokratisierungsprozess einbezogen und zur „Nation“ erzogen werden. Zugleich sollte es eine Schule sein, die die Minderheiten in diesen Prozess integriert, was jedoch de facto für das „Anderssein“ kaum Platz ließ. Wie gingen die Lehrenden mit dieser Realität um – und wie nahmen die Kinder diese wahr? 3.2.1 Wie Lehrende über jüdische Schüler in der Czacki-Schule schrieben Dass die Lehrenden die Czacki-Schule als einen „Problemfall“ betrachteten, wird aus den Protokollen der pädagogischen Konferenzen schnell ersichtlich. Die Schüler waren unterernährt und hatten kaum wintertaugliche Schuhe und Kleidung, sodass bei Einbruch des Winters regelmäßig eine Krankheitswelle die Schülerschaft erreichte.51 Wiederholt beklagten die Lehrenden, dass die Eltern sich kaum um ihre Sprösslinge kümmerten und die Schüler zu Hause nicht kindergerecht betreut wurden.52 Es mangelte an Hygiene, einige Kinder wuschen sich erst in der Schule und hatten fleckige Schulhefte. Einige mussten selbst Geld verdienen oder sehr viel in den Familien aushelfen.53 Viele Schüler kamen aus Elternhäusern, die man heute mit der Bezeichnung ‚bildungsfern‘ versehen würde. (Die Bildungsferne bezog sich dabei auf einen normativen staatlichen Anspruch und weder auf religiöses Wissen aus dem cheder noch auf die Kenntnisse von Sprachen wie Jiddisch oder Hebräisch.) Zugleich hatte 49 50 51 52 53

Ruta: Szkolnictwo powszechne, S. 558; zum Anteil der jüdischen Schüler siehe Protokolle der Lehrendenkonferenzen, ANKr. Odd. T. 33/363: Szkoła Czackiego/3: Księgi Protokołów Rady Pedagogicznej (im Folgenden Księgi rady ped.). Im Schuljahr 1935/1936: 422 Schüler, von denen 48 % jüdisch waren; im Schuljahr 1938/1939: 412 Schüler mit einem Anteil von 33 % jüdischen Kindern, ANKr. Odd. T. 33/367: Szkoła Staszica/34–37: Księgi ocen. Protokolle vom 30.03.1936, 22.03.1937, 03.04.1937, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 167, 202–203. Protokoll vom 30.03.1936, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 167. Protokolle vom 22.03.1937, 03.04.1937, 15.06.1937, 17.12.1938, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 202–203, 209, 286–287.

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Abbildung 22

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Klassenfoto an der Czacki-Schule

die Schule keine Kapazitäten für eine eingehende Förderung: Die Klassengrößen schwankten zwischen 45 und 65 Schülern.54 Aus der Lektüre der Protokolle der Lehrendenkonferenzen der CzackiSchule entsteht das Bild, dass vor allem die jüdischen Schüler Probleme verursachten, mit dem Unterrichtsstoff nicht vorankämen, häufiger zu spät kämen, auffällig unsauber seien und ein mangelhaftes Betragen an den Tag legten. Das Gesamtniveau der Schule sei so schlecht, weil 50  % der Kinder jüdisch seien, urteilten die Lehrenden in aller Deutlichkeit.55 Als ein Schulinspektor zum ersten Mal einen Kontrollbesuch abstattete, stand der Direktor feierlich auf und „[…] bittet darum, unsere Arbeit nicht zu streng zu beurteilen und zu berücksichtigen, dass wir in unserer Schule um die 50  % Israeliten haben, die schlecht Polnisch sprechen, und die gesamte Jugend hauptsächlich aus ärmeren Arbeiter- und Handwerkerschichten stammt“.56 In Bezug auf die jüdischen Schüler diskutierten die Lehrenden der Czacki-Schule vor allem drei Hauptthemen ausgiebig: deren mangelnde Sprachkenntnisse des Polnischen, deren Abwesenheit an den Samstagen sowie deren schlechtes Betragen.

54 55 56

Herr Otwinowski beklagte beispielsweise, dass in seiner Klasse 40 Schüler jüdisch und 25 katholisch seien: Protokoll vom 24.10.1933, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 82. Protokoll vom 20.04.1931, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped. Protokoll vom 06.05.1931, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 30.

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kapitel 3

Wiederholt beklagten die Lehrenden, vor allem der unteren Klassen, dass die jüdischen Kinder, die die Hälfte der Schülerschaft ausmachten, kaum oder gar kein Polnisch sprachen, wenn sie an die Schule kamen. In einer Klasse waren beispielsweise 32 von 49 Schülern jüdisch, in einer anderen 40 von 65.57 Das Problem der nicht-polnischen Muttersprache war auf fast allen pädagogischen Konferenzen Thema, als die Klassenlehrerinnen und -lehrer aus ihrem Unterricht berichteten. Obwohl sich das Problem zum Teil in höheren Klassenstufen auflöste, da Kinder ihre Umgebungssprache schnell erlernten, verschwand es nie ganz. „Große Schwierigkeiten“, beklagte eine Lehrerin, „gibt es weiterhin bei schriftlichen Aufsätzen wegen der großen Anzahl von Juden /32 von 49 Schülern/, die so schreiben, wie sie es aussprechen, aber viele Wörter sprechen sie falsch aus. Eine korrekte Aussprache kann man ihnen nicht beibringen, denn außerhalb der Schule sprechen diese Schüler nur Jüdisch [d. h. Jiddisch – AW].“58 Die zwei Monate währenden Sommerferien würden sie zusätzlich aus der Übung bringen. Die Lehrenden monierten zudem, dass jüdische Kinder unter sich in den Hofpausen Jiddisch sprachen.59 Das schlechte Polnischniveau der jüdischen Schüler wurde mit ihrer Nachlässigkeit und Trägheit erklärt: „[…]  vor allem Juden lesen schlecht, sei es aus Nachlässigkeit oder Faulheit oder vielleicht auch aufgrund der großen Mühe, die ihnen das Erlernen der Sprache bereitet. Das hat einen negativen Effekt auf katholische Kinder.“60 In allen Städten, in denen es wie in Tarnów keine sogenannte szabasówka gab, hatten jüdische Kinder das Recht, vom Unterricht am Samstag befreit zu werden.61 Folglich fehlte in der Czacki-Schule an den Samstagen die Hälfte der Schülerschaft. Manchmal versäumten jüdische Schüler auch zwei Unterrichtstage, denn in einigen Klassen fand der Unterricht am Nachmittag statt. Im Winter kamen jüdische Kinder am Freitag nicht nach Einbruch der Dunkelheit in die Schule, da bereits der Schabbat angebrochen war.62 Die Lehrkräfte klagten über große Schwierigkeiten, mit dem Unterrichtsstoff voranzukommen. Zusätzlich verschlechterte es die Statistik, da die Schule durch die hohen Fehlzahlen nach einer Einrichtung voller Schulverweigerer aussah, was den Direktor und das Kollegium wiederholt besorgte. Schließlich ging man dazu über, dem Schulinspektor zwei Anwesenheitsstatistiken vorzulegen: eine für eine Fünf-Tage-Woche (ohne Samstage) und eine Gesamtanwesenheitsliste 57 58 59 60 61 62

Protokolle vom 24.10.1933, 31.03.1938, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 82, 245. Protokoll vom 31.03.1938, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 245. Protokoll vom 22.06.1932, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 43. Protokoll vom 16.12.1932, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 61. Rozporządzenie Ministra, S. 37. Protokoll vom 31.03.1938, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 245.

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für die volle Woche.63 Immer wieder wurde der jüdische Religionslehrer gebeten, auf die Elternhäuser dahingehend einzuwirken, dass die Kinder zu Hause Polnisch sprechen und samstags in der Schule erscheinen sollten.64 Der Religionslehrer Jakób Wachtel, obschon sichtlich bemüht, seine Loyalität zur Schule unter Beweis zu stellen, machte jedoch darauf aufmerksam, dass eine solche Aufforderung an einen jüdischen Religionslehrer ihn in ein Dilemma dränge: Er sei selbst dafür, dass Schüler am Samstag zur Schule gehen, und er selbst unterrichte ja auch, aber auf der anderen Seite, könne man nicht von ihm verlangen, dass er als Religionslehrer den Schülern sage: ‚Ihr sollt samstags in die Schule gehen.‘ Er deklariert zugleich, dass er nie gesagt habe und nie sagen werde, dass die Schüler am Samstag nicht in die Schule kommen sollen.65

Doch manche Jungen nutzten es aus, dass sie am Schabbat fehlen durften. Als Juden blieben sie dem Unterricht fern, verbrachten aber den Vormittag lieber beim Fußballspielen. Unangenehm war es nur, dabei erwischt zu werden, besonders von Herrn Wachtel. Dieses ‚schlechte‘ Benehmen wurde dann auf der Lehrendenkonferenz besprochen und leistete jenen Vorschub, die ohnehin schon die Meinung vertraten, Juden würden die Schule nach eigenem Gutdünken besuchen: „Sie [die jüdischen Schüler – AW] besuchen die Schule nach ihrer Laune“, „nach ihrem launigen wie-es-mir-gefällt“.66 Das Betragen der jüdischen Schüler wurde als besonders schlecht bewertet – und die Rede über mangelndes Benehmen von Juden trat gehäuft ab 1935/36 auf.67 Monierten die Lehrenden negative Verhaltensweisen der Schüler, so unterstrichen sie, dass es sich hauptsächlich um Juden handle: „Es wurde festgestellt, dass am häufigsten jüdische Schüler zu spät kommen.“68 In einem anderen Protokoll berichtet ein Lehrer: „Die häufigen Verspätungen einzelner Schüler, vor allem Juden, fällt unangenehm auf. Hier wende ich mich mit 63 64 65 66 67 68

Protokoll vom 03.09.1937, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi Protokołów Rady Pedagogicznej, S. 223. Protokolle vom 20.04.1931, 22.06.1931, 26.03.1934, 30.03.1936, 18.12.1936, 31.03.1938, 24.02.1939, ANKr. Odd. T.  33/363/3: Księgi Protokołów Rady Pedagogicznej, S.  17–19, 32, 102–103, 162–163, 192, 194–195, 259, 303. Protokolle vom 20.04.1931, 22.06.1931, ANKr. Odd. T.  33/363/3: Księgi Protokołów Rady Pedagogicznej, S. 17–32. Protokoll vom 20.04.1931, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi Protokołów Rady Pedagogicznej, S. 17–18. Protokolle vom 10.12.1935, 30.03.1936, 18.12.1936, 21.10.1937, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 165, S. 192–195, S. 226. Protokoll vom 24.02.1939, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 306.

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kapitel 3

der herzlichen Bitte an Herrn Wachtel, dass er das Thema im Religionsunterricht besprechen solle.“69 Wiederholt wurde der jüdische Religionslehrer Herr Wachtel also aufgefordert, Probleme jeglicher Art (sei es schlechtes Betragen, Zuspätkommen, die Benutzung des Polnischen zu Hause oder der Schulbesuch am Samstag) mit den jüdischen Schülern während seines Religionsunterrichts zu lösen und auf letztere einzuwirken. Dadurch wurden die hier angesprochenen Schwierigkeiten quasi als ‚jüdisches Problem‘ externalisiert, das unter ‚den Juden‘ zu klären sei. Nebenbei wurde der jüdische Religionsunterricht entwertet und sollte fast schon  – denkt man die Aufforderungen der nichtjüdischen Lehrenden weiter – die Anpassung an die polnische Mehrheitsgesellschaft beinhalten. Ähnlich war es im folgenden Beispiel: „Herr Otwinowski wendet sich an Herrn Wachtel mit der Bitte, auf jüdische Jugendliche einzuwirken, denn ihr Benehmen ist schlechter als das der Katholiken. Erstere organisieren Schlägereien und schreiben obszöne Wörter und Sätze.“70 In den Protokollen hieß es weiter: In der Klasse finden oft Schlägereien statt, und das besonders unter den jüdischen Schülern,71 die Schüler, die sich schlecht benehmen, sind meistens Juden,72 es handelt sich um Schüler mit auffälligen Merkmalen geistiger Unterentwicklung, besonders Juden, die der polnischen Sprache nicht mächtig sind, die Kinder des Elends im Viertel.73

Über nichtjüdische Kinder  – die ebenso aus ärmlichen, ‚bildungsfernen‘ Familien stammten  – wurde in den Lehrendenkonferenzen viel weniger in pejorativen Kategorien geschrieben. (Mit Ausnahme einiger „Sitzenbleiber“ und Schulwechsler aus dem ländlichen Umkreis, aber nicht mit der gleichen Häufigkeit.) Jüdische Schüler wurden in den Lehrendenkonferenzen ausschließlich als Problem dargestellt. Bei der Lektüre entsteht der Eindruck, dass sich diese Sicht- und Sprechweise während der 1930er Jahre noch verstärkte, besonders dadurch, dass das schlechte Betragen von Juden ab 1935 verstärkt moniert wurde. In der Czacki-Schule, die eine Gemengelage von Bildungsherausforderungen zu bewältigen hatte, wurden Juden als das Hauptproblem angesehen, auf die alle anderen Schwierigkeiten gleichsam projiziert wurden. 69 70 71 72 73

Protokoll vom 18.12.1936, ANKr. Odd. T: 33/363/3: Księgi rady ped., S. 191. Protokoll vom 18.12.1936, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 195. Protokoll vom 18.12.1936, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 192. Protokoll vom 02.03.1934, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 102–103. Protokoll vom 10.12.1935, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 152.

Interaktionsraum Schule

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Die Probleme des Erlernens der polnischen Sprache und der Abwesenheit am Schabbat wurden im Diskurs der Lehrendenkonferenzen externalisiert. Es war das alleinige Problem der Jüdinnen und Juden – der Kinder, des Religionslehrers, des Elternhauses. Allein von ihnen war es zu lösen. Dabei mussten die Herausforderungen, die eine multiethnische Schülerschaft mit sich brachte, in vielen Schulen Polens bewältigt werden. Es war eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. In der Czacki-Schule wurde die sprachliche und religiöse Diversität der Schülerschaft nie als gesellschaftliche Herausforderung diskutiert, sondern als Unzulänglichkeit von Juden verurteilt. Gepaart mit einer negativen Haltung gegenüber den jüdischen Schülern (sie wären schmutziger, könnten nicht richtig sprechen, benähmen sich schlechter) konturiert sich ein Bild von der Beziehung der Lehrenden zu den jüdischen Schülern, die von der Überzeugung eines Kulturgefälles zwischen „Titularnation“ und „den Anderen“ geprägt war. Konflikte und Schwierigkeiten wurden ethnischen Kategorien zugeschrieben. Der Religionslehrer Wachtel war ständig in Erklärungsnot und versuchte wiederholt seine Loyalität gegenüber dem Staat unter Beweis zu stellen, beispielsweise indem er betonte, dass er selbst am Samstag unterrichte. Loyalität zu beweisen ist zweideutig, weil dies impliziert, dass man sich in die Gemeinschaft, als deren selbstverständlicher Teil man sich versteht, erst einschreiben muss und sich gewissermaßen als zugehörig erst noch beweisen muss. Der Religionslehrer sollte darüber hinaus als Transmissionsriemen zwischen den staatlichen Bildungsanforderungen und der jüdischen Schülerschaft fungieren. Ähnliche Probleme, andere Lösungen: die ersten Jahre der Staszic-Schule Obschon sich die Schülerschaft der Staszic-Schule, ähnlich wie die der CzackiSchule, aus ärmeren sozialen Schichten des Grabówka-Viertels zusammensetzte und ebenfalls ethnisch gemischt war (auch hier war rund die Hälfte der Schüler jüdisch), schien der Ton der Lehrenden gegenüber ihren Schutzbefohlenen oft von Verständnis und Unterstützung geleitet zu sein  – zumindest bis 1934 unter dem Direktor Adolf Zarzycki (1881–?). In den Protokollen der Lehrendenkonferenzen wird wiederholt über die Armut aller Kinder berichtet. Den Eltern „fehle es an Mitteln für Kleidung und Schuhe“.74 Häufig kamen die Kinder barfuß zum Unterricht.75 Die Klagen über die Elternhäuser aus dem Elendsviertel rissen in den Protokollen nicht ab, doch gleichzeitig wurde 3.2.2

74 75

Protokoll vom 30.10.1930, ANKr. Odd. T. 33/370: Szkoła Staszica/2 Księgi rady ped., S. 122. Protokolle vom 04.09.1928, 16.04.1932, ANKr. Odd. T.  33/370/2: Księgi rady ped., S.  73, S. 151–152.

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kapitel 3

seitens der Schule Abhilfe geschaffen. Seit 1930 organisierte die Staszic-Schule kostenlose Mittagessen für die Kinder, zunächst für 40 Schüler, im Jahre 1933 profitieren bereits 300  Kinder vom Schulessen.76 Im selben Jahr kaufte die Schule 24 Paar Schuhe, zwei Jahre später stellte die Schule den Kindern 140 Paar Schuhe zur Verfügung.77 Da die Eltern häufig kein Geld hatten, für ihre Kinder Schulmaterialien zu besorgen, bemühte sich die Schuldirektion auch hier um Finanzierungsmöglichkeiten Dritter. Für die jüdischen Kinder wandte sie sich an die kehillah: „Die Schuldirektion bekam eine positive Antwort von der jüdischen Gemeinde, dass für die armen Kinder mosaischen Glaubens Schulbücher für das gesamte Schuljahr ausgeliehen werden.“78 Das Problem der Abwesenheit jüdischer Schüler an Samstagen löste die Schule schnell. Als die Lehrenden in einer pädagogischen Konferenz 1925, der ersten für die ein Protokoll erhalten ist, monierten, dass jüdische Kinder an den Samstagen fehlten, schrieb der Schulinspektor mit Rotstift darunter: „Durchschnittliche Anwesenheit ohne Samstage berechnen.“79 Daraufhin erschienen kaum weitere Klagen über Fehlzeiten an Samstagen – ganz anders als der jahrelang dauernde Streit an der Czacki-Schule. Lediglich sei „die Lehre im September und Oktober erschwert, da es viele jüdische Kinder gibt und das ist die Zeit jüdischer Feiertage“.80 Die Lehrerin Wojcikówna, die die erste Klasse unterrichtet, sagt, dass der Unterrichtsstoff aufgrund der hohen Prozentzahl von Juden (58 % Juden und 42 % Katholiken) und der jüdischen Feiertage, die in den September und Oktober fallen, nicht ausgeschöpft werden konnte, doch sie hofft, dass dies nun im November, bei besseren Anwesenheitszahlen, vollständig nachgeholt wird.81

Hier rechtfertigte sich eine Lehrerin während der Konferenz, warum sie nicht mit dem Unterrichtsstoff wie geplant vorankam. Diskursiv wurden die Fehlzeiten der jüdischen Schüler nicht als Problem der Juden gerahmt, sondern als das der Lehrenden, mit dem sie aber auch umzugehen wussten. In den Frühsommermonaten wurde die hohe Besuchsrate in der Schule gar lobend erwähnt: „Stand der Anwesenheit gut, 93–94 %“.82 76 77 78 79 80 81 82

Protokolle vom 24.01.1931, 01.04.1933, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 128–129, S. 177. Protokolle vom 01.04.1933, 07.06.1935, ANKr. Odd. T.  33/370/2: Księgi rady ped., S.  177, S. 257. Protokoll vom 10.11.1926, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 23. Protokoll vom 05.11.1925, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 3. Protokoll vom 21.10.1933, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 198. Protokoll vom 10.11.1927, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 46–47. Protokoll vom 22.06.1931, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 134.

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Die mangelnden Polnischkenntnisse der jüdischen Schüler waren auch in der Staszic-Schule Dauerthema der Lehrendenkonferenzen. Das Niveau des Polnischunterrichts sei so schlecht, da 60  % der Schülerschaft jüdisch sei, mahnte der Direktor, gleichzeitig gab er aber „eine Reihe von Hinweisen und Ratschlägen“ zu Methoden, wie die Lehrenden diesen Mangel ausbessern können.83 Eine Lehrkraft monierte: „In dieser [dritten – AW] Klasse sind 64 % der Kinder mosaischen Glaubens, und beherrschen die Unterrichtssprache nur mangelhaft, was die Arbeit für die Lehrer und für die Kinder erschwert.“84 Eine andere Lehrkraft erklärte das schlechte Polnischniveau wie folgt: Wir haben einen hohen Prozentsatz an Juden in der Schule und das aus den ärmsten Schichten. Diese Kinder hören die polnische Sprache nur in der Schule, zu Hause bedienen sie sich des Jargons [d. h. Jiddisch – AW], und auch in der Schule sprechen sie häufig untereinander auf Jüdisch. Das sollte rücksichtslos bekämpft und der Jargon in der Schule verboten werden. Das muss strikt eingehalten werden.85

Jiddisch wurde nicht als Sprache, sondern lediglich als Jargon verstanden. Ähnlich wie in der Czacki-Schule sollte das Benutzen der Muttersprache von Juden auf dem Schulgelände bekämpft werden. Ein anderer Lehrer mahnte an: Mit einem mangelhaften Polnischniveau glänzen vornehmlich Juden, die 35 % der Klasse ausmachen, was sich in den schriftlichen Aufsätzen widerspiegelt. Um diesen Mangel zu beheben, wählt man für die schriftlichen Aufsätze im Polnischunterricht möglichst zugängliche Themen, die die Kinder interessieren und bei ihnen eine Reihe von Eindrücken, Vorstellungen und Erinnerungen wachrufen.86

Obschon eine Lehrkraft davon berichtete, dass „Juden aufgrund fehlender Sprachkenntnisse lächerlich [deklamieren]“87, entsteht bei der Lektüre der Protokolle dennoch zunehmend der Eindruck, dass die Lehrenden bemüht waren, Abhilfe zu schaffen und die Kinder bei dem Erlernen der polnischen Sprache zu unterstützen – durch interessante Aufsatzthemen, die Motivation zu steigern, wie im Zitat oben erwähnt, und durch diverse Methoden, die der Schuldirektor vorstellte. „Der Polnischunterricht hat Priorität, da die Sprache auch für andere Fächer wichtig ist. Ernsthafte Mängel bei der jüdischen Jugend – hier muss man alles daran setzen, damit die polnische Sprache auf ein hohes 83 84 85 86 87

Protokoll vom 19.11.1932, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 168. Protokoll vom 26.01.1929, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 81. Protokoll vom 21.10.1933, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 199. Protokoll vom 30.10.1930, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 123. Protokoll vom 19.12.1928, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 73.

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kapitel 3

Niveau gehoben wird.“88 Die Lehrenden sollten sich dabei nicht entmutigen lassen, sondern alles versuchen, das wichtigste Fach auf einen guten Stand zu bringen.89 Konkret hieß dies, dass der Direktor für Klassen mit einem hohen Anteil jüdischer Schüler ein zusätzliches und neues Lehrbuch für Polnisch kaufte.90 Die Einstellung zusätzlicher Lehrenden wurde eingefordert.91 Als im Schuljahr 1929 die erste Klasse  63  Schüler zählte, „wovon über 60  % Juden ohne Sprachkenntnisse des Polnischen [waren], die manchmal sogar den Lehrer nicht verstehen, fordert das Kollegium zum Wohl der Klasse die Schaffung einer Parallelklasse und die Zuteilung eines zusätzlichen Lehrers“.92 Dieser Bitte wurde stattgegeben, und die Klasse 1A mit ausschließlich nichtjüdischen Schülern geschaffen und die 1B mit ausschließlich jüdischen. Nach drei Monaten wurden die Fortschritte der 1B evaluiert: „Das Lesen ist besser als in der A-Klasse. Das Diktat fiel gut aus. Sie rechnen besser als die A-Klasse. Die Aussprache der Schüler der 1B (jüdisch) lässt viel zu wünschen übrig, das ist allerdings nicht die Schuld des Lehrenden.“93 Für die jüdischen Schüler gab es also in den Protokollen durchaus auch Lob. So beschwerte sich der Direktor mehrmals über einen Lehrer, der seine Lehrtätigkeit vernachlässigte. In seiner zweiten Klasse herrschten folgende Zustände: Das Lernen der polnischen Sprache erweist sich nicht gerade als positiv. Von den 45 Anwesenden konnten vier gar nicht lesen und neun nur sehr mangelhaft, und dies waren alles Katholiken. Man kann das so erklären, dass die Juden einen angeborenen Wissensdrang haben und sich allein aushelfen konnten, während die Katholiken das nicht schafften, ihnen fehlt die aufmerksame Betreuung durch den Lehrer.94

Jüdische Schüler konnten in den Protokollen also auch positiv hervorgehoben werden – auch wenn den Juden in diesem Zitat vermeintlich essenzialistische Merkmale zugeschrieben wurden. Bei der Belohnung am Schuljahresende war die Direktion auf Religionsunterschiede der Schülerschaft sensibilisiert: Das Kollegium beschloss zur Zeugnisausgabe „Bücher zu kaufen (für die Katholiken Gebetsbücher und für Juden Erzählungen) und sie in den unteren Klassen zu

88 89 90 91 92 93 94

Protokoll vom 16.12.1933, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 210. Prtokoll vom 21.11.1931, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 144. Es handelt sich um das Polnisch-Lehrbuch von Cecylia Bogucka und Stanisław Szober, Protokoll vom 15.09.1931, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 140. Protokoll vom 04.09.1928, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 68b. Protokoll vom 19.12.1929, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 100. Protokoll vom 31.03.1930, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 104. Protokoll vom 20.12.1926, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 27.

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verteilen, in den höheren Klassen dagegen soll für die besten Schüler ein Buch über die Geschichte Tarnóws verteilt werden“.95 Negative Bewertungen der jüdischen Schüler fanden sich auch in der Staszic-Schule in den Protokollen wieder, doch wird ihr Verhalten nicht allein mit ihrem Jüdischsein erklärt, oder wie in der Czacki-Schule mit Trägheit und Nachlässigkeit, sondern häufig mit dem Hinweis auf die Herkunft aus schwierigen ökonomischen und sozialen Verhältnissen, wie in den folgenden Beispielen: Die Lehrerschaft arbeitet mit Eifer und bemüht sich nicht nur um die Bildung der Kinder, sondern auch um deren gute Erziehung, was in unserer Schule zuweilen eine Herausforderung darstellt. Wir haben es nämlich mit vermutlich dem schlimmsten Element aus ganz Tarnów zu tun, das sich zu einem großen Anteil aus Juden zusammensetzt, besonders aus den ärmsten Schichten, deren häusliche Erziehung viel zu wünschen übriglässt.96

In den schriftlichen Aufsätzen sei der Ausdruck „mangelhaft, das liegt an dem hohen Anteil von Juden, und auch an der bildungsfernen Herkunft der meisten Kinder dieser Schule“.97 Zu keinem Zeitpunkt wird in den Protokollen der jüdische Religionslehrer Herr Wachtel, der auch in der Staszic-Schule unterrichtete, zur Verantwortung gezogen und gebeten, auf die jüdischen Schüler während seines Unterrichts einzuwirken, wie dies in der Czacki-Schule häufiger der Fall war. Anders als in letzterer sah sich die Lehrerschaft der Staszic-Schule, zumindest in den Jahren unter Direktor Adolf Zarzycki bis 1934, in der Verantwortung, sich den Herausforderungen einer multiethnischen Schule in einem sozialen Brennpunkt zu stellen. Das Kollegium machte sich Gedanken über Unterstützungsmöglichkeiten (zusätzliche Bücher, Lehrende, Schaffung von Parallelklassen), anstatt die jüdische Schülerschaft damit alleinzulassen und höchstens den Religionslehrer mit dem „jüdischen Problem“ zu überfrachten. Erst der Blick auf die Staszic-Schule macht Folgendes deutlich: Der Kampf um einen National- oder Nationalitätenstaat fand bis in die Ausgestaltung des Unterrichts an den allgemeinen Schulen statt. Aus der Lektüre der Protokolle der Czacki-Schule gewinnt man den Eindruck eines Gefälles zwischen Titularnation in einem nationalisierenden Staat und den „Anderen“, die als mangelhaft, undiszipliniert und durch die oft nur defizitäre Beherrschung der polnischen Sprache zum Teil als geistig unterentwickelt 95 96 97

Protokoll vom 30.06.1930, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 110. Protokoll vom 28.03.1931, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 130–131. Protokoll vom 16.04.1932, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 153.

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kapitel 3

wahrgenommen wurden. Das war der diskursive Rahmen, in dem während der Lehrendenkonferenzen über Juden diskutiert wurde. Die jüdischen Schüler wurden mit der von ihnen abverlangten Akkulturation in die polnische Sprache und Kultur  – der Voraussetzung für eine erfolgreiche Teilhabe am Unterricht  – weitestgehend alleingelassen und somit die gesellschaftliche Herausforderung, mit einer multiethnischen Schülerschaft umzugehen, auf die Judenheiten externalisiert. In der Staszic-Schule dagegen werden diese „Anderen“ zugleich als Teil der (schwierigen) Schulgemeinde verstanden, die im Erlernen der polnischen Sprache unterstützt werden müssen. Was machte den Unterschied aus? Sicherlich konnte die allgemeine politische Lage zu der Atmosphäre in den Schulen beitragen. Aber auch die Persönlichkeit des Direktors spielte dabei wohl eine wesentliche Rolle, der das Kollegium in die eine oder andere Richtung lenken und Normen setzen konnte. Auf beide Aspekte werde ich noch zurückkommen. 3.2.3 Patriotismus, Nation und Religion in den allgemeinen Schulen „Wir erziehen unsere Kinder im patriotischen Geist, also in einem polnischen staatlichen Geist, nicht nur von Amts wegen, sondern aus tiefer Überzeugung“, schrieb 1930 eine Lehrerin der Czacki-Schule ins Protokoll.98 Das „von Amts wegen“ unterstrich der Schulinspektor, der die Protokolle ab und an kontrollierte, in kräftigem Rot und versah am Rand die Stelle mit einem großen Ausrufe- und Fragezeichen. Doch in diesem Zitat ist vielmehr bemerkenswert, dass vor allem die Begriffe „patriotisch“ und „staatlich“ erschienen, nicht aber „national“. Die Loyalität zum Staat, nach Piłsudskis Façon, stand 1930 auch in den Schulen im Vordergrund ihrer Bildungsaufgabe. Die offizielle Sprache der Protokolle setzte sich zu diesem Zeitpunkt von einem rein ethno-nationalen Prinzip ab. Der Slogan der upaństwowienie – also der Ausrichtung auf den Staat – fand, zumindest auf offizieller Ebene in den Protokollen, auch in den Schulen seinen Niederschlag. Der Staat sollte laut der Sanacja eine integrierende Kraft für die Gesellschaft darstellen und alle Bürgerinnen und Bürger sollten für das Gemeinwohl, sprich den Staat, arbeiten. Damit ging aber auch einher, dass die Schülerinnen und Schüler dahingehend erzogen werden sollten – mit anderen Worten sollte die Schule ihren Beitrag zur upaństwowienie der Bürgerinnen und Bürger leisten. Der „patriotische“ Geist der Schülerinnen und Schüler wurde unter anderem durch gemeinsame Feierlichkeiten mobilisiert, die auf den Staat und seine Anführer ausgerichtet waren – Namenstage des Präsidenten, Todestage, Ernennungen 98

Protokoll vom 10.03.1930, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 92.

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(z. B. von Edward Śmigły-Rydz) und polnische Verfassungen wurden gefeiert.99 Wie Dorota Wojtas in ihrer Dissertation zeigte, waren Schulreformer und das Schulminsiterium seit den späten 1920er Jahren und unter Schulminister Jędrzejewicz darum bemüht, dass die staatliche Erziehung, also die Erziehung zu loyalen Staatsbürgerinnen und -bürgern Eingang in die Klassnzimmer und in die emotionale Erfahrungswelt der Schülerinnen und Schüler findet.100 Nur einmal beklagte eine Lehrerin der Czacki-Schule, jüdische Kinder würden die polnische Hymne nicht mitsingen. Einige Monate später berichtete ein Lehrer, dass die Kinder „jüdischer Nationalität“ sehr wohl patriotische Lieder sängen, nur einige wenige würden den Text noch nicht kennen, da sie zu Anfang des Schuljahres gefehlt hätten.101 Für die nächsten Jahren lassen sich solche Klagen nicht mehr nachweisen. Doch diese auf den gemeinsamen Staat – państwo – ausgerichtete Sprache der Protokolle verschob sich etwas im Verlauf der Jahre: Bereits 1933 hieß es in den Protokollen der Czacki-Schule „Die Erziehung zur Staatlichkeit geht Hand in Hand mit nationaler Erziehung.“102 Im selben Schuljahr wurde betont, dass das Polnische als Leitkultur dienen solle, die den Kindern anhand der polnischen Belletristik vermittelt werden soll.103 Diese Rhetorik, nationale und staatliche Aspekte der Erziehung zusammen zu betonen, lässt sich auf die 1932 veröffentlichte Handreichung für Autoren des Lehrprogramms der Allgemeinschulen zurückführen.104 Doch letztlich blieb bis zum Ausbruch des Krieges in der Protokollsprache der Lehrendenkonferenzen der Czacki-Schule der Begriff der Staatlichkeit „Państwowość“ gebräuchlicher als jener des „Nationalen“. Allerdings bleibt zu fragen, wie dies real in den Klassen umgesetzt wurde, besonders, wenn Lehrende – wie bereits gezeigt – eher eine pejorative Meinung von ihren jüdischen Schülern besaßen und das Gefälle zwischen der gefühlten „Titularnation“ und den als die „Anderen“ wahrgenommenen Juden spürbar war. Die Protokolle der Staszic-Schule geben genauer darüber Auskunft, wie in den Klassen der Patriotismus gestärkt werden sollte. Ähnlich wie in der Czacki-Schule dominierten in den Jahren 1926–1931 die Termini der „staatsbürgerlichen“ (państwowo-obywatelska)105 Erziehung: „Ziel der Schule und des 99 100 101 102 103 104 105

Protokoll vom 15.06.1937, ANKr. Odd. T.  33/363/3: Księgi rady ped., S.  211–219; Schulchronik, Eintrag für das Schuljahr 1934/1935, ANKr. Odd. T. 33/363/55: Kronika, S. 22. Wojtas: Learning to Become Polish, S. 82–90. Protokolle vom 15.11.1929, 25.01.1930, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 84–85. Protokoll vom 23.09.1933, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 75. Protokoll vom 04.06.1934, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 115. Vgl. Wojtas: Learning to Become Polish, S. 89–90. Vgl. Protokolle vom 10.11.1926, 15.02.1932, 13.09.1932, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 22, 147, 162.

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kapitel 3

Lehrers ist es, die Jugend dahingehend zu lenken, dass aus ihr rechtschaffende und gehorsame Bürger entwachsen.“106 Bürger sollten aus den Kindern werden und nicht rechtschaffende Polen – dies ist ein bedeutender sprachlicher Unterschied in der Vermittlung von staatsbürgerlichen Werten. 1931 begann der Schuldirektor die Versammlung des Kollegiums mit folgenden Worten: „Wir werden alle Schwierigkeiten überwinden, denn wir wissen, dass wir für unseren Staat arbeiten  – für die Gesellschaft und für eine bessere Zukunft.“107 Der Begriff der upaństwowienie erschien – gepaart mit jenem der uobywatelnienie, was so viel heißt wie: das Bewusstsein des staatsbürgerlichen Prinzips zu stärken – noch 1934 in den Protokollen: „[…] noch stärker auf die Schüler im Geiste der staatsbürgerlichen Erziehung und der upaństwowienie [Kursivsetzung – AW] einwirken. Die Notwendigkeit des Zusammenlebens und der Zusammenarbeit aller Bürger unterstreichen.“108 Doch ab 1932 erscheinen gleichzeitig zur Begrifflichkeit der staatsbürgerlichen Erziehung auch jene der nationalstaatlichen (narodowo-państwowa) und beide verschmolzen immer mehr ineinander. Dies sollte den Kindern durch verschiedene Rituale beigebracht und im Schulalltag integriert werden: „Zur Festigung des kollektiven, national-staatlichen Bewusstseins soll die Jugend im Chor Gelübde und Schwöre ablegen, um während der Feierlichkeiten eine gehobene Stimmung zu erzeugen.“109 In jeder Klasse sollte sich der Klassenlehrer „eine Abschiedsformel mit patriotischem Inhalt überlegen, die alle Kinder am Ende des Unterrichts nach dem Gebet im Chor aufsagen, bevor sie die Schule verlassen“.110 Auch wurden die Kinder der ersten Klassen ab 1932 dazu angehalten, den „Katechismus des polnischen Kindes“ von Władysław Bełza (1847–1913) aufzusagen, einen bis heute bekannten Reim, der mit den Worten beginnt: „Wer bist du? Ein kleiner Pole. Was ist dein Zeichen? Ein weißer Adler […].“111 Das Gebet und der katholische Glauben wurden immer stärker in die Praxis der national-patriotischen Erziehung an den Schulen integriert. Allein der Titel des „Katechismus des polnischen Kindes“ verweist auf diese Verquickung zwischen römisch-katholischer Religion, Nation und Erziehung. Jedem Kind sollte „die Liebe zu seiner Muttersprache  – zu Gott und Vaterland“ eingeprägt werden.112 Wie sollten sich da die jüdischen Kinder 106 107 108 109 110 111

Protokoll vom 31.03.1930, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 109. Protokoll vom 15.09.1931, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 139. Protokoll vom 24.03.1934, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 221. Protokoll vom 15.02.1932, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 148. Protokoll vom 13.09.1932, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 162. Vgl. Protokolle vom 13.09.1932, 01.04.1933, ANKr. Odd. T.  33/370/2: Księgi rady ped., S. 162, 180. 112 Protokoll vom 29.10.1932, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 163–164.

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als Teil des Wir-Kollektivs verstehen, wenn mit der Muttersprache ausschließlich das Polnische gemeint war, wenn es nicht um ihre Religion ging, als Gott angerufen wurde? „Ich bin ein Pole  […]“ wurde bald zum Motto der ersten und zweiten Klassen der Staszic-Schule, das alle Kinder zu Beginn des Unterrichts aufsagen sollten. Celia Heller brachte es am Beispiel des Gedichts von Bełza wie folgt auf den Punkt: „The exalted world of Polishness unfolded to Jewish children like a magic castle: to glance at, to admire, but seldom, if ever, to enter fully.“113 Diese Gleichzeitigkeit von Identifizierung jüdischer Schülerinnen und Schüler mit „dem Polnischen“ und zugleich deren Ausschluss aus einer ethnisch-national verstandenen Gemeinschaft nennt der Historiker Kijek, in Anlehnung an Bourdieus Terminologie, als symbolische Gewalt der dominierenden Mehrheitsgesellschaft gegenüber den jüdischen Kindern, die letzteren nicht immer bewusst war.114 Die Begriffe vom staatsbürgerlichen Prinzip waren zwar in den Protokollen weiterhin präsent, aber das Polnisch-Sein wurde zugleich mit Bedeutungen gefüllt, die immer mehr auf die ethno-nationale (und nicht staatsbürgerliche) Zugehörigkeit – gepaart mit dem römisch-katholischen Glauben – abzielten. Die katholische Kirche war im Schulalltag sehr präsent. Den katholischen Religionsunterricht hielt ein Priester ab, der in die Schulen kam. Gebete wurden zu Beginn der Unterrichtsstunden gesprochen, sehr wahrscheinlich hingen Kruzifixe in den Klassenräumen. William Celnik war ein jüdischer Überlebender aus Tarnów, der sich noch in den 1990er Jahren an seinen Religionslehrer, den hier mehrmals erwähnten Jakób Wachtel, erinnerte. Celnik erzählte, dass die jüdischen Kinder während der christlichen Gebete in den Grundschulen die Hände zusammenfalteten (er machte die Geste im Interview nach), sich aber nicht bekreuzigten.115 1932 wurde in den Protokollen erwähnt, dass die Zeremonie des Schulabschlusses der CzackiSchule in der Tarnower Kathedrale stattfand. Was dies für die jüdische Schülerschaft bedeutete, ob sie separate Feierlichkeiten abhielt, blieb das Protokoll schuldig.116 Herr Wachtel erbat schließlich im Jahre 1933 die Direktion der Czacki-Schule, dass alle schulischen Feierlichkeiten so stattfinden, dass die Schüler „mosaischen Glaubens“ auch daran teilnehmen können.117 Offensichtlich war es nötig geworden, auf das Problem hinzuweisen, dass bei einigen Feierlichkeiten Juden ausgeschlossen wurden. Darüber hinaus organisierte der 113 Heller: On the Edge of Destruction, S. 225. 114 Kijek: Between a Love of Poland, S. 252–253. 115 Celnik, William: Interview 1712, 24.03.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 02.12.2020). 116 Protokoll vom 22.06.1932, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 43. 117 Protokoll vom 24.10.1933, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 82.

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Priester in der Czacki-Schule einen Eucharistiekreuzzug (gemeinsame Gebetszirkel mit bestimmten Intentionen). 1939 wurde erwähnt, dass die Ziele eines Ausflugs darin lägen, das Land und Gott lieben zu lernen. In der Staszic-Schule wurde, ähnlich wie vermutlich in allen Schulen, der Jahresabschluss mit einem Gottesdienst gefeiert. Die öffentlichen Schulen, die von jüdischen Schülerinnen und Schülern frequentiert wurden, boten jüdischen Religionsunterricht an – meistens zwei Mal, später vier Mal die Woche.118 An der Staszic-Schule fand der jüdische Religionsunterricht immer an den Montagen und Freitagen statt.119 Bereits 1918 wurde ein staatliches Seminar für Lehrer der mosaischen Religion gegründet. Der Staat wollte seinen Einfluss darauf geltend machen, was in den Religionsstunden unterrichtet wurde. Insgesamt wurden in dem Seminar bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 300 Lehrer ausgebildet. Da viele von ihnen an private jüdische Schulen auswichen, mangelte es an den öffentlichen Schulen weiterhin an staatlich ausgebildeten Fachkräften für den jüdischen Religionsunterricht.120 Zugleich beklagten jüdische religiöse Autoritäten, dass der Religionsunterricht an den staatlichen Schulen viel zu wünschen übrig ließe.121 Jakób Wachtel unterschrieb mit dem Zusatz „diplomierter Lehrer der jüdischen Religion“.122 Ob er Absolvent des staatlichen Lehrerseminars war, ist unbekannt. Er unterrichtete neben der Staszic- und Czacki-Schule auch Religion am I.  Kazimierz-Brodziński-Gymnasium in Tarnów. In den Jahresberichten dieser Schule gab er einen Einblick, wie er sein Religionsunterricht gestaltete. Neben der Wissensvermittlung aus dem Bereich Religion (die Pentateuch mit Kommentaren, die Bücher der Propheten und die Psalme, die Megillot und die Vorbereitung der Gymnasialkinder auf die Bar Mitzva) diente der Unterricht dazu, die Geschichte und Literatur der Judenheiten in Polen sowie die Geschichte und Geographie des „Gelobten Landes“ kennenzulernen.123 Darüber hinaus betonte Wachtel im offiziellen Bericht die Loyalität zum Staat: „In allen Klassenstufen wurde auch über die Pflichten gegenüber dem Vaterland, dem Präsidenten der Republik und der Regierung unterrichtet. In den Gottesdiensten anlässlich staatlicher Feiertage nahmen alle Schüler aller

118 Bacon: National Revival, S. 87; zum jüdischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen siehe auch Martin: Between Church and State. 119 Protokoll vom 06.09.1927, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 42. 120 Bacon: National Revival, S. 87. 121 Ebd., S. 86. 122 Sprawozdanie Dyrekcji Państwowego Gimnazjum im. Kazimierza Brodzińskiego w Tarnowie za Rok 1930–1931. Tarnów 1931, S. 18. 123 Ebd., S. 17–18.

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Klassenstufen teil.“124 Eine Schülerin erinnerte sich an den Religionsunterricht in einer anderen öffentlichen Schule wie folgt: „School was very good. They taught us our religion. It was a priest who taught the Catholic religion, and we had our teacher who taught us our religion. In the morning everybody stood up and the Catholics said their prayer. We Jews didn’t say the prayer. But we didn’t feel bad about it.“125 Hier spricht eine Schülerin von der religiösen Diversität in einem Klassenraum als von etwas Normalem, sicherlich war sie etwas alltäglich Erlebtes für die Tarnowianer Kinder, obschon der Druck der katholischpolnischen Mehrheitsgesellschaft in den Klassenverbänden zeitgleich spürbar gewesen sein muss. 3.2.4 Juden und Katholiken – die Sprache der Lehrendenprotokolle Im Jahre 1926 schrieb eine Lehrerin folgenden Satz in das Protokoll der CzackiSchule: „Das Unterrichtsniveau wäre besser, wenn es weniger Juden (żydków) gäbe, von denen viele der polnischen Sprache nicht mächtig sind und sie nicht verstehen.“126 Der Schulinspektor markierte das Wort „żydki“, das mehrmals im Protokoll erschien, rot. Vermutlich gab es eine Aussprache darüber, welche Begriffe die richtigen seien, denn das pejorative „żydki“ verschwand seither aus den Protokollen. Seitdem wurde wahlweise von Israeliten oder von jüdischen und katholischen Schülern geschrieben. Die Dichotomie „Juden vs. Polen“ oder „jüdische vs. polnische“ Schüler erschien weder in der Czacki-Schule noch in der Staszic-Schule in der Protokollsprache. Die religiöse Differenz wurde damit hervorgehoben, was durchaus dem Duktus der upaństwowienie entsprach. Zudem wurde das polnische Wort „żydzi“ in den Protokollen kleingeschrieben. In der polnischen Sprache wird das Substantiv, das eine Zugehörigkeit zur Nation oder Nationalität benennt, mit einer Majuskel geschrieben („Polacy“, „Francuzi“), während das Substantiv, das die Religionszugehörigkeit bezeichnet, kleingeschrieben wird („katolicy“, „ewangelicy“). Die Kleinschreibung des Wortes „Jude“ im Polnischen markierte also die religiöse Differenz, nicht aber eine Zugehörigkeit zu einer jüdischen Nationalität. (In anderen Kontexten wurde das Wort „Juden“ auf Polnisch aber auch kleingeschrieben, um die pejorative Einstellung des Verfassenden zu markieren.) Die Kleinschreibung ist auch deswegen ambivalent, da sich viele Jüdinnen und Juden durchaus in ihrer Selbstwahrnehmung der jüdischen Nationalität zugehörig fühlten. Dennoch wurde im Diskurs der öffentlichen Grundschulen, 124 Ebd., S. 17. 125 Gotlob, Sophie: Interview 16833, 03.07.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 126 Protokoll vom 23.01.1926, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 15.

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sowohl in der Staszic- als auch in der Czacki-Schule, zunächst nach religiöser Zugehörigkeit unterschieden. Auch Ludwik Garmada erinnerte sich, dass in den Schulen von katholischen und jüdischen Schülern die Rede war, damit also die religiöse Differenz (und nicht die ethno-nationale) an den Schulen sprachlich hervorgehoben wurde.127 Erst im Juni 1936 werden „Żydzi“ das erste Mal in einem Protokoll der Czacki-Schule großgeschrieben, allerdings nur vereinzelt und sogar innerhalb eines Protokolls nicht konsistent. Zunehmend verschwand seit diesem Zeitpunkt jedoch das Kleingeschriebene und ab dem Schuljahr 1936/37 wurden „Juden“ fast nur noch mit der Majuskel geschrieben. Im Jahre 1938 erschien erneut das Wort „żydki“, allerdings wurde es von einer Lehrerin gebraucht, die erst kürzlich eingestellt worden war. Dies wiederholte sich kein zweites Mal.128 Ob es Richtlinien des Ministeriums zur Sprachregelung in den öffentlichen Schulen gab, ist mir nicht bekannt. Deutlich wird jedoch, dass die Czacki- und die Staszic-Schule um eine, wie wir heute sagen würden, politisch korrekte Sprache bemüht waren. Obwohl sich auch nach 1936 die Dichotomie „Polacy – Żydzi“ in den Protokollen nicht finden lässt und die katholischen Schüler nie einfach nur als „die Polen“ tout court bezeichnet wurden, so wurde zumindest durch den Gebrauch der Majuskel beim Wort „Juden“ an der Czacki-Schule eine kleine Verschiebung deutlich. Im offiziellen Sprachgebrauch wurden die Schüler nicht in den ethnischnational definierten Kategorien in „die Polen“ und die Anderen unterteilt, sondern vielmehr ihre religiöse Alterität hervorgehoben. Für viele jüdische Zeitzeugen war diese Begrifflichkeit bedeutsam. „Man betrachtete alle als Polen“, erinnerte sich Ludwig Garmada an seine Schulzeit.129 Für ihn war, ein Pole zu sein, eine offene Kategorie, die ihn als Juden einschloss. Zugleich aber zeugte, wie weiter oben ausgeführt, die Haltung der Lehrenden und die Praxis an den Schulen davon, dass – trotz des offiziellen Sprachgebrauchs – das „Polnisch-Sein“ zunehmend in ethno-nationalen Kategorien gedacht und verstanden wurde.

127 Garmada, Ludwik: Interview 7329, 05.12.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 10.03.2021); vgl. Einleitung, Unterkapitel: „Polen – Juden: ein schwieriges Begriffspaar“. 128 Protokolle vom 07.10.1938, 17.12.1938, ANKr. Odd. T.  33/363/3: Księgi Protokołów Rady Pedagogicznej, S. 273, 286–287. 129 Garmada, Ludwik: Interview 7329, 05.12.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 10.03.2021); vgl. Einleitung, Unterkapitel: „Polen – Juden: ein schwieriges Begriffspaar“.

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3.2.5 Pädagogische Konzepte an den Grundschulen Bis 1934 war Adolf Zarzycki Direktor der Staszic-Schule. Unter seiner Ägide bemühte sich das Kollegium wie oben beschrieben unterstützend auf die Schüler einzuwirken. Diese Haltung ging einher mit modernen pädagogischen Konzepten. Der Unterricht sollte möglichst interaktiv gestaltet werden, die Lehrer nicht nur Frontalunterricht anbieten,130 sondern Methoden anwenden, „um die größtmögliche Aktivität der Kinder zu mobilisieren“.131 Im Polnischunterricht sollten deswegen kleinere Inszenierungen vorbereitet werden.132 Die Schüler sollten selbstständig zu Problemlösungen kommen und der Lehrer eher als eine Art Anleiter fungieren.133 Die Lehrenden sollten stets bemüht sein, das Interesse der Kinder am Fach zu wecken.134 Kinder, so mahnte der Direktor, sollten nicht kühl von oben herab behandelt werden, sondern mit Herzlichkeit und Entgegenkommen.135 Ein großes rotes „Ja!“ prangerte in der Schrift des Schulinspektors über dem Ausdruck der Herzlichkeit, welche die Lehrenden den Kindern erweisen sollten. Auch eine Schülerselbstverwaltung wurde in der Schule aufgebaut. In der Czacki-Schule veränderte sich der Umgang mit der als „schwierig“ angesehenen Schülerschaft, als 1933 ein neuer Direktor, Józef Cierniak, die Leitung übernahm. Er leitete die Schule bis 1972. Unter seiner Ägide fand das Prinzip der „Demokratisierung“ Eingang in die pädagogischen Konzepte, was aber nicht  – wie bereits dargestellt  – zu einer verbesserten Haltung gegenüber Juden führte. Als im ersten Schuljahr seiner Amtszeit eine Lehrerin über den schlechten Zustand einer Klasse mit über 50 Schülern klagte, entgegnete Cierniak, ein Klassenlehrer sei für den Zustand der Klasse verantwortlich. Man müsste jedes Kind positiv zu beeinflussen versuchen. Es sei wichtig, zu untersuchen, woher die schlechten Gewohnheiten kämen, sich mit der Umwelt des Kindes vertraut zu machen und die Bedingungen kennenzulernen, in denen es lebt, um dann entsprechende Erziehungsmethoden anzuwenden. Allerdings, fügte ein anderer Lehrer an, müssten die Klassen halbiert werden, um diesen Ansatz überhaupt anwenden zu können.136 Ein anderes Beispiel für Cierniaks neue Pädagogik findet sich in demselben Protokoll: Der Priester beklagte, dass 130 131 132 133

Protokoll vom 11.05.1926, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 12. Protokoll vom 09.01.1928, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 49. Protokoll vom 09.01.1928, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 50. Im Original „przewodnik“, Protokoll vom 28.03.1931, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 131. 134 Protokoll vom 09.01.1927, ANKr. Odd. T. 33/370/2: Księgi rady ped., S. 31. 135 Ebd. 136 Protokoll vom 26.03.1934, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 100–101.

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die Kinder – meistens seien es Juden – sich deswegen so schlecht benähmen, weil sie keine Strafen erhielten. Er schlug vor, die Eltern in die Schule zu rufen, sodass diese die Kindeszüchtigung in den Räumen des Direktors ausführen könnten. Der neue Direktor lehnte diese Maßnahmen entschieden ab.137 Ab 1936 führte Cierniak außerdem „autodidaktische“ Fortbildungsmaßnahmen für die Lehrenden ein: Diese sollten anhand pädagogischer Zeitschriften ein Themenfeld erarbeiten und als Referat dem Kollegium vorstellen.138 Zwar änderte sich der Grundton gegenüber den jüdischen Schülern durch den neuen Direktor nicht, jedoch wurde mehr Wert darauf gelegt, dass die Kinder ab der ersten Klasse viel sprechen sollten. Besonders in der Schulanfangsphase sei es wichtig, möglichst alle Kinder zum Sprechen zu motivieren.139 Gerade bei Juden müssten die Lehrerinnen und Lehrer besonders Acht geben und bei allen Schülern „unentwegt bemüht sein, die Fähigkeit zu stärken, sich auszudrücken, eigene Gedanken zu formulieren, Gefühle und Bedürfnisse zu äußern“.140 Dieser Versuch, die Kinder zu autonomen Wesen zu erziehen, kam auch darin zum Ausdruck, dass eine Schülerselbstverwaltung gegründet wurde. Besonders die Schüler der älteren Klassen hätten daran großes Interesse. Sie zeigten das Bedürfnis, sich autonom zu organisieren.141 Dokumente der Schülerselbstverwaltung sind im Archiv leider nicht erhalten. Doch trotz dieser Veränderung unter Józef Cierniak rissen bis zum Kriegsbeginn 1939 die Klagen über die jüdischen Schüler als „Problemkinder“ nicht ab, verstärkten sich sogar. Cierniak selbst entpuppte sich politisch als Anhänger des OZN. Im März 1939 kandidierte er auf der Liste der PZCh für den Stadtrat und gewann ein Mandat aus dem Grabówka-Viertel. Seine politischen Präferenzen für ein polnisch-nationales Tarnów wurden damit offenkundig. An der Staszic-Schule wurde im August  1934 der Direktor Adolf Zarzycki von Wojciech Mazurkiewicz (1868–?) abgelöst, der bis zum Kriegsausbruch die Schule leitete. Politisch war Mazurkiewicz im rechten Spektrum anzusiedeln, und er äußerte offen seinen Argwohn gegen sozialistische Parteien. Das musste in einer im Arbeiterviertel gelegenen Schule, gelinde gesagt, zu Spannungen führen. Er warnte gar ausdrücklich davor, dass Schüler, die an einem Sommerlager der PPS teilnahmen, andere „demoralisierten“  – sie

137 Ebd. 138 Folgende Zeitschriften waren für die Schule abonniert: Śpiew w szkole, Wychowanie Fizyczne, Ruch pedagogiczny, Praca Szkolna. Protokoll vom 26.09.1936. ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 187. 139 Protokoll vom 12.06.1936, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 171–172. 140 Protokoll vom 24.02.1939, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 303. 141 Protokoll vom 24.02.1939, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 306–308.

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verhielten sich „staats- und religionsfeindlich“.142 Mit dem Wechsel des Schulleiters verschwanden Juden aus den Protokollen der Staszic-Schule  – jüdische Schüler wurden nicht mehr explizit erwähnt. Mit einer Ausnahme, als im Februar 1939 Nuchem Hiller aus der Schule entfernt wurde, da er in der Klasse verlautbarte, dass ein Rabbi dem Herrn Jesus auf den Kopf gemacht habe. Hiller selbst war bereits 15  Jahre alt und im Bund aktiv und „äußerte sich respektlos über Religion“, laut der Protokolle.143 Ansonsten finden sich in den Protokollen Kampfansagen gegen die „Nachlässigkeit, Trägheit, Lustlosigkeit am Leben, Faulheit“.144 Das war jedoch nicht ausschließlich auf jüdische Schüler gemünzt. Hieß das etwa, dass in der Staszic-Schule ab 1934 mit dem neuen Direktor Mazurkiewicz keine Unterschiede zwischen jüdischen und nichtjüdischen Kindern gemacht wurden? Hier werden die Beschränkungen dieser Quellengattung deutlich und weitere Quellen müssen zu Rate gezogen werden, die allerdings auf das genaue Gegenteil hinweisen. Doch diese Frage soll in einem allgemeineren Rahmen beantwortet werden: der Situation der jüdischen Schüler in den späten 1930er Jahren in Tarnów. 3.2.6 Die späten 1930er Jahre und der Spießrutenlauf jüdischer Schüler Im Dezember 1936 kam es zu einem Vorfall, der in der Czacki-Schule während der Lehrendenkonferenz ausgiebig besprochen und protokolliert wurde. Ein jüdischer Schüler der siebenten Klasse blieb dem Unterricht fern und ging mit älteren Mädchen in den Strzelecki-Park. Eine Klasse der Kopernikus-Schule machte dort gerade einen Ausflug mit einer Lehrerin und es kam zu einer Streiterei. Der Junge der Czacki-Schule habe die Mädchen vor den verbalen Angriffen der Kopernikus-Schüler verteidigt und der Lehrerin vorgehalten, sie habe die Schüler schlecht erzogen. Darauf entgegnete die Lehrerin: „So kann sich nur ein Jude benehmen.“ Der Junge antwortete darauf: „Wenn wir Juden nicht wären, würdet ihr Polen alle verrecken.“145 So lautet die Darstellung des Vorfalls in den Protokollen der Czacki-Schule. Diese Episode zeigt, wie schnell 1936 ethnische Kategorien zur Hand waren, um Verhaltensmuster und Antagonismen zu erklären, die im Grunde nichts mit Ethnizität zu tun hatten. Der Konflikt zwischen einem frechen, „schwänzenden“ Schüler und einer beleidigten Lehrerin wurde in ethnischen Zuschreibungen ausgefochten. Die Ethnizität war als Erklärungsmuster schnell parat, um solche Konflikte umzukodieren. Wie die Episode zeigt, geschah dies Ende 1936 alltäglich, instinktiv in 142 143 144 145

Protokoll vom 13.06.1938, ANKr. Odd. T. 33/370/3: Księgi rady ped., S. 58–59. Protokoll vom 23.02.1939, ANKr. Odd. T. 33/370/3: Księgi rady ped., S. 68. Protokoll vom 03.09.1938, ANKr. Odd. T. 33/370/3: Księgi rady ped., S. 63. Protokoll vom 18.12.1936, ANKr. Odd. T. 33/363/3: Księgi rady ped., S. 192.

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kapitel 3

allen Schichten (von Kindern bis zu den Lehrerinnen und Lehrern), in belanglosen Situationen, im Park – und in der Schule. Dieser Park selbst wurde für Kinder und Jugendliche, die ihre Freizeit gern dort verbrachten, in den späten 1930er Jahren zu einem gefährlichen Ort, in dem sich die Feindseligkeiten gegenüber Jüdinnen und Juden manifestierten. Zwar erschien bereits in den 1920er Jahren ein antisemitisches Gedicht über den Strzelecki-Park,146 aber die aufgeheizte Stimmung eskalierte in den späten 1930er Jahren, sodass sich jüdische Kinder und Jugendliche kaum noch in den Park trauten. In diesen Kontext muss auch der oben genannte Vorfall des Czacki-Schülers eingebettet werden  – der anwachsende Antisemitismus im Alltag Tarnóws in den späten 1930er Jahren war auch für die jüdischen Kinder und Jugendlichen deutlich zu spüren. Jacob Gastwirth erinnert sich an den Strzelecki-Park wie folgt: „We went there frequently, especially on Saturdays. […] Shortly before the war, we were afraid to be beaten. So either we went in large groups or we didn’t go at all.“147 Als Joe Hershkowitz (Jahrgang 1921) in einem Interview für das Visual History Archive nach Antisemitismus vor dem Krieg gefragt wurde, sagte er, er habe diesen zunächst nicht selbst erfahren: Not until the last year or two before the war. You could see it in the parc, when you went to the parc. […]  There were certain places we liked to go Saturdays afternoon, we were afraid to go, because mostly the students, were the ones who started fights. […] We were limited to places we could go. […] It was getting scary.148

Die jüdischen Mädchen berichteten dagegen, dass sie in dem Park den geflü­ gelten antisemitischen und sexistischen Spruch zu hören bekamen: „Precz z Żydami, Żydóweczki z nami.“ [Weg mit den Juden, die (jungen) Jüdinnen bleiben bei uns.]149 Als im Jahre 1937 im Stadtrat offen über das Problem des Antisemitismus in der Stadt diskutiert wurde, kam auch die judenfeindliche Haltung an den Schulen zur Sprache. Die Räte bemängelten, dass Lehrende die Kinder mit

146 Vgl. Kapitel 1.4 „(Stadt-)Raum und Ethnizität“. 147 Gastwirth, Jacob: Interview 19034, 29.08.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 02.12.2020). 148 Hershkowitz, Joe: Interview 8723, 13.11.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 02.12.2020). 149 Brand, Yetta (née Geld): Interview 5343, 09.08.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 02.12.2020); Vgl. auch Unfinished Talk, Israel 1988, Regie: Igal Burstein.

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Ausdrücken wie „ścierwo żydowska“ (jüdische Kanaille) beschimpften.150 Im Oktober 1937 erschien ein Artikel im Tygodnik Żydowski, in dem berichtet wurde, dass die Staszic-Schule plante, ähnlich wie in den Universitäten, sogenannte „Ghetto-Bänke“ einzuführen, in denen die jüdischen Schüler von ihren nichtjüdischen Mitschülern getrennt sitzen sollten. In den für diesen Zeitraum erhaltenen Protokollen der Lehrendenkonferenzen der StaszicSchule findet sich allerdings keine Erwähnung solcher Vorgänge. Es handelt sich hierbei just um jenen Zeitraum unter Direktor Mazurkiewicz, in dem in den Protokollen das Thema Juden völlig verschwand. Markus Ender besuchte 1937 die Staszic-Schule. Er hatte zunächst die ersten sechs Jahre seiner Grundschulausbildung in einer privaten jüdischen Schule (Baron-Hirsch-Schule) verbracht und wechselte in der siebenten Klasse im Jahr 1937 in die Staszic-Schule: So that send me to that Staszica which was a very – the principal was very antisemite, very big antisemite, so much that we have in our grade, in our class, we have Jews sitting separate and Gentiles sitting separate. This was the only school in the city there is separation between those two, Jews and Gentile. So of course, as it worked out, the Jews were always the better scholars. And the – the Gentile needed us, you know? Because they had to copy some work. So they didn’t bother us too much. Because they knew that if something happened like this, they would flunk. So we had it not too bad in that school. But it was, you felt the antisemitism there, every step you make. So this was my 7th grade.151

Obschon in den Lehrendenprotokollen diese Separierung der Schülerschaft in Juden und Nichtjuden bei der Sitzverteilung mit keinem Wort erwähnt wurde, ja das Thema jüdische Schüler mit der Ankunft des Direktors Mazurkiewicz gar völlig aus den Protokollen verschwand, wird zumindest in zwei Quellen aus jüdischer Sicht über den Antisemitismus an der Staszic-Schule berichtet. Hierbei werden die Beschränkungen der Quellenart der Protokolle von Schulkonferenzen sichtbar. Sie geben die Sicht der Lehrenden auf die Schüler wieder und es findet nur jenes Eingang in die Protokolle, was gegenüber dem Schulinspektor als vorzeigbar erschien. Es gab eine kontrollierende Instanz und das war den Verfassenden der Protokolle bewusst. Im letzten Zitat beschrieb Markus Ender zugleich, dass es ein Auskommen mit den nichtjüdischen Schülern in der Staszic-Schule gab, welches er darauf zurückführte, dass die Nichtjuden ihre Hausaufgaben bei Juden abschrieben. 150 Protokoll der Haushaltsdiskussion im Stadtrat, 22.03.1937, ANKr. Odd. T.  33/ZMT 1c, S. 67–68. Vgl. Unterkapitel „Debatten über Antisemitismus“ in Kapitel 2.3.4 „Nach dem Sturz Silbigers – neue Mehrheiten im Tarnower Stadtrat der späten Zweiten Republik“. 151 Ender, Markus: Interview 43669, 23.07.1998. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 08.03.2021).

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kapitel 3

In den Erinnerungen jüdischer Überlebender an die Vorkriegszeit kommt dieses Erinnerungsmuster nicht nur vereinzelt vor. So berichtete auch Israel Baicher, er sei so gut in Mathematik gewesen, dass es sich für nichtjüdische Schüler schlichtweg lohnte, mit ihm befreundet zu sein.152 Diese Beziehungskonstellation verwies auf ein Machtgefälle innerhalb der Schülerschaft: das alltägliche Auskommen wurde unter der Bedingung des Ausnutzens der Juden gewahrt. Auf einer anderen interpretativen Ebene, wenn wir nach den Mechanismen fragen, wie Menschen sich erinnern, können diese in den 1990er Jahren aufgenommenen Interviewpassagen auch anders verstanden werden. Diese Erzählmuster erlauben den jüdischen Zeitzeugen, ihre Position an den Schulen retrospektiv positiv zu interpretieren: Sie waren es, die trotz Schikanen klüger und besser im Unterricht waren. Die oben angeführten Zitate machen zudem deutlich, dass viele jüdische Zeitzeugen aus Tarnów ihre Erfahrungen mit dem Antisemitismus in ihrem Heimatort auf die sehr späten 1930er Jahre datieren. Ebenso war es bei der zu Beginn des Kapitels zitierten Cesia Honig während ihres „rude awakening“ 1938. In den Erinnerungen der Überlebenden manifestierte sich erst in den späten 1930er Jahren ein fühlbarer Bruch. Auch bei den älteren Gymnasialschülern findet sich dieses Erzählmuster wieder. 3.3

Die Sekundarstufe – staatliche Gymnasien und die Safa Berura

Der Besuch der Sekundarstufe ab der 8. Klasse war in der Zweiten Republik kostenpflichtig. Es bestand ab dem 15. Lebensjahr auch keine Schulpflicht mehr. Zumeist schickten also finanziell besser gestellte Eltern, die Wert auf Bildung legten, ihre Kinder auf weiterführende Schulen. Die jüdischen Gymnasialschüler und -schülerinnen kamen meist aus akkulturierten jüdischen Familien und konnten fließend Polnisch sprechen. Diese Schülerschaft unterschied sich also diametral von jener der Czacki- oder StaszicSchule in Grabówka, was die Parameter des Interaktionsraums entscheidend veränderte. Die wichtigsten weiterführenden Schulen in Tarnów waren die drei staatlichen Gymnasien für Jungen, das I.  Kazimierz-Brodziński-Gymnasium (mit Lyzeum), das II.  Hetman-Jan-Tarnowski-Gymnasium (ohne Oberstufe) sowie das III. Adam-Mickiewicz-Gymnasium (mit Lyzeum). Für die jüdischen Schülerinnen und Schüler war außerdem die private Safa-Berura-Schule eine Option (Allgemeinschule, Gymnasium und Lyzeum). Schaut man sich Tarnóws

152 Baicher, Israel: Interview: 16493, 25.06.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021).

Interaktionsraum Schule

251

Sekundarschulsystem genauer im Hinblick auf die Rolle von Ethnizität an, so wird deutlich, dass es in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre zunehmend ethnisch getrennt war. 3.3.1 Safa Berura Die Safa-Berura-Schule in Tarnów war eine zweisprachige polnisch-hebräische Schule, die einzige koedukative Einrichtung der Stadt. Diese besuchten vor allem besser gestellte Kinder, unter anderem Gizela Lamensdorf (später Elżbieta Brodzianka-Gutt), Rahel Klimek (née Goldberg), Cesia Honig, Emil Brigg, Hesiek Wróbel (der später Zvi Ankori hieß) und Shulamith Lavyel (née Feig). Der Vater der letzteren, Jeshajahu Feig, ein bekennender Zionist, der im Vorstand des Samson-Sportklubs aktiv war, saß zugleich dem Safa-BeruraVerein vor, dem Träger der Schule. Zunächst entstand die Grundschule, die 1927 staatlich anerkannt wurde. Im selben Jahr gründete der Trägerverein ein Gymnasium, zunächst mit einer ersten Klasse, wobei die Sekundarstufe sukzessive erweitert wurde. Es entstand ein Lyzeum, und 1935 konnte der erste Jahrgang die Matura ablegen. Bis 1939 haben 83 Schülerinnen und Schüler die Safa Berura mit Matura abgeschlossen.153 Seit 1933 übernahm Dr. Maximilian Rosenbusch von Dr. Zahariah Silberpfennig die Leitung des Gymnasiums.154 Insgesamt besuchten 240  Jugendliche das Gymnasium und das Lyzeum im Jahr 1938/39.155 Der Unterricht kostete 30  Złoty im Monat.156 Die Schule wurde unter anderem vom Stadtrat mitfinanziert. Wie Rahel Klimek sich erinnerte, wurden die Kinder meist auf Polnisch unterrichtet und lediglich die judaistischen Fächer wurden in hebräischer Sprache abgehalten.157 Im Jahre 1937 übernahm die Safa Berura die bis dahin existierende Yavne-Schule (Baron-Hirsch-Schule) der Mizrachi-Bewegung und ein Teil der Schülerschaft wurde in deren Gebäude an der Topolowa Straße unterrichtet.158 Das Hauptgebäude war in der Sankt-Anna-Straße im Zentrum der Stadt. Die Schule war eher säkular-zionitisch orientiert, aber nicht religiös, obschon es auch Religionsunterricht gab.159 153 154 155 156 157

Ruta: Szkolnictwo powszechne, S. 594–595. Kahana-Awrech: Tarne, a tsenter fun toyre, S. 199. Ruta: Szkolnictwo powszechne, S. 594. Ebd., S. 595. Klimek, Rahel: Interview, 24.05.2013, Ramat HaSharon, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. 158 Bartosz: Tarnowski Judaica, S. 69; Ruta: Szkolnictwo powszechne, S. 593. 159 Der Religionslehrer, Dr. Weissmann, hätte eine etwas spöttische Einstellung zur Religion, wie sich eine Schülerin erinnerte, außerdem trug er weder Bart noch Schläfenlocken. Brodzianka-Gutt, Elżbieta: Interview 25736, 04.12.1996. Visual History Archive, USC

252

kapitel 3

Die Entscheidung für eine private jüdische Schule hatte diverse Gründe. Gizela Lamensdorf besuchte beispielsweise zunächst die öffentliche KrólowaJadwiga-Schule in Tarnów, aber als sie auf das Gymnasium wechseln sollte, entschieden sich die Eltern für die Safa Berura.160 Hinzu kam, dass in Tarnów Mädchengymnasien privat betrieben wurden, einige von Ordensschwestern, sodass die Wahl der Safa Berura für jüdische Mädchen – wenn sie überhaupt die Schule fortsetzen konnten – naheliegend war. Dennoch machten hier die Schülerinnen etwas weniger als die Hälfte der Schülerschaft aus. Auch die Jungen mussten sich entscheiden, ob sie ein staatliches Gymnasium besuchten, das kostenpflichtig war, oder die private Schule, in der sie zusätzlich in den judaistischen Fächern und Hebräisch unterwiesen wurden. In Tarnów gab es nur eine private jüdische Schule mit Gymnasium und Lyzeum, sodass es keine Auswahl zwischen unterschiedlichen jüdischen Schuloptionen gab. Eltern wählten die Schule für ihre Kinder nicht zwingend aus ideologischen Gründen. Die Schule setzte sich zum Ziel, wie es in einem offiziellen Schulbericht hieß, die staatsbürgerliche Erziehung („wychowanie obywatelsko-państwowe“) mit der national-jüdischen „vollständig zu harmonisieren“.161 Die Absolventinnen und Absolventen der Safa Berura sollten die polnische Kultur und Staatsgedanken verinnerlichen, ebenso wie jüdische Wert- und Moralvorstellungen. In dem Schulbericht der Safa Berura von 1938/39 betonte die Schulleitung, dass die Schülerinnen und Schüler sowohl das Wissen als auch die Liebe („umiłowanie“) zur Vergangenheit und Gegenwart des polnischen Staates vermittelt bekommen. Das Bewusstsein dafür, dass Polen ein gemeinsames Gut all seiner Bürgerinnen und Bürger sei, sollte gestärkt werden. Zugleich sollte die Liebe und Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft gefestigt und die „Wiedergeburt“ der Nation durch Wissensvermittlung über Palästina vorangetrieben werden.162 Zu bedenken ist jedoch, dass dies ein offizieller Schulbericht war, der den Schulbehörden vorgelegt wurde und das zu einer Zeit (1938/39), als die angebliche „Loyalität“ der Jüdinnen und Juden zu Polen wiederholt in Frage gestellt wurde. Einige Schülerinnen wie Cesia Honig oder

Shoah Foundation (letzter Zugriff:  09.03.2021); Klimek, Rahel: Interview, 24.05.2013, Ramat HaSharon, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. 160 Brodzianka-Gutt, Elżbieta: Interview 25736, 04.12.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 161 I.  Sprawozdanie dyrekcji prywatnego gimnazjum koedukacyjnego i liceum huma­ nistycznego towarzystwa żydowskiej szkoły powszechnej i średniej „Safa Berura“ w Tarnowie. Tarnów 1939, S. 13–14. 162 Ebd., S. 13–14.

Interaktionsraum Schule

253

auch Rahel Klimek verinnerlichten jedoch diese multiplen Zugehörigkeiten.163 Ein anderer Absolvent unterstrich in seinen auf Hebräisch in Israel verfassten Erinnerungen dagegen die jüdisch-nationale Zugehörigkeit: In der neuen Schule und bei der dort herrschenden Atmosphäre konnte ich frei aufatmen. Der nationale Geist und die hebräische Atmosphäre herrschten in jedem Winkel. Jedes Mal, wenn ich die Einrichtung nach Schulschluss verließ, hatte ich immer wieder das Gefühl, aus dem Lande Israels herauszutreten und mich in die Diaspora zu begeben.164

3.3.2 Die staatlichen Gymnasien in Tarnów In Tarnów gab es drei öffentliche Gymnasien für Jungen. Viele jüdische Gymnasialschüler sprachen zu Hause Polnisch, aber es gab unter ihnen auch jene, die zwar fließend Polnisch sprachen, jedoch mit den Eltern und Geschwistern weiterhin Jiddisch redeten. Die Zusammensetzung der Schülerschaft ließ sich anhand von Schulberichten und Klassenbüchern nachverfolgen. Das  I.  KazimierzBrodziński-Gymnasium unterteilte die Schülerschaft nach Religion und Nationalität (siehe Abbildung  23). In den 1920er Jahren und zu Beginn der 1930er Jahre schwankte die Anzahl jüdischer Schüler zwischen 15 % und 25 %. Auch wenn die Schüler den mosaischen Glauben als Religionszugehörigkeit angaben, waren sie dennoch zu fast 100 % als Schüler polnischer Natio­ nalität klassifiziert.165 Im II.  Hetman-Jan-Tarnowski-Gymnasium schwankte der Anteil jüdischer Schüler bis zu Beginn der 1930er Jahre zwischen 15  % und 17 % (siehe Abbildung 24). Das III. Adam-Mickiewicz-Gymnasium (hier unterrichtete unter anderen der PPS-Stadtrat Kasper Ciołkosz) besaß den geringsten Anteil an Juden – bis zur Jędrzejewicz-Reform zwischen 4 % und 8 % (siehe Abbildung 25). Nach der Reform wurde die weiterführende Schule in ein Gymnasium und ein Lyzeum neu aufgeteilt. Während das I. KazimierzBrodziński- und das III. Adam-Mickiewicz-Gymnasium ein Lyzeum besaßen, mussten die Schüler des II.  Hetman-Jan-Tarnowski-Gymnasiums die Schule wechseln, um das Abitur abzulegen.166 163 Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff:  09.03.2021); Klimek, Rahel: Interview, 24.05.2013, Ramat HaSharon, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. 164 Argow: Wspomnienia absolwenta, S.  774–777. [Übertragung aus dem Hebräischen ins Polnische von Aleksander Pakentreger, unveröffentlichtes Manuskript]. 165 Sprawozdania Dyrekcji Państwowego Gimnazjum im. Kazimierza Brodzińskiego w Tarnowie [za lata 1928–1937]. Tarnów 1928–1937. 166 Durch den Wechsel vom II.  Hetman-Jan-Tarnowski-Gymnasium zum Lyzeum war der Anteil von Juden im Adam-Mickiewicz-Lyzeum höher als noch im III. Adam-MickiewiczGymnasium.

254

kapitel 3

Schuljahre

1927/ 28

1928/ 29

1929/ 30

1930/ 31

1931/ 32

1932/ 1933/ 1934/ 33 34 35

1935/ 36

1936 /37

Schüler insgesamt

483

482

488

501

448

363

384

420

Kathol. Glaubens

391 (81%)

388 (80%)

340 (70%)

416 (83%)

377 (84%)

308 305 324 (85%) (89%) (90%)

355 (92%)

401 (95%)

Jüd. Glaubens

92 (19%)

90 (19%)

118 (24%)

84 (17%)

71 (16%)

55 37 35 (15%) (11%) (10%)

29 (8%)

19 (5%)

Polnischer 483 474 Nationalität (100%) (98%)

458 (94%)

501 448 351 335 359 384 Keine (100%) (100%) (97%) (98%) (100%) (100%) Angaben

Jüdischer Nationalität Abbildung 23

Keine Keine Angaben Angaben

12 (3%)

342

359

7 (2%)

Keine Angaben

Tabelle Schülerzahlen nach Religion und Nationalität, I. Kazimierz-Brodziński-Gymnasium167

Schuljahre

1927/28

1928/29

1929/30

1932/33

1933/34

1934/35

1936/37

1937/38

Schüler insgesamt

497

500

459

436

356

351

405

357

katholischen Glaubens

422

419

380

362

299

305

371

340

jüdischen Glaubens

75 (15 %)

81 (16,2 %)

79 (17,2 %)

73 (16,7 %)

56 (15,7 %)

46 (10 %)

34 (8,4 %)

16 (4,5 %)

Abbildung 24 Tabelle: Schülerzahlen nach Religion, II. Hetman-Jan-Tarnowski-Gymnasium

Die Statistik zeigt, dass der Anteil jüdischer Schüler ab 1933/34 und in den Folgejahren deutlich abfiel. Dies war der erste Jahrgang nach der JędrzejewiczReform von 1932. Welchen Einfluss diese auf den Schulbesuch von Juden hatte, bleibt unklar. Doch in ganz Polen wird der Trend sichtbar, dass die absoluten Zahlen und der Anteil jüdischer Schüler an den öffentlichen Gymnasien fielen.168 Das Gymnasium und Lyzeum der Safa Berura wurde bis 1935 vollständig ausgebaut, sodass die Schüler hier die Matura ablegen konnten. 167 Erstellt anhand von: Sprawozdanie Dyrekcji Państwowego Gimnazjum im. Kazimierza Brodzińskiego w Tarnowie [za lata 1928–1937]. Tarnów 1928–1937. 168 Im Jahre 1921/1922 besuchten in ganz Polen 48 849 jüdische Schüler öffentliche Gymnasien während es im Jahr 1936/1937 noch 33 212 waren, in Prozent sank der Anteil von 23,7 % auf 16,5 %, Heller: On the Edge of Destruction, S. 229–230.

255

Interaktionsraum Schule

Schul- 1926/ 1927/ 1928/ 1929/ 1930/ 1931/ 1932/ 1933/ 1934/ 1935/ 1936/ 1937/ 1938/ jahre 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 Schüler 367 insg. Katho- 345 lisch Jüdisch 21 (6%) And. 1 Anteil Jud. Lyzeum

269

289

314

327

404

333

311

326

371

393

382

347

249

267

289

308

381

318

299

319

361

384

375

344

5 (1%) 5 ----

4 (1%) 5 ---

4 (1%) 3 7 v. 46 (15%)

0

19 21 25 16 19 13 10 3 (7%) (7%) (8%) (5%) (5%) (4%) (3%) (1%) 1 1 0 3 4 2 2 4 ---

3 12 v. 83 (15%)

Abbildung 25 Tabelle: Schülerzahl nach Religion, III. Adam-Mickiewicz-Gymnasium (und Lyzeum)

Abbildung 26 Anteil jüdischer Schüler in den staatlichen Gymnasien Tarnóws

Dies konnte dazu führen, dass viele Juden von den staatlichen Gymnasien zum privaten jüdischen Schulsystem wechselten. Doch leider blieben weder Informationen darüber erhalten, wohin die jüdischen Abgänger wechselten noch ego-Dokumente aus Tarnów, die diesen Trend reflektierten. Deutlich wird anhand der Zahlen, dass die Sekundarstufe zunehmend ethnisch getrennt war. Da zur selben Zeit judenfeindliche Attacken in der gesamten Republik und in Tarnów spürbar zunahmen, ist zu fragen, inwiefern der wachsende Antisemitismus zu dieser Entwicklung beitrug.

256

kapitel 3

In jedem der drei Gymnasien lassen sich judenfeindliche Tendenzen feststellen. Die Nationaldemokratie war zwar nie sehr stark in Tarnów, konnte jedoch besonders unter Jugendlichen an Einfluss gewinnen. Hinzu kam, dass die ältere Jugend, wenn sie zum Studieren in Großstädte fuhr, mit rechten Bewegungen wie der Młodzież Wszechpolska [Allpolnische Jugend] in Berührung kam und während ihrer Ferienaufenthalte zu Hause deren Ideen auch unter den Jugendlichen Tarnóws verbreitete. Einige bekennende Antisemiten waren in ihrer Rolle als Lehrer an Gymnasien Multiplikatoren der Judenfeindschaft. Maciej Suwada, einer der schärfsten Publizisten der katholischen Nasza Sprawa, war Polnischlehrer sowohl am I.  KazimierzBrodziński-Gymsnasium als auch am II. Hetman-Jan-Tarnowski-Gymnasium. Im ersteren unterrichtete Leszek Dziama, der sich 1939 für die Nationaldemokraten als Kandidat für die Stadtratswahlen aufstellen ließ (er erhielt kein Mandat). Nur wenige jüdische Lehrerinnen und Lehrer unterrichteten an den staatlichen Gymnasien, unter ihnen der Maler und Kunstlehrer Aleksander Plucer (sein Bild siehe Abbildung 43).169 1931 ereignete sich an den staatlichen Sekundarschulen ein antisemitischer Skandal. Nichtjüdische Gymnasialschüler verlangten, dass jüdische Lehrer aus dem gemeinsamen Tablaeu der Fotographien aller Absolventen ausgeschlossen werden. Im I. Kazimierz-Brodziński-Gymsnasium sollten der hier bereits mehrmals erwähnte Herr Wachtel und im II. Hetman-Jan-TarnowskiGymnasium Herr Cwecher nicht auf dem Tableau erscheinen. Jüdische Schüler solidarisierten sich mit ihren Lehrern und sagten ihre Präsenz auf dem Fotografietableau ab. Sieben katholische Schüler zeigten sich solidarisch. Einer der Schüler, Samuel Brand, erinnerte sich an diesen Vorfall noch nach Jahren: And I had good [Christian] friends, I think that I had very good relationships at that time. When we finished the 8th grade which was the end of the Gymnasium term there was a tradition of making a tableau which means a set of pictures from all the students in the grade. The Jewish students demanded to have their professor of religion in it, while the Christian students rejected that, so we didn’t put on the… . This was the first separation, actually. I felt sorry for it. I went along with the Jewish colleagues, I didn’t submit my, my picture. But this trend was actually antisemitic. They didn’t want to have our Jewish teacher.170 169 Die jüdischen Religionslehrer wie Jakób Wachtel im I. Kazimierz-Brodziński-Gymansium oder der Maler und Kunstlehrer Aleksander Plucer im II.  Jan-Hetman-Tarnowski Gymnasium. Zdzisław Simche, der an allen drei Gymnasien Erdkunde unterrichtete, war in einer jüdischen Familie groß geworden und als Erwachsener zum Katholizismus übergetreten. 170 Brand, Samuel: Interview 11434, 26.01.1996. Visual History Archive. USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 28.12.2020).

Interaktionsraum Schule

257

Schließlich machten die jüdischen Absolventen aller drei Gymnasien ein eigenes Tableau mit ihren Bildern und stellten es in einem Geschäft an der Krakowska Straße im Schaufenster aus.171 Als im Juni 1931 nichtjüdische Schüler des I.  Kazimierz-Brodziński-Gymnasiums vermutlich genau diese Fotografie im Schaufenster eines Eisladens in der Krakowska Straße erblickten, verlangten sie – unter ihnen federführend Jan Bielatowicz – das „zionistische“ Foto aus „Nationalitätsgründen“ abzuhängen. Der Streit eskalierte, als einige jüdische Schüler hinzukamen: Eine Schlägerei begann, die letztlich von der Polizei beendet werden musste.172 1934 war es wohl  – zumindest am II. Hetman-Jan-Tarnowski-Gymnasium – bereits normal geworden, dass man sich auf den Klassenfotos nicht mit den jüdischen Lehrern ablichten ließ. So findet sich der äußerst beliebte Kunstlehrer Aleksander Plucer nicht mehr auf einem Klassenfoto.173 Die Schüler des III.  Adam-Mickiewicz-Gymnasiums, die Schule mit dem geringsten Anteil jüdischer Schüler, machten außerdem noch von sich reden, als sie zusammen mit Vertretern der Allpolnischen Jugend im März 1936 Fensterscheiben jüdischer Geschäfte einschlugen.174 Es kam glücklicherweise zu keinem Pogrom wie in der Stadt Przytyk im Frühjahr 1936. Aber die Atmosphäre blieb aufgeheizt. Trotz der judenfeindlichen Stimmung, die sich unter der Gymnasialjugend verbreitete, erinnerten sich viele jüdische Überlebende durchaus positiv an ihre Tarnower Schulzeit.175 Den Antisemitismus hätten sie erst in den späten 1930er Jahren oder gar erst im Krieg kennengelernt.176 In einem Interview für das Visual History Archive unterstrich Ludwik Garmada, dass es  – anders als an den Universitäten  – keinen Numerus clausus für Juden an den Gymnasien gegeben habe. Den Antisemitismus habe er erst dadurch überhaupt „an der eigenen Haut“ zu spüren bekommen, als er in Polen wegen der

171 172 173 174 175

Chomet: Tsu der geshikhte, S. 123. Aus den Akten der Staatsanwaltschaft: ANKr. Odd. T. 33/97 PSOT/PT 37/U 695/31. Bartosz: What Happened to Tarnów’s Jews, S. 410. Aus den Akten der Staatsanwaltschaft: ANKr. Odd. T. 33/97 PSOT/PT 109/878/36. Neben den weiter unten zitierten männlichen Stimmen aus den staatlichen Gymnasien siehe auch Brodzianka-Gutt, Elżbieta: Interview 25736, 04.12.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 176 Vgl. Garmada, Ludwik: Interview 7329, 05.12.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff:  10.03.2021); Brodzianka-Gutt, Elżbieta: Interview 25736, 04.12.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff:  09.03.2021); Baicher, Israel: Interview: 16493, 25.06.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021).

258

kapitel 3

Studienplatzbeschränkung für Jüdinnen und Juden nicht Medizin studieren konnte.177 Mit fast ähnlichen Worten schilderte es Amos Lavyel, ein Absolvent des II. Hetman-Jan-Tarnowski-Gymnasiums.178 Beide gingen nach Italien, um dort Medizin zu studieren.179 Anhand der Erinnerungen entsteht der Eindruck, dass im Vergleich zu anderen Städten, in denen viel über Schikanen und Antisemitismus an den staatlichen Schulen berichtet wurde, Tarnóws Schulalltag (im Gymnasium) in dieser Hinsicht doch eher harmloser zu sein schien.180 Trotz dieses Erzählmusters ist es nur schwer vorstellbar, dass die zunehmend antisemitische Stimmung spurlos an den jüdischen Kindern und Jugendlichen vorbeigegangen ist. Immerhin waren es Jugendliche und Gymnasiasten, die den Boykott der jüdischen Geschäfte durchzusetzen versuchten und im März 1936 an der orchestrierten Aktion beteiligt waren, Scheiben jüdischer Geschäfte einzuschlagen. Woher rührten also die positiven Erzählungen, in denen die Zeitzeugen betonten, dass sie den Antisemitismus  – wenn überhaupt – erst in den späten 1930er Jahren erfahren haben? Sicherlich, der Bruch der zweiten Hälfte der 1930er Jahre war deutlich zu spüren und ist anhand anderer Quellen belegt. Darüber hinaus wurden die hier zitierten Interviews in den 1990er Jahren geführt und konzentrierten sich auf die Shoah. Konnte das Bild, das sich die Überlebenden nachträglich von Tarnów vor dem Krieg machten, womöglich durch die Idealisierung der Kinder- und Jugendzeit verstellt sein? Außerdem waren die meisten Juden, die die staatlichen Gymnasien besuchten, tief in der polnischen Sprache und Kultur verankert. Ludwik Garmada (der damals noch Zygmunt Schönfeld hieß) war Schüler des I. Kazimierz-Brodziński-Gymnasiums und erzählte, dass aus seinem Umfeld kaum jemand noch Jiddisch sprach. In seinem weiteren Leben habe er viele Sprachen gelernt, aber „ich entspanne mich nur, wenn ich auf Polnisch lese“.181 Amos Leibel war Schüler des II.  Hetman-Jan-Tarnowski-Gymnasiums. Nach dem Zweiten Weltkrieg ließ er sich in Israel nieder, änderte seinen Namen in Lavyel und heiratete Shulamith Feig (die auch aus Tarnów stammte, die SafaBerura-Schule besucht hatte und mit Zvi Ankori verwandt war). Bis heute 177 Garmada, Ludwik: Interview 7329, 05.12.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 10.03.2021). 178 Lavyel, Amos: Rede zum Gedenken an die Liquidierung des Ghettos, Tarnów 08.09.1993. Privatsammlung Shulamith Lavyel. 179 Lavyel, Shulamith: Interview, 01.06.2013, Haifa Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. 180 Zu den negativen Schulerfahrungen siehe z. B. Bacon: National Revival, S. 85. 181 Garmada, Ludwik: Interview 7329, 05.12.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 10.03.2021).

259

Interaktionsraum Schule

hängen in ihrer Wohnung viele Bilder und Stiche aus ihrer Heimatstadt Tarnów. Im Laufe seines Lebens hatte Amos Lavyel in Italien, den USA und der Schweiz gewohnt. Seine Frau sagte über ihn: „My husband spoke many languages, but he knew only Polish.“182 Auch hatte er sich viele nichtjüdische Freunde aus der Schulzeit erhalten. Sie besuchten ihn in Israel, viele von ihnen hatten mittlerweile das Priesterseminar beendet und die Priesterweihe erhalten. Er selbst wollte zu jedem Klassentreffen nach Polen reisen.183 Auch andere jüdische Gymnasialschüler erinnern sich an ihre Schulfreundschaften.184 Die meisten Freunde von Israel Baicher waren Nichtjuden.185 Andere dagegen hatten zwar nichtjüdische Schulfreunde, privat trafen sie sich aber mit anderen Jüdinnen und Juden.186 Die Zeitzeugen sprachen also über „ihre“ Schule, mit der sie sich identifizierten, über ihre Jugend und ihre Heimatstadt, die sie positiv in Erinnerung behalten wollten. Sie verlagerten die Erfahrung von Antisemitismus in ihren retrospektiven Erinnerungen häufig entweder außerhalb ihrer Heimatstadt Tarnów – an die Universitäten – oder datierten ihn auf die späten 1930er Jahre, als dieser immer radikaler in den Alltag einbrach. *** Die Schule als Interaktionsraum einer polnisch-jüdischen Stadt wurde hier aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, sowohl aus jener der Lehrenden als auch aus den Erinnerungen der Schülerinnen und Schüler. Der Kampf um den National- oder Nationalitätenstaat reichte bis in den Klassenraum hinein. Diverse, zum Teil gegenläufige Entwicklungen fanden dabei gleichzeitig statt. So konnte eine Schule im offiziellen Sprachgebrauch der Protokolle das staatsbürgerliche Prinzip hochhalten, die religiöse und nicht die ethno-nationale Differenz der Schüler herausheben und doch wurden jüdische Schüler von den Lehrenden als die „Anderen“, und zwar die defizitären, mangelhaften „Anderen“ wahrgenommen. Aus den Protokollen der Staszic-Schule, zumindest bis 1934 unter dem Direktor Adolf Zarzycki, geht hervor, dass das Lehrendengremium bemüht war, die Kinder, auch die jüdischen, bei ihren 182 Lavyel, Shulamith: Interview, 01.06.2013, Haifa Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. 183 Ebd. 184 Siehe dazu auch Kapitel 1 „Tarnów vermessen – eine Einführung in den Stadtraum“. 185 Baicher, Israel: Interview: 16493, 25.06.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 186 Francoz, Gershon: Interview, 02.06.2013, Haifa, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska; siehe auch Kapitel 1.5 „Private Räume“.

260

kapitel 3

Lernerfolgen zu unterstützen. Zugleich fand die nationale Erziehung zu „einem Polen“ ab 1932 immer stärker Eingang in den Unterricht. Zunehmend verschmolz die staatsbüregerliche Erziehung mit dem ethno-nationalen Prinzip des „Polnisch-Seins“. Schließlich attestierten ehemalige Schüler in den späten 1930er Jahren dem neuen Direktor der Staszic-Schule, offen antisemitisch zu sein. Und wie prägten die staatlichen Schulen die Beziehungen zwischen den jüdischen und nichtjüdischen Schülern untereinander? Minimierte der Besuch einer Schule mit einem hohen Anteil jüdischer Kinder das Gefühl der kulturellen Differenz? Oder wurde dieses durch die negative Haltung der Lehrenden gegenüber Juden gar verstärkt? Abschließend lässt sich die Frage hier nicht klären, doch im zweiten Teil des Buches erscheinen Kinderkontakte erneut und ich frage danach, inwiefern sich diese altersspezifischen Beziehungen während deutscher Besatzungsherrschaft als resilient erwiesen. Deutlich wird aber aus den unterschiedlichen Quellen, dass sich in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre die Alltagssituation durch anwachsende antisemitische Praktiken auch für jüdische Kinder und Jugendliche verschlechterte und einen sichtbaren Bruch darstellte. Das „rude awakening“ von Cesia Honig war auf vielfältige Weise für viele Kinder und die Jugend Tarnóws spürbar. Im November 1939 wurde in der Czacki-Schule die erste Lehrendenkonferenz des Schuljahres abgehalten. Da hatte der Krieg bereits begonnen und Tarnów war von deutschen Truppen besetzt. Der Schulleiter Józef Cierniak gab dem Gremium Anweisungen: Geschichts-, Erdkunde- und Gesangsunterricht seien ab sofort verboten. Es dürften keine Abzeichen mehr getragen werden, alle Karten mit bisherigem Grenzverlauf, alle historischen Porträts, alle Bilder, die etwas mit der polnischen Geschichte zu tun hätten, wären zu entfernen und unter Verschluss zu halten. Politische Themen dürften im Unterricht nicht mehr besprochen werden.187 Und noch eins hatte sich in der Schule verändert, was nicht explizit auf der Konferenz besprochen wurde: Die jüdischen Schüler durften – nach dem Willen der deutschen Besatzer – die Schule nicht mehr besuchen. Die gesamte Czacki-Schule wurde im August 1940 geschlossen und erst 1945 wiedereröffnet, als es kaum mehr jüdische Kinder in Tarnów gab.

187 Protokoll vom 11.11.1939, ANKr. Odd T. 33/363/3: Księgi rad ped., S. 326–339.

teil ii Die Shoah, 1939–1945

Abbildung 27

Rathaus mit deutscher Hakenkreuzfahne

kapitel 4

Das Fallbeispiel Marian H. und Władysław Ł. oder: Hinführung zum Thema Im Archiv der Neuen Akten (AAN) in Warschau befinden sich im Bestand „Hilfe für die jüdische Bevölkerung während der deutschen Besatzung“ Briefe, Fotografien und Dokumente über den Fall von Marian H. und Władysław Ł.  aus  Tarnów.1 Darunter ist auch ein sorgfältig handgeschriebener Brief von Marian  H. vom 22.  Juli 1968, adressiert an den polnischen Innenminister Mieczysław Moczar (1913–1986) höchst persönlich.2 Darin beschrieb der pensionierte Postbeamte aus Tarnów in allen Details, wie er und sein Freund Władysław  Ł. während der deutschen Besatzung Jüdinnen und Juden das Leben gerettet hatten. Was aber veranlasste einen älteren Mann aus Tarnów im Jahr 1968 einen Brief an Mieczysław Moczar über die Rettung von Jüdinnen und Juden zu schreiben? Gerade hat ganz Polen die heiße Phase der größten politisch orchestrierten antisemitischen Hetzkampagne im Nachkriegspolen erlebt, hinter der als treibende Kraft federführend Moczar stand. Warum wollte Marian  H. 1968 seine eigene, individuelle Geschichte in eine größere historische Erzählung  – jene die Moczar spann  – einschreiben? Und wie retteten er und sein Freund Władysław Ł. tatsächlich Jüdinnen und Juden, um dann ihre Geschichte in den Dienst Moczars zu stellen? Dieser Fall weckte meine Neugier, doch je mehr ich nachforschte, desto mehr widersprüchliche Dokumente kamen in den unterschiedlichsten Archiven der Welt zu den beiden Protagonisten zutage. Marian H. hatte bereits 1945 über seine Kriegserlebnisse vor der Jüdischen Historischen Kommission ausgesagt, diese Akten befinden sich im Jüdischen Historischen Institut in Warschau.3 Zu Władysław Ł. wurde ich im Staatsarchiv Krakau und im Archiv des Instituts für Nationales Gedenken in Warschau fündig.4 Weitere Dokumente zu den 1 Nachnamen werden bei jenen Personen nicht angegeben, deren Familien noch in Tarnów leben oder gegen die Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden. 2 AAN 1521: Pomoc Polaków dla ludności żydowskiej w okresie Okupacji Hitlerowskiej (weiter: Pomoc Polaków)/7. 3 Bericht Marian  H., AŻIH 301/580. Die Protokollantin Judyta Laub, die seine Aussage aufnahm, fügte eine Notiz hinzu: „Zeznaje dobrowolnie i jest przesadnie ugrzeczniony, co robi wrażenie nieszczerości“ („Er sagt aus freien Stücken aus und ist übertrieben freundlich, was den Eindruck von Unaufrichtigkeit erweckt“). 4 ANKr 29/SAKr/1051 K 313/50 sowie IPN Kr 502/2675.

© Brill Schöningh, 2022 | doi:10.30965/9783657760091_006

264

kapitel 4

Protagonisten hatte bereits die Polizei vor 1939 gesammelt, die nun im Archiv in Tarnów lagerten.5 Auch das Archiv von Yad Vashem in Israel besitzt Akten zum Fall Marian H.6 Cesia Honig hatten wir bereits im Kapitel zuvor kennengelernt. Sie war die Schülerin der Safa Berura, die erst durch Ausgrenzung schmerzlich erfahren musste, dass sie als Jüdin keine Polin sei.7 Während der deutschen Besatzung arbeitete Cesia in der Lederwerkstatt von Władysław Ł. und hinterließ Erinnerungen und Fotos im US Holocaust Memorial Museum in Washington, D.C. und gab ein Interview im Visual History Archive der USC Shoah Foundation.8 Der Fall von Marian H. und Władysław Ł. wurde zu einer Art Puzzlewerk, auf dessen Einzelteile ich in verschiedenen Orten, Archiven und Ländern stieß und die am Ende die Silhouetten einer komplexen Geschichte über das Verhältnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Tarnowianerinnen und Tarnowianern formten. Je mehr ich versuchte zu verstehen, desto mehr generierte die Beschäftigung mit diesem Fall größere Fragen, die mich zu einer Mikrogeschichte sozialer Prozesse während der Shoah führten. Und zu einer Erzählung, die weder 1939 beginnen noch 1945 enden kann. Das, was sich aus den unterschiedlichen Quellen in diversen Archiven, herauskristallisiert hatte, war folgende Geschichte. Marian H. wohnte vor dem Krieg in einem Holzhaus in der Straße Nadbrzeżna Górna, unweit des Stadtviertels Grabówka. Seine Kinder besuchten die nah gelegene Czacki-Schule.9 Während des Krieges wurden Marian H. und einige seiner Familienmitglieder in der Lederwerkstatt von Władysław Ł. angestellt.10 Der Betrieb produzierte damals Lederwaren für die deutsche Wehrmacht und wurde als kriegswichtig eingestuft.11 Władysław Ł. führte fiktive Listen, und so erhielten alle dort Verzeichneten die begehrten Arbeitskarten. Unter ihnen war auch die Familie von Marian H. Die jüdische Familie Dawid war aus ihrer Heimatstadt Lwów geflohen. In Tarnów gestrandet, verfügte sie über keinerlei Kontakte, was für Jüdinnen und Juden auf der „arischen“ Seite überlebensnotwendig war. Durch 5 6 7 8 9 10 11

Akten der Staatsanwaltschaft ANKr. Odd. T.  33/97 PSOT/PT  34/U 641/30; ANKr. Odd. T. 33/97 PSOT/PT 121/1475/37. Marian  H. hat die Ehrung nie bekommen, eine Begründung findet sich in den Akten nicht. YVA Dep. Righteous Among Nations 247. Siehe Kapitel 3 „Interaktionsraum Schule“. Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). H., Marek: Interview, 04.04.2012, Tarnów, Polen (Enkel von Marian H.), durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska; siehe auch Schülerlisten der Czacki-Schule für das Jahr 1928 ANKr. Odd. T. 33/363: Czacki-Schule/21: Metryka szkolna, n. p. Lista fikcyjnie zatrudnionych: ANKr. 29/SAKr 1051 K 313/50, S. 40. ANKr. Odd. T. 33/213: Handwerkerinnung Tarnów 1940–1944/28: Korrespondenz 1943.

Das Fallbeispiel Marian H. und Władysław Ł.

265

Zufall trafen sie im Sommer 1942 auf Marian H.12 Dieser versteckte Fryderyk Dawid bei sich zu Hause. Gemeinsam mit seinem Bruder Kazimierz  H. besorgte er für die gesamte Familie Dawid „arische“ Papiere und anschließend Arbeit. Wegen der guten Kontakte des Marian H. zu Władysław Ł. wurde Fry­ deryk Dawid unter falschem Namen in dessen Betrieb als Buchhalter eingestellt und blieb weiterhin bei Marian H. wohnen. Die Ehefrau von Fryderyk (Maria) und ihre Schwester Salomea Bak sind mit falschen Papieren nach Warschau bzw. Dębica gereist und haben jeweils eine Anstellung auf Vermittlung der Gebrüder Marian und Kazimierz H. bekommen. Nur die Mutter von Fryderyk, Flora Dawid, sprach nicht gut genug Polnisch, sodass sie zwar auf „arischen“ Papieren ein Zimmer in Tarnów anmietete, sich aber dennoch nicht in der Öffentlichkeit zeigte. Marian  H. brachte ihr Essen, bis sie verraten, von der Gestapo abgeholt und ermordet wurde. Des Weiteren half Marian H. Srul Bleifeld, den er bereits aus der Vorkriegszeit kannte. Er unterstützte diesen dabei, das Ghetto zu verlassen, versteckte ihn einige Zeit bei sich zu Hause und besorgte ihm falsche Papiere, bis er in eine andere Stadt Kleinpolens ausreisen konnte. Marian H. und seine Freunde halfen zudem weiteren Familien, indem sie Essen ins Ghetto brachten, Verstecke und falsche Papiere besorgten. Insgesamt waren es zehn Personen, denen Marian H. auf unterschiedlichste Weise geholfen hat. Neun davon haben den Krieg überlebt.13 Die Werkstatt von Władysław Ł. wurde dabei offenbar zu einer wichtigen Drehscheibe. Hier wurden Personen fiktiv angestellt, um Arbeitskarten zu bekommen, und Juden auf arischen Papieren Arbeit gegeben. Für seine Verdienste würde Władysław  Ł. sicherlich einen Orden erhalten, hatte Marian H. seinem Freund noch zu Kriegszeiten prophezeit.14 Doch nach dem Krieg bekam Władysław  Ł. anstatt eines Ordens einen Schuldspruch, denn für ihn sah die Situation in der unmittelbaren Nachkriegszeit alles andere als gut aus. Im Staatsarchiv Krakau befinden sich die Akten eines Ermittlungsverfahrens gegen Władysław Ł. sowie Akten von drei Gerichtsprozessen. Die Anklage lautete, Władysław  Ł. habe mit der deutschen Besatzungsmacht 12

13

14

So zumindest beschreibt Fryderyk Dawid seinen Retter Marian  H. in seinen noch zu Kriegszeiten verfassten Erinnerungen, vgl. Pro Memoria – verfasst von Fryderyk Dawid während der Besatzungszeit, ohne Datum (Abschrift auf Schreibmaschine): AAN  1521: Pomoc Polaków/7, S. 27. Ankieta dokumentacyjna w sprawie pomocy Żydom w okresie okupacji, ausgefüllt von Marian  H., 01.12.1968, AAN  1521: Pomoc Polaków/7, S.  17; Oświadczenie Mariana  H., Tarnów, Januar 1969, AAN 1521: Pomoc Polaków/7, S. 17–18; Brief des Marian H. an den Innenminister General Mieczysław Moczar vom 22. Juli 1968, AAN 1521: Pomoc Polaków/7; Bericht Marian H., AŻIH 301/580. Brief des Marian H. an den Innenminister General Mieczysław Moczar vom 22. Juli 1968, AAN 1521: Pomoc Polaków/7.

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kapitel 4

kollaboriert. Knapp einen Monat nachdem die deutschen Truppen Tarnów verlassen hatten, wurde Władysław  Ł.  im  Februar 1945 auf offener Straße verhaftet, wegen des Verdachts Informant der Gestapo gewesen zu sein. Władysław  Ł. wurde zunächst wieder auf freien Fuß gesetzt, aber im März erneut von den Sicherheitsbehörden (Urząd Bezpieczeństwa  – UB) festgenommen.15 Nun wurde ihm seine Vorkriegsgeschichte zum Verhängnis: Vor dem Krieg war Władysław  Ł.  Mitglied des rechtsradikalen ONR und forcierte mit seinen Schlägertrupps den Boykott jüdischer Geschäfte.16 Mit seinem ONR-Freund Aleksander Bryg störte er auch die Maifeierlichkeiten der Arbeiterparteien.17 Einige Monate nach der Verhaftung von Władysław  Ł.  im  Jahr 1945 wurde Eugeniusz Sit zum Präsidenten der Stadt Tarnów. Sit war vor dem Krieg Angestellter der Bahnwerke in Tarnów gewesen, von wo aus er die Gewerkschaftsarbeit organisiert hatte. Zudem war er Vorsitzender des PPS-Kreiskomitees gewesen und hatte bei den Wahlen 1939 ein Stadtratsmandat erlangt.18 Im Jahre 1937, wie bereits ausgeführt, verübten SNnahe Schlägertrupps ein Attentat auf Eugeniusz Sit.19 Vorausgegangen war eine Auseinandersetzung zwischen PPS-Anhängern und den Schlägertrupps, die Juden den Eingang zu einem Geschäft verweigert hatten. PPS-Männer hatten damals die Juden verteidigt, aber daraufhin drohten die Jugendlichen vom SN der PPS und namentlich besonders Eugeniusz Sit. Das Ermittlungsverfahren gegen den Hauptverantwortlichen für das Attentat Aleksander Bryg wurde damals zwar eingestellt, aber dabei trat zutage, dass ein gewisser Sympathisant der Nationaldemokratie, eben jener Władysław  Ł., die Waffe besorgt hatte, mit der Sit verletzt wurde.20 Nun, 1945, schien die Reputation von Władysław Ł. sein Schicksal zu besiegeln. Ein bekennender Nationalist, ONRMitglied, der vor dem Krieg Erste-Mai-Demonstrationen störte, zum Boykott jüdischer Geschäfte aufrief und am Attentat des verdienten PPS-Politikers und ab 1945 Stadtpräsidenten Eugeniusz Sit beteiligt war, produzierte während des Krieges Lederwaren für die Wehrmacht und trank Wodka mit der Gestapo. Władysław  Ł. hatte in einer seiner ersten Vernehmungen 1945 ausgesagt, er 15 16 17 18 19 20

Aussage Władysław Ł., 22.10.1945, ANKr 29/SAKr 1051 K 313/50. „Kompromittierende Materialien gegen Ł[…], Władysław“ erstellt vom PUBP (Powiatowy Urząd Bezpieczeństwa Publicznego/Kreissicherheitsdienst), Notiz ohne Datum, im Ermittlungsverfahren gegen Władysław Ł., ANKr. 29/SAKr 1051 K 313/50. „Kompromittierende Materialien gegen Ł[…], Władysław“ erstellt vom PUBP, Notiz ohne Datum, im Ermittlungsverfahren gegen Władysław Ł., ANKr. 29/SAKr 1051 K 313/50. Potępa: Tarnów międzywojenny, S.  143–148; ANKr. Odd. T.  33/1: Akta Miasta Tarnowa ZMT 39 wybory: I 8 a – 2/39; siehe auch Kapitel 1.1 „Arbeitswelten“. Siehe Kapitel 2.4 „Die Wahlen von 1939“. ANKr. Odd. T. 33/97 PSOT/PT 121/1475/37.

Das Fallbeispiel Marian H. und Władysław Ł.

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habe mit den Gestapo-Männern getrunken, weil das „keine schlechten Kerle“ gewesen seien – „bo to były niezłe chłopy“.21 Dass so jemand den deutschen Besatzern „zur Hand ging“ und anderen Polen schadete, schien fast schon folgerichtig. Gegen Władysław Ł. wurde Anklage aufgrund des Augustdekrets vom 31.  August  1944 erhoben. Während des Verfahrens bat der Angeklagte darum, es nach Krakau zu verlegen, mit dem Argument, er könne in Tarnów kaum einen fairen Prozess erwarten.22 Das Augustdekret erließ das PKWN (Polski Komitet Wyzwolenia Narodowego/Polnisches Komitee der Nationalen Befreiung) im Jahr 1944. Es ermöglichte die Verfolgung von Verrätern der „Polnischen Nation“. Laut dem Dekret machten sich alle Personen strafbar, die den deutschen Besatzern „zur Hand gingen“, indem sie sich an Morden, Verfolgungen und Misshandlungen der Zivilbevölkerung oder von Kriegsgefangenen beteiligten bzw. diesen Schaden zufügten. Des Weiteren sollten all jene bestraft werden, die dadurch profitierten, dass sie andere Personen damit erpressten, sie an die deutschen Besatzer zu verraten. Anstiftung und Beihilfe zu diesen Taten wurden ebenso geahndet. Das Strafmaß wurde festgesetzt auf bis zu 15 Jahre Haft oder lebenslänglich, bei Mord konnte die Todesstrafe verhängt werden.23 Auch jemand, der seine Nachbarinnen oder Nachbarn wegen des Besitzes eines Radios oder illegalen Handels an die deutsche Besatzungsmacht verriet, konnte aufgrund dieses Gesetzes belangt werden. Obschon Jüdinnen und Juden im Gesetzestext nicht explizit erwähnt waren, konnten das Denunzieren, Verraten und Ermorden von Jüdinnen und Juden mit diesem Dekret verfolgt werden.24 Die Gesamtheit der nach dem Monat August (polnisch: sierpień), in dem das Dekret in Kraft trat, benannten sierpniówki-Akten betrifft also nicht nur das Verhalten nichtjüdischer Polinnen und Polen gegenüber Jüdinnen und Juden. In ihrer Mehrheit widmen sie sich Verrat, Erpressung und Auseinandersetzungen unter der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung. Der Historiker Andrew Kornbluth argumentierte, dass die Gerichte zu harten Strafen bei Verrat neigten, Verbrechen gegen Jüdinnen und Juden dagegen milder beurteilt wurden, 21 22 23

24

Aussage Władysław Ł., 26.05.1945, ANKr 29/SAKr 1051 K 313/50. Brief von Rechtsanwalt Jan Pikosz vom 30.09.1946, ANKr 29/SAKr 1051 K 313/50. Dekret Polskiego Komitetu Wyzwolenia Narodowego z dnia 31. sierpnia 1944 o wymiarze kary dla faszystowsko-hitlerowskich zbrodniarzy winnych zabójstw i znęcania się nad ludnością cywilną i jeńcami oraz dla zdrajców Narodu Polskiego. In: Dziennik Ustaw 1944, Nr.  4, poz.  16, online unter: Internetowy System Aktów Prawnych, Strona główna Sejmu Rzeczposolitej Polski, http://prawo.sejm.gov.pl/isap.nsf/download.xsp/ WDU19440040016/O/D19440016.pdf (letzter Zugriff: 31.03.2019). Zu den gerichtlichen Auseinandersetzungen im Nachkriegspolen siehe Kornbluth: The Holocaust and postwar justice, S. 267–284; Kornbluth: „Jest wielu Kainów“, S. 157–172.

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kapitel 4

besonders wenn die Angeklagten widerständige Aktivitäten gegenüber der deutschen Besatzungsmacht nachweisen konnten.25 Die Strafverfolgung erfolgte aufgrund von Hinweisen aus der Bevölkerung. Einige überlebende Jüdinnen und Juden erstatteten Anzeigen gegen Denunzianten, die manchmal ganze jüdische Familien auf dem Gewissen hatten. In der neueren Forschung werden diese Akten vermehrt für die Untersuchung sozialer Beziehungen unter der Lokalbevölkerung genutzt, um die bottom-up-Perspektive der Verfolgung in den lokalen Gesellschaften in den Blick zu nehmen.26 Diese Akten bilden einen beträchtlichen Anteil meiner Forschung zu Tarnów. Auch Władysław  Ł. wurde also auf Grundlage des Augustdekrets der Kollaboration angeklagt. Das Bild, das er in den Akten abgab, war kein sonderlich positives. Zeuginnen und Zeugen beschrieben ihn als aggressiven Trinker, der sich der Gestapo anbiederte, der in seinem von den Deutschen als „kriegswichtig“ eingestuften Betrieb für die Wehrmacht Lederwaren produzierte und gern ein Gläschen Schnaps mit den Gestapo-Männern trank. Er habe mehrere PPS-Aktivisten auf dem Gewissen, sagten verschiedene Zeugen aus.27 Von der Widerstandsgruppe Gwardia Ludowa (Volksgarde) soll er zum Tode verurteilt worden sein.28 Verwirrend ist dieser Archivfund, der in den Akten des Berufungsgerichts im Staatsarchiv Krakau lagert, deswegen, weil er nicht mit dem Bild eines Retters zusammenpasste, das sich zunächst aufgrund der Aussagen von Marian H. in den Akten des AAN in Warschau in blassen Umrissen zu konturieren begann. Letztlich wirft dieser Fall die Frage auf, ob heute gängige Vorstellungen von „den Rettern“ oder „den Kollaborateuren“, ob vermeintlich statische Charaktereigenschaften wie „Altruismus“ oder „Nächstenliebe“ in der so radikalen und brutalisierten Zeit der deutschen Besatzung der Alltagsrealität im Generalgouvernement gerecht werden. Obschon die Ausgangssituation von Władysław Ł. zu Beginn der Ermittlung vernichtend erschien, wandelte sie sich ab November  1945, als Zeuginnen und Zeugen zu seinen Gunsten aussagten. Sie bezeugten zwar fast alle, dass 25 Ebd., S. 159. 26 Für die Rekonstruktion des Jedwabne-Massakers nutzte Jan T. Gross als einer der ersten die sierpniówki-Akten, mittlerweile haben sich diese Akten in der polnischen Holocaustforschung etabliert, vgl. auch Engelking/Grabowski: Dalej jest noc. Natalia Aleksiun untersuchte sierpniówki-Akten, um Denunziationsgeschichten aus Ostgalizien nachzuzeichnen. Dabei entwickelte sie ein sehr dynamisches Bild der Beziehungen zwischen Jüdinnen/Juden und Nichtjüdinnen/Nichtjuden in den einzelnen Orten, offenbarte jedoch zugleich viele Schwierigkeiten dieser Prozesse, z.  B.  dass  Jüdinnen und Juden bereits aus Polen emigriert waren, bevor die jeweiligen Gerichtsverhandlungen endeten, und dadurch immer weniger Zeuginnen und Zeugen präsent waren, die die Angeklagten hätten belasten können: Aleksiun: Intimate violence, S. 20. 27 Z. B. Aussage Jan Boron, 26.07.1945, ANKr/SAKr 1051 K 313/50. 28 Protokoll der Hauptverhandlung am 16.01.1950, ANKr/SAKr 1051 K 313/50.

Das Fallbeispiel Marian H. und Władysław Ł.

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Władysław  Ł. ein leicht reizbarer Alkoholiker sei, aber dass er seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gut behandelt habe. Sein großes Verdienst war es, fiktive Listen von Arbeitenden zu führen, die nicht alle tatsächlich bei ihm angestellt waren.29 Für einige Jüdinnen und Juden bedeutete dies, einen lebensrettenden Stempel bei einem kriegswichtigen Betrieb zu erhalten.30 Der jüdische Zeuge Abbe Schiffer sagte darüber hinaus aus, dass er und zehn weitere Juden sich während einer „Aktion“ in der Werkstatt von Władysław Ł. versteckt hielten und dass dieser sich aktiv für seine Mitarbeiter einsetzte, wenn ihnen eine sogenannte Aussiedlung drohte.31 Władysław Ł. habe auch von zwei Jüdinnen mit „arischen“ Papieren gewusst, sie aber nicht verraten.32 Der Angeklagte erklärte im Verlauf des Prozesses, er habe mit GestapoMännern getrunken, um sie gnädig zu stimmen, denn sie sollten in seinem Betrieb keine Durchsuchungen durchführen. Schließlich wurde Władysław Ł. freigesprochen, jedoch in der zweiten Instanz zu 15 Jahren Haft verurteilt. Der Urteilsbegründung lässt sich entnehmen, dass Władysław  Ł.  zwar  Jüdinnen und Juden angestellt hatte, diese dadurch die begehrten Arbeitskarten erhielten, zugleich aber selbst erheblich davon profitierte: Der Angeklagte jedoch stellte Juden in seinem Betrieb natürlich deswegen ein, um eine größere Gewinnmarge zu erzielen. Dieser höhere Profit bestand aus der Differenz des Wertes der Arbeitskraft der formal freien Menschen und des Wertes der Arbeitskraft von Juden, die jeglicher Rechte beraubt waren und die versuchten, ihr Leben zu retten. All das erzielte der Angeklagte deswegen, da sein Betrieb unmittelbar für die deutsche Kriegsindustrie produzierte.33

Bei erneuter Berufung wurde Władysław Ł. schließlich 1951 freigesprochen. Er zog nach Wrocław um und kehrte in späteren Jahren nach Tarnów zurück.34 29 30 31

32 33 34

Aussage Stefan Kania  26.11.1945; Aussage Stanisława Piekarz  26.11.1945; Aussage Marian  H. 26.11.1945; Aussage Halina Matusiewicz 26.11.1945; Aussage Abbe Schiffer 22.01.1946; Aussage Franciszek Kwistek 26.11.1945, ANKr/SAKr/1051 K 313/50. Eine solche Liste ist dem Ermittlungsverfahren beigelegt, ANKr/SAKr/1051 K 313/50, S. 40. Aussage Abbe Schiffer 22.01.1946, ANKr/SAKr/1051 K 313/50, S. 62; dass sich Jüdinnen und Juden während einer sogenannten Aussiedlung in der Werkstatt versteckten, bestätigt Zbigniew H., Sohn von Marian H. und ebenfalls bei Władysław Ł. angestellt. Protokoll der Hauptverhandlung: ANKr/SAKr/1051 K 313/50, S. 92–98. Brief des Marian H. an den Innenminister General Mieczysław Moczar vom 22. Juli 1968, AAN  1521: Pomoc Polaków/7; Aussage Abbe Schiffer  22.01.1946/Aussage Zbigniew  H. Protokoll der Hauptverhandlung, 16.01.1950, ANKr/SAKr/1051 K 313/50, S. 210–216. Urteilsbegründung vom 16.01.1950, ANKr/SAKr 1051 K 313/50, S.  228–231; siehe auch Kapitel 7.3.3 „In den Werkstätten“. Vermerk, dass Władysław  Ł. 1961 in einem Betrieb auf der ul. Targowa  12 in Tarnów arbeitet, ANKr. Odd. T. 33/205 Akta Cechu Rzemiosł różnych w Tarnowie (1879–1966)/245: Rejestr członków cechu 1929–1971.

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kapitel 4

Es ist nicht einfach, sich auf diese Geschichte einen Reim zu machen. Man muss zunächst gängige Vorstellungen ablegen und tief in den Alltag von besetzten Gesellschaften eintauchen. Vermutlich war Marian  H.  Drahtzieher der Hilfsaktionen. Zu Beginn des Krieges war noch Jan  Ł., der Vater von Władysław  Ł., Besitzer der Werkstatt, und Marian  H. hatte ihn überzeugt, den bei ihm versteckten Juden Fryderyk Dawid einzustellen. Dabei hatte er dessen jüdische Herkunft verheimlicht und gelogen: Der Mann, der nunmehr auf dem Papier Franciszek Kwistek hieß, sei in Wahrheit ein hochrangiges Sanacja-Mitglied gewesen und brauche Hilfe. Mit Kwistek alias Fryderyk Dawid als Buchhalter begannen dann die fiktiven Arbeiterlisten und die Ausstellung von Sondergenehmigungen des als kriegswichtig erachteten Betriebs. Da Jan  Ł. schwer krank war, drohte die Besatzungsverwaltung damit, einen deutschen Treuhänder als Betriebsleiter einzusetzen. Um dies zu umgehen, kamen Marian  H.  und  Franciszek Kwistek auf folgende Idee: Der Sohn, also Władysław  Ł., sollte offiziell den Betrieb führen und als eine Art „Abschirmung“ gegen die Gestapo fungieren, mit der er gute Kontakte unterhielt.35 Władysław  Ł. konnte also im Betrieb seines Vaters aufsteigen, ohne viel Verantwortung übernehmen zu müssen. Hilfe war also wahrscheinlich nicht initiativ von ihm ausgegangen, er hatte sich aber mit der Zeit, aus unbekannten Motiven, involvieren lassen und ließ die fiktiven Listen von Arbeitenden zu. Keine einzige Zeugin und kein einziger Zeuge erwähnten, dass Władysław  Ł.  dafür  Geld bekommen hätte. Zbigniew  H., der Sohn Marians, sagte explizit aus, dass Władysław Ł. seines Wissens nach keine Geldleistungen erhalten habe. Im Laufe der Zeit, als „die Deutschen mit der Judenverfolgung ernst machten“, wie das ehemalige ONR-Mitglied Władysław  Ł. sich ausdrückte, half er selbst Jüdinnen und Juden, was ihn letztlich in dem Nachkriegsprozess entlastete.36 4.1

Methodologische Überlegungen: Besatzungsgesellschaften und Mikrogeschichte

Diese beiden Fälle des Marian  H. und des Władysław  Ł. eröffnen viele Einsichten und generieren noch weitaus mehr Fragen. Der Besatzungsalltag gestaltete die sozialen Prozesse in einer Lokalgemeinschaft völlig neu. 35 36

Brief des Marian H. an den Innenminister General Mieczysław Moczar vom 22. Juli 1968, AAN 1521: Pomoc Polaków/7. Aussage Władysław Ł., Protokoll der Hauptverhandlung, 1946, ANKr/SAKr/1051 K 313/50, S. 92–98.

Das Fallbeispiel Marian H. und Władysław Ł.

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Statische Kategorien ebenso wie statische Rollenzuschreibungen helfen häufig nicht weiter, um diesen Prozess zu verstehen. Sie erklären nur bedingt die sozialen Dynamiken innerhalb der Besatzungsgesellschaften. Hinzu kam die Radikalisierung der sogenannten Judenpolitik der deutschen Besatzer, die schließlich in der massenhaften Ermordung von Jüdinnen und Juden mündete. Dass „die Deutschen mit der Judenverfolgung ernst machten“, wie Władysław  Ł. sich lapidar ausdrückte, wirkte sich auf die nichtjüdischen Bewohnerinnen und Bewohner Tarnóws aus. So soll im Folgenden der Schwerpunkt auf sich wandelnde soziale Dynamiken innerhalb der Lokalbevölkerung gelegt werden, auf die unterschiedlichsten, manchmal gegensätzlichen Rollen, die ein Individuum in der Zeit der Besatzung annehmen konnte. Retterinnen und Retter konnten zugleich Profiteure des Massenmordes an Jüdinnen und Juden sein. Ideologische Antisemiten halfen im Alltag. Helfende konnten bis zur Selbstaufgabe Jüdinnen und Juden beistehen und dennoch scheitern, weil sich die Papiere als schlecht erwiesen, die Nachbarinnen und Nachbarn denunzierten oder wegen anderer Hindernisse. Schon das Beispiel des Marian H. zeigt die unterschiedlichsten Modi des Helfens auf: das kurz- oder langfristige Verstecken bei sich zu Hause, die Besorgung anderer Bleiben, wenn die ersten zu unsicher wurden, die Beschaffung von „arischen“ Papieren oder Arbeitsstellen, das Bringen von Essen etc. Und doch gelang es Marian H. nicht, die Mutter von Fryderyk Dawid zu retten, da sie von ihren Nachbarn an die Gestapo als Jüdin auf „arischen Papieren“ verraten wurde. Die Wege der besetzten Bevölkerung verliefen mit vielen Windungen und Wendungen. Irrationalität, Entscheidungen aus Angst oder Profitgier waren in der Zeit des Terrors, einer Zeit, in der der nächste Tag oft unvorhersehbar war, durchaus mächtige Faktoren, welche die Handlungen von Menschen und Gruppen bestimmten. Dabei lagen zuweilen gegensätzliche Motive eng beieinander. Oder, wie es der Historiker Omer Bartov in seiner Studie zur Stadt Buczacz (Ostgalizien) unter deutscher Besatzung konstatierte: Altruismus und Habgier seien zuweilen nur durch eine hauchdünne Linie voneinander getrennt gewesen.37 Dieses close-up auf menschliches Handeln ist dank des Perspektivwechsels auf die Mikroebene möglich, zugleich eröffnet es aber weitere Fragen nach der Beschaffenheit des sozialen Gewebes von Besatzungsgesellschaften. Folgendes steht dabei im Fokus: Wie interagierten die jüdische und die nichtjüdische Bevölkerung in einer mittelgroßen Stadt nach dem deutschen Einmarsch und nach der Etablierung eines Terrorregimes, das die gesamte Bevölkerung traf, ihren jüdischen Teil aber von Beginn an auf die niedrigste Stufe der rassistischen Hierarchie stellte und schließlich zum 37

Bartov: Wartime Lies, S. 492.

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kapitel 4

Tode verurteilte? Ich nehme also bewusst die Perspektive der Besetzten ein und untersuche die Wirkung der äußerst gewalttätigen Besatzungsherrschaft auf die Handlungsoptionen und Entscheidungsfindungen, aber auch auf die Eigeninitiative der Lokalbevölkerung. Aus dem Blickwinkel der Täterinnenund Täterforschung bleibt diese Perspektive oft unberücksichtigt, dabei ist der Kontext der Lokalbevölkerung, auch im Hinblick auf Kontinuitäten aus der Vorkriegszeit, die Interaktion zwischen Besatzern und Besetzten, die in unterschiedliche Kategorien hierarchisiert wurden, ein wesentlicher Bestandteil, um das Besatzungssystem im Generalgouvernement zu verstehen. Die oben genannten Fragen implizieren eine Schwerpunktsetzung auf die Haltung der nichtjüdischen Polinnen und Polen. Jedoch soll auch bei der jüdischen Bevölkerung nach wahrgenommenen Handlungsoptionen gefragt und somit die Jewish agency unter der Besatzung stärker in den Vordergrund gerückt werden. Jewish agency kann als Handlungsfähigkeit oder Handlungsmacht übersetzt werden. Der Begriff wurde für den Kontext der Shoah vielfach kritisiert, denn er impliziere eine Handlungsmacht, die Jüdinnen und Juden jedoch bei jedem Schritt genommen wurde. Zudem laufe man Gefahr, mit diesem Begriff der jüdischen Bevölkerung eine Verantwortung für ihr Schicksal zuzuschreiben, wo sie de facto keine Handlungsoptionen besaßen. Diese Einwände ernst nehmned, entschied ich mich dennoch dafür, den Begriff in der vorliegenden Studie zu gebrauchen, eher im Sinne von Handlungsfähigkeit, um die Selbstbehauptungsstrategien und -versuche der Jüdinnen und Juden herauszuarbeiten. Sie waren weit mehr als passive Opfer, weil  – wie ich in der mikrogeschichtlichen Herangehensweise erarbeiten konnte  – sie den sehr begrenzten Handlungsrahmen nutzten und ausloteten, zuweilen überschritten, um zu versuchen zu überleben. Es geht im Folgenden also um eine Würdigung der Eigeninitiative in den Überlebenswegen von Jüdinnen und Juden. Die Komplexität des Alltags von Besatzungsgesellschaften, die Reaktionen und Handlungsoptionen der Lokalbevölkerung auf die deutsche Besatzung, in ihrer Prozesshaftigkeit, mit ihren Widersprüchen und Antagonismen, angemessen im Hinblick auf die sozialen Konstellationen zwischen Jüdinnen/Juden und polnischen Nichtjüdinnen/Nichtjuden zu beschreiben, ist somit das Ziel des zweiten Teils der Arbeit. In theoretischer und methodischer Hinsicht basiert dieser Teil der Arbeit auf Tatjana Tönsmeyers Konzept der Besatzungsgesellschaften.38 Der „Aus38

Tönsmeyer: Besatzungsgesellschaften; Tönsmeyers Konzept und das von ihr und Peter Haslinger geleitete Editionsprojekt, siehe http://www.societies-under-germanoccupation.com (letzter Zugriff:  07.04.2017), sind nicht auf das Generalgouvernement beschränkt. Der Begriff der Besatzungsgesellschaften birgt komparatistisches Potenzial

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gangspunkt“ bei der Untersuchung der Lokalbevölkerung ist, nach Tönsmeyer, „die Etablierung der gewalttätigen Fremdherrschaft“.39 Die Lokalbevölkerung war während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg der „physischen und/oder regulativen Präsenz“40 der Besatzer ausgesetzt, welche den Rahmen für die Handlungen der Besetzten vorgaben. Diese Präsenz manifestierte sich in Gewalt, einem ständigen Gefühl der Bedrohung und gezielter Demütigung der Lokalbevölkerung. Tönsmeyer sieht Gewalt als driving force der Beziehungskonstellationen unter deutscher Besatzung und plädiert für eine komplexe Erzählung über Besatzungsgesellschaften, welche die unterschiedlichen Akteursgruppen in ihren Interaktionen analysiert. Damit soll der Blick nicht nur über die Täterforschung, sondern auch über jene historischen Narrative hinaus erweitert werden, die die Reaktionen der Besetzten bipolar entweder als Kollaboration oder als Widerstand beschreiben. Tönsmeyer geht es um die dynamischen Beziehungskonstellationen diverser Gruppen und um die „Erfahrungsdimension“ der Besatzung.41 Die deutsche Besatzung darf bei einer solchen Beschreibung des Alltags der lokalen Gemeinschaften nicht in den Hintergrund treten, denn sie schuf die Rahmenbedingungen: „In deren Folge bildet sich ein relationales, somit nicht statisches, asymmetrisches Verhältnis zwischen Besatzern und besetzten Gesellschaften aus.“42 Letztere standen unter vielerlei Druck, Spannungen und Einwirkungen und bewegten sich auf einem relationalen Kräftefeld. Das Kräftefeld wird in Anlehnung an Alf Lüdtke als ein dynamisches, sich veränderndes Feld verstanden, „in dem Macht durchgesetzt, Herrschaft begründet oder bezweifelt wird“ und in welchem „Akteure in Beziehung treten und stehen, in dem sie miteinander agieren“.43 Das erlaubt es, unterschiedliche Akteure in diesem asymmetrischen Raum zu situieren – sowohl die deutschen Täter erscheinen hier als auch die nichtjüdischen Polinnen und Polen sowie die Jüdinnen und Juden. Dabei betrachtet Lüdtke die Akteure keineswegs als „autonome Subjekte“, vielmehr sind diese in ihre jeweiligen Kontexte eingebunden und stehen in Beziehung zueinander. Des Weiteren definiert er die Beziehungsdynamik zwischen Herrschenden und Beherrschten nicht als

39 40 41 42 43

und erlaubt es, unterschiedliche Erfahrungsdimensionen in Europa zu erfassen. Einen Teil der methodologischen Überlegungen zu dem Konzept der Besatzungsgesellschaft und Tarnów wurde bereits veröffentlicht in Wierzcholska: Besatzungsgesellschaften und Mikrohistorie, S. 99–120. Tönsmeyer: Besatzungsgesellschaften. Ebd. Ebd. Ebd. Lüdtke: Einleitung – Herrschaft als soziale Praxis, S. 12–13.

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kapitel 4

eine „einfache Zweipoligkeit“: „Auch die Beherrschten sind mehr als passive Adressaten der Regungen der Herrschenden. Vor allem zeigen sich Ungleichheiten und Widersprüche auch zwischen Herrschenden, ebenso wie zwischen Beherrschten [Hervorhebung im Original].“44 Das asymmetrische Verhältnis deklinierte sich also auch, obschon in anderer Form und anderem Ausmaß, unter den Opfern unterschiedlicher Kategorien (also den als jüdisch Stigmatisierten und den nichtjüdischen Polinnen und Polen) weiter fort. Denn die deutschen Besatzer manipulierten die Lokalgesellschaften und agierten häufig nach dem Prinzip des divide et impera.45 Tönsmeyer gibt zu bedenken, dass die handlungsleitende rassistische Hierarchisierung der deutschen Besatzer einerseits alte Beziehungskonstellationen überlagerte und andererseits neue schuf, wodurch sich das soziale Gefüge völlig veränderte: „Normalitätsannahmen wurden fraglich, Verhaltenserwartungen und Routinen unsicher, Verlässliches korrodierte, während Empfindungen von Recht- und Schutzlosigkeit sich ausbreiteten.“46 Die Frage, wie sich in diesem mehrfach asymmetrischen Kräftefeld Interaktionen und soziale Dynamiken zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung im Generalgouvernement entfalteten, soll nun am Beispiel Tarnóws untersucht werden. Eine dichte Beschreibung von Besatzungsgesellschaften muss auf die aus der Vorkriegszeit stammenden Traditionslinien in der Bevölkerung, auf Kontinuitäten und Brüche eingehen. Erst so wird die Verflechtung von Konflikten deutlich, die durch die Besatzung verschärft oder neu in diese Konstellation hineingetragen wurden. Um den Besatzungsalltag „von unten“ zu untersuchen und zugleich den Prozess der Radikalisierung miteinzubeziehen, gehe ich in der folgenden Studie über die Lokalgesellschaften während des Zweiten Weltkriegs chronologisch vor, da sich die unterschiedlichen Phasen der Shoah nur kumulativ untersuchen lassen. Die bisherige Holocaustforschung unterteilt den Prozess der Judenvernichtung im Generalgouvernement meist in drei Phasen, die je nach Gebiet zeitlich variieren können.47 Diese Periodisierung ist oft schematisch und bedarf weiterer Differenzierungen. Gleichwohl hilft sie, die unterschiedlichen Stufen des Massenmords zu erkennen. Der folgende Teil der Arbeit ist in Anlehnung an diese Phasen gegliedert. Die erste Phase umfasst die Zeit vom Einmarsch der deutschen Truppen bis zum Beginn der „Aktion Reinhardt“ im Frühjahr 1942. Waren Jüdinnen 44 45 46 47

Ebd. Darauf verwies z. B. Gross: Themes for a Social History, S. 25. Tönsmeyer: Besatzungsgesellschaften. Engelking: Jest taki piękny, S. 25.

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und Juden einerseits und nichtjüdische Polinnen und Polen andererseits von Beginn an Opfer unterschiedlicher Kategorien, so lebten sie dennoch in unmittelbarer Nähe zueinander, da es kein Ghetto in Tarnów gab. Nähe und zugleich eine extreme Hierarchisierung der Bevölkerung durch die deutschen Besatzer erzeugten eine spezifische Spannung auf Lokalebene. Die zweite Phase begann im Frühjahr 1942 mit der systematischen Vernichtung der polnischen Judenheiten im Generalgouvernement, im Rahmen der „Aktion Reinhardt“.48 Die erste „Aktion“ in Tarnów beschreibe ich möglichst genau, um zu vergegenwärtigen, wie diese „Aussiedlungen“ im Konkreten in der Stadt vor sich gingen. Diese „Aktion“ erzähle ich mithilfe von Quellen der deutschen Täter, der jüdischen Opfer und der nichtjüdischen polnischen Lokalbevölkerung. Die dritte Phase begann mit der „Liquidierung“ der Ghettos im Jahr 1943. Im September 1943 war das Ghetto in Tarnów an der Reihe, in dem eine regelrechte Gewaltorgie veranstaltet wurde. Die Auflösung eines geschlossenen Bezirks veränderte die Situation der Ghettoflüchtlinge grundlegend, worauf ich im letzten Teil entsprechend eingehen werde. 4.2

Nachtrag: Marian H. und sein Brief an Moczar, oder: Über die Retter und die Fallstricke der Geschichte

Um die Frage vom Beginn des Kapitels nicht unbeantwortet zu lassen: Was veranlasste Marian  H. dazu, im Anschluss an die heiße Phase der antisemitischen Hetzkampagne 1968 einen Brief an Moczar zu schreiben? Nach den „Märzereignissen“ 1968, als zunächst viele Studierende gegen das Regime protestierten, danach gewaltsam auseinandergetrieben, verhaftet und von der Universität relegiert wurden, entfaltete das Regime eine beispiellose Hetzkampagne gegen Jüdinnen und Juden. Die antijüdische Politik stand dabei in einem größeren globalen Zusammenhang: Im Sechs-Tage-Krieg 1967 unterstützte die Sowjetunion die arabischen Staaten, Israel wurde zum Feind erklärt und alle Ostblockstaaten (mit Ausnahme Rumäniens) beendeten ihre diplomatischen Beziehungen zu dem Land. Bereits zu diesem Zeitpunkt (am 19. Juni 1967) hatte der erste Sekretär der PVAP (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei) Władysław Gomułka (1905–1982) eine judenfeindliche Rede gehalten und Jüdinnen und Juden als „fünfte Kolonne“ bezeichnet. Die Rede galt als Auftakt der antisemitischen Hetzkampagne, die als „antizionistisch“ verschleiert 48

Lehnstaedt: Der Kern des Holocaust; Musiał (Hg.): „Aktion Reinhardt“; Kuwałek: Das Vernichtungslager Bełżec; Arad: Bełżec, Sobibór, Treblinka.

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wurde. Nach den „Märzereignissen“ hatte er Jüdinnen und Juden pauschal als illoyal gegenüber Polen erklärt und ihnen die Ausreise nahegelegt. Es folgte eine antisemitische Hetzkampagne in den Medien, das vermeintliche Jüdischsein der protestierenden Studierenden wurde öffentlich angeprangert und judenfeindliche Karikaturen veröffentlicht.49 In den Betrieben wurden „antizionistische“ Massenkundgebungen organisiert. Zeitgleich diente dieser Eingriff parteiinternen Auseinandersetzungen: Der Konflikt zwischen der „Natolin“- und „Puławska“-Fraktion schwelte seit 1956 an und brach sich 1968 in neuen Machtkonstellationen und mit Moczars „Partisanenfraktion“ offen Bahn. Moczar, der sich als Kopf des ZBOWiD (Związek Bojowników o Wolność i Demokrację/Verband der Kämpfer für Freiheit und Demokratie) eine feste Stellung gesichert hatte und zum Innenminister avancierte, trieb diese Hetze entscheidend voran. Polinnen und Polen, die eine jüdische Herkunft besaßen, wurden aus der Arbeit entlassen, mit Schreibverboten belegt, Studierende nicht zu Prüfungen zugelassen. Der von oben verordnete Antisemitismus fiel zudem auf einen gesellschaftlichen Nährboden – gewissermaßen agierten die Partei und „das Volk“ ausnahmsweise einig. Infolge dieser antisemitischen Hetzkampagne verließen zwischen 15000 und 20000 Menschen jüdischer Herkunft Polen.50 Eine Erklärung, warum Marian H. gerade 1968 über seine Rettung an Moczar schrieb, liefert Marian am Ende seines Briefes selbst: Es wäre angebracht, einen Fragebogen zu entwerfen und die Menschen zu ermuntern, Tatsachen bezüglich der Rettung von Juden durch die polnische Gesellschaft anzugeben. So viele Berichte würden allein aus Tarnów eintreffen. Ich habe eine ganze Liste von Personen jüdischer Nationalität, die mir und Władysław  Ł[…] danken, dass wir ihnen das Leben gerettet haben. Wir müssen dann alle von uns gesammelten Materialien unseren diplomatischen Vertretungen auf der ganzen Welt zusenden sowie auch den polnischen Informationszentren im Ausland und der objektiv berichtenden ausländischen Presse, um mit Fakten gegen die Verleumdungen gegen Polen zu kämpfen. Wir müssen sachlich die Opferbereitschaft der polnischen Nation zeigen und dokumentieren.51

49 50

51

Skalska: Obraz wroga. Zu den politischen Hintergründen und der Entfaltung der Kampagne siehe Stola: Kampania antysyjonistyczna; Kosmala (Hg.): Die Vertreibung der Juden aus Polen; Dahlmann: Antisemitismus in Polen 1968; jüngst zu der Generation der protestierenden Studierenden und deren Selbstverständnis: Kowalski: Polens letzte Juden. Brief von Marian H. an den Innenminister Mieczysław Moczar vom 22. Juli 1968, AAN 1521: Pomoc Polaków/7, S. 3–4.

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Ganz deutlich erscheint hier die Absicht und Motivation des Briefes: Marian H. will seine individuelle Geschichte in den Dienst Moczars stellen und in seinen Augen auch in den Dienst der Polinnen und Polen als Kollektiv. Sein Argument, das aus seiner persönlichen Biografie abgeleitet ist, kann verkürzt auf folgenden Pointe gebracht werden: Wenn die nichtjüdischen Polinnen und Polen so viele Jüdinnen und Juden während des Zweiten Weltkrieges gerettet haben, ja bereit waren, ihr Leben zu opfern, um diesen zu helfen, dann kann man sie nicht des Antisemitismus bezichtigen. Diese Argumentation lässt sich in eine breitere narrative Traditionslinie einbetten. Bereits 1963 startete Władysław Bartoszewski (1922–2015) (während der Besatzungszeit war er Mitglied des Rats für Judenhilfe Żegota unter der Delegatur der Exilregierung im Land) einen Aufruf in der Presse an Polinnen und Polen, um Berichte und Dokumente über die Rettung von Jüdinnen und Juden einzusenden.52 Zweck dieses Aufrufs war es, einen Band herauszugeben, der das verfälschte Bild „im Westen“ über die Rolle der nichtjüdischen Polinnen und Polen während des Holocaust korrigieren sollte.53 Der Band mit 200 Berichten erschien erstmals im Frühling 1967, wurde breit rezipiert und positiv besprochen. Er betonte die Solidarität der nichtjüdischen Polinnen und Polen mit Jüdinnen und Juden und beschrieb Denunzianten als Menschen „vom Rand der Gesellschaft“.54 Das Buch wurde im Folgenden als eine Art Bollwerk instrumentalisiert und genutzt gegen eine vermeintliche Kampagne von „Deutschen“ und „Zionisten“, die zum Ziel hätte, Deutsche zu entlasten (da Israel nun gute Beziehungen mit der Bundesrepublik pflegte) und Polen zu diffamieren. In seiner Rede am 19. Juni 1967 hatte Gomułka selbst betont, dass diejenigen Jüdinnen und Juden, die im besetzten Polen überlebt hatten, nur durch die Hilfe der nichtjüdischen Polinnen und Polen überleben konnten. Das Thema der Hilfe wurde instrumentalisiert und ein Narrativ der polnischen Barmherzigkeit und jüdischen Undankbarkeit tradiert.55 Die offizielle Gedächtnispolitik zum Thema Judenrettung sollten federführend das ZBOWiD und Mieczysław Moczar gestalten, der im März und April  1968  – also parallel zur antisemitischen Hetzjagd – sowohl im Fernsehen als auch in der Presse dazu aufrief, „die wahre Geschichte unserer heroischen Bemühungen“ aufzuschreiben. Diesem Aufruf folgte augenscheinlich Marian H. In seinem Brief findet sich ein Widerhall der gesellschaftlichen Diskurse der Zeit, er spricht von den 52 53 54 55

Der Appell erschien am 24.03.1963 im Tygodnik Powszechny, allerdings zensiert, siehe dazu Libionka: Polskie piśmiennictwo, S. 31. Ebd. Ebd., S. 32. Dazu ausführlicher ebd., S. 35.

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kapitel 4

heroischen Bemühungen seiner Familie und von Władysław Ł., aber auch von der Undankbarkeit der Jüdinnen und Juden, denen er geholfen hatte. Der Brief von Marian  H. führt ins Zentrum eines bis heute andauernden Richtungsstreits. Bis heute wird in der Öffentlichkeit hochemotional darum gerungen, welche Haltungen „die Polen“ als Kollektivsingular während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg gegenüber Jüdinnen und Juden an den Tag legten. Waren sie überwiegend Rettende oder szmalcownicy (also Erpressende), voller Empathie gegenüber Jüdinnen und Juden oder eingefleischte Antisemiten und willige Profiteure des Mordes an den Jüdinnen und Juden? Oder ist die polnische Gesellschaft in dieser Zeit vielmehr als unterdrückte und terrorisierte Zivilbevölkerung zu verstehen, welche die Vernichtung der Judenheiten durch die Deutschen vor ihren Augen als Trauma erlebte?56 Waren die Polinnen und Polen zum Großteil passive Bystander, Zuschauende, nach der Triade (Täter, Opfer, Zuschauer) von Raul Hilberg, die selbst unterdrückt waren, und nicht jeder oder jede wurde – verständlicherweise – zu einem Helden, einem Retter?57 Diese Fragen und ihr unterschiedliches Framing bleiben bis heute hoch umstritten. Deswegen bleibt letztlich das Problem, wie Historikerinnen und Historiker angemessen über Retterinnen und Retter schreiben können, ohne in die Fallstricke dieser gedächtnispolitischen Auseinandersetzung zu geraten.58 Eine einfache Antwort kann es auf diese Frage nicht geben. „Während des Krieges gab es solche und solche, aber wir fanden überall solche, die uns geholfen haben“, erinnerte sich Elżunia (Elza) Spielman aus Tarnów, die den Krieg als Kind überlebt hatte.59 Es ist nicht Ziel dieser Arbeit, die Haltungen nichtjüdischer Polinnen und Polen quantitativ zu schätzen. Überspitzt gesagt, geht es im Folgenden nicht darum, zu mutmaßen, wie viele „solcher“ Menschen retteten, wie viele denunzierten und wie viele profitierten. Das kann die Mikrogeschichte nicht leisten. Quantitative Aussagen sind bei einer Mikrostudie kaum belastbar, da die Anzahl der untersuchten Fälle keine Repräsentativität beanspruchen kann. Vielmehr sollen in dieser Arbeit die sozialen Prozesse einer Lokalgesellschaft minutiös nachgezeichnet werden, unter besonderer 56

Kritisch zum Shoah-„Trauma“ der nichtjüdischen Polinnen und Polen siehe Janicka: Pamięć przyswojona, S. 148–227. 57 Hilberg: Täter, Opfer, Zuschauer. 58 Für ein jüngstes Beispiel, differenziert über eine Retterin zu schreiben, siehe Bikont: Sendlerowa. 59 Spielman, Elżunia (Elza): Interview, 24.05 2013, Herzliya, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska; Sie wurde letztlich in ein Versteck bei Warschau gebracht, auch Mutter und Großeltern überlebten, der Vater starb in den letzten Kriegsmonaten. Dieser war der Tarnower Vorkriegsstadtratsabgeordnete Henryk Spielman.

Das Fallbeispiel Marian H. und Władysław Ł.

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Berücksichtigung der Haltung der nichtjüdischen Bevölkerung zur Shoah und der Erfahrungen der verfolgten Jüdinnen und Juden. Deswegen wende ich mich in dieser Arbeit von statischen Kategorien ab und untersuche die (oft widersprüchlichen) Wege und Umwege der Menschen. In diesen unsicheren Zeiten unterlagen sie unterschiedlichen, komplexen Zwängen, die sie zuwei­ len zu gegensätzlichen Reaktionen führten. Oft enttäuschten Menschen die eigenen Erwartungshaltungen an sich selbst. Wo der nächste Tag unsicher war, gab es auch wenig Konstanz im eigenen Handeln. Strategien boten keinen Halt, keine Sicherheit in einer Zeit, da die Spielregeln ständig nach der Willkür der Besatzer geändert wurden. Ich hinterfrage von daher im Folgenden solche Begriffe wie Bystander oder Zuschauerin/Zuschauer, statische Charaktereigenschaften wie Altruismus bei Retterinnen/Rettern, und benutze den Begriff der Retterin bzw. des Retters nicht als Untersuchungskategorie.60 Die Mikroebene der Untersuchung erlaubt es, diese Wendungen herauszuarbeiten und gerade die Prozesshaftigkeit und die Dynamik der sozialen Vorgänge innerhalb der besetzten Lokalbevölkerung herauszuschälen.

60

Vgl. Beginn des Kapitels 9 „Den Jüdinnen und Juden helfen“.

kapitel 5

Kriegsbeginn und erste Phase der Verfolgung, Tarnów 1939–1942 Am  1. September  1939 überfiel die deutsche Wehrmacht Polen vom Norden und vom Südwesten her. In den ersten Septembertagen erblickten die Bewoh­ nerinnen und Bewohner Tarnóws Flieger mit Hakenkreuzen.1 Am 7. September 1939 marschierten deutsche Truppen in Tarnów ohne Gefechte ein.2 Der Priester Jan Bochenek erinnerte sich an den Einmarsch in seinen 1947 ver­ fassten Memoiren wie folgt: Das Leben erstarrte … Die Straßen waren wie leergefegt, die Läden geschlossen, aus den Dörfern war niemand in der Stadt zu sehen. Gegen Mittag kam die erste Patrouille, sie besetzten Kreuzungen und Plätze. Gegen ein Uhr ging ich aus dem Haus  … Es war erlaubt, sich in der Stadt zu bewegen, aber fast niemand traute sich auf die Straße. Die Einfahrten waren geöffnet, die Fenster verschlossen. […] Auf dem Kazimierz-Platz standen zwei Maschinengewehre, daneben Munitionskisten; die Soldaten sahen müde aus, voller Staub, sie sitzen neben den Gewehren, die Hände zum Schießen bereit. Vor Brachs Geschäft Maschinengewehre, auf einem Stuhl sitzt ein Oberleutnant mit Helm. Alles steht unter Spannung … Sollte sich nur eine Kleinigkeit ereignen, dann würden die Maschinengewehre mit Geknatter losgehen.3

In den Nachmittagsstunden kamen auch Panzer und deutsche Streifen auf Motorrädern in die Stadt. „Germans tanks started to come by the hundreds, motorcycles were going through town“, so blieb Israel Baicher, einem jüdischen Tarnowianer, der Tag im Gedächtnis.4 Dr. Goldfein, ein Tarnower Arzt, legte fälschlicherweise, aber symbolisch vielsagend, den Tag des Einmarsches deutscher Truppen auf den Vorabend des Yom Kippur, dem Tag des Gerichts, wie er selbst betonte, der im Jahr 1939 auf den 22. September fiel.5 In seinen Erinnerungen schilderte er: 1 Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 72. 2 Die polnischen Armeeeinheiten hatten sich aus der Stadt zurückzogen, heftige Kämpfe fanden in kleineren Ortschaften der Region und weiter östlich statt. Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 71–88. 3 Bochenek: Na Posterunku, S. 11–12. 4 Baicher, Israel: Interview 16493, 25.06.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 5 R.  Goldfein: „Rozbitek“: Dzieje Wojenne lekarza, unveröffentlichtes „Tagebuch“, YVA O.33/195. Es ist unwahrscheinlich, dass es sich hierbei tatsächlich um ein zeitgenössisches

© Brill Schöningh, 2022 | doi:10.30965/9783657760091_007

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kapitel 5 Über das Verhältnis der deutschen Wehrmacht gegenüber der Zivilbevölkerung, und im Besonderen gegenüber Juden, und über das Verhalten der Armee hörte man entsetzliche Sachen. Mir fiel es schwer, den Gerüchten Glauben zu schenken, da ich in Wien Medizin studiert hatte und auch Feldarzt in der öster­ reichischen Armee während des Ersten Weltkrieges gewesen war. Ich lebte mit den österreichischen Deutschen gut zusammen und achtete die Deutschen allgemein als Kulturvolk. Wie schnell und unerbittlich wurde ich von ihnen enttäuscht.6

Am  21. September  1939 erreichte Ernst Schnelle aus Detmold mit einer Kompanie der Landesschützen die ihm bis dahin völlig unbekannte Stadt Tarnów.7 Der erste Eindruck von Tarnów, den er im Kompanietagebuch fest­ hielt, war unaufgeregt und nicht vielsagend: „Der Bahnhof hat stark gelitten, mit dem Wiederaufbau ist schon begonnen, man sieht polnische Gefangene, die mit zu den Arbeiten herangezogen werden.“8 Die Landesschützen stationierten vornehmlich in kleineren Ortschaften rund um Tarnów, in den ersten Wochen beschäftigten sie Themen, die um ihre eigene Situation kreisten wie Post aus der Heimat, Kameradschaft oder Urlaub. Tarnów nahmen sie als – zuweilen etwas enttäuschende – Großstadt wahr, in der sie Kino oder Theater besuchen konnten. „Am Freitag, den 1.12., fährt die Komp. nach Tarnow zum Baden. Am Nachmittag geht es ins Kino (Westwall) und um 5 Uhr wird noch das Theater besucht. – Im Übrigen ereignet sich nichts Besonderes.“ Der Krieg und der bereits zu dieser Zeit einsetzende Terror gegen die Lokalbevölkerung spiegelten sich nicht im Kompanietagebuch wider. Vielsagender als die Worte waren Ernst Schnelles Fotografien, in denen er den Alltag in Tarnów in den ersten Wochen der Besatzung festhielt. Drei Fotografien zeigen eine Markt­ situation vor der Neuen Synagoge und vor der Mikwe, dem jüdischen rituellen Badehaus, vermutlich im Oktober 1939. Auf ihnen sind Jüdinnen und Juden, deutsche Soldaten und nichtjüdische Polinnen und Polen zu sehen.9

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8 9

Tagebuch handelt. Vermutlich wurde es erst nach dem Krieg niedergeschrieben, möglicher­ weise anhand eines bestehenden (vielleicht verloren gegangenen) Tagebuches. Augenzeuge R. Goldfein: „Rozbitek“: Dzieje Wojenne lekarza, unveröffentlichtes „Tagebuch“, YVA O.33/195. Die Landesschützen-Kompanien bestanden meist aus älteren Männern, die eingezogen wurden, um Sicherungsaufgaben hinter der Front zu übernehmen. Vgl. Beschreibung des Kompanietagebuchs von Andreas Ruppert, Stadtarchiv Detmold, Nachlass Ernst Schnelle, DT N9 Nr. 75. Kompanietagebuch der Landesschützen, Stadtarchiv Detmold, Nachlass Ernst Schnelle, DT N9 Nr. 75. Ich danke Andreas Ruppert für den Hinweis auf das Tagebuch und für die Kopien der Fotografien. Foto: Ernst Schnelle, Stadtarchiv Detmold, Nachlass Ernst Schnelle, DT N9 Nr. 75.

Kriegsbeginn und erste Phase der Verfolgung

Abbildung 28 Marktsituation, 1939. Jüdische und nichtjüdische Bevölkerung sowie die deutschen Besatzer. Im Hintergrund die neue Synagoge

Abbildung 29 Marktsituation 1939, im Hintergrund die Mikwe

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kapitel 5

Abbildung 30 Marktsituation 1939, im Hintergrund die Mikwe

Die hier zitierten Stimmen und Fotographien der Zeitzeugen verweisen auf die unterschiedlichen Akteursgruppen, die seit Anbruch des Krieges im urbanen Raum aufeinandertrafen: die deutschen Besatzer sowie die Lokalbevölkerung, von Beginn an in Besetzte unterschiedlicher Kategorien geteilt – einerseits die Jüdinnen und Juden, die auf den Fotografien bereits die Kennzeichnung mit dem Davidstern tragen müssen, und andererseits die nichtjüdischen Polinnen und Polen. Die nach rassistischen Kategorien hierarchisierte Lokalbevölkerung musste in der ihr oktroyierten neuen sozialen Ordnung agieren. Das Konzept des dynamischen, vom asymmetrischen Machtgefälle und Terror geprägten Kräftefeldes wird uns im Folgenden helfen, die Akteursgruppen in Tarnów zu situieren sowie ihre Beziehung zueinander während der ersten Phase des Krieges zu beschreiben. 5.1

Die Präsenz der deutschen Besatzer in der Stadt

Am 25. September stellte Hitler das besetzte Polen unter Militärverwaltung, die in Militärbezirke aufgeteilt war. Seither wurden alle polnischen Selbstver­ waltungsorgane offiziell aufgelöst. Nach einer kurzen Phase der militärischen Verwaltung wurde am 26.  Oktober 1939 das „Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete“ proklamiert, das in vier Distrikte unterteilt war.

Kriegsbeginn und erste Phase der Verfolgung

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Tarnów befand sich im Distrikt Krakau. Dem Generalgouverneur Hans Frank (1900–1946) unterstanden die Gouverneure der einzelnen Distrikte, auf der Verwaltungsebene darunter waren diesen die Kreis- und Stadthauptmänner unterstellt.10 Zur Kreishauptmannschaft Tarnów gehörten die Landkreise Tarnów, Brzesko, Dąbrowa Tarnowska und der Stadtkreis Tarnów selbst.11 Der deutsche Besatzungsapparat stützte seine Herrschaft über die polni­ schen Gebiete auf drei Säulen: 1) die Zivilverwaltung, 2) den SS- und Polizei­ apparat sowie 3) die Wehrmacht, die jedoch zunehmend im Fronthinterland, also im Generalgouvernement, ihre Machtstellung einbüßte.12 An oberster Stelle der Zivilverwaltung in Tarnów stand anfangs Erich Kundt (1897–1947). Dieser war zunächst Stadtkommissar, wurde ab Januar 1940 Kreishauptmann und war damit Chef der zivilen Verwaltung in der Kreishauptmannschaft Tarnów.13 Diese setzte sich aus diversen Ressorts zusammen, die im Verlauf des Krieges erweitert wurden, wie innere Verwaltung, Wirtschaft (samt Treuhandwesen), Ernährung und Landwirtschaft, Schulamt, Referat für Jugend. Der Zivilver­ waltung unterstand zudem der aus Volksdeutschen rekrutierte Sonderdienst sowie der aus ethnischen Polen rekrutierte Baudienst.14 Für „ordnungspolizei­ liche“ Aufgaben unterstand dem Kreishauptmann die deutsche Schutzpolizei (seit Oktober 1939 in Tarnów stationiert).15 Die Schutzpolizei übernahm Aufgaben in der Stadt und wurde auch häufig als „Stadtpolizei“ bezeichnet, sie hatte eine Stärke von rund 20  Mann.16 Ihr unterstand auch die polnische, sogenannte Blaue Polizei mit einer Stärke von 74 Mann.17 Daneben verfügte der Kreishauptmann über die deutsche Gendarmerie.18 Letztere übernahm Auf­ gaben auf dem Land, also außerhalb des städtischen Raums Tarnów. Der zivile 10 11 12 13

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Zu Machtbefugnissen und Personalien im Distrikt Krakau siehe detaillierter Hembera: Die Shoah, S. 43–47. Ebd., S. 41. Zu den Aufgaben der Kreishauptmänner siehe ebd., S. 46. Ebd., S. 41. Ernst Kundt war von Januar bis August  1940 Kreishauptmann, ihm folgte Ludwig Stitzinger; ab Januar 1942 bis Kriegsende wurde der ehemalige Landrat Alfred Kipke zum Kreishauptmann, sein Stellvertreter war Karl Pernutz. Die Stadtkommissariate waren wie folgt besetzt: ab Januar bis Oktober 1940 von Reinhold Eckert, ab Oktober 1940 bis 1942 von Reinhold Hein und zwischen 1942 bis 1945 von Gustav Hackbarth, siehe Hembera: Die Shoah, S. 52–53. Zum Baudienst vgl. Kapitel 8 „Polen in Uniform: der polnische Baudienst und die Blaue Polizei“; dem Sonderdienst stand von 1940 bis Kriegsende Julius Strauß vor; vgl. Urteils­ begründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777, S. 38. Hembera: Die Shoah, S. 56. Urteilsbegründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777, S. 38. Siehe auch Kapitel 8 „Polen in Uniform: der polnische Baudienst und die Blaue Polizei“. Hembera: Die Shoah, S. 54.

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kapitel 5

Verwaltungsapparat sei, so Bogdan Musiał, eine „Mischform der ‚Regierungs­ verwaltung‘ und einer ‚Kolonialverwaltung‘“ gewesen.19 Die Kreishauptleute seien das „Rückgrat der deutschen Zivilverwaltung“ und die „Vollstrecker der deutschen Besatzungspolitik vor Ort“ gewesen.20 In seiner umfangreichen Studie zu den Kreishauptmännern im Generalgouvernement kam Markus Roth zum Urteil, dass die Kreishauptleute von Hans Frank einen „fast grenzen­ losen Freiraum“ eingeräumt bekamen, den sie „vom ersten Tag an nach Gusto, Temperament und lokalen Gegebenheiten nutzten“ und deswegen nicht nur als Vollstrecker oder Transmissionsriemen der Befehle von oben anzusehen sind, sondern sie wurden selbst zu Motoren der Besatzungsherrschaft.21 Der zweite Pfeiler der Macht und Repression in Tarnów war der Polizei­ apparat. Die Sicherheitspolizei unterteilte sich in Gestapo, Sicherheitsdienst (SD) und Kripo. Die „Außenstelle Tarnóws des Kommandeurs der Sicher­ heitspolizei und des SD Krakau“ wurde im September  1939 eingerichtet und ging aus einem Einsatzkommando hervor  – wie bei der Schaffung von Gestapo-Dienststellen im Generalgouvernement üblich.22 Die Zahl der Dienststellenangehörigen schwankte zwischen 20 und 30 Personen, mit­ eingerechnet waren hierbei Kraftfahrer, Schreibkräfte etc.23 Die Dienststelle unterstand dem Kommandeur der Sicherheitspolizei und des Sicherheits­ dienstes in Krakau und zugleich dem SS- und Polizeiführer von Krakau.24 Zunächst gab es keine Referate, sodass die Aufgaben vom Dienststellenleiter je nach Verfügbarkeit auf die einzelnen SiPo-Männer verteilt wurden. Zu den Aufgaben der Sicherheitspolizei gehörten die Bekämpfung des polnischen Widerstands, „Sabotageabwehr“, Festnahme von Personen, die die deutsche „Sicherheit“ gefährdeten und die Festsetzung politischer Gefangener.25 Ab Mai 1942, also mit dem Beginn der „Aktion Reinhardt“, ging die Zuständigkeit aller sogenannten Judenangelegenheiten von der Zivilverwaltung auf die Sicher­ heitspolizei über – es wurde hier eigens dafür ein zuständiges „Judenreferat“

19 20 21 22 23 24 25

Musiał: Deutsche Zivilverwaltung, S. 23; Hembera: Die Shoah, S. 41 ff. Musiał: Deutsche Zivilverwaltung, S. 24. Roth: Herrenmenschen, S. 426. Urteilsbegründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777, S. 40. Zum Personal der Sicherheitspolizei in Tarnów siehe Hembera: Die Shoah, S. 57–61. Urteilsbegründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777, S. 41. Ebd. Ebd., S. 42.

Kriegsbeginn und erste Phase der Verfolgung

287

eingerichtet, das Wilhelm Rommelmann übernahm. Er ist 1942 zu diesem Zweck nach Tarnów gekommen. Die Tätigkeit der Sicherheitspolizei in Tarnów, so das Urteil in einem Nachkriegsprozess, war geprägt durch eine „Mischung aus übersteigertem Selbstwertgefühl, grenzenloser Menschenverachtung und wahnhaftem Rassenhaß“.26 Der Sicherheitspolizei-Außendienststelle Tarnów war außerdem die Kriminalpolizei, die am Plac Kazimierza ihren Sitz hatte, angegliedert. Sie unterstand direkt dem Kommandeur der Sicherheitspolizei und des Sicher­ heitsdienstes in Krakau. Der Leiter und sein Stellvertreter waren Deutsche, während die übrigen Beamten nichtjüdische Polen waren.27 Die polnischen Kriminalbeamten der Vorkriegszeit wurden aus der polnischen Polizei aus­ gegliedert und der deutschen Kripo als „Polnische Kriminalpolizei“ unterstellt, damit waren sie formal der Sicherheitspolizei untergeordnet.28 Es gab auch eine Militärverwaltung im Distrikt Krakau, die sich ab Oktober 1939 aus mehreren Oberfeldkommandanturen zusammensetzte, unter anderem einer in Tarnów, der die umliegenden Kreise unterstanden. Sie bestand aus den Feldkommandanturen 570 und 647.29 Die Oberfeldkommandantur war in Mościce stationiert.30 Wie oben erwähnt, spielte die Wehrmacht im Folgenden keine zentrale Rolle in Tarnów. Kreishauptmannschaft und Sicherheitspolizei waren die zentralen Machtstellen auf Lokalebene. Die Absteckung der Machtkompetenzen unterschiedlicher NS-Organe, deren Konkurrenz zueinander und divergierende Agenden wurden viel­ fach beforscht und als Erklärungsansatz für die kumulative Radikalisierung genutzt.31 Besonders die Konkurrenzsituation zwischen Zivilverwaltung und dem Polizeiapparat im Generalgouvernement, welche auf der Ebene von Generalgouverneur Hans Frank und dem Höheren SS- und Polizeiführer Friedrich-Wilhelm Krüger sichtbar wurde, hatte sich bis in die Lokalebenen ausgeweitet. Dies sollte sich auch auf die Politik vor Ort im Einzelnen aus­ wirken und das Leben der Lokalgesellschaften prägen.

26 27 28 29 30 31

Ebd., S. 43. Ebd. Grabowski: Na posterunku, S.  42–43. Zur Rolle der polnischen Kriminalpolizei in der Shoah, Ebd., S. 294–351. Hembera: Die Shoah, S. 61–62. Pietrzyk: W latach drugiej wojny, S. 30–31. Mommsen: Der Nationalsozialismus, S. 785–791.

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kapitel 5

5.2 Fluchtwellen „Eine allgemeine Fluchtpsychose breitete sich in der Stadt aus“, erinnerte sich der Priester Bochenek.32 In den ersten Tagen und Wochen des Krieges spannten jüdische und nichtjüdische Menschen Karren ein oder gingen zu Fuß Richtung Osten. Im Besonderen verließen junge jüdische Männer die Stadt, da sie befürchteten, die ersten Opfer der Deutschen zu werden. Jüdische Frauen und Kinder sowie ältere Menschen würden  – so vermuteten sie damals – verschont bleiben. Viele kehrten nach einigen Tagen, als der Krieg sie an einem anderen Ort erreicht hatte, zu ihren Familien zurück. Andere wurden von der Besetzung des östlichen Polens durch die Sowjetunion, die am 17.  September  1939 begann, überrascht und kehrten um. Anderen gelang es, über die neue Grenze am San zu fliehen. Manche kamen aus den sowjetisch besetzten Gebieten wieder nach Hause zurück, während andere erst nach dem Einmarsch der Deutschen 1941 in diese Gebiete nach Tarnów zurückkehrten. „Alle zogen Richtung Osten“, erinnerte sich Priester Bochenek, „einige kamen schon einige Kilometer hinter Tarnów zur Besinnung und kehrten um, als die deutschen Divisionen sie erreichten, andere gingen nach Mielec, Jarosław, andere schafften es bis nach Lwów oder gar noch weiter, nach Brody oder Stanisławów.“33 Häufig spielte das Alter bei der Entscheidung zur Flucht eine Rolle. Die Söhne verließen Tarnów, während die ältere Generation daheimblieb.34 Der Arzt Szymon Schönfeld weigerte sich zu fliehen. Er kenne die Deutschen noch aus dem Ersten Weltkrieg, erklärte er und befand, er hätte nichts zu befürchten. Er und seine Frau wurden während einer der „Aussiedlungsaktionen“ 1942 ermordet. Sein Sohn floh nach Lwów. Nach dem Einmarsch der Deutschen in die Stadt ging er nach Warschau und überlebte schließlich mit „arischen“ Papieren auf den Namen Ludwik Garmada.35 Auch Naftali Fuss und sein Bruder flohen, während die Eltern ihres Alters wegen zunächst zurückblieben. In diesem Fall argumentierte der Vater ähnlich, dass er die Deutschen aus dem Ersten Welt­ krieg kenne.36 Immerhin gehörte Tarnów zum ehemaligen Galizien und war Teil der k. u. k. Monarchie gewesen, viele der älteren Männer hatten im Ersten 32 33 34 35 36

Bochenek: Na posterunku, S. 7. Ebd., S. 8. So beispielsweise auch bei Józef Mansdorf AŻIH 301/570; Berkelhammer, Harry: Interview 14300, 16.04.1996, Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 14.03.2021). Garmada, Ludwik: Interview 7329, 05.12.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 10.03.2021). Fuss: Als ein anderer leben, S. 18. Später wird die gesamte Familie nach Lwów gehen, aber nur Naftali Fuss wird den Krieg überleben.

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Weltkrieg in der österreichischen Armee gedient. Insbesondere Ärzte wie Schönfeld oder Goldfein betonten, dass sie „die Deutschen“ bereits aus dem Krieg kannten. Wieder andere wie Cesia Honig flohen als ganze Familie. Die Honigs kamen bis nach Stanisławów und blieben bis 1941 in Brzezany. Nach dem Angriff der Deutschen auf die Sowjetunion 1941 und als sie sich erneut unter deutscher Besatzung befanden, kehrten die Honigs nach Tarnów zurück und die junge Frau begann bei Władysław Ł. zu arbeiten.37 Ein Teil der alten Stadträte floh ebenfalls, besonders jüdische Sozialisten sahen sich der Gefahr einer Verhaftung und Verfolgung ausgesetzt. Adam Ciołkosz floh mit seiner Frau Lidia (PPS-Stadträtin von 1933–1939 und jüdischer Abstammung) sowie dem gemeinsamen Sohn über Vilnius nach London. Dort wurde Ciołkosz zu einer der wichtigsten Figuren der Exil­ regierung und der Exil-PPS. David Batist (Bund) floh 1939 in die Sowjetunion und wurde nach einem illegalen Grenzübertritt in Przemyśl vom NKVD ver­ haftet, später in ein Lager im Norden in der Republik Komi gesperrt und 1941, geschwächt und krank, dank der Amnestie freigelassen. Er verstarb am 8. März 1942 in der Sowjetunion an Typhus.38 Edward Skwirut, Stadtrat für die PPS, floh 1939 zusammen mit Batist Richtung Przemyśl. Dort wurde er zusammen mit Batist verhaftet. Seine Spur verlor sich danach, den Krieg überlebte er nicht.39 Aron Sporn (Bund) floh in den ersten Kriegstagen nach Osten und überlebte den Krieg in der Sowjetunion.40 Maurycy Hutter (PPS) floh nach Lwów. Nachdem die Deutschen 1941 die Stadt besetzt hatten, musste er sich als Jude verstecken. Sein Versteck wurde vermutlich durch einen Kurier verraten, der ihm eine Nachricht von Adam Ciołkosz überbringen sollte.41 In Tarnów kamen wiederum Flüchtlinge an, die durch die Stadt nach Osten zogen. In den Herbst- und Wintermonaten 1939/1940 kamen zusätzlich Menschen aus jenen Westgebieten der nun zerschlagenen Zweiten Polnischen Republik, die im November 1939 als Reichsgau Westpreußen (später DanzigWestpreußen) und Posen (später Warthegau) ins „Reich“ einverleibt wurden.42 Bis zum 26.  Oktober 1939 wurden 35  000 Personen aus diesen Gebieten vertrieben, und allein vom 1. bis 17.  Dezember 1939 fast 90  000 Personen. Schätzungsweise wurden in den Jahren 1939 bis ca.  März 1941 insgesamt 37 38 39 40 41 42

Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). Aleksandrovitsch: David Batist, S. 210–212. Sporn: Der algemeyner yidisher arbeyter-bund, S. 664; Friszke: Adam Ciołkosz, S. 104. Sporn: Der algemeyner yidisher arbeyter-bund, S. 667; einige Postkarten von Aron Sporn aus der Sowjetunion an seine Tarnower Bundgenossen sind erhalten, siehe YVA O.75/1977 Postcard collection Isaak Topfer. Chomet: Maurycy Huter, S. 788. Longerich: Politik der Vernichtung, S. 250.

290

kapitel 5

Abbildung 31

Flüchtlinge in Tarnów

450  000 bis 460  000 Personen aus den ins Reich einverleibten Gebieten umgesiedelt.43 Die Familie Mikowski, bei der sich die oben genannte Cesia Honig später versteckte, kam im Zuge der Vertreibungen und Umsiedlungen aus Toruń nach Tarnów. Da Generalgouverneur Hans Frank in „seinem“ Krakau keine Jüdinnen und Juden duldete, wurden diese sukzessive aus Krakau vertrieben. Von den rund 65  000 sollten lediglich 5000 bis maximal 10  000 in der Stadt bleiben dürfen.44 Obwohl das erklärte Ziel in den Jahren 1940/1941 nicht verwirk­ licht wurde, begannen die deutschen Behörden ab Mai 1940 damit, Jüdinnen und Juden zur „freiwilligen“ Umsiedlung zu bewegen. Bis Juli 1940 verließen rund 8000 jüdische Personen Krakau.45 Bis August  1940 kamen bis zu 4000 Krakauer Jüdinnen und Juden nach Tarnów.46 Im September  1940 zählte Tarnóws Bevölkerung insgesamt 6000 jüdische Flüchtlinge.47 Im November und Dezember 1940 begannen in Krakau erneut Vertreibungen von Jüdinnen und Juden, allein im Dezember mussten 20 000 die Stadt verlassen.48 Wie viele 43 44 45 46 47 48

Sienkiewicz/Hryciuk (Hg.): Zwangsumsiedlung, S. 64–66. Löw/Roth: Juden in Krakau, S. 33. Ebd., S. 34. Urteilsbegründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777. Brief des Judenrats an den Stadtkommissar  19.09.1940, AŻIH 211 ŻSS/1018. Korespon­ dencja Prezydium ŻSS z Radą Tarnowską w Tarnowie (1940). Löw/Roth: Juden in Krakau, S. 42.

Kriegsbeginn und erste Phase der Verfolgung

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von ihnen in das 80 km entfernt liegende Tarnów kamen, ist nicht bekannt. Ein weiterer Schub jüdischer Flüchtlinge aus Krakau ereignete sich kurz vor der Schließung des Ghettos in Podgórze, einem Krakauer Stadtteil, im März 1941.49 Die Tarnower Bevölkerung fluktuierte also zu Beginn des Krieges stark – Menschen flüchteten, einige kehrten zurück, Flüchtlinge kamen in Tarnów an. In den Jahren 1940/1941 gab es weiterhin Fluchtwellen. Diese Bewegungen von Menschen hatten zur Folge, dass die Bevölkerungszahlen in der Tarnower Region im Vergleich zur Vorkriegszeit anstiegen, was zur Lebensmittelknapp­ heit beitrug.50 5.3

Die alten Eliten und die Enthauptung der Stadt

Der bis 1939 amtierende Bürgermeister Mieczysław Brodziński floh in den ersten Kriegstagen.51 Damit war der höchste Repräsentant der polnischen weltlichen Macht nicht mehr vor Ort. Auch viele Stadträte waren geflohen. Um eine Repräsentation der Lokalbevölkerung gegenüber den deutschen Besatzern zu gewährleisten, formierte sich eine selbsternannte provisorische Stadtverwaltung. Ihr saß der ehemalige Bürgermeister Tarnóws Dr.  Julian Kryplewski (Amtsjahre 1926–1932) vor.52 Die Mitglieder waren ausnahmslos nichtjüdische, zumeist bürgerliche Polen, auch Geistliche, ehemalige SanacjaAnhänger bzw. PZCh-Räte.53 Diese polnische Stadtverwaltung besaß jedoch faktisch keine politische Macht. Für die Durchherrschung der besetzten Gebiete setzte die deutsche Zivil­ verwaltung zunächst auf Einheimische, die sich vor Ort auskannten. Die deutschen Landräte rekurrierten im Besonderen auf „Volksdeutsche“ für den Verwaltungsaufbau auf Lokalebene.54 Im Bericht des Landrats für Tarnów und 49 50 51 52

53

54

Urteilsbegründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777. Pietrzyk: W latach drugiej wojny, S. 24. Hinweis darauf in Faltyn-Pokrywka: Kryplewski, S. 220–221. Julian Kryplewski (1877–1949) war von 1926 bis 1932 Bürgermeister Tarnóws (mit Unter­ brechung) gewesen und führte seither den städtischen BBWR an. Kryplewski studierte Jura an der Jagiellonen-Universität in Kraków und war als Rechtsanwalt tätig. Er über­ lebte den Krieg. Faltyn-Pokrywka: Kryplewski, S. 220–221. Unter ihnen waren Stanisław Komusiński (seit 1930 im Stadtrat, zunächst im Sanacja-Lager, dann aus der PZCh-Liste), Edward Okoń, Architekt, er baute u. a. das Kino „Marzenie“ in Tarnów und saß seit 1929 im Tarnower Stadtrat. Auch er war Sanacja-Anhänger gewesen. Geistliche waren darunter wie Jan Bochenek (ebenfalls Stadtrat aus der PZCh-Liste) oder Józef Lubelski, seit 1918 im Stadtrat aktiv und seit 1919 Sejm-Abgeordneter. Hembera: Die Shoah, S. 38; zur Improvisation der Landräte beim Aufbau der Verwaltung im besetzten Polen siehe auch Seidel: Deutsche Besatzungspolitik, S. 25.

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kapitel 5

Dąbrowa, Dr. Walter Becht, an den Chef der Zivilverwaltung in Krakau vom September 1939 ist zu lesen: Die gemeindliche Selbstverwaltung habe ich in ihren wichtigsten Teilen wieder in Gang gebracht. Das Amt des Stadtpräsidenten in Tarnów verwaltet vorläufig der Rechtsanwalt Dr.  Julian Kryplewski. Er ist früher österreichischer Haupt­ mann der Reserve gewesen und durchaus bestrebt, den Anordnungen der Zivilund Militärverwaltung in jeder Weise gerecht zu werden. Ein Volksdeutscher, der für diesen Posten geeignet wäre, steht in Tarnów vorläufig noch nicht zur Verfügung.55

Zugleich markierten die Besatzer aber unmissverständlich und mit Brutali­ tät, wer nun das Sagen hatte. Noch in den ersten Tagen setzten die deutschen Militärs die polnische provisorische Stadtverwaltung als Geiseln fest. Plakate wurden vorbereitet, die ankündigten, dass die Geiseln erschossen würden, sollten Deutsche angegriffen werden.56 Bald wurden sie jedoch freigelassen. Die provisorische polnische Stadtverwaltung existierte zwar noch zwischen dem 9. und 25. September 1939, also in der ersten Zeit der militärischen Ver­ waltung, hatte aber vor allem die Anordnungen der Besatzer durchzusetzen. Am 25. Oktober 1939 erging dann ein Rundschreiben an alle Land- und Stadt­ kommissare über die Wiederbeschäftigung polnischer Beamter in unteren Verwaltungsbehörden, aber auch als Bürgermeister, Vögte und Schultheiße. Es war verboten, alle polnischen Beamten wiederanzustellen, lediglich sollte eine „unbedingt notwendige Anzahl von Beamten“ wiederbeschäftigt werden.57 In Tarnów wurde nach dem Rundschreiben das Amt eines polnischen Bürger­ meisters bzw. Stadtpräsidenten nicht wieder geschaffen, auf unteren Ver­ waltungsbehörden wurden dagegen ethnische Polen wiederbeschäftigt. Viele der in der Stadt verbliebenen ehemaligen nichtjüdischen Stadträte und die alten Stadteliten organisierten sich im Untergrund. Es bildeten sich widerständige Gruppen rund um Führungspersönlichkeiten der Vorkriegszeit. Sie waren nach politischen Parteien zersplittert und wiesen zunächst nur einen geringen Organisationsgrad auf. Die Organisation Weißer Adler (Organizacja Orła Białego – OOB) wurde federführend von einem langjährigen Stadtrat und Militär Maksymilian Hoborski (1880–1942) gegründet. Er war Stellvertreter des 55 56

57

Zit. nach Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 86. Bochenek: Na posterunku, S. 12–15; Als tatsächlich die ersten Schüsse von polnischer Seite fielen, warteten die Geiseln in Todesangst auf ihre Exekution. Die deutschen Besatzer erschossen das Brüderpaar Chrząszcz, das sie bezichtigten, geschossen zu haben. Sie waren die ersten zivilen Opfer in Tarnów. Schreiben des Verwaltungschefs beim Militärbefehlshaber Krakau an sämtliche Landund Stadtkommissare, 25.10.1939, ANKr. Odd. T. ZMTo5, S. 93.

Kriegsbeginn und erste Phase der Verfolgung

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Tarnower Vizebürgermeisters Hermann Mütz, Teil der provisorischen Stadt­ verwaltung (1930–1933) und seit 1934 für die BBWR-Liste im Stadtrat, ab 1939 dann für die PZCh.58 Er saß auch im Herausgebergremium der PZCh-nahen Ziemia Tarnowska, in welcher 1939 für die Verteidigung des „polnischen und katholischen Charakters“ Tarnóws geworben wurde.59 Mit Hoborski organisierte Gabriel Dubiel (auch ehemaliges BBWR- und PZCh-Mitglied) die Untergrundorganisation, die sich schließlich dem ZWZ (Związek Walki Zbrojnej/Verband für den bewaffneten Kampf), ab 1942 AK (Armia Krajowa/ Heimatarmee), anschloss. Von Beginn an gab es Versuche, unterschiedliche Gruppen unter Führung des ZWZ zusammenzuschließen. Kasper Ciołkosz hatte dies zunächst (Spätherbst 1939) für die PPS-nahen Gruppierungen abgelehnt.60 Angesichts dessen, dass der Kern der OOB sich aus dem rechten Sanacja-Flügel entwickelt hatte und nur wenige Monate vergangen waren, seit die PZCh in den Lokalwahlen 1939 ihr nationalistisches „polnisches Antlitz“ gezeigt hatte, war die Skepsis Ciołkoszs kaum verwunderlich. Die PPS hatte eigene Untergrundgruppierungen gegründet, rekrutierte vor allem Arbeitende aus den Bahnwerken und der Fabrik in Mościce. Viele von ihnen waren bereits vor dem Krieg Aktivisten der PPS, so Maciej Bandura (ehemaliger PPS-Stadtrat in den Jahren 1935–1939), Tomasz Jędrzykiewicz (auch er hielt ab 1934 ein Mandat im Stadtrat Tarnóws) oder Gabriel Dusza (von den Eisenbahnwerken, ab 1937 Vorsitzender der Kreiskomitees der PPS) und andere. Die in Tarnów Verbliebenen setzten zunächst nicht auf eine lokale Einheit unterschied­ licher Untergrundorganisationen, sondern auf interstädtische PPS-Kontakte. Sie hielten mit der PPS im Untergrund von Krakau enge Verbindungen, unter anderem mit Józef Cyrankiewicz (1911–1989), dem aus Tarnów stammenden späteren Ministerpräsidenten Polens der Jahre 1947–1952.61 Die Tarnower SN hatte sich innerhalb eigener Kreise und vor allem durch Jungendbewegungen organisiert und ist bis zum Kriegsende nicht in die ZWZ bzw. AK eingetreten, da ihnen diese zu Sanacja-nah erschienen.62 Feder­ führend war hier Józef Manaczyński, lokaler leader der SN und 1939 in den Stadtrat gewählt. Die im Umland starke Stronnictwo Ludowe (SL – Bauern­ partei) hatte einen schwierigen Start, da deren Anführer auf Landesebene, 58 59 60 61 62

Potępa: Tarnów międzywojenny, S.  80, 108; Archiv des Kreismuseums Tarnów, Rada Miejska MTH  843; Bekanntmachung der Wahlergebnisse am 27.06.1939, ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT 18. Vgl. Pietrzykowa: Region tarnowski, S.  57; Polskie zjednoczenie chrześcijańskie do polskich katolickich wyborców. In: Ziemia Tarnowska, 11.02.1939, S. 1–2. Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 127–128. Ebd., S. 219. Ebd., S. 316–317.

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kapitel 5

Wincety Witos, der aus Wierzchosławice, einem Ort in der Nähe Tarnóws, stammte, bereits zu Beginn der Besatzung verhaftet wurde.63 Einige polnische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadtverwaltung hatten sich an den widerständigen Tätigkeiten beteiligt, unter ihnen Tadeusz Kołodziej, ehemaliges BBWR-Mitglied und ab 1934 bis 1939 erster Vize­ präsident Tarnóws (zu einer Zeit als Zygmunt Silbiger der zweite Vizepräsident war). Sie gaben Informationen heraus, beschafften aber auch falsche Papiere für Menschen, die von den deutschen Behörden gesucht wurden (Politiker, Offiziere etc.) Für diese organisierten sie Fluchtmöglichkeiten aus dem Generalgouvernement nach Ungarn.64 Die noch losen Gruppierungen, die sich erst zu formen begannen, waren größtenteils von den parteiideologischen Grabenkämpfen der Vorkriegs­ zeit geprägt und von den jeweiligen Führungspersönlichkeiten geleitet. Über Kontakte mit jüdischen Gruppierungen oder Führungspersönlichkeiten aus dieser Zeit ist nichts bekannt. Der lokale Untergrund wurde aber jäh zer­ schlagen, als die deutschen Besatzer ab Mai 1940 die Eliten der Stadt ver­ hafteten und ins KZ Auschwitz deportierten. Die deutsche Terrorherrschaft richtete sich in gezielten Aktionen gegen die polnischen geistigen Eliten. Im Mai 1940 rief Hans Frank die „Außerordentliche Befriedungsaktion – AB-Aktion“ aus, die sich gegen die Intelligenz richtete und im gesamten Generalgouvernement rund 6500 Opfer einforderte.65 In Tarnów begann die AB-Aktion vermutlich am 3. Mai 1940, einem polnischen National­ feiertag. An diesem und in den Folgetagen wurden insgesamt 753 Männer, die der Elite der Stadt angehörten, festgenommen: Lehrer, Anwälte, Lokalpolitiker, Geistliche, sehr viele Gymnasialschüler, Pfadfinder und Intellektuelle. Die meisten waren polnische Nichtjuden, aber auch einige Juden waren dabei. Zunächst waren die Festgenommenen der AB-Aktion im Tarnower Gefäng­ nis gequält worden, dann brachte man die Männer in dem großen Gebäude der Mikwe unter, von dort aus ging am 14.  Juni 1940 der Transport in KZ Auschwitz. Es war der erste Transport aus dem Generalgouvernement in das Konzentrationslager Auschwitz. Von den 753 Männern überlebten 200.66 63 64 65

66

Ebd., S. 340 ff. Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 220–231. Zimmerman: The Polish Underground, S.  47–48. Anhand der Schätzwerte in der Sekundärliteratur kann davon ausgegangen werden, dass insgesamt ca. 43 000 ethnische Polen und 7000 polnische Juden bis Ende Dezember 1939 exekutiert wurden – dies zeigt das Ausmaß der Vernichtungswillens der Deutschen gegenüber polnischen Eliten. Pietrzykowa: Region tarnowski, S.  176; zum Mahnmal und der lokalen Erinnerung an diesen Transport sowie zur Christianisierung der jüdischen Leiderfahrung siehe Bartosz: What Happened to Tarnów’s Jews?, S. 421–422.

Kriegsbeginn und erste Phase der Verfolgung

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Abbildung 32 Erste Deportation ins KZ Auschwitz aus Tarnów, Wallstraße, Juni 1940

Im Rahmen der AB-Aktion wurden ganz unterschiedliche Menschen verhaftet, die zu den Eliten bzw. der Intelligenz gezählt werden können. Ihre Vorkriegs­ gesinnung war nicht ausschlaggebend: Juden, Antisemiten, stramme EndecjaAnhänger sowie PPS-ler, sie alle gehörten zu den Opfern der AB-Aktion. Unter den Verhafteten waren: Maksymilian Rosenbusch, Direktor der Schule Safa Berura, der jüdische Rechtsanwalt Emil Wider und der promovierte Geo­ grafielehrer Zdzisław Simche, der mehrere Bücher über Tarnów verfasst hatte und an allen drei Gymnasien Tarnóws Erdkunde lehrte.67 Letzterer stammte aus einer jüdischen Familie, hatte sich aber bereits 1922 taufen lassen.68 Alle kamen im KZ Auschwitz um. Unter den Inhaftierten und in das KZ Auschwitz Deportierten war beispielsweise auch der antisemitische Publizist der Nasza Sprawa und Polnischlehrer an zwei Tarnower Gymnasien Maciej Suwada.69 Verhaftet wurde auch der Anwalt Mieczysław Rozwadowski, der vor dem Krieg gemeinsam mit dem bundischen Stadtratsabgeordneten Leon Mütz eine Anwaltskanzlei betrieben hatte und ab 1939 am polnischen Untergrund

67 68 69

Bericht Zewijach Rosenbusch, AŻIH 301/1208; Bericht Lila Wider, AŻIH 301/20153; Bericht Lila Wider, YVA O3.3516; Prozess gegen Walter Baach und Ernst Wunder, YVA Tr. 10/751; Księga Pamięci. Transporty do KL Auschwitz, S. 196–197. Bańbusrki: Zdzisław Simche. Księga Pamięci. Transporty do KL Auschwitz, S. 192.

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kapitel 5

beteiligt war.70 Rozwadowski erhängte sich im Tarnower Gefängnis in einer Zelle, nachdem er von einem SiPo-Mann unmenschlich gefoltert worden war.71 In den Folgemonaten der AB-Aktion wurden weitere Anführer, Geistliche und Aktivisten des Untergrunds verhaftet.72 Tadeusz Kołodziej, ehemaliger erster Vizebürgermeister Tarnóws, wurde im November  1940 verhaftet, ins Tarnower Gefängnis gebracht und dann ins KZ  Auschwitz deportiert, wo er im Juli 1941 verstarb.73 Walenty Pogoda war vor dem Krieg Direktor der Tadeusz-Kościuszko-Grundschule und ab 1935 Stadtrat zunächst für das Pro-Regierungslager, dann für die PZCh. Wie Kołodziej war auch er während des Krieges konspirativ tätig, wurde 1941 verhaftet und verstarb am 21.  September  1942 im KZ Auschwitz.74 Der oben erwähnte Gabriel Dusza, der mit Hoborski im Untergrund die OOB gründete und vor dem Krieg für die BBWR-Gruppierung und dann für die PZCh im Stadtrat saß, kam im März 1942 in Auschwitz um.75 Der Anwalt Roman Skowroński hatte 1939 ein Mandat für die SN im Tarnower Stadtrat erhalten und sich wegen seiner antisemitischen Äußerungen mit dem Bundisten Leon Mütz einen verbalen Schlagabtausch geliefert. Skowroński war es auch, der Władysław  Ł. in die Endecja-Bewegung eingeführt hatte.76 Auch er wurde verhaftet und in Ausch­ witz ermordet.77 Salomon Goldberg, ehemaliger zionistischer Stadtrat, wurde ebenfalls verhaftet und starb im KZ Auschwitz.78 Kasper Ciołkosz, langjähriger PPS-Stadtrat, wurde 1941 in Tarnów verhaftet und ins Gefängnis gesperrt. 1942 wurde er nach Gross-Rosen deportiert und kam dort am 18.  Mai 1942 um.79 70

71 72 73 74 75 76 77

78 79

Od „Jęku“ aż do „Gońca“ i … „Kanału Tarnowa“. In: Hasło, 15.06.1934, S. 2; Pietrzykowa: Region tarnowski, S.  221; Ankiety GKBZH w Polsce oraz Okręgowej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich w Warszawie, zebrane w latach 1968–1972. Ankiety dotyczące województwa krakowskiego VII pow. Tarnów miasto, Ankiety, IPN BU 2448/503, S. 18–19. Urteilsbegründung im Prozess gegen Walter Baach und Ernst Wunder, YVA Tr.  10/751, S. 21. Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 247. Nasza droga, 01.11.1946. Ebd. Auschwitz – Sterbebücher, S. 242. Vernehmungsprotokoll von Władysław Ł. 20./27.08.1948, ANKr/SAKr/1051 K 313/50, S. 165 und 167. Ankiety GKBZH w Polsce oraz Okręgowej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich w Warszawie, zebrane w latach 1968–1972. Ankiety dotyczące województwa krakowskiego VII pow. Tarnów miasto, Ankiety, IPN BU 2448/503, S.  18–19. Zu der Auseinander­ setzung zwischen Mütz und Skowroński siehe Kapitel  2.4.5 „Die Arbeit des Stadtrats 1939 und das Ende der Zweiten Polnischen Republik“; Vernehmungsprotokoll von Władysław Ł. 20./27.08.1948, ANKr/SAKr/1051 K 313/50, S. 165 und 167. Auschwitz – Sterbebücher, S.  361; in Abbildung  17 ist er mit einer charakteristischen Augenklappe zu sehen. Nasza Droga, 01.11.1946, S. 16.

Kriegsbeginn und erste Phase der Verfolgung

Abbildung 33

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Verhaftung von Roman Sitko und seinen Seminaristen durch Gerhard Grunow (x) und Jerzy Kastura (+), 1941

Maciej Bandura, Untergrundaktivist von der PPS und ehemaliger Stadtrat im Sozialistischen Klub wurde 1941 verhaftet und starb im Juli 1942 im KZ Ausch­ witz.80 Katholische Geistliche wurden ebenfalls verfolgt. Der Priester Roman Sitko war seit 1936 Rektor des Priesterseminars in Tarnów gewesen. Nach der Besetzung desselben durch deutsche Truppen in den ersten Kriegstagen führte Sitko im ehemaligen Erholungsheim in Błonie zum Teil klandestin eine Seminargruppe. Sitko wurde im Mai 1941 samt seiner Seminaristen ver­ haftet und in Auschwitz ermordet.81 Die „Enthauptung der Stadt“, das heißt die Verhaftung und Ermordung politischer Führungspersönlichkeiten und Geistlichen sowie die Zerschlagung des Untergrunds, gelang den deutschen Besatzern bereits in den ersten Kriegsjahren. Die Brutalität gegenüber der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung war im Alltag für alle spürbar  – die AB-Aktion und die Ermordung der Meinungsführer hatte den Terror allen vor Augen geführt, auch die nichtjüdischen Polen und Polinnen mussten – wie wir im nächsten Teilkapitel sehen werden – mit brutalen Strafmaßnahmen und Zwangsverschickungen rechnen. 80 81

Ebd.; Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 326–329. Gajda: Sitko, Roman, S. 394–395; zu dem Priesterseminar während deutscher Besatzung siehe Kumor: Diecezja, S. 490–492.

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kapitel 5

Geschwächt nahm der Tarnower Untergrund erst Ende 1942 erneute Werbungsoffensiven auf. Versuche einer Konsolidierung unter dem AKBanner begannen erst Ende 1942. Erst danach begannen bewaffnete Gruppen mit Sabotageakten und ähnlichen Aktivitäten.82 Im Grunde entwickelte sich der Untergrund erst, als die Ermordung der Jüdinnen und Juden durch die deutschen Besatzer im Jahre 1942 weitestgehend abgeschlossen war. 5.4

Terror gegenüber der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung

Das besetzte Polen sei ein „Exerzierfeld radikal völkisch-nationalsozialistischer Weltanschauungstheorie und -politik“, auf dem die Herrschaft durch „Nieder­ haltung“ und „Ausbeutung“ ausgeübt wurde, so der Historiker Martin Broszat.83 Dass der Vernichtungskrieg bereits 1939 im Polenfeldzug begann, argumentierte schlüssig Jochen Böhler.84 Die ethnischen Polinnen und Polen wurden als minderwertig betrachtet und sollten als gesamte Nation zerstört werden, samt der Kultur, der Bildung und der geistigen Eliten. SS- und Polizeiapparat ver­ übte Straf- und Sühnemaßnahmen gegen die polnische Bevölkerung.85 Bereits in den ersten Monaten durchkämmten die Männer von der Sicherheitspolizei, der Feldgendarmerie und der Schutzpolizei die Wohnungen der Tarnower Bevölkerung nach Waffen (Schusswaffen, Messer, Bajonette), konfiszierten Radiogeräte, verhafteten oder schikanierten Offiziere, gesellschaftliche und politische Anführer.86 Im September 1939 wurden alle polnischen Kulturein­ richtungen geschlossen, es war verboten, jegliche nationalpolnischen Zeichen zu tragen, auch keine Schuluniformen. Die Polinnen und Polen sollten in Zukunft als Volk von Arbeitssklaven dienen und auf einem niedrigen Bildungs­ stand gehalten werden, deswegen wurde in der Regel nur die Grundschulaus­ bildung zugelassen.87 Besonders schmerzlich für die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen war die Rekrutierung von Arbeitskräften, die zur Zwangsarbeit ins Reich verschickt wurden. Ab November  1939 fanden die ersten Transporte zur Zwangsarbeit 82 83 84 85 86

87

Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 358 ff. Broszat: Nationalsozialistische Polenpolitik, S. 6, 177, siehe auch: Madajczyk: Polityka III Rzeszy. Böhler: Auftakt zum Vernichtungskrieg. Siehe dazu im größeren Kontext ebd. Pietrzyk: W latach drugiej wojny, S.  19–24; Befehle zur Aushändigung von Hieb- und Schusswaffen vom 09.09.1939, ANKr. Odd. T. 33/1: Akta rady miejskiej/ZMTo  1: Zarząd miejski 1939. Bei Nichteinhaltung oder Sabotageakten wird mit den härtesten Strafen gedroht. Harten: Die Kulturnation.

Kriegsbeginn und erste Phase der Verfolgung

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aus Tarnów statt. Bereits bis August  1940 waren 108  000 Menschen aus dem Distrikt Krakau nach Deutschland verschleppt worden. Ab 1942 radikalisierten die deutschen Besatzer vermehrt die Methoden, um Kontingente an Arbeits­ kräften zu erfüllen. Zunehmend fanden Razzien auf den Straßen statt, bei denen Menschen gejagt und gefangen wurden, um zur Zwangsarbeit abtrans­ portiert zu werden. Bis Juli 1943 waren insgesamt 36  000 Menschen allein aus der Kreishauptmannschaft Tarnów zur Zwangsarbeit verschickt worden. Laut der Historikerin Pietrzykowa war das die höchste Zahl an Zwangs­ arbeiterinnen und Zwangsarbeitern aus einer einzelnen Kreishauptmannschaft im Generalgouvernement.88 Auch auf dem Land verschärfte sich der Terror. Ab November  1939 begannen die Einheiten der Sicherheitspolizei mit Terrorakten gegen die Dorf­ bevölkerung. In der zweiten Jahreshälfte von 1940 wurden Kontingente für die Landbevölkerung eingeführt, die Weizen, Nutztiere, Milch und Kartoffeln an die Besatzer abgeben musste.89 Bei Nichteinhaltung mussten die Bauern mit harten Strafen rechnen. Immer häufiger wurden ethnische Polen verhaftet und als politische Gefangene in die Sicherheitspolizei-Stelle gebracht. Die gefürchtete Dienst­ stelle der Gestapo in Tarnów befand sich in der Urszulańska Straße 18–20. Im Keller des Gebäudes wurden Zellen eingerichtet: Darunter auch kleine Zellen, die 0,5 mal 0,5 m groß waren und nur 1,50 m hoch, in denen man weder stehen noch liegen konnte.90 In diesen Kellern wurde gefoltert. Laut der Aussage einer Ärztin sollen Blutspuren an Wänden, Böden und Korridoren im Keller des Gebäudes sichtbar gewesen sein.91 Die Lokalhistorikerin Pietrzykowa schätzt, dass rund 50 Menschen im Keller an der Urszulańska Straße an den Folgen von Folter verstarben. Sogar die deutschen Sekretärinnen der Sicherheitspolizei sagten in den Nachkriegsprozessen aus, wie sie Schreie aus dem Keller hörten, denn ihre Wohnräume lagen in den oberen Stockwerken.92 Für längere Inhaftierungen nutzte die Sicherheitspolizei das städtische Gefängnis in der Konarski Straße, welches von nun an den Namen „Deutsche Strafanstalt“ Tarnów trug.93 Später wurde der Strafkomplex der Gestapo unter­ stellt und wuchs als „Strafgefängnis und Durchgangsanstalt für politische 88 89 90 91 92 93

Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 144. Pietrzyk: W latach drugiej wojny, S. 35. Urteilsbegründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777, S. 43. Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 170. Aussage Lieselotte Engelhaaf im Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache, BAL B 162/2151, Bl. 1102. Urteilsbegründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777, S. 43.

300

kapitel 5

Abbildung 34 Gestapomänner Otto von Mallotke und Jan Nowak im Hof der GestapoAußenstelle Tarnów, Juni 1941. Beide Männer verkleidet mit Pfaffenmützen

Abbildung 35 Private Aufnahmen der Gestapo-Männer

Kriegsbeginn und erste Phase der Verfolgung

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Gefangene“ zu einem der größten Gefängnisse des Distrikts an.94 Auch hier wurde gefoltert.95 Zum Teil wurden auch jüdische Gefangene hierhergebracht, zumeist jene, die als Teil der lokalen Eliten verhaftet wurden. Über die ganze Besatzungszeit hinweg waren insgesamt über 20 000 bis 25 000 Menschen hier eingesperrt.96 Gefangene aus der gesamten Region, beispielsweise aus Nowy Sącz, Krakau und Sanok, saßen in der „Durchgangsanstalt Tarnów“ ein.97 Aus dem Tarnower Gefängnis wurden ab 1940 Menschen in Konzentrationslager verschickt und vor Ort erschossen.98 Die Leichen derjenigen, die Opfer von Folter oder Erschießungen in Tarnów waren, wurden häufig in den umliegenden Wäldern, zum Beispiel in Zbylitowska Góra, verscharrt. Die Lokalhistorikerin Pietrzykowa schätzt, dass rund 2000 nichtjüdische polnische Opfer im Wald von Zbylitowska Góra liegen, obschon diese Zahl mittlerweile umstritten ist.99 Parallel zu der bereits oben beschriebenen AB-Aktion, im Mai 1940, fanden auch Erschießungen von nichtjüdischen Polen vor Ort statt. Józef Korniło berichtete, dass Juden dann Gräber für die Opfer ausheben mussten. Er nannte diese Tätigkeit „Chevra kadischa“ nach der traditionellen jüdischen Begräbnisgesellschaft.100 Von da an wurden regelmäßig Gefangene aus der Tarnower Strafanstalt ins KZ Auschwitz transportiert, bis 1943 sind 6800 Fälle dokumentiert, wobei die reale Zahl vermutlich höher lag.101 Aus dem Tarnower Gefängnis gingen in den Jahren 1940/1941 auch zwei Frauentransporte von Nichtjüdinnen ins Konzentrationslager Ravensbrück.102 94 95

Pietrzyk: W latach drugiej wojny, S. 42; Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 157–158. Urteilsbegründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777. Pietrzykowa schätzt, dass zeitgleich bis zu 2000 politische Gefangene in der lediglich für 300 bis 400 Menschen ausgelegten Anstalt inhaftiert sein konnten, Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 158. Auch die deutschen Behörden gehen von selbigen Zahlen aus. Urteils­ begründung im Prozess Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777. 96 Aussage von Leon Wapiennik, Leiter der AK-Abteilung für das Tarnower Gefängnis: Er schätzt, dass insgesamt über 19 500 politische Gefangene in Tarnóws Gefängnis einsaßen. Ankiety GKBZH w Polsce oraz Okręgowej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich w Warszawie, zebrane w latach 1968–1972. Ankiety dotyczące województwa krakowskiego VII pow. Tarnów miasto, Ankiety IPN BU 2448/503, S.  49–50; vgl. auch Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 158. 97 Pietrzyk: W latach drugiej wojny, S. 43. 98 Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 172. 99 Ebd., S. 172. 100 Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; dass Juden für ermordete Polen Gräber schaufeln mussten, erwähnt auch Jerzy Schipper in seinem Bericht, AŻIH 301/3548. 101 Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 173. 102 Unter den Frauen waren einige Pfadfinderinnen: Józefa Kantor, Maria Rydarowska, Zofia Janczy und Aniela Wideł. Sie gründeten im KZ Ravensbrück eine konspirative Pfad­ finderinnenorganisation („Mury“; dt.: „Mauern“), vgl. Wierzcholska: „Wir werden über­ dauern“, S. 236–239.

302

kapitel 5

Die nichtjüdische Bevölkerung, die von den deutschen Besatzern als „ethnisch Deutsch“ angesehen wurde, konnte in die sogenannte Volksliste eingetragen werden. Ein kleiner Teil der Lokalbevölkerung wurde somit zu „Volksdeutschen“, die Privilegien besaßen. Die „Volksdeutschen“ erscheinen in den Erinnerungen der Überlebenden und in den Quellen häufig, da sie ihre privilegierte Stellung ausnutzten und zum Teil zum Schaden der unterdrückten nichtjüdischen, polnischen oder jüdischen Bevölkerung agierten. Zu Beginn gab es noch wenige „Volksdeutsche“ in Tarnów: 1940 waren es 429 Menschen in der gesamten Kreishauptmannschaft, die in der Volksliste verzeichnet waren (bei einer Gesamtbevölkerung von 366  712 in der Kreishautmannschaft).103 Die Zahl wuchs jedoch im Verlauf des Krieges stark an: Am 1. Juni 1944 hatte allein Tarnów-Stadt 3584 Deutschstämmige zu verzeichnen.104 5.5

Die Verfolgung der jüdischen Lokalbevölkerung

„Kein Tag verging, an dem nicht eine neue Bekanntmachung ausgehangen wurde, die verlautbarte, was man alles nicht tun durfte. Eigentlich durfte man gar nichts. Und besonders Juden durften gar nichts.“105 So erinnerte sich Gizela Fudem an die ersten Kriegstage. Tatsächlich erschienen schon sehr bald Restriktionen für die jüdische Bevölkerung, die zum Ziel hatten, diese zu stigmatisieren, sie ihres Eigentums zu berauben und zu entrechten. Ab dem 12. September 1939, nur fünf Tage nach dem Einmarsch der Deutschen, mussten alle Jüdinnen und Juden ihre Geschäfte mit einem Davidstern markieren.106 Bei Nichteinhaltung wurde die Todesstrafe angedroht.107 Schon in den ersten Tagen begannen Schikanen gegenüber Jüdinnen und Juden, wie 103 Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 97. 104 Ebd., S.  120. Im Jahre 1940 befanden sich in der Kreishauptmannschaft 1263 Reichs­ deutsche, 33 286 Jüdinnen und Juden und 331 383 ethnische Polinnen und Polen. Für das Folgejahr 1941 verzeichnete Pietrzykowa folgende Zahlen für die Kreishauptmannschaft: Bei einer Gesamtbevölkerung in der Kreishauptmannschaft von 381 450 waren 338 063 ethnische Polinnen und Polen, 41 338 Jüdinnen und Juden (der Anstieg von rund 80 000 im Vergleich zum Vorjahr ist vermutlich durch die Vertreibungen aus Krakau vor der Ghettobildung im März 1941 zu erklären), 740 „Reichsdeutsche“ und 412 „Volksdeutsche“, Zahlen aus Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 97. 105 Fudem, Gizela: Interview 7896, 23.10.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 106 Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; Bekanntmachung der Verordnung, gez. E. Kundt, APT 33/1: Akta Rady miejskiej/ZMTo 33: Afisze dotyczące życia społecznego, S. 441. 107 Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600.

Kriegsbeginn und erste Phase der Verfolgung

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Abbildung 36 Alltag während deutscher Besatzung, Lemberger Straße, im Hintergrund der Turm des Rathauses

Razzien auf der Straße, um sie für diverse Aufgaben wie Straßenfegen, Müll­ zusammentragen oder Gepäcktragen zu rekrutieren.108 Deutsche Soldaten fotografierten bärtige Juden und rissen ihnen die Bärte aus, erinnerte sich der Arzt Józef Korniło.109 Ab dem 20.  Oktober 1939 mussten alle Jüdinnen und Juden über 12  Jahre ein weißes Armband mit einem blauen Davidstern tragen.110 „Die Armbinden mussten immer säuberlich gewaschen sein und nicht verknittert. Die deutschen Machthaber und die polnische Polizei haben darauf pingelig geachtet. Für das Nichteinhalten der Anordnungen gab es Geldbußen. Einem Juden ohne Armbinde drohte eine Gefängnisstrafe und danach die Erschießung“, so Józef Korniło.111 Sukzessive kamen weitere Bestimmungen hinzu. So wurden etwa die Polizeistunden für Jüdinnen und Juden restriktiver gehandhabt als für nicht­ jüdische Polinnen und Polen, ebenso die Zeitfenster, in denen erstere Lebens­ mittel besorgen durften.112 108 109 110 111 112

Ebd. Ebd. Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 92; Hembera: Die Shoah, S. 75–80. Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600. Anordnungen der Kreishauptmannschaft zur Sperrzeit, 04.09.1940, ANKr. Odd. T. 33/12: Starostwo Powiatowe w Tarnowie/St To 2; Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 92, 185.

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kapitel 5

Abbildung 37 Anordnung über die Festsetzung unterschiedlicher Sperrstunden für Deutsche, Polen („mit Ausnahme der Juden“) und Juden

Für jüdische Kinder herrschte ein Schulverbot, jüdische Schulen wurden geschlossen, die Safa Berura wurde zu einem Militärlager umfunktioniert.113 Bankkonten von Jüdinnen und Juden wurden eingefroren.114 Sie durften nicht mehr in öffentlichen Institutionen arbeiten oder öffentliche Verkehrs­ mittel benutzen.115 Bestimmte Straßenzüge waren für sie verboten sowie zahlreiche Restaurants, Geschäfte und Parks, die nur für „Arier“ zugäng­ lich waren.116 So wurde Jüdinnen und Juden der Zutritt zum im ersten Teil des Buches beschriebenen Strzelecki-Park untersagt, einem Ort, an dem die Bewohnerinnen und Bewohner vor dem Krieg ihre Freizeit verbracht, die Tarnovia und der Samson Fußball gespielt hatten und Familien mit ihren Kindern rodeln gingen. Bereits vor 1939 hatte die antisemitische Lokalpresse die Präsenz von Jüdinnen und Juden in dem Park kritisiert.117 Nun ließen sich 113 114 115 116

Bericht Lila Wider, YVA O3.3516; Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 185. Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 185. Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 185. Bekanntmachung der Verordnung, gez. E.  Kundt, ANKr. Odd. T.  33/1/ZMTo 33a: Afisze dotyczące życia społecznego, S. 441; Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; Bericht Lila Wider, YVA O3.3516; Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 185. 117 Vgl. Kapitel: 1.4 „(Stadt-)Raum und Ethnizität“.

Kriegsbeginn und erste Phase der Verfolgung

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Abbildung 38 Nichtjüdische Polinnen lassen sich am Ogród Strzelecki ablichten

nichtjüdische Polinnen und Polen vor dem Schild „Eintritt für Juden verboten“ ablichten. Schnell wurde deutlich, dass alle Jüdinnen und Juden als Gruppe in der rassistischen Hierarchie der Besatzer ganz unten standen, weit unter den nichtjüdischen Polinnen und Polen. 5.5.1 Der Raub jüdischen Eigentums Neben den Restriktionen und Demütigungen, die Jüdinnen und Juden erfuhren, wurden sie systematisch ihrer ökonomischen Grundlagen beraubt. Jüdinnen und Juden mussten ihr Hab und Gut abgeben, jede jüdische Familie durfte nicht mehr als 2000 Złoty besitzen.118 Ständig kamen Verordnungen über Sonderabgaben, die der jüdische Teil der Bevölkerung leisten musste.119 Pelzmäntel, Fotoapparate und andere Habseligkeiten mussten abgegeben

118 Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600. 119 Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 109.

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kapitel 5

werden.120 Korniło erinnerte sich an ein trauriges Bild, als Jüdinnen und Juden vor dem Kino Apollo Schlange standen, nur um dann ihre Habseligkeiten abzuliefern.121 Im Winter 1939/1940 begannen systematische Durchsuchungen von Wohnungen, Praxen und Werkstätten von Jüdinnen und Juden, bei denen Wertsachen beschlagnahmt wurden. Jüdinnen und Juden erlebten, wie die deutschen Einheiten in ihre Privatwohnungen eindrangen, Schränke öffneten und nach Belieben alles mitnahmen: Schmuck, aber auch Kleidung wie Leder­ mäntel.122 „Man spricht so viel über die Deutschen als Rassisten und Verbrecher, aber man spricht kaum davon, dass sie auch gewöhnliche Diebe waren“, erinnerte sich die Holocaust-Überlebende Elżbieta Brodzianka-Gutt.123 Obschon es bis Mitte 1942 kein Ghetto in Tarnów gab, mussten zahlreiche Jüdinnen und Juden bessere Wohnungen und Häuser räumen.124 Die oben erwähnte Elżbieta Brodzianka-Gutt musste mit ihrer Familie aus der Wohnung in der Wallstraße ausziehen.125 Der Arzt Dr.  Goldfein hatte mit seiner fünf­ köpfigen Familie lediglich eine Viertelstunde Zeit, um seine Wohnung, in der sich auch die Praxis samt Röntgen- und Aufzeichnungsgeräten sowie anderem Zubehör befand, für immer zu verlassen.126 Zunehmend eröffneten die deutschen Machthaber einigen nichtjüdischen Polen die Möglichkeit, sich am Besitz von Jüdinnen und Juden zu bereichern. Dies galt vor allem für „Volksdeutsche“, aber auch für jene nichtjüdischen Polinnen und Polen, die für die Stadtverwaltung arbeiteten.127 Blanka Goldman berichtete, wie ihre Familie 1941 in kürzester Zeit ihr stattliches Gutshaus – die sogenannte Goldmanówka  – verlassen musste.128 Noch bevor sie aus dem Haus waren, 120 Bericht Lila Wider, YVA O3.3516; Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600. 121 Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600. 122 Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; Brodzianka-Gutt, Elżbieta: Interview 25736, 04.12.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 123 Ebd. 124 Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 109. 125 Brodzianka-Gutt, Elżbieta: Interview 25736, 04.12.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 126 Tagebuch Dr. Goldfein, YVA O.33/195. 127 Beispielsweise wurde Władysław W., Mitarbeiter beim Landrat, angeklagt, bei den Requirierungen dabei gewesen zu sein sowie auch, als Jüdinnen und Juden Wertgegen­ stände abgeben mussten. Er wurde aufgrund des Augustdekrets zu drei Jahren Haft ver­ urteilt, da er den Deutschen „zur Hand gegangen“ sei, und nach einem Jahr Haft begnadigt, IPN Kr 502/232. 128 Heute befindet sich das Tarnower Standesamt in der „Goldmanówka“, das Anwesen wird weiterhin von den Tarnowianerinnen und Tarnowianern so genannt. Blanka Goldmann hat sich während der Besatzung mit Hilfe von Jerzy Poetschke in dem Haus versteckt und überlebte den Krieg, vgl. auch Kapitel 9: „Den Jüdinnen und Juden helfen“. Sie wanderte nach dem Krieg nach Australien aus und beging dort Selbstmord. Zum gerichtlichen

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Abbildung 39 Das Haus der Familie Goldman, bis heute im Volksmund „Goldmanówka“ genannt

strömten ihren Worten zufolge „Volksdeutsche“ herein, um das Mobiliar und Wertgegenstände mitzunehmen.129 Andrzej W., ursprünglich aus Jarosław, vor und nach dem Krieg Mitglied der PPS, hatte eine fluktuierende Nationalität und gab sich mal als Pole, mal als Ukrainer aus, je nachdem, was ihm opportuner erschien. Während deutscher Besatzung bezeichnete er sich als Ukrainer, genoss dadurch Privilegien und hatte in Tarnów gute Kontakte zu den deutschen Behörden. Er übernahm die konfiszierten Zahntechnikbetriebe von Juden sowie deren Wohnungen. Im Verlauf des Krieges machte er dadurch ein beträchtliches Vermögen und residierte in einer Altbauwohnung in Tarnóws Zentrum, die sich über ein ganzes Geschoss erstreckte.130 Dr.  Lantner arbeitete vor dem Krieg eng mit dem Jüdischen Klub im Stadtrat zusammen. Zu Beginn des Krieges floh er in die Sowjetunion. Ferdynand B. (vor dem Krieg PPS) war Zahntechniker. Er

Kampf ihrer Tochter um das Erbe wurde in Israel und Polen berichtet, siehe zum Bei­ spiel: Aderet, Ofer: A Church Was Built on Polish Holocaust Survivor’s Land. In: Haaretz, 17.12.2020, online unter: https://www.haaretz.com/jewish/.premium-a-church-wasbuilt-on-polish-holocaust-survivor-s-land-now-herdaughter-reclaims-it-1.9381238 (letzter Zugriff: 10.03.2021). 129 Bericht Blanka Goldman, AŻIH 301/2059. 130 IPN Kr. 502/368.

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kapitel 5

übernahm 1939 oder 1940 Lantners stadtbekannte Praxis an der Flaniermeile Krakowska Straße 10.131 Der Raub jüdischen Eigentums ging jedoch über diese Requirierungen und Diebstähle hinaus: Alle jüdischen Geschäfte und Unternehmen wurden nach und nach „arisiert“. Am 15. November 1939 wurde die Treuhandstelle für das Generalgouvernement errichtet, und in einer Verordnung vom 24. Januar 1940 verfügte Generalgouverneur Hans Frank, dass Jüdinnen und Juden ihr gesamtes Vermögen anzumelden hatten.132 Damit war die Voraussetzung für deren systematische Enteignung geschaffen. Als Treuhänder wurden „Reichsdeutsche“ oder „Volksdeutsche“ eingesetzt. Da die Masse enteigneter jüdischer Betriebe und Immobilien im Generalgouvernement sehr groß war, wurden zunehmend auch als vertrauenswürdig geltende nichtjüdische Polen (vielleicht auch Polinnen) als Treuhänder eingesetzt.133 Seit September  1939 beschlagnahmte die deutsche Zivilverwaltung jüdische Handels-, Handwerksund Konfektionsbetriebe sowie Unternehmen in Tarnów und stellte sie unter Treuhandverwaltung.134 Daneben wurden auch Grundstücke und Häuser, die Jüdinnen oder Juden gehörten, unter Treuhandverwaltung gestellt. Hier zeigt sich sehr deutlich, wie die deutsche Besatzungsherrschaft die Lokal­ bevölkerung in Opfer unterschiedlicher Kategorien unterteilte  – auch die nichtjüdischen Polinnen und Polen waren zwar Opfer der deutschen Terror­ herrschaft, aber die Jüdinnen und Juden standen von Beginn an in der von den Deutschen aufoktroyierten rassistischen Hierarchie noch weiter unter ihnen. Immer wieder boten sich sowohl für Volksdeutsche als auch für nicht­ jüdische Polinnen und Polen Gelegenheitsfenster, um von den deutschen Maßnahmen gegen die Jüdinnen und Juden zu profitieren. Hembera zeigte, wie „Volksdeutsche“ in Tarnów sich erfolgreich mit der Bitte an die Treuhand­ stelle wandten, „herrenlosen“, also ehemals jüdischen, Besitz übernehmen zu dürfen.135 Es entstand ein malignes soziales System, in dem die deutschen Besatzer immer wieder neu austarieren mussten, wie weit sie in den jeweiligen Bereichen 131 Ermittlungsverfahren gegen Franciszek B. aufgrund des Augustdekrets, ANKr.  29/439 (SAKr)/1254. 132 „Verordnung über die Pflicht zur Anmeldung jüdischer Vermögen im Generalgouverne­ ment vom 24.1.1940“, in: Verordnungsblatt für das Generalgouvernement, 1940 I, Nr.  7, 29.01.1940, S. 31–35. 133 Jan Grabowski zeigt, dass in Krakau von den 137 in den letzten Monaten des Jahres 1939 eingesetzten Treuhändern 90 Polen waren. Der Anteil der Polen ging aber danach zurück: Grabowski: Zarząd Powierniczy, S. 76–81; vgl. auch Grabowski: Polscy zarządcy powierniczy. 134 Hembera: Die Shoah, S. 84. 135 Ebd., S. 85.

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die divide-et-impera-Karte spielen sollten. Denn in diesem Sinne stellte die „Arisierung“ die deutschen Behörden zum Teil vor erhebliche Schwierigkeiten: War doch vor dem Krieg ein großer Teil der Kleinhändler und Gewerbe­ treibenden in Tarnów, insbesondere in der Textilindustrie, jüdisch. Entließ man alle Jüdinnen und Juden, so gab es nicht genügend Volksdeutsche, um die Betriebe weiterzuführen. Man wollte die Stellen auch nicht mit ethnischen Polinnen und Polen besetzen, da die Besatzungsbehörden befürchteten, so einen ethnisch-polnischen Mittelstand zu fördern.136 Damit das Wirtschafts­ leben der Stadt nicht völlig kollabierte, sollten jüdische Fachkräfte, besonders Handwerker, weiterarbeiten und Geschäftsleute Handel treiben dürfen.137 Die einstigen jüdischen Besitzer wurden zunächst in den Betrieben, die ihnen noch kurz zuvor gehört hatten, weiterbeschäftigt, da man auf deren Expertise angewiesen war.138 Doch später wurden die ehemaligen jüdischen Besitzer wieder entfernt.139 Die zahlreichen Tarnower Konfektionsbetriebe wurden von den deutschen Behörden zu 17  Betrieben zusammengelegt, mit nun­ mehr etwa 2000 Beschäftigten. Viele dieser Betriebe produzierten nun für die Wehrmacht.140 5.5.2 Der Judenrat Bereits in den ersten Monaten setzten die Besatzer einen Judenrat in Tarnów ein. Sie griffen dabei zunächst auf die Vorkriegseliten aus der jüdischen Bevölkerung zurück, wie es auch in anderen Städten der Fall war.141 Die Vor­ sitzenden des Judenrats von Tarnów fluktuierten zunächst stark, auch das war mit anderen Städten vergleichbar.142 Viele der Vorkriegseliten wollten diese Stellung nicht übernehmen.143 Sie befanden sich in einem grausamen Dilemma: Einerseits musste jemand Verantwortung für die Gemeinde in einer schweren Zeit übernehmen, andererseits war der Judenrat ein Ausführungs­ organ deutscher Bestimmungen gegen Jüdinnen und Juden. Zunächst wurde Dr. Józef Offner als Judenältester bestimmt. Offner war Anwalt und stand vor dem Krieg der BBWR nahe. Von 1930 bis 1932 war er als Stadtrat tätig und 1936

136 137 138 139 140

Ebd., S. 82 ff. Ebd., S. 82 ff. Ebd., S. 84. Vgl. ebd., S. 82–84. Laut Aleksandra Pietrzykowa produzierte Tarnów Mitte 1942 wöchentlich rund 50 000 Uniformen für diverse deutsche Einheiten. Pietrzyk: W latach drugiej wojny, S. 36. 141 Trunk: Judenrat, S. 317. 142 Ebd., S. 317–318. 143 Ebd.

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kapitel 5

stand er der kehillah vor.144 Schnell floh er jedoch aus Tarnów.145 Offner über­ lebte den Krieg nicht. Er starb unter nicht näher bekannten Umständen.146 Sein Nachfolger im Judenrat wurde Dawid Lenkowicz, doch auch er ebenso wie das Judenratsmitglied Ruven Waksmann flohen noch im November 1939 nach Lwów.147 1940 wurde ein neuer Judenrat eingesetzt, dem Salomon Gold­ berg und Wolf Schenkel vorsaßen.148 Beide waren Zionisten und hatten als Stadträte Erfahrungen. Der letzte Vorsitzende der kehillah vor dem Krieg sowie der ehemalige Herausgeber des Tygodnik Żydowski Abraham Chomet, eben­ falls Zionist, bescheinigte Goldberg und Schenkel, dass beide mit den besten Intentionen die Verantwortung für die Gemeinde übernommen hätten.149 Schenkel war von 1927 bis 1930 Stadtrat gewesen, außerdem war er im Vor­ stand des Vereins der Safa Berura aktiv und kandidierte 1928 als Zionist für die kehillah.150 Der Anwalt und Zionist Salomon Goldberg war 1929 in den Stadtrat gewählt worden. Auch bei den letzten Wahlen zum Stadtrat 1939 bekam er ein Mandat für den allgemeinen jüdischen Wahlblock.151 Er war in der Tarnower jüdischen Lokalbevölkerung auch deswegen bekannt, weil er regelmäßig im Tygodnik Żydowski veröffentlichte. Goldberg hatte im Ersten Weltkrieg in der österreichischen Armee gedient und ein Auge verloren. Auf Bildern ist er mit einer charakteristischen Augenklappe zu sehen (Vgl. Abbildung 17).152 Gold­ berg wurde 1940, dann erneut 1941 verhaftet und nach Auschwitz deportiert, wo er im März 1941 verstarb.153 Wolf Schenkel kam am 9. März 1942 in Ausch­ witz um.154 144 Obywatele wyborcy. In: Hasło, 23.11.1933, S. 1; Tygodnik Żydowski, 13.03.1936, S. 1; Stadtrats­ protokolle, Archiv des Kreismuseums Tarnów, MTH Rada Miejska. 145 Chomet: Zagłada Żydów, S. 17. Bei diesem Buch handelt es sich um die Übersetzung eines Teils des yizker buckhs von 1954 aus dem Jiddischen ins Polnische. 146 YVA, Page of testimony, ID 1280153, online unter: https://yvng.yadvashem.org/ nameDetails.html?language=en&itemId=1280153&ind=1 (Letzter Zugriff: 27.05.2021). 147 Chomet: Zagłada Żydów, S. 17. 148 Śliwa: Tarnów, S. 584; über die Tätigkeit von Salomon Goldberg als Judenältesten siehe auch die Urteilsbegründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777. 149 Chomet: Zagłada Żydów, S. 23. 150 Stadtratsprotokolle vom 13.11.1926, 07.07.1927, 17.04.1928, ANKr. Odd. T.  33/1/ZMT  1, Protokoły Rady miejskiej; Liste der Ratsmänner 1930, ANKr. Odd. T. 33/1/ZMT 18; zu den kehillah-Wahlen von 1928: Tygodnik Żydowski, 05.10.1928, S. 5; zu seiner Funktion in der Safa Berura siehe Potępa: Tarnów międzywojenny, S. 67; außerdem saß er im Vorstand des jüdischen Waisenhauses vor dem Krieg. 151 APT 33/1/ZMT18; Tygodnik Żydowski, 03.02.1939. 152 Klimek, Rahel: Interview, 24.05.2013, Ramat HaSharon, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. 153 Auschwitz – Sterbebücher, S. 361. 154 Śliwa: Tarnów, S. 584; Auschwitz – Sterbebücher, S. 1075.

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Schließlich wurde 1940 Artur Volkmann Judenältester, sein Stellvertreter war Julian (Eliahu) Lehrhaupt. Ein prominentes Mitglied des Judenrats war auch Paul Reiss, der fälschlicherweise häufig als Judenältester bezeichnet wird.155 Reiss war ein vertriebener Pelzhändler aus Berlin, der ausschließlich Deutsch sprach.156 Volkmann wurde 1898 in Nowy Sącz geboren, lebte aber vor dem Krieg als Geschäftsmann in Tarnów.157 Volkmann und Lehrhaupt entstammten der kaufmännisch-bürgerlichen Schicht, hatten aber  – anders als ihre Vorgänger im Judenrat – keine Führungspositionen in der Vorkriegs­ zeit inne.158 Sie gehörten also nicht zu den politischen Eliten der Stadt und stiegen in diese Führungspositionen erst durch die Umstände der deutschen Besatzung auf. Beide blieben bis zur Ghettoliquidierung 1943 in Tarnów. Wie Tarnowianerinnen und Tarnowianer ihre Tätigkeit beurteilten, wird im Kapitel 7 zur Ghettoisierung besprochen. Volkmann und Lehrhaupt hatten von Anfang an vielerlei Aufgaben zu bewältigen: Anordnungen der deutschen Besatzer mussten umgesetzt, Kontributionen gesammelt und geleistet, Melde- und Arbeitslisten geführt, aber auch die Versorgung der notleidenden Bevölkerung musste gestemmt werden. Volkmann saß dem KOP (Komitet Opiekuńczy Powiatowy/Kreishilfs­ komitee) der ŻSS (Żydowska Samopomoc Społeczna/Jüdische Soziale Selbst­ hilfe) vor, in der auch Lehrhaupt tätig war. Sie unterhielten Kontakte mit der ŻSS Krakau, dem Hauptsitz der ŻSS unter Michał Weichert, von der sie Hilfe bekamen.159 Der Judenrat organisierte vier Suppenküchen, von denen sich rund 2000 Menschen ernähren konnten.160 Im März 1941 nutzten 722 jüdische

155 Dazu auch Hemebra: Die Shoah, S. 128. 156 Goetz: I Never Saw My Face, S. 27. 157 YVA, Page of testimony, ID 1182183, online unter: https://yvng.yadvashem.org/nameDetails. html?language=en&itemId=1182183&ind=4 (letzter Zugriff:  13.03.2019); Artur Abraham Volkmann, 1898 in Nowy Sącz als Sohn von Isak und Malka geboren. Er war mit Paulina verheiratet, sie hatten einen Sohn Edward, der überlebte, in die USA emigrierte und die Informationen später in Yad Vashem hinterlegt hat. Eine Überlebende berichtet auch über eine Tochter der Volkmanns, die ebenfalls überlebt haben und in den USA leben soll. Aussage Sala Affenkraut, YVA O.3/5541. 158 Zu einer ausführlicheren Besprechung der Rolle des Judenrats siehe Kapitel 7.2.3 „Neue ‚Eliten‘: Judenrat und Ordnungsdienst“. 159 Notatka o konferencji z p. Arturem Volkmannem, Przewodniczącym KOP (Komitetu Opiekuńczego Powiatowego) w Tarnowie dnia 03.10.1942, AŻIH 211: Żydowska Samopomoc Społeczna/Jüdische Soziale Selbsthilfe: 1026. Korespondencja Prezydium ŻSS z Komitetem Powiatowym ŻSS w Tarnowie/dystrykt Kraków/, 04.05.1942–19.11.1942, S. 70. 160 Brief an die ŻSS vom 08.10.1941, betrifft: Kinderversorgung in Tarnów, AŻIH 211: ŻSS/1020. Korespondencja Prezydium ŻSS z Komitetem Powiatowym ŻSS w Tarnowie.

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Abbildung 40 Menschen vor dem Judenrat, Folwarczna Straße 8, vermutlich Frühjahr 1940

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Kinder die „stacja dożywiania“/eine Zusatzernährungsstelle.161 1941 zählten die Mitarbeiter des Judenrats insgesamt 183  Personen, darunter Ärzte wie Józef Korniło, Bernhard Tesse, der ehemalige Stadtrat und kehillah-Vorsitzende Wolf Getzler sowie einige Frauen.162 Dem Judenrat war die jüdische Ordnungs­ polizei unterstellt, die relativ spät, im Oktober 1941, geschaffen wurde.163 Im November  1939 wurde das Gebäude der alten kehillah von den deutschen Besatzern in Brand gesetzt. Laut Abraham Chomet wollten diese damit demonstrieren, dass der Judenrat keine Kontinuität jedweder jüdischer Auto­ nomieverwaltung sei und dass es keine wahre jüdische Repräsentanz in Tarnów mehr gäbe.164 Der neue Sitz des Judenrats befand sich in der Folwarczna/Ecke Nowa Straße.165 5.5.3 Die Zerstörung aller Synagogen Am 9. November 1939, dem Jahrestag der Novemberpogrome in NS-Deutsch­ land, wurden alle Synagogen Tarnóws von den deutschen Besatzern in Brand gesetzt oder gesprengt. Viele Jüdinnen und Juden beschrieben dies später in grauenerregenden Bildern.166 Alles wurde zerstört, Tora-Rollen geschändet, nur Ruinen blieben übrig. „Die Synagoge brannte einen ganzen Tag und eine ganze Nacht lang. Es machte einen unheimlichen Eindruck, aber damals hatten wir noch keine Angst um unser eigenes Leben, es kam uns damals nicht in den Sinn, dass die Deutschen sich auch an Menschenleben vergreifen werden und uns persönlich Gefahr droht“, erinnert sich die jüdische Überlebende Janina Schiff.167 Überall sei ein Weinen, Geschrei und Lamentieren zu hören gewesen, 161 Brief an die ŻSS vom 08.10.1941, betrifft: Kinderversorgung in Tarnów, AŻIH 211: ŻSS/1020. Korespondencja Prezydium ŻSS z Komitetem Powiatowym ŻSS w Tarnowie. 162 Liste der Mitarbeiter des Judenrats samt Adressen vom 09.08.1941, Muzeum Okręgowe w Tarnowie, MTAH 1127/174; Wolf Getzler, Zionist, 1929 im Stadtrat, seit 1936 stellver­ tretender kehillah-Vorsitzender, ab 1939 Teil des Präsidiums des jüdischen Wahlblocks für die letzten Stadtratswahlen Tarnóws. Er wurde auf der Straße erschossen. Weitere Infos zu Getzler siehe: Tygodnik Żydowski, 08.05.1936; Tygodnik Żydowski, 03.12.1937; Bekannt­ machung der Wahlergebnisse am 27.06.1939, APT  33/1/ZMT  18; Tygodnik Żydowski, 03.02.1939. 163 Ausführlicher zur Ordnungspolizei siehe Kapitel  7.2.3 „Neue ‚Eliten‘: Judenrat und Ordnungsdienst“. 164 Chomet: Zagłada Żydów w Tarnowie, S. 18–19. 165 Urteilsbegründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777. 166 Bericht Izaak Izrael AŻIH 301/818; Bericht Janina Schiff, AŻIH 301/2081; Bericht Lila Wider, AŻIH 301/2053; Bericht Jerzy Schipper, AŻIH 301/3548. 167 Bericht Janina Schiff, AŻIH 301/2081.

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Abbildung 41

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Brennende alte Synagoge, polnische und deutsche Schaulustige

Abbildung 42 Brennende alte Synogaoge

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Abbildung 43 Aleksander Plucer: Die Tora brennt

blieb es Izrael Izaak im Gedächtnis.168 Die Menschen aus den umliegenden Häusern flohen in Nachtgewändern aus ihren Wohnungen, da sie Angst hatten, das Feuer würde auf die Wohnhäuser übergreifen. Izaak berichtete, dass nichtjüdische Polen in die verlassenen Wohnungen eindrangen und Hab­ seligkeiten aus ihnen herausholten.169 Die große Franz-Josef-Synagoge mit der gewaltigen Kuppel, die lange Zeit das Panorama Tarnóws prägte, wurde von den Besatzern gesprengt. Heute steht eine der zerbrochenen Säulen auf dem jüdischen Friedhof von Tarnów als Mahnmal. Der Kunstlehrer einer Tarnower Schule, Aleksander Plucer, war zu dem Zeitpunkt nicht mehr in Tarnów. Er war mit seiner Familie zu Kriegsbeginn in die Sowjetunion geflohen. Nach dem Krieg malte er unter dem Eindruck der Erzählungen aus Tarnów ein Gemälde, in dem sich verzweifelte Juden (und drei Jüdinnen) um eine brennende Tora-Rolle versammeln (Vgl. Abb. 43).170 Das Gemälde hing lange Zeit in YadVashem in Jerusalem, Israel, und schmückt die Vorderseite des zweiten yizker 168 Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818. 169 Ebd. 170 Palcur Mordechaj (Sohn von Aleksander Plucer): Interview, 01.06.2013, Jerusalem, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. Eine Reproduktion des Gemäldes erhielt ich von dem Sohn Aleksander Plucers, Mordechaj Palcur, dem mein groß er Dank gilt.

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bukhs. Für die Jüdinnen und Juden war das Verbrennen ihrer religiösen Stätten und die Vernichtung der Tora ein tiefer und schmerzvoller Einschnitt. 5.5.4 Arbeit, Verpflegung und Alltag in der besetzten Stadt Jüdinnen und Juden unterlagen dem Arbeitszwang. Beim Judenrat wurde ein jüdisches Arbeitsamt eingerichtet, welches seinen Sitz in der Tertilgasse hatte und den deutschen Behörden unterstand.171 Zunächst wurde ab März 1940 die jüdische Bevölkerung ab 14 Jahren, später ab 12 Jahren, vom Arbeits­ amt erfasst.172 Jeder Arbeitende bekam eine Meldekarte. 1939/40 war die Praxis gängig, junge jüdische Männer auf der Straße in Razzien aufzugreifen oder nachts aus Privatwohnungen zu holen, um sie zur Zwangsarbeit beim Straßenbau, bei der Reinigung der Stadt und von Gebäuden oder anderem zu nutzen.173 Auch wurden jüdische Männer in das Zwangsarbeitslager Pustków (ca. 40 km von Tarnów entfernt) verschickt.174 Im November 1940 waren von 600 Gefangenen in Pustków 467 jüdisch, vorrangig mussten sie den Ausbau eines SS-Truppenübungsplatzes bewerkstelligen.175 Zeitzeugen berichteten über Misshandlungen, Hunger, schlechte Versorgung und hohe Todesraten.176 Der Judenrat von Tarnów musste die Gefangenen des Zwangsarbeitslager (ZAL) Pustków mitversorgen.177 Obschon die Zwangsarbeit zur „Judenpolitik“ im Distrikt Krakau gehörte, löste diese erhebliche Probleme auf der Lokalebene aus. Der Kreishauptmann von Tarnów, Ernst Kundt, machte darauf aufmerksam, dass durch die Aus­ schaltung der Verdienstmöglichkeiten für Jüdinnen und Juden, die Frage ent­ stand, zu wessen Lasten diese noch ernährt werden können und was mit ihnen in Zukunft geschehen solle.178 Der Judenrat hatte keine Möglichkeiten mehr, Menschen ohne Verdienst auszuhalten. Der Judenrat meldete dem Stadt­ kommissar im Oktober 1940, dass rund 10  000 Jüdinnen und Juden der 171 Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; Hembera: Die Shoah, S. 87. 172 Ebd., S. 86. 173 Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600. Israel Baicher erinnerte sich, wie er die Kasernen reinigen musste. Baicher, Israel: Interview 16493, 25.06.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 174 Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600. 175 Hembera: Die Shoah, S. 95–96. Zum ZAL Pustków siehe auch: Hembera: Das jüdische Zwangsarbeitslager; Hembera: Ermittlungsakten aufgeschlagen; Wenzel: Ausbeutung und Vernichtung. 176 Bericht Chaskiel Fischmann, AŻIH 301/1074; Bericht Jan Herman, AŻIH 301/1345; Bericht Maurycy Braun, AŻIH 301/2136. 177 Dass der Judenrat jedoch nicht die erforderlichen Abgaben an das ZAL Pustków über­ stellte, kritisierte Izrael Izaak – Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818. 178 Hembera: Die Shoah, S. 90.

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Unterstützung bedürften, da sie ohne Verdienstmöglichkeiten seien.179 Das waren über ein Drittel der jüdischen Bevölkerung Tarnóws zu diesem Zeit­ punkt. Die Zwangsarbeit kollidierte zudem mit den Interessen der Treu­ händer, die in Tarnów Firmen betrieben. Diese beschwerten sich, dass „ihre“ Arbeitenden zur Zwangsarbeit eingezogen wurden und nun im Betrieb fehlten.180 Ab Juni 1940 änderte sich die Lage dahingehend, dass Jüdinnen und Juden in den lokalen, von den Deutschen kontrollierten Arbeitsmarkt integriert wurden und nur Personen zur Zwangsarbeit eingefangen wurden, die keine Anstellung hatten.181 Alle mussten sich regelmäßig beim Arbeitsamt melden, jene mit Anstellung in niedrigerer Frequenz.182 Allerdings konnten Jüdinnen oder Juden nur höchstens 80  % des Lohnes der nichtjüdischen Polinnen und Polen erhalten.183 Israel Baicher, damals ein Jugendlicher, erinnerte sich, dass er zur Zwangsarbeit eingefangen und zunächst nach Różnów, später ins ZAL Pustków verschickt wurde, wo er von der SS misshandelt wurde. Nach seiner Rückkehr nach Tarnów musste er sich wöchentlich beim Arbeitsamt melden. Sein Vater durfte zu der Zeit (1940) noch eine eigene Schneiderei mit drei Angestellten betreiben. Er bestach jemanden im Arbeitsamt und sein Sohn Israel wurde als Mitarbeiter beim Vater geführt.184 Während der ersten Phase der Shoah, also bis zum Beginn der „Aktion Rein­ hardt“, die in Tarnów im Juni 1942 begann, gab es in der Stadt kein geschlossenes Ghetto. Obschon Jüdinnen und Juden gewisse Straßenzüge nicht benutzen durften und einige ihre Wohnungen aufgeben mussten, gab es für das General­ gouvernement ungewöhnlich lange Zeit keinen umzäunten Bezirk, was den Besatzungsalltag in dieser ersten Phase prägte. Zwar verweisen einige Quellen darauf, dass im März 1941 ein „jüdisches Wohnviertel“ geschaffen wurde.185 Aber es scheint, dass dieses eher nominell war, da es mit den Grenzen des 179 Abschrift eines Briefes der Waffen-SS-Kommandantur Dębica an den Judenrat in Tarnów 07.10.1940: betrifft Zustände im Judenlager; Brief des Judenrats an das Stadtkommissariat, 19.09.1940, AŻIH 211 (ŻSS – Żydowska Samopomoc Społeczna/Jüdische Soziale Selbst­ hilfe)/1018. Korespondencja Prezydium ŻSS z Radą Tarnowską w Tarnowie (1940); Sprawozdanie z pobytu w Tarnowie dnia 06.11.1941; Antwort des ŻSS an die KOP ŻSS Tarnów vom 25.11.1941, AŻIH 211: ŻSS/1021. Korespondencja Prezydium ŻSS z Komitetem Powiatowym ŻSS w Tarnowie/Dystrykt Kraków/01.11.1941–30.11.1941. 180 Hembera: Die Shoah, S. 89. 181 Ebd., S. 91. 182 Ebd., S. 92. 183 Ebd., S. 93–94. 184 Baicher, Israel: Interview 16493, 25.06.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff:  09.03.2021); zur Bestechungspraxis beim Arbeitsamt siehe auch YVA O.5/18. 185 Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 185; Bericht von Estera Sybirska AŻIH 301/2593.

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kapitel 5

später geschaffenen geschlossenen Ghettos nicht übereinstimmte und nach­ weislich sehr viele Jüdinnen und Juden bis Juni 1942 überall verteilt in der Stadt wohnen blieben und erst im Juni 1942 in das neu geschaffene geschlossene Ghetto umsiedeln mussten. Ein gezieltes Aushungern im geschlossenen Bezirk, welches Ruta Sakowska für Warschau als „indirekte Vernichtung“ bezeichnete, gab es so in Tarnów nicht.186 Verglichen mit der Situation in den Ghettos der Großstädte hatte es die Tarnower Bevölkerung tatsächlich nicht in dem Ausmaß mit ansteckenden Krankheiten und Hungertoten zu tun. Im gesamten Jahr 1941 zählte der Juden­ rat 452 Todesfälle und 223 Geburten sowie Ende 1941 insgesamt 184 Fälle von ansteckenden Krankheiten – bei einer Gesamtbevölkerung von 27 436 Jüdinnen und Juden zu diesem Zeitpunkt.187 Der jüdische Anteil machte zu diesem Zeit­ punkt etwa die Hälfte oder sogar etwas mehr der Gesamtbevölkerung der Stadt aus. Die Menschen litten dennoch unter der zunehmenden Armut und Mangelernährung, die Sterberate war höher als vor dem Krieg, jedoch war sie nicht so furchtbar wie in Warschau oder Łódź. Im Herbst 1941 reiste der jüdische Rechtsanwalt Zygmunt Millet aus dem Ghetto Warschau nach Tarnów. Er hatte einen Passierschein erhalten und verglich in seinem Bericht, welcher dem Ringelblum-Archiv übergeben wurde, die Lage zwischen Warschau und Tarnów. In Tarnów gibt es kein Ghetto. Die Straßenbahnen sind zur Hälfte für Juden bestimmt und zur Hälfte für Nichtjuden, der Tarif für Juden ist jedoch doppelt so hoch. Mit der Tram fuhr ich zu meinen Verwandten und erhielt weitere Informationen über das Leben der Juden. In Tarnów gibt es kein Ghetto und doch dürfen Juden nur auf bestimmten Straßenseiten laufen. […] Läden durften Juden noch selbst führen […] im Übrigen war die Situation unvergleich­ lich besser als bei uns in Warschau, sogar vor der Einführung des Ghettos. […] Auf einer lauten Straße, auf der Krakowska, sieht man fast nur noch deutsche Läden, in denen nur Deutsche kaufen dürfen. […] Ich erfuhr, dass einige meiner Bekannten während eines „Verhörs“ in der Gestapo umgekommen sind.188

186 Sakowska: Menschen im Ghetto, S. 36–66. 187 Brief der KOP ŻSS an die Kreishauptmannschaft Tarnów, Abteilung Fürsorge, vom 19.12.1941, enthält unter anderem: „Verzeichnis der ansteckenden Krankheiten bei der jüdischen Bevölkerung für die Zeit vom 01.01.1941 bis zum 30.11.1941 mit der Angabe des prozentualen Verhältnisses zur Gesamtzahl der jüdischen Bevölkerung in Tarnów“; Brief der KOP ŻSS an die Kreishauptmannschaft Tarnów, Abteilung Fürsorge vom 19.12.1941, AŻIH 211: ŻSS/1022. Korespondencja Prezydium ŻSS z Komitetem Powiatowym ŻSS w Tarnowie/Dystrykt Kraków/01.12.1941–26.12.1941, S. 49–50. 188 Bericht Zygmunt Millet: „Urlop z ghetta“, AŻIH/ARG (Archiwum Ringebluma)/721.

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Der Bericht ist davon geprägt, dass er aus der Sicht von jemandem verfasst wurde, der das Elend des Warschauer Ghettos hautnah miterlebt hatte. Tarnów im Jahre 1941 erschien ihm wie ein „Urlaub vom Ghetto“, wie er den Bericht euphemistisch betitelte. Obschon die Lage in Tarnów im Herbst 1941 für Jüdinnen und Juden äußerst gefährlich war, so war sie dennoch nicht in dem Maße bedrohlich wie zur selben Zeit im Warschauer Ghetto. Die Straßen­ bahn wurde im Übrigen 1942 von den deutschen Besatzern eingestellt.189 Diese erste Phase war dennoch geprägt von willkürlicher Gewalt der Sicherheitspolizei. Leon Lesser berichtete, dass ständig Jüdinnen und Juden geschlagen wurden, sodass man sich nicht mehr auf der Straße blicken lassen wollte.190 Elżbieta Brodzianka-Gutt erinnerte sich, dass sie als Jüdin mit Arm­ binde den Gehsteig verlassen musste, wenn sie einen uniformierten Deutschen sah. Sie habe dies auch getan, aber der Deutsche kam dennoch auf sie zu und schlug ihr ins Gesicht. Es war Mai oder April 1940.191 Tatsächlich wurden jüdische Menschen auch willkürlich von Angestellten der SicherheitspolizeiAußendienststelle erschossen, bereits vor dem Beginn der sogenannten Aus­ siedlungsaktionen. Die Historikerin Melanie Hembera zeigt, dass dieses Vorgehen zu der Zeit vom rechtlichen Standpunkt her zwar illegal war, aber die Sicherheitspolizisten kaum etwas zu befürchten hatten.192 In seiner Ver­ nehmung sagte der Sicherheitspolizei-Angehörige Gerhard Gaa aus: „Schon damals wurde bei den Juden nicht viel Federlesen gemacht. Mit ist bekannt, dass Juden aus allen möglichen und unmöglichen Gründen liquidiert worden sind. Auch habe ich gehört, dass in Judensachen keinerlei Berichte zu erstatten oder Rückfragen zu halten waren. Juden, die in irgendeiner Weise aufgefallen waren, konnten erschossen werden.“193 Einen Alltag versuchten sich die Menschen dennoch zu bewahren. Die jüdischen Schulen waren geschlossen und der Arbeitszwang galt ab dem zwölften Lebensjahr, dennoch waren einige Eltern bemüht, ihre Kinder heimlich unterrichten zu lassen. Davon berichtete Sam Goetz in seinen Erinnerungen.194 Auch die Mutter der 1927 geborenen Lila Wider heuerte für sie eine Lehrerin an: Gemeinsam mit ihrer Freundin Rutka Weiss und ihrem Cousin nahm Lila den Lehrstoff der ersten Gymnasialklasse durch und lernte 189 Barszcz: Tramwaje, S. 466. 190 Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598. 191 Brodzianka-Gutt spricht von einem „Deutschen“ ohne nähere Spezifikation, BrodziankaGutt, Elżbieta: Interview 25736, 04.12.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 192 Hembera: Die Shoah, S. 103. 193 Vernehmung Gerhard Gaa, 21.06.1963, zit. nach Hembera: Die Shoah, S. 103. 194 Goetz: I Never Saw My Face, S. 12.

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kapitel 5

Englisch.195 Später im Ghetto finden sich keine Berichte mehr von heimlichen Lernzirkeln. Der Jugendliche Hersh (genannt Henio) Leibel hinterließ Quellen aus der Zeit der ersten Phase der Shoah. Henio war Arztsohn und besuchte ebenso wie sein Bruder Amos (genannt Moniek) vor dem Krieg das öffentliche II. Jan-Hetman-Tarnowski-Gymnasium. Amos hatte noch vor dem Krieg sein Medizinstudium aufgrund des Numerus nullus an den polnischen Uni­ versitäten in Italien begonnen. Der Krieg hatte Amos in Tarnów überrascht und er floh in die Sowjetunion, während Henio daheimblieb. Henios bester Freund aus dem II.  Jan-Hetman-Tarnowski-Gymnasium Gershon Francoz (auch Eugeniusz, Geniek genannt) war der Enkel des langjährigen Vizebürger­ meisters Hermann Mütz (Dienstjahre mit Unterbrechung: 1912–1932) und der Neffe des bundischen Stadtrats Leon Mütz.196 Auch Geniek floh 1939 in die Sowjetunion. In den Briefen an Geniek vom Oktober 1940 berichtete Henio Leibel von der schweren finanziellen Lage der Familie und vom Alltag in Tarnów. Er und seine Mutter gingen täglich in das Allgemeine Krankenhaus zur Arbeit. Dort gab es eine jüdische Abteilung.197 Henio hatte gelernt, wie man Spritzen gab. Die Freundin Hilda Silber fügte zu den Briefen auch ein eigenes Blatt hinzu – sie schrieb eher in einem romantischen Tonfall, wie sehr sie Geniek vermisse und dass es so langweilig in Tarnów sei, obwohl sie viel zu tun habe.198 Auch Neska (Nachname unbekannt) schrieb am 21. September (vermutlich 1940) an den in die Sowjetunion geflohenen Isaak Topfer: „Zumindest sitze ich den ganzen Tag Woche für Woche von früh bis spät im Laden, da vergeht mir die Zeit irgendwie. Aber sie [die Bekannten – AW] lang­ weilen sich höllisch.“199 Die zeitgenössischen Quellen, deren Verfasserinnen und Verfasser noch nicht in die Abgründe blicken konnten, die die Zukunft für sie bereithielt, eröffnen zuweilen eine – für die Nachkommen – ungewohnte Perspektive. In den nachträglich verfassten Berichten und Memoiren trifft man kaum solche Beschreibungen des zäh dahinfließenden Alltags der ersten Phase der Besatzung. Doch für die Jugendlichen von damals war vermutlich der 195 Bericht Lila Wider, YVA O3.3516. 196 Francoz, Gershon: Interview, 02.06.2013, Haifa, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. Hermann Mütz war lange Jahre (1912–1932) stellvertretender Bürger­ meister Tarnóws gewesen, Leon Mütz 1939 für den Bund im Stadtrat. 197 Zeitgleich gab es auch ein jüdisches Krankenhaus, in dem beispielsweise Gizela Lamensdorf (später hieß sie Elżbieta Brodzianka-Gutt) arbeitete. Brodzianka-Gutt, Elżbieta: Interview 25736, 04.12.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 198 Briefe von Hersh Leibel und Gershon Francoz, YVA O.75/2119. 199 Isaak Topfer Postcard Collection, YVA O.75/1977.

Kriegsbeginn und erste Phase der Verfolgung

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Arbeitsalltag, gepaart mit der Polizeistunde und der Unmöglichkeit, sich frei zu entfalten, Freunde zu treffen oder sich mit einem Liebsten zu verabreden, schwer. In den Briefen wird auch deutlich, wie sehr die Situation für die Daheim­ gebliebenen abzuschätzen war. Was erwies sich Ende 1940 als die bessere Ent­ scheidung – dageblieben oder geflohen zu sein?200 Henieks Hauptsorge galt jedenfalls der Situation seines Freundes und seines Bruders in der Sowjet­ union.201 Von Moniek hätten sie schon lange nichts mehr gehört, ob Geniek etwas wisse? Doch vor allem versuchte Henio von Tarnów aus seinem Freund Geniek unaufhörlich Mut zu machen: „Halt durch! Mit Händen und Füßen! Das wird doch noch irgendwie!“ oder „Halt durch! Sieh Deine jetzige Lage als etwas Vorübergehendes, wie einen bösen Traum.“202 Henio beendete seinen Brief wie folgt: „Es wird uns schon noch besser gehen. Wir werden sicher­ lich wieder zusammenkommen, um in unserer alten Manier miteinander zu plaudern.“203 Doch Henio, seine Mutter und Hilda Silber werden den Krieg nicht überleben, während Geniek Francoz und Moniek Leibel, die in die Sowjetunion geflohen waren, sich nach dem Krieg beide in Haifa niederlassen werden.204 5.6

Radikalisierungsschub 1941

Nach dem Angriff auf die Sowjetunion veränderte sich alles, erinnerte sich die Tarnower Jüdin Franciszka Goldsztajn.205 Der Angriff NS-Deutschlands auf die Sowjetunion im Juni 1941 war eine bedeutende Zäsur. Im Spätsommer und Herbst 1941 begannen auf ehemals sowjetischen Gebieten die Massen­ morde an jüdischen Männern, kurze Zeit später auch an Frauen und Kindern. Die Radikalisierung des Krieges und der NS-Vernichtungspraxis nach dem Angriff auf die Sowjetunion wird von Historikerinnen und Historikern als eine bedeutende Stufe auf dem Weg zur „Endlösung“ und der „Aktion Reinhardt“ gesehen.206 Doch bevor die „Aktion Reinhardt“ in Tarnów im Juni 1942 begann, 200 Zur Lage der polnischen Jüdinnen und Juden in der Sowjetunion siehe Nesselrodt: Dem Holocaust entkommen. 201 Briefe von Hersh Leibel und Gershon Francoz, YVA O.75/2119. 202 Ebd. 203 Ebd. 204 Francoz, Gershon: Interview, 02.06.2013, Haifa, Israel; Lavyel, Shulamith (Witwe von Amos Leibel – später Lavyel): Interview, 01.06.2013, Haifa, Israel, beide durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. 205 Bericht Franciszka Goldsztajn, YVA O.3/2783. 206 Siehe dazu genauer Kapitel 6 „Genozid vor der Haustür – die erste ‚Aktion‘ in Tarnów“.

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kapitel 5

machte sich bereits seit Sommer 1941 ein Wandel in der Behandlung der Jüdinnen und Juden durch die deutschen Besatzer bemerkbar und die Sicher­ heitspolizei ging zu gezielten Tötungsaktionen über. Mehrere Zeitzeuginnen und -zeugen berichteten, dass 1941 die ersten Erschießungen mehrerer auf der Straße aufgegriffener Juden begannen, die sie nachträglich als „kleine Aktionen“ bezeichneten.207 Man habe damals 18  Männer auf der Straße erschossen (genaues Datum unbekannt), danach sei kein Tag vergangen ohne einige Todesopfer, berichtete Halina Korniło.208 Die Sicherheitspolizei nannte die Erschießungen „Aktion Russland­ heimkehrer“ – wann genau diese stattgefunden hat oder ob sie sich über einen längeren Zeitraum mit bestimmten Verdichtungsmomenten hinzog, konnte anhand der Quellenlage nicht geklärt werden.209 Die Sicherheitspolizei suchte gezielt nach Jüdinnen und Juden, die zu Beginn der Besatzung in die Sowjet­ union geflohen waren, aber nach dem deutschen Angriff in ihre Heimat­ stadt Tarnów zurückkehrten. Sie wurden als Kommunisten und sowjetische Agenten aufgegriffen, das stereotype Bild des Nexus zwischen Jüdinnen/Juden und Kommunismus gewann hierbei an Auftrieb. Der Judenrat erfasste listen­ mäßig alle Heimkehrenden, die sich in Tarnów meldeten, und übergab die Listen an die Sicherheitspolizei. Nussbaum, ein Mitarbeiter des Judenrats, der an der Erstellung der Listen mitgewirkt hatte, schätzte, dass rund 200–250 Menschen als „Kommunisten“ erschossen wurden.210 Cesia Honig kehrte mit ihrer Familie nach Tarnów zurück, als die Gebiete im Osten, in die sie 1939 geflohen waren, 1941 unter NS-Besatzung kamen. Ihr Großvater war über ihre Rückkehr nach Tarnów erschrocken, denn er wusste, dass die Rückkehrenden als Spione behandelt und ermordet wurden. Von nun an musste sich die Familie verstecken und illegal  – also auch ohne Meldekarte und Arbeits­ stempel – in Tarnów leben.211 Seit dem Beginn dieser „Aktion Russlandheimkehrer“ ging die Sicher­ heitspolizei dazu über, jüdische Menschen in größerem Umfang und in der Öffentlichkeit zu erschießen. Zwar hatte die Gestapo schon früher willkürlich 207 Bericht Halina Korniło, AŻIH 301/3228; Bericht Lila Wider, YVA O3/3516; Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021); Urteilsbegründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr.  10/777; Urteilsbegründung im Prozess gegen Walter Baach und Ernst Wunder, YVA Tr. 10/751; Zeugenaussage Leon Lesser, 07.02.1962, BAL B 162/2151. 208 Bericht Halina Korniło, AŻIH 301/3228. 209 Urteilsbegründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777; Urteilsbegründung im Prozess gegen Walter Baach und Ernst Wunder, YVA Tr. 10/751. 210 Urteilsbegründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777. 211 Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021).

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Juden (vielleicht auch Jüdinnen) erschossen, dies war aber zunächst noch ver­ einzelt geschehen. Nun camouflierte man den Tötungsgrund nicht mehr als „auf der Flucht erschossen“ oder Ähnliches, da dieser „Schein der Legalität […] von der Bevölkerung ohnehin nicht mehr ernst genommen wurde“.212 Anfang 1942 gingen die Mordaktionen weiter.213 Auch Józef Korniło berichtete, dass die Sicherheitspolizei im April  1942 neue Mordaktionen begann, bei denen rund 30  Juden aufgegriffen und getötet wurden. Täglich habe es kleinere „Aktionen“ gegeben, bei denen Juden erschossen wurden.214 Chomet schrieb von 56 Opfern im April 1942.215 Neben dem Gewaltschub, den die Tarnower Jüdinnen und Juden nun erfuhren, wurde ein Teil von ihnen seit dem Frühling 1942 zu Objekten rassistisch„anthropologischer“ Untersuchungen. Eine Studie zu galizischen „Judentypen“ wurde vom Anthropologischen Institut der Universität Wien und vom Institut für Deutsche Ostarbeit Krakau (Sektion Rassen- und Volkstumsforschung) in Tarnów durchgeführt. Innerhalb von 12  Tagen untersuchte das Forscherteam insgesamt 578 Personen. Die Menschen wurden vermessen und fotografiert. Anschließend wurde ein Bericht über die „Vorderasiatische Rasse“ angefertigt.216 5.7 Nähe und Distanz Der Amateurfotograf Augustyn Dagnan, Besitzer der Dagnan-Mühle, die sich direkt neben der Czacki-Schule befand, hielt in seiner Linse den Besatzungsall­ tag in dieser ersten Phase fest. Als die Fisz-Mühle Feuer fing, versammelten sich Schaulustige, jüdische und nichtjüdische Tarnowianerinnen und Tarnowianer sowie deutsche Besatzer in Uniform, um sich das Spektakel anzuschauen. Nur oberflächlich betrachtet mag man die Fotografien als Momentaufnahme einer sich versammelnden Gemeinschaft von Schaulustigen halten. Auch wenn die Menschen physisch zusammenkamen, so waren sie doch klar in dem durch die Besatzungsherrschaft ausgelösten Kräftefeld hierarchisch voneinander 212 Urteilsbegründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777, S. 60. 213 Ebd.; Bericht Lila Wider, YVA O3/3516. 214 Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600. 215 Chomet: Zagłada Żydów w Tarnowie, S. 32. 216 Siehe zu dieser „Forschung“ in Tarnów Berner: Letzte Bilder; im Jahre 2020/2021 fand in der Topographie des Terrors in Berlin eine Ausstellung zu den Untersuchungen in Tarnów statt, siehe: Der kalte Blick; zum IDO (Institut für Deutsche Ostarbeit) im größeren Kontext vgl. Rybicka: Instytut Niemieckiej Pracy Wschodniej; Schafft: From Racism to Genocide.

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kapitel 5

Abbildung 44 Schaulustige laufen vor der brennenden Mühle zusammen

Abbildung 45 Deutsche Besatzer, polnische Polizisten, Feuerwehr, Zivilisten und Kinder vor der Fisz-Mühle

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Abbildung 46 Polnische Polizisten, Feuerwehr, Juden und Kinder an der Fisz-Mühle

getrennt. Jüdinnen und Juden tragen Armbinden mit dem Davidstern, der sie sichtbar als zugehörig zu der niedrigsten Stufe dieser von den deutschen Besatzern aufoktroyierten rassistischen Hierarchie markiert. Nichtjüdische Polen sind ebenfalls als Schaulustige in der Gruppe zu erkennen. Unter ihnen sehen wir Uniformierte  – wie die Feuerwehr und die Blaue Polizei, die im Dienste der deutschen Besatzer stand. Die deutschen Besatzer, hier auch im Bild, strukturierten durch ihre „regulative Präsenz“ diese soziale Ordnung. Während der ersten Phase der Shoah (1939–1942) gab es in Tarnów kein Ghetto. Das prägte den Besatzungsalltag entscheidend. Jüdinnen und Juden stellten ungefähr die Hälfte der Lokalbevölkerung, vielleicht sogar etwas mehr, und lebten überall in der Stadt verteilt mit ihren nichtjüdischen Nachbarinnen und Nachbarn zusammen. Eine Spezifik Tarnóws bestand in der Gleich­ zeitigkeit von Nähe und Distanz unter der Lokalbevölkerung bis Mitte 1942. Die Nähe war geografisch und physisch gegeben, während zugleich eine Distanz zwischen Jüdinnen und Juden und ethnischen Polinnen/Polen in der rassistischen Hierarchisierung, vollzogen durch den deutschen Besatzer, klaffte.

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kapitel 5

Der nichtjüdische Teil der Lokalbevölkerung einerseits und der jüdische andererseits waren Opfer „unterschiedlicher Kategorien“. Sie waren „unequal victims“, um einen von Shmuel Krakowski und Yisrael Gutman verwendeten Ausdruck zu wiederholen.217 Die Besatzer schufen eine neue soziale Ordnung, welche von Machtgefällen unter den lokalen Akteursgruppen gekennzeichnet war. Die nichtjüdischen Polinnen und Polen waren Opfer der Besatzungsherr­ schaft – sie wurden als „minderwertig“ gegenüber den Deutschen angesehen. Die Razzien auf der Straße und die Verschickungen zur Zwangsarbeit waren brutale Maßnahmen. Politische Gefangene, die im Grunde relativ willkürlich verhaftet werden konnten, wurden in großen Zahlen ins Gefängnis gesteckt, gefoltert, in KZs deportiert oder vor Ort erschossen. Jüdinnen und Juden waren bereits zu Beginn des Krieges als eigene Opfergruppe stigmatisiert (Armbinde, Kennzeichnung der Geschäfte). Sie wurden restriktiveren Beschränkungen als die nichtjüdische Lokalbevölkerung unterzogen (strengere Polizeistunden, beschränkterer Zugang zu Lebensmitteln, Sonderabgaben, Schulverbot, Verbot, sich auf den Gehsteigen zu bewegen). Alle jüdischen religiösen Institutionen wurden physisch vernichtet, während die Glocken des Kathedralenturms weiterhin ertönten. Jüdinnen und Juden durften ganze Straßenzüge, Parks, Restaurants etc. nicht betreten. Die nichtjüdischen Polinnen und Polen ließen sich sogar ablichten vor „Juden verboten“-Schildern. Jüdinnen und Juden wurden beraubt und enteignet, und zwar mit einer Systematik, welche den nichtjüdischen Teil der Bevölkerung nicht im gleichen Ausmaß betraf. Das rief, wie weiter oben ausgeführt, zugleich Nutznießer der Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung auf den Plan, denn für die nichtjüdischen Polinnen und Polen eröffneten sich wiederholt Gelegenheitsfenster des Profitierens von der sogenannten Judenpolitik der Deutschen. Zudem wurden die Maßnahmen gegen Jüdinnen und Juden zunehmend brutaler: Seit Ende 1941 wurden Jüdinnen und Juden in „Kleinaktionen“ erschossen und nach rassistischen Kriterien vermessen. Da es kein Ghetto gab, eröffneten sich in dieser ersten Phase parallel dazu viele Interaktionsräume im Alltag. Nachbarschaftliche und Handels­ beziehungen waren noch immer möglich. Kajla Sandelman berichtete, dass die Familie, solange es kein Ghetto gab, noch einen Shabes-goy hatte  – ein nichtjüdisches Nachbarsmädchen, die jene Aufgaben für sie erledigte, die

217 Gutman/Krakowski: Unequal victims. Die Verfasser zeigen hier, dass die Ungleichheit seit Anbeginn des Krieges bestand.

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der jüdischen Familie am Schabbat traditionell untersagt waren.218 Elfriede Thierberger, eine Jüdin aus dem mährischen Ostrau, die nach dem Einmarsch deutscher Truppen in die „Resttschechei“ und der Gründung des „Protektorats Böhmen und Mähren“ im März 1939 nach Tarnów geflohen war, gab in einer christlichen Familie privaten Englischunterricht.219 Das christliche Haus­ mädchen der Goldbergs bot ihrem ehemaligen jüdischen Arbeitgeber – dem mehrmals hier erwähnten ehemaligen Stadtrat Salomon Goldberg – Hilfe an. Zu Kriegsbeginn versteckte er sich einige Tage in ihrer Wohnung, um nicht zur Zwangsarbeit eingezogen zu werden.220 Auch manch andere christliche Kinder- bzw. Hausmädchen versteckten gesuchte Jüdinnen und Juden für eine gewisse Zeit.221 Christlich-jüdische Freundschaften konnten in Hilfeleistungen für jüdische Familien münden.222 Der Handel ging weiter. Ela Hofmeister ver­ kaufte in einem Laden weiterhin Waren an die nichtjüdische Bevölkerung.223 Auch Gizela Gutter verdiente sich so ihr Geld. Doch im März 1942 drohten ihr nichtjüdische Kunden, sie an die Gestapo auszuliefern, sollte sie ihnen kein Bargeld aushändigen.224 Der Erpresserbrief ist in den Akten der Tarnower Staatsanwaltschaft noch erhalten. Das soziale Gewebe ließ sich wegen der vielfältigen Alltagsbeziehungen also nicht so leicht entwirren, doch parallel dazu begannen die Mechanismen des deutschen Terrorregimes zu wirken und begünstigten Erpresser und Profiteure der Situation der Jüdinnen und Juden, die in der von den deutschen Besatzern aufoktroyierten Hierarchie auf der untersten Stufe innerhalb der Lokalbevölkerung standen. Ein kurzer Film, gedreht durch einen deutschen Soldaten, zeigt Tarnów vermutlich im Jahr 1940 (vgl. Abb. 47). Er zeigt einen der wichtigsten Inter­ aktionsräume der Stadt – Alltagsszenen auf dem Rynek. Noch im Jahre 1940 sind hier Jüdinnen und Juden, nichtjüdische Polinnen und Polen zusammen präsent, geteilt durch die Hierarchisierung der deutschen Besatzer. Auch diese kommen im Film vor: Zum einen erscheinen sie im Bild mit ihren Insignien der Macht (Uniform, Hakenkreuz). Zum anderen ist die Kamera, die auf die Opfer 218 YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/3043. 219 YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/1179. 220 Klimek, Rahel: Interview, 24.05.2013, Ramat HaSharon, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. 221 Spielman, Elżunia (Elza): Interview, 24.05 2013, Herzliya, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska; Goetz: I Never Saw My Face. 222 Ebd.; Klimek, Rahel: Interview, 24.05.2013, Ramat HaSharon, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. 223 Bericht Bronisława Gawelczyk, YVA O.3/2833. 224 ANKr. Odd. T. 33/98 PSOT 26: I DS 270/42.

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kapitel 5

Abbildung 47 Marktplatz, vermutlich um 1940, Filmausschnitte

gerichtet ist, selbst ein Instrument der Macht. So wird der alte Interaktions­ raum, in dem sich weiterhin jüdische und nichtjüdische Tarnowianerinnen und Tarnowianer begegneten und trafen mit der Linse eines deutschen Soldaten eingefangen und aus den Augen des beherrschenden Betrachters gezeigt. Weder der Filmemacher noch die Geschichte des Films, der im Kreis­ museum Tarnów lagert, sind bekannt. Diese Bilder bilden die Täterperspektive auf die besetzte Bevölkerung ab.

kapitel 6

Genozid vor der Haustür – die erste „Aktion“ in Tarnów Die „zweite Phase“ der Shoah begann im Frühjahr 1942 mit der systematischen Vernichtung der polnischen Judenheiten im Generalgouvernement, mit der „Aktion Reinhardt“.1 Die Täterinnen- und Täterforschung hat sich bereits ausgiebig mit den Prozessen, die zur Radikalisierung der Judenvernichtung führten, beschäftigt. Historikerinnen und Historiker entwickelten unterschiedliche Modelle, um den Weg zur „Aktion Reinhardt“ zu erklären sowie jene Momente, in denen sich die Entscheidung zur Vernichtung der polnischen und europäischen Jüdinnen und Juden verdichtete, zu beschreiben.2 Forschende sehen den Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 und was unmittelbar folgte als eine endgültige Überschreitung der „Schwelle zum Massenmord“.3 Ab Juli 1941 ermordeten Einsatzkommandos, Einsatzgruppen und Polizeibataillone zunächst jüdische Männer, später auch jüdische Frauen und Kinder systematisch durch Massenerschießungen. Unter dem Eindruck dieser Massenmorde an Jüdinnen und Juden ab Sommer 1941 wurde auch im Generalgouvernement an radikaleren „Praktiken“ gegenüber den polnischen Judenheiten „gearbeitet“. Die „Spezialisten“ der Euthanasie-Aktion „T4“ standen nach dem Abbruch dieser im August  1941 zur Verfügung, um „effizientere“ Mordmethoden zu entwickeln.4 Bereits im Herbst 1941 erprobte man Vergasungen zunächst in Chełmno, im Reichsgau und später im Generalgouvernement.5 Zugleich wurde durch den Kriegsverlauf Ende 1941 immer deutlicher, dass die Sowjetunion nicht wie erhofft durch einen „Blitzkrieg“ erobert werden konnte.6 Eine eventuelle Umsiedlung von Jüdinnen und Juden 1 Lehnstaedt: Der Kern des Holocaust; Musiał: „Aktion Reinhardt“; Kuwałek: Das Vernichtungslager Bełżec; Arad: Bełżec, Sobibór, Treblinka. 2 Pohl: Von der „Judenpolitik“ zum Judenmord; Longerich: Wannseekonferenz; Longerich: Der ungeschriebene Befehl; Mommsen: Das NS-Regime; Musiał: Deutsche Zivilverwaltung; Seidel: Deutsche Besatzungspolitik. 3 Longerich: Politik der Vernichtung, S. 295. 4 Lehnstaedt: Der Kern des Holocaust, S. 32; zur Verflechtung der „Euthanasie“-Mörder und der „Aktion Reinhardt“ siehe Berger: Experten der Vernichtung. 5 Lehnstaedt: Der Kern des Holocaust, S. 32–33. 6 Der Dezember 1941 gilt als Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg – nach dem Angriff auf Pearl Harbor traten die USA in den Krieg ein. Die Rote Armee startete eine Großoffensive in dem sehr harten Winter 1941/42, sodass eine schnelle Eroberung der Sowjetunion durch die Wehrmacht gescheitert war. © Brill Schöningh, 2022 | doi:10.30965/9783657760091_008

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kapitel 6

aus dem Generalgouvernement ins „Ostland“ oder „Reichskommissariat“ stand somit nicht zur Verfügung.7 Der SS- und Polizeiführer in Lublin Odilo Globocnik (1904–1945) wurde von Heinrich Himmler (1900–1945) mit speziel­ len Befugnissen ausgestattet und ließ im Dezember 1941 mit dem Bau des Vernichtungslagers Bełżec beginnen.8 Die im Januar 1942 stattfindende Wannseekonferenz, auf der die „Endlösung der Judenfrage“ geplant wurde, sieht der Historiker Peter Longerich als „Momentaufnahme eines Prozesses“ der Radikalisierung, die in eine umfassendere Dynamik eingebettet war.9 Dieser Radikalisierungsprozess wird in der Holocaustforschung durch unterschiedliche Konzepte und Zugänge erklärt. Lange Zeit dominierte die Auseinandersetzung der sogenannten Intentionalisten mit Funktionalisten bzw. Strukturalisten die Forschung zum Nationalsozialismus sowie die Frage nach dem Führerbefehl zur „Endlösung“.10 Beide „Schulen“ unterscheiden sich hauptsächlich in ihrer Bewertung und Gewichtung der Rolle Hitlers im Prozess der Judenvernichtung.11 Hans Mommsen erklärte die Gewaltspirale der NSTäter durch eine „kumulative Radikalisierung“ verschiedener Akteursgruppen innerhalb des NS-Apparates, die angesichts ungeklärter Kompetenzen miteinander rivalisierten und somit die Radikalisierung vorantrieben.12 Peter Longerich unterstrich zudem die Eigeninitiative der Täter vor Ort.13 Ian Kershaw hob die Bedeutung des „working towards the Führer“-Prinzips heraus und rückte so beide „Schulen“ näher aneinander.14 Er argumentierte, dass Angehörige des NS-Herrschaftsapparats zwar initiativ waren, aber dennoch nach dem antizipierten Willen Hitlers agierten. Ihr vorauseilender Gehorsam beugte sich also Hitlers Willen und seiner antisemitischen Ideologie und führte letztlich zu einer „unstoppable radicalization.“15 Mittlerweile hat die neuere Täterforschung den Kreis der Täterinnen und Täter ausgeweitet und schätzt 7

8 9 10 11 12 13 14 15

Hans Frank, Generalgouverneur Polens, äußerte sich am 16. Dezember 1941 darüber, dass eine weitere Verschickung von Jüdinnen und Juden gen Osten nicht geplant sei und dass man sie nun „vernichten“ müsse. Vgl. Hilberg: Die Vernichtung, S.  506–507; Longerich: Politik der Vernichtung, S. 468; Pohl: Von der „Judenpolitik“ zum Judenmord, S. 98–100. Vgl. Pohl: Von der „Judenpolitik“, S. 97–110. Longerich: Politik der Vernichtung, S. 471; vgl. auch Longerich: Wannsee-Konferenz. Einen sehr guten Überblick über die Debatten gibt Kershaw: Hitler, the Germans, S. 42–43, S.  93–101; Longerich: Politik der Vernichtung, S.  13–15; Longerich: Der ungeschriebene Befehl. Zum Begriff der Polykratie zur Analyse der NS-Herrschaft siehe neuerdings Hachtmann: Polykratie. Mommsen: Der Nationalsozialismus, S. 785–791. Longerich: Politik der Vernichtung, S. 352–360. Kershaw: Hitler, the Germans, S. 42–43. Ebd., S. 43.

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die Anzahl der an der Shoah beteiligten Personen auf ca. 200 000 bis 250 000. Damit hat sich grundlegend das Verständnis des Holocaust geweitet, da sich hierbei die Perspektive von den „Gaskammern von Auschwitz“, als Chiffre für die Vernichtungslager insgesamt, hin zu den „killing fields“ im östlichen Europa und den direkten Mordaktionen verschob.16 Die hier nur schematisch vorgestellten Konzepte richten sich hauptsächlich auf herrschaftsstrukturelle Debatten, die lange Zeit die Täterforschung dominierten. Im Folgenden soll der Begriff der Radikalisierung, der so essenziell in der Forschung zu Täterinnen und Tätern ist, entliehen und für die Perspektive der besetzten Gesellschaften fruchtbar gemacht werden. Wie reagierten die Menschen in Tarnów auf einen solchen Radikalisierungsschub und konnten sie ihn antizipieren? Die Lokalbevölkerung musste in kürzester Zeit Handlungsoptionen und Überlebensstrategien entwerfen sowie Netzwerke schaffen. Für sie war – wie im Folgenden gezeigt werden soll – das, was morgens noch undenkbar erschien, am Folgetag schon zur Norm geworden. Es ist daher äußerst wichtig, danach zu fragen, was Radikalisierung aus Sicht der jüdischen Opfer und ihrer nichtjüdischen Nachbarinnen und Nachbarn bedeutete. Erst so können die Handlungen der lokalen Besatzungsgesellschaften als ein äußerst dynamischer Prozess beschrieben werden, der in enger Korrelation mit den Radikalisierungsschüben der Besatzer stand. Hierbei werden an einem Ort unterschiedliche Untersuchungsperspektiven gebündelt. Für die Beschreibung der ersten „Aktion“, welche die bei Weitem blutigste war, die meisten Opfer einforderte und bei welcher eine große Zahl von Menschen an Ort und Stelle, im gesamten Stadtraum, öffentlich erschossen wurde, dienten sowohl deutsche Quellen als auch jene der Überlebenden in polnischer und jiddischer Sprache sowie Erinnerungen der nichtjüdischen Stadtbewohnerinnen und -bewohner. Zunächst sollen die Handlungsrahmen beschrieben werden, die die deutschen Besatzer setzten. Komplementär dazu werden Erfahrungen und Wahrnehmungen der Jüdinnen und Juden sowie der nichtjüdischen Lokalbevölkerung und deren Beziehungen zueinander untersucht. Damit soll auch auf Lokalebene das Plädoyer Saul Friedländers für eine integrierte Geschichte des Holocaust eingelöst werden.17 Die dichte Beschreibung dessen, was vor Ort real passierte, schlägt eine Schneise, einen 16 17

Hierzu gibt Frank Bajohr einen fundierten Überblick, vgl. Bajohr: Neuere Täterforschung. Friedländer: Eine integrierte Geschichte des Holocaust. Neue Konzepte und Perspektiven setzten sich durch, die den Holocaust stärker als einen sozialen Prozess beschreiben – wie beispielsweise in dem eingangs erwähnten Projekt zu Besatzungsgesellschaften, das von Tatjana Tönsmeyer entwickelt wurde, oder auch in den neueren Arbeiten des Zentrums für Holocaust-Studien am IfZ in München, vgl. Bajohr/Löw (Hg.): The Holocaust and European Societies; Bajohr/Löw (Hg.): Der Holocaust.

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kapitel 6

ersten Zugang für ein tiefergehendes Verständnis der sozialen Prozesse unter der Lokalbevölkerung während der Shoah. Für die Alltagsdimension ist es unerlässlich, möglichst genau die einzelnen Geschehnisse und Etappen in der Stadt zu rekonstruieren. 6.1

Der Weg zur „Aktion Reinhardt“ 1942

Den „Kern des Holocaust“ stellte die „Aktion Reinhardt“ dar, ein Deckname für die Ermordung des Großteils der Judenheiten im Generalgouvernement innerhalb von anderthalb Jahren.18 Christopher Browning verdeutlicht in seiner Untersuchung zum Reserve-Polizeibataillon  101 die Schreckensbilanz des binnen zwölf Monaten durchgeführten Massenmords an den polnischen Judenheiten: Während Mitte März 1942 schätzungsweise noch rund 75 bis 80 Prozent aller späteren Holocaustopfer am Leben waren, traf dies Mitte Februar 1943 nur noch auf 20 bis 25 Prozent von ihnen zu.19 In diesem einen Jahr konzentrierte sich der Holocaust im Generalgouvernement. Der Lubliner SSund Polizeiführer Odilo Globocnik war federführend für die „Aktion Reinhardt“ verantwortlich, der insgesamt rund 1,8  Millionen Jüdinnen und Juden zum Opfer fielen, vorwiegend, obwohl nicht ausschließlich, polnische Jüdinnen und Juden.20 Sie wurden in den drei Vernichtungslagern Bełżec, Sobibór und Treblinka vergast. Die „Effizienz“ der Mordmaschinerie war erschreckend: Die Gaskammern von Bełżec fassten rund 1500 Menschen auf einmal, die innerhalb von ca. 20 Minuten vergast wurden. Die Leichenbeseitigung wurde zu einem enormen Problem, was in schreckenserregenden Szenen von den wenigen Überlebenden geschildert wurde.21 Den Deportationen gingen äußerst brutale sogenannte Aussiedlungsaktionen in den Ghettos voran, zum Teil auch Massenerschießungen vor Ort. Im März 1942 trafen die ersten 18

19 20 21

Der Ausdruck „Kern des Holocaust“ ist dem gleichnamigen Buch von Stephan Lehnstaedt entliehen, der sich ausgiebig der „Aktion Reinhardt“ widmet  – Lehnstaedt: Der Kern des Holocaust. Lehnstaedt kombiniert hierbei sowohl die organisatorische Täterseite wie auch minutiöse Beschreibungen der jüdischen Überlebenden. Davor erschienen: Arad: Bełżec, Sobibór, Treblinka; erst in den 2000er Jahren widmeten sich Forschende vermehrt der „Aktion Reinhardt“: Libionka (Hg.): Akcja Reinhardt; Musiał (Hg.): „Aktion Reinhardt“; Bensoussan: Aktion Reinhardt; Berger: Experten der Vernichtung; Kuwałek: Vernichtungslager Bełżec; Silberklang: Gates of Tears; Bryant: Eyewitness to Genocide; Libionka: Zagłada Żydów. Browning: Ganz normale Männer, S. 11. Lehnstaedt: Der Kern des Holocaust, S. 8; zur Sonderstellung Odilo Globocniks neben den anderen SS- und Polizeiführern siehe Pohl: Von der „Judenpolitik“ zum Judenmord, S. 96. Lehnstaedt: Der Kern des Holocaust, S. 80–82.

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Transporte aus den Ghettos Lublin und Lwów im Vernichtungslager Bełżec ein. Ab Juni 1942 wurden auch die Jüdinnen und Juden aus Tarnów dorthin deportiert. Zwischen März und November 1943 wurden die drei Vernichtungslager wieder abgebaut und alle Spuren beseitigt.22 6.2

Vorbereitungsmaßnahmen vor Ort

Für die Durchführung dieses breit angelegten Massenmordes bedurfte es der Planung und Organisation auf Distrikt- und Lokalebene. Zunächst sollen jene Menschen beschrieben werden, die das Morden in Tarnów planten, organisierten und durchführten. Die Logistik des Mordens verteilte sich auf diverse Zuständigkeitsbereiche, wobei der SS- und Polizeiapparat auf dem Weg zur „Endlösung“ zunehmend an Macht gegenüber der Zivilverwaltung gewann.23 Letztere spielte auf Lokalebene dennoch eine wichtige Rolle.24 Im Distrikt Krakau oblag die Planung, Durchführung und Leitung der „Aussiedlungsaktionen“ dem SS- und Polizeiführer Julian Scherner. Dieser Begriff oder auch seine Kurzform „Aktionen“ waren Euphemismen für die Deportation von Jüdinnen und Juden in Vernichtungslager und die Massenerschießungen vor Ort. Um diese Aufgabe zu bewerkstelligen, stand Scherner ein Stab zur Verfügung, der im Frühjahr 1942 zu diesem Zweck fast verdoppelt wurde.25 SS-Sturmbannführer Martin Fellenz war Stabsführer, Hans Bartsch Adjutant und Wilhelm Kunde Referent für „Judenangelegenheiten“.26 Letzterer ließ sich laut Zeugenaussage einen speziellen „Schießhandschuh“ – mit drei Fingern – anfertigen, um die Hände bei dem vielen Schießen zu schonen.27 22 23

24

25 26 27

Ebd., S. 135–144. Ausdruck dessen war, dass Himmler am 7. Mai 1942 die Ernennung des Höheren SSund Polizeiführers Friedrich-Wilhelm Krüger als Staatssekretär für das Sicherheitswesen im Generalgouvernement erwirkte. In der Folge ging die Zuständigkeit für alle „Judenangelegenheiten“ an die Sicherheitspolizei über, siehe dazu „Zur Endlösung der Judenfrage unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse im Distrikt Krakau“, wissenschaftliches Gutachten erstattet von Dr. Wolfgang Scheffler am 16.11.1971 vor dem Schwurgericht Arnsberg, Aktenzeichen: 6 Ks 4/70; 45 Js 31/64, BAL B 162/144, S. 17; hierzu auch Hembera: Die Shoah, S. 166. Ebd.; „Zur Endlösung der Judenfrage unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse im Distrikt Krakau“ wissenschaftliches Gutachten erstattet von Dr.  Wolfgang Scheffler am 16.11.1971 vor dem Schwurgericht Arnsberg, Aktenzeichen: 6 Ks 4/70; 45 Js 31/64, BAL B 162/144, S. 17. Hembera: Die Shoah, S. 170. Vgl. dazu sowie zu den Biografien der hier erwähnten Täter ebd., S. 171–175. Ermittlungsakten zu Wilhelm Kunde, BAL B 162/2553.

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kapitel 6

SS- und Polizeiführer Scherner und sein Stab organisierten die Aussiedlungsaktionen im ganzen Distrikt Krakau und gingen mit einer „geografischen Systematik“ vor.28 Die „Aktionen“ im Distrikt begannen in Krakau, bewegten sich dann Richtung Osten fort und im Uhrzeigersinn wieder zurück.29 Sie begannen im Distrikt am 1.  Juni und umfassten hauptsächlich die Monate zwischen Juni und September  1942. Scherner mobilisierte für die „Aussiedlungen“ diverse Einheiten, die an die jeweiligen Orte anreisten, um die Deportationen und das Morden durchzuführen, so die Sicherheitsund Ordnungspolizei sowie SS-Verbände.30 Um die Koordinierung dieser Einheiten zu gewährleisten, fanden vorab Besprechungen mit den entsprechenden Kommandeuren statt.31 An den jeweiligen Orten wurden die Kreishauptmänner über die „Aktionen“ informiert.32 Der Verlauf der „Aktion“ wurde kurz vor Beginn detaillierter vor Ort, also in den Städten und Städtchen im Distrikt, besprochen, häufig bei den Kreishauptmännern.33 Ein Vertreter des Stabs des SS- und Polizeiführers im Distrikt, beispielsweise Martin Fellenz oder Hans Bartsch, leitete die Sitzung unter Beteiligung der Leiter der örtlichen Sicherheitspolizei und Ordnungspolizei, zum Teil auch des Leiters des Arbeitsamtes, manchmal auch der Wehrmacht.34 Neben den Einheiten vor Ort kamen also auch Stäbe und Einheiten von außerhalb in die jeweiligen Städte, allein zum Zwecke des Mordens. Der Stabschef des SS- und Polizeiführers im Distrikt, Martin Fellenz, hatte den Gang der „Aussiedlungen“ zu prüfen und gegebenenfalls Bericht an Scherner zu erstatten.35 Fellenz reiste zum Teil bei den „Aktionen“ mit. Persönlich war er mindestens in Tarnów, Rzeszów, Przemyśl und Michałowice während der „Aktionen“ dabei.36 In größeren Städten gingen die Täter bei den 28 29

30 31

32 33 34 35 36

Hembera: Die Shoah, S. 179. Vgl. „Zur Endlösung der Judenfrage unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse im Distrikt Krakau“ Wissenschaftliches Gutachten erstattet von Dr. Wolfgang Scheffler, am 16.11.1971 vor dem Schwurgericht Arnsberg Aktenzeichen: 6 Ks 4/70; 45 Js 31/64, unveröffentlicht, BAL B 162/146, S. 82–83. Hembera: Die Shoah, S. 175–176. Bei den Besprechungen mit den für den Einsatz vorgesehenen Polizei- und SSEinheiten waren Kommandeure der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes, die Kommandeure der Ordnungspolizei und die Kommandeure der Gendarmerie dabei, BAL B 162/4695, Bl. 26; vgl. dazu Hembera: Die Shoa, S. 176–177. Hembera: Die Shoa, S. 176–177. BAL B 162/4695, Bl. 26. Hembera: Die Shoah, S. 170–171. Zeugenaussage Wilhelm Kunde, zum Zeitpunkt selbst in Untersuchungshaft, BAL B 162/19257. Urteilsverkündung im Prozess gegen Martin Fellenz, YVA Tr. 10/598.

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„Aussiedlungen“ in ähnlicher Weise vor. In Rzeszów beispielsweise wurde die „Aussiedlung […] in fast gleicher Weise wie in Tarnów durchgeführt“.37 Die „Aussiedlungen“ liefen jeweils nach einem ähnlichen Muster ab: Die Jüdinnen und Juden vor Ort mussten sich zunächst registrieren. Dabei war es von entscheidender Bedeutung, wer in einem Betrieb arbeitete und als „arbeitsfähig“ eingestuft wurde. Am Tag der „Aktion“ umstellten Einheiten das Ghetto bzw. die Stadt, in Tarnów übernahm diese Aufgabe mitunter die polnische Blaue Polizei. Die Täter brachten Jüdinnen und Juden, die zur „Deportation“ bestimmt waren, zu einem Sammelplatz. Wertsachen und Geld wurden ihnen abgenommen. Von diesen Sammelstellen trieben die SS- und Polizeiformationen die Menschen zum Bahnhof, wo sie in Waggons gepfercht und in ein Vernichtungslager, im Distrikt Krakau war es Bełżec, gebracht wurden.38 Es fanden aber auch Erschießungen vor Ort statt. Ab Mai 1942 begannen die deutschen Besatzer in Tarnów mit den Vorberei­ tungsmaßnahmen vor Ort.39 War bislang die Zivilverwaltung für sogenannte Judenangelegenheiten zuständig, so übernahm – ähnlich wie auf Ebene des Generalgouvernements und des Distrikts – ab Mai 1942 allein die Sicherheitspolizei die Befugnisse.40 In der Folge fanden auch in der Sicherheitspolizei-Außendienststelle Tarnów mehrere Veränderungen statt. Ab Mai 1942 übernahm Josef Palten die Leitung der örtlichen Sicherheitspolizei und setzte ein neues Referat ein, das sich ausschließlich den „Judenangelegenheiten“ widmen sollte.41 Dessen Leiter wurde ab Mai 1942 der zu diesem Zwecke nach Tarnów berufene Wilhelm Rommelmann.42 Er galt seiner Brutalität wegen als Schlächter von Tarnów, als „scharfer Hund“, auch unter seinen Kollegen.43 Die jüdischen Überlebenden nannten ihn seiner Allmacht wegen den „Gott der Juden von Tarnów“.44 Ende Mai 1942 erging ein Befehl an den Leiter des Ordnungsdienstes, die Anzahl der jüdischen Polizeikräfte zu erhöhen.45 Kurz vor der „Aktion“ begann die Sicherheitspolizei mit den Vorbereitungsmaßnahmen und ordnete an, die jüdische Bevölkerung in „arbeitsfähige“

37 38 39 40 41 42 43 44 45

Urteilsverkündung im Prozess gegen Martin Fellenz, YVA Tr. 10/598. Hembera: Die Shoah, S. 176–177. Ebd., S. 189. Urteilsbegründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777. Ermittlungsverfahren gegen Josef Palten/Hermann Blache, BAL B 162/2150. Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818. Ermittlungsverfahren gegen Josef Palten/Hermann Blache, BAL B 162/2150. Ignacy Pasternak, in: Oysforshung opteyl der DP Police jidisher cetrale Landsberg (29.08.1946), Abschrift in BAL B 162/746, Bl. 349–353. Hembera: Die Shoah, S. 189; Chomet: Zagłada Żydów w Tarnowie, S. 34.

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kapitel 6

Jüdinnen und Juden und solche, die es in ihren Augen nicht waren, zu unterteilen. Der Judenrat und das Arbeitsamt erarbeiteten Aufstellungen für die Sicherheitspolizei.46 Alle Juden, die älter als 50 Jahre waren, sollten als „arbeitsunfähig“ eingestuft werden.47 Auch in anderen Städten war die Vorgangsweise mit Stempeln nicht unüblich, so auch beispielsweise im Distrikt Lublin.48 Die Interessen der unterschiedlichen (Lokal-) Behörden des Besatzungsapparats bei der Listenaufstellung der „Arbeitsfähigen“ gingen weit auseinander. Wie Hembera beschreibt, begann bei den Dienstbesprechungen zwischen dem Stab des SS- und Polizeiführers, der angereist war, um die „Aussiedlungen“ durchzuführen, und den lokalen zivilen wie auch militärischen Behörden, wie Arbeitsamt, Kreishauptmänner und Wehrmacht, häufig ein „Feilschen“ um Juden.49 Ganz deutlich wurde die Zuspitzung im Konflikt zwischen unterschiedlichen Besatzungsbehörden in Przemyśl. Als die vom SS- und Polizeiführer Scherner eigens für die „Aktion“ angeforderten Truppen die Brücke am San überqueren wollten, um die auf der anderen Seite wohnenden Jüdinnen und Juden „auszusiedeln“, stellte sich ihnen die Wehrmacht entgegen und blockierte die Brücke. Wehrmachtsoffiziere verlangten, dass jene Jüdinnen und Juden, die in den militärischen Betrieben arbeiteten, verschont blieben. Ein stundenlanges Gezerre, begleitet von gegenseitigen Drohungen zwischen SS und Wehrmacht, begann.50 Zwischen einem utilitaristischen Verständnis von Jüdinnen und Juden als Arbeitskräfte zu Sklavenbedingungen, die für die deutsche (Kriegs-)Wirtschaft von Nutzen seien, und dem Vernichtungswillen des NS-Polizeiapparats, der bereits die „Endlösung“ in Gang gesetzt hatte, klaffte eine erhebliche Lücke. Dies führte zu Konflikten vor Ort, die situativ ausgetragen werden mussten. In Przemyśl setzte sich zunächst die Wehrmacht durch. Dieses Beispiel zeigt individuelle Handlungsoptionen der diversen Entscheidungsträger der Besatzungsmacht vor Ort auf. Dass der Stab des SS- und Polizeiführers bei den „Aussiedlungen“ die Befehlsgewalt hatte, verleitete die Mitarbeiter der Zivilverwaltung in Nachkriegsprozessen dazu, die eigene Rolle zu verharmlosen.51 „Ich glaube, wir 46 47 48 49 50 51

Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; Prozess gegen Martin Fellenz, YVA Tr. 10/598. Ebd.; Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818. Dazu auch Silberklang: Gates of Tears, S. 277–278. Hembera: Die Shoah, S. 177. Prozess gegen Martin Fellenz, YVA Tr.  10/598; siehe auch Haase: Oberstleutnant, S. 188–190. Siehe Aussage von Ernst Wedekind, Leiter der Abteilung Fürsorge und Personalwesen in der Zivilverwaltung, der Kreishauptmann Dr.  Kipke hätte mit den Judenaussiedlungen nichts zu tun gehabt, BAL B 162/2150.

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fühlten uns alle von den zuständigen SS-Behörden überfahren“, gab Alfred Eckmann zu Protokoll, der Chef des polnischen Baudienstes im Kreis Tarnów.52 „Bei der vorerwähnten Unterhaltung mit dem Kreishauptmann [Alfred Kipke – AW] und seinem Stellvertreter [Karl Pernutz – AW] ahnten wir noch nicht, was sich am darauffolgenden Tage in Tarnow ereignen würde. Wir gingen davon aus, dass ein Teil der jüdischen Bewohner in Tarnow abtransportiert würde. Die offizielle Bezeichnung für den Abtransport war ‚Aussiedlung‘.“53 Karl Pernutz, damals stellvertretender Kreishauptmann, gab in einem Nachkriegsprozess zu Protokoll, dass er mit Alfred Kipke, Kreishauptmann von Tarnów, noch versuchte, eine „möglichst hohe Zahl von jüdischen Arbeitskräften“ zu retten.54 Neben der Relativierung der eigenen Verantwortung verweist das Zitat auf das Machtgefüge zwischen unterschiedlichen Behörden auf Lokalebene und deren divergierende Interessen. Tatsächlich war aber die Rolle der Zivilverwaltung bzw. der Kreishauptmänner bei der Durchführung Shoah nicht unerheblich.55 Vor Ort gab es bei Weitem nicht genug deutsche Einsatzkräfte, um die „Aktion“ durchzuführen. In der Sicherheitspolizei-Außenstelle Tarnów waren zu dem Zeitpunkt vermutlich um die 23 Männer beschäftigt, die Schutzpolizei zählte 15  Männer.56 Dem Kreishauptmann unterstand zudem der „Sonderdienst“, der sämtlich aus „Volksdeutschen“ bestand.57 Meistens wurden sie aber außerhalb des Stadtgebietes, also in den Ortschaften im Kreis, eingesetzt.58 Die polnische sogenannte Blaue Polizei zählte ca. 74 Männer.59 Auch Teile des polnischen Baudienstes wurden angefordert. Dieser zählte im Juni 1942 ca. 1100 Männer im Kreis Tarnów, in der Stadt selbst befanden sich vermutlich zu dem Zeitpunkt mehrere Hundert Männer.60 Der Baudienst bestand

52 53 54 55 56 57 58 59 60

Aussage Alfred Eckmann, Leiter des Baudienstes in Tarnów, 1965, BAL B 162/19257, Bl. 18. Aussage Alfred Eckmann vom 29.03.1962, BAL B 162/2151, Bl. 945b–946. Zit. nach Hembera: Die Shoah, S. 191. Siehe dazu Roth: Herrenmenschen, S. 204–205, 426 ff. Zur Sicherheitspolizei Schätzung von Christopher Browning, vgl. Browning: Beyond Warsaw and Łódź, S. 81; zur Schutzpolizei: Aussage Julius Strauß, Chef der Schutzpolizei, BAL B 162/2156, Bl. 2260. Aussage Alfred Eckmann, Leiter des polnischen Baudienstes, 1965, BAL B 162/19257, Bl. 13; Aussage Georg Julius Strauß, Chef der Schutzpolizei Tarnów, BAL B 162/2156, Bl. 2259; vgl. auch Browning: Beyond Warsaw and Łódź, S. 81. Aussage Georg Julius Strauß, Chef der Schutzpolizei Tarnów, BAL B 162/2156, Bl. 2259. Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 109. AAN 111: Rząd GG/554 und 554/1.

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kapitel 6

aus zwangsrekrutierten polnischen Männern des Jahrgangs 1922, zu dem Zeitpunkt also 19 bis 20 Jahre alt.61 Der SS- und Polizeiführer Julian Scherner forderte zusätzlich noch die Gendarmerie, die im Kreis Tarnów ca. 150 Männer umfasste, sowie Polizisten des Reserve-Polizeibataillons  307 an. Das Bataillon hatte schon an Massenerschießungen in Brest-Litowsk im Juli 1941 teilgenommen und war seit Mai 1942 in Rzeszów stationiert, wobei ein Teil der Kompanie in Tarnów war.62 Rund 50 km von Tarnów entfernt lag das im Herbst 1940 geschaffene Zwangsarbeitslager Pustków, dessen SS-Wachbataillon „SS-Truppenübungsplatz Dębica“ auch zu den „Aussiedlungsaktionen“ beordert wurde.63 Zu der Zeit befand sich eine Schutzmannschaft aus „Fremdvölkischen“ beim Truppenübungsplatz, vermutlich handelte es sich dabei um ukrainische, unter Umständen auch lettische „Hilfswillige“. Sie unterstanden keiner SS-Einheit, jedoch dem Kommandanten des Truppenübungsplatzes.64 Einige Überlebende aus Tarnów berichten von ukrainischen Tätern während der „Aktion“, die russisch bzw. ukrainisch gesprochen hätten.65 Es wird sich vermutlich um Angehörige dieser „fremdvölkischen Schutzmannschaft“ gehandelt haben, die auf dem Truppenübungsplatz Dębica, später Heidelager, stationiert waren. Der Leiter der Schutzpolizei Tarnów bestätigte: „Außerdem erschienen zu solchen Einsätzen Einheiten ukrainischer Hilfswilliger, die jedoch nicht in Tarnów stationiert waren. Diese wurden in erster Linie zur Unterstützung der Sicherheitspolizei herangezogen.“66 Johannes Kleinow, Kompanieführer am Truppenübungsplatz Dębica und ein ausgesprochener Antisemit, bestätigte, dass er im Sommer 1942 den Befehl erhielt, mit seinen Einheiten, unter anderem der Schutzmannschaft, zu einem „Judeneinsatz“ nach Tarnów auszurücken.67 In den Ermittlungsakten gegen Kleinow befindet sich die Abschrift eines Briefes von ihm an seine Ehefrau: In den letzten Tagen konnte ich nicht an Dich schreiben, wir waren in der Gegend von Tarnow auf Judentreibjagd. Morgens um 1 hiess es heraus aus den Betten, die Dörfer umstellen und die Juden zusammentreiben. Tolle Dreckjuden sag ich 61 62 63 64 65 66 67

Zur Rolle des Baudienstes vgl. Kapitel 8 „Polen in Uniform: der polnische Baudienst und die Blaue Polizei“. Curilla: Der Judenmord in Polen, S. 346–347. Häftlinge haben häufig von Pustków gesprochen, während die Deutschen vom Polenbzw. Judenlager sprachen, BAL B 162/4631. Zum ZAL Pustków siehe Hembera: Das jüdische Zwangsarbeitslager Pustków; Hembera: Ermittlungsakten aufgeschlagen. Aussage Johannes Kleinow, BAL B 162/1340, Bl. 16. Bericht Marian H. AŻIH 301/580. Aussage Georg Julius Strauß, Chef der Schutzpolizei Tarnów, im Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache, BAL B 162/2150. Aussage Johannes Kleinow, BAL B 162/1340, Bl. 16.

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Dir. Gestern wars am Schlimmsten. 3600 haben wir geholt, Männer, Weiber und Kinder. Bei diesem in Lumpen gehüllten Pack haben wir schätzungsweise ¼ Millionen Mark und viele goldene Uhren und Schmuck gefunden.68

Sowohl das Bataillon „SS-Truppenübungsplatz Dębica“ als auch das Polizeibataillon  307 wurden bei weiteren „Aussiedlungsaktionen“ im Distrikt vom Stab des SS- und Polizeiführers angefordert, beispielsweise in Rzeszów und Przemyśl.69 Am Vorabend der ersten „Aktion“ in Tarnów, die am 11. Juni 1942 begann, setzte sich die Stadtbevölkerung zur Hälfte aus jüdischen und nichtjüdischen Menschen zusammen, unter Umständen war die jüdische Bevölkerung sogar zahlreicher.70 Ihre Gesamtzahl wird auf 30  000 Jüdinnen und Juden geschätzt.71 Ihnen standen samt der angeforderten Truppen schätzungsweise 600 bewaffnete deutsche Männer und 74  Mitglieder der polnischen Blauen Polizei gegenüber.72 Ein Teil der Baudienstler wurde ebenso in die „Aktion“ mit einbezogen.73 Die Zahl der ukrainischen Hilfswilligen ist unbekannt. In den Tagen vor der „Aktion“ bemerkten Zeitzeuginnen und -zeugen, wie sich immer mehr SS-Männer um die Stadt versammelten.74 Kurz vor Beginn der „Aktion“ kamen zehn bis zwölf LKWs mit SS-Männern an, etwa 100 bis 120 Männer.75

68 69 70 71

72

73 74 75

Abschrift des Briefes von Johannes Kleinow an seine Ehefrau, BAL B 162/1340, Bl. 17. Prozess gegen Martin Fellenz, YVA Tr. 10/598; zum Polizeibataillon 307 siehe Curilla: Der Judenmord in Polen, S. 349–356. „Tarnów war ja mit Juden überfüllt. Juden und Polen hielten sich die Waage, möglicherweise gab es im Juni 1942 mehr Juden als Polen“, Aussage Alfred Eckmann, Leiter des Baudienstes in Tarnów, 1965, BAL B 162/19257, Bl. 17. Hembera: Die Shoah, S. 189. Hembera zweifelt die bisher in der Forschung zitierte Zahl von 40 000 an, siehe ebd. Fußnote 147. Im Spätherbst 1941 sollen sich 31 775 Jüdinnen und Juden in Tarnów befunden haben: „Zur Endlösung der Judenfrage unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse im Distrikt Krakau“, unveröffentlichtes wissenschaftliches Gutachten erstattet von Dr. Wolfgang Scheffler, am 16.11.1971 vor dem Schwurgericht Arnsberg, Aktenzeichen: 6 Ks 4/70; 45 Js 31/64, BAL B 162/144, S. 60; Pietrzykowa schätzt, dass sich im Juni 1941 insgesamt 27 629 Jüdinnen und Juden in Tarnów-Stadt aufhielten, Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 184. Die Schätzung stammt von Christopher Browning, vgl. ders.: Beyond Warsaw and Łódź, S. 81. Browning schätzt die Anzahl der polnischen Blauen Polizisten auf 100, Pietrzykowa liefert dagegen genauere Zahlenaufstellungen und nennt für das Jahr 1942 insgesamt 74 polnische Polizisten in der Stadt selbst und 200 weitere im Kreis. Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 108. Siehe dazu Kapitel 8 „Polen in Uniform: der polnische Baudienst und die Blaue Polizei“. Z. B. Goetz: I Never Saw My Face, S. 34. Hembera: Die Shoah, S. 192.

340 6.3

kapitel 6

Die Stempel zum Leben

Einen Tag vor der „Aktion“, am 10. Juni 1942, erschien ein Aufruf an alle Jüdinnen und Juden, an den sich die jüdischen Überlebenden sehr genau erinnerten.76 Der Aufruf kündigte die „Umsiedlung“ an und enthielt Anweisungen für Jüdinnen und Juden, wie sie sich am Folgetag zu verhalten hatten. Von der „Umsiedlung“ ausgenommen waren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des jüdischen Krankenhauses sowie jene, die als „arbeitsfähig“ eingestuft wurden, also deren Arbeitsausweise mit Stempeln der Sicherheitspolizei versehen waren. Die Stempel wurden noch in der Nacht an zwei Kontrollstellen, in der Czacki-Schule sowie im Arbeitsamt in der Tertilgasse, ausgegeben. Zur Sammelstelle am Rynek, dem Hauptplatz, sollten sich alle Personen ohne (den richtigen) Stempel mit maximal zehn Kilogramm Gepäck einfinden. Alle, die der „Umsiedlung“ zu entgehen versuchten, würden erschossen. Die Veräußerung von Wertsachen an nichtjüdische Polinnen und Polen stand unter Todesstrafe. Alle Anordnungen standen bei Zuwiderhandlung unter Todesstrafe. Der Judenrat und der OD (Ordnungsdienst) hafteten persönlich unter Androhung der Todesstrafe für die Durchführung der Anordnungen.77 Das Ergattern der Stempel auf den Kennkarten am Vortag der „Aktion“ nahm in den Erinnerungen der Überlebenden großen Raum ein. Ein Stempel sollte über Leben und Tod eines Menschen entscheiden. Doch die Menschen wurden vorsätzlich im Unklaren darüber gelassen, welcher Stempel was bedeutete und auf welcher Grundlage er vergeben wurde, was also letztlich die angekündigte „Aussiedlung“ real bedeutete. Viele versuchten sich zunächst zu orientieren und aus den bruchstückhaften Informationen zu deuten, was nun geschehen solle und wie darauf am besten zu reagieren sei. Blanka Goldman berichtete: Am  9. Juni nachmittags erschienen plötzlich Bekanntmachungen auf den Straßen über die schrittweise Aussiedlung von Juden in andere Ortschaften zum Arbeitseinsatz. Man unterstrich, dass jeder zu diesem Zweck einen Stempel braucht, die Juden, die in Tarnów arbeiten, würden hierbleiben, der Rest würde ausgesiedelt. Man konnte sich ab sofort um die Stempel bemühen und trotz der Polizeistunde die ganze Nacht herumlaufen, um die Stempel zu besorgen. Es gab zwei Arten von Stempel: Einen mit einem Hakenkreuz und der Aufschrift Sicherheitspolizei und einen anderen mit dem Buchstaben „K“. Was diese Zeichen bedeuteten, wusste keiner und sie wurden willkürlich vergeben. Es gab zwei Ämter, in denen SS-Männer und Gestapo die Stempel erteilten: in der CzackiSchule und im Arbeitsamt in der Tertilgasse.78 76 77 78

Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600. Der Aufruf ist in Gänze abgedruckt bei Hembera: Die Shoah, S. 190–191. Bericht Blanka Goldman, AŻIH 301/2059.

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Die Menschen unternahmen alle möglichen Anstrengungen, um einen „guten“ Stempel zu ergattern  – ohne genau zu wissen, was sie erwarten würde. Der Überlebende Leon Lesser berichtete: „Einige Stempel mit dem Hakenkreuz nannten sie ‚Hoheitsstempel‘, andere hatten den Buchstaben ‚K‘. Niemand wusste, welcher besser sei, aber in der Luft hing etwas Unheilvolles, man flüsterte etwas von Aussiedlungen, aber niemand wusste etwas Genaueres.“79 Was dieses Unheilvolle sein könnte, mochte sich keiner in letzter Konsequenz vorstellen: „Als man dann anfing über die Aussiedlung zu munkeln, hat niemand geahnt, dass die Aussiedlung gleichbedeutend mit Tod sei. Keiner meiner Freunde dachte damals an den Tod“, erinnerte sich Janina Schiff an die Tage direkt vor der ersten „Aktion“.80 Auch Izrael Izaak, der Kutscher des Judenrats, der unter anderem Wilhelm Rommelmann, Gerhard Grunow und andere hochgestellte SiPo-Männer durch den Stadtraum fuhr und deshalb besseren Zugang zu Informationen besaß, konnte sich auf die eigene Situation und die seiner Familie keinen Reim machen: „Ich wusste nicht, ob ich einen guten Stempel bekommen hatte, weil das ja damals das erste Mal war und es gab zweierlei Stempel. Ich bekam einen runden Stempel. Erst unterwegs traf ich einen OD-Mann und er sagte mir, dass der Judenratsvorsitzende und die Kahal-Beamten dieselben Stempel bekommen hatten und dass es ein guter Stempel sei.“81 Um den Stempel mit dem Buchstaben „K“ begann sogleich ein nervöses Rätselraten. Er wurde von den Betroffenen mit allerlei Bedeutungen versehen. „K“ solle für das Wort „Kontingent“ stehen, oder gar „Kugel“, vielleicht auch „kaputt“.82 Der administrative Akt des (Ab-) Stempelns am Schreibtisch im Arbeitsamt in der Tertilgasse oder in der Czacki-Schule entschied über Leben und Tod eines Menschen. Wie aus den Erinnerungen deutlich wird, versuchten die Tarnower Jüdinnen und Juden noch zu diesem Zeitpunkt im Handeln der Deutschen irgendeine Sinnhaftigkeit zu erkennen, die es ihnen erlauben würde, zu reagieren oder eigene Strategien zu entwickeln. Abraham Chomet schrieb 79 80 81 82

Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598. Bericht Janina Schiff, AŻIH 301/2081. Bericht Izreael Izaak, AŻIH 301/818. Bericht Blanka Goldman, AŻIH 301/2059; Bericht Lila Mitler, AŻIH 301/4022; Bienenstock, Regina: Interview 33388, 19.09.1997. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff:  11.04.2021); Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff:  09.03.2021); siehe auch Sam Goetz: „We compared the two different stamps, the little ‚K‘ and the round blue-inked stamp on my card. My parents were tense and upset but were unable to grasp the significance of the two stamps“, Goetz: I Never Saw My Face, S. 34; vgl. Chomet: Zagłada Żydów w Tarnowie, S. 34.

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vom Versuch, die Pläne der deutschen Täter zu „dechiffrieren“.83 Das Nichtwissen schränkte die agency der Opfer extrem ein – sie versuchten, aus bruchstückhaften Informationen zu erahnen, was passieren würde, und konnten sich (noch) nicht die bereits fortgeschrittene Radikalisierung der Täter vorstellen, die zu diesem Zeitpunkt das Morden von vielen Tausenden von Menschen innerhalb der nächsten Woche vorsahen. Jede Möglichkeit, Überlebensstrategien für sich zu entwerfen, erodierte zusehends, da sich die „Regeln“, nach denen die Täter verfuhren, ständig veränderten und letztlich in roher Gewalt mündeten. Überlebensstrategien erwiesen sich daher allzu oft als unzuverlässig, da sich die Gegenwart ständig rasant veränderte und radikalisierte. 6.4

Die Schauplätze

Am frühen Morgen des 11. Juni 1942 war die Stadt bereits von Angehörigen der Schutzpolizei und der polnischen Polizei umstellt und abgeriegelt, um eine Flucht der Opfer zu verhindern.84 Beim Kreishauptmann Kipke besprach der Stab des SS- und Polizeiführers mit Leitern der örtlichen Sicherheitspolizei den Verlauf. SS-Männer, Polizisten und Gendarmerie von außerhalb waren in der Stadt. Die „Aktion“ konnte beginnen. Sie sollte ca. eine Woche dauern. Da es zu diesem Zeitpunkt noch kein Ghetto in Tarnów gab, fand sie in der ganzen Stadt, sicht- und hörbar für alle Bürgerinnen und Bürger statt. Sie entfaltete sich in mehreren Wellen, an verschiedenen Schauplätzen. 6.4.1 Schauplatz Rynek Da zu dem Zeitpunkt die Jüdinnen und Juden noch verstreut in der Stadt wohnten, ging der jüdische Ordnungsdienst mit Listen die einzelnen Häuserreihen ab.85 Sie hießen diejenigen ohne Stempel oder mit einem „K“ sich mit kleinem Handgepäck auf dem zentralen Marktplatz, dem Rynek, zu versammeln.86 „Morgens kam der OD und brachte Aussiedlungskarten, nahm die 83 84

85 86

Chomet: Zagłada Żydów w Tarnowie, S. 34. Urteilsbegründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777; Zeugenaussage Edmund Wegner, Angehöriger der Schutzpolizei, BAL B 162/2150; Zeugenaussage Heinrich Anlauf, Eisenbahner, BAL B 162/2150, Bl.  1154; Aussage Georg Julius Strauß, Chef der Schutzpolizei Tarnów, im Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache, BAL B 162/2150. Dass Jüdinnen und Juden zu der Zeit in der Stadt verstreut lebten, bestätigen fast alle Zeugen in den Ermittlungsunterlagen zu Josef Palten und Hermann Blache, BAL B 162/2150. Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818; Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598; Goetz: I Never Saw My Face, S. 35.

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Meldekarten weg. Später hatte jeder OD eine Straße und brachte von dort alle, die zur Aussiedlung vorgesehen waren, in einer Gruppe zum Rynek, wo er sie der Gestapo übergab“, erinnerte sich der Kutscher Izrael Izaak,87 ein zuverlässiger und informierter Augenzeuge, da er als Kutscher an diesem und den Folgetagen SS- und Gestapo-Männer herumfuhr sowie die Aufgabe hatte, die Leichen abzutransportieren. Der Augenzeuge Leon Lesser erinnerte sich: Am Folgetag nach der Registrierung ging der Ordnungsdienst mit fertigen Listen rum, mit Namen jener, die zur Aussiedlung bestimmt waren, sie befahlen das Wichtigste in ein kleines Bündel zu packen, alles andere da zu lassen und ihnen zu folgen. Es kam vor, dass Familien auseinandergerissen wurden, je nachdem, wer welchen Stempel besaß. Diese Leute versammelte man am Rynek und befahl ihnen, sich hinzuknien.88

Im Laufe des Tages und an den Folgetagen war es dann nicht mehr der OD, sondern es waren SS-Männer und Sicherheitspolizei, die Häuser durchforschten und die Menschen ohne Stempel zum Versammlungspunkt am Markt führten. Die geräumten Häuser bzw. Wohnungen wurden mit einem Papiersiegel mit Stempel und der Aufschrift „Eigentum des SS- und Polizeiführers Krakau“ versehen.89 Die Mitglieder der Sicherheitspolizei-Dienststelle Tarnów waren zunächst alle auf dem Marktplatz versammelt, einige blieben dort den ganzen Tag lang, während SS und Gendarmerie die Menschen auf den Platz zerrten.90 Der Marktplatz von Tarnów, der über Jahrhunderte symbolischer und realer Ort der Transaktion, des Handels zwischen Jüdinnen/Juden und Nichtjüdinnen/Nichtjuden war, zwischen jüdischen Krämern und der Landbevölkerung, die zum Markt in der Stadt eintraf, der in der Zweiten Republik schließlich zu einem contested space zwischen Jüdinnen/Juden und nichtjüdischen Polinnen/Polen wurde, verwandelte sich unter nationalsozialistischer Besatzung im Sommer 1942 zur Todeszone der Tarnower Judenheiten. Es war ein heißer Junitag. Seit den Morgenstunden war der Rynek mit Menschen überfüllt. Gertrud Wunstorf, eine deutsche Angestellte, ging wie üblich um 9  Uhr morgens die Post holen, dabei musste sie den Marktplatz überqueren. Allerdings kam sie nicht mehr durch. Der Platz war bereits voller Menschen.91 Alle mussten sich hinknien und die Köpfe gen Boden 87 88 89 90 91

Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818. Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598. Aussage Franz Josef Müller, BAL B 162/1340, Bl. 4. Aussage Emil Hass, Kraftfahrer der Gestapo-Dienststelle Tarnów, 01.08.1962, im Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache, BAL B 162/2150. Aussage Gertrud Wunstorf im Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache, BAL B 162/2150, Bl. 989.

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kapitel 6

Abbildung 48 Marktplatz Tarnów, „Aussiedlungsaktion“, Juni 1942

senken.92 Sechs Fotografien von der „Aktion“ am Rynek sind von diesem Tag überliefert (Abbildungen  48–53). Sie wurden von einem Angehörigen des Polizeibataillons  307 geschossen und sind im Kompanietagebuch eingeklebt.93 Die Bilder repräsentieren den Blick der Täter auf ihre Opfer und müssen mit Vorsicht betrachtet werden. Sie sind zum Teil drastisch. 92 93

Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600. Kriegstagebuch des Polizeibataillons 307, Nationalni Archiu Respubliki Belarus, Minsk, Fond 1440/Op.  3/delo 1001, 006. Das Polizeibataillon wurde in Böhmen zu Kriegsende aufgelöst, wo das Kompanietagebuch aufgefunden wurde. Es wurde an das Archiv in Minsk übergeben, da das Polizeibataillon an Massenmorden in Brest beteiligt war. Zu dem Polizeibataillon während der Kriegszeit siehe auch Curilla: Der Judenmord in Polen, S. 349–356. Abzüge von vier der Bilder vom Tarnower Marktplatz lagern heute im YadVashem-Archiv, Jerusalem, unter der Signatur YVA  77: Photographs from the Minsk

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Abbildung 49 Marktplatz Tarnów, „Aussiedlungsaktion“, Juni 1942

Das Kauern auf dem Marktplatz zog sich über Stunden hin. Einige stärkere Männer wurden aus der Menge gezogen, mit einem Stempel versehen und wieder nach Hause geschickt.94 Frederik Hallberg war ab Mai 1942 im Tarnower Arbeitsamt tätig, er sagte aus: Im Zusammenhang mit dem gerade erwähnten Niederknien der Juden möchte ich hier einfügen, daß mein Vorgesetzter beim Arbeitsamt, der aus Linz/Österreich stammende Hofmann, das Knien der Juden über eine längere Zeit als Maßstab für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit jüdischer Menschen angewandt hat. Längeres Knien auf dem Straßenpflaster oder dem Erdboden stellt eine

94

Ghetto. Sie wurden fälschlicherweise als Bilder aus dem Minsker Ghetto klassifiziert. Ich danke Ulrich Baumann, der im Rahmen seiner Recherche zur Ausstellung „Der kalte Blick. Letzte Bilder jüdischer Familien aus dem Ghetto von Tarnów“ in der Topographie des Terrors 2020/2021 die Provenienz der Bilder ermitteln konnte. Mein Dank gilt auch Aliaksandr Dalhouski, der die Recherchen im Archiv in Minsk durchgeführt hat. Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818.

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Abbildung 50 Marktplatz Tarnów, „Aussiedlungsaktion“, Juni 1942

erhebliche Strapaze dar. Hofmann ließ die Juden, die er für den Arbeitseinsatz haben wollte, längere Zeit knien, und bestimmte danach, wer von den Juden zu den Arbeitskolonnen eingeteilt käme.95

Erst am Abend sollten Menschen zum Abtransport durch die ganze Stadt, entlang der Hauptstraße, der Krakowska Straße, zum Bahnhof gebracht werden, um in Viehwaggons nach Bełżec deportiert zu werden.96 95 96

Aussage Frederick Hallberg im Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache, BAL B 162/2150, Bl. 939. Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818; Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598; Aussage Emil Hass, Kraftfahrer der Gestapo-Dienststelle Tarnów, der den Transport zum Bahnhof begleitete, BAL B 162/2150.

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Abbildung 51

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Marktplatz Tarnów, „Aussiedlungsaktion“, Juni 1942

Die „Aussiedlungsaktionen“ beschränkten sich aber nicht darauf, Menschen auf Sammelplätzen zu gruppieren, um sie dann abzutransportieren. Der Historiker Omer Bartov erinnerte daran, dass man sich die Shoah nicht nur als industriell betriebenen Massenmord in entlegenen „Vernichtungsstätten“ vorzustellen habe.97 Am Beispiel Tarnóws zeigte der Historiker Christopher Browning „one of the most macabre of Holocaust euphemisms: ‚örtliche Aussiedlung‘“.98 Sollte der Begriff „Aussiedlung“ das Morden in Vernichtungslagern verschleiern, so war das Oxymoron „örtliche Aussiedlung“ gleichbedeutend mit Massenexekutionen an den Orten, wo Jüdinnen und Juden lebten. So auch 97 98

Bartov: Wartime Lies, S. 491–492. Browning: Beyond Warsaw and Łódź, S. 81.

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Abbildung 52 Marktplatz Tarnów, „Aussiedlungsaktion“, Juni 1942

in Tarnów, aber auch in Rzeszów und Przemyśl fanden bald darauf „örtliche Aussiedlungen“ statt.99 Bereits auf dem Rynek begannen die deutschen Täter, die hier kauernden Jüdinnen und Juden zu erschießen. Den ganzen Tag hörte man Schüsse in der Stadt.100 Es habe sich angehört, als sei die Front in der Nähe, erinnerte sich Alfred Eckmann.101 Kutschen und Bäckerwagen wurden zu Leichenwagen umdisponiert, den ganzen Tag transportierten jüdische Kutscher und der Baudienst die Leichen zum jüdischen Friedhof.102 „In den umliegenden Straßen erschoss man die Alten und Kranken, die sich nicht mehr zum 99 100 101 102

Urteil im Prozess gegen Martin Fellenz, YVA Tr. 10/598. Bericht Blanka Goldman, AŻIH 301/2059. Aussage Alfred Eckmann, Leiter des polnischen Baudienstes, BAL B 162/19257, Bl. 15–16. Bericht Blanka Goldman, AŻIH 301/2059; Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818; Michalik: Wspomnienia Eugeniusza Michalika, S. 12.

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Abbildung 53

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Marktplatz Tarnów, „Aussiedlungsaktion“, Juni 1942

Transport eigneten, kleine Kinder aber tötete man, indem man ihre Schädel an den Häuserwänden oder Bordsteinen aufschlug“, berichtete der Arzt Józef Korniło.103 Das Bild zerschellender Schädel von jüdischen Kindern wiederholte sich in weiteren Aussagen.104 103 Józef Korniło, AŻIH 301/4600; Józef Korniło verlebte fast die gesamte Besatzungszeit in Tarnów, wo er im Krankenhaus arbeitete. Noch während des Krieges machte er sich Notizen über seine Erlebnisse. Da sie ihm in Płaszów abgenommen wurden, schrieb er gleich nach dem Krieg möglichst viel noch einmal nieder. Er initiierte 1968 in Israel das zweite Tarnower yizkor bukh und sah sich dadurch, dass er zeitnah seine Erlebnisse aufschrieb, als zuverlässigen Zeugen in den Ermittlungsverfahren gegen NS-Verbrecher; Tarnow-Tarne. Seyfer Zikhorn; Józef Korniło sagte im Verfahren gegen Hermann Blache aus und schilderte hierbei das Ghettoleben ausführlich, BAL B 162/2150. 104 Bericht Renia Fröhlich, 301/436; Chomet: Zagłada Żydów w Tarnowie, S.  38; Tokarz: Wspomnienia Stanisława Dychtonia, S.  13; Madej/Ziaja: Wspomnienia Aleksandra Dagnana, S. 10; über die Tötungen von Kindern direkt auf dem Marktplatz (wobei hier

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Im weiteren Verlauf des Tages durchkämmten nun auch SS-Männer und Sicherheitspolizisten die Häuser, in denen Jüdinnen und Juden wohnten und brachten weitere Menschen zum Marktplatz. Während immer mehr Menschen auf den Rynek gezerrt wurden, wurden die Leichen auf den jüdischen Friedhof abtransportiert. Terese Messerer, geboren 1911 in Erding, kam als Unternehmerin im Sommer 1941 nach Tarnów und leitete dort ein Fuhrunternehmen. Sie berichtete, wie betrunkene SS-Männer Jüdinnen und Juden auf dem Rynek umbrachten. Ihr polnischer Fahrer weigerte sich ihrer Aussage nach, mit dem LKW die Leichen abzutransportieren.105 Auch Frederik Hallberg, Mitarbeiter des Arbeitsamtes, sowie Emil Hass, Kraftfahrer der Sicherheitspolizei Tarnów, berichteten von Schießereien auf dem Marktplatz.106 Immer wieder sollen SiPo-Männer und SS durch die kauernde Menge gegangen sein und Menschen willkürlich erschossen haben, vor allem die Älteren.107 Überlebende beschrieben, dass der Rynek blutgetränkt war.108 Da der Marktplatz auf einer kleinen Anhöhe lag, strömte Blut auch in die umliegenden Straßen.109 Die Deutschen befahlen dem Judenältesten Artur Volkmann, Fuhren von Sand herbeizuschaffen, um das ganze Blut zu übertünchen.110 Auch an den Folgetagen war der Marktplatz der Ort, wo Jüdinnen und Juden von SS-Männern hingebracht, getötet oder von dem sie abtransportiert wurden. Immer mehr Opfer wurden zusammengetrieben und zu Sammelexekutionen gebracht. Leon Lesser erinnerte sich: „Wieder nahmen sie alle zum Rynek mit, aber es gab immer mehr Leichen, weil die Deutschen Massenerschießungen am Rynek vornahmen und einen Teil der Frauen, Kinder und Alten luden sie auf Kraftwagen, fuhren sie hinter die Stadt Richtung Bogumiłowice und erschossen sie dort.“111 Der Ort im Wald von Zbylitowska Góra, etwas außerhalb der Stadt, von

105 106 107 108 109 110 111

nicht diese Methode erwähnt wird) auch der Augenzeuge R. Goldfein: „Rozbitek“: Dzieje Wojenne lekarza, unveröffentlichtes „Tagebuch“, YVA O.33/195, S. 29. Aussage Terese Messerer im Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache, BAL B 162/2150. Aussage Frederik Hallberg im Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache, BAL B 162/2150, Bl. 939; Aussage Emil Hass im Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache, BAL B 162/2150, Bl. 1252–1254. Augenzeuge  R.  Goldfein: „Rozbitek“: Dzieje Wojenne lekarza, unveröffentlichtes „Tagebuch“, YVA O.33/195, S. 29; Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache, BAL B 162/2150, Bl. 990. Aussage Salomon Horowitz im Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache, BAL B  162/2150, Bl.  761, Gertrud Wunstorf sah Blutlachen auf dem Rynek, die abgespritzt wurden; Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache, BAL B 162/2150, Bl. 989–990. Bericht Blanka Goldman, AŻIH 301/2059; Bericht Lila Wider, AŻIH 301/2053. Bericht Blanka Goldman, AŻIH 301/2059; Bericht Lila Wider, AŻIH 301/2053. Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598.

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dem hier die Rede ist, wurde zu einem weiteren Schauplatz der „Aktion“, über den noch berichtet werden soll. Die deutschen Besatzer zwangen den Judenrat, das „Kontingent“ an Menschenleben auszufüllen. Die Ältesten der Judenräte befanden sich in einer makabren Zwangslage: Selbst unter Todesdrohung mussten auch sie – als Eliten und Anführer der lokalen Judenheiten  – tragische Entscheidungen treffen, ohne zu wissen, welche dieser Entscheidungen mehr Menschenleben retten würden. Sie mussten sich zu den Befehlen verhalten, doch es waren häufig „choiceless choices“, die ihnen von den deutschen Besatzern aufgezwungen wurden.112 Zugleich waren sie bemüht, ihre eigenen Familien zu schützen.113 Blanka Goldman, deren Familie offensichtlich mit dem Judenratsältesten Arthur Volkmann befreundet war, erzählte, dass dieser ständig am Rynek anwesend sein musste, um Befehle entgegenzunehmen und den Blutabfluss zu stoppen. Dabei versuchte er zugleich, einige Juden aus dem Marktplatz herauszuholen.114 Doch die deutschen Besatzer verlangten immer mehr Menschen, um ihr „Kontingent“ zur „Aussiedlung“ zu erfüllen. Sie zwangen den Judenrat, noch mehr Jüdinnen und Juden „zu liefern“, wobei die Stempel zunehmend an Bedeutung verloren.115 Als Paul Reiss, einer der stellvertretenden Judenältesten sich weigerte, weitere Jüdinnen und Juden ihren Mördern zuzuführen, wurde er kurzerhand im Gebäude des Judenrats erschossen.116 Zwei weitere Mitarbeiter mussten mit ihm sterben, da sie sich zufällig im Raum befanden.117 Zwei Zeugen, der Kutscher Izrael Izaak und der Arzt Józef Korniło, berichteten, dass die Judenältesten schließlich den ärmsten Teil der Bevölkerung aus den „Baracken“ in der Starodąbrowska und der Dwiernickego zur Sammelstelle am Magdeburger Platz bringen ließen.118 Man brachte die ärmsten Jüdinnen und Juden dann zum jüdischen Friedhof und erschoss sie.119

112 Lawrence L. Langer führte den Terminus „choiceless choice“ ein, bezogen allerdings auf das Überleben in Konzentrationslagern. Langer: The Dilemma of Choice; über „choiceless choices“ im Ghettokontext siehe auch Dieckmann/Quinkert: Einleitung, S. 9–29. 113 Über den Tarnower Judenrat, zu dem nur bruchstückhafte Informationen erhalten sind, siehe Kapitel 7.2.3 „Neue ‚Eliten‘: Judenrat und Ordnungsdienst“. 114 Bericht Blanka Goldman, AŻIH 301/2059. 115 Prozess gegen Martin Fellenz, YVA Tr. 10/598. 116 Bericht Janina Schiff, AŻIH 301/2081; Bericht Renia Fröhlich, AŻIH 301/436; Prozess gegen Martin Fellenz: Ein Zeuge identifizierte Fellenz als Reis’ Mörder, der Zeuge wurde jedoch als unglaubwürdig eingestuft und Fellenz konnte dieser Mord nicht nachgewiesen werden, YVA Tr. 10/598. 117 Prozess gegen Martin Fellenz, YVA Tr. 10/598. 118 Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818; Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600. 119 Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818.

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kapitel 6

Auch Mitarbeiter des Judenrats wurden während der ersten „Aktion“ ermordet. Als Tekla Nagórska, das christliche Kindermädchen der jüdischen Familie Goetz, während der ersten „Aktion“ zum Judenrat eilte, um für ihre Arbeitgeber etwas zu erwirken, wurde sie selbst Zeugin, wie betrunkene Sicherheitspolizisten Mitglieder des Judenrates erschossen.120 Während der ersten beiden „Aktionen“ überlebten nur sieben Mitarbeiter des Judenrates.121 Des Weiteren wurde während der ersten „Aktion“ der Platz um das Gebäude des Judenrats für Tötungen genutzt. Der Kutscher Izrael Izaak und andere Zeuginnen und Zeugen berichteten schließlich, dass auch um das Gebäude des Judenrats von den Deutschen gemordet wurde, einige hundert Leichen habe er dort liegen sehen, so Izaak.122 Im Sommer 1942 richteten die deutschen Besatzer ein öffentliches Blutbad auf dem Rynek an, wie sich ein Überlebender erinnerte, der seine Frau und Tochter in diesen Tagen verloren hatte: „Das kollektive Töten […] als ein großes öffentliches Schauspiel auf dem Tarnower Rynek“.123 Er war keine abgelegene Freifläche, sondern lag buchstäblich mitten im Ort. Auch in anderen Städten wurden Marktplätze für die „Aussiedlungsaktionen“ genutzt. Sie lagen zentral und bildeten Flächen, auf die viele Menschen passten. Da es damals noch kein Ghetto in Tarnów gab, schien der Rynek als zentraler Platz geeignet. Bei späteren „Aussiedlungsaktionen“ in Tarnów und vermutlich an den weiteren Tagen im Juni 1942 nutzten die Deutschen ebenfalls den Magdeburger Platz (plac Wolności), der auf dem Gebiet des später, am 19.  Juni, eingerichteten Ghettos lag.124 Der Rynek war jedoch umgeben von Häusern, und in diesen wohnten weiterhin Tarnowianerinnen und Tarnowianer. Ihnen war es unter Todesstrafe verboten, auf den Marktplatz zu schauen. Sie sollten ihre Fenster verdecken und nicht hinausspähen. Einige taten es dennoch. Klara Pradelski wohnte direkt am Marktplatz. Da sie ein kleines Kind hatte, wagte sie nicht, ans Fenster zu treten. Die Schüsse und Schreie hörte sie jedoch.125 Die Caritas hatte ebenfalls ihren Sitz gleich beim Rynek, am angrenzenden Kathedralenplatz, also 120 Goetz: I Never Saw My Face, S. 36. 121 Notatka o konferencji z p. Arturem Volkmannem, Przewodniczącym KOP (Komitetu Opiekuńczego Powiatowego) w Tarnowie dnia 03.10.1942, AŻIH 211: Żydowska Samopomoc Społeczna/Jüdische Soziale Selbsthilfe: 1026. Korespondencja Prezydium ŻSS z Komitetem Powiatowym ŻSS w Tarnowie/dystrykt Kraków, 04.05.1942–19.11.1942, S. 70. 122 Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818; Zeugenaussage Neska Aharoni, BAL B 162/2150. 123 R.  Goldfein: „Rozbitek“: Dzieje Wojenne lekarza, unveröffentlichtes „Tagebuch“, YVA O.33/195, S. 29. 124 Die Transporte gingen dann auch von einem Güterbahnhof ab. So mussten Jüdinnen und Juden nicht mehr durch die Krakowska Straße zum Abtransport geführt werden. 125 Aussage Klara Pradelski, BAL B 162/2150.

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dort, wo die Tarnower Kathedrale in die Höhe ragt. Am Tag der „Aktionen“ war der 18-jährige Norbert Wensierski bei der Caritas. Er schaute während der „Aktion“ dem Martyrium der Jüdinnen und Juden zu. Dafür wurde er von Deutschen erschossen.126 Er ist der einzige nichtjüdische Zeuge, von dem bekannt ist, dass er für sein bloßes „Zuschauen“ am Rynek ermordet wurde. Hören konnten die Bewohnerinnen und Bewohner aber sicherlich alles. Wie der jüdische Arzt Dr. Goldfein in sein Tagebuch schrieb: „Ein Lamentieren, Schluchzen und Weinen erhob sich vom Rynek. Man konnte davon wahnsinnig werden.“127 Welche Gerüche sich an diesen sonnigen Junitagen vom Rynek her verbreiteten, vermag man sich kaum vorzustellen – doch auch dies war Bestandteil des Massenmordens: das mit allen Sinnen wahrnehmbare, alltäglich-reale Ausmaß dessen, was heute mit dem Oberbegriff der Shoah beschrieben wird. Der Genozid war eine sinnlich wahrnehmbare Erfahrung für alle nichtjüdischen Bewohnerinnen und Bewohner: „Die Angst befiel alle“, erinnerte sich Roman Kolasiński. „Immerfort erreichten uns furchterregende Informationen über Rinnsteine voller Blut, über die vielen auf den Straßen liegenden Leichen, über die hallenden Schreie voller Verzweiflung und Verzagen der Juden.“128 Jene nichtjüdischen Tarnowianerinnen und Tarnowianer, die sich etwas entfernter befanden, begriffen, was passierte, denn auch sie hörten Schüsse und sahen das Blut die umliegenden Straßen hinunterfließen. Roman Jagiencarz behielt folgende Bilder in Erinnerung: „Die Szpitalna Straße [die zum jüdischen Friedhof führte – AW] war blutüberströmt, die Deutschen befahlen der Feuerwehr, sie zu spülen.“129 Eugeniusz Michalik, ebenfalls nichtjüdisch, blieb der Anblick der Treppen, die von der Anhöhe des Rynek auf der Südseite herunterführten, im Gedächtnis haften: „Nun ist die Große Treppe umgebaut, aber damals waren dort Pflastersteine und in der Mitte ein Abfluss. Dort floss auch das Blut bis ganz nach unten.“130 Am Abend des ersten Tages wurden die Menschen, die noch am Rynek ausharrten, zum Abtransport nach Bełżec durch die Stadt zum Bahnhof geführt.

126 Fragebögen GKBZHwP (1968–1972) IPN BU 2448/503, S. 137–138. Auch Roman Jagiencarz erinnerte sich an den Polen am Kathedralenplatz, der für sein Zuschauen erschossen wurde, vgl. Andrusiewicz/Klimek/Majcher/Okońska: Wspomnienia Romana Jagiencarza, S. 18. 127 R.  Goldfein: „Rozbitek“: Dzieje wojenne lekarza, unveröffentlichtes „Tagebuch“, YVA O.33/195. 128 Kolasiński: Wspomnienia, S. 104. 129 Andrusiewicz/Klimek/Majcher/Okońska: Wspomnienia Romana Jagiencarza, S. 17. 130 Michalik: Wspomnienia Eugeniusza Michalika, S. 12.

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kapitel 6

Leon Lesser beschrieb eindrücklich die Szenen auf der Krakowska Straße, der mit Altbauten gesäumten Flaniermeile der Vorkriegszeit: Erst am Abend haben sie alle in Fünfer-Reihen aufgestellt und in einer wahnsinnigen Hitze [vom Rynek – AW] getrieben, Frauen mit Kindern auf dem Arm, nicht volljährige Kinder, die Alten, sie jagten sie durch ein Spalier der deutschen Polizei, die auf beiden Seiten der Straße stand, die Polizei schlug auf diejenigen ein, die innehielten, und jene, die gar nicht mehr gehen konnten, wurden erschossen. Ich schaute aus den Fenstern meines Hauses zu, in dem ich wohnte, an der Krakowska, dort entlang wurden die Menschenmengen zum Güterbahnhof getrieben.131

Dem Sohn seines Bekannten David Fries fehlte ein Bein, und er wurde auf der Krakowska Straße erschossen. Der Vater und die Tochter sahen es mit an und mussten einfach weiterlaufen.132 Natürlich blieb der Anblick auch den nichtjüdischen Tarnowianerinnen und Tarnowianern in Erinnerung: „Ein häufiger Anblick auf Tarnóws Straßen waren die Menschenmengen, die in Kolonnen die Krakowska zum Bahnhof gingen“, berichtete Aleksander Dagnan, der ebenfalls von Ermordungen auf der Straße sprach.133 6.4.2 Schauplatz jüdischer Friedhof Der jüdische Friedhof von Tarnów ist einer der ältesten und größten in Kleinpolen. Er stammt aus dem ausgehenden 16. Jahrhundert und war Ruhestätte vieler lokaler jüdischer Würdenträger und chassidischer Rabbis.134 Der Friedhof liegt rund einen Kilometer nördlich vom Rynek entfernt. Während der ersten „Aktion“ im Juni 1942 wurden dort Massengräber ausgehoben, um die Leichen vom Rynek und von den Straßen Tarnóws hierher zu transportieren. Mit Kutschen oder als „trupiarki“ (Leichenwagen) umfunktionierten Bäckerwagen brachten jüdische Kutscher und der Baudienst die Ermordeten hierher. Juden wurden gezwungen, Gruben zu schaufeln, bevor sie selbst erschossen wurden.135 Die Kreishauptmänner sorgten sich, dass wegen der vielen Leichen eine Seuche ausbrechen könnte und wiesen den Leiter des Baudienstes Alfred Eckmann an, die polnischen Junacy (wörtlich: Mitglieder einer Arbeitseinheit) abzubeordern, um die Leichen zum Friedhof zu bringen und dort

131 132 133 134 135

Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598. Ebd. Madej/Ziaja: Wspomnienia Aleksandra Dagnana, S. 10. Hońdo: Cmentarz żydowski, S. 15–16, 37–38. Bericht Izrael Izaak AŻIH 301/818; Hembera: Die Shoah, S. 194–195.

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Gruben auszuheben.136 Eckmann berichtete: „Es ist wirklich unbeschreibbar, was ich auf dem Friedhof sah und erlebte. Jüdische Leichen lagen dicht nebeneinander, oft übereinander. Sie waren bereits entkleidet. Einzelne Juden zuckten noch, es war noch Leben in den Körpern. Polizeibeamte gaben den Gnadenschuß.“137 Mehrere andere Augenzeuginnen und -zeugen berichteten, dass der polnische Baudienst Massengräber auf dem jüdischen Friedhof aushob und die Leichen zuschüttete.138 Auch hatte der Baudienst die Aufgabe, die Kleidung der Ermordeten auf einem Haufen zu sammeln.139 Doch auch die (noch) lebenden Jüdinnen und Juden brachte man zum Friedhof, um sie gleich dort zu töten und in den Erdlöchern zu verscharren. So wurde der jüdische Friedhof zur Massenexekutionsstätte. Es waren vor allem Truppen der Waffen-SS vom Truppenübungsplatz Dębica unter dem Kompanieführer Hauptsturmführer Johannes Kleinow, die auf dem jüdischen Friedhof wüteten.140 Berichten zufolge waren die SS-Männer alkoholisiert.141 Zum „Spaß“ ließen sie manche todgeweihte Jüdinnen und Juden zwischen den Matsevot springen und laufen, um Schießübungen auf sie zu machen.142 Das beobachteten und berichteten ein jüdischer wie auch ein nichtjüdischer Zeuge. Der Baudienst war die ganze Zeit dabei gewesen und erhielt ebenfalls Wodka.143 Der Kutscher Izrael Izaak versteckte sich zur selben Zeit auf dem Dachboden seines Hauses in der Widok-Gasse 45, direkt hinter dem Friedhof. Von einer Dachluke aus konnte er das Geschehen beobachten. Die ganze Zeit über hörte er Schüsse: Auf dem Friedhof arbeiteten sie die ganze Nacht, weil man dort Strom hinführte. Die ganze Nacht lang brachte man vom Judenrat Wodka, Wurst, Zigaretten und Bier und die Schutzpolizei aß und trank beim Schießen und Graben. Einige betrunkene SS-Männer nahmen sich ein paar Juden und machten mit ihnen Gymnastik. Sie befahlen ihnen zwischen den Grabsteinen hin und zurück zu

136 Aussage Alfred Eckmann, Leiter des Baudienstes in Tarnów, vom 29.03.1962, BAL B 162/2151, Bl. 946–946b; zum Baudienst siehe Kapitel 8 „Polen in Uniform: der polnische Baudienst und die Blaue Polizei“. 137 Aussage Alfred Eckmann, Leiter des Baudienstes in Tarnów, 1965, BAL B 162/19257, Bl. 16. 138 Andrusiewicz/Klimek/Majcher/Okońska: Wspomnienia Romana Jagiencarza, S. 17; Fragebögen der GKBZHwP, IPN BU 2448/503, S. 465–466; vgl. auch die Aussage von Alfred Eckmann, Leiter des Baudienstes Tarnów, zit. in: Hembera: Die Shoah, S. 194–195. 139 Grabowski: Jugendjagd, S. 126; nach BAL B 162/2151. 140 BAL B 162/1340, Bl. 232. 141 Hembera: Die Shoah, S. 196. 142 Bericht Izaak Izrael, AŻIH 301/818; Andrusiewicz/Klimek/Majcher/Okońska: Wspomnienia Romana Jagiencarza, S. 17. 143 Andrusiewicz/Klimek/Majcher/Okońska: Wspomnienia Romana Jagiencarza, S. 17.

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kapitel 6 laufen, auf Bäume zu klettern oder auf höhere Grabsteine, um sie dann zu erschießen. Ich sah das alles vom Dach meines Hauses aus.144

Auch der Leiter des Baudienstes sowie andere Augenzeugen bestätigten, dass die Exekutionen bis in die Nacht andauerten, da man elektrisches Licht zum Friedhof leitete.145 Der Baudienst war bis zum Morgen damit beschäftigt, alle Leichen zu begraben.146 6.4.3 Auf Tarnóws Straßen Folgt man der Logistik der „Aktion“ und ihrer praktischen Durchführung durch mittlerweile betrunkene SS-Männer, so entsteht ein entsetzliches Bild entfesselter Gewalt auf den Tarnower Straßen, die buchstäblich das ganze Zentrum erfasste.147 Um Jüdinnen und Juden zu den Sammelstellen zu bringen, mussten diese in immer größerer Anzahl aus ihren Wohnungen geholt werden. Da es aber noch kein geschlossenes Ghetto gab, durchkämmten SS-Männer die Straßen Tarnóws und zerrten die Menschen aus ihren Häusern, dabei nahm die Brutalität ständig zu. Sie sammelten die Jüdinnen und Juden in Gruppen von 30 Personen und brachten sie zum Rynek oder gleich zur Exekutionsstätte am Friedhof.148 Diese „Aktion“ in der Stadt konnte zugleich nicht abgeschottet von der nichtjüdischen Bevölkerung durchgeführt werden. Die Täter radikalisierten sich zusehends. Im Laufe des Geschehens alkoholisierten sie sich, wie mehrere Zeuginnen und Zeugen berichteten.149 Der Arzt Józef Korniło sagte aus: Zum Kulminationspunkt dieser Aktion wurde das Saufgelage zur Mittagszeit. Betrunkene Männer der Gestapo, SS, deutsche Gendarmerie gingen von Haus zu Haus und ließen sich die Meldekarten zeigen. Rettung brachten die runden Stempel auf den Meldekarten, die jene Juden bekommen hatten, die damals arbeiteten oder durch die Gestapo anerkannt waren. Jene ohne Stempel brachte man auf den Hof raus oder in eine nahegelegene Grünanlage und erschoss sie

144 Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818. 145 Aussage Alfred Eckmann, Leiter des Baudienstes in Tarnów, vom 29.03.1962, BAL B 162/2151, Bl. 946b; auch Jagiencarz: Andrusiewicz/Klimek/Majcher/Okońska: Wspom­ nienia Romana Jagiencarza, S. 17; Aussage Robert Frank im Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache, BAL B 162/2150. 146 Aussage Alfred Eckmann, Leiter des Baudienstes in Tarnów, 1965, BAL B 162/19257, Bl. 17. 147 Siehe Visualisierung auf der Karte, Abbildung 54. 148 Aussage Franz Josef Müller, Angehöriger des SSPF-Stabes im Distrikt Krakau, zit. in Hembera: Die Shoah, S. 192. 149 Bericht Renia Fröhlich, AŻIH 301/436; vgl. zum Beispiel Herman R., YVA O 69/204, zit. in Hembera: Die Shoa, S. 196.

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dort. Einigen gelang es, sich in Kellern, auf Dachböden, in Kaminen und Ähnlichem zu verstecken.150

Janina Schiff, damals 30 Jahre alt und selbst jüdisch, berichtete, wie sie und ihre Familie „in unserer Naivität“ zunächst noch daran glaubten, dass die Menschen tatsächlich „ausgesiedelt“ würden, als ihre Nachbarinnen und Nachbarn abgeholt wurden. Doch diese wurden auf der Warzywna Straße unter dem Wohnhaus in einer Reihe aufgestellt und erschossen. Janina Schiff und ihre Familie versteckten sich daraufhin so schnell wie möglich auf dem Dachboden. Sie hörten, wie andere Bewohnerinnen und Bewohner aus dem Haus mitgenommen und erschossen wurden. Den ganzen Tag vernahmen sie dann das Geklapper der Wagen, die die Leichen wegtransportierten.151 Auch die Tochter der Arztes Józef Korniło, Halina, konnte aus dem Fenster ihres Eckhauses in der Kaczkowskiego Straße, die von der Krakowska abgeht, alles sehen. Sie berichtete, wie die SS-Männer, mittlerweile betrunken, in Wohnungen, Häusern und Höfen geschossen haben. Der Baudienst sei bei der „Aktion“ dabei gewesen.152 Salomon Horrwitz blieb eine Mutter mit sieben Kindern in Erinnerung, die alle vor dem Haus getötet wurden.153 Für die Opfer war es schwer, die Situation abzuschätzen. Während einige – wie die Schiffs – noch an eine tatsächliche „Aussiedlung“ glaubten, wurden sie brutal aus der Illusion herausgerissen, aber erst als sie sahen, wie die Nachbarinnen und Nachbarn erschossen wurden. Auf die „Radikalisierung“ der „Endlösung“ mussten die Opfer noch ungläubig innerhalb von Augenblicken reagieren. Die Schiffs entschieden innerhalb von Sekunden, auf den Dachboden zu rennen und konnten sich dort erfolgreich verstecken. „It was a moment of disbelief and fear, of not knowing what to do next“, schrieb Sam Goetz in seinen Erinnerungen, der beide Eltern während der „Aktion“ verlor.154 Wer durch eine spontane Entscheidung sein Leben retten konnte, der musste oft zusehen, wie andere starben. Ein Vater verließ kurz das Versteck der Familie, um zu sehen, ob die „Luft rein“ sei. Als er Schritte hörte, hatte er keine Zeit mehr, dorthin zurückzukehren und rannte stattdessen in den Keller. Sein Sohn wurde gefunden, ein Nachbar beschrieb dies folgendermaßen: „Sie nahmen ein Kind mit raus auf den Hof und erschossen es. Der Vater sah es durch das Kellerfenster mit an.“155 150 151 152 153

Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600. Bericht Janina Schiff, AŻIH 301/2081. Bericht Halina Korniło, AŻIH 301/3228. Aussage Salomon Horowitz im Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache, BAL B 162/2150, Bl. 761. 154 Goetz: I Never Saw My Face, S. 37. 155 Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598.

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Abbildung 54 Erschießungsorte im Zentrum von Tarnów, Juni 1942 (eigene Darstellung)

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Noch viele weitere Erzählungen über Erschießungen auf den Straßen könnten an dieser Stelle geschildert werden. Die hier angehängte Karte visualisiert, dass die Tötungen im gesamten Zentrum stattfanden, wobei nur diejenigen Stellen markiert sind, von denen die Zeuginnen und Zeugen die genaue Adresse mitteilten, was selten der Fall war.156 Zuweilen kam es bei diesem „Herausschleppen“ aus dem Haus zu persönlichen Begegnungen. Oskar Jeck war bei der Sicherheitspolizei als Dolmetscher angestellt. Er war ein Volksdeutscher, der aus der Nähe von Mielec, ca. 50 Kilometer von Tarnów gelegen, stammte. Als Sicherheitspolizist machte er ebenso bei der „Aktion“ mit. Als er die Wohnung der Storchs betrat, erkannte ihn Hermann Storch, der aus demselben Dorf stammte. Er berief sich auf die „guten nachbarschaftlichen Verhältnisse“ und flehte Jeck an. Doch es half nichts: Hermann Storch, seine Frau und ihre 12-jährige Tochter wurden auf dem Hof von Karl Oppermann und Oskar Jeck erschossen.157 Dieses Beispiel zeigt die Intimität der Gewalt. Ähnlich muss es sich mit der polnischen Polizei und dem Baudienst zugetragen haben, deren Mitglieder meist lokal bekannte Jungen und Männer waren. Elżbieta Brodzianka-Gutt erinnerte sich, dass sich die polnische, sogenannte Blaue Polizei furchtbar verhalten habe, sie schubsten und traten Jüdinnen und Juden.158 Zusehends verloren die Stempel an Bedeutung, sodass das Töten immer willkürlicher wurde und zudem unter Einfluss von Alkohol stattfand.159 Besonders brutal ging es in der Widok-Gasse zu. Der bereits mehrfach erwähnte Izrael Izaak, der Kutscher, wohnte in dieser Gasse und hinterließ einen erschütternden Bericht, aus dem ich ausgiebig zitieren möchte, da uns dieser die Unmittelbarkeit der Gewalt in den Straßen Tarnóws näherbringt und die Rolle des polnischen Baudienstes dabei beleuchtet. Die Widok-Gasse lag etwas abseits und ganz nah am Jüdischen Friedhof, wo, wie im vorigen Unterkapitel geschildert, eine Reihe an Massenexekutionen stattfand. Vielleicht war dies der Grund, warum es hier zu einer Entfesselung der Gewalt kam. Als sich der Kutscher seinem Zuhause näherte, kam ihm ein Nachbar entgegen und rief: „Um Gottes Willen! Was da unten passiert, Gestapo-Männer aus Krakau, SS, 156 Bericht Blanka Goldman, AŻIH 301/2059; Bericht Józef Mansdorf, AŻIH 301/570; Zeugenaussagen im Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache, BAL B 162/2150. 157 Zeugenaussage Asher Osterweil, 1964, BAL B 162/2156, Bl.  2213; vgl. auch die Urteilsbegründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr.  10/777, S. 107–108. 158 Brodzianka-Gutt, Elżbieta: Interview 25736, 04.12.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 159 Siehe zum Beispiel Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598 sowie Prozess gegen Martin Fellenz, YVA Tr. 10/598.

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Baudienst gehen herum und schießen jeden tot, ob mit Stempel oder nicht.“160 Laut Izaaks Bericht gingen die Täter, Deutsche und Baudienst, der wohlgemerkt aus jungen polnischen Männern bestand, in der Widok-Gasse von Haus zu Haus und töteten überall zwei bis drei Personen, ohne Unterschied, wer nun welchen Stempel hatte.161 Izaak selbst versteckte sich und konnte aus seinem Versteck Folgendes beobachten und hören: Da blieb nur Frau Garder mit ihrer 7-jährigen Tochter und die Frau Friedholer. Der SS-Mann kam rein, zerrte sie aus der Wohnung und ein paar Schritte hinter dem Tor erschoss er sie. […] Die SS kam vom Dachboden runter und auch der Baudienst und sie sagten, dass dort niemand mehr ist. Die Baudienst-Leute rannten zu den Schränken, um zu rauben, aber die Gestapo sagte, hier ist alles in Ordnung, ihr dürft nichts mitnehmen. […] Gegenüber wohnte Silberman, dem die Frau und zwei Kinder ausgesiedelt wurden. Er versteckte sich hinter einem Schrank. Sie schleppten ihn raus und begannen, auf ihn einzuprügeln, er aber rief: Ihr Henker! Eure Zeit wird auch kommen. Hinter ihn stellte sich ein „Junak“ [ein Angehöriger des Baudienstes – AW] mit einem Beil hin, es huschte nur so vorbei, und er hackte Silberman den Kopf ab. […] Im nächsten Haus wohnte ein Professor aus Krakau mit Frau und Sohn. Die Frau, der Professor und der Sohn hatten Stempel. Den Professor und seine Untermieterin führte man raus zum Tor meines Hauses und dort schlug sie der Baudienst mit einer Axt tot. Alle waren betrunken. Die Frau, die Untermieterin, stöhnte noch sehr. Ein GestapoMann hörte das und er erschoss sie mit seinem Revolver. […] Im nächsten Haus wohnte eine Familie mit vier Kindern. Die ältere Tochter hatte einen Stempel, aber den Vater, die Mutter, die Schwestern und den Bruder schlugen sie in ihrer Anwesenheit mit Äxten tot. Sie sagte später, dass sie nicht einmal weinen konnte. Sie gingen zwei Häuser weiter. Dort wohnten die Walds – Vater, Mutter, zwei Schwestern, ein Bruder. Alle töteten sie mit Äxten. Einer Schwester […], ich habe mir das später angeschaut, wurde der Kopf ganz abgetrennt.162

Der erschütternde Bericht des Izrael Izaak mag als Zeugnis eines zutiefst traumatisierten Menschen erscheinen. In der Holocaustforschung dominier­ ten lange Zeit Untersuchungen zu den Tätern, während die Quellen der Opfer zunächst marginalisiert wurden, mit der Begründung, es handele sich hierbei um traumatisierte Menschen, die die jeweiligen Sachverhalte sehr subjektiv darstellten. Mittlerweile lässt sich jedoch eine größere Hinwendung zu den Opferquellen verzeichnen.163 Izrael Izaaks erschütternder Bericht war auch für mich ein Impuls, die Rolle des Baudienstes zu hinterfragen und nach 160 161 162 163

Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818. Ebd. Ebd. Zum Zugang zu Opferquellen schrieb Jan  T.  Gross: „When considering survivors’ testimonies, we would be well advised to change the starting premise in appraisal of their evidentiary contribution from a priori critical to in principle affirmative“, Gross:

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weiteren Zeugnissen und Quellen zu suchen. Dem Baudienst widme ich mich im Kapitel 8 „Polen in Uniform“. Die Chronologie des Geschehens der ersten „Aktion“ soll an dieser Stelle jedoch nicht unterbrochen werden. Reaktionen der nichtjüdischen Lokalbevölkerung Das Gemetzel ging im gesamten Gebiet des Zentrums vonstatten, wie die angefügte Karte veranschaulicht (vgl. Abb.  54). Niemand konnte sich dem Geschehen entziehen. Da es kein Ghetto gab und Jüdinnen und Juden im Stadtraum verstreut lebten, war das Morden nicht einzugrenzen oder vor der nichtjüdischen Bevölkerung geheim zu halten. In vielen Mehrfamilienhäusern wohnten Jüdinnen/Juden und Nichtjüdinnen/Nichtjuden in verschiedenen Wohnungen. Der 14-jährige Samuel Goetz ging nach der ersten „Aussiedlungswelle“ zu der christlichen Nachbarsfamilie und fragte, ob diese wüssten, wohin seine Eltern gebracht worden seien.164 Sie, so stellte sich später heraus, starben in Bełżec. Teofila Enke lebte seit 1920 in Tarnów, während der Besatzung in der Goldhammerstraße, wo auch 13 jüdische Familie wohnten. Während der ersten „Aktion“ wurden sie alle vor ihren Augen herausgeholt und kamen nicht mehr wieder.165 Franciszka Goldsztajn erinnerte sich, dass einige nichtjüdische Polinnen und Polen ihre Häuser und Wohnungen als christlich markierten, um nicht fälschlicherweise von den Deutschen herausgeholt zu werden. Ich war damals Zeugin, als Polen in der Jasna Straße in ihren Fenstern Heiligenbilder aufstellten, um einem „Besuch“ von den Deutschen zu entgehen. Ich hatte nicht den Mut, auch so ein Heiligenbild aufzustellen, aber ich habe eine Komposition aus Blumen gelegt, die von Weitem den Eindruck der Mutter Gottes machte.166

Die Jasna Straße befindet sich im Stadtviertel Grabówka, in dem mehrheitlich Jüdinnen und Juden wohnten. Der Mord an den Jüdinnen und Juden von Tarnów war ein im Stadtgebiet öffentlich vollzogenes Töten. Augenzeuginnen und -zeugen, das heißt sowohl jüdische als auch nichtjüdische Bewohnerinnen und Bewohner, sogar deutsche Zeuginnen und Zeugen, berichteten, dass die Vorgärten blutgetränkt waren,

Neighbors, S.  139. Ein weiteres Beispiel für die Hinwendung zu Opferquellen und oral history-Interviews siehe Browning: Remembering Survival. 164 Goetz: I Never Saw My Face, S. 41. 165 Aussage Teofila Enke im Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache, BAL B 162/2150, Bl. 971–976. 166 Franciszka Goldsztajn, YVA O.3/2783.

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kapitel 6

die Straßen von Leichen gesäumt.167 „Das Bild auf den Gassen war grauenvoll, sodass vorbeigehende Polen ohnmächtig wurden“, berichtete Janina Schiff.168 Das Töten passierte also vor den Augen der „vorbeigehenden“ nichtjüdischen Polinnen und Polen. Diese waren in der Stadt zugegen und nahmen deutlich wahr, was passierte, was in den Erinnerungen der nichtjüdischen Stadtbewohnerinnen und -bewohner bestätigt wird: „Ihre Körper [der Jüdinnen und Juden – AW] lagen auf den Straßen, in den Hauseingängen (dort wurden sie oft getötet, damit sich auf der Straße nicht so viele Leute versammeln).“169 Ein anderer Nichtjude berichtete von „Bergen von Leichen“.170 Dann hörte er selbst Schüsse und sah, wie ein verletzter Jude zu fliehen versuchte. „Ich sehe das Entsetzen in seinen Augen“, schrieb er, dann wurde der jüdische Mann erschossen.171 Kazimierz Wieczorek sagte aus, wie er eine jüdische Frau aus einem Haus rennen sah, hinter ihr ein deutscher Uniformierter, der die Frau erschoss: „Ich sah dem Geschehen aus einer Entfernung von rund zehn Metern zu. Den Namen der Frau kenne ich nicht.“172 Das christliche Kindermädchen Tekla Nagórska der Familie Goetz machte sich während der „Aktion“ auf den Weg zum Judenrat. Dabei bewegte sie sich frei durch die Stadt und sah eine Kolonne von Jüdinnen und Juden, die gerade die Szpitalna-Gasse entlang zum jüdischen Friedhof geführt wurde.173 Die Augenzeugin Theophilia Enke brachte dies so auf den Punkt: Die Tötungen von Jüdinnen und Juden seien „so augenscheinlich, dass niemand, der in Tarnów lebte, behaupten kann, davon

167 Bericht Halina Korniło, AŻIH 301/3228; Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598; Bericht Janina Schiff, AŻIH 301/2081; Leiter des Baudienstes Alfred Eckmann: „Überall verstreut und zwar auf den Straßen, in den Vorgärten und Höfen sah ich erschossene Juden liegen. Es war ein furchtbares Bild“, Aussage Alfred Eckmann vom 29.03.1962, BAL B 162/2151, Bl. 946, zit. auch in Hembera: Die Shoa, S. 193–194. Auch die Deutsche Gertrud Bernhard sagte aus, wie sie sah, dass Jüdinnen und Juden aus ihren Häusern abtransportiert wurden und auch die Leiche einer Jüdin, BAL B 162/2150; Zeugenaussage Edmund Wegner, Angehöriger der Schutzpolizei, BAL B 162/2150; Zeugenaussage Emil Hass, Kraftfahrer der Gestapo Tarnów: „Schon beim Zusammentreiben sind eine ganze Anzahl von Juden erschossen worden. In den Straßen, Gärten und Höfen lagen Leichen herum“, BAL B 162/2150, Bl. 1252. 168 Bericht Janina Schiff, AŻIH 301/2081. 169 Wspomnienie Eugeniusza Michalika, S. 12. 170 Gulkowski: Wspomnienia okupacyjne. Mit höflicher Genehmigung von Władysław Gulkowski Junior, dem Enkel des Verfassers. 171 Ebd. 172 Fragebogen der GKBZH w Polsce oraz Okręgowej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich w Warszawie, gesammelt in den Jahren 1968–1972, IPN BU 2448/503. 173 Goetz: I Never Saw My Face, S. 36.

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nichts gewußt zu haben“.174 Man konnte sich diesen Erlebnissen, also dem Zusehen, wie jüdische Männer, Frauen und Kinder umgebracht wurden, sagte eine Augenzeugin, „in Tarnów einfach nicht entziehen“.175 Marian  H., der bereits zu Beginn des Kapitels näher vorgestellt wurde, bewegte sich während der „Aktion“ in der Gegend seiner Wohnung in der Nadbrzeżna Górna und Dolna. 1945 sagte er vor der jüdischen Kommission aus: „Einer von ihnen [den Tätern – AW] ging in Kumerowas Haus, einer Polin, und ließ sich eine Schüssel Wasser bringen, seine Hände waren voller Blut und er prahlte damit auf ruthenisch, dass er heute 85 Juden getötet habe.“176 Dieses Bild – die Hände der Täter sind voller Blut, die nichtjüdischen Polinnen und Polen reichen eine Schüssel mit Wasser, damit sie gereinigt werden – wiederholte sich auch in anderen Zeuginnen- und Zeugenberichten zu den späteren „Aktionen“ und der Ghettoliquidierung. Deutlich wird, dass das öffentliche Morden in den Straßen Tarnóws vor den Augen der nichtjüdischen Stadtbevölkerung passierte. Im „Vorbeigehen“ wurden sie Zeuginnen oder Zeugen, wie Deutsche Jüdinnen und Juden töteten, so nahe, dass sie sogar das Entsetzen in den Augen der noch lebenden, doch gejagten und kurz darauf erschossenen Menschen erblicken konnten. Straßen und Grünanlagen voller Blut, Leichen in Hauseingängen, auf den Gassen zu Bergen gestapelt  – das war unzweifelhaft die Wahrnehmung der nichtjüdischen Tarnowianerinnen und Tarnowianer. Die jüdischen Zeuginnen und Zeugen registrierten die Reaktionen ihrer nichtjüdischen Mitbewohnerinnen und -bewohner und versuchten diese einzuschätzen. Janina Schiff beschrieb, wie diese in Ohnmacht fielen, während Dr.  Goldfein Gleichgültigkeit und Abscheu wahrnahm: „Unweit der Autos [der LKWs, die Juden vom Rynek abtransportierten  – AW] standen unterschiedliche Leute, Arier, die uns

174 Aussage Theophilia Enke, 1965, BAL B 162/2156, Bl. 2203. Allerdings waren es die deutschen Täter, die oft behaupteten, nichts gesehen zu haben und nicht die nichtjüdischen Polinnen und Polen. So war beispielsweise Georg Peter Libor, Mitglied der Sicherheitspolizei Außenstelle Tarnów, nachweislich bei mindestens einer der „Aussiedlungsaktionen“ in Tarnów beteiligt, was er selbst in der Vernehmung 1965 aussagt, allerdings will er nicht gesehen haben, dass Jüdinnen und Juden dabei erschossen wurden. All das habe er erst im bundesrepublikanischen Fernsehen gesehen. „Ich bin erstaunt, was das Fernsehen heute bringt. Was wußten wir damals davon!“, BAL B 162/2156, Bl. 2319. 175 Aussage von Amelie Skorski (stammt aus dem Sudetenland, ihr Mann arbeitete während der Besatzung im Eisenbahnausbesserungswerk in Tarnów), BAL B 162/2156, Bl. 2273. 176 Bericht Marian H., AŻIH 301/580, im Original heißt es „po rusku“, die ukrainischen Hilfseinheiten konnten entweder Ukrainisch oder Russisch (dann wäre jedoch „po rosyjsku“ die richtige Bezeichnung) mit dem Augenzeugen gesprochen haben, umgangssprachlich kann „po rusku“ jedoch beides bezeichnen.

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bemitleideten, einige mit einem Ausdruck von Abscheu und Mitleid, andere lachten und verspotteten uns“.177 6.4.4 Schauplatz Czacki-Schule In der Warzywna Straße 3, eine Viertelstunde zu Fuß vom Rynek entfernt, befand sich im alten Grabówka-Viertel die Czacki-Schule. Vor dem Krieg machten jüdische Kinder rund 50  % der Schülerschaft aus.178 Während des Krieges diente das Gebäude unterschiedlichen Zwecken, so wurden hier am Vorabend der „Aktion“ die Stempel ausgeteilt. Nach der „Aktion“ wurde die Schule zum Sammellager für Möbel und Wertgegenstände, die der jüdischen Bevölkerung geraubt wurden. Während der „Aktion“ selbst soll sich in einem der Räume eine Kleiderentwesungskammer befunden haben. Mehrere Zeitzeuginnen und -zeugen, obschon keine unmittelbaren Augenzeugen, berichteten, dass hier in einer Nacht während der ersten „Aktion“ mehrere Jüdinnen und Juden mit dem Entwesungsgift vergast worden seien.179 Baudienst und andere nichtjüdische Polen transportierten die Leichen auf einem LKW zum Friedhof.180 6.4.5 Schauplatz Zbylitowska Góra Etwas außerhalb der Stadt, rund acht Kilometer vom Rynek entfernt, ließ die SS im Waldgebiet von Zbylitowska Góra weitere Massengräber ausheben.181 Wieder war es der polnische Baudienst, der hier die Gruben schaufelte und die ganze Zeit dabei war.182 Die zur „Aussiedlung“ bestimmten jüdischen Menschen wurden vom Rynek oder vom Magdeburger Platz mit Lastwagen in das Waldgebiet gebracht.183 „Nachdem die Juden von Fahrzeugen heruntergesprungen waren, fuhren die Wagen jeweils sofort wieder weg und brachten nach einiger Zeit weitere Juden“, berichtete ein Fahrer der Sicherheitspolizei.184 Zuerst mussten sich alle Jüdinnen und Juden nackt ausziehen  – 177 R.  Goldfein: „Rozbitek“: Dzieje wojenne lekarza, unveröffentlichtes „Tagebuch“, YVA O.33/195. 178 Vgl. Kapitel 3 „Interaktionsraum Schule“. 179 Bericht Renia Fröhlich, AŻIH 301/436. 180 Aussage Alfred Eckmann, Leiter des Baudienstes in Tarnów, vom 29.03.1962, BAL B 162/2151, Bl.  947–947b sowie Aussage von 1965: BAL B 162/19257, Bl.  20–21; Aussage Frederik Hallberg beim Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache, BAL B 162/2150, Bl. 940–941; Aussage Strauß, BAL B 162/2150, Bl. 1231. 181 Nach Aussage von Izrael Izaak fand das Morden in Zbylitowska Góra am dritten Tag der Aktion statt, Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818. 182 Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; Tokarz: Wspomnienia Stanisława Dychtonia, S. 14. 183 Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600. 184 Zit. nach Hembera: Die Shoah, S. 196.

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Frauen, Kinder, ältere Menschen. Sie mussten sich an den Rand der Gruben stellen und wurden dann mit einem Genickschuss ermordet.185 Das Schießen erledigten vor allem die örtliche Sicherheitspolizei und die Gendarmerie.186 Der Baudienst schaufelte Erde und Chlorkalk über die Getöteten.187 Weiter berichtete der Fahrer der Sicherheitspolizei Tarnów: „Während ich dort stand [am Wagen – AW], wurden mir laufend Uhren, Schmuckstücke und vor allem Geld, das die Juden vor ihrer Erschießung abgeben mußten, übergeben. Die Sachen legte ich auf den Rücksitz meines Fahrzeugs. Die Juden mussten ihre Bekleidungsstücke auf einen Haufen werfen.“188 Besonders erschreckend lesen sich die Berichte über die massenhafte Tötung jüdischer Kinder im Wald von Zbylitowska Góra. Rund 700 Kinder sollen dort ermordet worden sein.189 Izrael Izaak berichtete: „Am nächsten Tag erzählten die umliegenden [nichtjüdischen – AW] Bewohner, dass sie selbst sahen, wie Kinder lebendig in die Gruben geworfen wurden. Nach den Kindern warf man dann Granaten rein, und dann schüttete man Erde darauf. Alle, Kinder und Alte, mussten sich nackt ausziehen. Die Älteren erschoss man mit Maschinengewehren.“190 Wie Nachbarinnen und Nachbarn sowie der Baudienst aussagten, sollen viele noch gelebt haben, als die Erde auf ihre Körper fiel.191 Da man das Morden nicht geheim halten konnte, nannte die Bevölkerung das Gebiet danach den „Judenwald“.192 Den nichtjüdischen Bewohnerinnen und Bewohnern der Siedlung am Waldrand entging das Morden nicht. Eine Nachbarin erzählte: „Damals standen diese Häuser noch nicht, die heute da sind, sodass ich aus den Fenstern meines Geburtshauses sehen konnte, was passiert, das war natürlich verboten. Die 185 Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818; Hembera: Die Shoah, S. 194–196. 186 Aussage des Kraftfahrers der Sicherheitspolizei Außenstelle Tarnów, BAL B 162/2150; vgl. Hembera: Die Shoah, S. 194–196. 187 Tokarz: Wspomnienia Stanisława Dychtonia, S. 14; Aussage Alfred Eckmann, Leiter des Baudienstes in Tarnów, vom 29.03.1962, BAL B 162/2151, Bl. 947b; Aussage des Kraftfahrers der Sicherheitspolizei Außenstelle Tarnów, BAL B 162/2150. 188 Aussage des Kraftfahrers der Sicherheitspolizei Außenstelle Tarnów, BAL B 162/2150, Bl. 955. 189 Hembera: Die Shoah, S. 194–196. 190 Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818; das Vorgehen mit den Granaten bestätigten Józef Koniło, AŻIH 301/4600 sowie Tokarz: Wspomnienia Janiny i Augustyna Żmudów, S. 14–15, Tokarz: Wspomnienia Stanisława Dychtonia, S. 14. 191 Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; Tokarz: Wspomnienia Janiny i Augustyna Żmudów, S. 14–15. 192 Aussage Alfred Eckmann, Leiter des Baudienstes in Tarnów, vom 29.03.1962, BAL B 162/2151, Bl. 947b.

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Menschen gingen in Reihen, am Waldrand mussten sie sich ausziehen, ihre Kleider dalassen und auch persönliche Gegenstände, sofern sie welche dabeihatten. Später erwuchs dort ein Berg aus Kleidung und Taschen.“193 Dann trieb man die jüdischen Menschen in den Wald, die Nachbarinnen und Nachbarn hörten Schüsse, ein Weinen und Lamentieren.194 Das Töten musste in den Alltag der nichtjüdischen Bewohnerinnen und Bewohner integriert werden. Neben den hier beschriebenen sinnlichen Wahrnehmungen hatte das auch praktische Auswirkungen auf den Arbeitsweg: „Wenn gerade Exekutionen stattfanden, durften wir dort nicht vorbeilaufen. Wenn wir zur Arbeit gingen, so mussten wir den Ort umgehen und einen Umweg durch die Felder machen.“195 Ein anderer Nachbar berichtete, wie der Wald nach der „Aktion“ aussah: „Als sich alles beruhigt hatte und ich mich traute, an diesen Ort zu gehen, da sah ich ein Stück Hand oder Bein aus der Erde ragen.“196 Nach ungefähr einer Woche ebbte die erste „Aussiedlungsaktion“ ab. Völlig verstört blieben die Überlebenden zurück. Die Radikalisierung der Gewalt hatte sie überrascht und überwältigt. Wie sollte es nun weitergehen? Viele waren angesichts des Erlebten überfordert und traumatisiert.197 Blanka Goldman erinnerte sich: „Die Menschen waren benommen, vor den Kopf geschlagen. Deswegen floh auch keiner, sie machten sich vor, dass sie leben werden. Außerdem hatte fast jeder eine ihm nahestehende Person verloren und war in solch einer tiefen Verzweiflung, dass an die eigene Rettung nicht zu denken war. Die Menschen heulten laut vor Verzweiflung.“198 War das Morden in Tarnów besonders blutig? Auch in anderen Städten wie Rzeszów und Przemyśl fanden „örtliche Aussiedlungen“ statt. Die gleichen Einheiten – das Polizei-Reservebataillon  307, die SS vom Truppenübungsplatz Dębica, der SS- und Polizeiführer Scherner als Befehlshaber und seine Mitarbeiter – waren ebenfalls an den „Aussiedlungsaktionen“ in anderen Städten und Ortschaften im Distrikt beteiligt. Im Prozess gegen den SS-Mann Martin Fellenz heißt es gar, dass auch in Rzeszów und Przemyśl „nach gleichem Muster wie in Tarnów“ verfahren wurde. Jedoch, in Tarnów gab es zu dem Zeitpunkt noch kein Ghetto, sodass das Herausholen aus den Häusern und das 193 194 195 196 197

Tokarz: Wspomnienia Janiny i Augustyna Żmudów, S. 14–15. Ebd. Ebd. Tokarz: Wspomnienia Stanisława Dychtonia, S. 14. Noch 20 Jahre nach den Geschehnissen gab der jüdische Augenzeuge Benno Schundler während eines Ermittlungsverfahrens zu Protokoll: „Ich selbst möchte an die Geschehnisse in Tarnów heute nach so vielen Jahren auch weiter nicht mehr erinnert werden“, BAL B 162/215, Bl. 960. 198 Bericht Blanka Goldman, AŻIH 301/2059.

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Morden auf den Straßen ein öffentlich vollzogenes Gemetzel darstellte, das sich vor den Augen der nichtjüdischen Nachbarinnen und Nachbarn entfaltete und über die ganze Stadt verstreut war. In Rzeszów gab es zum Zeitpunkt der ersten „Aktion“ dagegen bereits ein Ghetto. Dennoch können erst weitere mikrohistorische Untersuchungen letztlich die Frage beantworten, was während der „Aktionen“ in den einzelnen Ortschaften passierte. Zygmunt Klukowski beschrieb die blutigen „Aussiedlungen“ und die Partizipation nichtjüdischer Polinnen und Polen an dem Aufspüren von Jüdinnen und Juden in Szczebrzeszyn, Zamość und Biłgoraj.199 Beim jetzigen Stand der Forschung deutet sich jedoch bereits an, dass neben den Vernichtungslagern, KZs und Arbeitslagern die „killing fields“ der Shoah oftmals in den Städtchen des besetzten Polens, oftmals vor der „eigenen Haustür“ lagen. Dies wirft ein anderes Licht auf das Erleben und die Rolle, die der einheimischen nichtjüdischen Bevölkerung zukam. 6.5

Zahlen

Die Schätzungen der Opferzahlen der ersten „Aktion“ gehen weit auseinander. Angaben der frühen Nachkriegsjahre erwiesen sich im Licht der späteren Holocaustforschung häufig als zu hoch und mussten revidiert werden, so auch in Tarnów.200 Die neueste Studie von Melanie Hembera geht von 12 000 Opfern während der ersten Tarnower „Aussiedlungsaktion“ im Juni 1942 aus, von denen rund 8000 Menschen in Bełżec und 4000 vor Ort ermordet wurden.201 Diese neueste Schätzung erscheint am wahrscheinlichsten. Die Lokalhistorikerin Aleksandra Pietrzykowa rechnete in etwa mit derselben Gesamtzahl an Todesopfern, allerdings gewichtete sie die Todesumstände anders: Laut Pietrzykowa seien 3500 Jüdinnen und Juden nach Bełżec deportiert und 9000 vor Ort erschossen worden.202 Robert Kuwałek indes hält diese Zahl der

199 Klukowski: Tagebuch aus den Jahren der Okkupation, S. 375–387. 200 In ihren Berichten geben die Überlebenden Józef Korniło und Izrael Izaak an, dass rund 6000 Menschen nach Bełżec deportiert wurden, während vor Ort  12  000 Menschen erschossen wurden, AŻIH 301/4600; AŻIH 301/818. Leon Lesser schätzte, dass 10  000 Menschen in Tarnów ermordet wurden, AŻIH 301/4598; in diversen Urteilen, unter anderem gegen Amon Göth, einigten sich die Gerichte auf eine Opferzahl von insgesamt 20 000 Menschen bei der ersten „Aktion“. 201 Hembera: Die Shoah, S. 197; diese Zahlen finden sich auch in den Ermittlungsakten der NS-Prozesse, BAL B 162/4695, Bl. 25/26. 202 Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 188.

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vor Ort Ermordeten für unrealistisch.203 Eine zeitgenössische Schätzung der Untergrundorganisation Oyneg Shabes in Warschau, die im Untergrundarchiv Informationen zu den „Aussiedlungsaktion“ in anderen Orten sammelte, wartete bereits im Juni 1942 mit sehr präzisen Zahlen der Opfer auf: 8000 Ausgesiedelte und 4000 vor Ort Ermordete, was mit den neuesten Schätzungen der Forschung übereinstimmt.204 Von den ca. 30 000 Jüdinnen und Juden, die vor der „Aktion“ in Tarnów lebten, wurden während dieser einen Juniwoche 12 000 ermordet, also 40 % der jüdischen Bevölkerung Tarnóws. 6.6

Die Shoah im Stadtraum und die Reaktionen der nichtjüdischen Bevölkerung

Was bedeutete es für die Beziehungen zwischen der jüdischen und der nichtjüdischen Bevölkerung Tarnóws, dass sich die Shoah in der eigenen Stadt, sozusagen vor der eigenen Haustür abspielte? Die dichte Beschreibung der ersten „Aussiedlungsaktion“ verdeutlichte im Hinblick auf die nichtjüdischen Tarnowianerinnen und Tarnowianer, dass die unmittelbar und in größter Nähe ausgeübte Gewalt eine passive Haltung grundlegend ausschloss. Denn die nichtjüdischen Stadtbewohnerinnen und -bewohner sahen, hörten und rochen, wie ihre Nachbarinnen und Nachbarn, Handelspartnerinnen und -partner sowie Schulkameradinnen und -kameraden mitten in der Stadt und in ihrer Umgebung ermordet wurden. Sie sahen die Leichen, das Blut, die Transporte zum Bahnhof, die zusammengetragene Kleidung, die verlassenen Wohnungen, und manche stolperten buchstäblich über Leichenteile in den umliegenden Wäldern. Die Shoah war für die nichtjüdische Bevölkerung keineswegs etwas Abstraktes, etwas, das ihnen eine besondere Vorstellungskraft oder Fantasie abverlangt hätte. Es ging nicht darum, „zu wissen“, was den deportierten Jüdinnen und Juden bevorstand. Vielmehr war es eine mit allen Sinnen wahrnehmbare Erfahrung des Genozids in ihrer Heimatstadt. Die Gewalt war so allgegenwärtig und präsent, dass die nichtjüdischen Einwohnerinnen und Einwohner Tarnóws sich dazu verhalten mussten. Ein Nicht-Reagieren, ein sich Wegdrehen oder Erstarren müssen in diesem 203 Kuwałek schätzt, dass 9000 bis 10 000 Tarnower Jüdinnen und Juden im Juni 1942 nach Bełżec deportiert wurden, Kuwałek: Das Vernichtungslager Bełżec, S. 341. 204 „Tarnów. Począwszy od środy dnia 10 czerwca b.r. trwa nieprzerwany pogrom Żydów tarnowskich. Miasto jest otoczone żandarmerią i członkami SD. Do dnia dzisiejszego wymordowały bestie hitlerowskie ok. 4000 Żydów zaś ponad 8000 wysłano w ‚niewiadomym kierunku‘ czyli na stracenie.“ Biuletyn Oneg Szabat, Juni 1942, AŻIH ARG 33.

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Kontext ebenfalls als Varianten der ReAktion im Angesicht der Unmittelbarkeit des Mordens verstanden werden. Die große Nähe der ausgeübten Gewalt und zum Teil die Intimität des Gewaltgeschehens machten jegliche Passivität oder lediglich ein Bystanding unmöglich.205 Alle waren somit nolens volens involviert in das sich abspielende Geschehen. Angesichts dieser Ausführungen stellt sich die Frage, wie sich die Handlungsmöglichkeiten der nichtjüdischen Polinnen und Polen konkret gestalteten. Ein aktives Eingreifen gegen das Morden der zivilen nichtjüdischen polnischen Bevölkerung schien während der „Aktion“ unmöglich, dazu waren die Übermacht und die Brutalität der sich zu der Zeit in der Stadt befindenden bewaffneten deutschen Truppen zu stark. Vielmehr geht es an dieser Stelle darum, sich die Proximität der Gewalt und die Unmittelbarkeit der Erfahrung für die gesamte Stadtbevölkerung zu vergegenwärtigen. Denn diese Erfahrung der brutalen „Aktion“ wirkte unmittelbar auf die Stadtbevölkerung. Der Kulturphilosoph und Psychoanalytiker Andrzej Leder schrieb 2018 zu der nichtjüdischen polnischen Erfahrung der „Aussiedlungen“ in der Provinz im Generalgouvernement: „Szenen von Mord, Gewalt, Demütigung prägen sich tief in die Psyche des Einzelnen ein und fangen an, auf den Menschen zu wirken, unabhängig davon, was er von ihnen [den Opfern – AW] halten mag. Aus heutiger Sicht ist das Wichtigste, dass sich dadurch die Grenzen des Vorstellbaren verschieben, dessen, was ein Mensch dem Anderen antun kann.“206 Diese Erfahrung der extremen Gewalt an den „Anderen“ bezeichnete Leder als eine „Überschreitung“ als eine „Erschütterung der ‚menschlichen Ordnung‘“.207 Diese Normverschiebung wirkte sich im weiteren Verlauf der Shoah auf das Verhalten der nichtjüdischen Polinnen und Polen zunehmend aus.208 Es gab jedoch auch Gruppen unter der polnischen Bevölkerung, die aktiv am Mordgeschehen teilnahmen. Durch die minutiöse Rekonstruktion der Tage 205 Ich spiele hier auf den Begriff des Bystanders aus der Hilberg’schen Triade an, vgl. Hilberg: Perpetrators, Victims, Bystanders. In diesem Zusammenhang benutze ich den Terminus für die nichtjüdische lokale Bevölkerung. Auf diese Begrifflichkeit gehe ich näher im Kapitel 10.2 „Der Abschied vom Bystander – über die Diskussion neuer Kategorien“ ein. 206 Leder: Konsekwencje doświadczenia Zagłady, S. 499. 207 „Przekroczenie“, „Zachwianie ‚ludzkiego porządku‘“, Leder: Konsekwencje doświadczenia Zagłady, S. 498. 208 Bewusst verzichte ich an dieser Stelle auf den Terminus der Zeugenschaft der Shoah, da er zu Recht in der neuen Forschung zur Rolle der nichtjüdischen Polinnen und Polen vor allem von Kulturwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftlern wie Elżbieta Janicka, Anna Zawadzka und Tomasz Żukowski kritisch hinterfragt wird. Dazu mehr in Kapitel 10.2 „Der Abschied vom Bystander – über die Diskussion neuer Kategorien“; vgl. auch Hopfinger/Żukowski(Hg.): Opowieści o niewinności.

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der ersten „Aussiedlung“ wurden neue Akteure sichtbar, wie der bislang noch wenig erforschte polnische Baudienst. Diesem wird gesondert das Kapitel  8 „Polen in Uniform“ gewidmet. Es hat zudem eine hochsymbolische Bedeutung, dass ein Teil der Morde der ersten „Aktion“ auf dem Marktplatz stattfand. Die deutschen Besatzer wählten diesen Ort als Sammelstelle vermutlich aus pragmatischen Gründen  – ein großer Platz, mitten in der Stadt, auf dem sich viele Menschen versammeln konnten. Darüber hinaus ist er von Häusern umringt, sodass Fluchtmöglichkeiten relativ leicht verhindert werden konnten. Für die Stadtbevölkerung war der Marktplatz jedoch seit jeher der Ort des Handels und der polnischjüdischen Begegnung par excellence. Hierher kamen Bäuerinnen und Bauern aus den umliegenden Dörfern, hier verkauften Jüdinnen und Juden ihre Waren an die Land- und Stadtbevölkerung. Die meisten Läden und Häuser auf dem Rynek gehörten vor der deutschen Besatzung Jüdinnen und Juden.209 Die jüdische Bevölkerung bildete das, was Christian Gerlach als „middlemen minority“ bezeichnete. Sie waren Mittelsleute zwischen Stadt und Land, zwischen Bauerntum und Städtern, und vorwiegend Händler. Über 90 % aller Läden in Tarnów wurden vor dem Zweiten Weltkrieg von Jüdinnen oder Juden geführt. In seinem Buch Extremely Violent Societies konnte Gerlach zeigen, dass vor allem diese „middlemen minorities“ Genoziden zum Opfer fielen, da sie eine umstrittene oder umkämpfte Position innehatten, keine Unterstützung wesentlicher gesellschaftlicher Gruppen genossen und deren Eliminierung im Interesse unterschiedlicher Akteure aus diversen Gründen lag.210 Der Marktplatz Tarnóws war bereits seit den 1930er Jahren umkämpft, es gab einen regelrechten Wettbewerb um die Marktplätze, mit dem Ziel, den Kleinhandel zu „entjuden“. Was diskursiv im Polen der Zwischenkriegszeit bereits vorweggenommen wurde (ohne die Absicht einer physischen Vernichtung), setzten die deutschen Besatzer in seiner physischen Endgültigkeit und Brutalität um: Sie machten den Rynek „judenrein“. Der Marktplatz erscheint somit als ein Raum, in dem sich in verdichteter Form zeigt, wie die in der Lokalbevölkerung vorhandenen Spannungen aus der Vorkriegszeit und die Taten der deutschen Besatzer aufeinandertrafen und sich gewissermaßen potenzierten. Tatjana Tönsmeyer machte auf diese Interferenz aufmerksam:

209 Vgl. Kapitel 1 „Tarnów vermessen – eine Einführung in den Stadtraum“ sowie zum Kampf um die Marktstände 2.3.3 „Der Fall Silbiger 1936 – und der Antisemitismus in Polen“, im besonderen das Unterkapitel „Der Antisemitismus in Polen 1936 – der gesamtgesellschaftliche Kontext der Affäre Silbiger“. 210 Gerlach: Extremely Violent Societies, S. 92–120.

Genozid vor der Haustür

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Unter Besatzung wurden grundsätzlich alle Menschen der okkupierten Länder nach den rassistischen und utilitaristischen Kriterien der deutschen Besatzer hierarchisiert, während zugleich bereits vorhandene soziale, ethnische, religiöse oder politische Gegensätze fortbestanden und neue, durch die Besatzung ausgelöste, hinzutraten.211

Christian Gerlach schrieb in seiner Studie über Genozide, diese seien multifaktorielle, soziale Prozesse, in denen unterschiedliche Gruppen mit jeweils eigener Agenda teilnähmen. Deswegen sollten bei der Erforschung von Genoziden nicht nur staatliche Akteure und policies betrachtet werden, sondern auch die bottom-up-Dynamik. Er erklärt die Tatbeteiligung gewöhnlicher Menschen damit, dass sie in der Gewalt eine Methode sahen, eigene Interessen zu verwirklichen. Diese eigenen Interessen mussten nicht unbedingt mit den staatlichen übereinstimmen, aber – so Gerlach – sie konnten durch die von staatlichen Akteuren initiierte Gewalt realisiert werden. Und diese Gewalt richtete sich oft gegen Gruppen, die eine Mittlerposition innehatten, die „zwischen“ unterschiedlichen Akteursverbänden standen (und dadurch eine schwache Position besaßen, da sich keine nennenswerte Akteursgruppe mit ihnen solidarisierte). Das motivierte letztlich zur Teilnahme breiterer Bevölkerungsschichten an den Gewaltexzessen. Gerlach nennt diesen Prozess auch „participatory violence“. Das besetzte Polen führt Gerlach in seinem Buch allerdings nicht als Beispiel an. Hier war das Beziehungsgeflecht zwischen den Akteursgruppen anders gelagert. Die nichtjüdischen Polinnen und Polen waren selbst Opfer der deutschen Besatzungspolitik, ihnen drohte die Todesstrafe schon bei geringfügigen Vergehen und der Terror war real in ihrem Alltag spürbar. Der Terminus einer „participatory violence“ passt also in diesem Zusammenhang nicht wirklich. Dennoch können die Überlegungen von Gerlach und Tönsmeyer fruchtbar zusammengeführt werden: Die nichtjüdische polnische Lokalbevölkerung hatte grundsätzlich andere Interessen als die deutschen Besatzer. Doch die Feindseligkeit der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung gegenüber der jüdischen – versinnbildlicht im Kampf um die Marktstände – hatte Tradition und verschwand nicht einfach mit dem Einmarsch der deutschen Truppen. Nun hatten die deutschen Besatzer eine Fantasie des polnischen nationalistischen Imaginariums Realität werden lassen. Der Rynek wurde „entjudet“, auch wenn die polnischen Nationalisten nie solch drastische und gewaltvolle Maßnahmen in Erwägung gezogen hatten. Dadurch dass ein erheblicher Teil der urbanen Bevölkerung, also die Jüdinnen und Juden der Städte, nach den „Aussiedlungen“ nicht 211 Tönsmeyer: Besatzungsgesellschaften.

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kapitel 6

mehr „da waren“, um es euphemistisch auszudrücken – und zwar nicht durch polnisches Verschulden  –, eröffneten sich Leerstellen in jenen sozialen und ökonomischen Positionen, die die ethnischen Polinnen und Polen bereits seit Längerem für sich eingefordert hatten. Es schien, als könnte durch die deutsche Judenvernichtung bildlich gesprochen der Weg des „Bauern an den Marktstand“ geebnet werden. Andrzej Leder machte jedoch darauf aufmerksam, dass die Stilisierung von Jüdinnen und Juden zu „Fremden“ im Diskurs der 1930er Jahre eine völlig andere Dimension hatte als die Erfahrung der Lokalbevölkerung, dass massenhaft Jüdinnen und Juden während der Shoah vor ihren Augen ermordet wurden.212 Dem ist nur zuzustimmen. Sie hatten zwar eine ganz andere Dimension, aber dennoch muss im Sinne Tönsmeyers nach der schwierigen Gleichzeitigkeit von neuen, während des Terrors der NS-Herrschaft entstandenen, und alten Ordnungen und Glaubenssätzen gefragt werden, und wie sich diese beiden überlagerten und unter Umständen verstärkten. Was passierte mit den antisemitischen Vorstellungen der nichtjüdischen Polinnen und Polen während der Radikalisierung der deutschen Besatzung und während der Shoah? Diese Frage soll uns im Folgenden weiter beschäftigen, gerade im Hinblick darauf, dass die offene, überall sichtbare Gewaltausübung der deutschen Besatzer eine extreme Normverschiebung für die nichtjüdische polnische Lokalbevölkerung bedeutete.

212 Leder: Kosekwencje doświadczenia Zagłady, S. 499.

kapitel 7

Das Ghetto, der Zaun und die Beobachtenden. Tarnów in der Zeit der Ghettoisierung (1942–1943) Nach der Aussiedlungsaktion herrschte unter den verbliebenen Juden eine befremdliche Fassungslosigkeit. Jene, die sich gerettet hatten, guckten einander ungläubig an. Obwohl keiner die Worte aussprach, spiegelte sich doch in den Augen aller die stumme Frage: „Du lebst?“ Wie ist das geschehen? Sie haben sich selbst gewundert, dass sie am Leben geblieben waren.1

Mit diesen Worten beschrieb Abraham Chomet im yizker bukh die Stimmung unter den Tarnower Judenheiten nach der ersten „Aktion“. Am  19.  Juni 1942, einen Tag nach ihrer Beendigung, erging eine Anordnung des Stadtkommissars Gustav Hackbarth an die Stadtbewohnerinnen und -bewohner Tarnóws, welche die Schaffung eines umzäunten Ghettos proklamierte.2 Leon Lesser erinnerte sich: „Am Folgetag nach der ersten Aussiedlung erschienen Plakate auf den Straßen mit der Bekanntmachung, dass alle Juden und jene jüdischer Herkunft innerhalb der nächsten drei bis vier Tage in den jüdischen Wohnbezirk umziehen müssen.“3 Binnen kurzer Zeit musste die jüdische Bevölkerung in das designierte Areal umsiedeln, während die Nichtjüdinnen und Nichtjuden auf die so entstehende „arische“ Seite umzogen. Die schwer traumatisierten Jüdinnen und Juden, die gerade die Tötung ihrer Schwestern, Brüder, Mütter, Väter und Kinder miterlebt hatten, mussten innerhalb weniger Tage ihre Sachen zusammenpacken und im abgegrenzten Stadtteil eine neue Bleibe finden. Das Ghetto Tarnów wurde im östlichen Stadtteil eingerichtet und überlappte sich mit dem Vorkriegsviertel Grabówka, einem verarmten Arbeiterviertel, in welchem vor dem Krieg der Anteil von Jüdinnen und Juden bei rund 75–77  % lag.4 Ungefähr eine Woche nach der Anordnung wurde das Ghetto geschlossen: Zufahrtsstraßen wurden durch Holzzäune oder Mauern 1 Chomet: Der umkum, S. 836. 2 Hembera: Die Shoah, S.  197; vgl. auch Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; Urteilsbegründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777; Chomet: Zagłada Żydów w Tarnowie, S. 47. 3 Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598. 4 Nach dem Wählerverzeichnis zur Stadtratswahl 1939: Z Frontu Wyborczego. In: Tygodnik Żydowski, 17.02.1939, S. 2; zu Grabówka vgl. Kapitel 1 „Tarnów vermessen – eine Einführung in den Stadtraum“.

© Brill Schöningh, 2022 | doi:10.30965/9783657760091_009

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kapitel 7

abgeriegelt. Da, wo eine Häuserfront die Grenze darstellte (zum Beispiel die nördliche Seite der Lwowska Straße), wurden Türen und Fensteröffnungen mit Brettern vernagelt.5 Im Juli 1942 befanden sich rund 16 000 Menschen im Tarnower Ghetto.6 Allerdings müsste die tatsächliche Anzahl der im Ghetto lebenden Menschen höher gewesen sein, da nicht alle registriert waren.7 Noch Anfang Juni hatten rund 30 000 Jüdinnen und Juden in Tarnów gelebt. Innerhalb einer Woche wurden von diesen circa 12  000 ermordet und die Überlebenden anschließend auf das enge Ghettoareal gesperrt. In der zweiten Junihälfte war also die jüdische Hälfte der Stadtbevölkerung entweder tot oder im Ghetto weggesperrt. Wie Tarnów Ende Juni 1942 ausgesehen haben muss, ist nur schwer vorstellbar. Ich versuche es mir trotz allem auszumalen: Einige Spuren der ersten „Aktion“ werden noch sichtbar sein, obschon die Straßen bereits vom Blut gereinigt wurden. Unweit sind die Massengräber frisch zugeschüttet, eine relative Leere macht sich in der Stadt breit. In einigen Mehrfamilienhäusern, wo einst jüdische Familien wohnten, herrscht vielleicht Stille. Im abgesperrten Ghetto allerdings ist es eng und Wohnraum knapp. Das Ghetto war der im Stadtraum sichtbare Ausdruck der rassistischen Besatzungsordnung, die sich förmlich in das Straßennetz einbrannte. Die den Bewohnerinnen und Bewohnern vertraute Heimatstadt unterteilte sich nunmehr in einen von den Deutschen aufoktroyierten „jüdischen Wohnbezirk“ und eine „arische“ Seite. Das Gefälle zwischen den eingesperrten Jüdinnen und Juden und den polnischen Nichtjüdinnen und Nichtjuden klaffte jetzt auch räumlich auseinander. Cesia Honig hatte bereits vor dem Krieg schmerzlich erlebt, wie sie als Jüdin aus der polnischen Gemeinschaft ausgeschlossen wurde, obwohl sie sich selbst als polnische Patriotin wahrnahm.8 Damals geschah die Exklusion auf diskursiver Ebene, als Cesia den Tarnower öffentlichen Raum, ihren Raum, selbstverständlich mit anderen Schülerinnen und Schülern durchschritt. Nun, im 5 Bericht Blanka Goldman, AŻIH 301/2059; Urteilsbegründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777, S. 45–46; Urteilsbegründung im Prozess gegen Walter Baach und Ernst Wunder, YVA Tr. 10/751. 6 Stand Juli/Ende August:  15  828 Menschen nach Berichten der Heimatarmee sowie nach Berichten der Tarnower Kriminalpolizei, die tatsächliche Anzahl müsste jedoch höher liegen, da nicht alle Menschen registriert waren, Hembera: Die Shoah, S. 198. 7 Hembera: Die Shoah, S. 198. Geht man von 30 000 jüdischen Menschen Anfang Juni 1942 in Tarnów aus und 12 000 Todesopfern in der Zeit vom 11.–18. Juni 1942, so müssten rund 18 000 Menschen überlebt haben. Wenn aber tatsächlich im Juli/August  1942 16  000 Personen registriert waren, bleibt eine Differenz von 2000 Menschen, deren Schicksale nicht nachverfolgt werden können. Einige lebten vermutlich illegal im Tarnower Ghetto, andere flohen auf die „arische“ Seite oder in eine andere Stadt. 8 Vgl. dazu Kapitel 3.3 „Die Sekundarstufe – staatliche Gymnasien und die Safa Berura“.

Das Ghetto, der Zaun und die Beobachtenden

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Jahre 1942, musste die ehemalige polnische Patriotin Cesia ins Ghetto umziehen und lebte vom nichtjüdischen Teil der Bevölkerung getrennt. Da sie nahe an der Ghettogrenze wohnte, stand ihr der Unterschied zwischen eigenem Schicksal und der „arischen“ Seite buchstäblich vor Augen. In einem Interview aus dem Jahr 1995 stellte sie ihre Perspektive auf die Teilung der Stadt pointiert dar: „Death here, life there.“9 Die Ghettogrenze markierte viel mehr als nur eine geografische Segregation, es war der limes zwischen den „Todesräumen“10 und jenen mit der Chance auf Leben,11 die Überquerung der Ghettogrenze war zugleich eine Überschreitung der räumlichen und somit der Besatzungsordnung. Diese Überlegungen strukturieren das folgende Narrativ des Kapitels, welches sich zunächst den non-Jewish spaces widmet  – den Räumen, die durch die Abwesenheit von Jüdinnen und Juden markiert waren  –, danach den Jewish spaces und schließlich der Transgression dieser Grenzen, also der Frage, wer wie und mit welchen Konsequenzen diesen limes überquerte.12 Und wo gab es trotz des geschlossenen Ghettos noch Interaktionsräume zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Lokalbevölkerung und wie waren diese strukturiert? Denn die Schaffung des Ghettos stellte eine Raumproduktion dar, die die gesamte Stadt betraf und die Begegnungsräume zwischen Nichtjüdinnen/Nichtjuden und Jüdinnen/Juden neu konstituierte.13 Der spatial turn hat in den vergangenen zehn Jahren auch die Ghettoforschung erreicht, und verstärkt greifen Historikerinnen und Historiker nun auf raumsoziologische Methoden zurück, um die „geschlossenen Bezirke“ zu erforschen.14 9 10 11 12 13

14

Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). Zu der Begrifflichkeit vom „Todesraum Ghetto“ im Gegensatz zum „Lebensraum“-Konzept für die Deutschen siehe Friedman: The Jewish Ghettos, S. 64–65. Philip Friedman macht darauf aufmerksam, dass beispielsweise die Mauer in Krakau deswegen matsevot ähnelte, um den Eingesperrten den Eindruck zu vermitteln, sie seien bereits „lebendig begraben“; Friedman: The Jewish Ghettos, S. 83–84. Die Begrifflichkeit zum Raum als Jewish oder non-Jewish space stützt sich auf die Überlegungen von Cole: Holocaust City, S. 30. Raul Hilberg machte bereits – allerdings nur kursorisch – darauf aufmerksam, dass durch die Errichtung der Ghettos in Warschau Straßenbahnlinien umgeleitet, in Łódź eine neue Buslinie geschaffen und in Lublin eine neue Umgehungsstraße gebaut werden mussten. Die Verkehrsprobleme der „arischen“ Seite mögen im Angesicht der Ermordung von Jüdinnen und Juden nichtig erscheinen, aber sie verweisen auf die Raumproduktion, die die gesamte Stadt betraf. Hilberg: Vernichtung, Bd. 1, S. 238; Auch Jacek Leociak und Barbara Engelking untersuchten die Topografie des Warschauer Ghettos im gesamtstädtischen Kontext – Engelking/Leociak: Getto warszawskie. Vgl. vor allem die Forschung von Cole: Holocaust City; Schoeps/Milchram (Hg.): Walled Cities; zur Verbindung von raumsoziologischen Konzepten und lebensweltlichen Zugängen zum Ghetto siehe Bethke/Schmidt Holländer: Lebenswelt Ghetto, S. 35–51.

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kapitel 7

Abbildung 55 Ein Teil des Grabówka Viertel während des Krieges, aber vor der Ghettoisierung

Die Shoah, so der Historiker Tim Cole, passierte nicht nur IM Raum, sondern wurde DURCH den Raum vollstreckt, durch „sociospatial control“.15 Die geschlossenen Räume der Ghettos schränkten den Warenverkehr, die Einfuhr von Lebensmitteln und die Kontakte mit der Außenwelt ein.16 Es entstanden, wie Tim Cole schrieb, einerseits „landscapes of exclusion“, durch welche das Othering der dort lebenden Bevölkerung räumlich vollzogen wurde.17 Den Stigmatisierten wurde ein Ort im „elsewhere“ zugewiesen: Ein „Außerhalb“ der lokalen Gemeinschaft entstand, das zugleich aus derselben herausgeschnitten werden musste. Das räumliche Othering hatte eine eigene, lokale topografische Logik. Häufig waren es ärmere, heruntergekommene Stadtteile, in denen Ghettos gebildet wurden.18 Raul Hilberg fasste zusammen, dass das

15 16 17

18

Cole: Holocaust City, S. 19–21. Ebd., S. 21. Tim Cole bezieht sich mit seiner Begrifflichkeit auf die Studie von Sibley: Geographies of Exclusion. Dieser untersuchte urbane Minderheiten im westeuropäischen zeithistorischen Kontext. Cole wendet seine Überlegungen auf Ghettos während des Nationalsozialismus an, Cole: Holocaust City, S. 21. Dazu mehr bei Cole: Holocaust City, S. 30; siehe zu Łódź auch Hilberg: Vernichtung, Bd. 1, S. 233; Friedman: The Jewish Ghettos, S. 76, 84.

Das Ghetto, der Zaun und die Beobachtenden

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Ghetto „für gewöhnlich ein äußerst dicht besiedeltes Elendsviertel [war], ohne jegliche Parks oder unbebaute Flächen“.19 Auch den in Tarnów noch am Leben gebliebenen Jüdinnen und Juden wurde der ärmlichste Raum zugestanden, das Elendsviertel Grabówka wurde zum Jewish space – die jüdische Bevölkerung wurde nunmehr in allen erdenklichen Kategorien (sozial, ethnisch, rassistisch, räumlich, hygienisch) in ein „Außerhalb“ der Gemeinschaft verwiesen. Zugleich war es genau jener Raum gewesen, der in den Entwürfen polnischer Antisemiten der 1920er und 1930er Jahre zum schmutzigen Judenviertel stilisiert wurde, aus dem sich Jüdinnen und Juden nicht weiter ausbreiten sollten.20 Andererseits gelangten die wohlhabenderen Viertel mit den besseren Wohnungen und Einrichtungen in die Domäne der Nichtjüdinnen und Nichtjuden und waren durch die Abwesenheit von Jüdinnen und Juden markiert.21 Neuere Forschungen plädieren dafür, danach zu fragen, wie sich die Ghettoisierung auf den gesamten urbanen Raum auswirkte und wie die nichtjüdische Lokalbevölkerung am Prozess der Raumproduktion beteiligt war. Cole machte am Beispiel Ungarns darauf aufmerksam, dass lokale Nichtjuden an den Verhandlungen darüber, wo die Ghettogrenzen verlaufen sollten, teilnahmen und ihre eigenen Interessen durchzusetzen versuchten.22 So kann man beispielsweise weiter fragen, inwiefern die nichtjüdischen Polinnen und Polen die Wirkmächtigkeit dieses limes verstärkten. Dazu jedoch später mehr.23 Was die plötzliche Abwesenheit von Jüdinnen und Juden auf der „arischen“ Seite bedeutete und was mit deren Wohnungen, Werkstätten, Mobiliar und Wertsachen passierte, wird im nächsten Unterkapitel  7.1.1 „Die Hälfte der Stadt und ihre Dinge  – der Raub jüdischen Eigentums“ untersucht. Immer wieder wird im Folgenden die Struktur der Erzählung über das Ghetto unterbrochen, um weitere einbrechende „Aktionen“ zu beschreiben. Formal markiert der narrative Bruch das wiederholte „Einbrechen“ extremer Gewalt in die Überlebensversuche der Menschen im Ghetto. Die zweite „Aussiedlung“ fand bereits im September, die dritte im November 1942 statt. Nach jeder wurde das Ghettoareal verkleinert (siehe Abb. 56 unten) und nach der „Novemberaktion“ in ein Ghetto  A geteilt, das offiziell zu einem Zwangsarbeitslager umgewandelt wurde, und ein Ghetto  B für jene, die als nicht 19 20 21 22 23

Hilberg: Vernichtung, Bd. 1, S. 238. Vgl. Kapitel 1.4 „(Stadt-) Raum und Ethnizität“. Zur Dualität von Räumen, die durch Jewish presence/non-Jewish absence einerseits sowie non-Jewish presence/Jewish absence andererseits markiert sind, siehe Cole: Holocaust City, S. 30–31. Cole: Writing ‚Bystanders‘ into Holocaust History, S.  55–74; Cole: Holocaust City; Cole: Building and Breaching, S. 57–61. Vgl. Kapitel 7.3.2 „Über den Zaun – auf der ‚arischen‘ Seite“.

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kapitel 7

Abbildung 56 Verlauf der Ghettogrenze. Erläuterung: Rote Linie: Ghettogrenze bei der Errichtung des Ghettos am 19. Juni 1942; grüne Linie: Verkleinerung des Ghettos nach der „Aktion“ im September 1942: blau gestreift: Ghettoareal nach der „Aktion“ im November 1942 bis zu seiner Liquidierung im September 1943

arbeitsfähig galten. Im Januar 1943 zählte das verkleinerte Ghetto Tarnów rund 6000 Personen.24 Das heißt, dass in dem halben Jahr zwischen Juni 1942 und Jahresende, rund 80 % der Jüdinnen und Juden Tarnóws ermordet wurden. Dementsprechend wandelte sich sowohl der Ghettoraum als auch die Bevölkerungsstruktur grundlegend, und die Menschen, denen es gelang zu überleben, mussten in einer relativ kurzen Zeitspanne wiederholt massive Gewalt, den Verlust ihrer Nächsten, Todesängste und erneute Umzüge in das verkleinerte Ghetto überstehen. All das wirkte sich sowohl auf den Alltag im Ghetto als auch auf die Überlebensstrategien seiner Insassen aus.

24

Kwartalnik sprawozdań sytuacyjnych, Kwartał IV 1942 r. (stan na 20.01.1943), AAN 1325: Delegatura Rządu RP na Kraj 1940–1945/202/II/11 Meldunki terenowe, 1940–1942, S. 244. Hermann Blache gibt für das Jahr 1943 an, dass noch 1200 bis 2000 Menschen im Ghetto lebten. Die Zahlen scheinen jedoch wenig wahrscheinlich. Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache, Aussage des Verdächtigen, BAL B 162/2150. Die Kriminalpolizei Tarnów gibt für den Februar 1943 den Bevölkerungsstand mit 5967 Jüdinnen und Juden an, für Mai 1943 ca. 7000; die Zahlen der Kriminalpolizei sind zitiert nach Hembera: Die Shoah, S. 206.

Das Ghetto, der Zaun und die Beobachtenden

7.1

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Non-Jewish space: die „arische“ Seite

7.1.1 Die Hälfte der Stadt und ihre Dinge – der Raub jüdischen Eigentums Roman Kolasiński, ein nichtjüdischer Tarnowianer, der für den Baudienst rekrutiert wurde, hielt in seinen 2018 veröffentlichten Memoiren seine Sicht auf die „Aktion“ und das „Danach“ fest: Der Anblick der LKW-Ladeflächen, voller halbtoter Menschen, dichtgedrängt, die leer aus Zbylitowska Góra zurückkehrten, verfolgt mich bis heute. Ich gedenke meiner Kollegen und deswegen gelingt es mir nicht, ruhig über die Transporte zu schreiben. Sie fuhren mitten durch die Stadt, in der sie aufgewachsen waren, groß wurden und nun trennte sie Angst und Gleichgültigkeit von der christlichen Bevölkerung. Eine Hälfte der lebendigen Stadt ist umgekommen, nur Häuser blieben, Läden, Werkstätten, Fabriken.25

Es kann nur gemutmaßt werden, wie viele Wohnungen, Betriebe, Möbel, Wertgegenstände, Maschinen und Werkzeuge von ihren jüdischen Besitzerinnen und Besitzern zurückgelassen werden mussten. Was passierte nun mit all den Dingen, die die Ermordeten oder die ins Ghetto Gezogenen auf der „arischen“ Seite hinterlassen haben? Die Nutznießer der als „herrenlos“ deklarierten Objekte waren vornämlich die deutschen Besatzer vor Ort. Noch während der ersten „Aktion“ versahen SSMänner die geräumten Häuser bzw. Wohnungen mit einem Papiersiegel mit Stempel und der Aufschrift „Eigentum des SS- und Polizeiführers Krakau“.26 In den nachfolgenden Wochen war der Schutzpolizist Ernst Wunder zusammen mit Mitgliedern des polnischen Baudienstes27 damit befasst, jüdische Habe auf der „arischen“ Seite aus den Wohnungen zu holen und zu bestimmten Sammelplätzen in der Stadt zu schaffen.28 Der Chef des Baudienstes Alfred Eckmann stellte die jungen polnischen Männer für diese Tätigkeit ab. Er sagte in einem Nachkriegsprozess aus: Die Männer [vom Baudienst – AW] wurden noch wochenlang nach der ersten Aussiedlungsaktion abgestellt. Die Judenhäuser standen leer, so bestand die Gefahr, daß die Polen die Häuser leerräumen würden und daher verkaufte die Kreishauptmannschaft die beschlagnahmten Gegenstände des Hausrats. Möbel und Bekleidung blieben offenbar späterer Verfügung vorbehalten. Jedenfalls mußten Baudienstmänner noch wochenlang Hausrat abfahren.29 25 26 27 28 29

Kolasiński: Wspomnienia, S. 104–105. Aussage Franz Josef Müller, BAL B 162/1340, Bl. 4. Siehe ausführlicher zum Baudienst Kapitel 8 „Polen in Uniform: der polnische Baudienst und die Blaue Polizei“. Urteilsverkündung im Prozess gegen Walter Baach und Ernst Wunder, YVA Tr. 10/751, S. 39. Zeugenaussage Alfred Eckmann 1965, BAL B 162/19257, Bl. 19.

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Die deutschen Besatzer auf Lokalebene profitierten enorm vom Raub des Eigentums der Ermordeten. Wertvoller Hausrat wurde in der Czacki-Schule gesammelt, wo zum Teil Jüdinnen und Juden diesen sortieren mussten.30 Es waren Möbel, Kleider, Bilder, kostbare Teppiche, Brokatdecken, Schuhe, Schmuck und auch Geld.31 Der Kreishauptmann verkaufte diese über den SSund Polizeiführer weiter an deutsche Angestellte, die dadurch ihren Lebensstandard verbessern konnten.32 Allein zwischen September  1943 (nach der Liquidierung des Ghettos) und Februar 1944 sollen, laut eines jüdischen Überlebenden vom Ordnungsdienst, 200 Eisenbahnwaggons mit jüdischer Habe aus Tarnów abtransportiert worden sein.33 Einige Täter bereicherten sich auch persönlich. Manche verschickten die entwendeten Sachen nach Hause „ins Reich“.34 Abraham Chomet beschrieb im yizker bukh auf Basis jüdischer Zeuginnen- und Zeugenberichte detailliert, wie Wilhelm Rommelmann, Leiter des Referats für „Judenangelegenheiten“ bei der Sicherheitspolizei in Tarnów, die Schränke durchsuchte und sich mit seinem Kollegen Gerhard Grunow bereicherte.35 Rommelmann hatte in seiner Wohnung wertvollen Schmuck, Wertgegenstände, Uhren, aber auch Teppiche, Pelzmäntel und anderes mehr gehortet. Bei seiner Rückkehr nach Deutschland sei er ein reicher Mann gewesen.36 Der jüdische Ordnungsdienst-Mann Wilhelm Lerner berichtete, dass ein bis zwei Mal die Woche Möbel in die Wohnungen von Wilhelm Rommelmann, Oskar Jeck und Gerhard Grunow transportiert wurden.37 Die jüdischen Überlebenden waren sich bewusst, dass ihr Eigentum und jenes ihrer ermordeten Angehörigen nun in großem Stil geraubt wurden. Der Überlebende Józef Korniło berichtete unmittelbar nach dem Krieg: Die Wohnungen der Ausgesiedelten und Ermordeten wurden durch die Gestapo versiegelt. Dann wurden Möbel, Kleidung, Bettwäsche und alles, was sich in der Wohnung befand, weggebracht. Die besseren und teuren Sachen steckte sich die Gestapo ein.38

30 31 32 33 34 35 36 37 38

Bericht Renia Fröhlich AŻIH 301/436; Bericht Lila Wider, AŻIH 301/205; Bericht Usher Bleiwei, AŻIH 301/4608; Bericht Józef Korniło AŻIH 301/4600. Aussage Frederik Hallberg, BAL B 162/2151, Bl. 941. Dazu mehr bei Hembera: Die Shoah, S. 217–218. Vernehmung Wilhelm Lerner, ANKr 29/SAKr 966 K 138/49. Chomet: Zagłada Żydów w Tarnowie, S. 46. Ebd., S. 41. Hembera: Die Shoah, S. 218. Vernehmungsprotokoll Wilhelm Lerner, ANKr 29/SAKr/966 K 138/49. Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600.

Das Ghetto, der Zaun und die Beobachtenden

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Die Historikerin Melanie Hembera kommt daher zum Schluss, dass Tarnów für die dort tätigen Deutschen zu einem „El Dorado“39 geworden war und die Möglichkeit der persönlichen Bereicherung der Vernichtung der Jüdinnen und Juden vor Ort eine „enorme Schubkraft“ verlieh.40 Die deutsche Zivilverwaltung und die Sicherheitspolizei waren sich der Gefahr bewusst, dass die „verlassenen“ Sachen, Wohnungen und Immobilien auf der „arischen“ Seite auch Begehrlichkeiten bei der ethnisch polni­schen Lokalbevölkerung wecken würden. Deswegen wurden die Wohnungen zunächst von der SS versiegelt. Doch die deutschen Besatzer schufen bewusst Gelegenheitsfenster für einen Teil der polnischen Nichtjüdinnen und Nichtjuden und ließen sie in einem geringeren Umfang am Umverteilungsprozess des jüdischen Eigentums teilhaben. Wie Abraham Chomet es im yizker bukh beschrieb: „Aus den verwaisten jüdischen Heimen nahmen die deutschen Mörder die wertvolleren Sachen mit und überließen der aufgelaufenen polnischen Menge den Rest der jüdischen Gegenstände.“41 Der Chef des polnischen Baudienstes Eckmann erwähnte Ausverkäufe des Hausrats der Ermordeten. Tatsächlich stößt man darauf auch in anderen Quellen: Auf Befehl des Kreishauptmanns veranstaltete Stefan M., Hauswart in der Kreishauptmannschaft, die Ausverkäufe jüdischen Besitzes.42 Dass solche öffentlichen Basare stattfanden, bestätigte auch ein weiterer Zeuge.43 Besonders nach der „Ghettoliquidierung“ im September 1943 ging Stefan M. mit Mitarbeitern durch die leeren Häuser im Ghetto, räumte Möbel und andere Gegenstände heraus und verscherbelte sie öffentlich auf Geheiß des Kreishauptmanns.44 Mit der Veräußerung der Habe der Ermordeten verwickelten die deutschen Besatzer, hier die lokale Zivilverwaltung, die polnische Bevölkerung darin, aus dem Judenmord selbst auch einen Nutzen zu ziehen. Sie profitierten davon, dass der Besitz „herrenlos“ geworden war, also letztlich von der Ermordung ihrer jüdischen Nachbarinnen und Nachbarn. In begünstigter Lage befanden sich dabei die in der Zivilverwaltung angestellten Polinnen und Polen. 39 40 41 42

43 44

Hembera: Die Shoah, S. 222. Ebd., S. 218. Chomet: Der umkum, S. 836. Geboren wurde Stefan M. 1890 in Poznań, damals preußisches Teilungsgebiet, und war bis vor Kriegsausbruch dort wohnhaft. Poznań wurde zu Beginn des Zweiten Weltkrieges in das Reichsgau Wartheland einverleibt und Stefan M. begab sich unter nicht näher bekannten Umständen nach Tarnów und unterschrieb die Volksliste. Er verdiente als Hauswart in der Kreishauptmannschaft 255 Złoty im Monat. Nach dem Krieg wurde er als Kollaborateur aufgrund des Augustdekrets angeklagt, IPN Kr 502/1918. Aussage im Ermittlungsverfahren gegen Stefan M., IPN Kr 502/1918. Ebd.

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kapitel 7

Doch ein Teil der polnischen Bevölkerung handelte zudem jenseits der Regeln der deutschen Besatzer und bereicherte sich auf eigene Faust. Trotz der Versiegelung von Wohnungen und Häusern brach ein Teil der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung in die Immobilien ein, um des jüdischen Besitzes habhaft zu werden. In einigen Fällen ermittelte die Kriminalpolizei und diese Ermittlungsakten sind im Archivbestand der polnischen Staatsanwaltschaft beim Kreisgericht Tarnów erhalten.45 Diese Quellenart hat durch ihre unmittelbare Nähe zum Geschehen einen besonderen Wert. Die Hergänge können anhand der Zeugenaussagen sehr genau rekonstruiert werden. Hierbei sei angemerkt, dass es sich um Fälle handelte, in denen offiziell 1942 von der Kriminalpolizei ermittelt wurde. Vermutlich wurden die wenigsten Begebenheiten dieser Art so dokumentiert. Noch während die erste „Aktion“ stattfand, reiste die Eigentümerin eines Mehrfamilienhauses in die Stadt (sie selbst wohnte etwas außerhalb). Während ihre jüdischen Mieterinnen und Mieter „ausgesiedelt“ wurden, verhandelte sie – laut eigener Aussage von 1942 – bereits mit deutschen Polizisten, welche Gegenstände sie aus der nunmehr unbewohnten Wohnung mitnehmen dürfe. Am Folgetag, dem 17.  Juni 1942, kam sie mit einem Pferdewagen, um unter anderem Kommoden, Stühle, ein Teeservice, ein Tischgedeck, eine Ottomane und ein Bett zu holen. Da war die Tür jedoch bereits aufgebrochen. Sie erstatte bei der Kriminalpolizei Strafanzeige gegen eine Nachbarin, die im besagten Mietshaus wohnte und ukrainischer Abstammung war. Letztere soll sich in der Nacht einen Teil des Mobiliars genommen haben. Beide Frauen, die Eigentümerin und die Nachbarin, wurden von der Kriminalpolizei befragt. In ihren Aussagen beteuerten sie, die Möbel aus der Wohnung seien ihnen von den deutschen Besatzern bzw. von dem aus „Volksdeutschen“ bestehenden Sonderdienst überlassen worden. Beide Frauen hatten die ausgesiedelten Jüdinnen und Juden gut gekannt und erwähnten sie während der Befragung namentlich. Doch in der Ermittlung ging es lediglich um eine Konkurrenzsituation zwischen den beiden, also darum, wem die Möbel der Ermordeten nun zustanden. Schließlich durchsuchte ein polnischer Polizist die Wohnstätte der Eigentümerin. Diese hatte bereits „in ihrer Scheune mehrere alte von Juden zurückgelassene Gegenstände“ untergebracht. Sie habe die Strafanzeige „aus Trotz“ gegen die Nachbarin erstattet. Das Ermittlungsverfahren wurde eingestellt.46 45 46

Zur Kriminalpolizei siehe Kapitel 5.1 „Die Präsenz der deutschen Besatzer in der Stadt“ und Grabowski: Na Posterunku, S. 294–351. ANKr. Odd. T. 33/98 PSOT 26/506/42.

Das Ghetto, der Zaun und die Beobachtenden

383

Cyla Regenbogen kehrte nach der ersten „Aktion“ in ihre Wohnung zurück. Ihr Vater Rafael hatte die „Aussiedlung“ nicht überlebt und war aus eben dieser Wohnung im Erdgeschoss brutal herausgeholt worden. Als Cyla ihr Zuhause betrat, waren die Fenster zerschlagen. Eine nichtjüdische, polnische Nachbarin machte der Überlebenden Cyla Vorwürfe, wie sie hätte fliehen und den Vater zurücklassen können. Cyla und ihre Schwester erfuhren alsbald, dass sie ins Ghetto müssen. Sie packten am 21. Juni 1942 ihre Koffer und zogen um. Weder konnten sie alle Sachen auf einmal mitnehmen noch die aufgebrochene Wohnung sicher abschließen. Als zwei jüdische Jungen, die den Schwestern helfen sollten, am Abend zu der Wohnung der Regenbogen-Familie kamen, standen dort bereits nichtjüdische Polen und warfen mit Steinen nach den Juden. Am Folgetag kamen Cyla Regenbogen und ihre Schwester wieder, doch da war ein Teil ihrer Habseligkeiten bereits verschwunden: Bettwäsche, Tischdecken, Laken, Herrenhemden, Blusen, Kleider, ein „Strumpfbinder aus Satin“ und einiges mehr waren entwendet worden.47 Die Regenbogen-Schwestern informierten den jüdischen Ordnungsdienst über den Vorfall und der Judenrat richtete ein Schreiben an die Kriminalpolizei. Polnische Kriminalpolizisten befragten daraufhin die beiden Regenbogen-Schwestern, aber auch die nichtjüdischen Nachbarinnen und Nachbarn, die von ihnen verdächtigt wurden. Diese stritten die Tat ab und gaben minutiös Auskunft darüber, was sie am fraglichen Abend – also während der Plünderung der Wohnung von Familie Regenbogen – gemacht haben. Nur zwei Tage nach dem Ende der ersten „Aktion“ gaben einige an, dass sie im Kino gewesen seien oder bei der Namenstagsfeier eines Kollegen. Die Ermittlungen wurden eingestellt.48 Cyla Regenbogen überlebte den Krieg nicht, sie starb im weiteren Verlauf der Shoah unter nicht näher bekannten Umständen.49 Der „Umverteilungsprozess“ oder Raub betraf nicht nur private Wohnungen, sondern bezog sich auch auf Betriebe und Übernahmen von Läden. Vorfälle von Einbrüchen in Wohnungen, aber auch in Werkstätten und Betriebe wurden im Anschluss an die weiteren „Aktionen“ im September und November 1942 ebenfalls dokumentiert.50 Zwei nichtjüdische Polen stritten vor Gericht, wer nun das Vorrecht habe, den Laden eines „ausgesiedelten“ Juden zu übernehmen.51 47 48 49 50 51

Auflistung in den Ermittlungsakten, ANKr. Odd. T. 33/98 PSOT 26/427/42. ANKr. Odd. T. 33/98 PSOT 26/427/42. YVA, Page of testimony, Names Memorial Collection, ID: 741904, Information submitted by her sister Gustava Mintzer, online unter: http://yvng.yadvashem.org/nameDetails.htm l?language=en&itemId=741904&ind=6 (letzter Zugriff: 13.09.2018). ANKr. Odd. T. 33/98 PSOT 26/589/42; ANKr. Odd. T. 33/98 PSOT 26/556/42. ANKr. Odd. T. 33/98 PSOT 26/422/42.

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kapitel 7

Ein anderer Pole dagegen ergatterte einen Laden in der Lwowska Straße 20, der vorher einem Juden gehört hatte. Dieser wurde 1942 „ausgesiedelt“. Der fast 17-jährige Alter Siedlisker, dessen nächste Familie ebenfalls „ausgesiedelt“ wurde, war noch am Leben und wohnte bei seinem Onkel über dem Laden. Alter bereitete vermutlich seine Flucht vor und hatte sich bereits „falsche Papiere“ besorgt. Durch einen Mauerdurchbruch gelangte er in den ehemals jüdischen Laden und packte Lebensmittel ein. Der neue ethnisch polnische Eigentümer war entschlossen, „seine“ Habe zu verteidigen, die unlängst dank der „Aktion“ in seinen Besitz gefallen war. Er stellte Strafanzeige bei der Kriminalpolizei und die polnischen Kirimnalpolizisten ermittelten.52 Alter Siedlisker gelang die Flucht, doch er verlor dabei seine „polnischen Papiere“. Sein weiteres Schicksal ist nicht bekannt. Diese Beispiele zeigen, dass die nichtjüdischen Polinnen und Polen ihre Rechte an ihrem neuen Besitz aktiv verteidigten. Die Fälle belegen auch, dass einige materiell von der Vernichtung der Jüdinnen und Juden profitierten. Sie übernahmen deren Läden, Betriebe und Werkzeuge. Viele Jüdinnen und Juden, die die erste „Aktion“ überlebten und ins Ghetto umziehen mussten, vertrauten nichtjüdischen Polinnen und Polen ihr Hab und Gut an, damit diese es für sie aufbewahrten. Die Brüder Salomon und Lazar Thum hatten ein Fotografiegeschäft in der Krakowska Straße 11. Als sie ins Ghetto umsiedeln mussten, gaben sie dem Hausmeister den Schlüssel zum Atelier  – dort standen viele teure Geräte zur Fotoentwicklung. Außerdem übergaben sie dem Hausmeisterehepaar Kleidung und andere Sachen mit der Bitte um Aufbewahrung. Die Frau des Hausmeisters kam mit einem Pferdewagen, um die Gegenstände der Thums abzuholen, als diese ins Ghetto umzogen. Einige Monate später, im September  1942, kurz vor der zweiten „Aktion“, kehrten die Thum Brüder in die Krakowska Straße zurück, um sich dort mit einem Cousin im Keller zu verstecken. Als der Hausmeister sie dort fand, verjagte er sie, während auf den Straßen gerade die zweite „Aktion“ tobte. Die Thum-Brüder baten wenigstens um ein paar ihrer Sachen, um ihr weiteres Überleben zu sichern: Sie brauchten diese, um Essen zu kaufen oder für Verstecke zu bezahlen. Der Hausmeister weigerte sich. Als einziger wird Lazar Thum den Krieg überleben und den Hausmeister vor Gericht stellen.53 Weitere Beispiele von Sachen zur Aufbewahrung, die einbehalten wurden, sind belegt.54 52 53 54

ANKr. Odd. T. 33/98 PSOT/PT 26/I Ds 599/42 Ermittlungsverfahren gegen den Hausmeister, IPN Kr 502/3803. IPN Kr 502/3804; IPN Kr 502/2389.

Das Ghetto, der Zaun und die Beobachtenden

Abbildung 57

Personaldokumente Alter Siedlisker alias Karol Proszowski

Abbildung 58 Meldekarte von Alter Siedlisker

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kapitel 7

Nicht alle ethnischen Polinnen und Polen machten mit. Es gab auch Nichtjüdinnen und Nichtjuden, die nicht in Wohnungen einbrachen oder die ihnen anvertraute Habseligkeiten tatsächlich aufbewahrten und nicht einbehielten. Das Ausmaß der hinterlassenen Dinge von nahezu der Hälfte der Stadtbevölkerung war immens, und jene Menschen, die der Versuchung, sich zu bereichern, trotzten, mussten eine bewusste Entscheidung treffen. Da es kaum Quellen dazu gibt, was Menschen NICHT getan haben, können die hier gestellten hypothetischen Fragen, die sich die Nachbarinnen und Nachbarn in einem Mietshaus wohl stellen mussten, nur imaginiert werden: Sollten sie zum Beispiel Möbel, Bettwäsche oder Kleidung aus der Wohnung der verschleppten und ermordeten jüdischen Nachbarinnen und Nachbarn herausholen? Und wenn sie es nicht täten, so würde sich wohl eine andere Nachbarin oder Nachbar dieser bemächtigen. Warum sollten ausgerechnet die anderen, denen es vielleicht sowieso besser ging, die Sachen bekommen? Und wenn keiner von „uns“ (Polen) die Sachen nehmen würde, dann würden die Deutschen es tun. Warum sollten die Deutschen die ganzen Dinge bekommen? Es ging im Alltag der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung auch darum, im Prozess der Umverteilung des jüdischen Besitzes, den die deutschen Besatzer während der Shoah in Gang gesetzt hatten, nicht zurückzustehen. Die Triebkraft des „Wettbewerbs“ innerhalb der nichtjüdischen Lokalbevölkerung ist in dieser Situation nicht zu unterschätzen.55 Keine Sachen der Ermordeten mitzunehmen, nicht von dem Mord zu profitieren, war ein bewusster Entschluss. Dieser stand nicht unbedingt ein für alle Mal fest, sondern musste wiederholt (innerlich) verhandelt werden. Denn der Radikalisierungsprozess erzeugte ständig neue Situationen, in welchen die Menschen sich der veränderten Realität anpassen mussten. Wie anhand der „Aktion“ bereits deutlich geworden ist, war das, was gestern noch undenkbar schien, nach wenigen Tagen bereits zur Alltagsnormalität geworden. Entschied man an einem Tag so, so konnte man am Folgetag wieder ganz anderer Meinung sein  – nachdem zum Beispiel die eigene Familie mit den knappen Mitteln während der Mangelwirtschaft im Krieg nicht zu Rande kam oder man beobachtete, wie die anderen Nachbarinnen und Nachbarn weiterhin ungestraft stahlen. Zudem fand eine massive Verschiebung der Normen statt: Wie gewichtet man Wohnungsplünderungen, wie schlimm kann das „Mitnehmen“ von Bettzeug sein, das die Toten nicht mehr brauchten, nachdem die deutschen Besatzer zuvor tausende Menschen auf brutalste Weise in den Straßen ermordet hatten, sodass diese vom Blut gesäubert werden mussten? Diese hypothetischen Fragen der 55

Den Fall Hamburgs im Jahr 1938 beschreibt Frank Bajohr als einen „fieberhaften Bereicherungswettlauf“, Bajohr: „Arisierung“ in Hamburg, S. 283.

Das Ghetto, der Zaun und die Beobachtenden

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Alltagswirklichkeit habe ich hier deshalb beispielhaft gestellt, um zu vergegenwärtigen, dass die nichtjüdische Lokalbevölkerung auf vielfältige Weise in die soziale Dynamik der Shoah einbezogen wurde. Nicht alle haben auf die ein oder andere Weise von dem Mord an den Jüdinnen und Juden profitiert, aber die Möglichkeit, es zu tun, lag innerhalb ihrer Handlungsoptionen. Die Entscheidung, sich nicht zu bereichern, war daher eine ganz bewusste Reaktion. *** Nach der von den deutschen Besatzern ausgeführten Ermordung und Ghettoisierung von jüdischen Menschen in Tarnów, die noch im Mai 1942 über die Hälfte der Stadtbevölkerung gestellt hatten, ergaben sich zwangsweise – in räumlichen Bildern gesprochen – Leerstellen. Die Shoah führte in Städten, in denen Jüdinnen und Juden vor dem Krieg einen hohen Prozentsatz der urbanen Bevölkerung ausmachten, zu einem enormen Umverteilungsprozess und zu sozialen Verschiebungen – sowohl im materiellen Sinne als auch was soziale Positionen betraf. Nicht die ethnischen Polinnen und Polen hatten diese Umverteilungsprozesse in Gang gebracht. Doch die vorangegangenen Beispiele haben aufgezeigt, inwiefern die nichtjüdischen Polinnen und Polen auf der „arischen“ Seite in den „sozialen Raum der Shoah“ involviert waren. Hier hilft uns der Rückgriff auf das Bild eines Kräftefeldes nach Alf Lüdtke. Dieses war durch Terror, Gewalt und rassistische Hierarchisierung von den deutschen Besatzern strukturiert, aber alle Akteurinnen und Akteure in Tarnów befanden sich zwangsweise und bewegten sich in diesem Kräftefeld. Passivität oder die Rolle als Bystander waren im Grunde nicht möglich. Die nichtjüdischen Polinnen und Polen befanden sich ebenfalls in diesem (Kräfte-)Feld und waren über einen langen Zeitraum hinweg der strukturellen Gewalt, welche die deutschen Besatzer geschaffen haben, ausgesetzt.56 Die Unmittelbarkeit und Nähe der Gewalt sowie das Ausmaß des Verbrechens waren zu groß, die Möglichkeit des Profits war buchstäblich „zum Greifen nahe“. Die gesamte Lokalbevölkerung war somit in den Prozess der Umverteilung der Habe von Toten oder ins Ghetto Gesperrten einbezogen. Denn die deutschen Besatzer entfesselten eine soziale Dynamik, in der die einen Opfer der deutschen Besatzung  – nichtjüdische Polinnen und Polen  – von der Ermordung der anderen Opfer – ihrer jüdischen Nachbarinnen und Nachbarn – profitieren konnten. Dabei konnten sich ethnische Polinnen und Polen für diverse Handlungsoptionen entscheiden. Einige entschlossen sich bewusst, nicht von dem „verlassenen“ jüdischen Besitz zu profitieren. Andere hingegen 56

Vgl. Fulbrook: Bystanders, S. 112–114.

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kapitel 7

nutzten die Gelegenheit, um sich zu bereichern. Dabei konnten sie die von der Besatzungsmacht geöffneten „Gelegenheitsfenster“ nutzen oder auch gegen die Besatzungsordnung verstoßen. Die Radikalisierung des Krieges im Allgemeinen und der vor den Augen aller vollführte Mord an den Jüdinnen und Juden durch die deutschen Besatzer im Besonderen bedeuteten auch, dass die bis dahin gültigen moralischen Normen erodierten. Die moralische und menschliche Ordnung war ins Wanken geraten, wie Andrzej Leder geschrieben hat.57 Auch die nichtjüdische Lokalbevölkerung musste sich in dieser neuen Situation sehr schnell entscheiden, so oder anders zu handeln und auf die entstandenen, bildlich gesprochen, „Leerstellen“, die nun in der Lokalgesellschaft geschaffen wurden, zu reagieren. Dass nichtjüdische polnische Nachbarinnen und Nachbarn nach den „Aktionen“ jüdischen Besitz stahlen, geschah nicht nur in Tarnów, sondern auch in vielen anderen Städten und Ortschaften. Omer Bartov fragte deswegen in seiner Mikrostudie zu Buczacz, Ostgalizien, pointiert: „What is the meaning of passivity when you move into a home vacated by your neighbors whom you have just heard being executed, when you eat with their silverware, when you tear about their floorboards to look for gold, when you sleep in their beds?“58 Zygmunt Klukowski berichtete in seinem Tagebuch eingehend, wie in Szczebrzeszyn trotz der Versiegelung der Wohnungen „unglaublich viel geplündert“ wurde:59 Es sind viele Fuhrwerke aus den Dörfern gekommen und alle warteten beinahe den ganzen Tag darauf, dass mit dem Plündern begonnen werden kann. Von allen Seiten kommen die Nachrichten über das skandalöse Verhalten eines Teils der polnischen Bevölkerung und das Ausrauben der verlassenen jüdischen Wohnungen. In dieser Hinsicht wird unser Städtchen mit Sicherheit nicht zurückstehen.60

Die Historikerin Tatjana Tönsmeyer machte zudem darauf aufmerksam, dass parallel zur Besatzungsordnung, zum Terror und zur Brutalität der Deutschen, „zugleich bereits vorhandene soziale, ethnische, religiöse oder politische Gegensätze fortbestanden und neue, durch die Besatzung ausgelöste, hinzutraten“.61 Vor dem Hintergrund der Diskurse der späten 1930er Jahre und der Wahlkampagne zum Stadtrat kurz vor Kriegsausbruch müssen antisemitische Vorstellungen der nichtjüdischen Tarnowianerinnen und Tarnowianer als 57 58 59 60 61

Leder: Konsekwencje doświadczenia Zagłady, S. 499. Bartov: Wartime Lies, S. 492. Eintrag vom 22.10.1942, Klukowski: Tagebuch, S. 377. Eintrag vom 13.04.1942, ebd., S. 338. Tönsmeyer: Besatzungsgesellschaften.

Das Ghetto, der Zaun und die Beobachtenden

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einer der Handlungsmotoren für den Raub des jüdischen Eigentums berücksichtigt werden. Sie wirkten gleichsam als Unterströmungen in der radikal neuen Situation fort, und es zeichnete sich nun eine unheilvolle Kontinuität ab. Der nationalistische Diskurs der 1930er Jahre in Polen im Allgemeinen und in Tarnów im Besonderen platzierte Jüdinnen und Juden außerhalb der ethnisch-national verstandenen Gemeinschaft. Die Lokalzeitungen, allem voran die Diözesen-Illustrierte Nasza Sprawa der zweiten Hälfte der 1930er Jahre, und die Wahlkampagne von 1939 operierten bereits mit Bildern von Jüdinnen/Juden als „Fremden“, die man (vom Markt) vertreiben müsse. Der Diskurs von der „Entjudung“ und der angeblich notwendigen polnischen „Selbstverteidigung“ prägte die veröffentlichte Meinung. Sozialer und materiel­ ler Neid auf die vermeintlich reicheren und bessergestellten Jüdinnen und Juden war in diesen Publikationen präsent.62 Gerade die Themen Besitz und ökonomische Lage gehörten zum antisemitischen Repertoire der Vorkriegszeit: Wasze ulice, nasze kamienice (Eure Straßen, unsere Häuser), Bauern an die Markstände, Entjudung des Rynek, polityka owszemowa – all das, was im ersten Teil dieser Studie dargestellt wurde, hatte die polnische Kultur und Alltagspraxis (besonders in den späten 1930er Jahren) geprägt. Wie bereits geschrieben, besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen dem Bild des Juden als „Fremden“ im polnischen Diskurs der 1930er Jahre und dem von den deutschen Besatzern verübten Massenmord.63 Dennoch ist weiterhin mit Tönsmeyer nach der Gleichzeitigkeit von durch die Besatzungsherrschaft neu hineingetragenen und alten, tradierten Spannungen zu fragen und danach, wie sich diese potenziert haben. Die Besatzer schienen nun mit Gewalt zu zementieren, dass Jüdinnen und Juden in ein „Außerhalb“ verbannt wurden (des gemeinsamen Raumes, der moralischen Ordnung, ja sogar der menschlichen Ordnung). Es war leichter, jene zu bestehlen, die sich „außerhalb“ des „Wir“-Kollektivs befanden und die als „Andere“ wahrgenommen wurden. Die antisemitischen Vorstellungen, die in der Vorkriegszeit wurzelten, boten zusätzlich ein Rationalisierungsmuster, warum die ethnischen Polinnen und Polen sich nun – während der deutschen Besatzung – einen Teil des jüdischen Eigentums „holen“ konnten. Erst die kulturell eingeübten, judenfeindlichen Praktiken und Imaginationsentwürfe aus der Vorkriegszeit scheinen gewisse

62

63

Vgl. Kapitel 2.3.3 „Der Fall Silbiger 1936 – und der Antisemitismus in Polen“ sowie 2.3.4 „Nach dem Sturz Silbigers – neue Mehrheiten im Tarnower Stadtrat der späten Zweiten Republik“, hier im Besonderen das Unterkapitel „Debatten über Antisemitismus“ sowie Kapitel 2.4.2 „Stronnictwo Narodowe – SN“. Vgl. Leder: Kosekwencje doświadczenia Zagłady, S. 499.

390

kapitel 7

Verhaltensmuster der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung während der Besatzungszeit plausibel zu erklären. Ohne die antisemitischen Vorstellungregime aus der Vorkriegszeit ist beispielsweise kaum zu erklären, warum nichtjüdische Polinnen und Polen die Jüdinnen und Juden auch noch im Ghetto bestahlen. Letztere arbeiteten in Werkstätten außerhalb des Ghettos, wohin sie unter Bewachung geführt wurden. Tagsüber blieben ihre Wohnungen unbeaufsichtigt. Einige ethnische Polinnen und Polen durchquerten die Zäune, um im Ghetto zu stehlen.64 Die Kriminalpolizei ermittelte in mehreren solchen Delikten, was in den Akten der Staatsanwaltschaft des Kreisgerichts Tarnóws dokumentiert wurde.65 Neun Beschuldigte, alle zwischen elf und sechszehn Jahren alt, gaben in der Vernehmung zu, wiederholt zum Stehlen ins Ghetto gegangen zu sein.66 Aber auch Erwachsene machten solche Raubeskapaden ins Ghetto. Es ist vorstellbar, dass die Frauen und Männer, die zum Rauben ins Ghetto gingen, die in Polen weit verbreitete Vorstellung der „reichen Juden“, die ihre Wertsachen versteckten, teilten und dies sie motivierte.67 Zugleich ist auffallend, dass sie augenscheinlich jegliche Empathie gegenüber den verfolgten, enteigneten und auf engstem Raum eingepferchten Jüdinnen und Juden vermissen ließen. Es war jedoch zugleich ein für sie gefährliches Unterfangen. Als drei nichtjüdische Polinnen von der deutschen Sicherheitspolizei bei einem Wohnungseinbruch im Ghetto erwischt wurden, wurden sie „auf der Flucht“ erschossen.68 Diese Fälle, die meist nach der zweiten und dritten „Aktion“ stattfanden, verdeutlichen, dass die sozialen Normen in der Lokalbevölkerung durch die Radikalisierung der deutschen Besatzung zusehends erodierten. Um es deutlich zu sagen: Auch die nichtjüdischen Polinnen und Polen waren Opfer des NS-Terrorregimes, aber sie standen in der von den Deutschen geschaffenen Hierarchie immer noch über den nun mit aller Deutlichkeit „totgeweihten“, zunehmend als entmenschlicht wahrgenommenen Jüdinnen und Juden. Auf Lokalebene führte dieses Machtgefälle, gepaart mit judenfeindlichen Vorstellungen aus der Vorkriegszeit, verstärkt durch die Erfahrung 64 65 66 67

68

Zur Durchlässigkeit der Ghettogrenze, siehe auch Kapitel 7.3.2 „Über den Zaun – auf der ‚arischen‘ Seite“. ANKr. Odd. T. 33/98 PSOT 30: I DS 33/43; ANKr. Odd. T. 33/98 PSOT 30: I DS 52/43; ANKr. Odd. T. 33/98 PSOT 51: Nr. 119. ANKr. Odd. T. 33/98 PSOT 30: I DS 52/43. Zu den Vorstellungswelten vor dem Krieg siehe Kapitel 2.3.3 „Der Fall Silbiger 1936 – und der Antisemitismus in Polen“; Ankori beschrieb, dass in Tarnów Gerüchte herrschten, Nichtjüdinnen und Nichtjuden würden die Böden der ehemals jüdischen Wohnungen aufreißen, um nach versteckten „Schätzen“ zu suchen, Ankori: Chestnuts, S. 406. ANKr. Odd. T. 33/98 PSOT 51: Nr. 119.

Das Ghetto, der Zaun und die Beobachtenden

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der Behandlung von Jüdinnen und Juden durch die deutschen Besatzer und des von Letzteren vollzogenen Genozids an Jüdinnen und Juden „vor der Haustür“, zu einer malignen und unheilvollen sozialen Dynamik unter den Einheimischen. Vielleicht rechnete auch niemand mehr damit, dass Cyla Regenbogen, Alter Siedlisker, Lazar Thum und so viele andere, deren Namen unbekannt sind, wiederkommen würden. So hätten die Nichtjüdinnen/Nichtjuden ihre Sachen behalten können und es hätte niemanden gegeben, der ihnen ihre Verstrickung hätte spiegeln können. Cesia Honig wurde nach dem Krieg von der neuen Wohnungsbesitzerin mit den Worten begrüßt: „Wie kommt es, dass du noch lebst?“69 Diese Berechnung, dass die Jüdinnen und Juden, die früheren Nachbarinnen und Nachbarn, Ladenbesitzerinnen und -besitzer, Wohnungseigentümerinnen und -eigentümer, alle sterben würden, nannte die Kulturwissenschaftlerin Elżbieta Janicka „gra o całkowitość Zagłady“  – am besten übersetzbar als „Spekulation auf die Totalität der Shoah“.70 Diese Spekulation auf den Tod der jüdischen Hälfte der Stadt verwüstete die soziale Beschaffenheit der Lokalgesellschaften auf lange Dauer und war bis in die Nachkriegszeit ein wirkmächtiger Faktor in der Ausgestaltung der Beziehungen zwischen Jüdinnen/Juden und Nichtjüdinnen/Nichtjuden. 7.1.2 Die Situation nichtjüdischer Polinnen und Polen 1942 Die Besatzungsgesellschaften wurden nach den Kriterien der NS-Besatzer mehrfach hierarchisiert. Dies hatte große Auswirkungen im lokalen Raum, in dem das Schicksal der Jüdinnen und Juden, deren Sterben und Überleben, so anders war als die Situation der nichtjüdischen Polinnen und Polen. Die Geschichte letzterer während des Zweiten Weltkrieges kann nicht getrennt von der Shoah, dem Schicksal der jüdischen Bevölkerung der Städte und Ortschaften, den entstandenen neuen Leerstellen und sozialen Ordnungen erzählt werden. Dies zeigt die vorliegende mikrohistorische Untersuchung zu Tarnów deutlich auf. Im Folgenden soll skizziert werden, welchen Verfolgungsmaßnahmen die nichtjüdische polnische Bevölkerung zum Opfer fiel. Als Grundlage dienen die Untersuchungen zur Region Tarnóws der Historikerin Aleksandra Pietrzykowa. Die Terrorgewalt gegenüber den nichtjüdischen Polinnen war von Beginn an Teil des Besatzungsregimes gewesen. In den Jahren 1940–1941 mehrten sich Verhaftungen von Tarnower Eliten, von politisch Verfolgten, im Besonderen von 69 70

Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). Janicka: Pamięć nieprzyswojona, S. 173.

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kapitel 7

Menschen, die im Untergrund aktiv waren, und „łapanki“ zur Zwangsarbeit.71 Das Jahr 1942 markierte dahingehend weder einen weiteren Höhepunkt noch eine Eskalation der Gewalt und Verfolgung nichtjüdischer Polinnen und Polen. Das Strafgefängnis und Durchgangsanstalt für politische Gefangene in Tarnów zählte in den Jahren 1940 bis 1942 insgesamt 844 Verhaftungen aus der Stadt selbst.72 Es gab auch Verdichtungsmomente der Gewalt, in denen bis zu 70 Personen täglich in Tarnów inhaftiert worden sind.73 Die Lokalhistorikerin Aleksandra Pietrzykowa beschreibt, dass die Jahre 1940–1941 besonders hart waren, und dann wieder die Jahre 1943–1944. Im Jahr 1940 wurden 1699 Menschen aus dem Strafgefängnis Tarnów ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert, im Jahr 1941 waren es 1137 und 1942 noch 883. Die letzte Zahl ist irreführend, da für das Jahr 1942 nur Quellen zu Deportationen aus der zweiten Jahreshälfte existieren, sodass die Gesamtzahl vermutlich weit höher lag. Erst im Jahr 1943 stieg die Zahl der Deportierten aus dem Gefängnis in Tarnów ins KZ Auschwitz rasant an und zählte 3081 Gefangene.74 Diese Zahlen betrafen Strafgefangene aus der gesamten Region. Nach der teilweisen Zerschlagung der Untergrundinitiativen in der Region in den ersten Kriegsjahren war der Untergrund 1942 zwar noch geschwächt, diverse Untergrundverbände intensivierten aber vor allem seit der zweiten Jahreshälfte 1942 ihre Werbungsaktivität, darunter vor allem die Heimatarmee AK.75 Der Untergrund unter der Ägide der AK konsolidierte sich in und rund um Tarnów zunehmend in der zweiten Jahreshälfte 1942, vor allem aber bauten die Gruppen ihre Aktivitäten in den Jahren 1943 und 1944 aus, vornehmlich zu einer Zeit also, als es nur noch wenige oder keine Jüdinnen und Juden mehr in Tarnów gab.76 Die SL-nahen Bataliony Chłopskie („Bauernbataillone“) blieben in Tarnów und Umgebung relativ schwach, während der bewaffnete Arm von SN-nahen Gruppen in der Region mit der AK zusammenzuarbeiten begann.77 Was die Region Tarnów im Jahr 1942 empfindlich belastete, war die Verschlechterung der Lebensmittelversorgung und der allgemeine Mangel. Im Mai 1942 befahl Kreishauptmann Kipke, alle Felder ausnahmslos zu besäen und keine Brachflächen zuzulassen. Das Kontingent von Weizen im Jahr 1942, welches von den polnischen Bäuerinnen und Bauern requiriert werden 71 72 73 74 75 76 77

Vgl. Kapitel 5.3 „Die alten Eliten und die Enthauptung der Stadt“ sowie Kapitel 5.4 „Terror gegenüber der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung“. Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 165. Pietrzyk: W latach drugiej wojny, S. 43. Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 174. Ebd., S. 253–258. Ebd. Ebd., S. 320–322, 352–355.

Das Ghetto, der Zaun und die Beobachtenden

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sollte, verdoppelte sich im Vergleich zu 1940.78 Im Juli 1942 sowie im Juli 1943 wurde bekanntgemacht, mit welch harten Strafen – bis hin zur Todesstrafe – die Landbevölkerung rechnen musste, wenn sie das Kontingent nicht erfüllte oder beim Schwarzhandel erwischt wurde.79 Ende 1942 wurden alle Kinderstätten in Tarnów und in der Region geschlossen, in denen Kinder Essensrationen bekommen hatten.80 Die nichtjüdische polnische Bevölkerung musste mit Lebensmittelknappheit und Mangel leben sowie einem allgegenwärtigen Terror. Menschen konnten relativ willkürlich verhaftet werden, ins KZ deportiert oder ermordet werden. Auf die kleinsten Vergehen wurden Todesstrafen angedroht. Viele wurden auf den Straßen abgefangen und zur Zwangsarbeit verschickt. 7.2

The Jewish space – Überleben und Sterben im Ghetto

Nachdem die Zäune zu den Zufahrtsstraßen um das Ghetto hochgezogen und die Fenster der Häuser an der Ghettogrenze mit Brettern versiegelt worden waren, war es Jüdinnen und Juden unter Todesstrafe verboten, den abgesperrten Wohnbezirk unerlaubt zu verlassen.81 Es gibt nur eine einzige erhaltene Fotografie vom Ghettozaun, eingefangen an der Lwowska Straße in der Linse des Hobbyfotografen Augustyn Dagnan, dessen Mühle sich direkt auf der anderen Straßenseite befand. (siehe Abbildung 59) Bewacht wurde der „jüdische Wohnbezirk“ von der Stadtpolizei (das war ein Synonym für die Schutzpolizei) und der polnischen, sogenannten Blauen Polizei.82 Allerdings arbeiteten die meisten Jüdinnen und Juden in Werkstätten außerhalb des Ghettos und wurden täglich, meist vom OD bewacht, in Kolonnen aus dem Ghetto zu den jeweiligen Arbeitsstätten geführt. Einige wenige hatten auch individuelle Passierscheine, bevor diese abgeschafft wurden.83 78 79 80 81 82 83

Pietrzyk: W latach drugiej wojny, S. 35. Ebd., S. 36. Ebd., S. 60. Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; Urteilsbegründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777. Ebd. Zur Stadt- bzw. Schutzpolizei in Tarnów siehe Curilla: Der Judenmord in Polen, S. 367. Z.  B.  hatte  Alter Siedlisker einen solchen Passierschein, auf dem stand: „Berechtigung, den jüdischen Wohnbezirk zu verlassen: Der Jude Alter Siedlisker […] ist berechtigt, den Judenwohnbezirk zu verlassen und sich zu seiner Arbeitsstelle Sägewerk ‚Roman‘ und wieder zurück in den Judenwohnbezirk zu begeben. Es ist der kürzeste Weg zu nehmen. Die Strassen Krakauer, Wall und Lemberger können, wenn erforderllich, überquert,

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kapitel 7

Abbildung 59 Ghettozaun

Um das Leben, den Alltag und die Menschen im Ghetto zu beschreiben, widmete sich die Forschung in den letzten Jahren zunehmend der „Lebenswelt Ghetto“.84 Damit erweiterten die Forschenden die Perspektive dahingehend, dass sie die Ghettoisierung nicht ausschließlich als eine Stufe im Vernichtungsprozess der Judenheiten untersuchten. Denn lange Zeit dominierte das Interesse an Durchführungsstrategien der Täter die Forschung.85 In lebensweltlich inspirierten Untersuchungen zum Ghetto dagegen stehen die Jüdinnen und Juden als handelnde Akteure im Mittelpunkt, ohne den Kontext der Verfolgung und des Zwangs außer Acht zu lassen.86 Die Menschen rücken also in den Fokus der Analyse – der „Alltag und ihre Kultur, ihre Kommunikation und Interaktion,

84

85 86

dürfen aber sonst nicht begangen werden“, Akten der Staatsanwaltschaft ANKr. Odd. T. 33/98 PSOT/PT 26/I DS 599/42. Hansen/Steffen/Tauber (Hg.): Lebenswelt Ghetto; Bethke/Schmidt Holländer: Lebenswelt Ghetto; hier wird auf das aus der Phänomenologie Husserls stammende und von Alfred Schütz und Thomas Luckmann entwickelte Konzept der „Lebenswelt“ rekurriert, Schütz/ Luckmann: Strukturen der Lebenswelt; zu einem Überblick über die Rekonstruktion von Lebenswelten in der Geschichte des östlichen Europas siehe Emeliantseva: Osteuropa und die Historische Anthropologie. Vgl. Hansen/Steffen/Tauber: Fremd- und Selbstbestimmung, S. 8. In der Studie „Juden im Ghetto Litzmannstadt“ stellt Andrea Löw Quellen von Jüdinnen und Juden und deren Selbstwahrnehmung und Handlungsoptionen dezidiert in den Vordergrund ihrer Untersuchung. Zudem arbeitet sie mit Quellen auf Polnisch und Jiddisch und bringt die polnischsprachige Forschung zum Ghetto in Łódź ins Bewusstsein

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ihre Wahrnehmungen, Handlungsspielräume und Entscheidungsmuster“.87 Lebensweltliche Konzepte werden auch mit raumsoziologischen Methoden gepaart.88 Der Raum wird dabei als sozial konstruiert verstanden und zugleich als konstituierend für die Handlungen der darin lebenden Menschen. Denn unter der eingesperrten Bevölkerung entfaltete sich ein spezifisches soziales (und kommunikatives) Handeln, welches durch die räumliche Be- und Eingrenzung konstituiert war.89 Die lebensweltliche Perspektive gibt auch für die Forschung zu Tarnów beachtliche Impulse. Allem voran soll es im Folgenden darum gehen, die agency der Jüdinnen und Juden, im Sinne einer Auslotung der eigenen Handlungsfähigkeit und Eigeninitiative, als gestaltenden Faktor der Überlebensstrategien herauszuarbeiten, im Besonderen hinsichtlich der Kontaktzonen mit der „arischen“ Seite. Der Ansatz, Menschen mit ihren Handlungsoptionen in den Mittelpunkt der Untersuchung zu stellen, erscheint sinnvoll, doch stehe ich dem Begriff der „Lebenswelt“ doch skeptisch gegenüber. Die Lebenswelt, wie sie Alfred Schütz und Thomas Luckmann definierten, beschrieb eine subjektive, aber fraglos als selbstverständlich wahrgenommene Welt.90 Zwar hat Ekatarina Emeliantseva darauf hingewiesen, wie sehr sich das Konzept in der historischen Forschung mittlerweile emanzipiert habe und es vielmehr um die subjektiv erfahrbare, alltägliche Wirklichkeit gehe.91 Aber in dem Begriff lauert die Gefahr, dass durch die Untersuchung des Alltäglichen im Ghetto der ständig erfahrene Normbruch verwischt wird. Denn die Welt, wie sie die Menschen im Ghetto gekannt hatten, wurde wiederholt aus den Angeln gehoben. Zudem scheinen sich lebensweltlich-orientierte Fragestellungen eher dazu zu eignen, größere Ghettos zu beschreiben, die länger bestanden und in denen sich so etwas wie ein Alltag bzw. eine neue „Norm“ überhaupt etablieren konnte. Dies war in Tarnów nicht der Fall. „Das Ghetto“ ist von daher eher als ein Oberbegriff zu verstehen, der eine Vielzahl von Phänomenen und Erfahrungen umfasst. Die folgenden Ausführungen zu Tarnów können diese Varianz aufzeigen.

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der deutschsprachigen Leserinnen und Leser und bündelt dadurch unterschiedliche Forschungsdiskussionen und -stränge, Löw: Juden im Ghetto Litzmannstadt. Hansen/Steffen/Tauber: Fremd- und Selbstbestimmung, S. 8. Zur Verbindung von raumsoziologischen Konzepten und lebensweltlichen Zugängen zum Ghetto siehe Bethke/Schmidt Holländer: Lebenswelt Ghetto, S. 36: „Der Raumsoziologie kommt der Verdienst zu, räumliche Separierung und somit Grenzziehung als Handlung zu beschreiben, die einerseits einen spezifischen Raum schafft und andererseits betont, dass diese Grenzziehung erst bestimmte Handlungen ermöglicht.“ Bethke/Schmidt Holländer: Lebenswelt Ghetto, S. 36. Schütz/Luckmann: Strukturen der Lebenswelt. Emeliantseva: Osteuropa und die Historische Anthropologie, S. 133–136.

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Insgesamt existierten 1150 von den NS-Besatzern errichtete Ghettos im östlichen Europa, davon 342 in den fünf Distrikten des Generalgouvernements.92 Nur 26 hatten eine Bevölkerung von über 10 000 Menschen. 83 % aller Ghettos im Generalgouvernement waren vergleichsweise klein und hatten weniger als 5000 Insassen.93 Zugleich sind diese bislang am schlechtesten erforscht.94 Die Durchführung der Errichtung der Ghettos oblag den lokalen Zivilverwaltungen, war also dezentralisiert, sodass die jeweiligen Ghettos, was Errichtung, Umzäunung, Periodisierung etc. anging, stark voneinander variierten.95 Es gab geschlossene Ghettos, umzäunt von Mauern oder Zäunen oder semi-offene Ghettos. Viele Ghettos waren offen, nur ein Schild machte darauf aufmerksam, dass man nun das Ghetto betrat.96 In kleineren Städten mit einer hohen Prozentzahl an Jüdinnen und Juden verzichteten die deutschen Besatzer gänzlich auf eine räumliche Segregation eines bestimmten Stadtviertels.97 Obschon die kleineren Ghettos in den letzten zehn Jahren verstärkt in die Forschung eingebunden wurden, bleiben die offenen Ghettos immer noch ein Forschungsdesiderat.98 Da die Ghettos sich so stark unterschieden, war die Erfahrung der eingesperrten Menschen je nach Lage sehr divers. Unsere Wahrnehmung vom „Ghetto“ ist häufig geprägt von Bildern der großen Ghettos, wie Warschau oder Łódź, mit ihren hohen, unüberwindbaren Mauern und hungernden Menschen. In seinem Buch The Death of the Shtetl über das Kresygebiet machte Yehuda Bauer auf Folgendes aufmerksam: „[…] in historical literature on the Holocaust it is usually assumed that what happened in Warsaw or other large Ghettoes was paradigmatic, that much the same thing happened elsewhere. But, as we have seen, this situation in the kresy differed in most ways from the situation 92 93 94

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Lehnstaedt: Kleine Ghettos, S. 14–15. Lehnstaedt basiert seine Untersuchungen auf Dean: The United States Holocaust Memorial Museum Encyclopedia of Camps and Ghettos. Lehnstaedt: Kleine Ghettos, S. 15. Die Forschung konzentrierte sich bislang vorwiegend auf große Ghettos wie Warschau, Krakau, Łódź, z.  B.: Engelking/Leociak: Getto warszawskie; Sakowska: Menschen im Ghetto; Löw: Juden im Ghetto Litzmannstadt; Löw/Roth: Juden in Krakau; zu einem Forschungsüberblick siehe Dieckmann/Quinkert: Im Ghetto; für ein Plädoyer für die Erforschung kleiner Ghettos siehe Lehnstaedt: Kleine Ghettos. Allerdings zählt Tarnów im Juni 1942 zu den großen Ghettos nach der Klassifizierung von Lehnstaedt. Zur dezentralen Errichtung von Ghettos siehe Hilberg: Die Vernichtung. Bd. 1, S. 231. Friedman: The Jewish Ghettos, S.  83. Zum Beispiel war das relativ große Ghetto von Radom ein offenes. Ebd., S. 80. Vgl. den Band von Dieckmann/Quinkert (Hg.): Im Ghetto 1939–1945, im Besonderen die Beiträge Ofer: The Ghettos in Transnistria; Dean: Lebensbedingungen, Zwangsarbeit und Überlebenskampf in den kleinen Ghettos; Bender: Die Juden von Chmielnik; SzymańskaSmolkin: Otwock. Portrait eines Ghettos, siehe auch Dieckmann/Quinkert: Einleitung, S. 9–10.

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farther west.“99 Die Erzählung über Tarnów soll vor allem die Diversität der Ghettoerfahrungen im Generalgouvernement aufzeigen. Was prägte die Situation in Tarnów? Zum einen entstand das geschlossene Ghetto erst im Juni 1942, nachdem die „Aktion Reinhardt“ bereits in Gang gesetzt war und die erste – und zugleich brutalste – „Aussiedlungsaktion“ in Tarnów stattgefunden hatte. Im Vergleich zu anderen Ghettos im besetzten Polen war dies relativ spät, da die Ghettoisierung Ende 1941 weitestgehend abgeschlossen war.100 Nur wenige Ghettos entstanden noch danach, darunter in Tarnów, aber auch in Dąbrowa, Sosnowiec, Będzin (Ende 1942/Anfang 1943), Lubaczów (Oktober 1942) und in einigen weiteren Städten.101 Das hatte weitreichende Folgen: Es gab in Tarnów keine erste Phase der „indirekten Vernichtung“, um einen Begriff von Ruta Sakowska aus ihrer Studie zu Warschau zu entleihen, in der Menschen gezielt durch Aushungern und Krankheiten im abgesperrten Bezirk dezimiert werden sollten.102 Die zweite Phase der Shoah, die „direkte Vernichtung“, und die Ghettoisierung der Tarnower Jüdinnen und Juden fanden in unserem Beispiel parallel statt. Das hatte viele Implikationen für die im Ghetto Eingesperrten. In Ghettos, die früher geschlossen wurden, herrschte lange Zeit Ungläubigkeit, ob die Deutschen tatsächlich Jüdinnen und Juden in ihrer Gesamtheit ermorden wollten. Man glaubte, sich womöglich durch Arbeit, also durch den Beweis der Nützlichkeit, retten zu können.103 Ein Alltag, so verzerrt dieser auch gewesen sein mochte, entstand, Netzwerke und Organisationsformen wurden aufgebaut, Bildungs- und Kulturaktivitäten fanden statt. Die Tarnower Jüdinnen und Juden dagegen hatten bereits hautnah erlebt, wie das Massenmorden vonstattenging und wozu der deutsche SSund Polizeiapparat fähig war. Es war gewissermaßen nur eine Frage der Zeit, bis auch sie selbst an der Reihe sein würden. Abraham Chomet beschrieb im yizker bukh: „Nach der ersten Juni-Aktion war es schwer, noch irgendwelche Illusionen bezüglich der wahren Pläne der Hitleristen gegenüber der jüdischen Bevölkerung zu hegen.“104 Dementsprechend waren die Handlungsoptionen der Tarnower Jüdinnen und Juden dadurch determiniert. Viele waren nach der ersten „Aktion“ noch ungläubig geblieben, begannen aber mit Vorbereitungen auf die zweite „Aktion“, indem sie Bunker und Verstecke innerhalb des Ghettos bauten. 99 100 101 102

Bauer: The Death of the Shtetl, S. 74. Hilberg: Vernichtung, Bd. 1, S. 232. Friedman: The Jewish Ghettos, S. 83. Sie unterscheidet zwischen „indirekter Vernichtung“ und „Ausrottung“, Sakowska: Menschen im Ghetto, S. 36–66, 235–245. 103 Zu dieser Frage und den Debatten um die „rescue through work“-Strategie vgl. Trunk: Judenrat, S. xli. 104 Chomet: Der umkum, S. 837.

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Spätestens nach der zweiten „Aktion“ im September 1942 war den Menschen im Ghetto bewusst geworden, dass niemand verschont werden würde. Zum anderen wurden die Versuche, im Ghetto zu überleben, ständig von weiteren Aktionen – im September und November 1942 – brutal unterbrochen. Während des ersten halben Jahres der Ghettoexistenz wurden über 80  Prozent der gesamten jüdischen Bevölkerung, die noch zu Beginn des Junis 1942 in Tarnów lebte, ermordet oder deportiert. Tarnów glich einem Ghetto im permanenten Ausnahmezustand (obwohl sich die Menschen trotz allem auch Inseln einer gewissen Normalität schufen). In häufiger Frequenz wurde das Leben der Insassen von den weiteren „Aktionen“ brutal durchschnitten. Nach jeder „Aktion“ veränderten sich die Bevölkerungsstruktur und der Ghettoraum fundamental. Familien wurden auseinandergerissen. Wenn aus einer Familie auch nur eine Person im Versteck überlebt hatte und daraufhin in ihre Wohnung zurückkehrte, lebten dort oft schon ganz andere Menschen.105 Netzwerke und Kontakte zerrissen abrupt und in schneller Abfolge, jedwede Organisationsform zerbröckelte, wie wir am Beispiel von Widerstand und Judenrat weiter unten noch sehen werden.106 Samuel Goetz erinnerte sich: „From June to September everyone dear to me has disappeared, I was the only one left.“107 Überlebende Jüdinnen und Juden berichteten, dass die Ghettozeit für sie oft eine „Zwischenzeit“ darstellte, zwischen der letzten und der nächsten „Aktion“. „Wir lebten fortwährend unter dem Eindruck der ersten Aussiedlung und voller Angst vor der zweiten. Das war ein furchtbares Leben“, berichtete Blanka Goldman.108 Moris (geboren als Mojżesz) Hochberger erinnerte sich: „It was very morbid. Everyone asked: What’s going to happen next.“109 Das wirkte sich auch auf den Alltag im Ghetto aus. 7.2.1 Alltag und Jewish agency in Tarnów Wie in anderen Ghettos herrschten auch im „jüdischen Wohnbezirk“ in Tarnów Wohnungsknappheit, Hunger und schlechte hygienische Bedingungen. Nach der Schaffung des Ghettos musste schnell Wohnraum gefunden werden, was auf dem begrenzten Gebiet nahezu an eine Unmöglichkeit grenzte, wie Augenzeuginnen und -zeugen berichteten.110 Der Überlebende Leon Lesser 105 Goetz: I Never Saw My Face, S. 44–56. 106 Vgl. Kapitel 7.2.3 „Neue ‚Eliten‘: Judenrat und Ordnungsdienst“ sowie Kapitel 7.2.4 „Selbstbehauptung und Widerstand/Amidah“. 107 Goetz: I Never Saw My Face, S. 46. 108 Bericht Blanka Goldman, AŻIH 301/2059. 109 Hochberger, Moris: Interview 11245, 23.01.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 07.10.2018). 110 Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598; vgl. auch Hembera: Die Shoah, S. 224.

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erinnerte sich an die Zeit des Umzugs: Massen machten sich auf die Suche nach Wohnungen, die schier unerreichbar waren, da sich das jüdische Viertel auf ein paar Straßenzüge begrenzte.111 Grabówka war bereits vor dem Krieg ein ärmliches Viertel, die Häuser waren marode, oft nicht mit Sanitäranlagen ausgestattet. Die Elektrizität funktionierte während der Ghettozeit kaum.112 Jüdinnen und Juden, die umzogen, ließen das meiste ihrer Habe auf der „arischen“ Seite zurück und drängten sich in kleine Zimmer mit anderen.113 Diejenigen, die bereits in jenen Straßenzügen wohnten, die dem Ghetto zugeschlagen wurden, konnten vorläufig in ihren Wohnungen bleiben. Als das Ghetto im weiteren Verlauf verkleinert wurde, mussten auch sie häufig umziehen. Viele Familien, auch Unbekannte, teilten sich Wohnräume, die sie dann mit Decken oder Schränken unterteilten, um wenigstens den Anschein einer Privatsphäre zu erwecken.114 Manchmal drängten sich bis zu einem Dutzend Menschen in einem Zimmer zusammen.115 Man zerhackte Möbel, um aus ihnen provisorische Betten zu bauen oder schlief einfach auf Brettern.116 Kurzum, Enge und Armut herrschten im Tarnower Ghetto. Ein dringliches Problem war die schlechte Versorgungslage mit Lebensmitteln und der Hunger. Zu Beginn des Krieges hatten Jüdinnen und Juden wie der Rest der Zivilbevölkerung noch Lebensmittelkarten erhalten, nun aber nicht mehr. Auch in Tarnów verschlechterte sich die Lage mit der Schließung des Ghettos. Lediglich vier Großküchen sorgten nur unzureichend für die Verpflegung und konnten den Lebensmittelbedarf der notleidenden Bevölkerung nur sehr schwach abmildern.117 Notdürftig verpflegt wurde dabei nur die arbeitende jüdische Bevölkerung.118 Erschwerend kam hinzu, dass die Institutionen sowie jedwede Organisationsformen innerhalb des Ghettos durch die wiederholte Ermordung der betei­ ligten Akteure immer weniger funktionsfähig waren. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterschiedlicher Referate des Judenrats wurden umgebracht, fast alle Mitglieder des lokalen Büros der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe, die vor der Schaffung des Ghettos Volksküchen betrieb, waren während der 111 Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598. 112 Hembera: Die Shoah, S. 224–225. 113 Zur Enge der Wohnräume siehe z. B. Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021); BrodziankaGutt, Elżbieta: Interview 25736, 04.12.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 114 Hembera: Die Shoah, S. 224. 115 Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598. 116 Postrong: Refleksn, S. 885. 117 Chomet: Zagłada Żydów, S. 51. 118 Urteilsbegründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777.

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„Aktionen“ „ausgesiedelt“ worden.119 Eine Gesprächsnotiz zwischen der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe in Krakau und einem sichtlich verzweifelten Judenältesten aus Tarnów, Artur Volkmann, gibt Aufschluss über die desperate Lage im Ghetto.120 Die Judenältesten versuchten das Elend wenigstens etwas zu lindern, doch häufig vergebens, da ihre Institutionen selbst demontiert wurden. Leon Lesser erinnerte sich an das Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein: „Von außen kam keinerlei Hilfe von keiner sozialen Institution, als ob die Welt uns vergessen hätte, sogar die Volksküchen mit ihren mageren Suppen mussten wir auf eigene Kosten finanzieren.“121 Doch Jüdinnen und Juden erwiesen eine beachtliche agency – im Sinne von Eigeninitiative – in der Versorgung des Ghettos mit Essen außerhalb der von den deutschen Besatzern gesetzten Regeln und Ordnungen. Dazu bedurfte es des Transfers von Lebensmitteln und Menschen über die Ghettogrenze hinweg und des Kontakts mit der nichtjüdischen Umwelt. Die Mechanismen des blühenden Schwarzmarktes und der Interaktionsräume außerhalb des Ghettos sollen genauer im Kapitel 7.3 „Der Zaun und die Beobachtenden“ behandelt werden. An dieser Stelle soll aber bereits auf die Eigeninitiative und den aktiven Einsatz von Jüdinnen und Juden in ihrem Kampf ums Überleben hingewiesen werden. Infolge des Hungers, der Armut, der fehlenden Sanitäranlagen in den Wohnhäusern und der Enge waren die hygienischen Zustände im Ghetto katastrophal. Krankheiten wie Typhus breiteten sich aus.122 Obschon Ärzte im jüdischen Krankenhaus versuchten, Abhilfe zu schaffen, waren ihre Bemühungen lediglich der sprichwörtliche „Tropfen auf den heißen Stein“.123 Naftali Fuss stammte aus Tarnów, doch lebte er vor Kriegsausbruch mit seiner Familie in Rzeszów. Vom dortigen Ghetto reiste er mit gefälschten Papieren in der zweiten Jahreshälfte 1942 in seinen Heimatort zurück. Mit den Augen eines Reisenden beschrieb er das Ghetto wie folgt: „Die Rückkehr nach Tarnów, wo ich meine Kindheit und Jugend verbracht hatte, war für mich eine traumatische Erfahrung. Aus einer vitalen, aktiven, vor Leben 119 Notatka o konferencji z p. Arturem Volkmannem, Przewodniczącym KOP (Komitetu Opiekuńczego Powiatowego) w Tarnowie dnia 03.10.1942, AŻIH 211: Żydowska Samopomoc Społeczna/Jüdische Soziale Selbsthilfe: 1026. Korespondencja Prezydium ŻSS z Komitetem Powiatowym ŻSS w Tarnowie/dystrykt Kraków, 04.05.1942–19.11.1942, S. 70. 120 Ebd. 121 Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598. 122 Hembera: Die Shoah, S. 224–226. 123 Der Arzt Bernhard Tesse beschreibt die Tätigkeit der Ärzte im jüdischen Spital in Tesse: Der yiddisher shpital, S. 879–883.

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überschäumenden Gemeinde war ein großer Friedhof geworden, auf dem lebende Leichen herumliefen.“124 Die Lebensmittelversorgung war ein großes Problem, doch war Hunger in den Berichten der Überlebenden nicht vordergründig. Erzählungen über Leichen verhungerter Menschen auf den Straßen finden sich in den Berichten nicht wieder. Dies kann mehrere Gründe haben, die einerseits in der Überlieferung und andererseits in der tatsächlichen Situation in Tarnów begründet sein können. Zum einen ist die Ausnahmesituation des Ghettos zu nennen – vor allem die späte Errichtung, als die „Aktion Reinhardt“ bereits im Gange war, sowie die ständigen Unterbrechungen durch weitere „Aktionen“. Das Ghetto war eine Zwischenstation zur nächsten „Aktion“, worüber sich seine Bewohnerinnen und Bewohner durchaus im Klaren waren. Dies könnte zu einem Quellenbias geführt haben: Als Überlebende nach dem Krieg über die zweite Phase der Shoah der Jahre 1942–1943 berichteten, wollten sie möglicherweise vor allem über die traumatischsten Erfahrungen Zeugnis ablegen – über die Erschießungen, die „Aktionen“, die Deportationen, den Tod ihrer Mütter, Väter, Schwestern, Brüder und Kinder. Sie wollten die Täter identifizieren und beschreiben, was diese ihnen angetan hatten. Darüber geriet womöglich die Erzählung über den Alltag im Ghetto, der ja gleichzeitig stattfand, da es keine erste Phase der Ghettoisierung gab, in der Quellenüberlieferung in den Hintergrund. Ebenso wenig finden sich in den Berichten und Erinnerungen der Überlebenden Beschreibungen des Kultur- und Bildungswesens im Ghetto sowie der religiösen Ausübung. Auch das kann mit den oben genannten Gründen zusammenhängen. Ein anderer möglicher Grund kann in der tatsächlichen Essensversorgung gelegen haben. Denn in Tarnów gab es ein semi-geschlossenes Ghetto. Täglich gingen Arbeitskolonnen auf die „arische“ Seite, wo die Menschen illegal mit Lebensmitteln in den Werkstätten handelten, in denen sie mit nichtjüdischen Polinnen und Polen arbeiteten. Die Historikerin Hembera verweist auf Erinnerungen aus Tarnów, die Hunger thematisierten.125 Dies ist sicherlich auch wahr, doch es ist auffällig, dass dieses Narrativ die Quellenüberlieferung der Überlebenden nicht dominiert. Es scheint, dass Hembera möglicherweise ein Masternarrativ über „das Ghetto“, wie wir es aus den Großstädten kennen, reproduziert und die Spezifik des Tarnower Ghettos nicht genügend herausarbeitet. Gerade aus Mikrostudien zu den Ghettos in der Peripherie ergeben sich aber neue Erkenntnispotenziale – z. B. über die Handlungsoptionen von

124 Fuss: Als ein anderer leben, S. 69. 125 Hembera: Die Shoah, S. 233–234.

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Jüdinnen und Juden und ihre Eigeninitiative bei der Versorgung von Menschen in umzäunten Bezirken. Was die Nachkriegsberichte der Überlebenden dagegen sehr stark prägt, ist die ständige und allgegenwärtige Angst vor willkürlichen Erschießungen.126 Spätestens nach der ersten „Aktion“ war allen deutlich geworden, dass für die deutsche Besatzungsmacht ein jüdisches Menschenleben nichts zählte. Es verging kein Tag, an dem die Sicherheitspolizei nicht ins Ghetto kam und wahllos Menschen erschoss.127 Diese ständige Angst vor dem arbiträren Morden durch Sicherheitspolizei-Angehörige war das vorherrschende Thema in den Nachkriegsberichten der Überlebenden.128 Vor allem der Leiter des Judenreferats der örtlichen Gestapo Wilhelm Rommelmann, aber auch die Gestapo-Männer Gerhard Grunow und Otto von Mallotke waren unter den Ghettoinsassen gefürchtet. Des Weiteren wurden der Chef der Gestapo in Tarnów Josef Palten sowie Gerhard Gaa, Karl Oppermann, Oskar Jeck und der Übersetzer Jerzy Kastura von den Überlebenden als Henker und Mörder bezeichnet.129 1943 gesellte sich Hermann Blache (1900–1985) zu den Gefürchteten. Er kam bereits nach den drei „Aussiedlungen“ von 1942 nach Tarnów und übernahm ab Januar 1943 als Kommandant die Gewalt über das Ghetto A, das offiziell in „Zwangslager Tarnów“ umbenannt wurde. Auch er erschoss Jüdinnen und Juden nach „Belieben“ und ließ seinen minderjährigen Sohn an Menschen Schießübungen verrichten.130 Sobald diese Männer im Ghetto auftauchten, versteckten sich Jüdinnen und Juden, wo es nur ging, denn wer „Rommelmann traf, konnte mit dem Leben bezahlen“.131 Manchmal brachten sie auch ethnische Polinnen und Polen ins Ghetto, um sie dort zu erschießen, berichtete der Arzt Józef

126 Augenzeugenberichte beschreiben vor allem diese Angst. Siehe auch Goetz: I Never Saw My Face, S. 46; Schönker: Ich war acht, S. 116, 124–125, 131. 127 Urteilsbegründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777; Urteilsbegründung im Prozess gegen Walter Baach und Ernst Wunder, YVA Tr.  10/751; Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598; Bericht Halina Korniło, AŻIH 301/3228; Aussage Samuel Grünkraut, BAL B 162/2150. 128 Siehe zum Beispiel auch: Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818; Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600. 129 Aussage Dawid Fromowicz, 18.01.1961, BAL B  162/2151, Bl.  1058; Aussage Józef Korniło, BAL B 162/2150, Bl. 851–8529; Bericht Halina Korniło, AŻIH 301/3228; Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598; Urteilsbegründung im Prozess gegen Walter Baach und Ernst Wunder, YVA Tr. 10/751; zu den deutschen Polizeiangehörigen in Tarnów samt ihren Fotografien siehe: Der kalte Blick, S. 181–186, 256–264. 130 Chomet: Zagłada Żydów w Tarnowie, S. 50–51. 131 Aussage Tamara Balberyska, geb. Bornstein, Ojsforszungsreferat fun der jidiszer opt. fun CK in München, 06.09.1946, BAL B 162/746, Bl. 357–358.

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Korniło.132 Rommelmann kam häufig zu Korniło ins Ambulatorium, um sich das Blut seiner Opfer abwaschen zu lassen.133 Einbruch: die zweite „Aktion“ Die zweite „Aussiedlungsaktion“ fand vom 10. bis 12. September 1942 statt und kostete rund 7000 Menschen das Leben.134 Schon vor Beginn dieser „Aktion“ kamen Gerüchte im Ghetto auf, dass die deutschen Besatzer Vorbereitungen zur nächsten „Aussiedlung“ treffen würden.135 Das Ghetto wurde von SS, Gestapo, Schutzpolizei und polnischer Polizei umstellt, die Arbeitskolonnen nicht mehr zur Arbeit abgeholt.136 Auch außerhalb des Ghettos wurde schnell deutlich, was passierte: „Dass es eine Aktion gab, das wusste man, weil eine neue Betriebsamkeit herrschte, und die Menschen außerhalb des Ghettos wussten es auch, was im Ghetto passierte. Das Ghetto war umstellt, man nahm die Menschen mit, brachte sie weg.“137 Wieder mussten Jüdinnen und Juden vorab ihre Meldekarten beim Judenrat abgeben, um sie stempeln zu lassen. Gestapo und Arbeitsamt stempelten am 9.  September  1942 die Karten jener Jüdinnen und Juden mit dem „Hoheitsstempel“, die noch zum Arbeitseinsatz vorgesehen waren.138 Doch diesmal wussten alle, welcher Stempel ihnen das Leben retten konnte, die Erschießungen aber auch ganz willkürlich stattfinden konnten. Panik machte sich in den Meldestellen breit: „Es entstand ein Geheul und Geschrei, die Menschen zertrampelten sich gegenseitig, rissen sich die Meldekarten aus der Hand, sodass diese zerrissen. Die, die keinen Stempel bekommen haben, nahmen eine gestempelte Meldekarte von einem Fremden, rissen das Foto ab und klebten das eigene drauf.“139 Über dieses von Todespanik befeuerte Chaos bei den Meldekarten berichteten auch viele andere Augenzeuginnen 132 Aussage Józef Korniło, BAL B 162/2150, Bl. 8521–8529. 133 Ebd. 134 Hembera folgt der Schätzung von Chomet: Zagłada Żydów w Tarnowie, S. 71 mit 7000 Todesopfern, siehe auch Kriminalpolizei Tarnów „Bevölkerungsstand am 1.11.1942“: 8642 Jüdinnen und Juden, zit. nach Hembera: Die Shoah, S. 203. 135 Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818. Von Gerüchten, die über einen Überlebenden aus Bochnia kamen, berichtete Yakov Dornbusch, Bericht vor der Historischen Kommission im DP-Lager München, YVA M.1.E/171. 136 Bericht Yakov Dornbusch (Jiddisch) im DP-Lager München, YVA M.1.E/171; Zeugenaussage Edmund W. über die Beteiligung der Schutzpolizei, Verfahren gegen Hermann Blache und Josef Palten, BAL B 162/2150, Bl. 759; Chomet: Zagłada Żydów, S. 56. 137 Fudem, Gizela: Interview 7896, 23.10.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 138 Urteilsbegründung im Prozess gegen Walter Baach und Ernst Wunder, YVA Tr. 10/751. 139 Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818.

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und -zeugen im Vorfeld der zweiten „Aktion“.140 Fälscher boten gegen Geld die vermeintlich lebensrettenden Stempel.141 Korruption florierte.142 Izrael Izaak berichtete, wie sein Bruder in einem kriegswichtigen Betrieb arbeitete, aber dennoch fürchtete, nicht den richtigen Stempel zu bekommen. Er versuchte, einen Fälscher ausfindig zu machen, fand ihn aber nicht. Sollte er in dieser Situation lieber ein Versteck suchen oder auf den Judenältesten Lehrhaupt hören, der versicherte, dass alle, die in kriegswichtigen Betrieben arbeiteten, nichts zu befürchten hätten?143 Wieder waren die Menschen höchst verunsichert und mussten schnell lebenswichtige Entscheidungen treffen. Anders als noch während der ersten „Aktion“ fand diese nun innerhalb des Ghettos und auf dem jüdischen Friedhof statt. Federführend nahm die Gestapo unter Josef Palten, dem Dienststellenleiter Tarnów, daran teil sowie Angehörige der kasernierten Polizei, der Gendarmerie, der SS, des Sonderdienstes, der Stadtpolizei, der Schutzpolizei und der polnischen Polizei.144 Zunächst wurden Jüdinnen und Juden zum Sammelpunkt auf dem Magdeburger Platz/Freiheitsplatz gebracht – einem ehemaligen Busbahnhof, der sich nun innerhalb des Ghettoareals befand. Dieser Platz wurde von Wachposten abgesperrt.145 Hier fanden regelrechte „Selektionen“ statt. Schreibtische wurden aufgestellt, hinter denen Angehörige der Gestapo saßen oder standen.146 Alle Jüdinnen und Juden mussten an diesen vorbeidefilieren, ihre Meldekarten hochhaltend. Wer der „Kommission“ nicht gefiel, musste sich zur einen Seite des Platzes begeben und hinknien, was meistens bedeutete, dass sie oder er zur „Aussiedlung“ bestimmt war.147 „Arbeitsfähige“ wurden zur anderen Seite des Platzes geschickt oder durften in ihre Wohnungen zurückkehren.148

140 Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598; Bericht Blanka Goldman, AŻIH 301/2059; Goetz: I Never Saw My Face, S. 44–45. 141 Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818; Bericht Lila Wider, YVA O.3/3516. 142 Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598; Bericht Yakov Dornbusch (Jiddisch) vor der Historischen Kommission im DP-Lager München, YVA M.1.E/171. 143 Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818. 144 Urteilsbegründung im Prozess gegen Walter Baach und Ernst Wunder, YVA Tr.  10/751, S.  83; Zeugenaussage Edmund  W., Verfahren gegen Hermann Blache und Josef Palten, BAL B 162/2150, S. 759. 145 Urteilsbegründung im Prozess gegen Walter Baach und Ernst Wunder, YVA Tr.  10/751, S. 83. 146 Bericht Halina Korniło, AŻIH 301/3228; Urteilsbegründung im Prozess gegen Walter Baach und Ernst Wunder, YVA Tr. 10/751, S. 83. 147 Bericht Halina Korniło, AŻIH 301/3228. 148 Urteilsbegründung im Prozess gegen Walter Baach und Ernst Wunder, YVA Tr.  10/751, S. 83.

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Abbildung 60 Magdeburger Platz

Kranke und Ältere wurden als erste „ausgemustert“ und gleich auf Kutscherwagen zum jüdischen Friedhof gebracht, wo sie erschossen wurden.149 Der Baudienst hob die Gruben aus, und die Opfer mussten sich nackt ausziehen. Nach ihrer Ermordung untersuchte der Baudienst die Sachen der Toten. Wertsachen wurden zur Sammelstelle in der Czacki-Schule zum weiteren Sortieren gebracht.150 Vom Magdeburger Platz aus hörten die Wartenden bereits die Schüsse vom Friedhof her.151 Die „transportfähigen“ Jüdinnen und Juden, die zur „Aussiedlung“ bestimmt waren, wurden zunächst in Pferdeställe am Schießübungsplatz Tarnów gebracht, schließlich zu Hunderten auf dem Güterbahnhof in Viehwaggons gepfercht und ins Vernichtungslager Bełżec deportiert.152 Während der „Aktion“ breiteten sich Chaos und Panik auf dem Magdeburger Platz aus. Nicht alle „Arbeitsfähigen“ mit Stempel wurden überhaupt zu den Schreibtischen vorgelassen und blieben auf der Seite des Platzes, auf der die 149 150 151 152

Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818; Bericht Halina Korniło, AŻIH 301/3228. Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818. Bericht Halina Korniło, AŻIH 301/3228. Bericht Blanka Goldman, AŻIH 301/20159; Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; Zeugenaussage Edmund  W.  über  Beteiligung der Schutzpolizei, Verfahren gegen Hermann Blache und Josef Palten, BAL B 162/2150, S.  759; Urteilsbegründung im Prozess gegen Walter Baach und Ernst Wunder, YVA Tr. 10/751, S. 84.

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für die „Aussiedlung“ bestimmten Menschen versammelt wurden. Einige Ungehorsame wurden an Ort und Stelle erschossen.153 Besonders dramatisch war, dass die deutschen Besatzer alle Kinder zum Transport vorgesehen hatten und deren Mütter auf dem Platz automatisch als „nicht arbeitsfähig“ einstuften, auch wenn sie einen „guten“ Stempel besaßen. Im Vorfeld der „Aktion“ ließ die Gestapo verlautbaren, dass die Kinder jener Menschen, die einen „Hoheitsstempel“ besaßen, von der „Aussiedlung“ verschont bleiben würden und deswegen ohne Angst mit ihren Familien zum Sammelplatz kommen sollten.154 Mütter, die sich wegen des eigenen „guten“ Stempels in vermeintlicher Sicherheit gewogen hatten, gingen mit ihren Kindern zur Sammelstelle auf dem Magdeburger Platz. Manche nahmen auch ein anderes Kind mit, um es vor dem Herausholen aus den Wohnungen und vor der Erschießung zu schützen.155 Doch nun, auf dem Sammelplatz, wurden die Kinder zu ihrem Todesurteil.156 Schätzungen der Augenzeugen zufolge wurden bei dieser „Aktion“ rund 800 bis 1000 Kinder ermordet oder ausgesiedelt.157 Zum Teil wurden Kinder direkt an Ort und Stelle erschossen.158 Die Überlebenden nannten diese zweite „Aussiedlung“ daher auch die „Kinderaktion“.159 Es kam zu furchterregenden Szenen, die in Berichten, Erinnerungen und Aussagen der Überlebenden belegt sind, an dieser Stelle aber nicht en  détail wiedergegeben werden.160 Mehrere Augenzeuginnen und -zeugen berichteten, wie Mütter ihre eigenen Kinder verließen und sie verleugneten, um das eigene Überleben zu sichern.161 Andere Familien entschieden sich, zusammen in den Tod zu gehen, und Väter folgten ihren Frauen und Kindern zum Transport.162 Die junge Halina Korniło, die mit ihrer Familie zur „Aussiedlung“ ausgemustert 153 Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818; siehe auch Urteilsbegründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777, S. 128–130. 154 Urteilsbegründung im Prozess gegen Walter Baach und Ernst Wunder, YVA Tr. 10/751. 155 So war es auch im Fall Lesser, AŻIH 301/4598. 156 Siehe auch Aussage Samuel Grünkraut, BAL B 162/2150, Bl. 695–696. 157 Urteilsbegründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777. 158 Ebd., S. 128–130. 159 Aussage Józef Korniło im Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache und Josef Palten, BAL B 162/2150; siehe auch Urteilsbegründung im Prozess gegen Walter Baach und Ernst Wunder, YVA Tr. 10/751, S. 80–82. 160 Aussage Samuel Grünkraut, BAL B 162/2150, Bl.  695–696; Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598; Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818; Bericht Blanka Goldman, AŻIH 301/2059; Bericht Halina Korniło, AŻIH 301/3228; Postrong: Refleksn, S. 885; Chomet: Zagłada Żydów, S. 56–61. 161 Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818; Bericht Blanka Goldman, AŻIH 301/2059; Bericht Halina Korniło, AŻIH 301/3228; Postrong: Refleksn, S. 885. 162 Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600.

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wurde, berichtete: „Ich war erst zwölfeinhalb Jahre alt, ich war sehr jung, aber ich habe alles verstanden, dass wir in einer halben Stunde oder in einer Stunde erschossen werden, ich weinte nicht […]. Ich wollte leben. […] Papi und Mami beruhigten mich und küssten mich, aber was in ihren Herzen los war, das kann ich nicht beschreiben.“163 Nur mit viel Glück überlebten die Korniłos zunächst doch.164 Als diese zweite „Aktion“ vorbei war, machte sich eine gespenstische Leere breit: „Auf dem Platz waren keine Menschen mehr, nur auf den Steinen lagen in Kissen eingehüllte Säuglinge.“165 Anders als noch bei der ersten „Aktion“ hatten nun Jüdinnen und Juden im Ghetto Vorbereitungsmaßnahmen getroffen und sich innerhalb des Ghettoareals Verstecke ausgebaut. Alle wussten bereits, dass eine „Aussiedlung“ den Tod bedeutete, hatten seit der ersten „Aktion“ „dazugelernt“, wie ein Augenzeuge berichtete, und dachten an „Selbstverteidigung“.166 Meistens waren es Unterschlupfe in Kellern, auf Dachböden oder in Kaminen, die mit doppelten Trennwänden versehen wurden und vor die meist noch ein Schrank oder Ähnliches gestellt wurde. Diese Verstecke, die im damaligen Kriegsjargon „Bunker“ genannt wurden, boten Platz für ein paar Personen bis hin zu einigen Dutzend oder Hundert Menschen. Józef Korniło berichtete: Nach Errichtung des Ghettos haben sehr viele Juden begonnen, unter ihren Häusern, in ihren Kellern, in danebenliegenden Grundstücken, in Häusern usw. bunkerartige Verliese zu bauen und einzurichten. Im Laufe der Zeit wurden diese Bunker zu immer größeren Verstecken und Gängen ausgebaut. Man kann fast sagen, dass es sich um katakombenähnliche Räume und Gänge gehandelt hat. In diesen Bunkern und Verstecken hielten sich sehr viele Juden über kürzere oder längere Zeit verborgen. Sie mussten natürlich nach bestimmter Zeit nach draußen kommen, um Lebensmittel und Wasser zu holen.167

Manche bauten auf eigene Faust, andere mussten sich einen Platz im Bunker erkaufen. Gizela Fudem versteckte sich mit ihrer Schwester im Keller des Hauses in der Folwarczna Straße, in der sie damals wohnten. Gizela und ihre Schwester sowie andere Menschen stiegen unter einer Bäckerei im Erdgeschoss durch ein Loch in den Keller. Gizelas Vater mauerte das Loch zu und 163 Bericht Halina Korniło, AŻIH 301/3228. 164 Der Zahnarzt Józef Korniło wurde samt Familie vom Chef der Schutzpolizei Georg Julius Strauß, den er behandelt hatte, aus den Pferdeställen herausgeholt. Urteilsbegründung im Prozess gegen Walter Baach und Ernst Wunder, YVA Tr. 10/751, S. 84. 165 Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818. 166 Bericht Yakov Dornbusch (Jiddisch) vor der Historischen Kommission im DP-Lager München, YVA M.1.E/171; Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598. 167 Aussage Józef Korniło im Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache, BAL B 162/2150, Bl. 848.

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schüttete Kohle über die frische Einmauerung. Einige Dutzend Menschen versteckten sich für mehrere Tage dort. Gizelas Mutter und der kleine Bruder waren in einem anderen Bunker und haben dort ebenfalls überlebt.168 Manche Verstecke waren sehr raffiniert gestaltet, man musste über mehrere camouflierte Eingänge, um sie zu erreichen. Viele deponierten vorab Essen in den Verstecken, um längere Zeit überleben zu können.169 In einigen Treppenhäusern wurde das Desinfektionsmittel Lysol ausgeschüttet, damit die Hunde der SS und Sicherheitspolizei die Witterung von Menschen verloren.170 Die agency von Jüdinnen und Juden in der Ausgestaltung ihrer Überlebensstrategien erwies sich als enorm wichtig. Häufig musste man für einen Platz in einem Bunker bezahlen. Als die „Aktion“ begann, suchten viele vergeblich nach Plätzen in diesen Verstecken. Lila Wider berichtete davon, dass im Haus, in dem sie damals wohnte, die „Wohlhabenden“ einen Bunker ausbauten. Sie und ihre Mutter hatten zu dem Zeitpunkt kein Geld mehr, um sich zwei Plätze in einem Versteck zu erkaufen.171 „Geh weg, geh weg!“, riefen die Versteckten Regina Bienenstock zu, als sie in einem Bunker Unterschlupf suchte.172 Die Keller waren überfüllt, erinnerte sich Rahel Postrong, Holzböden wurden aufgerissen, um sich noch irgendwo ein Versteck zu sichern.173 Die deutschen SS- und Polizeieinheiten durchsuchten zusammen mit dem polnischen Baudienst die Keller und zogen versteckte Menschen heraus.174 Viele Augenzeuginnen und -zeugen berichteten, wie hilfreich auch der OD beim Aufspüren der Bunker gewesen sei.175 168 Fudem, Gizela: Interview 7896, 23.10.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 169 Schönker: Ich war acht, S. 126–127. 170 Ebd., S. 117. 171 Bericht Lila Wider, YVA O.3/3516. Sie überlebten, weil sie den OD-Mann kannten, der sie aus ihrer Wohnung abholen sollte, und ihm Geld gaben. Später wurde ein Bunker in ihrem Haus entdeckt und alle abtransportiert, daraufhin versteckten sich Lila Wider und ihre Mutter in dem ausgeräumten Bunker, und als der OD-Mann mit Deutschen wiederkam, um doch noch Lila Wider und ihre Mutter zu holen, fand er sie nicht mehr auf. 172 Bienenstock, Regina: Interview 33388, 19.09.1997. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 11.04.2021). 173 Postrong: Refleksn, S. 885. 174 Zur Beteiligung des Baudienstes an den Durchsuchungen im Ghetto während der zweiten „Aktion“ siehe Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818 und Kapitel 8 „Polen in Uniform: der polnische Baudienst und die Blaue Polizei“. 175 Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598; Bericht Dawid Fromowicz, AŻIH 301/4609; Bericht Lila Wider, YVA O3.3516; Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021); Schönker: Ich war acht, S. 134–138; Ermittlungsverfahren gegen Maks Z., IPN Kr 502/329.

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Als deutlich wurde, dass die Deutschen auf dem Magdeburger Platz gezielt Kinder aussiedelten, versteckten die Eltern vor allem ihre Kinder in den Bunkern. Ein Bunker mit Kindern, ein Erdloch am Wohnhaus in der Lwowska Straße  38, wurde verraten und die Deutschen erschossen die Kinder an Ort und Stelle. Zum Teil sahen die Eltern dies aus dem Wohnhaus mit an, zum Teil rannten sie nun zu ihren Kindern, um ihnen beizustehen und zusammen mit ihnen getötet zu werden.176 Sara Klapholz, damals selbst ein kleines Kind, überlebte in ihrem Versteck und kehrte zu ihrem Wohnhaus zurück. Im Rückblick erinnerte sie sich vor allem an die Leere und Stille, die sie hier empfing: „Un silence qu’on ne peut pas décrire. Un silence total.“177 7.2.2 Alltag von Kindern und Jugendlichen im Ghetto Józef Mansdorf war acht Jahre alt, als der Krieg ausbrach, und elf, als er die erste „Aktion“ und die Ghettoisierung erlebte. Als er im Mai 1945 vor der Jüdischen Historischen Kommission aussagte, bescheinigte ihm die Protokollantin Judyta Laub: „Die Erlebnisse haben ihn frühzeitig reifen lassen.“178 Viele Kinder, so auch Józef Mansdorf, betätigten sich im Handel und Schmuggel und unterhielten auf diese Weise ihre Familien. Sie mussten ganz andere soziale Rollen übernehmen als Kindern im „Normalfall“ vorbehalten sind. Als ein Ordnungspolizist Heinrich Schönker beim illegalen Handel erwischte, glaubte er dem Jungen nicht, dass er erst elf Jahre alt war. Schließlich habe er gesagt: „Vielleicht stimmt es ja. Im Ghetto werden die Menschen schneller alt.“179 Die Kriegserlebnisse ließen Kinder vorzeitig erwachsen werden und erlaubten ihnen kein kindgerechtes Großwerden. „Eigentlich bin ich nie ein Kind gewesen“, erinnerte sich Lila Mitler, „ich empfinde eine psychische Lücke, die von dem raschen Sprung aus der Kindheit ins Jugendalter herkommt“.180 Zugleich musste die kindliche Psyche äußerst traumatische Erlebnisse verarbeiten. Viele Kinder im Ghetto sind schnell zu Halb- oder Vollwaisen geworden und mussten allein auf sich selbst und/oder ihre Geschwister aufpassen. Manchmal übernahmen dann andere Erwachsene die „Ersatzrolle“ als

176 Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598, S. 6–7; Aussage Leon Lesser im Prozess gegen Karl Oppermann, siehe Urteilsbegründung gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777, S. 133–135 sowie 124–133. 177 Bersay, Sarine: Interview 28109, 05.04.1997. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 07.10.2018), seg. 24. 178 Bericht Józef Mansdorf AŻIH 301/570. 179 Schönker: Ich war acht, S. 122. 180 Bericht Lila Mitler, AŻIH 301/4022.

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Eltern für die Kinder.181 Oft entwickelten die Kinder Schuldgefühle, wenn sie selbst eine „Aktion“ überlebt hatten, ihre Eltern aber umgekommen waren.182 Schönker verfiel aufgrund der Erlebnisse im Ghetto mit seinen elf Jahren in eine tiefe Depression, er wollte nicht mehr aufstehen, nichts mehr unternehmen.183 Kinder waren statistisch die am meisten gefährdete Gruppe im Krieg. Mangelernährung und Krankheiten wirkten sich folgenschwer auf sie aus und waren lebensgefährlich. Von der einen Million jüdischer Kinder unter 14 Jahren, die vor Kriegsausbruch in Polen lebten, überlebten lediglich 5000 im Generalgouvernement.184 Die deutschen Besatzer mordeten ganz bewusst jüdische Kinder in gezielten „Kinderaktionen“, um alle Jüdinnen und Juden samt ihren Nachkommen zu vernichten. In den letzten Jahren wuchs in der Forschung das Interesse an den Schicksalen jüdischer Kinder im Generalgouvernement und in der unmittelbaren Nachkriegszeit.185 Den Netzwerken von Helfenden, die über kinderspezifische Kontakte entstanden, widmet sich das Kapitel 9.3 „Wer half?“ Jugendliche fanden in Freundschaften und gemeinsamen Aktivitäten im Ghetto Halt. Blanka Goldman beschrieb es wie folgt: „Das Leben war schrecklich, aber in der Jugend gab es weiterhin einen Lebensdrang. Besonders Jugendliche, die ihre Nächsten verloren haben, fühlten, dass sie im Angesicht des Todes standen und wollten den Tag nutzen. Man trank damals sehr viel, um sich zu betäuben und man hatte sogar Feiern organisiert.“186 Auch Cesia Honig, Rahel Klimek (damals noch Goldberg) und Elżbieta BrodziankaGutt (damals noch Gizela Lamensdorf) berichteten über Feiern und Feste im Ghetto.187 „Natürlich hatten wir auch ein geselliges Leben im Ghetto, was sollten wir auch machen?“, fragte sich Elżbieta Brodzianka-Gutt.188 Sie 181 Die Schönkers kümmerten sich um einen Neffen, der allein im Ghetto ankam, nachdem die Eltern ermordet worden waren. 182 Darüber berichteten sowohl Sarine Bersay als auch Cesia Ritter: Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff:  09.03.2021); Bersay, Sarine: Interview 28109, 05.04.1997. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 07.10.2018). 183 Schönker: Ich war acht, S. 125–126. 184 Bogner: At the Mercy of Strangers, S. 15. 185 Gafny: Dividing Heart; Michlic: The Children Accuse, S. 43–55. 186 Bericht Blanka Goldman, AŻIH 301/2059. 187 Brodzianka-Gutt, Elżbieta: Interview 25736, 04.12.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021); Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff:  09.03.2021); Klimek, Rahel: Interview, 24.05.2013, Ramat HaSharon, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. 188 Brodzianka-Gutt, Elżbieta: Interview 25736, 04.12.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021).

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Abbildung 61

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Henryk Leibels Geburtstagsfeier, 1942. Henryk ist in der hintersten Reihe links außen zu sehen

berichtete, wie sie im Ghetto tanzten und lachten. Dann erinnerte sie sich an ihre Nachkriegsrezeption des Films „Ostatni etap“ („Die letzte Etappe“, Regie: Wanda Jakubowka, PL 1947): „Und da fragten sich einige Leute, wie konnte das sein, dass Menschen unter solchen Bedingungen lachten und fröhlich sind. Aber so ist das Leben … und wir waren jung.“189 Als ich Shulamith Lavyel, ehemalige Schülerin der Safa Berura in Tarnów, 2012 in ihrer Wohnung in Haifa besuchte, zeigte sie mir eine Fotografie aus ihrem Familienalbum, die sich in mein Gedächtnis einbrannte. Es war der Geburtstag ihres Schwagers Henryk (Henio) Leibel (vgl. Abb. 61). Henio war der Junge, dessen Briefe aus Tarnów aus dem Jahr 1940 erhalten sind.190 Das Foto von der Geburtstagsfeier in Tarnów ist das letzte erhaltene von Henio, er starb vermutlich während der Liquidierung des Ghettos im September 1943.191 „Die Liebe im Ghetto“ hieß ein im Jahr 2009 erschienenes Buch von Marek Edelman und Paula Sawicka.192 Edelman, einer der Anführer des Ghettoaufstandes in Warschau, erzählte in dem Band Liebesgeschichten aus dem „Jüdischen Bezirk“. Vielleicht sollen diese Geschichten verdeutlichen, dass das Ghetto mehr war als nackter Überlebenskampf und alltägliches Sterben, dass die Menschen mehr waren als Opfer deutscher Vernichtungspraxis. Es bringt uns die Menschen näher, die hier lebten und eben auch liebten – die 189 Ebd. 190 Vgl. Kapitel 5.5.4 „Arbeit, Verpflegung und Alltag in der besetzten Stadt“. 191 Page of testimony, ID: 1731554, YVA, online unter: https://yvng.yadvashem.org/nameDetails. html?language=de&itemId=1731554&ind=0 (letzter Zugriff: 19.03.2019). 192 Edelman/Sawicka: I była miłość (dt.: Die Liebe im Ghetto).

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„menschliche, universelle Dimension des Holocaust“, wie es im Vorwort heißt.193 Auch in Tarnów hielten die Überlebenden diese für sie bedeutenden Alltagsmomente in ihren Erinnerungen fest  – die Schülerfeiern, das Lachen und das Tanzen spendeten Trost inmitten des Grauens. Meine Interviewpartnerin Rahel Klimek, geborene Goldberg, die Tochter des jüdischen Stadtrats und im Jahr 1940 Judenältesten Salomon Goldberg, der ins KZ Auschwitz deportiert wurde und dort umkam, lernte auf einer Zusammenkunft von Jugendlichen im Ghetto ihren späteren Mann kennen. Beide heirateten noch im Ghetto. „Es war die traurigste Hochzeit“, erinnerte sich Rahel Klimek.194 Aber es war beiden ein Bedürfnis, aus dem Ghetto als Ehepaar zu fliehen. Sie überlebten mit „arischen“ Papieren in Warschau und wanderten 1957 nach Israel aus. 7.2.3 Neue „Eliten“: Judenrat und Ordnungsdienst Das Leben im Ghetto veränderte völlig die sozialen Konstellationen innerhalb der hier eingesperrten Judenheiten. Früher hochgestellte und angesehene Persönlichkeiten konnten nicht mehr auf ihre ehemalige soziale Stellung und ihr soziales Kapital zurückgreifen. Abraham Chomet schilderte das Phänomen des „Abrutschens“ aus der einstigen sozialen Position in die Armut im yizker bukh: Geschäftsmänner, Industrielle oder Rechtsanwälte hätten um ein Stück Brot gebettelt.195 Während einst angesehene Persönlichkeiten abstiegen, etablierten sich andere. Neue Eliten erwarben ihre Stellung durch die Nähe zur Besatzungsmacht – wie der Judenrat und der Ordnungsdienst. Die Rolle der Judenräte wurde sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Forschung kontrovers diskutiert. Unmittelbar nach dem Krieg entstanden an verschiedenen Orten, wo Jüdinnen und Juden sich als displaced persons organisierten, sogenannte honour courts, in welchen die „jüdischen Kollaborierenden“ vor Gericht gestellt wurden, was eine innerjüdische Auseinandersetzung zur Folge hatte.196 Eine polarisierende Wirkung hatte Hannah 193 Bocheński: Przedmowa, S. 10. 194 Klimek, Rahel: Interview, 24.05.2013, Ramat HaSharon, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. 195 Chomet: Zagłada Żydów, S.  51; vgl. auch Fuss: Als ein anderer leben, S.  70. Dagegen berichten Ärzte, deren Fähigkeiten im Krieg gebraucht wurden, darüber, wie sie und ihre Familien verschont wurden: Berichte von Józef Korniło AŻIH 301/4600, Halina Korniło AŻIH 301/3228, Marceli Tesse AŻIH 301/571; Tesse: Der yiddisher shpital. 196 Siehe dazu Trunk: Judenrat, S. 548–561; Jokusch/Finder (Hg.): Jewish Honor Courts. Schon in den 1940er und 1950er Jahren entstanden Arbeiten zur Soziologie des Ghettos und zur Funktion der Judenräte, die häufig von überlebenden Historikern im Umfeld der Jewish Social Studies am YIVO verfasst wurden, einen Überblick bietet Wagner: Jüdische Gesellschaft im Mittelpunkt, S. 53–70.

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Arendts kritische Bewertung der Judenräte in ihrem 1963 erschienenen Buch Eichmann in Jerusalem. Ihre These, dass – wären die Jüdinnen und Juden tatsächlich unorganisiert und führerlos gewesen – die Opferzahl kaum so hoch gewesen sein könnte, löste heftige Kontroversen aus.197 Auch Hilberg hat in der ersten, 1961 erschienenen Auflage seines bahnbrechenden Werkes Die Vernichtung der europäischen Juden kritisch über die Judenräte geschrieben. Im Besonderen sah er die Judenräte in der Tradition jüdischer Führungseliten der Diaspora, die von Konformität und Willfährigkeit gegenüber der Herrschaftsmacht geprägt waren. In seinen späteren Werken bzw. Auflagen milderte er sein Urteil jedoch ab.198 Die bisher umfassendste komparatistische Forschung zu Judenräten im besetzten östlichen Europa legte Isaiah Trunk 1972 vor. Trunk analysierte die Etablierung, personelle Zusammensetzung und das finanzielle Wirtschaften verschiedener Judenräte sowohl in Großstädten als auch in der Peripherie und kam zu einem differenzierten Urteil. Er periodisierte und typologisierte unterschiedliche Ghettoformen und Judenräte. Er zeigte, wie die Motivationen der Judenältesten voneinander abwichen und dass Judenräte in diversen Phasen der Shoah auch unterschiedlich bewertet werden müssen. Es war jeweils etwas anderes, dem Judenrat in der ersten Phase der Shoah vorzustehen oder etwa während der „Aktion Reinhardt“. Im Folgenden konzentriere ich mich auf die zweite Phase in Tarnów, da die Arbeit des Judenrates vor der Ghettoisierung bereits dargestellt wurde.199 Obschon Trunk die Handlungsoptionen der Judenräte vor dem Hintergrund des allgegenwärtigen NS-Terrors verortete, betonte er die Kontinuität zu alten Formen jüdischer Führung, im Besonderen der kehillah. Trunk sah die Judenräte in der Perspektive der langen Dauer und fragte nach der Tradition jüdischer Eliten, die bereit waren, mit der dominierenden Herrschaftsmacht zusammenzuarbeiteten, um Interessen der jüdischen Gemeinde – zuweilen auf Kosten der ärmsten Bevölkerung – zu vertreten.200 Hier wird eine Kontinuität hergestellt, aber lediglich innerhalb 197 „The whole truth was that if the Jewish people really had been unorganized and leaderless, there would have been chaos and plenty of misery but the total number of victims would hardly have been between four and a half and six million people“, Arendt: Eichmann in Jerusalem, S. 125. 198 Zu Hilbergs Wandel schreiben Jokusch/Finder: Introduction, S.  7–12; vgl. Hilberg: The Judenrat, S. 31–44. 199 Siehe Kapitel 5.5 „Die Verfolgung der jüdischen Lokalbevölkerung“. 200 Trunk: Judenrat, S. 574–575. Als Beispiel für diese Sichtweise nennt Trunk die Rekrutierung der Kantonisten im russischen Zarenreich, bei der oftmals Söhne der ärmsten Bevölkerungsschichten von der Gemeinde „ausgeliefert“ wurden. Eine ähnlich kritische Bewertung jüdischer institutioneller Eliten und deren Umgang mit den jüdischen „Massen“ teilten Emanuel Ringelblum und sein Mitarbeiter im Oyneg-Shabes-Archiv Abraham Lewin. Letzterer hatte eine Arbeit über die Kantonisten verfasst, in der er sich

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innerjüdischer Institutionen. Bezeichnenderweise werden dabei andere Formen jüdischen Leaderships nicht wahrgenommen – denn in unserem Fall waren die ersten Judenältesten in der ersten Phase, also Offner, Goldberg und Schenkel, früher Mitglieder des Stadtrats gewesen.201 Sie bewegten sich also in Interaktionsräumen mit Nichtjuden. Die Geschichte jüdischer Führungspersönlichkeiten der Vorkriegszeit muss also weiter gefasst werden als der Bezug auf rein innerjüdische Institutionen wie die kehillah. In Tarnów waren aber die alten Eliten schnell durch Verhaftungen und Deportationen – durch die „Enthauptung der Stadt“ – zerschlagen worden und spielten in der zweiten Phase keine Rolle mehr.202 Außerhalb der Großstädte hat man es bei der Erforschung der Judenräte mit einem Quellenproblem zu tun. Im Fall von Tarnów sind nur wenige Dokumente des Judenrats oder über diesen erhalten.203 Die Rolle der Judenältesten wird in einigen Überlebendenberichten erwähnt, wobei die Aussagen oft nur bruchstückhaft und zudem gegensätzlich sind: von Darstellungen der Hilfeleistung durch Judenälteste bis hin zu einer harschen Verurteilung der besser gestellten, angeblich korrupten Angehörigen des Judenrats. Ziel des vorliegenden Unterkapitels ist es, die bruchstückhaften Informationen zusammenzufügen. So entsteht ein – aufgrund der spärlichen Quellenlage zugegebenermaßen noch schemenhaftes – Bild der neuen sozialen Konstellationen im Ghetto. Die Judenältesten Tarnóws waren letztlich keine Führungspersönlichkeiten aus der Vorkriegszeit. Die ersten – aus den Vorkriegseliten rekrutierten – Judenältesten flohen oder wurden von den deutschen Besatzern verhaftet und nach Auschwitz deportiert.204 Die neuen Judenältesten stiegen zu Führungspersönlichkeiten erst während der zunehmenden Radikalisierung der Besatzung auf.

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kritisch mit den Führern der jüdischen Gemeinde auseinandersetzte. Lewins Sympathien galten dabei eindeutig den „Bevölkerungsmassen“. Trunk und Ringelblum kannten sich bereits aus Vorkriegszeiten. Ebenso wie Ringelblum gehörte Trunk dem yunge historiker krayz an. Vielleicht war Trunk mit Abraham Lewin bekannt oder kannte zumindest seine Studie über die Kantonisten, da Lewin sich in der historischen Abteilung der YIVONiederlassung in Warschau engagierte. Die Auseinandersetzung mit den Judenräten und deren historische Kontextualisierung in der weit zurückreichenden jüdischen Geschichte hatten also eine lange Tradition, die während des Krieges begann und aus einer bereits in der Zweiten Polnischen Republik etablierten „neuen jüdischen Historikerschule“ erwuchs. Vgl. Kassow: Ringelblums Vermächtnis, S. 101–110, 275–278. Siehe dazu Kpitel 5.5.2 „Der Judenrat“. Vgl. dazu Kapitel 5 „Kriegsbeginn und erste Phase der Verfolgung, Tarnów 1939–1942“. Das einzige erhaltene Dokument des Tarnower Judenrats sind die Listen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vom August 1941 im Kreismuseum Tarnów, MTH 1127/174. Vgl. zu den Kontinuitäten aus der Vorkriegszeit bei der Besetzung des Judenrats Kapitel 5.5.2 „Der Judenrat“.

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Dass es Konflikte gab zwischen der „alten“ jüdischen Führungsschicht und der neuen, die erst durch die deutsche Besatzungsherrschaft an die Macht kam, darauf verwies Abraham Chomet im yizker bukh.205 Nachdem Goldberg und Schenkel ermordet worden waren,206 wurde Artur Volkmann im Jahr 1940 Judenältester, sein Stellvertreter wurde Julian Lehrhaupt. Volkmann und Lehrhaupt hatten ihre Funktion bis zur Liquidierung des Ghettos im September 1943 inne. Der Überlebende Samuel Goetz erinnerte sich: Members of the council became the new ‚elite‘ of the Jewish community and were viewed by the rest of the Jews in Tarnów with mixed feelings. Granted certain deceptive privileges, they labored under the illusion that they were exempt from the harsh anti-Jewish measures. And, as the anti-Jewish actions and arrests continued the Jews began to view the council in Tarnów as a powerless institution.207

An die positiven Seiten der Persönlichkeiten von Volkmann und Lehrhaupt erinnerten sich vor allem diejenigen, die sie persönlich kannten.208 Einige berichteten auch positiv über die Aufopferungsbereitschaft der Judenältesten während der „Aktionen“. So schrieb Renia Fröhlich über die erste „Aktion“ am Marktplatz im Juni 1942: „Der Judenälteste war Volkmann, er arbeitete heldenhaft. Es gelang dem Judenrat, einige Leute vom Platz zu holen.“209 Doch viele Überlebende prangerten die Judenältesten wegen ihrer pri­ vilegierten Stellung an. Abraham Chomet, selbst Vertreter der „alten Eliten“, übte scharfe Kritik am Tarnower Judenrat, sodass auch der Tenor des von ihm herausgegebenen Erinnerungsbuches insgesamt ein anklagender ist. Chomet stellte die Judenältesten als Menschen dar, die sich auf Kosten anderer Jüdinnen und Juden bereicherten. Sie hätten Feiern im Ghetto veranstaltet und sich nicht um den Rest der Bevölkerung gekümmert.210 Izrael Izaak berichtete von einem Magazin an Kleidung, die der Judenrat von Hilfsorganisationen für die jüdischen Insassen des Arbeitslagers Pustków bekommen hätte. Doch dort kam sie nicht an, der Judenrat habe nichts verteilt, so Izaak.211

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Chomet: Zagłada Żydów w Tarnowie, S. 26. Siehe dazu Kapitel 5.5.2 „Der Judenrat“. Goetz: I Never Saw My Face, S. 16–17. Schönker: Ich war acht, S.  115–116. Heinrich Schönker kam 1942 illegal ins Ghetto und suchte mit seinen Eltern zuallererst Julian Lehrhaupt auf, der in einer „Eigentumswohnung“ in der Lwowska Straße 4 wohnte und die Schönkers herzlich empfing. 209 Bericht Renia Fröhlich, AŻIH 301/436. 210 Chomet: Zagłada Żydów w Tarnowie, S. 50. 211 Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818.

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kapitel 7

Die Rolle der Judenältesten wandelte sich zwangsweise mit dem Beginn der „Aussiedlungen“ und der Ghettoisierung ab Juni 1942. Bereits bei der ersten „Aussiedlung“ hatte der Judenrat an der Erarbeitung der Listen von Arbeitsfähigen mitgewirkt, anhand derer die Menschen dann ihre Stempel bekamen.212 Die Judenältesten selbst und ihre Familien waren von den ersten „Aussiedlungen“ zunächst einmal ausgenommen.213 Während die erste „Aktion“ noch lief, forderte der Stab des SS- und Polizeiführers weitere 600 Personen, um das festgesetzte „Kontingent“ an Todesopfern zu erfüllen. Die Judenältesten lieferten den ärmsten Teil der Bevölkerung aus.214 Einzig Judenratsmitglied Paul Reiss weigerte sich, das Kontingent zu stellen, und wurde daraufhin erschossen.215 Weitere Judenratsmitglieder wurden in der „Aktion“ ermordet. Józef Korniło berichtete: „Der Judenrat sperrte mithilfe des OD die Straßen Starodąbrowska und Dwiernieckiego ab, wo Baracken standen und die armen Juden wohnten. Diese Leute hat man aus ihren Häusern herausgeholt und zum Friedhof gebracht.“216 Dort wurden sie erschossen. Ein weiterer Überlebender griff das Verhalten des Judenrats während der zweiten „Aktion“ im September 1942 scharf an. Der SS- und Polizeiführer habe dem Judenrat eine „Kontribution“ in Höhe von einer halben Million Złoty auferlegt. Dies sollte die Kosten der gesamten „Aussiedlung“ decken. Daraufhin habe der Judenrat damit begonnen, die lebenswichtigen Meldekarten gegen Geld an die Ghettoinsassen zu verkaufen. Yakov Dornbusch klagte in seinem Bericht den Judenrat an, auf diese Weise die Kosten der Ermordung der jüdischen Bevölkerung auf die Opfer umverteilt zu haben, und implizierte, dass der Judenrat das Überleben der besser gestellten Personen bevorzugte.217

212 Bericht Janina Schiff, AŻIH 301/2081. Janina Schiff beklagte offen, dass der Judenrat die Bevölkerung nicht informierte: „Der Judenrat hat den Menschen nicht bewusst gemacht, was sie erwartet, sodass die Menschen nicht vermuteten, dass sie an der Reihe seien und niemand floh. Wir waren so paralysiert, dass wir nicht fähig waren, irgendetwas zu unternehmen.“ 213 Arthur Volkmann berichtete darüber nach Krakau, allerdings war das gesamte Büro der Jüdischen Sozialen Selbsthilfe „ausgesiedelt“ worden. Notatka o konferencji z p. Arturem Volkmannem, Przewodniczącym KOP (Komitetu Opiekuńczego Powiatowego) w Tarnowie dnia 03.10.1942, AŻIH 211: Żydowska Samopomoc Społeczna/Jüdische Soziale Selbsthilfe: 1026. Korespondencja Prezydium ŻSS z Komitetem Powiatowym ŻSS w Tarnowie/dystrykt Kraków/, 04.05.1942–19.11.1942, S. 70. 214 Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818; vgl. Kapitel 6.4 „Die Schauplätze“. 215 Bericht Janina Schiff, AŻIH 301/2081. 216 Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600. 217 Bericht Yakov Dornbusch (Jiddisch) vor der Historischen Kommission im DP-Lager München, YVA M.1.E/171.

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Volkmann und Lehrhaupt waren bis zur Liquidierung des Ghettos im September 1943 in Tarnów. Beide wurden vermutlich während der Liquidierung im September 1943 deportiert. Die Spur von Arthur Volkmann verlor sich in Lieberose im Spreewald. Hier existierte ein Außenlager des KZ Sachsenhausen, in das 1944 polnische Juden aus den KZs Auschwitz-Birkenau und Groß-Rosen gebracht wurden.218 Lehrhaupts weiteres Schicksal ist nicht bekannt. Ordnungsdienst Der Jüdische Ordnungsdienst von Tarnów wurde auf Geheiß der deutschen Besatzer beim Judenrat gegründet. Die jüdischen Polizisten trugen spezielle Mützen, auf denen ein Davidstern zu sehen war, ebenso wie auf der linken Seite ihrer Uniformen, wo auch die jeweilige Nummer prangte. Der Ordnungsdienst von Tarnów wurde kontinuierlich ausgebaut und zählte etwas über 100 Personen.219 Die Forschung zum jüdischen Ordnungsdienst im Generalgouvernement ist bislang sehr lückenhaft.220 Zuletzt legte Katarzyna Person eine erste Monografie zum jüdischen Ordnungsdienst in Warschau vor.221 Eine systematische Erforschung in komparatistischer Perspektive, die auch die Vorkriegs- und Nachkriegsbiografien einschließt, steht noch aus. Das Verhalten des jüdischen Ordnungsdienstes in Tarnów während der Zeit der Ghettoisierung schätzten die Überlebenden sehr negativ ein. Gizela Fudem berichtete, dass sich zum OD nur jene meldeten, die bereit waren, den Deutschen zuzuarbeiten, obwohl es auch Ausnahmen gegeben habe.222 So beteiligte sich beispielsweise ein OD-Mann an Widerstandsaktivitäten.223 An den Ghettopforten kontrollierten die OD-Männer, ob die von der Arbeit Zurückkehrenden Essen ins Ghetto schmuggelten. Doch vor allem ihr Verhalten 218 YVA, Page of testimony, ID 1182183, Online unter: https://yvng.yadvashem.org/nameDetails. html?language=en&itemId=1182183&ind=4 (letzter Zugriff: 13.03.2019). 219 Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; Ermittlungsverfahren gegen Wilhelm Lerner, ANKr/SAKr/966 K 138/49. 220 Der Ordnungsdienst wird in der Forschung häufig in einem breiteren Zusammenhang diskutiert, in Studien zu einzelnen Ghettos oder im Kontext der Vernichtungspolitik im Allgemeinen. Einzelne Artikel in Sammelbänden und Zeitschriften beschäftigten sich mit dem jüdischen Ordnungsdienst in einzelnen Städten oder mit ausgewählten Themenbereichen, wie dem Verhältnis zwischen Judenrat und Ordnungsdienst und/oder deren Rezeption nach der Shoah – vgl. Löw: Juden im Ghetto, S. 106–116; Trunk: Judenrat; Ofer: Swearing-in ceremony, S.  229–241; Jarkowska-Natkaniec: Jüdischer Ordnungsdienst; Weiss: The Relations, S. 201–218. 221 Person: Policjanci. 222 Fudem, Gizela: Interview 7896, 23.10.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 223 Siehe dazu das Kapitel 7.2.4 „Selbstbehauptung und Widerstand/Amidah“.

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während der „Aktionen“ erschütterte die Ghettoinsassen. Der OD führte die Menschen zu Sammelpunkten oder zu Exekutionsstätten wie dem Friedhof.224 Ab der zweiten „Aktion“, so berichteten Augenzeuginnen und -zeugen, verrieten die jüdischen OD-Männer Verstecke von Jüdinnen und Juden, die diese im Ghetto  – auf Dachböden, in Kellern und Kaminen  – ausgebaut hatten.225 Häufig standen die OD-Männer dabei selbst unter Todesangst und meinten, sich selbst und ihre eigenen Familien so zu retten.226 Józef Korniło berichtete: „Der Ordnungsdienst war bei dieser Aktion sehr hilfswillig, sie zeigten den Deutschen alle ihnen bekannten ‚Bunker‘. Im Gegenzug konnten sie ihre Familien retten.“227 Während der zweiten „Aktion“ erklärte Wilhelm Rommelmann, Chef des Judenreferats bei der Sicherheitspolizei Tarnów, dass der OD und der Judenrat samt Familien zur „Aussiedlung“ bestimmt würden, sollte das „Kontingent“ an jüdischen Opfern nicht erfüllt werden. „Daraufhin entstand Panik auf dem Platz“, berichtete der Kutscher Israel Izaak: „Die Frau eines OD-Manns aus Bielsk sagte […], sie könne ihnen einen Bunker mit vielen Versteckten zeigen, damit das Kontingent erfüllt werde. Alle stiegen in meine Kutsche ein und wir fuhren zur Dębowa Straße 2. Dort war ein Bunker in einem Kamin. Niemand hätte ihn entdeckt.“228 Die Deutschen schossen zunächst in den Kamin, bevor sie die Verletzten und Toten herausholten. Bei Ungehorsam wurden auch die ODs von der Sicherheitspolizei erschossen.229 Einigen Jüdinnen und Juden gelang es, während einer „Aktion“ die OD-Männer zu bestechen, damit sie den entdeckten Bunker doch nicht verlassen mussten.230 Einige OD-Männer sollen Menschen die („guten“) gestempelten Meldekarten abgenommen und sie dann an Dritte weiterverkauft haben.231 Die Jugendliche Cesia Honig kommentierte dies wie folgt: „That’s what the Germans did, they 224 Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818; Bericht Blanka Goldman, AŻIH 301/2059; Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; Bericht Renia Fröhlich, AŻIH 301/436; Bericht Uszer Bleiweis, AŻIH 301/4608. 225 Bericht Dawid Fromowicz, AŻIH 301/4609; Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598; Bericht Lila Wider, YVA O3.3516; Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021); Schönker: Ich war acht, S. 134–138; Ermittlungsverfahren gegen Maks Z., IPN Kr 502/329. 226 Über die Erpressung der ODs durch Rommelmann, entweder sie brächten mehr Jüdinnen und Juden zum Platz oder sie und ihre Familien würden ausgesiedelt, berichtete beispielsweise Izrael Izaak, AŻIH 301/818; Über die tatsächliche Verschonung der Angehörigen des ODs siehe Bericht Marcelli Tesse, AŻIH 301/571. 227 Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600. 228 Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818. 229 Ebd. zur Ermordung zweier ODs. 230 Bersay, Sarine: Interview 28109, 05.04.1997. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 07.10.2018); siehe auch Bericht Halina Korniło, AŻIH 301/3228. 231 Ermittlungsverfahren gegen Maks Z., IPN Kr 502/329.

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dehumanized us, they let us look at each other like enemies.“232 Die mehrstufige Hierarchisierung der Opfer des deutschen Besatzungssystems nach dem Prinzip „teile und herrsche“ deklinierte sich auf eine maligne Weise durch alle Stufen der Besatzungsgesellschaft hindurch. Doch sowohl der Ordnungsdienst als auch der Judenrat wurden bei Zuwiderhandlungen sofort von den Deutschen erschossen. Im Nationalarchiv in Krakau hat sich eine umfangreiche, zweibändige Akte zu Wilhelm Lerner erhalten, der im Ordnungsdienst im Ghetto Tarnów tätig war.233 Lerner war 1945 aufgrund des Augustdekrets wegen Kollaboration angeklagt worden und sagte umfassend über seine Tätigkeit aus. Diese Ermittlungs- und Prozessakten geben einen Einblick in den Alltag des Ordnungsdiensts. Die folgende Darstellung beruht auf den Aussagen Lerners während der Vernehmungen im Oktober 1945.234 Dabei belastete er sich selbst kaum, sondern verschob die Schuld auf die Judenältesten und seine ODKollegen. Deswegen ist diese Sichtweise stark von der Position des Sprechers geprägt und muss mit Vorsicht gelesen werden. Dennoch gibt Lerner viele Informationen über die Funktionsweisen des Ordnungsdienstes in Tarnów preis. Wilhelm Lerner versuchte nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Polen wie viele andere auch, mit seiner Familie aus Tarnów zu fliehen, kehrte aber nach zwei Wochen zurück. Bis zur ersten „Aktion“ im Juni 1942 war er als Arbeiter bei einem Polen, Stefan Lenartowicz, fiktiv gemeldet, um den erforderlichen Arbeitsnachweis zu besitzen, de facto hatte er aber keine Anstellung. Er bestritt seinen Lebensunterhalt mit der Hilfe seines Onkels, des Arztes Aleksander Lerner. Als die Jüdinnen und Juden Tarnóws kurz vor der ersten „Aktion“ ihre Karten mit den lebenswichtigen Stempeln versehen lassen mussten, bekam es Lerner nach eigener Aussage mit der Angst zu tun, da er keine Arbeit hatte und fürchtete, ausgesiedelt zu werden. Er kontaktierte den Judenältesten Volkmann und bat ihn um eine Anstellung beim Judenrat, der zu der Zeit die Anweisung hatte, die Stärke des ODs zu vergrößern.235 Die Ordnungspolizei zählte ca.  110 Mann und hatte vier Kommandanten, die für unterschiedliche Bereiche zuständig waren, z.  B.  die  Begleitung der Ghettoinsassen zu ihren Arbeitsstätten auf der „arischen“ Seite; die Auftei­ lung der Wachposten, welche die verlassene jüdische Habe außerhalb des Ghettos bewachten (OD-Kommandant Miller); Aufrechterhaltung der Ordnung 232 Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 233 ANKr 29/SAKr/966 K 138/49. 234 Ebd. 235 Ebd.

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innerhalb des Ghettos (OD-Kommandant Bienenstock); Transport jüdischen Besitzes zu den Sammelstellen. Letzteres war der Zuständigkeitsbereich des besagten OD-Kommandanten Wilhelm Lerner. Hauptkommandant sei ein Dissler, sein Stellvertreter Wassermann (Vornamen unbekannt) gewesen.236 Die Hauptaufgabe Lerners war der Transport aller jüdischen Habe (Möbel, persönliche Sachen etc.) zu den Sammelstellen in der Czacki-Schule und der Kopernikus-Schule. Dies dauerte bis zum September  1943, also bis zur Liquidierung des Ghettos, an. Auch danach mussten die übrig gebliebenen Gegenstände eingesammelt werden, was wiederum Lerner übernahm.237 Weisungen habe der OD von den Vorsitzenden des Judenrats Volkmann und Lehrhaupt erhalten. Täglich habe Lerner Kontakt mit der Gestapo gehabt, die dem OD Befehle gab, auch in privaten Angelegenheiten. Oft handelte es sich darum, dass der OD jüdische Wertgegenstände und Besitz in die Wohnungen der Gestapo-Leute bringen sollte. Des Weiteren bekam der OD vom Judenrat Listen mit Namen von Jüdinnen und Juden, die zur Gestapo geführt werden mussten, zum Beispiel jene, die nicht zur Arbeit erschienen, jene, die mit Gold handelten etc. Lerner brachte diese Menschen in die Gestapo-Zentrale in der Urszulańska Straße 18–20, von wo aus sie nicht mehr zurückkehrten. Er nahm auch auf Weisung Volkmanns an „Razzien“ bei Jüdinnen und Juden teil, zum Beispiel bei illegalen Händlerinnen und Händlern. Er berichtete, dass Volkmann und Lehrhaupt eng mit der Gestapo kollaborierten, gab aber auch zu, dass er selbst fast täglich Meldungen an die Gestapo über die Situation im Ghetto abliefern sollte, zudem musste er über Lehrhaupt und Volkmann berichten.238 So wurden OD-Männer gezwungenermaßen zu Informanten der Gestapo. Lerner sagte weiterhin aus, dass der OD weder besondere Essensrationen noch eine bessere Bezahlung bekam. Allerdings durfte sich der OD trotz des umzäunten Ghettos frei in der Stadt bewegen und sich daher Essen besorgen. Ein OD-Mann lebte, so Lerner, faktisch vom Schmuggel, er musste keine kör­perliche Arbeit leisten und hatte eine bessere Wohnung zugeteilt bekommen. Lerner, zuständig für die Transporte der jüdischen Habe, hatte darüber hinaus Zugang zu begehrten Dingen und verkaufte diese. Diese Veräußerungen inten­sivierte Lerner besonders nach der Liquidierung des Ghettos im September 1943. Ein großes Privileg war, dass die unmittelbare Familie der OD-Männer zunächst bei den Aussiedlungen verschont blieb. Sie war 236 Während der Name „Dissler“ (schlecht leserlich) in der Akte von Lerner auftaucht und sonst nicht verzeichnet ist, erwähnt Abraham Chomet auch Wasserman (ohne Vornamen) – Chomet: Zagłada, S. 14. 237 ANKr 29/SAKr/966 K 138/49. 238 Ebd.

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sozusagen Faustpfand und Geisel dieser Situation. Die Frau und der Sohn von Lerner überlebten bis zur Liquidierung des Ghettos. Doch während der Liquidierung im September 1943 wurde der Sohn von Lerner in die Gaskammern von Auschwitz-Birkenau deportiert und die Frau ins Zwangsarbeitslager Płaszów. Sie überlebte den Krieg. Die Mutter von Wilhelm Lerner war allerdings bereits im September 1942 in den Tod geschickt worden. Über die eigene Rolle während der „Aussiedlungen“ gab Lerner keine Auskunft, belastete aber seine Kollegen schwer, welche die Bunker verraten hätten.239 Mehreren Juden gelang die Flucht aus dem Ghetto, meistens brachen sie sich von Arbeitskolonnen los, die von einem OD-Mann zur Arbeit geführt wurden. Lerner selbst ließ, laut eigener Aussage, die Flüchtigen ziehen. Der Ordnungsdienst hatte den Auftrag von der Gestapo, Jüdinnen und Juden auf der „arischen“ Seite aufzuspüren und der Polizei zu melden. Lerner entlastete sich dahingehend selbst, berichtete aber von seinen Kollegen, die sehr wohl sich versteckende Jüdinnen und Juden oder jene mit „arischen“ Papieren aufspürten und verrieten. Diese wurden von der Gestapo wieder ins Ghetto zurückgebracht, im Hof des Gebäudes des Judenrats – so Lerner – erschossen und ihre Leichen verbrannt.240 Lerner blieb bis 1944 in Tarnów und wurde dann ins Zwangsarbeitslager Płaszów gebracht. Sein weiterer Weg führte über mehrere Konzentrationslager, bis er in Ebensee befreit wurde. Er fand seine Frau wieder und kehrte mit ihr noch 1945 nach Tarnów zurück. Dort wurde er verhaftet und ihm wurde der Prozess gemacht. Mehrere Ghetto-Überlebende, die zu dem Zeitpunkt noch in Tarnów lebten, sagten in dem Prozess aus und berichteten über die Grausamkeiten und Misshandlungen, die Lerner anderen Jüdinnen und Juden zugefügt hatte. Er wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt. Als er 1954 freikam, zog er nach Wrocław, wo er in den 1960er Jahren in der Verwaltung einer Produktionsgenossenschaft arbeitete, wieder heiratete und mit seiner neuen Frau noch ein Kind bekam.241 7.2.4 Selbstbehauptung und Widerstand/Amidah Angesichts der ausweglosen Situation der Jüdinnen und Juden im Ghetto organisierten sich Gruppen, die einen bewaffneten Widerstand planten. Nur bruchstückhafte Informationen sind hierzu überliefert. Der Plan wurde nie in die Tat umgesetzt. In den Quellen findet sich ein Hinweis darauf, dass die im Ghetto verbliebenen Bundisten aktiv mit dem Untergrund der PPS 239 ANKr 29/SAKr/966 K 138/49. 240 Ebd. 241 Ebd.

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zusammenarbeiteten. Nach der ersten „Aktion“ und der Ghettoisierung der Jüdinnen und Juden im Juni 1942 soll der Bund, darunter Shlomo Sporn, Izaak Grünbaum und Usher Bleiweis, eine Großversammlung organisiert haben. Bleiweis saß vor dem Krieg dem Gewerkschaftsbund in Tarnów vor.242 Shlomo Sporn führte den Verein der in der Bekleidungsindustrie Beschäftigten an und war ebenso wie Grünbaum zwischen 1934–1939 Stadtrat für den Bund im Sozialistischen Klub. Alle drei Aktivisten des Bund waren also 1942 noch im Ghetto Tarnów und nahmen Kontakt zu jüdischen Organisationen in Warschau und Krakau, aber auch mit der PPS auf der „arischen“ Seite in Tarnów auf. Wie genau und mit wem diese Verbindungen zustande kamen, ist den Quellen nicht zu entnehmen. Auf der erwähnten Großversammlung 1942 im Tarnower Ghetto sollen sich laut Bleiweis 600 Menschen versammelt haben. Eine Resolution wurde verabschiedet, in welcher der verstärkte Waffenschmuggel ins Ghetto beschlossen wurde. Laut Bleiweis scheiterten diese Bemühungen letztlich aufgrund fehlender finanzieller Mittel. Hinzu kam, dass die meisten Aktivisten von der bereits im September 1942 stattfindenden zweiten „Aktion“ überrascht worden waren.243 Die Jugend der Vorkriegs-Ha-Shomer-ha-Tsa’ir,244 der jungen zionistischen Pioniere, versammelte sich im Ghetto um Josef Bruder und seine Frau Giza (née Gross), Josef Birken, „Kubcia“ Kupferberg und anderen.245 Sie nahmen Verbindung zu Untergrundgruppen im Ghetto in Krakau auf sowie zum polnischen Untergrund in Tarnów.246 Mit welchen Gruppen des polnischen Widerstands sie sich kontaktierten, wie Treffen, Kommunikation und die Zusammenarbeit mit diesem abliefen, dazu geben die Quellen keinerlei Auskunft. Zunächst konzentrierte sich die Gruppe der jungen „szomry“ – wie es in der „verpolnischten“ Variante von Ha-Shomer hieß  – darauf, den Ghettoinsassen zur Flucht zur verhelfen. Sie fälschten „arische“ Papiere im Ghetto und organisierten mit den polnischen Helfenden von außerhalb Fluchtwege nach Ungarn.247 Zu der Gruppe gehörten neben den oben erwähnten 242 Siehe dazu Kapitel 1.1 „Arbeitswelten“. 243 Załącznik do listu U.  Bleiweisa do CK Bundu w Warszawie [ohne Datum], AAN/1214: Ogólno żydowski Związek Robotniczy Bund w Polsce 1900–1948/30/IV/2, t. 6: Korespondencja z Tarnowem, 1945–1949, S. 21. 244 Zur Jugendorganisation der Ha-Shomer ha-Tsa’ir im Allgemeinen siehe Silber: Ha-Shomer ha-Tsa’ir. 245 Birken, Józef: Udział szomrów tarnowskich w ruchu oporu. In: Mosty, April  1947, Zeitungsauschnitt aufbewahrt in: ANKr. Odd. T.  33/226: Waria/60: Organizacje młodzieżowe, S. 27. 246 Ebd.; Borensztajn-Rus: Zikhroynes, S. 258–259. 247 Birken, Józef: Udział szomrów tarnowskich w ruchu oporu. In: Mosty, April  1947, Zeitungsauschnitt aufbewahrt in: ANKr. Odd. T. 33/226: Waria/60: Organizacje młodzieżowe,

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Personen auch die „szomry“ Rywka Schussler und ihre Schwester, Chaskiel Krieger, Majlech Bienenstock, Rebhan, Straus (Vornamen unbekannt) und andere.248 Die Gruppe und ihre Verbindungen nach außen waren lose, oft brachen die Kontakte ab, da sie durch Verfolgung und immer wieder hereinbrechende „Aktionen“ behindert wurden.249 Neben der Beihilfe zur Flucht sammelten die „szomrowcy“ Waffen für einen möglichen bewaffneten Widerstand. Beim Schmuggel half der OD-Mann Smilek Springer, der für den Untergrund arbeitete und den Schmuggel über das Ghettotor organisierte.250 Bis zur Liquidierung des Ghettos im September 1943 hatten sie sieben Pistolen in ihren Besitz bringen können.251 Als die „Liquidierungsaktion“ begann, gelang es den Mitgliedern der Gruppe zu fliehen. Rund 20 km südlich von Tarnów, in den Tuchower Wäldern, machten sie ein Feuer und wurden von einem Förster verraten. Eine deutsche Einheit umkreiste die Gruppe und eröffnete das Feuer, einzig Kubcia Kupferberg und sein Bruder konnten sich retten und überlebten schließlich auch den Krieg.252 Der Plan von einem bewaffneten Aufstand war gescheitert, doch die Haltung dieser jungen Menschen, die sich organisierten, um Widerstand gegen eine militärische Übermacht zu leisten, ist bemerkenswert. Trotz der Entschlossenheit dieser Gruppe konnte ihr Plan nicht verwirklicht werden, weil die von den deutschen Besatzern in die Praxis umgesetzte Vernichtungspolitik so schnell und „gründlich“ durchgeführt wurde, dass sie Gruppenbildungen, Kontakte und Untergrundaktivitäten wiederholt im Kern zerstörte. Für die Überlebenden waren diese widerständigen Aktivitäten äußerst wichtig, sie fanden entsprechend auch in beiden yizker bikhern Erwähnung.253 „Widerstand“ beschränkte sich in den Augen der Verfasserinnen und Verfasser jedoch nicht nur auf einen organisierten Untergrund, der Waffen schmuggelte.

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251 252 253

S. 27; Borensztajn-Rus: Zikhroynes, S. 259. Inwiefern sie hierbei beispielsweise mit den nichtjüdischen Drożdż-Brüdern in Verbindung standen, die Jüdinnen und Juden nach Ungarn schmuggelten, konnte nicht ermittelt werden. Zu der Hilfstätigkeit der Drożdż-Brüder siehe Kapitel 9 „Den Jüdinnen und Juden helfen“. Birken, Józef: Udział szomrów tarnowskich w ruchu oporu. In: Mosty, April  1947, Zeitungsauschnitt aufbewahrt in: ANKr. Odd. T.  33/226: Waria/60: Organizacje młodzieżowe, S. 27; Borensztajn-Rus: Zikhroynes, S. 259. Borensztajn-Rus: Zikhroynes, S. 258. Birken, Józef: Udział szomrów tarnowskich w ruchu oporu. In: Mosty, April  1947, Zeitungsauschnitt aufbewahrt in: ANKr. Odd. T. 33/226: Waria/60: Organizacje młodzieżowe, S.  27. Springer wurde schließlich von einem Sicherheitspolizisten beim Schmuggeln erwischt und erschossen. Ebd. Ebd.; Borensztajn-Rus: Zikhroynes, S. 258–259. Chomet: Zagłada Żydów w Tarnowie, S. 63–65; Borensztajn-Rus: Zikhroynes, S. 257–261.

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kapitel 7

Sehr wichtig war den Autorinnen und Autoren, unter „Widerstand“ auch die „heldenhafte“ Haltung Einzelner zu betonen.254 So hatte sich der junge Mann Micha Albin bei der zweiten „Aktion“ geweigert, auf dem Sammelpunkt niederzuknien. Er schlug einem Deutschen ins Gesicht und soll gerufen haben, jetzt könne dieser ihn erschießen, da er nun tatsächlich einen Grund haben würde. Albin wurde auf der Stelle erschossen, sein Verhalten aber von Zeitzeuginnen und -zeugen notiert, da er sich weigerte, den deutschen Besatzern zu gehorchen.255 Hela Borenshteyn-Rus berichtete über Väter, die nicht zuließen, dass ihre Kinder mitgenommen wurden. Sie erzählte auch die Geschichte der Estera Fleischer, die zweimal aus dem Transport nach Bełżec geflohen war, aber als sie letztlich verhaftet wurde, Selbstmord beging, um nicht in deutsche Hände zu fallen. Sie erinnerte an 40 Menschen, die sich in einem Bunker versteckten – als sie schließlich enttarnt wurden, eröffneten sie das Feuer, und es gelang ihnen, einige der Besatzer mit in den Tod zu reißen.256 Für die Überlebenden waren diese Haltungen bedeutend, auch wenn sie immer mit dem Tod endeten, denn so stellten sich Jüdinnen und Juden ihrer Entmenschlichung und massenhaften Ermordung entgegen. In der Forschungsliteratur zum Thema wurde seit den 1960er Jahren diskutiert, welches Spektrum von Handlungen als Widerstand betrachtet werden kann, ohne die Konturen des Begriffs zu verwischen, und ob jüdischen Opfern vor allem Passivität zugeschrieben werden kann oder soll.257 Diese Diskussion soll hier nicht wiederholt werden. In der vorliegenden Arbeit wird an mehreren Stellen die agency von Jüdinnen und Juden unterstrichen, die Eigeninitiative bei der Alimentation des Ghettos mit Essen durch Schmuggel und illegalen Handel. Im Kapitel 9 „Den Jüdinnen und Juden helfen“ wird wiederholt die Eigeninitiative von Jüdinnen und Juden bei der Planung und Durchführung von Überlebens- und Rettungsstrategien betont. In ihrer Studie zu Tarnów schlägt Melanie Hembera in Anlehnung an Yehuda Bauer den Begriff 254 Ich setze hier „heldenhaft“ in Anführungszeichen, da es sich um die Bewertung der Autorinnen und Autoren beider Texte handelt. Ob es nicht genauso heldenhaft war, die eigene Familie, beispielsweise die Gebrechlichen, in dem Transport nach Bełżec zu begleiten, mag ich mir nicht anmaßen zu beurteilen. 255 Chomet: Zagłada Żydów w Tarnowie, S. 57. 256 Borensztajn-Rus: Zikhroynes, S. 258–260. 257 Zur Diskussion von jüdischer Passivität/(fehlendem)Widerstand siehe in einer longuedurée-Perspektive Bauer: The Jewish Emergence from Powerlessness. 1968 fand eine Konferenz in Jerusalem über verschiedene Formen des Widerstands statt, auf der bereits der Begriff der Amidah verwendet wurde. Jewish Resistance During the  Holocaust: Proceedings of the Conference on Manifestations of Jewish Resistance. Jerusalem, April 7–11, 1968 (im Orig.: hak- Kinnûs li-Be’ayôt ha-’Amîdā  hay-Yehûdît bi-Teqûfat hašŠô’ā.) Jerusalem 1971.

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der Amidah vor.258 Amidah wird zunehmend auch in der deutschen Forschung verwendet, so machte ihn Andrea Löw in ihrer Studie zu Łódź fruchtbar und etablierte die Übersetzung des hebräischen Begriffs mit dem deutschen Wort der „Selbstbehauptung“. Amidah bezeichnet nach Bauer „unarmed and armed reactions intended to keep the community and its components going and to stand up to the existential threat posed by the German regime“.259 In ihrer Studie zu Tarnów subsumiert Hembera unter Amidah in Anlehnung an Bauer „Lebensmittelschmuggel, Opferbringen innerhalb des Familienbundes, kulturelle, pädagogische, religiöse und politische Aktivitäten sowie andere Handlungsformen, die auf eine Stärkung des Lebensmutes abzielen und ein Überleben des Individuums und des Kollektivs unter NS-Besatzung ermöglichen“.260 Hinzugefügt werden soll hier noch der Ausbau von Bunkern und Verstecken, was ebenfalls als widerständiges Verhalten gewertet werden kann. Ich stimme dahingehend mit Hembera überein, dass die unterschiedlichsten Formen des „Ungehorsams“ oder „Sich-Behauptens“ die Diversität der Reaktionen, Haltungen und Handlungen der jüdischen Menschen aufzeigen und daher als Formen der Amidah gewürdigt werden sollten. Ruta Sakowska schrieb in ihrem Buch zum Warschauer Ghetto über Formen des zivilen Widerstands, die sich zum Teil mit der Definition der Amidah überschneiden. Sie sah beispielsweise im heimlichen Unterrichten oder auch in den Aktivitäten der Oyneg-Shabes-Gruppe und dem Untergrundarchiv ein aktives sich Entgegensetzen gegen die von den deutschen Besatzern angestrebte Dekulturalisierung und die damit einhergehende Dehumanisierung der jüdischen Gemeinschaft.261 Zu Formen des zivilen Widerstands im Tarnower Ghetto wie Lernen oder Kulturveranstaltungen und deren Stellenwert schweigen die Quellen. Während die Überlebenden Sam Goetz und Elfriede Thierberger heimliches Unterrichten vor der Ghettobildung erwähnen, gibt es nach der Ghettoisierung keine Hinweise darauf.262 Ob es „tajne komplety“, also organisiertes heimliches Unterrichten wie zum Beispiel im Warschauer Ghetto, oder Vortragsreihen gab, ist nicht bekannt. Zur Kunst und zum Kulturleben innerhalb des Ghettos Tarnów habe ich keinerlei Informationen gefunden. Aus einer Befragung in der Nachkriegszeit über das religiöse Leben ist überliefert,

258 259 260 261 262

Hembera: Die Shoah, S. 154; Bauer: Death of the Shtetl, S. 6–8. Ebd., S. 7. Hembera: Die Shoah, S. 153–154. Sakowska: Menschen im Ghetto, S. 81–171. Goetz: I Never Saw My Face, S. 12; YVA, Department of the Righteous Among Nations, M.31/1179.

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kapitel 7

dass sich minyanim im Ghetto bildeten.263 Über die Religionsausübung im weiteren Sinne habe ich keine weiteren Quellen finden können. Als Erklärung für fehlende Quellen hierzu muss die Spezifik des Tarnower Ghettos in Betracht gezogen werden. Das Ghetto entstand bereits in der „zweiten Phase“ der Shoah, während der „Aktion Reinhardt“. Die Reaktion auf die physische Vernichtung, das Trauma um die verlorenen Nächsten und die Angst vor weiteren „Aktionen“ und willkürlichen Erschießungen beherrschten die Erinnerungen der Überlebenden. So kann es einerseits am Quellenbias liegen, dass keine Spuren von Kulturaktivitäten im weiteren Sinn zu finden sind. Andererseits gab es vielleicht auch keinen organisierten „zivilen Widerstand“ im Sinne der von Sakowska inkludierten Bildungs- und Kulturtätigkeiten im Tarnower Ghetto, sondern eher individuelle oder gemeinschaftliche Akte der Amidah, die aufs Überleben abzielten. Die Menschen im Tarnower Ghetto machten sich keine Illusionen mehr über den Vernichtungsplan der Nazis gegenüber den Judenheiten. Sie wussten, dass es um die massenhafte Ermordung von Jüdinnen und Juden ging. Die Anstrengungen der Ghettoinsassen konzentrierten sich von daher auf das Überleben: die Beschaffung von Lebensmitteln, den Ausbau von Bunkern, und einige planten die Flucht.264 Erschwerend kam noch hinzu, dass nur wenige Monate nach der Bildung des Ghettos zwei weitere „Aktionen“ im September und November  1942 folgten. Die Menschen lebten in einem „Zwischenzustand“ ständiger Angst. Jene, die sich organisierten, wie die „szomry“ oder die Bundisten, beklagten, dass Mitglieder, Kontakte und Verbindungen schnell abrissen, auch aufgrund der rasch aufeinanderfolgenden Mordaktionen. So wird deutlich, dass sich unter den Bedingungen, wie sie in Tarnów herrschten, kaum eine „Lebenswelt Ghetto“ etablieren konnte, genauso wenig wie organisierter ziviler Widerstand im Sinne Sakowskas. Einbruch: die dritte „Aktion“ Die dritte „Aktion“ erfolgte Mitte November  1942 und kostete 2500 bis 3000 Jüdinnen und Juden das Leben. Die Deportation ins Vernichtungslager Bełżec stand im Vordergrund, Erschießungen vor Ort fanden nicht mehr in dem 263 Ein Minjan wurde von Sicherheitspolizisten entdeckt und die dort betenden Juden bis auf einen, laut Quelle, erschossen. Von weiteren Quellen wird dies nicht bestätigt. Ankiety GKBZH w Polsce oraz Okręgowej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich w Warszawie, zebrane w latach 1968–1972. Ankiety dotyczące województwa krakowskiego VII pow. Tarnów – miasto IPN BU 2448/503, S. 517–518. 264 Wie schwierig es war, eine Flucht zu planen, welche Entscheidungen die Einzelnen dabei treffen mussten und über welche – seltenen – Ressourcen sie verfügen mussten, wird im Kapitel 9 „ Den Jüdinnen und Juden helfen“ besprochen.

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Ausmaß wie noch im Juni, zum Teil auch September  1942 statt. Die ersten Anzeichen einer neuerlich bevorstehenden „Aktion“ waren die Zusammenstellungen von Viehwaggons am Güterbahnhof, berichtete Leon Lesser.265 Wieder umstellte u.  a. die polnische Polizei das Ghetto.266 Viele versuchten sich zu verstecken. Aus den Erfahrungen der zweiten „Aktion“ lernend suchten jene, die die Möglichkeit hatten, einen Unterschlupf auf der „arischen“ Seite.267 Andere suchten Verstecke in Bunkern innerhalb des Ghettoareals.268 Die Gestapo sammelte wieder Menschen für den Abtransport und durchsuchte das Ghetto nach Bunkern mithilfe des polnischen Baudienstes und des OD.269 Zum Teil ging nun die Gestapo in Werkstätten außerhalb des Ghettos, in denen Jüdinnen und Juden arbeiteten, und führte die gesamte jüdische Belegschaft zum Transport, zum Teil fanden willkürliche Selektionen an den Arbeitsstellen statt.270 Der Transport mit ca.  2500 Jüdinnen und Juden fuhr zunächst nach Rzeszów, dort wurden weitere ca. 1500 jüdische Menschen in Waggons angeschlossen. Anschließend kam der Zug mit 4000 Menschen in Bełżec an, wo sie vergast wurden.271 Einigen gelang es, aus dem Transport zu fliehen – häufig kamen sie aber ins Ghetto zurück, weil sie sonst keinen Ort hatten, an dem sie sich verstecken konnten.272 Die Anzahl der in Tarnów nach der dritten „Aktion“ noch lebenden Jüdinnen und Juden fluktuierte stark, da Transporte aus Nowy Sącz, Brzesko, Dąbrowa Tarnowska und Tuchów in das hiesige Ghetto gebracht wurden. Eine Meldung des Untergrunds an die Delegatur der (Exil-) Regierung im Land gibt den Stand der jüdischen Bevölkerung in Tarnów für den 20. Januar 1943 mit 6000 an.273 Im Mai 1943 meldete die Kriminalpolizei Tarnów einen Bevölkerungsstand von

265 266 267 268 269 270 271 272 273

Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598. Chomet: Zagłada Żydów, S. 67. Siehe mehr dazu im Kapitel 9 „Den Jüdinnen und Juden helfen“. Bericht Estera Sybirska, AŻIH 301/2593; Bericht Halina Korniło, AŻIH 301/3228; Fudem, Gizela: Interview 7896, 23.10.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600. Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598. Hembera: Die Shoah, S. 204. Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598. Kwartalnik sprawozdań sytuacyjnych, Kwartal IV 1942 r. (stan na 20.01.1943), AAN 1325: Delegatura Rządu RP na Kraj 1940–1945/202/II/11 Meldunki terenowe, 1940–1942, S. 244. Hermann Blache gibt für das Jahr 1943 an, dass noch 1200 bis 2000 Menschen im Ghetto lebten. Die Zahlen scheinen jedoch wenig wahrscheinlich. Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache, Aussage des Verdächtigen, BAL B 162/2150.

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kapitel 7

ca.  7000.274 Für Juli 1943 meldete der polnische Untergrund die Anzahl von 5000 verbliebenen Jüdinnen und Juden im Tarnower Ghetto.275 Innerhalb eines halben Jahres blieben also lediglich um die 20  % der Jüdinnen und Juden in Tarnów „übrig“. Das Ghetto wurde erneut verkleinert und in einen A- und einen B-Bereich aufgeteilt, A für arbeitsfähige, wobei nun in Männer und Frauen aufgeteilt, und B für nicht arbeitende Jüdinnen und Juden sowie Kinder unter 12 Jahren.276 Dieses Vorgehen war auch in anderen Ghettos üblich, um künftige Selektionen zu erleichtern.277 Ab November  1942 wurde das Ghetto  A offiziell zu einem Zwangsarbeitslager umgewandelt, zu dessen kommissarischem Leiter ab dem 1.  Januar 1943 der äußerst brutale Hermann Blache ernannt wurde.278 Für die Zeit zwischen Januar und der „Liquidierung“ im September 1943 gibt es nur wenige Quellen zum Leben im Ghetto. 7.3

Der Zaun und die Beobachtenden – Interaktionsräume zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung während der Ghettozeit

In Tarnów gab es keine Ghettomauer im wörtlichen Sinn. Es gab Zäune an Zufahrtsstraßen, zuweilen markierten auch bestehende Gebäude die Ghettogrenze. Türen und Fenster der betreffenden Gebäude wurden dann mit Brettern zugenagelt. Aus den Quellen geht eindeutig hervor, dass der Ghettozaun rein physisch keine unüberwindbare Barriere darstellte. Bewacht wurde die Ghettogrenze von der Stadtpolizei (ein Synonym für die Schutzpolizei), die aus lediglich 15  Männern bestand.279 Da nicht genug Deutsche vor Ort waren, um diese Grenze durch strenge Kontrolle von außen durchzusetzen, bewachte vor allem die polnische, sogenannte Blaue Polizei das Ghetto.280 Im Ghetto selbst wachte der jüdische Ordnungsdienst über die Bewohnerinnen 274 Für Februar 1943 betrug der Stand 5967 Jüdinnen und Juden, angegeben bei Hembera: Die Shoah, S. 206. 275 Ref. Zeg. [Żegota]/IX: Informacja tygodniowa 30.06.1943; tabela: Główne skupienia ludności żydowskiej w Polsce przed wojną i szacunek obecnego stanu na koniec lipca 1943r, AAN: 1325: Delegatura Rządu RP na Kraj 1940–1945, 202/XV Rada Pomocy Żydom. 276 Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598. 277 Hembera: Die Shoah, S. 204. 278 Ebd., S. 204–205. Zu biografischen Angaben zu Hermann Blache siehe ebd., S. 205–207; BAL B 162/4695, Bl. 29. 279 Aussage Julius Strauß, Chef der Schutzpolizei, BAL B 162/2156, Bl.  2260; Curilla: Der Judenmord in Polen, S. 367. 280 Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598; Aussage Hermann Blache BAL B 162/2150.

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und Bewohner.281 Den Terror in und an den Grenzen des Ghettos verbreitete jedoch vor allem die Sicherheitspolizei – die Sicherheitspolizisten erschossen jede Nichtjüdin und jeden Nichtjuden, die Kontakt zum Ghetto aufnahmen. Doch die Anzahl der in Tarnów stationierten SiPo-Männer betrug um die 25–30 Menschen. In diesem Unterkapitel gehe ich der Frage nach, inwiefern die „Ghettomauer“ als Kontaktzone zwischen jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerung diente. Zudem soll herausgearbeitet werden, wer bzw. was auf welche Art und Weise diese Grenze überquerte. Was machte die räumliche rassistische Ordnung der deutschen Besatzer wirkmächtig und wer widersetzte sich (und wie) dieser Teilungsordnung? Schließlich gehe ich auf den Interaktionsraum in den Werkstätten ein, mit besonderer Berücksichtigung der Werkstatt von Władysław Ł., mit dem dieser Teil der Studie begann. 7.3.1 Am Zaun Die Essensrationen und die Verpflegung in den Großküchen reichten bei Weitem nicht für die Ghettobewohnerinnen und -bewohner aus. Sie waren darauf angewiesen, Lebensmittel auf illegalem Wege zu beschaffen. Die Lebensmittelversorgung des Ghettos hing stark von der Initiative und Aktivität der Jüdinnen und Juden selbst ab, die hierfür die Vorschriften der deutschen Besatzer verletzen mussten. Sie legten dabei in ihrem alltäglichen Überlebenskampf eine beachtliche agency an den Tag. Zugleich waren sie auf Kontakte und Handelsbeziehungen mit der nichtjüdischen Lokalbevölkerung angewiesen. Es gab drei Möglichkeiten, Essen ins Ghetto zu schmuggeln: 1) den Handel direkt am Zaun bzw. der Ghettogrenze; 2) die illegale Überquerung des Zauns, um selbst, ohne Armbinde, als vermeintliche/r Nichtjüdin/Nichtjude auf der „arischen“ Seite zu kaufen und zu verkaufen; 3) den Handel in den außerhalb des Ghettos liegenden Arbeitsstätten, die effektivste und wohl verbreitetste Methode.282 Auf dem Rückweg schleusten die Jüdinnen und Juden das Essen heimlich ins Ghetto, indem sie Lebensmittel zum Beispiel unter ihrer Kleidung versteckten. An den Toreingängen wurde jedoch kontrolliert. Wer beim Schmuggeln erwischt wurde, konnte mit dem Leben dafür bezahlen. Frau Biegeleisen wurde verdächtigt, ein Hühnchen ins Ghetto schmuggeln zu wollen. Sie wurde auf reinen Verdacht von einem Deutschen erschossen.283 281 Vgl. Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598. 282 Siehe dazu das Kapitel 7.3.3 „In den Werkstätten“. 283 Brief von Dorothea Taub, 20.03.1962, BAL B 162/2151. Sie gibt als Täter den Ghettokommandanten Hermann Blache an, er war aber zu der gegebenen Zeit noch nicht in Tarnów.

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kapitel 7

Doch nicht alle Menschen arbeiteten draußen und waren daher auf Hilfe ihrer Angehörigen  – sofern diese noch am Leben waren  – oder auf Mittelsmänner angewiesen. Samuel Goetz verkaufte seine Habe an Mittelsmänner, die sich durch den Handel mit nichtjüdischen Polinnen und Polen ihr Auskommen sicherten.284 Gizela Fudem berichtete, dass ältere Menschen meist nicht arbeiteten. Sie verkauften an Mittelsmänner alles, was man aus dem Ghetto schmuggeln konnte. Diese Mittler hatten Kontakte nach draußen zu nichtjüdischen Polinnen und Polen, an die sie die Sachen weiterverkauften. Gizela selbst konnte ihrem Großvater, der nach der „Novemberaktion“ im Bereich „B“ für „Arbeitsunfähige“ saß, zuweilen etwas Mehl hereinschmuggeln. Dabei erhielt sie Unterstützung von ihrer nichtjüdischen Freundin Gabriela, die sie noch aus Schulzeiten vor dem Krieg kannte.285 Kontakte zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung gab es auch direkt an den Zäunen. Gehandelt wurde mit Zucker, Milch, Eiern, Süßigkeiten.286 Rahel Klimek erinnerte sich an Bauersfrauen, die an die Ghettogrenze kamen.287 Auch Nachrichten wurden über den Bretterzaun ausgetauscht.288 Ein Augenzeuge berichtete von Post aus dem Ghetto.289 Der elfjährige Heinrich Schönker schrieb über den Handel am Ghettozaun Folgendes: „Ich sah Leute dort stehen und durch die Lücken im Zaun mit Menschen auf der arischen Seite sprechen. Als ich näherkam, konnte ich beobachten, wie Ghettobewohner Brot, Butter und Gemüse kauften. Eines der Bretter konnte man zur Seite schieben und die Lebensmittel durchreichen. Alles spielte sich in Windeseile ab.“290 Bald machte Heinrich Schönker ein Geschäft mit der „arischen“ Seite, er kaufte Zeitungen von einem Jungen über den Zaun und verkaufte sie im Ghetto zum doppelten Preis weiter. Die Menschen seien nach Nachrichten ausgehungert gewesen. Der doppelte Preis löste Verblüffung im Ghetto 284 Goetz: I Never Saw My Face, S. 43. 285 Gabriela Niedojadło und Gizela Grünberg kannten sich noch aus der Królowa-JadwigaGrundschule. Gabriela Niedojadło und ihre Mutter werden Gizela auch bei sich verstecken, mehr dazu im Kapitel über die Helfenden, Kapitel  9.3.2 „Netzwerke aus der Schule“; Fudem, Gizela: Interview 7896, 23.10.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 286 Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa YVA Tr. 10/777; Hembera: Die Shoah, S. 234. 287 Klimek, Rahel: Interview, 24.05.2013, Ramat HaSharon, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. 288 Ankiety GKBZH w Polsce oraz Okręgowej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich w Warszawie, zebrane w latach 1968–1972. Ankiety dotyczące województwa krakowskiego VII pow. Tarnów miasto IPN BU 2448/503, S. 563–564. 289 Hembera: Die Shoah, S. 226. 290 Schönker: Ich war acht, S. 121.

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aus, denn er erwies sich als „viel billiger“ als bei den anderen Zeitungsjungen. Für das verdiente Geld kaufte Heinrich Schönker dann Brot und Butter und versorgte so die Familie. Beim ersten Handel über den Zaun wurde Heinrich allerdings betrogen. In dem großen Butterklumpen, den er erworben hatte, steckte eine Kohlrübe, die mit Butter bestrichen war.291 Erwischten Sicherheitspolizisten Jüdinnen/Juden sowie Nichtjüdinnen/Nichtjuden, die am Ghettozaun Kontakt hatten, schossen sie sofort. Mehrere Berichte über Todesopfer sind überliefert.292 Die ethnischen Polinnen und Polen am Ghettozaun begaben sich also ebenfalls in Todesgefahr, um zu handeln. Kam es möglicherweise zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise auf dem Schwarzmarkt durch den Bau des Ghettozauns? Leider können über die Preislage beim Handel zwischen jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerung anhand der Quellenlage keine gesicherten Aussagen getroffen werden. Es bleiben nur Vermutungen: Die Situation zwischen Ghetto und „arischer“ Seite war sehr asymmetrisch. Versorgungsknappheit herrschte überall, auch für die nichtjüdischen Polinnen und Polen war es schwer, sich ausreichend mit Essen zu versorgen. Die Ghettoinsassen wurden jedoch gezielt mangelnder Verpflegung ausgesetzt und in ihrer Bewegungsfreiheit und ihren Kontaktmöglichkeiten äußerst eingeschränkt. Ihr schieres Überleben hing von dem Handel mit der „arischen“ Seite ab. Über diese verzweifelte Lage waren sich die nichtjüdischen Polinnen und Polen bewusst. Sie setzten jedoch ebenfalls ihr eigenes Leben aufs Spiel, um mit Jüdinnen und Juden am Zaun zu handeln. Kosteten diese Umstände ihren Preis? Der Überlebende Leon Lesser äußerte sich dazu, wie teuer die illegale Lebensmittelbeschaffung war: „Im Allgemeinen herrschte Hunger, weil die Preise für die mit großer Mühe geschmuggelten Lebensmittel sehr hoch waren und die Menschen kein Geld hatten.“293 Es ist jedoch erstaunlich, dass die Überlebenden nicht häufiger über rasante Teuerungen nach dem Bau des Ghettozauns berichteten. Ein Grund dafür könnte sein, dass Tarnów ein semi-geschlossenes Ghetto hatte und der Handel über die außerhalb des Ghettos gelegenen Arbeitsstellen weiterlaufen konnte. Die relative Durchlässigkeit des Ghettos könnte also Kontakte, Handel und Essensversorgung entscheidend geprägt haben. Weitere Forschungen zu Ghettos in der Provinz könnten hierzu sicherlich noch mehr Aufschluss geben. 291 Ebd., S. 121–123. 292 Ankiety GKBZH w Polsce oraz Okręgowej Komisji Badania Zbrodni Hitlerowskich w Warszawie, zebrane w latach 1968–1972. Ankiety dotyczące województwa krakowskiego VII pow. Tarnów miasto IPN BU 2448/503, S. 563–564; Zeugenaussage Teofila Enke, geb. Barbachen, BAL B 162/2151, Bl.  97–976; Aussage Zeuge Elias Glanz, Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa YVA Tr. 10/777. 293 Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598.

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7.3.2 Über den Zaun – auf der „arischen“ Seite Einige Jüdinnen und Juden gingen selbst illegal aus dem Ghetto heraus, streiften die Armbinde mit dem Davidstern ab und versuchten als Nichtjüdinnen/ Nichtjuden Essen zu beschaffen. Józef Mansdorf war damals elf Jahre alt. Er verließ häufig – ebenso wie seine Schwester – illegal das Ghetto, kaufte Butter, Eier, Speck. Zuweilen schmuggelte er Miederware heraus und tauschte sie gegen Essen. Später handelte er auch mit Zigaretten auf der „arischen“ Seite. Einige Male geriet er in brenzlige Situationen, ein polnischer Polizist schoss auf ihn, doch mit viel Glück und Geschick konnte er sich jedes Mal retten.294 Józef Mansdorf berichtete, dass er das Ghetto meistens mit der Arbeitskolonne verließ, seine Armbinde mit dem Davidstern abstreifte und sich in einem günstigen Moment von der Kolonne entfernte. Auf demselben Weg – indem er sich wieder einer Arbeitskolonne anschloss – gelangte er ins Ghetto zurück.295 Jakub Vogel dagegen organisierte eine „Bande“ aus vier jüdischen Männern, die nachts Koffer voller Sachen aus dem Ghetto schmuggelten, um sie dann auf der „arischen“ Seite den Polinnen und Polen zu verkaufen.296 Doch nicht nur Handel war ein Grund, um aus dem Ghetto zu gehen. Einige versteckten sich auf der „arischen“ Seite, kamen aber bei Hindernissen oder Gefahren ins Ghetto zurück. Ein anderer Junge aus Tarnów, der ca. 8-jährige Emil Seidenweg, verließ 1942 das Ghetto mit seiner Großmutter. Zu dem Zeitpunkt waren seine Eltern und sein Bruder bereits ermordet worden. Sie versteckten sich bei einem polnischen Bauern auf einem Dorf. Dieser verlangte Geld und bekam eine große Summe. Als die Nachricht zu kursieren begann, dass auf einem Hof in der Umgebung ein ethnischer Pole für das Verstecken von Juden erschossen wurde, schickte der Bauer Emil mit seiner Großmutter wieder fort. Weil sie keine andere Versteckmöglichkeit hatten und auch kein Geld mehr, gingen sie zurück ins Tarnower Ghetto. Dort überlebte Emil die zweite „Aktion“, bevor er einen erneuten Versuch unternahm, auf die „arische“ Seite zu gehen. Dabei verließ er das Ghetto mit einer Arbeitskolonne. Emil Seidenweg wird schließlich den Krieg in der Nähe von Warschau mithilfe einer Polin überleben.297

294 295 296 297

Bericht Józef Mansdorf, AŻIH 301/570. Ebd. Bericht Jakub Vogel, AŻIH 301/5788. Bericht Emil Seidenweg, AŻIH 301/4031. Auf dem Lande in der Nähe von Warschau wanderte er von einem Bauern zum nächsten, da er immer wieder Gefahren ausweichen musste. Emil verriet den Helfenden nicht, dass er jüdisch war. Schließlich ahnte einer der „Beherberger“, dass der Junge ein Jude war, und wollte ihn an die Gestapo verraten. Die anderen Bauern waren es jedoch, die ihn davon überzeugten, dass es sich nicht mehr

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Samuel Grünkaut ging mit seiner Arbeitskolonne früh morgens zu Drainagearbeiten aus dem Ghetto heraus. Als er sah, dass das Ghetto von außen bereits umstellt war, ahnte er, dass dies den Beginn der nächsten „Aktion“ verhieß. Er floh von der Arbeitsstätte und versteckte sich bei Bäuerinnen und Bauern im Umland. Es ergaben sich aber keine langfristigen Versteckmöglichkeiten. Nach einigen Tagen, als die „Aktion“ vorbei war, kehrte er wieder ins Ghetto zurück.298 Dawid Fromowicz verließ das Ghetto Tarnów mehrmals, um in den Wäldern Schutz zu finden. Nach der dritten „Aktion“ im November 1942 ging er mit einer Gruppe von 14  Menschen, darunter seiner Frau, aus dem geschlossenen Bezirk. Beide gingen schließlich ins Ghetto zurück, weil es zu gefährlich wurde. Anfang 1943 unternahmen sie einen erneuten Fluchtversuch, gingen aber im April  1943 wieder ins Ghetto zurück.299 Auch Gizela Fudem ging aus dem Ghetto und überlebte dadurch eine der „Aktionen“. Da sie trotz falscher Papiere keine sichere Bleibe und Arbeit fand, entschied sie sich, ins Ghetto zurückzukehren.300 Maciej Bleifeld, vermutlich der Bruder von Srul Bleifeld, der mit den von Marian H. besorgten falschen Papieren bei Władysław Ł. arbeitete, versteckte sich während der zweiten „Aktion“ einige Tag lang bei Władysław Gulkowski. Danach kehrte er wieder ins Ghetto zurück und wurde bei der dritten „Aktion“ getötet.301 Jüdinnen und Juden suchten also nach kurzzeitigen Versteckmöglichkeiten während besonders gefährlicher Verdichtungsmomente der Gewalt und des Mordens, wie es die „Aussiedlungsaktionen“ waren. Daraus ergaben sich aber nicht zwangsläufig langfristige Verstecke, sodass viele dann ins Ghetto zurückkehrten. Zuweilen gingen auch nichtjüdische Polinnen und Polen ins Ghetto. Es sei hier an die Raubeskapaden von Nichtjüdinnen und Nichtjuden erinnert.302 Andere gingen hinein, um zu handeln. Eine Zeugin und ein Zeuge sagten aus, dass Wilhelm Rommelmann zwei ethnische Polinnen erschoss, die im Ghetto mit „Produkten“ erwischt wurden.303 Israel Baicher erinnerte sich, dass seine Mutter Kleidungsstücke an Polen, die im Ghetto handelten,

298 299 300 301 302 303

lohne, da bald die Rote Armee anrücken werde. Tatsächlich sah Emil einige Tage später sowjetische Soldaten. Aussage Samuel Grünkraut, BAL B 162/2150. Bericht Dawid Fromowicz, AŻIH 301/4055; seine weitere Geschichte wird im Kapitel 9.4.2 „Tarnower Jüdinnen und Juden außerhalb Tarnóws“ erneut aufgegriffen. Fudem, Gizela: Interview 7896, 23.10.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). Gulkowski: Wspomnienia okupacyjne. Mit freundlicher Genehmigung von Władysław Gulkowski Junior, dem Enkel des Verfassers. Vgl. Kapitel 7.1.1 „Die Hälfte der Stadt und ihre Dinge – der Raub jüdischen Eigentums“. Aussage Rahela Brogenicht, Oysforshung opteyl der DP Police jidisher cetrale Landsberg, Abschrift in BAL B 162/746, Bl. 355–356; Hirsch Buch bestätigte einen solchen Vorfall, BAL

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kapitel 7

verkaufte.304 Stefania Grzebyk kam nicht aus Tarnów, sondern aus Monasterzyska in Ostgalizien. Ihr Bruder erzählte nach dem Krieg, dass sie nach Tarnów fuhr, um jüdischen Freundinnen und Freunden zu helfen. Sie schlich sich ins Ghetto und streifte sich die Armbinde mit dem Davidstern über. Sie half mehreren Familien und schmuggelte sie schließlich aus dem Ghetto.305 Nichtjüdinnen und Nichtjuden übertraten zuweilen also auch die von den Deutschen gezogene sozial-räumliche Grenze.306 Die Ehefrau eines deutschen Mitarbeiters der Zivilverwaltung, Elfriede Wedekind, sagte aus, dass sie eine jüdische Schneiderin im Ghetto hatte, zu der sie ging.307 Aus den Quellen geht eindeutig hervor, dass der Ghettozaun zumindest rein physisch keine unüberwindbare Barriere darstellte. Jene, die zum Handel hinausgingen oder Verstecke organisieren wollten, verließen das Ghetto. Wenn es also nicht die physische Barriere war, die Jüdinnen und Juden davon abhielt, auf die „arische“ Seite zu gehen, was machte die räumliche Grenzziehung der deutschen Besatzungsordnung dann so wirksam? Mit anderen Worten, warum überquerten nicht noch mehr Jüdinnen und Juden den Zaun und flohen aus dem Ghetto, wenn sie doch seit der ersten „Aktion“ wussten, dass die Deutschen massenweise Jüdinnen und Juden töteten? Warum kamen sie sogar wieder ins Ghetto zurück, obwohl sie um die sich wiederholenden „Aktionen“ und willkürlichen Erschießungen im Ghetto wussten? Zuallererst machten die deutschen bewaffneten Vollstrecker und ihre Helfenden von der Blauen Polizei diese Ordnung wirksam. Es war unter Todesstrafe verboten, das Ghetto unerlaubt zu verlassen bzw. als Nichtjüdin bzw. Nichtjude das Ghetto zu betreten. Die Todesstrafe wurde durch die Sicherheitspolizei mehrmals vollstreckt. Die Brutalität der Sicherheitspolizei verbreitete Terror  – alle Ghettobewohnerinnen und -bewohner wussten, dass sie außerhalb des Ghettos ihr Leben aufs Spiel setzten. Andererseits ging die Sicherheitspolizei auch auf willkürliche Menschenjagd ins Ghetto, worüber die Augenzeuginnen und -zeugen häufig berichteten. Nicht nur die Präsenz der deutschen Besatzer barg ein Risiko, sondern auch das nichtjüdische polnische Umfeld. Die ethnischen Polinnen und Polen konnten Jüdinnen oder Juden auf der „arischen“ Seite erkennen und sie

304 305 306 307

B 162/2151. Ob die Zeugen denselben Vorfall beschrieben oder zwei verschiedene Vorfälle, ist im Nachhinein nicht mehr feststellbar. Baicher, Israel: Interview 16493, 25.06.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). Grzebyk, Stanisław: Interview 35406, 26.08.1997. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 11.04.2021). YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/3490. Aussage Elfriede Wedekind, BAL B 162/2150.

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denunzieren, was gleichbedeutend mit dem Tod war. „Die polnische Gesellschaft schaute gleichgültig darauf. Viele Polen gingen herum, besonders zwölf-, dreizehnjährige Jungen, so bis 20 Jahre alt, und zeigten den Deutschen auf den Straßen: ‚Du Jude‘“, berichtete Leon Lesser.308 Ob diese Haltung lokaler Nichtjuden tatsächlich als „Gleichgültigkeit“ bezeichnet werden kann, lässt sich aus heutiger, retrospektiver Sicht bezweifeln. Auffällig ist aber, dass in Lessers Nachkriegsbericht das Topos der „gleichgültigen Zuschauer“ mit dem Akt des Denunzierens zu einem verschmolz. Im Weiteren werde ich darauf zurückkommen.309 Auch der erfahrene Schmuggler Józef Mansdorf erzählte, wie ihn zwei andere Kinder, die er aus Vorkriegszeiten kannte, auf der „arischen“ Seite erkannten und ihn zur Polizei bringen wollten. Regina Bienenstock sind ebenfalls die „Jude, Jude“-Rufe ethnischer Polinnen und Polen im Gedächtnis haften geblieben.310 Die Deutschen hätten eine Jüdin bzw. einen Juden gar nicht erkennen können, erinnerte sich Israel Baicher: „The Poles recognized us because they lived with Jews. A German soldier never knew.“311 Dieselbe Einschätzung teilte Blanka Goldman: „Obwohl viele Deutsche Juden nicht erkannten, lieferten viele Polen Juden an die Gestapo aus.“312 Als Emil Seidenweg, damals selbst acht Jahre, auf seiner Odyssee im Wald bei Tarnów umherirrte, traf er eine Gruppe von Kindern, die sofort losschrien: „Jude!“. Emil ohrfeigte einen von ihnen und rannte weg.313 Lila Wider, deren Vater Opfer der AB-Aktion wurde, verließ mit ihrer Mutter das Ghetto. Es sei einfach gewesen. Sie hatten jeweils einen kleinen Koffer dabei und einen Hut aufgesetzt. „Es schien uns, dass die Leute außerhalb des Ghettos sich so kleideten.“314 Sie gingen ein Stück zu Fuß, bis ein Bauer von einem Fuhrwerk ihnen hinterherrief: „Jüdinnen sind aus dem Ghetto geflohen.“315 Sala Affenkraut aus Tarnów brachte es wie folgt auf den Punkt: „We couldn’t even run because the Poles would give us out and how many did they give out. The ones that did run. Yes.“316 308 Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598. 309 Siehe Kapitel 10 „Zur Rolle nichtjüdischer Polinnen und Polen während der Shoah – ein Fazit“. 310 Bienenstock, Regina: Interview 33388, 19.09.1997. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 11.04.2021). 311 Baicher, Israel: Interview 16493, 25.06.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 312 Bericht Blanka Goldmann, AŻIH 301/2059. 313 Bericht Emil Seidenweg, AŻIH 301/4031. 314 Bericht Lila Wider YVA O.3/3516. 315 Ebd. 316 Bericht Sala Affenkraut, YVA O.3/5541.

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kapitel 7

Der Ghettozaun an sich stellte physisch keine unüberwindbare Grenze dar. Die Schutzpolizei stellte rund 15–20 Männer und die Sicherheitspolizei rund 20–30 Männer zu der Zeit in Tarnów.317 Da sich bei Weitem nicht genug Deutsche in Tarnów befanden, um das Ghetto rund um die Uhr abzuriegeln und alle Jüdinnen und Juden aufzugreifen, die sich ohne Armbinde auf der „arischen“ Seite aufhielten, waren sie auf Hinweise aus der Bevölkerung angewiesen.318 Warum nicht mehr Jüdinnen und Juden diese Grenzziehung überschritten, hing letztlich mit dem nichtjüdischen Umfeld zusammen. Wie oft Jüdinnen und Juden von ethnischen Polinnen oder Polen erkannt wurden, die laut riefen und somit die Menschen in Lebensgefahr brachten, zeigten die obigen Beispiele. Es reichte, wenn nur ein Mensch, den die Fliehenden auf ihrem Weg trafen, laut „Jude!“ ausrief, um sie in Todesgefahr zu bringen. Doch die Rufenden und Fingerzeigenden wähnten sich gesellschaftlich akzeptiert, sie waren präsenter als jene nichtjüdischen Polinnen und Polen, die sich entschieden hatten zu schweigen, sich wegzudrehen oder nicht zu reagieren. Jan Karski zeichnete in Bezug auf das Ghetto in Warschau, welches allerdings eine hohe Mauer besaß, folgendes Bild. In einem Interview, das er ein Jahr vor seinem Tod gab, sagte er: Es war einfach, in das Ghetto zu gehen, heute weiß das niemand mehr. Hunderte von Kindern gingen aus dem Ghetto heraus, um auf den Straßen Warschaus zu betteln, um zu handeln, um etwas Zwiebel zu bekommen, und kehrten dann zurück. Es war nicht so schwer herauszugehen und zurückzukehren. Es war für die Juden aus anderen Gründen schwer. Er musste nur zwei Worte sagen und da wussten sie schon, dass es ein Jude war. Und wenn nun ein Jude es geschafft hatte, aus dem Ghetto zu fliehen, was dann? Soll er jemanden zufällig auf der Straße ansprechen: „Werter Herr, ich bin Jude, lassen Sie mich bei Ihnen übernachten?“ Dann sagen die doch: „Du dreckiger Jude!“ oder „Lassen Sie mich in Ruhe!“ Ganz Warschau war ein Ghetto. Ganz Polen war ein Ghetto. Und der Akzent oder das Aussehen.319

Denn außerhalb des Ghettos waren Jüdinnen und Juden ständig der Gefahr ausgesetzt, von nichtjüdischen Polinnen und Polen erkannt und denunziert zu werden (aufgrund ihrer Aussprache im Polnischen oder ihres Aussehens). Die Kulturwissenschaftlerin Elżbieta Janicka unterstrich  – unter anderem in Bezug auf den oben zitierten Auszug aus Karskis Interview  – daher den 317 Vgl. Kapitel 5.1 „Die Präsenz der deutschen Besatzer in der Stadt“. 318 Darüber, dass die Deutschen Jüdinnen und Juden ohne Armbinde nicht erkannten, aber nichtjüdische Polinnen und Polen sie denunzierten, berichtete beispielsweise Blanka Goldman, AŻIH 301/2059. 319 Karski, Jan: Widziałem. In: Gazeta Wyborcza, 02./03.10.1999, S. 15.

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performativen Charakter der Ghettogrenze:320 Der „omnipräsente und allsehende Blick des polnischen Wächters“, schrieb sie, konnte ganz Polen zu einer tödlichen Falle machen.321 „Aufgrund dieses Mechanismus brauchte das Ghetto keine Mauern. […] Die teilnehmenden Beobachter riefen […] den Ausgeschlossenen ihr Jüdischsein ins Bewusstsein, wie wenn man jemanden zur Ordnung ruft.“322 Es war die deutsche Besatzungsordnung, zu der die ethnischen Polinnen und Polen die verfolgten Jüdinnen und Juden riefen. Doch dass der Platz der Jüdinnen und Juden außerhalb des „Wir“-Kollektivs war, das war ein Versatzstück des polnisch-nationalistischen Imaginariums vor dem Krieg. Die „wachsamen Blicke“ der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung machten die Ghettogrenze erst so wirksam. Gewissermaßen, so der Historiker Jan Grabowski, trugen alle Jüdinnen und Juden das in Ghetto in sich.323 Janicka betonte aus diesem Grund die Synergieeffekte der nationalsozialistischen Ordnung im lokalen polnischen soziokulturellen Kontext  – diese baute auf langlebige antisemitische Ressentiments und Verhaltensweisen der nichtjüdischen polnischen Lokalbevölkerung und verstärkte diese zugleich.324 Der performative Charakter der Ghettogrenze war den Jüdinnen und Juden aus Tarnów sehr bewusst. Halina Korniło berichtete, wie es ihr aufgrund ihres „guten Aussehens“ gelang, das Ghetto endgültig zu verlassen. Auf dem Weg zum Bahnhof sei es ihre größte Sorge gewesen, einen Bekannten zu treffen, der sie hätte verraten können.325 Allen einheimischen Jüdinnen und Juden war klar, dass sie sich, ausgestattet mit falschen Papieren, auf keinen Fall in Tarnów „an der Oberfläche“, also im Alltag, frei bewegen konnten. Zu groß war das Risiko, jemandem zu begegnen, der ihre wahre Identität kannte. Für die Jüdinnen und Juden waren die Besatzer mit ihren Uniformen, ihrer Brutalität und ihrem Vernichtungsplan von Anfang an als Täter erkennbar. Aber wie groß musste ihre Enttäuschung über das Verhalten der nichtjüdischen Nachbarinnen und Nachbarn, Bekannten oder Geschäftspartnerinnen und -partner sein. „Juden fühlten sich umzingelt, ohne Unterstützung, ohne Hilfe, ohne Sympathie“, berichtete Leon Lesser.326 Die Entscheidung, das Ghetto zu verlassen, hing sehr stark davon ab, wie jüdische Ghettoinsassen das nichtjüdische Umfeld einschätzten. Wem konnten sie vertrauen? Wie mussten sie sich „draußen“ geben? Wie groß war die Chance, eine Vorstadtbekanntschaft zu treffen? 320 321 322 323 324 325 326

Janicka: Pamięć przyswojona, S. 162. Ebd., S. 163. Ebd., S. 160. Grabowski: Na Posterunku, S. 104. Janicka: Pamięć przyswojona, S. 163. Bericht Halina Korniło, AŻIH 301/3228. Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598.

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kapitel 7

Welche Ressourcen besaßen sie (Geld, gutes Aussehen, akzentfreies Polnisch etc.)? Die Entscheidung, das Ghetto zu verlassen, war somit ein relationaler Akt, in dem sich die Beziehung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Polinnen und Polen manifestierte. Wobei das Wort Beziehung hier missverständlich ist, da es eine Symmetrie suggeriert. Tatsächlich konnte das Gefälle zwischen nichtjüdischen und jüdischen Tarnowianerinnen bzw. Tarnowianern kaum größer sein. Naftali Fuss, der dem Tarnower Ghetto entfloh, fasste dies wie folgt zusammen: Ich hatte mich noch immer nicht daran gewöhnt, dass die Polen, unter denen wir viele Generationen lang gelebt hatten, sich ebenfalls in Jagdhunde verwandelt hatten. […] Auch sie hatten unter der Naziherrschaft zu leiden und wurden unmenschlich und grausam behandelt. Zehntausende junger Polen kamen in dem Krieg und in den Kellern der Gestapo um, Hunderttausende wurde in Arbeitslager verschickt. Und trotzdem fanden sie, inmitten ihres tagtäglichen Leidens, noch Interesse und Zeit, Juden den Nazis auszuliefern, den Unterdrückern ihres eigenen Volkes. Ich wollte und konnte nicht glauben, dass ihr Judenhass dermaßen stark war.327

In der historischen Forschung zur Einschätzung der Rolle der nichtjüdischen Polinnen und Polen wird häufig das Argument vorgebracht, dass man keinen Heroismus von Menschen, besonders unter Gewaltherrschaft, verlangen könne. Nur eine kleine Minderheit der ethnischen Polinnen und Polen halfen Jüdinnen und Juden. Die, die es taten, setzten ihr eigenes Leben und das ihrer Nächsten aufs Spiel.328 Doch an den oben genannten Beispielen wird deutlich, dass sich nicht wenige nichtjüdische Polinnen und Polen fanden, die Jüdinnen und Juden ihre Überlebenswege erschwerten. Sie hinderten oder störten sie daran, sich zu verstecken, Hilfe zu bekommen und damit zu überleben. Ihre Anzahl war groß genug, damit sich Jüdinnen und Juden vor der „arischen“ Seite fürchteten: Nicht primär aus Angst, einem Deutschen zu begegnen und sofort als „Jüdin/Jude“ identifiziert zu werden  – denn in einigen ruralen Regionen war die deutsche Präsenz im Alltag nur relativ gering. Die Angst der Jüdinnen und Juden bestand im Alltag vor allem darin, von einer nichtjüdischen Polin oder einem Polen erkannt und den deutschen Besatzern ausgeliefert zu werden. Sie hatten Angst vor dem überwachenden Blick ihrer einstigen Schulfreundinnen und -freunde, Nachbarinnen und Nachbarn sowie Bekannten und vor ihrem Ausruf: „Jüdin!/Jude!“ Auch nichtjüdischen Polinnen und Polen war die Macht, die sie durch ihre Fähigkeit zum „Erkennen“ und das damit verbundene „Wissen“ hatten, durchaus bewusst. Es oblag ihnen, zu entscheiden, 327 Fuss: Als ein anderer leben, S. 91–92. 328 Vgl. Kapitel 9 „Den Jüdinnen und Juden helfen“.

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wie sie mit ihrem Wissen über falsche Identitäten und versteckte Menschen umgingen – passiv bleiben konnten sie jedenfalls nicht. Das illustriert eine aus heutiger Sicht absurd klingende Begebenheit, von der Mieczysław Mariański berichtete: Nach dem Krieg, als ich Überlebende aus Tarnów traf, hörte ich hier und da, dass ein gewisser Fahrer namens Staszek sich rühmte, mich während deutscher Besatzung gerettet zu haben. Ich begegnete ihm eines Tages und wollte von ihm hören, auf welcher Grundlage er diese Phantasterei behauptete. „Wie denn?“, fragte er ehrlich erstaunt. „Erinnerst du dich denn nicht, wie oft ich dich in Tarnów getroffen habe, selbst dann, als es keine Juden mehr in der Stadt gab? Aber ich habe dich nicht an die Deutschen denunziert.“ Das war also die Rettung, der er sich rühmte. Diese kleine Geschichte bestätigte meine subjektive Theorie: Wenn einige Polen uns nicht hätten sehen wollen – uns, also diejenigen Juden, die sich bereits auf der arischen Seite eingerichtet hatten, wie viele mehr hätten dann die Besatzung überlebt. Vielleicht hatte Staszek also gewissermaßen recht, er hätte mich doch verraten können …329

Dieses Beispiel zeigt, wie sehr die Bevölkerung in einen von den Deutschen induzierten malignen sozialen Prozess einbezogen war, auch wenn sich einzelne entschieden, nicht zu denunzieren. Das sich Wegdrehen, Überlebenswege nicht aktiv zu verhindern, glich also beinah schon einer „Rettung“. Dieses soziale System funktionierte nur durch die deutschen Besatzer. Ohne die NSVernichtungspolitik und -praxis gegenüber Jüdinnen und Juden wären solche Konstellationen unter der Lokalbevölkerung nicht möglich gewesen. Doch sie fußten zugleich auf antisemitischen Einstellungen, welche die Jüdinnen und Juden außerhalb des „Wir-Kollektivs“ verorteten. 7.3.3 In den Werkstätten Cesia Honig verließ das Ghetto täglich, wie viele andere Jüdinnen und Juden auch. Sie war in der Werkstatt von Władysław Ł., der zu Beginn des Kapitels als Helfer und Gestapoinformant dargestellt wurde, beschäftigt. In den Betrieben arbeiteten Jüdinnen und Juden mit nichtjüdischen Tarnowianerinnen und Tarnowianern zusammen. „We mingled with the Poles“, beschrieb es Cesia Honig.330 Der Arbeitsplatz wurde zu einem bedeutsamen Ort der Interaktion zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung während der Ghettozeit. Hier wurde mit Lebensmitteln gehandelt, hier nahmen Jüdinnen und 329 Mariańscy: Wśród przyjaciół, S. 11–12; Jan Grabowski machte diesen Fall bekannt durch seinen Artikel „W sprawie Zagłady Polska Gola!“, in: Gazeta Wyborcza, 26./27.04.2014. 330 Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021).

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Abbildung 62 Werkstatt und Sattlerei von Władysław Ł. Hier arbeiteten Jüdinnen/Juden und nichtjüdische Polinnen/Polen zusammen

Juden Kontakte mit ihren Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen auf, um Verstecke zu organisieren. Auch Cesia lernte ihren Retter in der Werkstatt von Władysław Ł. kennen. Während der Existenz des Ghettos unterlagen Jüdinnen und Juden weiterhin der Arbeitspflicht. Das jüdische Arbeitsamt wies den Jüdinnen und Juden Beschäftigungsstellen auf Direktive des deutschen Arbeitsamtes zu.331 Der Großteil der arbeitenden Jüdinnen und Juden war in Betrieben auf der „arischen“ Seite tätig.332 Sie verließen morgens in einer Kolonne, die vom OD 331 „Die Arbeitsstellen, die zum Teil außerhalb des Ghettos lagen, wurden den Juden durch das jüdische Arbeitsamt auf Weisung des deutschen Arbeitsamtes zugewiesen“, Prozess gegen Karl Oppermann und Gerald Gaa, YVA Tr.  10/777, S.  46. Das deckt sich mit den jüdischen Berichten, vgl. Bericht von Janina Schiff, AŻIH 301/201; Bericht von Halina Korniło, AŻIH 301/3228; Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; Melanie Hembera schreibt dazu: „obgleich die Arbeitsämter am 25. Juni 1942 offiziell ihre Zuständigkeit für den jüdischen Arbeitseinsatz an den SS- und Polizeiapparat abgegeben hatten, wurden in Tarnów dennoch bis Anfang September Arbeiter durch die Abteilung Judeneinsatz des Arbeitsamtes vermittelt“, Hembera: Die Shoah, S. 227. 332 Der Zeitzeuge Yacov Dornbusch schätzte, dass rund 80–90 % der Jüdinnen und Juden das Ghetto verließen. Bericht an die Zentrale Historische Kommission in München (in Jiddisch), YVA M.1.E/171; vgl. auch Hembera: Die Shoah, S. 228.

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bewacht wurde, das Ghetto.333 Am Nachmittag kehrten sie in Gruppen wieder zurück. Einige, wie beispielsweise Leon Lesser, hatten zunächst individuelle Passierscheine und durften auch allein das Ghetto verlassen, das war jedoch die Ausnahme.334 Manchmal war auch der Verwalter des Betriebs dabei und holte „seine“ Jüdinnen und Juden ab.335 Bis Mitte Dezember 1942 wurden jüdische Arbeiterinnen und Arbeiter entlohnt. Im Rundschreiben des SS- und Polizeiführers für den Distrikt bestimmte Julian Scherner, dass die jüdischen Arbeitskräfte ab 10. Dezember 1942 keinen Barlohn mehr erhalten durften.336 Es gab nur wenige Möglichkeiten innerhalb des Ghettos zu arbeiten, beispielsweise bei jüdischen Institutionen oder in kleineren Betrieben.337 Gleichzeitig wurde ein Teil der Jüdinnen und Juden auch zur Zwangsarbeit in Außenposten des Ghettos eingeteilt.338 Tarnów besaß vor dem Krieg eine beachtliche Kleidungsindustrie, größtenteils waren es jüdische Unternehmen, die unter deutscher Besatzung „arisiert“ und unter die Verwaltung eines deutschen oder polnischen Treuhänders gestellt wurden.339 Während des Krieges arbeiteten sowohl Jüdinnen und Juden sowie nichtjüdische Polinnen und Polen in diesen Werkstätten. Der ehemalige Besitzer der erfolgreichen Konfektionsfirma Gans  & Hochberger, die bis zum Kriegsausbruch Uniformen für die polnische Armee in großem Umfang produziert hatte, Emil Gans, war zu Beginn des Krieges nach Lwów geflohen. Nach dem Einmarsch der Deutschen in Lwów verlor sich seine Spur,

333 Aussage Samuel Grünkraut, BAL B 162/2150; Urteilsbegründung im Prozess gegen Walter Baach und Ernst Wunder, YVA Tr.  10/751; Urteilsbegründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777. 334 Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598. 335 Zeugenaussage Garnreich über den Verwalter der Firma Gans und Hochberger Władysław W., IPN Kr 502/232. 336 Hembera: Die Shoah, S. 228. 337 Ebd., S. 228. 338 Ebd., S. 227. Über Zwangsarbeit berichtete auch Leon Lesser, AŻIH 301/4598. 339 Zur Treuhandübernahme der einzelnen Betriebe in Tarnów gibt es nur wenige Akten im Handelsregister des Kreisgerichts Tarnów. Dort finden sich beispielsweise Akten zur Übernahme des Eisen- und Baumaterialhandels Zins  & Ehrlich, ANKr. Odd. T.  33/93 Sąd Okręgowy: Rejestr Handlowy/RHA180. Samuel Zins war über die gesamte Zweite Polnische Republik hinweg jüdischer Stadtrat, seit 1934 für das Pro-Regierungslager und ab 1936 Vorstand des abgespaltenen „jüdischen Klubs“. Tygodnik Żydowski, 20.03.1936; Tygodnik Żydowski, 08.05.1936; Tygodnik Żydowski, 16.02.1934, S. 2; Potępa: Przed Wojną, S.  17–18, 101–102. Samuel Zins wurde während der ersten Aktion umgebracht. Page of testimony, Yad Vashem  – Names Memorial Collection, Item ID: 7374163, online unter: https://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?language=en&itemId=7374163&ind=1 (letzter Zugriff: 16.12.2018).

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er wurde unter nicht näher bekannten Umständen ermordet.340 Sein Partner Józef Hochberger floh mit seiner Familie 1939 nach Lwów, sie kehrten aber bereits 1940 nach Tarnów zurück. Im Februar 1941 wurde die Konfektionsfirma Gans & Hochberger von der Kreishauptmannschaft Tarnów, Abteilung Wirtschaft, für „herrenlos“ erklärt. Als Treuhänder setzte die Treuhandaußenstelle Krakau den SS-Oberscharführer Leopold Sukatsch ein.341 Bald darauf verwaltete Sukatsch weitere jüdische Firmen in Tarnów, die im Verlauf des Jahres 1941 als „herrenlos“ deklariert wurden.342 Ab 1942 mussten Józef Hochberger und sein Sohn Mojżesz, mittlerweile als Ghettoinsassen, in einem Textilunternehmen arbeiten  – ob in dem ehemals eigenen Betrieb ist nicht bekannt.343 Zur gleichen Zeit, im Jahre 1942, übernahm Władysław W., ein ethnischer Pole, der beim Landrat Tarnów angestellt war, die Aufsicht über den Konfektionsbetrieb Gans  & Hochberger. Täglich kamen Kolonnen von 120 bis 250 Jüdinnen und Juden in den Betrieb, die Władysław W. vom Ghetto abholte. Laut Augenzeuginnen und -zeugen war er gewalttätig gegenüber den jüdischen Arbeitenden, schlug sie und verpfiff jene nichtjüdischen Polinnen und Polen an die Gestapo, die den Jüdinnen und Juden helfen wollten, indem sie ihnen beispielsweise Brot zusteckten.344 Auch Gizela Fudem berichtete, dass ihre gesamte Familie in ehemals jüdischen Konfektionsbetrieben arbeiten musste.345 Mordechai David Unger handelte vor dem Krieg mit dem ethnischen Polen Augustyn Dagnan zusammen. Letzterer betrieb eine große Mühle in Tarnów, ersterer vertrieb das Mehl an jüdische Bäckereien in der Stadt. Während der Ghettozeit musste Unger seinem ehemaligen Geschäftspartner Dagnan eine beträchtliche Summe Geld zahlen, um bei ihm angestellt zu werden, dort „Sklavenarbeit“ zu verrichten, aber dafür die begehrte Arbeitskarte zu erhalten.346 Kleinere Schneider- und Bekleidungsbetriebe wurden während der deut­ schen Besatzung zur Zentrale für Handwerkslieferungen (ZfH) zusammen340 Gans, Emil Mendel, geboren 1889 in Dębica, Page of testimony # 315583, Yad Vashem Archives – Digital Collection (letzter Zugriff: 15.05.2015). 341 Eintragung ins Handelsregister, ANKr. Odd. T.  33/93 Sąd Okręgowy: Rejestr Handlowy RHA 123, S. 14. 342 ANKr. Odd. T. 33/93/RHA 123. 343 Hochberger, Moris: Interview 11245, 23.01.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 07.10.2018), seg. 32. 344 Ermittlungsverfahren gegen Władysław W. wegen Kollaboration aufgrund des August­ dekrets, IPN Kr 502/232. 345 Fudem, Gizela: Interview 7896, 23.10.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 346 Über die „Sklavenarbeit“ seines Vaters berichtet der Sohn in Unger/Gammon: The Unwritten Diary, S. 9.

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gelegt. Diese Art Kombinat stand unter dem deutschen Verwalter Wagner. Hier arbeitete beispielsweise der damals 14-jährige Samuel Goetz, dessen Eltern bei der ersten „Aussiedlungsaktion“ ermordet wurden. Der junge Mann war in der Kürschnerei in der Goldhammerstraße angestellt, die nach dem ersten jüdischen Vizebürgermeister benannt war.347 Goetz’ ehemaliges Kindermädchen Tekla Nagórska brachte ihm Essen und etwas zum Handeln fürs Ghetto auf die Arbeit.348 Viele andere Betriebe fungierten weiterhin in Tarnów unter deutschen Treuhändern, hier herrschten oft unterschiedliche Arbeitsbedingungen und Konstellationen: Während beispielsweise der Verwalter der Dachpappenfabrik Papapol regelmäßig jüdische Arbeitende misshandelte, galt Julius Madritsch als der „Tarnower Oskar Schindler“.349 Die Arbeitsbedingungen waren insgesamt schwer, das Fernbleiben vom oder auch die kleinste Verfehlung am Arbeitsplatz wurden geahndet.350 Zum Teil kam es zu Erschießungen im Ghetto, wenn Arbeitende wegblieben.351 Die Arbeitskarten waren sehr begehrt. Spätestens nach der ersten „Aussiedlungsaktion“ war den Jüdinnen und Juden bewusst geworden, dass der „richtige“ Stempel oder eine Arbeitskarte das Leben retten konnten. Der Überlebende Yacov Dornbusch berichtete: „Bei der Registrierung [nach der ersten „Aktion“ – AW] strebte jeder danach, sich eine Arbeitsstelle zuweisen zu lassen. Viele ältere Menschen, Frauen und Kinder haben sich auch um eine Arbeit

347 Goetz: I Never Saw My Face, S. 43. 348 Ebd., S. 47. 349 Vgl. z. B. Selerowicz, Andrzej: Julius Madritsch, austriacki Schindler. In: Polityka, 12.03.2013, online unter: https://www.polityka.pl/tygodnikpolityka/historia/1537491,1,julius-madritschaustriacki-schindler.read (letzter Zugriff: 16.12.2018). Der aus Wien stammende Madritsch hatte als Treuhandverwalter zunächst einen ehemals jüdischen Betrieb in Krakau übernommen, in der zweiten Jahreshälfte 1942 eröffnete er dann eine Zweigstelle in Tarnów. Er schuf humane Arbeitsbedingungen, versorgte die Angestellten mit Mahlzeiten und verteilte Lebensmittel, ebenso Kleidung, Schuhwerk und Medikamente. Rund  500 Jüdinnen und Juden arbeiteten in seinem Betrieb in Tarnów. Wegen ihres Engagements für die Angestellten wurden Madritsch und sein Kollege, der Wiener Raimund Titsch, 1964 als Gerechte unter den Völkern von Yad Vashem geehrt. YVA, Dep. Righteous Among Nations,  M.31/21; Chomet/Korniło: Kristn – vos hobn geratevet tarner yidn, S.  302–312; Hembera: Die Shoah, S.  229–232. Zu Papapol siehe Bericht Oskar Hass, AŻIH 301/1111. Jüdinnen und Juden aus dem Ghetto arbeiteten nun auch in den Tarnower Bahnwerken „Ostbahn“ – hier wurden zum Teil auch die Jungen vom Baudienst eingesetzt –, bei der Montan (Rüstungsindustrie) sowie bei Hoch- und Tiefbau. Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600. 350 Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; vgl. auch Hembera: Die Shoah, S. 232. 351 Bericht Yacov Dornbuschs an die Zentrale Historische Kommission in München (in Jiddisch), YVA M.1.E/171; Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600.

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angestellt.“352 Da die Arbeitskarten so begehrt und lebenswichtig waren, blühte die Korruption. Dornbusch erinnerte sich, dass ein Arbeitsplatz 2000 bis 3000 Złoty kosten konnte.353 Ob dieses Geld an den Judenrat, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des jüdischen Arbeitsamtes, an die entsprechende Firma oder eine Kombination aus unterschiedlichen Stellen bezahlt werden musste, darüber schrieb der Zeitzeuge nichts. In der Lederwerkstatt von Władysław Ł. beispielsweise gab es fiktive Listen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Auf diesen Listen waren viel mehr Menschen (jüdische und nichtjüdische) verzeichnet, als dort tatsächlich arbeiteten. Sie alle konnten von daher die begehrten Arbeitskarten in einem kriegswichtigen Betrieb erhalten. Laut einem Zeugen ließ sich Władysław Ł. den Platz auf einer solchen fiktiven Liste nicht bezahlen.354 Die Werkstätten wurden zu wichtigen Interaktionsräumen, in denen sich seit der Ghettogründung jüdische und nichtjüdische Tarnowianerinnen und Tarnowianer treffen konnten, da sie meistens gemeinsam in den Betrieben arbeiteten. Diese Kontakte wurden primär dazu genutzt, um mit Lebensmitteln zu handeln. Mojżesz Hochberger, der Sohn des ehemaligen Firmenbesitzers von Gans & Hochberger, erinnerte sich, dass viele nichtjüdische Polinnen und Polen während der Arbeitszeit an die Seitenfenster der Werkstätten kamen, da der Haupteingang bewacht war, und durchs Fenster mit Eiern, Butter, Brot etc. handelten.355 Jüdinnen und Juden nahmen Wertgegenstände aus dem Ghetto mit hinaus, um zu handeln, und schmuggelten die Lebensmittelwaren wieder ins Ghetto hinein. Die Wachposten kontrollierten an den Ghettotoren  – erwischten sie Schmuggelnde, konnten diese mit dem Leben bezahlen. Aber bereits in den Betrieben wurde streng kontrolliert. Władysław W., Aufseher im Betrieb Gans  & Hochberger, wusste sehr genau, dass Jüdinnen und Juden Sachen zum Handeln aus dem Ghetto mitnahmen. Er nahm ihnen diese morgens ab und misshandelte die Beraubten.356 Bestand die Belegschaft der Stickstofffabrik in Mościce vor dem Krieg größtenteils aus Nichtjüdinnen und Nichtjuden, mussten während der Besatzung auch Ghettoinsassen hier arbeiten. In den Jahren 1942–1943 brachte der jüdische Ordnungsdienst rund 100 bis 200 Jüdinnen und Juden in den Betrieb. Es gehörte zum Alltagswissen 352 Bericht Yacov Dornbuschs an die Zentrale Historische Kommission in München, YVA M.1.E/171. 353 Ebd. 354 Zeugenaussage Zbigniew H., ANKr 29/SAKr 1051 K 313/50. 355 Hochberger, Moris: Interview 11245, 23.01.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 07.10.2018). 356 Zeugenaussage von Salomon Kamm sowie Garnreich im Ermittlungsverfahren wegen Kollaboration gegen Władysław W., IPN Kr. 502/232.

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in der Besatzungszeit, dass sie Ringe, Geld und Schmuck aus dem Ghetto mitbrachten, um mit den nichtjüdischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gegen Brot, Butter oder Eier zu tauschen. Dieses Wissen machten sich einige Polinnen und Polen zunutze. Der Betrieb besaß eine eigene Fabrikwache, die ein- bis dreimal die Woche willkürlich Revisionen durchführte, und Jüdinnen und Juden Schmuck oder Lebensmittel wegnahm. Der Chef der Fabrikwache soll 1944 von der Heimatarmee liquidiert worden sein.357 Die Kontakte mit nichtjüdischen Polinnen und Polen in den Arbeitsstätten außerhalb des Ghettos waren auch deshalb so (überlebens-)wichtig, da die Jüdinnen und Juden Bekanntschaften machten, die sich für das Organisieren von Verstecken oder „arischen“ Papieren als essenziell erwiesen. Als sich die Gerüchte um die nächste „Aussiedlung“ verdichteten, fragte Cesia Honig ihren nichtjüdischen Arbeitskollegen Zbyszek Mikowski im Betrieb von Władysław  Ł., ob er sie verstecken würde. Herr Rosner sprach aktiv seinen Kollegen in der „Ostbahn“ an, ob er seine Tochter Ester verstecken würde.358 Beide Bekanntschaften kamen erst während des Krieges in den Betrieben zustande und fußten nicht auf Vorkriegserfahrungen. Einen profunderen Einblick in den Interaktionsraum „Betriebe“ außerhalb des Ghettos erlaubt die Sattlerei und Lederwerkstatt von Władysław  Ł., mit dem dieser Teil des Buches begann. Er leitete den Betrieb seines Vaters Jan Ł., der zu der Zeit bereits schwer krank war. Während des Krieges beendete der Sohn die Meisterlehre und übernahm den Betrieb. Bei Władysław Ł. wurden rund 160 bis 375 Arbeiterinnen und Arbeiter geführt, davon waren knapp die Hälfte Jüdinnen und Juden, unter ihnen auch Cesia Honig.359 Die Zahlen der Arbeitenden variieren in den Zeitzeugenberichten, womöglich schwankten sie im Unternehmen zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Die Hälfte der Belegschaft konnte der Leiter selbst anstellen.360 Jüdinnen und Juden arbeiteten bei Władysław Ł. bis zum 2. September 1943, also bis zur Liquidierung des Ghettos.361 Nach der Aussage von Władysław Ł. holte sie meistens ein Mitarbeiter morgens gegen sieben oder acht Uhr aus dem Ghetto ab und brachte die Kolonne gegen 16 Uhr wieder zurück. Zuweilen fuhr Władysław Ł. selbst mit Gestapo-Leuten ins Ghetto, um „seine“ Jüdinnen und Juden zu holen. Dabei sei es für ihn ein Leichtes gewesen, Essen einzuschmuggeln, denn er habe die Wachposten an 357 Siehe mehrere Zeugenaussagen im Ermittlungsverfahren gegen ein Mitglied der Fabrikwache wegen Kollaboration aufgrund des Augustdekrets, IPN Kr. 502/232. 358 YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/3009. 359 Aussage Władysław Ł., 22.10.1945, Aussage Franciszek Kwistek, 26.11.1945, ANKr/SAKr/1051 K 313/50, S. 51. 360 Aussage Franciszek Kwistek 26.11.1945, ANKr/SAKr/1051 K 313/50, S. 51. 361 Bericht Marian H., AŻIH 301/580.

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kapitel 7

den Toren gekannt und brachte ihnen in seinem Betrieb gefertigte Geschenke mit.362 Die Jüdinnen und Juden in seinem Betrieb hätten 300 Złoty im Monat verdient und seien mit Mahlzeiten versorgt worden.363 Wie in anderen Betrieben auch, nutzten die Ghettoinsassen die Begegnungen im Betrieb, um mit Waren zu handeln. Als die beiden Sicherheitspolizisten Karl Oppermann und Jerzy Kastura einmal eine äußerst brutale Revision durchführten, griffen sie „eine Masse Hühner, Butter sowie andere Lebensmittel“ auf.364 Sie misshandelten die Jüdinnen und Juden. Um solche Revisionen zu vermeiden, gab Władysław Ł. in seinem Nachkriegsprozess wegen Kollaboration zu Protokoll, habe er mit den deutschen Polizisten getrunken und sie auf ein paar Gläser Wodka eingeladen.365 Obschon Władysław Ł. ein cholerischer Trinker war und gute Beziehungen zur Gestapo pflegte, half er den in seinem Betrieb angestellten Jüdinnen und Juden.366 Die Haltung von Władysław  Ł. gegenüber den Jüdinnen und Juden wurde zum Hauptargument der Verteidigung in seinem Nachkriegsprozess. Obwohl Władysław  Ł.  im  November  1946 aufgrund seiner Hilfe für die jüdischen Arbeitenden freigesprochen wurde, legte die Staatsanwaltschaft Berufung ein. In einem weiteren Prozess 1949/1950 wurde der Angeklagte zu 15 Jahren Haft wegen – so wörtlich – „Kollaboration“ verurteilt, mit einer damals außergewöhnlichen Begründung, dass er die tragische Position der Jüdinnen und Juden für den eigenen Profit ausgenutzt habe. Ich zitiere die Urteilsbegründung des damaligen Richters Witold Majewski aus dem Jahr 1950, da er noch ein weiteres Licht auf die Beziehungskonstellationen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Arbeitenden und den ethnisch polnischen Besitzern warf: Das Gericht spricht Władysław Ł[…] schuldig, dass er während der Hitlerischen Besatzung in Polen, als er die Produktionsabteilung des Sattlereibetriebs seines Vaters Jan  Ł[…] in Tarnów leitete, welche Waren für die Wehrmacht und die deutsche Polizei herstellte, die Arbeitskraft der von der Besatzungsmacht zur Arbeit in seinem Betrieb zugeteilten jüdischen Arbeiter ausbeutete. In dieser 362 Vernehmungsprotokoll von Władysław Ł.: 20. und 27.08.1948, ANKr/SAKr/1051 K 313/50, S. 165 und 167. 363 Aussage Władysław Ł., Protokół rozprawy głównej, 16.01.1950, ANKr/SAKr/1051 K 313/50, S. 210–216. Allerdings kann der von Władysław Ł. angegebene Verdienst nur bis Dezember 1942 ausgezahlt worden sein. Die Mahlzeiten und den Verdienst bestätigt ein weiterer Zeuge, Tadeusz Świerszczak, Protokół rozprawy głównej, 16.01.1950, ANKr/SAKr/1051 K 313/50, S. 210–216; die Entlohnung bestätigt Zbigniew H., er weiß aber nicht in welcher Höhe, Aussage Zbigniew  H.  Protokół rozprawy głównej, 16.01.1950, ANKr/SAKr/1051 K 313/50, S. 210–216. 364 Bericht Marian H., AŻIH 301/580. 365 Aussage Władysław Ł., 22.10.1945; dies bestätigen auch andere Zeugen: Marian H. 26.11.1945, und Abbe Schiffer, ANKr/SAKr/1051 K 313/50. 366 Vgl. Kapitel 4 „Das Fallbeispiel Marian H. und Władysław Ł. oder: Hinführung zum Thema“.

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Weise arbeitete er mit dem Besatzer zusammen, da er an der Verwirklichung des Vorhabens der sklavenmäßigen Ausbeutung polnischer Staatsbürger jüdischer Herkunft beteiligt war. […] Es ist eine Notorietät/Arbeitsrecht  G.G.  – Tarifrecht/, dass sie [die jüdischen Arbeitenden  – AW] nach den von deutschen Machthabern festgesetzten Standards entlohnt wurden, was absolut unter dem Wert ihrer Arbeitskraft lag. Ausgehend von den herrschenden Produktionsverhältnissen der kapitalistischen Wirtschaft erübrigt sich die Beweisführung, dass die Anstellung dieser Menschen unter dem Marktwert ihrer Arbeitskraft ihnen einen erheblichen Schaden zufügte. Dies konnte ausschließlich infolge des Zwangs stattfinden, dem sie sich aufgrund der Besetzung ausgesetzt sahen. Sich auf die Umstände zu berufen, nämlich dass die Anstellung von Juden sie vor der Vernichtung rettete und dass sie sich selbst um die Arbeit bemühten, ist als Argument nicht hinnehmbar und grenzt an Zynismus [Hervorhebung – AW]. Juden waren in der Situation eines Menschen, der versucht, dem Moment der unausweichlichen Vernichtung zu entrinnen, und deswegen kann in ihrem Handeln von keinerlei Freiheit die Rede sein. Der Angeklagte jedoch stellte Juden in seinem Betrieb natürlich deswegen ein, um eine größere Gewinnmarge zu erzielen. Dieser höhere Profit bestand aus der Differenz des Wertes der Arbeitskraft von formal freien Menschen und des Wertes der Arbeitskraft von Juden, die jeglicher Rechte beraubt waren und die versuchten, ihr Leben zu retten. All das erzielte der Angeklagte deswegen, da sein Betrieb unmittelbar für die deutsche Kriegsindustrie produzierte. […] [Der Angeklagte] handelte zum Schaden von Juden, polnischen Staatsbürgern, indem er sie in der oben beschriebenen Weise ausbeutete, und er ging dem Besatzer zur Hand, indem er Waren für Armee und Polizei lieferte, er arbeitete mit diesen an der sklavenmäßigen Ausbeutung der Juden zusammen, die einer programmatischen rassistischen Diskriminierung unterworfen waren. […] Der Angeklagte tat all dies vorsätzlich – zweifellos war er sich bewusst, dass die in seinem Betrieb angestellten Juden schlechter bezahlt werden als die polnischen Arbeiter, die weiterhin in Freiheit lebten, und dass sie sich mit der Sachlage ausschließlich deswegen zufriedengeben mussten, da sie von dem deutschen Besatzer jeglicher Rechte beraubt waren. Von ihrer nicht entlohnten Arbeit profitierten der Besatzer und der Unternehmer, zusätzlich kommt hinzu, dass die Ausführung der Lieferung unmittelbar dem Nutzen der Armee und der Polizei diente. […] Die Kollaboration des Angeklagten mit dem Besatzer war nicht Folge von außergewöhnlichen Umständen, die auf die nationale Moral des Angeklagten besonderen Druck ausgeübt hätten, ganz im Gegenteil: Sie war die konsequente Fortführung der faschistischen Gesinnung des Angeklagten aus der Vorkriegszeit.367

Die Urteilsbegründung des Richters Majewski ist von der Sprechweise der neuen polnischen Machthaber im Jahr 1950 gefärbt. Auch geht er mehrmals auf die nationalistische Vergangenheit von Władysław Ł. ein und stellt sie in ein Kontinuum mit seinem Verhalten während des Krieges. Sein bemerkenswertes Kernargument besteht jedoch darin, dass die ethnisch polnischen Unternehmer sich bereits der Zusammenarbeit mit dem deutschen Besatzer 367 Urteilsbegründung vom 16.01.1950, ANKr/SAKr 1051 K 313/50, S. 228–231.

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kapitel 7

Abbildung 63 Werkstatt und Sattlerei von Władysław Ł.

schuldig machten, ja der Kollaboration, wenn sie jüdische Arbeitende einstellten und diese schlechter bezahlten als die nichtjüdischen. Dabei, so die Argumentation des Richters, würden sie sich mit dem Besatzer gemein machen, indem sie die Ausbeutung von Jüdinnen und Juden mittragen würden. Zusätzlich machten sie durch diese „sklavenmäßige Ausbeutung“ selbst Profit. Erschwerend kam bei Władysław Ł. hinzu, dass er für die deutsche Wehrmacht und Polizei produzierte. Der Richter machte in seiner Urteilsbegründung auf die extreme Lage der Jüdinnen und Juden aufmerksam, die keinerlei Wahlfreiheit hatten und alles tun mussten, um ihr schieres Überleben wenigstens zu verlängern. Damit waren sie in einer gänzlich anderen Situation als die nichtjüdischen Polinnen und Polen. Das machten sich einige polnische Unternehmer zunutze. Das von den deutschen Besatzern induzierte Gefälle zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Tarnower Bevölkerung tritt in diesem Zitat sehr deutlich hervor. Zugleich hebt es ein der Besatzungsstruktur immanentes Paradoxon innerhalb der Lokalgesellschaften hervor  – dass diejenigen, die ausbeuteten, zugleich auch halfen (durch die Ermöglichung des Erwerbs der Arbeitskarte für Jüdinnen und Juden etc.) oder umgekehrt, dass diejenigen, die halfen, auch davon profitieren konnten. Die Urteilsbegründung weist eine ungeheure Empathie gegenüber den Jüdinnen und Juden als gesondert verfolgte Gruppe auf und verurteilt jedwede Ausnutzung dieser Situation durch ethnische Polinnen und Polen. Zugleich verortet der Richter Jüdinnen und Juden im „Wir“Kollektiv, indem er wiederholt von „polnischen Staatsbürgern“ spricht. Dieses Urteil hielt aber der nächsten Berufungsinstanz nicht Stand, die Władysław Ł.

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von der Anklage wegen Kollaboration freisprach und dies mit seiner einigen Jüdinnen und Juden gegenüber erwiesenen Hilfe begründete.368 7.4

„Liquidierung“ des Ghettos

Die letzten verbliebenen Ghettos im Distrikt Krakau lagen in Bochnia, Tarnów, Rzeszów und Przemyśl. Insgesamt lebten hier im Sommer 1943 noch rund 20 000 Jüdinnen und Juden.369 Diese Ghettos wurden in den ersten Tagen des Septembers 1943 alle auf ähnliche Weise „liquidiert“: Eine kleine Minderheit wurde als „arbeitsfähig“ eingestuft und ins KZ Płaszów oder in kleinere Lager deportiert, die Mehrzahl aber kam in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau oder wurde vor Ort ermordet.370 Am  2. September  1943 begann die „Liquidierung“ des Tarnower Ghettos, die auch als „Aktion Judenrein“ von mehreren Zeugen betitelt wurde.371 Die Leitung oblag dem SS-Hauptsturmführer Amon Göth (1908–1946), Komman­ dant des Konzentrationslagers Płaszów, der zu dem Zweck nach Tarnów reiste.372 Gegen vier Uhr morgens wurde das Ghetto von SS und Gestapo, Gendarmerie, Tarnower Polizeieinheiten, Sonderdienst und lettischen SSEinheiten umstellt.373 Die Jüdinnen und Juden aus Tarnów mussten sich wieder am Magdeburger Platz aufstellen. Jene aus dem Ghetto  B („nicht arbeitsfähig“) standen ungeordnet, während jene aus dem Ghetto A („arbeitsfähig“) sich auf dem Platz je nach den Betrieben, in denen sie angestellt waren, gruppieren mussten. Jede Gruppe hielt Schilder mit dem Namen des Betriebs hoch.374 So erinnerte sich Gizela Fudem, dass sie in der Gruppe der Madritsch-Schneiderinnen und -Schneider stand, die nach Płaszów deportiert wurde, während alle jüdischen Angestellten des ZfH nach Auschwitz-Birkenau kamen.375

368 369 370 371 372 373 374

ANKr/SAKr 1051 K 313/50. Libionka: Zagłada Żydów, S. 207. Ebd. Zeugenaussagen in Ermittlungen gegen Hermann Blache, BAL B 162/2151. Siehe auch Blumental (Hg.): Proces ludobójcy Amona Leopolda Goetha. Bericht Samuel Grünkraut, AŻIH 301/1090; Aussage Samuel Grünkraut, BAL B 162/2150. Urteilsbegründung im Prozess gegen Walter Baach und Ernst Wunder, YVA Tr.  10/757, S. 100. 375 Fudem, Gizela: Interview 7896, 23.10.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). Über die Aufstellung nach Betrieben und die Transporte entweder nach Auschwitz oder nach Płaszów oder aber auch in kleinere Lager, siehe Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; Bericht Samuel Grünkraut, AŻIH 301/1090; Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598.

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Bereits im Vorfeld soll festgelegt worden sein, wie viele Menschen überleben und wie viele in den Tod geschickt werden sollten.376 Ein Aufräumkommando von 100 Jüdinnen und 200 Juden sollte in Tarnów verbleiben, 2000 Menschen in das KZ Płaszów deportiert und 4000 weitere zur Tötung ins Konzentrationsund Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau gebracht werden.377 Zunächst wurden auf dem Magdeburger Platz  300 Jüdinnen und Juden für das Aufräumkommando ausgegliedert, sie wurden auf das umzäunte Gelände der Singer’schen Kistenfabrik gebracht.378 Im Verlauf des zweiten und dritten Septembers sollen insgesamt 6000 Jüdinnen und Juden auf den Magdeburger Platz gebracht worden sein, wo sie selektiert und entweder weiter nach Płaszów oder ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau kamen. Die Überlebenden berichteten, wie bis zu 200  Menschen in Viehwaggons gepfercht wurden, viele überlebten den Transport nicht.379 Nur jene, die aus dem überfüllten Zug fliehen konnten, berichteten darüber.380 Alle anderen, es handelte sich schätzungsweise um ca. 4000 Menschen, sind nach der Ankunft im KZ- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau vermutlich sofort in die Gaskammern geschickt worden.381 Eltern, die zum Transport ins KZ Płaszów vorgesehen waren, versteckten ihre Kinder unter Mänteln oder in Rucksäcken. Einige wurden jedoch enttarnt und unweit des Magdeburger Platzes erschossen.382 Es kam zu Gewaltexzessen vor Ort – die entdeckten Kinder wurden von Hermann Blache grausam ermordet, und Amon Göth veranstaltete Erschießungen, bis er sich Schüsseln mit Wasser geben ließ, um das Blut seiner Opfer von Händen und Kleidung abzuwaschen.383 Bei der „Liquidierungsaktion“ wurden auch 376 Urteilsbegründung im Prozess gegen Walter Baach und Ernst Wunder, YVA Tr.  10/757, S. 99–100. 377 Ebd., S. 99–100. 378 Ebd., S. 100. 379 Bericht Samuel Grünkraut, AŻIH 301/1090; Aussage Samuel Grünkraut im Verfahren gegen Hermann Blache, BAL B 162/2150; Bericht Erna Landau, AŻIH 301/1591. 380 Samuel Grünkraut berichtete, wie er und einige andere aus dem Zug fliehen konnten und nach Tarnów zurückkehrten. „Niestety Tarnów już był Judenfrei“, Bericht Samuel Grünkraut, AŻIH 301/1090. 381 Urteilsbegründung im Prozess gegen Walter Baach und Ernst Wunder, YVA Tr.  10/757, S. 101. 382 Bericht Samuel Grünkraut, AŻIH 301/1090; Aussage Józef Korniło im Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache und Josef Palten, BAL B 162/2150; Urteilsbegründung im Prozess gegen Walter Baach und Ernst Wunder, YVA Tr.  10/757, S.  100; Fudem, Gizela: Interview 7896, 23.10.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021); Bericht Erna Landau, AŻIH 301/1591. 383 Aussage Józef Korniło im Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache und Josef Palten, BAL B 162/2150; Aussage Erna Glück im Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache

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alle verbliebenen Patientinnen und Patienten des Jüdischen Spitals vor Ort erschossen.384 Korniło schätzte, dass am 2. und 3.  September  1943 um die 800 Menschen vor Ort ermordet wurden.385 Diese Zahl wird aber von keiner anderen Quelle bestätigt. Einem Bericht einer polnischen Untergrundzeitung zufolge sollen Jüdinnen und Juden mit Äxten und Handgranaten Widerstand geleistet haben.386 Allerdings berichteten die Augenzeuginnen und -zeugen nicht von solchen Handlungen. Im Ghetto versteckten sich die Menschen weiterhin in den Bunkern, die Gestapo durchsuchte das Ghettogelände mithilfe des polnischen Baudienstes, der die Menschen zur Deportation brachte.387 Die deutschen Einheiten, wie SS, Gestapo und Gendarmerie, erschossen die Aufgefundenen an Ort und Stelle.388 Noch Tage nach der Liquidierung wurde weiter nach Bunkern gesucht.389 Leon Lesser gehörte zu den 300 Jüdinnen und Juden des Aufräumkommandos, die nach der „Liquidierung“ in Tarnów verblieben sind.390 Nach dem Krieg erinnerte er sich: „Die Handvoll Juden, die wir noch geblieben waren, räumte im leeren, ausgestorbenen Ghetto auf. Wir wohnten in zwei Häusern, die den Rest des jüdischen Bezirks ausmachten.“391 Diese letzten Jüdinnen und Juden Tarnóws wurden in den Häusern am Magdeburger Platz zusammengefasst. Dieses „Gebiet“ hieß nun nicht mehr Ghetto, sondern „Arbeitslager Tarnów“. Der Kommandant war Hermann Blache, ihm unterstand Philip Kessler, der eine kleinere Einheit ukrainischer Hilfswilliger anführte (18 Mann, es

384 385 386 387 388 389 390 391

und Josef Palten, BAL B 162/2150, Bl. 1050; Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598; Bericht Erna Landau, AŻIH 301/1591: „Nach getaner Arbeit brachte man Göth aus der Ambulanzstation eine Schüssel Wasser, in der er seine Hände wusch. Ich sah, wie sich das Wasser rot verfärbte, und man musste ihm die Kleidung vom Blut reinwaschen.“ Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; Urteilsbegründung im Prozess gegen Walter Baach und Ernst Wunder, YVA Tr. 10/757, S. 101. Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600. Hembera: Die Shoah, S. 266–267. Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598; Bericht Erna Landau, AŻIH 301/1591; Bericht Gizela Beller, AŻIH 301/2040, zitiert nach Grabowski: Judenjagd, S. 236–242, die Stelle zum Baudienst: S. 238. Urteilsbegründung im Prozess gegen Walter Baach und Ernst Wunder, YVA Tr.  10/757, S. 102; Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598. Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598. Vgl. auch Bericht Samuel Grünkraut, AŻIH 301/1090; Józef Korniło, AŻIH 301/4600. Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598.

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handelte sich um Volksdeutsche oder womöglich Trawniki-Männer).392 Diese hatte den Auftrag, das „Arbeitslager“ zu bewachen.393 Zu den Aufgaben des „Aufräumkommandos“, auch „Säuberungskolonne“ genannt, gehörte, die leeren Werkstätten und Häuser nach zurückgelassener Habe zu durchsuchen und diese zu sortieren. Die Gegenstände wurden in zwei großen Lagerräumen gesammelt und anschließend zum Bahnhof gebracht und in einem Güterzug wegtransportiert.394 Beinahe täglich mussten die Jüdinnen und Juden des Aufräumkommandos zum Appell antreten und Wertgegenstände abgeben, stichprobenartige Leibesvisitationen waren an der Tagesordnung.395 Viele hundert Menschen, die die „Ghettoliquidierung“ in Bunkern überlebt hatten, verließen nun nach und nach ihre Verstecke. Józef Korniło vom Aufräumkommando erinnerte sich: „Nach der vierten Aktion [der Liquidierung  – AW] tauchten diese Menschen in immer größerer Zahl auf, weil sie Wasser und Lebensmittel benötigten.“396 Sie schlossen sich dann oft dem „Aufräumkommando“ an. Korniło berichtete, dass der Kommandant Hermann Blache bemerkte, dass die Anzahl von Jüdinnen und Juden am Appellplatz stetig stieg. Er habe nochmals das Ghettoareal durchsuchen lassen und insgesamt 700 Menschen verhaftet. Noch im September  1943 schickte er sie in Lastwagen unter Bewachung ukrainischer Wachmannschaften ins Zwangsarbeitslager Szebnie. Nur 120 Menschen sollen von diesen Transporten in Szebnie angekommen sein, während der Rest in Wäldern um Szebnie erschossen worden sein soll.397 Im Oktober 1943 wurden weitere 90 bis 100 Personen aus den Bunkern herausgeholt und von Blache sowie den Sicherheitspolizisten Grunow und Jeck erschossen.398 Im Dezember 1943 soll das Aufräumkommando halbiert worden sein.399 Im Februar 1944 wurden die restlichen ca. 150 Jüdinnen und Juden ins KZ Płaszów gebracht.400 392 Aussage Philip Kessler im Verfahren gegen Hermann Blache, BAL B 162/2150; Hembera: Die Shoah, S. 268. 393 Aussage Philip Kessler im Verfahren gegen Hermann Blache, BAL B 162/2150. 394 Aussage Józef Korniło im Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache, BAL B 162/2150, Bl. 848. 395 Aussagen Beschuldigter Hermann Blache BAL B 162/2150. 396 Aussage Józef Korniło im Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache und Josef Palten, BAL B 162/2150, Bl. 848 ff. 397 Ebd. 398 Ebd. 399 Ebd. 400 Hembera: Die Shoah, S. 271. Hembera spricht von 115 verbliebenen Jüdinnen und Juden, Korniło von 140, Aussage Józef Korniło im Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache, BAL B 162/2150, Bl. 848 ff.

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Die nichtjüdische Tarnower Bevölkerung beteiligte sich zum Teil am „Aufräumen“ des Ghettoareals. Dies geschah teilweise offiziell. So nahm auch Stefan M., ein Mitarbeiter der Kreishauptmannschaft, mit einigen Frauen an der „Säuberung“ des Ghettos teil – sie sollten die Wohnungen leeren, Möbel, Wäsche und Kleidung aus den Wohnungen herausholen, selbst einstecken durften sie dabei nichts. Zum Teil soll aber Stefan M. bei marktähnlichen, öffentlichen Veräußerungen des ehemals jüdischen Guts mitgewirkt haben.401 Teilweise nahm die lokale polnische Bevölkerung das Ghetto in Eigenregie regelrecht auseinander. Vermutlich begann dies erst nach dem Abzug der deutschen Truppen im Januar 1945. Bis heute ist das Ausmaß der Verwüstung im Stadtbild sichtbar. Während das alte Tarnów kaum zerstört ist, sind auf dem Areal des ehemaligen Ghettos/Grabówka fast nur Neubauten zu sehen. Bereits 1947 vermeldete das UBP (Urząd Bezpieczeństwa Publicznego/Amt für öffentliche Sicherheit), dass Tarnów kaum zerstört worden sei, außer den Bahnanlagen und Bahnwerkstätten. Eine weitere Ausnahme bildete das Ghetto: „Die Zerstörungen der Häuser [im Ghetto – AW] habe sich neben dem Besatzer in großem Maße auch die lokale Bevölkerung zuschulden kommen lassen.“402 Allerdings befand sich das Areal des Ghettos in einem ärmlichen Viertel, in welchem die Häuser marode und nicht modernisiert waren. Zum Teil handelte es sich um Holzhäuser. 1954 schrieb Abraham Chomet, der letzte Vorsitzende der Vorkriegs-kehillah und Herausgeber des Tygodnik Żydowski, im yizker bukh: Noch heute kann man das ganze Ghetto-Areal erkennen. Als die Deutschen Tarnów verlassen haben, wurde das ehemalige Ghetto gründlich durch die Polen durchforscht, die verborgene jüdische Schätze suchten. Nur Ruinen und Skelette sind von den Gebäuden geblieben, in denen Juden während der Besatzung gelebt hatten.403

Adam Bartosz, seit den 1980er Jahren Direktor des Kreismuseums Tarnów, der sich intensiv mit der Vergangenheit des jüdischen Tarnóws auseinandersetzte, bestätigte, dass vermutlich nichtjüdische Polinnen und Polen zum Kriegsende hin das Ghetto auseinandergenommen haben. „Letztendlich haben wir das Ghetto-Areal mit unseren eigenen Händen zerstört“, sagte Bartosz.404 401 402 403 404

Anklage gegen Stefan M., IPN Kr 502/1918. Raport Sprawozdawczy UBP, 25.01.1947, IPN Kr 028/7, t.1. Chomet: Der umkum, S. 839. Bartosz, Adam: Interview, 16.03.2016, Tarnów, Polen, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska.

454

kapitel 7

Abbildung 64 Ruinen der neuen Synagoge und Reste des Ghettos nach dem Krieg, im Hintergrund die Mikwe

7.5

Opferzahlen der Shoah in Tarnów

Obwohl Rechnungen mit Menschenleben und Todeszahlen zynisch und makaber anmuten und zudem die Mikrohistorie eher individuelle Schicksale in den Blick nimmt, so ist eine Berechnung der Opfer doch notwendig, um die Einzelpersonen und ihre Handlungsoptionen in einen breiteren Zusammenhang zu stellen. Zum einen verdeutlichen die Zahlen das schiere Ausmaß des Verbrechens, zum anderen wird dadurch deutlich, wie viele Schicksale heute nicht mehr genau nachverfolgt werden können. Die Todesopfer der vier „Aktionen“ können wie folgt schätzungsweise beziffert werden, wobei ich mich eher an niedrigere Schätzwerte halte: Ungefähr 30 000 Jüdinnen und Juden lebten in Tarnów vor der ersten „Aktion“ im Juni 1942. Dieser fielen ca. 12 000 Menschen zum Opfer. Danach blieben ca. 16 000 Menschen im Ghetto. Das Schicksal von ca. 2000 Menschen ist nicht genau aufzuschlüsseln – es waren vermutlich Illegale im Ghetto, Menschen, die das Ghetto und/oder Tarnów verließen. Die zweite „Aktion“ kostete 7000 Menschenleben, während der dritten wurden 2500–3000 Tarnower Jüdinnen und Juden ins Vernichtungslager Bełżec deportiert. Rechnerisch blieben Ende 1942 also 6000 bis 6500 Menschen, wobei hier die Todesopfer willkürlicher Erschießungen oder von Krankheiten in der zweiten Jahreshälfte 1942 nicht miteingerechnet sind. Im Januar 1943 zählte das Ghetto noch 6000

Das Ghetto, der Zaun und die Beobachtenden

455

Menschen.405 Es kamen aber auch Jüdinnen und Juden aus den kleineren Ghettos der Umgebung nach Tarnów, sodass die Zahl zunächst wieder wuchs, dann erneut abnahm. Diese Fluktuation kann kaum genauer beziffert werden. Schließlich wurden während der „Liquidierung“ im September 1943 ca. 4000 Menschen in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert und dort sofort ermordet, weitere 2000 wurden ins Zwangsarbeitslager Płaszów gebracht. Vermutlich wurden zudem mehrere Hundert Menschen vor Ort ermordet. Wieviele vor Ort erschossen wurden, kann nicht abschließend geklärt werden. Der Augenzeuge Józef Korniło schätzte die Zahl der während der „Liquidierungsaktion“ an Ort und Stelle Ermordeten auf 800 Jüdinnen und Juden. Nach der „Liquidierung“ sollen zunächst 700 dann weitere ca. 100 Menschen aus Bunkern geholt und entweder ins Zwangsarbeitslager Szebnie gebracht oder erschossen worden sein. Schenkt man Korniłos Schätzung Glauben, so wurden während und nach der Liquidierung also noch weitere ca.  1600 Menschen ermordet oder in Zwangsarbeitslager gebracht. Diese Zahl ist jedoch nicht durch andere Quellen gesichert. Schließlich wurde das zunächst 300 Menschen zählende Aufräumkommando ins Zwangsarbeitslager Płaszów deportiert. Zu den 4000 während der Liquidierung nach Auschwitz-Birkenau Deportierten, könnten also noch weitere 1900 Opfer (1600 nach Korniłos Schätzung und 300 vom Aufräumkommando) gezählt werden. Hinzu kamen die circa 2000 Menschen, die zunächst ins Zwangsarbeitlager Płaszów gebracht wurden und deren weiteres Schicksal nicht immer verfolgt werden kann. Insgesamt kann von mindestens 25  500 Todesopfern während der vier „Aktionen“ ausgegangen werden. Diese Schätzung geht von der Summe der niedrigsten hier erwähnten Zahlen aus. Geht man von den höheren Zahlen aus und addiert man weitere 500 Opfer während der dritten „Aktion“ und die 1.900 von Korniło bezifferten der letzten Phase, so ergibt sich eine Opferzahl von 27  900. Ein Teil der 2000 während der Liquidierung nach Płaszów Deportierten müssten als Todeopfer zusätzlich hinzugezählt werden. Im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa lassen sich die dort angegebenen Zahlen der Todesopfer zu mindestens 27 000 addieren.406 Dazu müssten wir noch weitere Opfer in Betracht nehmen, die nicht während der „Aktionen“ umkamen und in dieser Rechnung noch gar nicht auftauchen: jene, 405 Kwartalnik sprawozdań sytuacyjnych, Kwartal IV 1942 r. (stan na 20.01.1943), AAN 1325: Delegatura Rządu RP na Kraj 1940–1945/202/II/11 Meldunki terenowe, 1940–1942, S. 244; vgl. Unterkapitel „Einbruch: die dritte Aktion“ (im Kapitel 7 „Das Ghetto, der Zaun und die Beobachtenden. Tarnów in der Zeit der Ghettoisierung (1942–1943)“. 406 Urteilsbegründung gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777.

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kapitel 7

die durch willkürliche Erschießungen zwischen den „Aktionen“ umgekommen sind, durch Krankheiten, Misshandlungen starben, jene, die ihr Leben vor der ersten „Aktion“ oder nach der Liquidierung verloren. Ihre Zahl ist unbekannt. Es ist also relativ sicher anzunehmen, dass die Zahl der ermordeten Tarnower Jüdinnen und Juden mindestens bei 27  000 lag, wenn sie diese nicht weit überstieg. Unter den Opfern waren fast alle jüdischen Stadtträte der Vorkriegszeit. Nur die wenigsten wie Aron Sporn (Bund) oder Lidia Ciołkosz (PPS) haben auf der Flucht überlebt. Das Schicksal und die Todesumstände der einzelnen Stadträte lassen sich nicht immer feststellen. Häufig sind sie in der Opferkartei in Yad Vashem oder im yizker bukh verzeichnet. Die Zahl jener, die sich retten konnten und, nachdem es kein Ghetto mehr in Tarnów gab, auf der „arischen“ Seite verblieben, war gering, genauere Angaben können hierzu jedoch nicht gemacht werden. Sicher ist, dass die Stadt im Februar 1945 – kurz nachdem die Deutschen Tarnów im Januar 1945 verlassen hatten  – lediglich noch 232 Jüdinnen und Juden zählte.407 Dem Schicksal jener Jüdinnen und Juden, die die „Liquidierung“ überlebt haben, widmet sich Kapitel 9.4 „Die dritte Phase der Shoah“.

407 Sitzungsprotokoll des städtischen Nationalrats vom 02.03.1945, ANKr. Odd. T.  33/2/ PMRNT/I/1, S. 21.

kapitel 8

Polen in Uniform: der polnische Baudienst und die Blaue Polizei Der Vorteil einer mikrohistorischen Studie liegt in dem close reading der Quellen. Durch die dichte Beschreibung der ersten „Aktion“ im Juni 1942 wurden neue Akteure überhaupt erst sichtbar. Die Aussage von Izrael Izaak, in welcher er davon berichtete, die Junacy würden in der Widok-Gasse Jüdinnen und Juden die Köpfe mit Äxten abschlagen, erschütterte mich bei der Lektüre.1 Doch wer waren diese Junacy? Und in welchem Kontext agierten sie, inwiefern standen sie unter Zwang und wie gestalteten sich ihre Handlungsoptionen? Der Bericht von Izrael Izaak wurde zum Ausgangspunkt, um den polnischen Baudienst – bisher weitgehend ein Forschungsdesiderat – genauer zu erforschen. Unter deutscher Besatzung trugen ethnische Polen in einigen Formationen Uniformen und waren deutschen Behörden dienstverpflichtet: Das waren die polnische, sogenannte Blaue Polizei und der polnische Baudienst. Die Feuerwehr trug zumindest in den Städten Uniformen. Ob die Brigaden der Freiwilligen Feuerwehr auf dem Land auch Uniformen trugen, müsste im Einzelfall nachgeprüft werden. Nachweislich haben jedoch Mitglieder dieser drei Formationen (Blaue Polizei, Baudienst und Freiwillige Feuerwehr) an der Ermordung der polnischen Jüdinnen und Juden teilgenommen. Der Historiker Klaus-Peter Friedrich bezeichnete diese daher als Teil der Kollaboration in Form einer institutionalisierten Kooperation.2 Kollaboration ist ein weit gefasster Begriff, über dessen Brauchbarkeit als analytisches Konzept in der Forschung debattiert wird. Tatjana Tönsmeyer versteht Kollaboration eher als normatives Konzept, dem eine sinn- und identitätsstiftende Absicht zugrunde liegt und das in der Nachkriegszeit vor allem dazu diente, Menschen aus dem WirKollektiv auszuschließen. Damit verstelle das moralisch aufgeladene Konzept den Blick auf das eigentliche Untersuchungsfeld, nämlich die Handlungsoptionen der Menschen in Besatzungsgesellschaften.3 Ganz anders sieht dies Grzegorz Rossoliński-Liebe, der den Mehrwert der „Kollaborationsforschung“

1 Aus dem Bericht zitiere ich ausgiebig im Kapitel 6.4.3 „Auf Tarnóws Straßen“. 2 Friedrich: Collaboration in a „Land without Quisling“, S. 715. Dabei gibt Friedrich an, dass er die Begriffe Kollaboration und Kooperation synonym verwendet. 3 Tönsmeyer: Besatzungsgesellschaften.

© Brill Schöningh, 2022 | doi:10.30965/9783657760091_010

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kapitel 8

gerade darin sieht, nicht-deutsche Täter der Shoah ins Auge zu fassen, um deren agency, im Sinne von Handlungsmacht, zu erforschen.4 Im Folgenden soll es nun darum gehen, die Handlungsoptionen und Handlungszwänge der polnischen, sogenannten Blauen Polizei in Tarnów sowie umfassender des Baudienstes auszuloten. Zur ersten Formation habe ich nur vereinzelte, doch sich wiederholende Aussagen der Überlebenden gefunden, die ich im Folgenden zusammentragen und kontextualisieren möchte. Da in deutscher und englischer Sprache wenige Informationen zum Baudienst vorliegen, möchte ich mich hier ausführlicher seinen Strukturen und den Handlungsspielräumen der jungen Männer widmen sowie das Tatgeschehen in Tarnów und Umgebung rekonstruieren. Es ist der Forschung der letzten Jahre zu verdanken, dass die oben benannten Akteursgruppen „in Uniform“ überhaupt als Untersuchungsgegenstand „entdeckt“ wurden.5 Die erste Monografie zur Rolle der Blauen Polizei in der Shoah legte der Historiker Jan Grabowski 2020 vor.6 Für die beiden anderen Formationen steht eine tiefergehende wissenschaftliche Beschäftigung noch weitestgehend aus. Ein Forschungsdesiderat bleibt ebenfalls die wiederholt in den Quellen genannte Bahnschutzpolizei. Inwiefern hier ethnische Polen bzw. als Volksdeutsche Deklarierte mitwirkten und wie sie sich an Tötungen von Jüdinnen und Juden beteiligten, muss noch weiter beforscht werden. In Tarnów nahm die Bahnschutzpolizei am Aufsuchen von Jüdinnen und Juden auf der „arischen Seite“ Teil. Stefan  T.  aus  Tarnów war selbst Angehöriger der Bahnschutzpolizei und wurde nach dem Krieg wegen Kollaboration angeklagt. Im Dezember 1942 fing er zwei Juden auf der „arischen“ Seite ein und führte sie zum Bahnschutz, wo beide sofort erschossen wurden. Außerdem war Stefan  T. an der Ermordung weiterer Juden und ziviler ethnischer Polen bei „Pazifizierungsaktionen“ im Kreis Dębica beteiligt.7 In der Urteilsbegründung hieß es, dass sich Stefan T. und Mitangeklagte nicht darauf berufen könnten, sie handelten dabei auf Befehl der Deutschen, da sie bei den Taten zu viel Eigeninitiative und Eifer an den Tag legten.8 Doch erst weitere Forschungen zum Bahnschutz

4 Rossoliński-Liebe: Kollaboration im Zweiten Weltkrieg; darin auch Besprechung des Kol­ laborationsbegriffs in der bisherigen Forschung. 5 Friedrich: Collaboration in a „Land without Quisling“; Janicka: Pamięć przyswojona. S. 157–159. 6 Grabowski: Na Posterunku; zuvor erschien Hempel: Pogrobowcy klęski. Hempels Studie befasst sich nicht primär mit der Beteiligung der Blauen Polizei an der Shoah, minimiert sogar an einigen Stellen deren Rolle. 7 IPN Kr 502/33. 8 IPN Kr 502/33, Bl. 56.

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werden das Bild von dieser Tätergruppe erhellen. Zur Freiwilligen Feuerwehr in Tarnów habe ich dagegen keine Angaben gefunden. 8.1

Die Blaue Polizei

Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges zählte die polnische Polizei knapp 29 000 Männer,9 wovon weit über 90 % römisch-katholische ethnische Polen waren. Nur vereinzelt traf man Juden oder andere religiöse bzw. nationale Minderheiten in ihren Reihen.10 Nach dem deutschen Einmarsch und der Schaffung des Generalgouvernements wurde die einheimische Polizei von den deutschen Besatzern reorganisiert: Alle Polizisten sollten sich unter Strafandrohung bei deutschen Behörden melden, höhere Offiziere wurden verifiziert und zum größten Teil entlassen, während bis 1940 rund 10 000 Mann in die offiziell am 17.12.1939 auf Geheiß des Generalgouverneurs Hans Frank neu geschaffene polnische Polizei übernommen wurden. Meist wird sie retrospektiv aufgrund der Uniformfarbe als Blaue Polizei (und nicht polnische) bezeichnet, um den Eindruck zu vermeiden, es handle sich um eine unabhängige, polnische Organisation. Denn die Blaue Polizei unterstand fortan dem Kommandeur der Ordnungspolizei, das heißt sie war in die Strukturen der (deutschen) Ordnungspolizei eingegliedert und in Städten meist der Schutzpolizei dienstverpflichtet. Die innere Struktur der polnischen Polizei wurde jedoch weitestgehend beibehalten.11 Der sich formierende polnische Untergrund sowie die Exilregierung verlautbarten, der Dienst der Vorkriegsbeamten bei der nun geschaffenen polnischen Polizei im GG sei nicht als nationaler Verrat zu werten. Dies sollte, so der Historiker Grabowski, einerseits die anständigen Polizisten schützen (denn sonst hätten die anständigen Polizisten den Dienst verweigern und untertauchen müssen, und sie wären dann von der Besatzungsmacht verfolgt worden), andererseits erhoffte man sich Informanten in dem Apparat. Die Polizisten sollten sich nach polnischen, nationalen Interessen richten sowie ihre Landsmänner (und -frauen) vor dem deutschen Terror möglichst schützen. Freiwillige Neumeldungen in die nun geschaffene Blaue Polizei wurden jedoch vom Untergrund verurteilt.12 Zum Tätigkeitsfeld der polnischen Polizei gehörten neben ordnungspolizeilichen Aufgaben die Unterstützung der deutschen Behörden bei der 9 10 11 12

Inwiefern Frauen als Polizistinnen tätig waren ist mir nicht bekannt. Grabowski: Na posterunku, S. 21. Ebd., S. 28–30. Ebd., S. 30.

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kapitel 8

Verschleppung der Lokalbevölkerung zur Zwangsarbeit, die Verfolgung von Flüchtigen, die Kontrolle der Kontingentabgaben der Bauern und gegebenenfalls die Eintreibung dieses Kontingents.13 Partisanenbekämpfung gehörte erst ab 1943 zu den Aufgabenfeldern, als der polnische Untergrund erstarkte.14 Von Anfang an mussten die polnischen Polizisten die judenfeindliche Politik der deutschen Besatzer mit umsetzen.15 Laut Grabowski habe sich die polnische Blaue Polizei also seit Beginn der Besatzung an den Schikanen gegen Jüdinnen und Juden beteiligt, nicht erst in der dritten Phase der Shoah.16 Es oblag den polnischen Polizisten zu kontrollieren, ob Jüdinnen und Juden die weiße Armbinde mit blauem Davidstern trugen. Nach der Ghettoschließung gingen sie dazu über, Jüdinnen und Juden auf der „arischen“ Seite aufzuspüren und zu ahnden. Die Blaue Polizei bewachte die Ghettomauern und kontrollierte die Ghettoeingänge und hatte somit einen erheblichen Einfluss darauf, dass sich die Situation der Eingeschlossenen, was die Lebensmittelknappheit anging, dramatisch verschlechterte. Zugleich bot diese Art der Tätigkeit den sehr schlecht bezahlten Polizisten die Möglichkeit, Schmiergelder von Schmugglern zu kassieren. Die Korruption florierte. Ab 1941 durften aufgrund der Seuchengefahr nur diejenigen Polizisten das Warschauer Ghetto bewachen, die eine Typhusschutzimpfung besaßen. Es begann, so arbeitete Jan Grabowski heraus, ein regelrechter Kampf unter den Kommissariaten um die Impfung, da jede Einheit ihr „Monopol“ auf das lukrative Geschäft mit dem Ghetto sichern wollte.17 Mit der Radikalisierung der deutschen Judenpolitik, insbesondere seit der „Aktion Reinhardt“ radikalisierte sich auch das Verhalten der polnischen Polizei. Diese übernahm in Großstädten „Hilfstätigkeiten“ bei den jeweiligen „Aussiedlungen“ und ging verstärkt dazu über, Jüdinnen und Juden auf der „arischen“ Seite aufzuspüren, auszurauben, zu erpressen, sie den deutschen Behörden auszuliefern oder gar selbst zu töten, wie Jan Grabowski in seiner Studie zur Beteiligung der polnischen Polizei an der Shoah gezeigt hat. Auch für die Polizisten wurden Jüdinnen und Juden zunehmend entmenschlicht – sie seien von ihrer Umwelt als „Leichen auf Urlaub“ wahrgenommen worden, wie sich der Chronist des Warschauer Ghettos Emanuel Ringelblum äußerte.18 Die Gewalt und Machtbefugnisse der polnischen Polizei waren, so Grabowski, umgekehrt proportional zur Anwesenheit deutscher Uniformierter 13 14 15 16 17 18

Ebd., S. 68–69. Ebd., S. 69. Ebd., S. 57 ff. Ebd. S. 57–58. Ebd., S. 267. Zit. nach ebd., S. 136.

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an den jeweiligen Orten.19 Das heißt, je weniger deutsche Besatzer vor Ort waren, umso eigenmächtiger und brutaler handelte die polnische Polizei gegenüber den Jüdinnen und Juden. Im Frühjahr und Frühsommer 1942 lebten in Kleinstädten und Dörfern verstreut noch viele Jüdinnen und Juden in ihren eigenen Häusern. Mit Beginn der „Aktion Reinhardt“ sollten sie zu den Sammelpunkten in größere Ghettos bzw. Städte gebracht werden. Aufgrund fehlender deutscher Kräfte fiel der polnischen Polizei, zuweilen mithilfe der Freiwilligen Feuerwehr vor Ort, hierbei eine erhebliche Rolle zu. Sie waren es, die Jüdinnen und Juden zu Sammelplätzen zerrten, Versteckte ausfindig machten, sie auf Pferdewagen zwangen und den Deutschen in der nächsten Stadt ablieferten. Gewissermaßen fanden also einige „Aussiedlungsaktionen“ in kleineren Dörfern oder Kleinstädten, so Grabowski, zwar auf Befehl der deutschen Besatzer statt, aber ohne deren personelle Beteiligung, wie beispielsweise im Markowa und anderen Ortschaften.20 Die polnischen Polizisten aus Włodawa transportierten die Jüdinnen und Juden aus ihrer Kleinstadt sogar nicht bis zur nächsten Sammelstelle, sondern lieferten sie direkt an den Toren des Vernichtungslagers in Sobibór ab.21 In diesem kleinstädtischen Kontext handelte es sich um Menschen, die einander gut kannten und wo die Täter ihre Opfer beim Vornamen nannten.22 Grabowski unterstreicht, dass er bei seiner breit angelegten Untersuchung keinen einzigen Fall gefunden habe, indem ein Polizist dafür bestraft wurde, dass er bei der Judenvernichtung nicht mitmachen wollte. Vielmehr, so der Historiker, seien immer genügend polnische Polizisten bereit gewesen, an den judenfeindlichen „Hilfstätigkeiten“ während unterschiedlicher Phasen der Shoah mitzuwirken. Obschon für Tarnów nur einige Aussagen Überlebender über die polnische, sogenannte Blaue Polizei vorliegen, so reiht sich das Bild doch in das von Jan Grabowski entworfene Schema ein. In Tarnów waren rund 74 polnische Polizisten präsent.23 Schon zu Beginn habe die polnische Polizei „pingelig darauf geachtet“, ob Jüdinnen und Juden die Besatzungsordnung einhielten und beispielsweise die Armbinde trügen, ob sie sauber und richtig angebracht sei.24 Während der „Aktionen“ 1942 verrichtete die Blaue Polizei Hilfstätigkeiten. So riegelten polnische Polizisten die Stadt bzw. später das Ghetto ab und hinderten somit Jüdinnen und Juden während der sogenannten Aussiedlungen zu entkommen. Als nach der ersten „Aktion“ das Ghetto 19 20 21 22 23 24

Ebd., S. 66, 174–175. Ebd., S. 125–126, 174–178. Ebd., S. 179. Ebd., S. 169. Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 108. Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600.

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kapitel 8

geschlossen wurde, oblag es der deutschen Schutzpolizei, das Ghetto zu bewachen. Diese hatte mit ihrer Stärke von 15–20 Männern bei Weitem nicht die Kapazitäten dazu. Deswegen war es vornehmlich die Blaue Polizei, die die Ghettogrenzen bewachte.25 Auch sie war also Vollstrecker des von den deutschen Besatzern verordneten limes der Todesräume. Immer mehr ging die polnische Polizei dazu über, diese Grenze wirkmächtig zu machen, indem sie aus dem Ghetto geflüchtete Jüdinnen und Juden aufspürte, diese erpresste oder an die Deutschen auslieferte. Ein polnischer Polizist fing eine Jüdin auf der Straße in Tarnów ab und brachte sie zur Gestapo. Sie hatte ihn angefleht, sie gehen zu lassen, da sie kleine Kinder hatte. Doch sie wurde getötet.26 Der Jude Krauze hatte sich in einem Keller versteckt. Es war die polnische Polizei, die ihn verhaftete und ihn auslieferte. Krauze wurde danach erschossen.27 Als die Familie Schönker sich nach der Ghettobildung auf der „arischen“ Seite bewegte, schnappte sie ein polnischer Polizist auf. Sie konnten sich gegen Geld freikaufen, fragten aber, woran er sie erkannt hatte. Sie hatten alle ein gutes Aussehen und sprachen perfekt Polnisch. Da antwortete er: „Ihr geht anders, ihr sprecht anders miteinander und verhaltet euch überhaupt anders. Eure Kinder machen ängstliche Gesichter und schauen sich ständig um. Ihr dreht euch auch dauernd um und vor allem: Meine Intuition spürt auf hundert Meter Entfernung, wer Jude ist.“28 Im weiteren Verlauf des Krieges, besonders in der dritten Phase der Shoah nach der Ghettoliquidierung, gingen die polnischen Polizisten in Tarnów dazu über, selbst Juden zu töten. In einem Falle im Jahr 1944 erschoss die polnische Polizei einen Juden ohne viel Aufhebens in einer Wohnung direkt am Rynek.29 Auf dem Land, in der Kreishauptmannschaft Tarnów, sind mehrere Fälle bekannt, in denen polnische Polizisten aufgrund von Denunziatio­ nen versteckte Jüdinnen und Juden selbst ermordeten.30 Die Mitglieder der Blauenolizei schadeten aber auch den nichtjüdischen Polinnen und Polen, sie ließen einige zur Zwangsarbeit deportieren oder brachten sie als „Partisanen“ um.31

25 26 27 28 29 30 31

Urteilsbegründung im Prozess gegen Karl Oppermann und Gerhard Gaa, YVA Tr. 10/777; Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598; Aussage Hermann Blache BAL B 162/2150. Anklage gegen Stefan S. auf Grundlage des Augustdekrets, ANKr 29/439/1515. Ermittlungsverfahren gegen A. N. aufgrund des Augustdekrets, IPN Kr 502/3852. Schönker: Ich war acht, S. 114–115. Vgl. Kapitel 9.4 „Die dritte Phase der Shoah“. ANKr 29/439/1290; ANKr 29/439/1303; IPN Kr 502/3791; IPN Kr 502/3808. Für die Kreishauptmannschaft Tarnów: ANKr  29/439/1339; ANKr  29/439/1541; ANKr 29/439/1551; ANKr 29/439/1303; ANKr 29/439/1338; ANKr 29/SAKr 964 K118/49.

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8.2

463

Der Baudienst

Mehrere Zeitzeuginnen und -zeugen, sowohl jüdische als auch nichtjüdische Tarnowianerinnen und Tarnowianer und sogar der deutsche Baudienstleiter Alfred Eckmann, bestätigten, dass der Baudienst an den „Aussiedlungsaktionen“ in Tarnów beteiligt war. Doch was genau haben die jungen Männer vor Ort gemacht? Wer waren sie, woher kamen sie, unter welchem Zwang standen sie und letztlich: Was war der Baudienst für eine Organisation innerhalb der Besatzungsstrukturen? Welche Rolle nahm er bei der Ermordung der örtlichen Jüdinnen und Juden ein? Die meisten Zeitzeuginnen und -zeugen erwähnen folgende „Hilfstätigkeiten“ des Baudienstes während der „Aktionen“ in Tarnów: das Ausheben von Massengräbern für die Exekution von Jüdinnen und Juden, das Zuführen von Jüdinnen und Juden zu ihren Henkern, den Transport an die Exekutionsstätten, das Zuschütten von Gruben, in denen die Leichen verscharrt wurden, das Bestreuen dieser mit Chlorkalk, das Abtransportieren von Leichen von Exekutionsstätten und den Straßen Tarnóws zum jüdischen Friedhof, das Einsammeln von zurückgelassenen Gepäckstücken und Wertsachen sowie die Bewachung der verlassenen Häuser.32 Vor allem musste der Baudienst jeweils nach den „Aktionen“ noch „wochenlang“ Hausrat der Jüdinnen und Juden zu Sammelstellen oder direkt zu den Gestapo-Männern abfahren.33 All dies geschah auf Befehl der deutschen Besatzungsmacht. Zudem berichteten mehrere Zeitzeuginnen und -zeugen, dass der Baudienst Wodka bekam und die jungen Männer häufig alkoholisiert waren.34 In seinem Bericht beschrieb Izrael Izaak jedoch auch brutale Tötungen von Jüdinnen und Juden durch den Baudienst in der Widok-Gasse. Dieser habe in 32

33 34

Bericht Blanka Goldman, AŻIH 301/2059; Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818; Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; Bericht Halina Korniło, AŻIH 301/3228; Chomet: Zagłada Żydów w Tarnowie, S.  44; Fragebögen der GKBZHwP, IPN BU 2448/503, S.  465–466; Michalik: Wspomnienia Eugeniusza Michalika, S.  12; Andrusiewicz/Klimek/Majcher/ Okońska: Wspomnienia Romana Jagiencarza, S.  17; Tokarz: Wspomnienia Stanisława Dychtonia, S. 14; Kolasiński: Wspomnienia, S. 104–105; Aussage Alfred Eckmann, Leiter des Baudienstes in Tarnów, vom 29.03.1962, BAL B 162/2151, Bl. 944–948 sowie Aussage desselben 1965, BAL B 162/19257; Aussage Frederik Hallberg beim Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache, BAL B 162/2150, Bl.  940–941; Aussage Strauß, BAL B 162/2150, Bl.  1231; Aussage des Kraftfahrers der Sicherheitspolizei Außenstelle Tarnów, BAL B 162/2150. Zeugenaussage Alfred Eckmann 1965, BAL B 162/19257, Bl. 19. Andrusiewicz/Klimek/Majcher/Okońska: Wspomnienia Romana Jagiencarza, S.  17, Dagnan, Aleksander: Interview, 06.03.2013, Tarnów, Polen, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska.

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Anwesenheit der Deutschen Jüdinnen und Juden mit Äxten ermordet: Köpfe wurden vom Rest des Körpers abgetrennt. Zudem wollten sich die Baudienstleute an ihren Opfern bereichern, sie suchten gezielt nach versteckten Jüdinnen und Juden in den Häusern und gingen zu Schränken, „um zu rauben“.35 Doch Izaak war nicht der einzige Augenzeuge, der darüber berichtete, wie weitere Nachforschungen zeigten. Auch der Überlebende Samuel Grünkraut berichtete von Ermordungen mit dem Beil in der Widok-Gasse. Er sah die Leiche seines Nachbarn: „Der Kopf war vom Rumpf abgetrennt.“36 Obwohl auch er die Präsenz des polnischen Baudienstes zu diesem Zeitpunkt bestätigte, schrieb Grünkraut die Täterschaft ukrainischen Einheiten zu: „Es müssen jedoch Angehörige der ukrainischen Hilfsmannschaft gewesen sein. Einer von ihnen trug neben seinem Gewehr ein Beil in der Hand.“37 Ein weiterer Zeuge, Ignacy Pasternak, beobachtete ebenfalls das Geschehen auf der Widok-Gasse und in den umliegenden Straßen Nowo-Dąbrowska, Szpitalna und Garberska. In seiner Zeugenaussage im DP-Camp [Displaced Persons] in Landsberg unmittelbar nach dem Krieg gab er zu Protokoll: „Dann befahl er [Wilhelm Rommelmann – AW] den Junaken, mit Schaufeln zu töten und sie führten das unter seinem Kommando aus.“38 Im damaligen Sprachgebrauch nannten die Polinnen und Polen die Jungen vom Baudienst kurz Junacy. Junak, im Plural Junacy, heißt so viel wie Mitglieder einer Arbeitseinheit. Lila Wider, eine andere Zeugin bestätigte ebenfalls, dass Baudienstbrigaden Jüdinnen und Juden während der ersten „Aktion“ ermordeten: Danach kamen Deutsche in die Häuser und holten alle heraus, die keine Stempel hatten, und nahmen sie auf den Rynek mit. Dort machten sie die Junacy betrunken, also die Polen, die im Baudienst arbeiteten, und zwangen sie, Juden zu töten. Alle Juden knieten und die Deutschen haben mithilfe der Junacy gemordet. Die Deutschen schossen und die Junacy mordeten mit stumpfen Gegenständen.39

Lila Wider wurde 1927 in Tarnów geboren und war zum Zeitpunkt der ersten „Aktion“ 15  Jahre alt. Bei dieser verlor sie ihre Großeltern, ihr Vater war bereits im Rahmen der AB-Aktion zunächst verhaftet, dann nach Auschwitz deportiert worden und dort umgekommen. Sie selbst wird den Krieg mit 35 36 37 38 39

Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818. Aussage Samuel Grünkraut im Ermittlungsverfahren gegen Hermann Blache, BAL B 162/2150, Bl. 694. Ebd. Pasternak, Ignacy in: Oysforshung opteyl der DP jidisher cetrale Landsberg (29.08.1946), Abschrift in BAL B 162/746, Bl. 351. Bericht Lila Wider, AŻIH 301/2053.

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„arischen“ Papieren als Bronisława Janicka zunächst in Lwów, dann als polnisch-christliche Zwangsarbeiterin im „Reich“ überleben. Nach dem Krieg ließ sie sich zunächst in Krakau nieder, wo sie 1946 die oben zitierte Aussage vor der Jüdischen Historischen Kommission machte. Später wanderte sie nach Israel aus und legte noch einmal 1971 in Yad Vashem Zeugnis ab.40 In ihrer späteren Aussage wiederholte sie, dass die jungen polnischen Männer vom Baudienst aktiv an den Tötungsaktionen beteiligt waren – sie mordeten mit Äxten, berichtete sie damals.41 Genauso wie Izrael Izaak und Ignacy Pasternak aussagten, berichtete Lila Wider davon, dass sich die Tötungsart der Junacy von jener der Deutschen unterschied, da erstere keine Schusswaffen besaßen. Wie andere Zeuginnen und Zeugen sprach Lila Wider von der Präsenz der Baudienstmänner auf dem Rynek während der ersten „Aktion“ im Juni 1942. Vermutlich ist ein Teil von ihnen tatsächlich auch in einer Fotografie vom fraglichen Tag festgehalten worden (siehe Abbildung  48). Sie unterstrich in der ersten Aussage, dass die Deutschen die Baudienstmänner zum Töten gezwungen hätten. Ob die Tötungen mit Äxten und stumpfen Gegenständen auf dem Rynek selbst stattfanden, bleibt in der Aussage undeutlich. Vermutlich mordete der Baudienst aber eher in den Seitengassen und in der Nähe des jüdischen Friedhofs, wie in den oben zitierten Aussagen dargelegt wurde. Diese bruchstückhaften Informationen der vier Personen sollen im Folgenden in einem breiteren Zusammenhang kontextualisiert werden. 8.2.1 Forschungsstand zum Baudienst Bislang vernachlässigte die Forschung den Baudienst weitestgehend, obschon einige Arbeiten in polnischer Sprache erschienen. Der Archivar des Archivs für Neue Akten (AAN) in Warschau Mścisław Wróblewski inventarisierte die Akten zum Baudienst im Bestand „Regierung des Generalgouvernements“ und verfasste zwei wichtige Arbeiten aufgrund seines Quellenstudiums. Zunächst lieferte er einen umfassenden Überblick über die vorhandenen Baudienstbestände in Artikelform und beschrieb einzelne Themenbereiche samt der dazugehörigen Inventarnummern im AAN.42 Daraus geht beispielsweise hervor, dass die Einheiten des Baudienstes Tagebücher und Monatsberichte anfertigten. Im Jahr 1984 legte Wróblewski eine Monografie zum Baudienst vor, eine Grundlagenforschung, auf die sich alle weiteren historischen Arbeiten bezogen.43 Für diese Monografie führte er auch Interviews mit 40 41 42 43

Bericht Lila Rosenberg, geb. Wider, YVA O.3/3516. Ebd., YVA O.3/3516. Wróblewski: Służba budowlana (Baudienst) w Generalnym Gubernatorstwie. Ebd.

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kapitel 8

61 ehemaligen Baudienstleuten. Diese sind in seinem Privatbesitz verblieben.44 In der polnischsprachigen Forschung zu Tarnów werden die Männer vom Baudienst weitestgehend als Opfer der deutschen Besatzung beschrieben und im Kontext der „Ausbeutung der Arbeitskraft“ verortet.45 Klaus-Peter Friedrich betrachtete den Baudienst gemeinsam mit der polnischen Polizei als Einrichtungen institutionalisierter Kollaboration im Generalgouvernement.46 Zuletzt widmeten sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler rund um das Zentrum der Holocauststudien der Polnischen Akademie der Wissenschaften dem Thema  – so schrieb beispielsweise Jan Grabowski in seinem Buch Judenjagd einige Seiten zur Rolle des Baudienstes bei den „Aktionen“ im Kreis Dąbrowa Tarnowska.47 In den beiden neuesten Sammelbänden des Zentrums Dalej jest noc zu Überlebensstrategien von Jüdinnen und Juden in ausgewählten Kreisen des Generalgouvernements erhielt der Baudienst verstärkt Aufmerksamkeit. Hier ist insbesondere Dariusz Libionka mit seinem Aufsatz zum Kreis Miechów, Distrikt Krakau, erwähnenswert.48 Der Kreis Miechów grenzt im Nordwesten an den Kreis Tarnów an. Bei meinen Nachforschungen zum Kreis Tarnów stellte sich heraus, dass viele in den Beständen des AAN verzeichnete Akten zum Baudienst, die noch im Artikel von Wróblewski als Teil des Bestandes samt Signatur verzeichnet waren, de  facto im Archiv verschollen sind. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich hierbei sogar um Tagebücher oder Monatsberichte aus dem Distrikt Krakau, in dem auch Tarnów lag, handeln könnte.49 8.2.2 Der Baudienst im Generalgouvernement Der polnische Baudienst wurde im Mai 1940 auf Initiative von Hans Frank in Kooperation mit dem Reichsarbeitsführer Heinrich Hinkel im Generalgouvernement gegründet. Im Gegensatz zur polnischen Blauen Polizei war es eine völlige Neugründung ohne personelle Kontinuität zur Vorkriegszeit. Zunächst war der Baudienst nur auf den Distrikt Krakau beschränkt, erst 44 45 46 47 48 49

Mścisław Wróblewski ist bereits verstorben. Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 145–146. Friedrich: Collaboration in a „Land without Quisling“, S. 715. Des Weiteren schreibt Friedrich hier auch über die Freiwillige Feuerwehr und den Bautrupp der „Organisation Todt“, die den Deutschen auch bei „Aktionen“ gegen Jüdinnen und Juden halfen. Grabowski: „Judenjagd“, S. 121–128. Libionka: Powiat Miechowski, darin siehe insbesondere das Unterkapitel „Rola Baudienstu w akcjach likwidacyjnych w Powiecie Miechowskim – Rekapitulacja“, S. 103– 107; Miechów liegt ca. 100 km von Tarnów entfernt. Es handelt sich im Besonderen um die Signaturen AAN 111: Rząd GG/483, AAN 111/489, AAN 111/519, die nicht auffindbar sind.

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ein Jahr später, im Mai 1941, wurde er auch in den Distrikten Radom und Lublin eingeführt, ab September  1941 dann auch im Distrikt Galizien.50 Im Distrikt Warschau gab es keinen Baudienst. Zu den Aufgaben des Baudienstes gehörten Bautätigkeiten aller Art im Generalgouvernement, wie Straßenbau, Aufbau von zerstörten Brücken und Gleisen, der Katastrophenschutz sowie sonstige Hilfsarbeiten. Im Kreis Tarnów lagen die Hauptaufgaben zunächst in Entwässerungs-, Straßen- und Wegarbeiten, später arbeiteten die Junacy vor allem in den Eisenbahnausbesserungswerken in Tarnów.51 Die Personenstärke des Baudienstes wurde kontinuierlich ausgebaut, jedoch verteilte sie sich geografisch höchst unterschiedlich. Im Oktober 1941 waren insgesamt 7500 Junacy rekrutiert, die Höchstzahl lag zu Beginn des Jahres 1944 bei 45 000 Mann, danach sank die Zahl rapide ab, bis der Baudienst im Januar 1945 offiziell aufgelöst wurde. Bemerkenswert ist jedoch, dass sich innerhalb von nur drei Monaten im Frühjahr 1942 die Gesamtzahl der verpflichteten Baudienstmänner mehr als verdreifachte: von 7677 im April  1942 auf 18  990 im Folgemonat und 24 662 im Juni 1942.52 Das korreliert zeitlich mit dem Beginn der „Aktion Reinhardt“, ein kausaler Zusammenhang kann jedoch aufgrund der Quellenlage nicht abschließend hergestellt werden. Im Juni 1942 wurde der Baudienst zur „Durchführung kriegsentscheidender Arbeiten“ erweitert, wie aus der Bitte der Baudiensthauptstelle an die Regierung des Generalgouvernements um zusätzliche Mittel hervorgeht: „Der Baudienst ist neuerdings im Rahmen des Führererlasses zur Durchführung kriegsentscheidender Arbeiten in erheblich verstärktem Maße  – zusätzlich 8000 Baudienstmänner  – eingesetzt worden.“53 In den Folgejahren wurde der Baudienst konsequent und stetig erweitert (siehe Abbildungen 65 und 66). In den Distrikten Krakau und Galizien war der Baudienst zahlenmäßig am stärksten.54 Zum Beispiel waren im Sommer 1942 in den Distrikten Krakau und Galizien jeweils 10  000 bzw. 12  000 Männer im Baudienst rekrutiert, während es in den Distrikten Lublin und Radom jeweils 4000 bzw. 5500 Männer waren.55 Da Galizien flächenmäßig sehr groß war, war die Dichte an Baudienstleuten im Distrikt Krakau am größten. Für die Untersuchung der 50 51 52 53 54 55

Wróblewski: Służba budowlana (Baudienst) w Generalnym Gubernatorstwie, S. 40–41. Aussage Alfred Eckmann, Leiter des polnischen Baudienstes, vom 29.03.1962, BAL B 162/2151, Bl. 944b. Wróblewski: Służba budowlana (Baudienst) w Generalnym Gubernatorstwie, S. 41. Brief an die Regierung des Generalgouvernements, um zusätzliche Betriebsmittel für den Monat Juni 1942 anzufordern, AAN 111: Rząd GG/524. Wróblewski: Służba budowlana (Baudienst) w Generalnym Gubernatorstwie, S. 40–43. Ebd., S. 41.

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kapitel 8

Beteiligung des Baudienstes an der Judenverfolgung, ist  – wie noch gezeigt wird – dieser Distrikt von daher am ergiebigsten, jedoch nicht für das gesamte Generalgouvernement repräsentativ. Die ungleichmäßige geografische Verteilung der Baudienstler und deren gänzliches Fehlen im bislang am besten erforschten Distrikt Warschau kann einen der Gründe darstellen, warum der Baudienst in der Forschung bisher noch nicht gründlich beleuchtet wurde. Distrikt Krakau Mai 40 Jun 40 Jul 40 Aug 40 Sep 40 Okt 40 Nov 40 Dez 40 Jan 41 Feb 41 Mrz 41 Apr 41 Mai 41 Jun 41 Jul 41 Aug 41 Sep 41 Okt 41 Nov 41 Dez 41 Jan 42 Feb 42 Mrz 42 Apr 42 Mai 42

Distrikt Radom

Distrikt Lublin

Distrikt Galizien Gesamtzahl

52 750 1 580 2 662 4 483 4 647 4 021 2 006 1 596 1 535

52 750 1 580 2 662 4 483 4 647 4 021 2 006 1 596 1 535

2 886 5 213 5 968 5 969 5 993 6 064 6 062 5 474 4 067 3 040 2 734 2 437 2 415 9 050

2 886 5 318 6 196 6 309 6 603 7 052 7 490 7 564 6 526 5 148 4 974 5 805 7 677 18 990

49 82 137 166 49 53 48 39 40 112 200 331 968

56 146 203 444 439 335 254 297 281 296 288 377 874

500 1 040 1 788 1 853 1 787 1 832 2 880 4 560 8 098

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Polen in Uniform

Jun 42 Jul 42 Aug 42 Sep 42 Okt 42 Nov 42 Dez 42 Jan 43 Feb 43 Mrz 43 Apr 43 Mai 43 Jun 43 Jul 43 Aug 43 Sep 43 Okt 43 Nov 43 Dez 43 Jan 44 Feb 44 Mrz 44 Apr 44 Mai 44 Jun 44 Jul 44

Distrikt Krakau

Distrikt Radom

Distrikt Lublin

10 364 11 211 11 122 10 886 10 683 11 015 9 964

2 173 4 182 4 641 5 451 5 880 5 592 4 889 5 616

2 801 4 114 5 535 4 931 4 715 5 528 5 469 5 149

15 718 15 506 15 335

7 186 7 711 8 141

5 318 5 387 5 617

15 175 14 720 14 611

8 800

4 800

Distrikt Galizien Gesamtzahl 9 324 10 335 12 062 12 054 13 441 14 228 12 100 10 046 12 451 13 849 14 112 15 636 14 986 12 585 11 729 12 000 – 15 000

9 581 10 152 10 521 10 500 11 043

24 662 29 842 33 360 33 332 34 719 36 363 32 400

42 071 42 716 44 729

40 000

40 000 – 45 000

10 000 2 000

33 000

17 666 20 000 – 2 000

Abbildung 65 Tabelle: Anzahl der rekrutierten Baudienstleute in den Distrikten Krakau, Radom, Lublin und Galizien, nach Wróblewski: Służba budowlana (Baudienst) w Generalnym Gubernatorstwie, S. 41

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kapitel 8

Abbildung 66 Diagramm: Zahlenmäßige Stärke des polnischen Baudienstes in den Distrikten Krakau, Radom, Lublin und Galizien

Der Baudienst gehörte administrativ zur Hauptabteilung der Inneren Verwaltung in der Regierung des Generalgouvernements. Die Leiter der Dienststellen des Distrikts wurden vom Generalgouverneur ernannt.56 In den jeweiligen Distrikten verteilten sich die Baudienststellen wiederum auf die Landkreise. Der Landkreis Tarnów stellte die Baudienststelle Nummer  103 unter der Leitung von Hans Bartsch und ab 1942 von Alfred Eckmann. Die Baudienststellen im Landkreis hatten eine Art „Doppelanbindung“ – sie unterstanden einerseits dem Baudienst-Distriktleiter und der zentralen Stelle des Baudienstes für das GG in Krakau, andererseits sollten sie auf Lokalebene auch die Anordnungen der Stadtkommissare und Kreishauptmänner vor Ort erfüllen.57

56 57

Verordnung über den Baudienst im Generalgouvernement vom 01.12.1940, VBlGG 1940 I, 359, zit. nach Pospieszalski: Documenta Occupationis, S. 336. Dazu auch Grabowski: Judenjagd, S. 121; dazu siehe auch die Bedingungen für den Einsatz des Baudienstes im Generalgouvernement, AAN 111: Rząd GG/499; Alfred Eckmann, der Leiter der Baudienststelle im Kreis Tarnów, informierte, dass er sowohl dem übergeordneten Leiter des Baudienstes im Distrikt, Oberarbeitsführer Kracht in Krakau, unterstand als auch Dienstanweisungen von Tarnóws Kreishauptmann erhalten konnte. Im Zweifelsfall entschied der Baudienstleiter des Distrikts. Aussage Alfred Eckmann, 1965, BaL B 162/19257.

Polen in Uniform

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Der Baudienst bestand aus jungen polnischen Männern, die im Schnitt 19 bis 23 Jahre alt waren.58 Der Generalgouverneur bestimmte den Jahrgang, aus dem jährlich einberufen werden sollte.59 Die jungen Männer wurden zwangsrekrutiert. Freiwillige Meldungen waren möglich, aber laut Wróblewski eher die Ausnahme.60 Die Baudienstmänner mussten einen Dienst von sieben Monaten (meistens April bis Oktober) bis zu einem Jahr ableisten, hatten aber auch Urlaub.61 Im Winter, wenn die wenigsten Bauarbeiten anfielen, wurden in der Regel weniger Baudienstmänner rekrutiert. Die „Baudienstpflichtigen“ wurden ethnisch getrennt, es gab den polnischen Baudienst sowie den ukrainischen bzw. goralischen Heimatdienst.62 Grundlage der Einberufung war die Verordnung über die Einführung der Arbeitspflicht für die polnische Bevölkerung vom 26. Oktober 1939.63 Nur ein Teil aller Dienstpflichtigen wurde gemustert und rekrutiert. Es oblag dem Leiter der Baudienststelle Kreis Tarnów, Ladungen zu Musterungen und später Gestellungsbefehle zu verschicken.64 Über Gesuche auf Frei- bzw. Zurückstellung vom Baudienst entschied der Landeskreisleiter der Baudienststelle.65 Musterungen wurden in seiner Anwesenheit durch einen Arzt ausgeführt. Daneben war auch ein Bürgermeister oder Gemeindevorsteher dabei, der Auskünfte über die gemusterten Polen erteilte oder das Fehlbleiben von geladenen 58

59 60 61

62

63 64 65

Verordnung über den Baudienst im Generalgouvernement vom 01.12.1940, VBl. GG 1940 I, 359, zit. nach Pospieszalski: Documenta Occupationis, S.  336. Zur Praxis der Rekrutierungen, die zu Beginn – im Jahre 1940 – noch chaotisch war, siehe Wróblewski: Służba budowlana (Baudienst) w Generalnym Gubernatorstwie, S. 61. Verordnung über den Baudienst im Generalgouvernement vom 01.12.1940, VBlGG 1940 I, 359, zit. nach Pospieszalski: Documenta Occupationis, S. 336. Im Jahr 1941 gab es 141 Freiwillige, in den Folgejahren wurden diese nicht mehr aufgeführt, Wróblewski: Służba budowlana (Baudienst) w Generalnym Gubernatorstwie, S. 59. Von sieben Monaten berichtet Wróblewski: Służba budowlana (Baudienst) w Generalnym Gubernatorstwie, S. 11, 45. In den Wintermonaten wurden viel weniger Männer rekrutiert, zur saisonalen Arbeit im Baudienst vgl. Wróblewski: Służba budowlana (Baudienst) w Generalnym Gubernatorstwie, S. 45–46; von einem Jahr Dienstzeit spricht der Leiter der Baudienststelle Tarnów Alfred Eckmann, BAL B 162/2151, Bl.  944b und auch der Baudienstmann Roman Starzec, IPN Kr 502/1978. Verordnung über den Baudienst im Generalgouvernement vom 01.12.1940, VBlGG 1940 I, 359, zit. nach Pospieszalski: Documenta Occupationis, S.  336. Zum ukrainischen und goralischen Heimatdienst siehe Wróblewski: Służba budowlana (Baudienst) w Generalnym Gubernatorstwie, S. 197–217. Verordnung über den Baudienst im Generalgouvernement vom 01.12.1940, VBlGG 1940 I, 359, zit. nach Pospieszalski: Documenta Occupationis, S. 336. Aussage Alfred Eckmann, BAL B 162/2156, Bl. 944b. Ebd.

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kapitel 8

Personen erklären sollte.66 Zugleich wurden aber auch Polen zur Zwangsarbeit „ins Reich“ verschickt. Wiederholt kam es zu Konflikten zwischen jenen Stellen, die zum Arbeitseinsatz nach Deutschland verschickten, und jenen, die für den Baudienst rekrutierten, weil zum Teil baudienstpflichtige Jahrgänge „ins Reich“ geschickt wurden.67 Einige junge Männer meldeten sich freiwillig zum Baudienst, um der Verschleppung nach Deutschland zu entgehen. Roman Starzec, Jahrgang 1923, wurde 1942 in den Baudienst Tarnów rekrutiert und berichtete von einem zwölf Monate dauernden Dienst. Nach dessen Ableistung meldete er sich abermals freiwillig, da er nach eigenem Bekunden Angst vor der Zwangsverschleppung zur Arbeit im Deutschen Reich hatte.68 Jede Landeskreisstelle war in Gruppen aufgeteilt und jeder Gruppe stand ein „reichsdeutscher“ Werkführer in olivgrüner Uniform vor, der die polnischen Arbeitspflichtigen kommandierte.69 Außerdem gab es polnische Werkmeister, die die jungen Arbeitspflichtigen bei der konkreten Arbeit anwiesen. Es oblag der deutschen Leitung, die Werkzeuge, Unterkünfte und Verpflegung zu stellen. Die polnischen Baudienstler erhielten keine Entlohnung, sondern lediglich ein „Taschengeld“ in Höhe von einem Złoty pro Tag.70 Die jungen Männer waren in der Regel ab 1941 kaserniert, wobei die Stuben in den meisten Fällen nicht bewacht waren.71 Die Baudienstmänner trugen einheitliche olivgrüne bzw. graue Arbeitskleidung (siehe Abbildung  67) und ein Abzeichen am Ärmel: zwei gekreuzte Beile und die Aufschrift „G“.72 Die Pflichtigen wurden an unterschiedlichen Orten kaserniert. Manche mussten eine (längere) Fahrt auf sich nehmen, dann wurde ihnen mit den Einberufungspapieren eine Bahnfahrkarte geschickt.73 Die Kosten für die Fahrkarten wurden aus dem Budget des Baudienstes bestritten: „Die Erfahrungen haben gezeigt, dass die Baudienstmänner in den meisten Fällen nicht die 66 67 68 69 70 71 72

73

Ebd. Bericht über die Besprechungen beim Kommandoführer am 17.10.1941, AAN  111: Rząd GG/490: Monatsberichte. IPN Kr 502/1978. Aussage Alfred Eckmann, Leiter des polnischen Baudienstes, vom 29.03.1962, BAL B 162/2151, Bl. 944b. Wróblewski: Służba budowlana (Baudienst) w Generalnym Gubernatorstwie, S. 40. Ebd., S. 128–140. Ebd., S. 117; Wróblewski berichtet, dass die Baudienstmänner außer der Arbeitskleidung auch einheitliche Uniformen haben sollten, was jedoch nicht vollständig umgesetzt wurde; zu den Uniformen siehe auch Aussage Alfred Eckmann, BAL B 162/19257, Bl. 13; Kolasiński: Wspomnienia, S. 104. Wróblewski: Służba budowlana (Baudienst) w Generalnym Gubernatorstwie, S. 63.

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Abbildung 67 Baudienstmänner Tarnów bei Flussarbeiten

Abbildung 68 Abzeichen des Baudienstes

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kapitel 8

Abbildung 69 Zahlenmäßige Stärke des Baudienstes im Kreis Tarnów

Mittel haben, die Fahrtkosten nach den ihnen aufgegebenen Gestellungsorten zu tragen und aus diesem Grund schon beim Gestellungsbefehl keine Folge leisteten. Es ist daher erforderlich, daß den Baudienstmännern mit den Gestellungsbefehlen Fahrgutscheine zugesandt und die Kosten für die Fahrt aus Haushaltsmitteln bestritten werden.“74 Unter Umständen kamen also nicht alle Dienstpflichtigen aus den Orten, in denen sie dienten. Im Kreis Tarnów kamen die Rekruten aus dem Landkreis.75 Von zwei Männern, die im Jahre 1942 im Baudienst in Tarnów tätig waren, ist bekannt, dass sie in der Stadt geboren und vor dem Krieg wohnhaft waren.76 Ein anderer BaudienstJunak aus Tarnów erinnerte sich aber, dass die meisten jungen Männer von den Dörfern kamen und „daher etwas primitiv und grobschlächtig“ gewesen seien.77 In Bezug auf die Dienststellen in mittelgroßen Städten kann also davon ausgegangen werden, dass durchaus aus der heimischen Bevölkerung einberufen wurde bzw., wenn nicht aus der Stadt selbst, dann aus der Umgebung. Der Kreis Tarnów bildete also die Dienststelle Nr.  103 und zählte in den Sommermonaten zwischen ca. 1000 (Mai 1942) und 1500 (April 1943) Baudienstleute.78 Der Leiter der Baudienststelle im Kreis Tarnów war ab März 1942 bis 74 75 76 77 78

Notiz zum Budget von 1942, AAN 111: Rząd GG/520/1. Aussage Alfred Eckmann, 1965, BAL B 162/19257, Bl. 13. IPN Kr 502/1978. Kolasiński: Wspomnienia, S. 104. AAN  111: Rząd GG/554/1 (genaue Aufstellung nach Zigarettenzuteilungen, siehe Abbildung 69).

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zum Ende des Krieges Alfred Eckmann, der auch während der „Aktionen“ den Tarnower Baudienst befehligte.79 Alfred Eckmann wurde 1894 in Mecklenburg geboren und sagte während zweier NS-Verbrecher-Prozesse in den Jahren 1962 und 1965 umfassend zum Baudienst im Kreis Tarnów aus.80 Sein Stellvertreter war Heinrich Felser.81 Die Baudienststelle des Tarnower Landkreises war die meiste Zeit in drei (zuweilen vier) Abteilungen gegliedert und zwar in Tarnów-Stadt sowie in andere Ortschaften, beispielsweise Lisia Góra und Szczuczyn, die von Franz Irrgang, Zossel und Weber sowie 1944 von Hehner und Sirkowski (Vornamen nicht in den Akten enthalten) geleitet wurden.82 Jeder Abteilung unterstanden somit – je nach Zeitpunkt und Gesamtstärke im Kreis fluktuierend – statistisch mehrere hundert Männer.83 Die Abteilungen waren mobil und dynamisch, je nachdem, wo welche Arbeiten anfielen. So berichtete Franz Irrgang, dass er zunächst eine Abteilung in Nowy Korczyn, ca. 40 km nördlich von Tarnów, mit 140 bis 160 Mann leitete. Ab dem Frühjahr 1942 war er in Wojnicz stationiert, etwa 15 km südwestlich von Tarnów, 1943 war seine Abteilung dann in Tarnów-Stadt bei den Bahnausbesserungswerken tätig.84 Der Tagesablauf der Baudienstmänner im Landkreis Tarnów lässt sich Abbildung 70 entnehmen. Die Abteilungsleiter im Kreis Tarnów Irrgang, Zossel sowie Weber waren Sudetendeutsche. Laut Irrgang wurden diese deswegen gern eingesetzt, da ihnen wegen der Kenntnis des Tschechischen die Verständigung mit den polnischen Arbeitern leichter fiel.85 Im Jahr 1942 wurde der Jahrgang 1922 einberufen, sodass die an den „Aktionen“ in Tarnów teilnehmenden Männer rund 19 bis 20 Jahre alt waren.86 De facto waren im Juni 1942 im Kreis Tarnów 1100 junge Männer im Baudienst tätig, in der Stadt selbst waren es vermutlich einige Hundert nichtjüdische Polen.87

79 80 81 82 83 84 85 86 87

Aussage Alfred Eckmann, Leiter des polnischen Baudienstes, am 29.03.1962, BAL B 162/2151, Bl. 944. BAL B 162/2151 und BAL B 162/2156 bzw. BAL B 162/19257 (Kopie der Aussage aus der Akte BAL B 162/2156). Aussage Alfred Eckmann, 1965, BAL B 162/19257, Bl. 13. Aussage Alfred Eckmann vom 29.03.1962, BAL B 162/2151, Bl. 945; AAN 111: Rząd GG/491, Bl. 7–8, 72. Aussage Alfred Eckmann vom 29.03.1962, BAL B 162/2151, Bl. 945. Aussage Franz Irrgang, vom 31.07.1962, BAL B 162/2150, Bl. 1245–1246. Ebd. AK-Bericht von 1943; AAN 1325: Delegatura Rządu RP na Kraj 1940–1945, 202/II/11 Meldunki terenowe, 1940–1942. AAN  111: Rząd GG/554/1 (laut den Meldungen über die Anzahl der im Baudienst Arbeitenden für Zigarettenzuteilungen).

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Abbildung 70 Tagesablauf Baudienst

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8.2.3 Zwang und Strafe – Kontextualisierung der Handlungsoptionen In seiner Monografie argumentiert Wróblewski, dass der Ungehorsam aufseiten der Baudienstleute sich vor allem in der Rekrutierungsphase manifestierte. Flucht und Untertauchen waren Mittel der Wahl der jungen Polen, um sich dem Zwang zum Baudienst zu entziehen. Im Rechnungsjahr 1941 notierten die deutschen Behörden durchschnittlich 10–15 % Dienstflucht, wobei diese Quote in den Kreishauptmannschaften am San bei über 50  % lag. Das war jedoch eine unmittelbare Folge der Kampfhandlungen in diesem Gebiet nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion.88 Wegen der hohen Fluchtrate gingen die deutschen Behörden dazu über, diese wie Desertion zu ahnden und mit der Todesstrafe zu belegen. Ab April 1942 konnte die Flucht von der Baudienstpflicht mit Geldbußen, Zuchthaus oder dem Tode bestraft werden.89 Der Terror gegenüber den Baudienstpflichtigen verschärfte sich zunehmend im Juli 1942. Es ist nicht bekannt, wie viele Todesurteile ausgesprochen und wie viele davon tatsächlich vollstreckt wurden.90 Die deutschen Baudienstleiter beklagten die fehlende Disziplin im November 1942: Es macht sich jedoch steigende Dienstflucht bemerkbar. Die Gründe liegen einmal in der nicht ausreichenden Bekleidung für die starke Kälte und zum anderen in der Nichtvollstreckung der ausgesprochenen Todesurteile, denn gerade hierdurch hat die deutsche Autorität in der Führung der Baudienstmänner gelitten.91

Ab Oktober 1942 beschlossen die Baudienstkommandoleiter, dass der polni­ schen Polizei Prämien ausgezahlt werden können, wenn sie Dienstflüchtige ergreift: 20 Złoty pro Kopf und 50 Złoty, wenn die Bekleidungsstücke wieder in den Besitz des Baudienstes geraten.92

88 89

90 91 92

„Diese Vorgänge sind jedoch bedingt durch Kampfhandlungen und daher als außergewöhnlich zu bewerten“, Bericht über den Baudienst im GG (Rechnungsjahr 1941) vom 19.03.1942, zit. nach Pospieszalski: Documenta Occupationis, S. 338. „Wer es unternimmt, sich der Baudienstpflicht zu entziehen, oder jemanden anders daran zu hindern, oder einer, der sich der Baudienstpflicht entzogen hat, der hat eine Straftat begangen und muss bestraft werden. Als Strafen können Geldstrafe, Gefängnis, Zuchthaus oder Todesstrafe verhängt werden.“ Verordnung über den Baudienst im GG vom 22.04.1942, zit. nach Pospieszalski: Documenta Occupationis, S. 342. Wróblewski: Służba budowlana (Baudienst) w Generalnym Gubernatorstwie, S. 79. Nach Wróblewski ist eine Diskrepanz zwischen gefällten Urteilen und ihrer Vollstreckung wahrscheinlich. Monatsbericht November  1942 (für alle Distrikte), Krakau  16.01.1943, AAN  111: Rząd GG/490. AAN 111: Rząd GG/570 Transport.

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Einige Fälle von vollzogenen Todesstrafen oder Tötungen von Baudienstpflichtigen auf der Flucht sind dokumentiert.93 Im Juni 1942 erschossen Angehörige der Wehrmacht im Kreis Dębica Tarnowska (Dębica liegt ca. 40 km von Tarnów entfernt) drei Männer auf der Flucht, hieß es in den BaudienstMonatsberichten.94 Zum Teil begannen aber die deutschen Behörden Zweifel an solch drakonischen Maßnahmen zu hegen. In einer Arbeitssitzung vom Januar 1943 sprach sich der Gouverneur des Distrikts Radom Ernst Kundt (ehemals Stadtkommissar und Kreishauptmann von Tarnów, Sept. 1939 bis Dez. 1940) wie folgt aus: Man habe für gewisse Verfehlungen der Baudienstpflichtigen die Todesstrafe eingeführt. So notwendig diese Strafe im gegebenen Fall auch sein möge, so sei er doch mit dem zuständigen Staatsanwalt und den Baudienstführern übereingekommen, von dieser Todesstrafe nur in bestimmten Fällen Gebrauch zu machen, damit nicht Baudienstpflichtige, die zum Tod verurteilt worden seien und sich geflüchtet hätten, frei herumliefen oder sich einer Bande anschlössen.95

Darüber hinaus richteten die deutschen Behörden Straflager für die Baudienstpflichtigen ein. Das erste lag auf dem Truppenübungsplatz in Dębica in der Nähe von Tarnów und bestand bis ca. Juni 1942. Danach wurde es nach Krakau in die Kalk- und Steinwerke verlegt, die bis heute umgangssprachlich „Liban“ genannt werden, nach ihrem letzten Besitzer.96 Bis November 1942 waren in Liban 813 Junacy strafinterniert.97 Ab Juni 1942 wurden solche Baudienststraflager in jedem Distrikt sukzessive aufgebaut.98 Roman Starzec aus Tarnów strengte in den Jahren 1947 bis 1948 ein Verfahren gegen seinen polnischen Werkmeister im Baudienst wegen Kollaboration auf Grundlage des Augustdekrets an.99 Er bezichtigte den Werkmeister, dieser habe den deutschen Behörden verraten, dass Starzec Flüchtige vom Baudienst decke. Daraufhin soll Starzec arretiert und grausam von der Gestapo gefoltert 93 94 95 96 97 98 99

Wróblewski: Służba budowlana (Baudienst) w Generalnym Gubernatorstwie, S. 78–82. Monatsbericht November  1942 (für alle Distrikte), Krakau  16.01.1943, AAN  111: Rząd GG/490. Arbeitssitzung 1943, 25.01.1943, Trial XXIX, 653–654, zit. nach Pospieszalski: Documenta Occupationis, S. 344, Fn. 35. Wróblewski: Służba budowlana (Baudienst) w Generalnym Gubernatorstwie, S.  69; in Liban wurden Teile des Films „Schindlers Liste“ gedreht und das Lager Plaszów nachgestellt. Zum Straflager siehe auch Wróblewski: Służba budowlana (Baudienst) w Generalnym Gubernatorstwie, S. 70. Ebd., S. 70 ff. IPN Kr  502/1978; zum Augustdekret siehe Kapitel  4 „Das Fallbeispiel Marian  H.  und Władysław Ł. oder: Hinführung zum Thema“.

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worden sein. Der Werkmeister wurde 1948 wegen Mangels an Beweisen freigesprochen. Obschon beide während der „Aktion“ 1942 im Baudienst in Tarnów dienten, wurden Tötungen von Jüdinnen und Juden in diesem Verfahren von keiner Seite, auch nicht von der Staatsanwaltschaft oder dem Richter, zur Sprache gebracht.100 Wróblewski unterscheidet zwei Arten der Behandlung von Baudienstmännern. Diejenigen, die ungehorsam waren und sich dem Dienst entziehen wollten, wurden mit zum Teil drakonischen Strafen, auch der Todesstrafe, belegt. Mit jenen, die sich aber „unterordneten“, wurde anders umgegangen – allein damit die geplanten Arbeiten zu bewerkstelligen waren. Diese Baudienstmänner, die sich unterordneten, stellten laut Wróblewski die Mehrheit der Junacy dar, während eine Minderheit flüchtete, Strafen abbüßte oder gar zum Tode verurteilt wurde.101 Seiner Meinung nach war das Problem des Ungehorsams vor allem in der Rekrutierungsphase virulent. Dafür würde beispielsweise sprechen, dass die meisten Baudienstkasernen nicht bewacht wurden.102 Wróblewski erklärt dies damit, dass die jungen Männer Angst vor den drakonischen Strafen hatten sowie um ihre Angehörigen, die zur Kollektivverantwortung herangezogen und ebenso bestraft werden konnten.103 Außerdem war der Dienst zeitlich begrenzt, die Männer wussten, wann sie den Baudienst wieder verlassen würden, und hatten auch Urlaub. Die deutschen Behörden hatten gegenüber den rekrutierten und kasernierten Baudienstmännern Verpflichtungen, und der Dienst konnte einigen, die zur Unterordnung gewillt waren, Vorteile verschaffen. Die Baudienstmänner erhielten Verpflegung, ein geringes Taschengeld und ab Juni 1942 auch Zigarettenzuteilungen, wobei diese als Prämie verteilt werden konnten oder aber – als Strafe für mindere Vergehen – verweigert wurden.104 Die Deutschen stellten zudem das Werkzeug, Arbeitsmaterialien und Kleidung. Bei Arbeitsunfällen sollte die Familie des Baudienstmannes entlohnt werden.105 In einem Aktenbestand der Baudiensthauptstelle findet sich ein Befehl vom 16. Februar 1944, dass die Nachtruhe auf 8,5 Stunden verlängert werden solle, da die Zeit sonst für die „jungen, z. T. der körperlichen Arbeit ungewohnten Männer“ zu 100 IPN Kr 502/1978. 101 Wróblewski: Służba budowlana (Baudienst) w Generalnym Gubernatorstwie, S.  85; zu Disziplinarmaßnahmen der sich unterordnenden Junacy siehe ebd., S. 85–87. 102 Ebd., S. 60; es ist nur bekannt, dass die Baudienstkaserne in Trawniki bewacht wurde, ebd., S. 81. 103 Ebd., S. 78. 104 AAN 111: Rząd GG/554. 105 Befehl, Nr.  43, 16.02.1944, ANKr  29/426: Akta niemieckich władz/342: Baudiensthauptstelle, Bl. 765.

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kurz sei.106 Den deutschen Führungskräften sollte der Baudienst zudem dazu dienen, geeignete Fachkräfte zu entdecken und zu fördern. So heißt es in den „Bedingungen für den Einsatz des Baudienstes im Generalgouvernement“: „Der Einsatz der männlichen polnischen, ukrainischen und goralischen Jugend gibt der Führung des Baudienstes wertvolle Anhaltspunkte für die Auslese und spätere Förderung eines charakterlichen und leistungsmäßig wertvollen Nachwuchses für Facharbeiter, Vorarbeiter und Werkmeister.“107 Ab 1943 wurden zu den von dem deutschen Besatzungsapparat organisierten Fachschulen nur jene Männer zugelassen, die den Baudienst absolviert hatten.108 Der Baudienst, so der Historiker Friedrich, war demnach auch ein „prerequisite for further education in a technical college“.109 Galten die wenigen etablierten Berufsund Fachschulen vielen jungen Polen als Möglichkeit, der Verschleppung zur Zwangsarbeit „im Reich“ zu entgehen, so war ab 1943 der Besuch der Fachschule nur jenen vorbehalten, die den Baudienst bereits abgeleistet hatten.110 Jene, die sich weiterbilden wollten, mussten also seither für den Besatzer arbeiten. Auch polnische Polizeianwärter konnten nur nach Ableistung des Baudienstes angenommen werden.111 Einige junge Männer meldeten sich freiwillig, um der Verschleppung zur Zwangsarbeit nach Deutschland zu entgehen. Insgesamt vermeldeten die deutschen Baudienstführer über die polnischen Pflichtigen positive Meldungen: „Arbeitswille und Arbeitsleistung waren bei dem Teil der Dienstpflichtigen, der sich nicht der Dienstpflicht entzogen hat, im allgemeinen zufriedenstellend.“112 Weitere Monatsberichte vom Juni und August 1942 bestätigten dies: „Das allgemeine Verhalten ist gut und zufriedenstellend. […] Die Arbeitsleistung hat sich wesentlich gebessert.“113 Das Verhältnis zwischen Baudienstleitern und Dienstpflichtigen war nicht nur von Zwang und Strafe bestimmt. 106 Ebd. 107 Bedingungen für den Einsatz des Baudienstes im Generalgouvernement, AAN 111: Rząd GG/499. 108 Madajczyk: Polityka III Rzeszy w Okupowanej Polsce, Bd. 2, S. 151, siehe auch Harten: Die Kulturnation. 109 Friedrich: Collaboration in a „Land without Quisling“, S. 720. 110 Madajczyk: Polityka III Rzeszy w Okupowanej Polsce, Bd. 2, S. 151. 111 Bericht über die Besprechungen beim Kommandoführer vom 17.10.1941, AAN 111: Rząd GG/490: Monatsberichte. 112 Bericht über den Baudienst im GG (Rechnungsjahr 1941) vom 19.03.1942, zit. nach Pospieszalski: Documenta Occupationis, S. 338. 113 Das Zitat stammt aus dem Monatsbericht für Juni 1942 (für alle Distrikte), 21.07.1942, AAN 111: Rząd GG/490; weitere lobende Zitate zur Arbeitsleistung der Baudienstmänner finden sich auch in: Zusätzlicher Monatsbericht für August 1942 für den Distrikt Krakau, Krakau, 05.09.1942, AAN 111: Rząd GG/490.

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Zusammenfassend kann festgehalten werden: Die deutsche Besatzungsmacht sah drakonische Strafen für die Flucht Baudienstpflichtiger vom Dienst vor. Es kam zu Erschießungen von Flüchtigen und zur Vollstreckung von Todesurteilen sowie zur Verschickung in Straflager unter härtesten Bedingungen. Laut Wróblewski betraf dies vornehmlich den Rekrutierungsprozess. Hinzufügend muss betont werden, dass zu dieser Zeit der Terror des deutschen Besatzers gegenüber den nichtjüdischen Polinnen und Polen bereits flächendeckend war – für viele mindere Vergehen, wie etwa den Besitz eines Radios, drohte die Todesstrafe, die zum Teil auch willkürlich vollstreckt wurde. Die gefürchteten „łapanki“ waren regelrechte Jagden auf Menschen in den Straßen, um sie zur Zwangsarbeit zu verschicken. Sie verbreiteten Angst und Schrecken.114 Der Rekrutierungsprozess zum Baudienst reihte sich also in diesen Besatzungsterror ein. Viele junge Männer entschieden sich trotz drohender Todesstrafe dem Besatzer gegenüber ungehorsam zu agieren, wie auch in anderen Bereichen des Besatzungsalltags. Nachdem die Baudienstpflichtigen bereits gemustert und kaserniert worden waren, stellte der Ungehorsam während des mehrere Monate dauernden Dienstes bei denjenigen, die nicht geflüchtet waren oder sich dem Dienst entzogen hatten, kein schwerwiegendes Problem dar. Friedrich suggeriert, dass die Baudienstler gewisse Privilegien erhielten und bezeichnet diese sogar als Teil der institutionalisierten Kol­laboration im besetzten Polen. Aus den deutschen Quellen geht hervor, dass die Dienstführer mit der Arbeit der rekrutierten Baudienstleute im Allgemeinen zufrieden waren. In der rassistischen Volkstumspolitik der deutschen Besatzer, die die Polen zu einem Sklaven- und Arbeitervolk degradieren wollten, konnte den jungen Polen der Baudienst insofern zum Vorteil gereichen, als er sie dazu befähigte, sich weiter zu Fachund Werkarbeitern ausbilden zu lassen. Sie konnten gar von den Deutschen als förderungswürdige „Auslese“ unter den Polen betrachtet werden. 8.2.4 Beteiligung des Baudienstes an der Judenvernichtung In seiner Forschung zum Baudienst bestätigt Mścisław Wróblewski, dass sich die Junacy aktiv an den „Aktionen“ 1942 beteiligten.115 Die jungen Männer sollten nicht nur in Tarnów, sondern auch andernorts Gruben ausheben, nach den Exekutionen die Massengräber zuschütten und Leichen verscharren. 114 „Łapanka“ funktioniert bis heute als eine narrative Verdichtung im kollektiven Gedächtnis der Polen als Beschreibung des „Einfangens“ der Menschen und ihrer Verschleppung zur Zwangsarbeit. 115 Siehe Wróblewski: Służba budowlana (Baudienst) w Generalnym Gubernatorstwie, S. 157–162.

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In den Akten der Regierung des Generalgouvernements, die den Baudienst betreffen, finden sich Rechnungen für, im NS-Jargon, „Judeneinsätze“, „Judenumsiedlung“, „Arbeiten im Judenbezirk“, die der Baudienst für seine Tätigkeit ausstellte.116 Einen solchen Hinweis zu einem „Judeneinsatz“ in Tarnów oder eine Rechnung darüber konnte ich in den deutschen Akten, die im AAN lagern, nicht finden. Wie erwähnt sind jedoch die Akten zum Teil verschollen. Dass den Baudienstmännern bei solchen Tätigkeiten Alkohol ausgegeben wurde, wiederholt sich in vielen Aussagen und wird von Wróblewski bestätigt.117 Zum Teil wurden die Baudienstler nach einem „Judeneinsatz“ mit einem üppigen Essen belohnt.118 Ab Juni 1942 bekamen sie zudem Zigarettenzuteilungen.119 Der Übergang von einer Hilfsleistung bei der Ermordung durch die Deutschen hin zur aktiven Tatbeteiligung war fließend. Der Baudienst in Tarnów führte Jüdinnen und Juden zu Exekutionsstätten, sortierte ihre Kleider und Gepäck, brachte diese in die Czacki-Schule und reinigte die Straßen vom Blut.120 Nach der ersten „Aktion“ war der Baudienst noch „wochenlang“ damit befasst, auf der „arischen“ Seite verbliebene jüdische Habe und Hausrat aus den Wohnungen zu holen und zu bestimmten Sammelplätzen in der Stadt zu schaffen.121 Während der zweiten und dritten „Aktion“ 1942 und der Liquidierung des Ghettos 1943 suchte der Baudienst gemeinsam mit SS- und Polizeieinheiten nach versteckten Jüdinnen und Juden, holte sie aus Kellern, Dachböden und Bunkern heraus, um sie zu den Erschießung zu bringen.122 In anderen Ortschaften umringte der Baudienst das Gebiet, in dem die „Aktion“ stattfand, um die Flucht von Jüdinnen und Juden zu verhindern.123 Warum das Verhindern der Flucht in kleineren Städten als Tatbeteiligung gewertet werden kann, zeigt folgender Ausschnitt aus dem Verfahren gegen den Stabschef des SS- und Polizeiführers Martin Fellenz. Im Dorf Michałowice,

116 Solche Rechnungen sind im Distrikt Krakau für Rzeszów, Krakau, Nowy Sącz, Miechów, Nowy Targ, Sanok, Dębica und Jasło erhalten, vgl. Wróblewski: Służba budowlana (Baudienst) w Generalnym Gubernatorstwie, S. 157–159. 117 Ebd., S. 157–162. 118 Ebd., S. 157–162. 119 AAN 111: Rząd GG/554. 120 Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818; Bericht Halina Korniło, AŻIH 301/3228; Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600. 121 Zeugenaussage Alfred Eckmann 1965, BAL B 162/19257, Bl.  19; Urteilsverkündung im Prozess gegen Walter Baach und Ernst Wunder, YVA Tr. 10/751, S. 39. 122 Bericht Izrael Izaak, AŻIH 301/818; Bericht Józef Korniło, AŻIH 301/4600; Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598; Bericht Erna Landau, AŻIH 301/1591; Bericht Gizela Beller, AŻIH 301/2040, zitiert nach Grabowski: Judenjagd, S. 236–242, die Stelle zum Baudienst: S. 238. 123 Wróblewski: Służba budowlana (Baudienst) w Generalnym Gubernatorstwie, S. 157–168.

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Kreis Miechów (der Kreis grenzt an den Kreis Tarnów an, die Baudienststelle war aber eine andere), sah die „Aktion“ folgendermaßen aus: Als der Angeklagte eintraf, war die Aktion gegen die Juden in Michalowice unter der Führung des Leiters des Gestapo-Außenstelle Miechow, SSUntersturmführer und Kriminalobersekretär Bayerlein, schon angelaufen. Es war eine regelrechte Judentreibjagd im Gange. Die SS-Mannschaften schossen mit Gewehren und Pistolen in die von den Juden bewohnten Häuser, drangen sodann mit gezückten Pistolen in die von Juden bewohnten und inzwischen von außen beschossenen Häuser ein, wo weiter geschossen wurde. Einzelne Juden versuchten dem Erschießen dadurch zu entgehen, daß sie auf die Dächer der Häuser flohen. Hier wurden sie von den SS-Leuten abgeschossen. Andere Juden versuchten, in die am Rande des Ortes gelegenen Kornfelder zu entkommen.124

Das Zitat könnte ergänzt werden durch: woran der polnische Baudienst sie hinderte. Des Weiteren findet sich in den Akten im AAN folgendes Lob in den Monatsberichten vom September 1942 über den Baudienst im Kreis Miechów: Das Verhalten und die Disziplin der Baudienstmänner ist im Allgemeinen mit gut zu bezeichnen. Lobend muß das Verhalten der 4 Abteilungen der Baudiensthauptstelle 102 Miechow beim Einsatz der Judenaktion hervorgehoben werden. Beim Fliegerangriff in einer Nacht, als die Baudienstmänner die Stadtgemeinde Wolbrom umstellt hatten und die Bomben neben den Baudienstmännern einschlugen, ist nicht ein Mann von seinem Posten gewichen. Widersetzungen und Verstöße gegen Zucht und Ordnung sind nicht vorgekommen. Die Zahl der Dienstflüchtigen hat erheblich nachgelassen. Die Arbeitsleistung ist mit gut zu bezeichnen.125

Der Historiker Dariusz Libionka bestätigte, dass sich der Baudienst im Kreis Miechów aktiv an den „Aussiedlungsaktionen“ beteiligte. Sie umzingelten Gebiete, in denen Jüdinnen und Juden wohnten, um ihre Flucht zu verhindern, sie führten sie zu Sammelstellen und bewachten diese, sie waren an Exekutionsstätten präsent, hoben Gruben aus und schütteten diese dann zu. Zugleich waren sie daran beteiligt, versteckte Jüdinnen und Juden in den Städten und umliegenden Dörfern aufzuspüren, um sie den Deutschen zuzuführen.126 Libionka stellt auch die Rechnungen für „Judeneinsätze“ im Kreis zusammen – rund 87 000 Złoty gingen auf das Konto des Baudienstes für diese Einsätze im gesamten Distrikt Krakau ein, davon die Hälfte allein für den Kreis 124 Prozess gegen Martin Fellenz, YVA Tr. 10/598. 125 Zusätzlicher Monatsbericht für Monat September 1942, Krakau, 02.10.1942, AAN 111: Rząd GG/490. 126 Libionka: Powiat Miechowski, S. 103.

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Miechów.127 Allerdings fehlen dabei, wie oben erwähnt, die Rechnungen des Kreises Tarnów.128 Rabbi Chaim Wolgelernter schrieb noch während der deutschen Besatzung in seinem Versteck in einem Kuhstall auf einem Dorf im Kreis Miechów ein Tagebuch. Dieses besteht aus ca.  70  Seiten unterschiedlicher Papiersorten und -formate, dicht auf Jiddisch beschrieben. Das Zeugnis überlebte seinen Verfasser, der noch während der Besatzung ermordet wurde. Seine Familie veröffentlichte es 2015 in englischer Übersetzung in Buchform.129 Chaim Wolgelernter wohnte vor dem Krieg mit seiner Frau in Działoszyce, ca. 80 km nordwestlich von Tarnów entfernt, im Landkreis Miechów. Jüdinnen und Juden stellten vor dem Krieg rund 80  % der Bevölkerung von Działoszyce. Während der deutschen Besatzung gab es dort kein geschlossenes Ghetto, wie in vielen kleineren Ortschaften auch nicht. Minutiös beschrieb Wolgelernter in seinem Tagebuch die „Aussiedlungsaktion“ im September  1942. Zur Rolle des Baudienstes und zugleich der polnischen Polizei äußerte er sich wie folgt: On Wednesday 20 Elul/September 2, 1942, at 6:00 pm the „saviors of European civilization“ in the garb of Gestapo executioners arrived with the Miechow train. They were accompanied by the Junacy, the cream of Poland’s youth, who now that they had lost their homeland, put themselves at the disposal of their erstwhile enemy. For a shot of liquor, a Junak was willing to implement Germany’s ruthless campaign against the defenseless, perpetually persecuted Jew – the very Jew who had just recently shed his own blood alongside him on the battlefield in the struggle for Poland’s freedom, perhaps fighting even more valiantly than these shameless beasts. The town was blocked by Junacy holding sharp spades. Panic and turmoil ensued. Carrying their children, frightened, bewildered Jews ran through the streets, searching for a way to break through the chain of drunken Polish youths. […] The drunken, singing and carousing of the Junacy can be heard from afar. The Blue Police is at work, too, beating, kicking, and cursing the frightened Jews, whose screams pierce the air. Our local police are not to be left out either. Ordaszinski, the easygoing town constable who made himself at home with every Dzialoszycer – there wasn’t a Jewish household where he didn’t indulge in drunken gluttony and accept all sorts of bribes – now struts through the streets, prodding his big dog upon the hapless, wretched Jews. „Accursed Jews, your time has come!“ he snarls at his good old Jewish friends. „Who if not Hitler, knows how to resolve the Jewish Question? Certainly not our corrupt Polish government who continually conducted discussion in the Sejm about you Jews but never did anything substantial about it! Now and then, Jewish businesses were confiscated or boycotted and Jewish students were beaten on the trains. That was worthless. What did we gain from that?“ Ah … things will be altogether different now, muses Ordaszinski, thinking 127 Ebd., S. 104. 128 Das Fehlen der Rechnungen aus dem Kreis Tarnów bestätigen auch Libionka: Powiat Miechowski, S. 104 und Grabowski: Judenjagd, S. 121. 129 Wolgelernter: The Unfinished Diary.

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of the substantial amount of merchandise that several of his Jewish friends in the shoe and textile industries had entrusted with him for safekeeping a few days ago. […] But we must keep our eyes open for the escapees who will be hiding in the villages with those boorish farmers. How many Jews have I myself seen today, running through the fields towards the countryside. […] Although the Germans are now implementing their agenda, they are not going to search for these Jews. First of all, the Germans do not know the ins and outs of the villages. Besides, they are afraid of the partisans circulating in the area, and they do not have enough troops for full-scale expeditions. We – the Polish police – will have to take over. We know every nook and cranny in the villages. Thinking that we won’t harm them, the Jews will not be so quick to take cover when they see us. […] Gunshots continue to resound through the air. The German killers are roaming the streets, searching the houses for the sick and elderly who were not able to leave their apartments; they receive their sentence on the spot, saving them the trouble of reporting to the market square. […] Neither do the Junacy stand by empty-handed. With spades, pitchforks, and axes, they attack the weakened, tormented Jews. Many fall victims to these depraved murderers. Within a short time, the streets are strewn with the dead and wounded.130

Der bekannte Arzt Professor Ludwik Hirszfeld stammte aus einer polnischjüdischen Familie. Bekannt wurde er durch seine Arbeit über die Klassifizierung von Blutgruppen und Rhesusfaktoren. Mit seiner Frau und Tochter versteckte er sich mit „arischen“ Papieren in einem Vorort von Warschau. Wegen der Krankheit seiner Tochter fuhr er mit ihr aufs Land, in ein kleines Dorf am Fluss Nida bei Wiślice, ca. 25 km von Działoszyce entfernt und rund 50  km nördlich von Tarnów. Dort versteckten sich die beiden „an der Oberfläche“, das heißt mit falschen Papieren in der Öffentlichkeit als nichtjüdische Polin und Pole. In seinen 1946 erschienenen Memoiren verarbeitet Hirszfeld literarisch die Begegnung mit einem Jungen vom Baudienst aus dem Kreis Miechów: An einem warmen Septembertag liege ich mit meiner Tochter am Ufer der Nida. Still fließt der Fluss dahin. Von Weitem sehen wir den Park in Czarkowy und die Obstbäume in den Gärten, deren Äste sich unter der Last der Früchte biegen. Die Sonne scheint. Mit uns baden ein junger Volksschullehrer und seine entzückende Frau, beide jung und tüchtig, ganz der nationalen Sache ergeben. Wir lassen uns an der Sonne wärmen, blicken auf den ruhigen Fluß, sehen die Wolken, die über den Himmel ziehen, und versuchen zu vergessen. Vielleicht war diese Hölle ja nur ein böser Traum. Ein junger, etwa 20-jähriger Bursche kommt aus dem Wasser, mit freundlichem, einfachem Gesicht. Er setzt sich neben uns und erzählt. Als Junak war er zur Arbeit im Baudienst eingezogen worden. Weigern konnte er sich nicht, da ihm sonst die Eltern genommen worden wären. Die Deutschen quartierten 130 Ebd., S. 91–102.

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kapitel 8 die jungen Männer zusammen ein und bearbeiteten sie mehrere [Tage]131 hindurch mit Vorträgen, in denen die Juden als die Wurzel allen Übels auf der Welt bezeichnet wurden. Man zeigte ihnen Bilder, auf denen der Jude als Laus oder Floh dargestellt war. Danach flößte man ihnen Wodka in rauen Mengen ein, und wenn sie kaum noch bei Bewusstsein waren, befahl man ihnen, eine Stadt zu umstellen und Juden zu ergreifen. Als Nächstes wurden die bedauernswerten Burschen irgendwo an den Stadtrand geführt, wo ein paar bewaffnete Deutsche warteten. Den Juden befahl man, ein Loch zu schaufeln, und wenn das getan war, mussten die Junaken jeweils einen Juden zu den Deutschen führen und dabei seine beiden Hände festhalten. Der Deutsche schoss und die Junaken mussten den Juden in das ausgehobene Loch stoßen. Wurde der Jude getötet, war es noch halb so schlimm. Meistens jedoch war er nur verwundet. Es war nicht schön, so eine schreiende Jüdin in das Loch zu stoßen. Am schrecklichsten war es, Kinder hineinzuwerfen. Einer der Junaken hielt es nicht aus und fing an zu weinen. Sie waren schließlich selbst noch Kinder, die man in die Rolle der Henker gezwungen hatte. Der Lehrer fragte: „Hast du dich dabei nicht geschämt?“ – „Am Anfang ja, es hat mir sogar sehr leidgetan, aber später habe ich mich daran gewöhnt. Außerdem, was hätte ich auch tun sollen? Wenn einer nicht mitmachen wollte, hat er gleich den Genickschuss bekommen.“ Die Frau des Lehrers hat Tränen in den Augen, der Lehrer sieht den Burschen traurig an und weint in der Seele um ihn, nicht nur wegen der getöteten Juden, sondern auch, weil die Jugend seines eigenen Volkes nach solchen Erlebnissen moralisch tot ist. Denn niemand führte [als Zwanzigjähriger] ungestraft die [Aufgaben] eines Henkers aus.132 Selbst dann nicht, wenn er mit Alkohol vergiftet wurde. Und als ich so auf die sanften Wellen der Nida schaue, sehe ich vor meinem inneren Auge, wie ich mein Kind an der Hand führe. Neben uns derselbe junge Bursche. Ein grundanständiges, slawisches Gesicht. Solche Jungen waren die Spielgefährten meiner Marysia, strohblonde Köpfe, blaue Augen. Aber dieses Mal halten sie ihre Hand, um sie zu ihrem Mörder zu bringen. Als sie sich losreißt, schlägt einer der blonden Jungen sie mit der Schaufel auf den Kopf. Auf ihren blonden Kopf. Und mir ist es nicht einmal gestattet zu sterben, muss ich doch bis zum letzten Moment mein Kind an der Hand halten. Still fließt die Nida dahin. Am Himmel quellen die Wolken. In der Ferne biegen sich die Bäume unter ihrer üppigen Last. Über uns steht die Sonne – eine reine, strahlende Freude. Neben uns der junge Bursche – ein Mörder. So sah die Freiheit für uns aus.133

131 In die hier zitierte Übersetzung hat sich ein Fehler eingeschlichen. Im polnischen Original heißt es „Tage“, in der deutschen Übersetzung „Jahre“. Die Junacy mussten nicht jahrelang im Baudienst dienen, auch wenn einige auf freiwilliger Basis ihren Dienst verlängerten. 132 In der zitierten Übersetzung: „Denn niemand führte im 20. Jahrhundert ungestraft die Befehle eines Henkers aus.“ Die Übersetzung ist an dieser Stelle sinnentstellend und deswegen hier von mir anhand des polnischen Originals berichtigt: „Bo nikt w dwudziestym roku życia nie spełnia bezkarnie zadań kata.“ Hirszfeld: Historia jednego życia, S. 360–361. 133 Hirszfeld: Geschichte eines Lebens, S.  302–303. Ein Jahr nach der Erstveröffentlichung (1946) in Polen sagte Hirszfeld im Prozess gegen L. Fischer aus und führte die Geschichte

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Zwei unterschiedliche Zitate über den Baudienst im Kreis Miechów und deren Mittäterschaft: das erste aus den Augen eines dort beheimateten Rabbis, der sich vor allem im Jiddischen ausdrückte und sich nur „unter der Oberfläche“, in einem Kuhstall versteckte. Sein Tagebuch verdeutlicht unter anderem die „Intimität der Gewalt“134 – die polnischen Mörder kannten ihre Opfer sehr gut in dem kleinen Städtchen. Sie kannten die Topographie der Orte, Auswege, Versteckmöglichkeiten. Einige erhofften sich materiellen Profit, wenn die Jüdinnen und Juden nicht mehr da sein würden. Der andere – ein polonisierter Jude, der sich an der „Oberfläche“ mit falschen Papieren und einem ihn nicht verratenden Aussehen und Benehmen bewegte. Beide bezeugten die Mittäterschaft des Baudienstes und gaben eine Vorstellung von den sozialen Prozessen innerhalb der besetzten Bevölkerung, die der deutsche Besatzungsterror auslöste. Werkzeuge wie Spaten werden in beiden Äußerungen zu Tatwaffen. Während Wolgelernter Gier und Antisemitismus als Hauptmotivation sieht, so erblickt Hirszfeld zugleich den moralischen Verfall der jungen Männer, die selbst noch Kinder seien. Doch auch er sieht in dem strohblonden, slawischen Jungen letztlich den Mörder, der auch seiner Tochter mit einem Spaten den Kopf zerschlagen würde. Er sieht den Jungen nicht nur als Helfer der Täter, sondern als Mörder. Noch mehr agency schreibt Hirszfeld den Jungen vom Baudienst in einer Aussage vor Gericht zu (Vgl. Fußnote 134). In der veröffentlichten Erinnerung spricht der Junak selbst allerdings nicht von Spaten. Der Erzähler, der in seiner Fantasie aber einen Spaten als Tatwerkzeug der Junacy vor seinem inneren Auge erblickt, muss Hintergrundwissen besitzen, welches er nicht mit der Leserschaft teilt. in ähnlichen Worten aus: „Ich möchte hier eine für mich sehr schmerzhafte Erinnerung anführen. Ich war damals bereits ein scheinbar freier Mensch und hatte die Gelegenheit, in einem Dorf mit einem jungen Mann zu sprechen. Der etwa 18-jährige Junge, der in den Baudienst einverleibt wurde, erzählte mir, wie man die Jungen zwang, Juden zu ermorden. Erst einmal gab es eine Schulung, die darin bestand, dass man Bilder von Juden zu sehen bekam. Juden wurden dort als besonders abscheuliche Tiere dargestellt: als Läuse und Wanzen. Danach gab man den 18-jährigen Kindern Alkohol und als sie schon halb ohne Bewusstsein waren, befahl man ihnen, Juden zu fassen und den Deutschen auszuliefern, die dann die Juden töteten. Ich erinnere mich, dass der junge Mann sagte, dass sein Gewissen an ihm nagt und dass es ihn traurig machte, das anzuschauen. Aber als einer seiner Kollegen anfing zu weinen, wurde er auf der Stelle erschossen. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als im betrunkenen Zustand Menschen einzufangen und sie ihren Henkern auszuliefern und am Ende warfen sie häufig nur verletzte Personen in eine gemeinsame Grube.“ Protokoll der Gerichtsverhandlung vor dem Höchsten Gericht gegen L. Fischer, 24.01.1947, zit. nach Wróblewski: Służba budowlana (Baudienst) w Generalnym Gubernatorstwie, S. 161. 134 Zu dem Begriff der „intimate violence“ sowie der sozialen Dynamik in den Besatzungsgesellschaften in Ostgalizien siehe Aleksiun: Intimate violence, S. 17–33.

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Abbildung 71 Material aus der Propagandaschulung für den Baudienst

Hirszfeld beschrieb zugleich, dass die Baudienstler ideologisch auf ihre Aufgabe vorbereitet wurden. Die deutschen Dienststellenleiter veranstalteten Schulungen, in denen das antisemitisch-rassistische Feindbild propagiert und Jüdinnen und Juden dehumanisiert wurden. Darüber berichtet auch Wróblewski.135 Aus eigener Forschung kann ich dies ebenfalls bestätigen. Das in Polen bereits vor dem Zweiten Weltkrieg weit verbreitete Stereotyp der „żydokomuna“ wurde in den Propaganda-Schulungen des Baudienstes kolportiert. Ein Bild aus dem Jahr 1943 verdeutlicht dies. Es wurde in einer Auflage von 2500 Exemplaren in polnischer Sprache produziert und an die Baudienstler ausgeteilt. Zum anderen entsteht in der Aussage Hirszfelds das Bild, dass die Baudienstler unter Todesdrohung gegen ihren Willen gehandelt haben. Laut der Aussage des jungen Mannes, den Hirszfeld paraphrasierte, wurde ein Junak, der nicht mitmachte, von den Deutschen erschossen. Auch Wróblewski schreibt, dass jene, die „nervlich“ nicht geeignet für diese Aufgaben waren, umgebracht wurden.136 Für diese Behauptung führt Wróblewski leider keine Belege an. 135 Wróblewski: Służba budowlana (Baudienst) w Generalnym Gubernatorstwie, S. 158. 136 Ebd., S. 157.

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Hirszfeld dagegen gibt die Aussage eines Tatbeteiligten wieder, der seine Taten legitimieren will, denn er antwortet dabei auf eine kritische Frage: „Hast Du Dich denn nicht geschämt?“ War dies womöglich eine Schutzbehauptung? Zugleich ist aber bekannt, dass Todesurteile wegen Desertion durchaus an den Baudienstmännern vollstreckt wurden. Diese sahen sich also tatsächlich dem deutschen Terror ausgesetzt und konnten von schierer Angst überwältigt sein. Die Gewalt gegen Jüdinnen und Juden, die sie ganz unmittelbar erlebten, konnte diese Angst noch steigern. Meistens wurden die Baudienstleute für solche Einsätze von ihren Leitern für eine andere Behörde „abgestellt“, sodass sie in der Situation nicht direkt dem Baudienstleiter unterstanden, sondern die Befehle der Sicherheitspolizei oder SS ausführten. Der Leiter des Baudienstes im Kreis Tarnów berichtete: „Der polnische Baudienst wurde auch bei anderen Angelegenheiten von den örtlichen Behörden angefordert, aber offenkundig zu ganz anderen Zwecken. Ich hatte die Befugnis, einen Teil abzustellen, aber nicht so viel, daß die ordentlichen Bauvorhaben darunter leiden konnten.“137 Vermutlich wurde er während der Zeugenaussage auch danach befragt, ob die Baudienstmänner sich aktiv an der Ermordung von Jüdinnen und Juden beteiligten (die Fragen sind im Protokoll leider nicht enthalten). Eckmann war am unmittelbaren Tatgeschehen häufig gar nicht beteiligt, er sagte jedoch 1965 aus: Während der ersten Aussiedlungsaktion wurden die Männer des Baudienstes [in Tarnów  – AW] nur so verwand, wie ich es dargestellt habe. Ich kann mir nicht denken, daß Männer des Baudienstes an Ausschreitungen teilgenommen haben. Es waren junge Polen, sie trugen Drillichzeug. Sie durften in die Häuser nicht hinein. Die Baudienstmänner hatten auf den Straßen alles das aufzusammeln, was an jüdischem Gepäck verstreut herumlag. Die Juden hatten so viel Gepäck mitgenommen, wie sie gar nicht schleppen konnten. Sie hatten offenbar Anweisung, nur eine bestimmte Menge mitzunehmen, sind aber darüberhinaus gegangen. Außerdem sind die Juden unterwegs liegengeblieben. Auch das Gepäck musste aufgeladen werden. Mir ist allen in allem gemeldet worden, daß sehr viel Gepäck in den Straßen liegengeblieben war und die Baudienstmänner alle Hände voll zu tun hatten. Es gab unter den Polen viele, die Anti-Semiten waren. Auch unter den Baudienstmännern dürften Anti-Semiten gewesen sein. Aber es ist höchst unwahrscheinlich, daß sie auf Juden eingeschlagen oder sie gar totgeschlagen haben. Dazu waren die Anweisungen zu streng und die jungen Polen standen auch unter scharfer Kontrolle. Wir konnten uns keine Blöße geben.138 137 Aussage Alfred Eckmann, Leiter des polnischen Baudienstes, 1965, BAL B 162/19257, Bl. 19. 138 Ebd., Bl. 19–20.

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Das steht im Widerspruch zu den Aussagen der jüdischen Überlebenden, der Augenzeuginnen und -zeugen. Eckmann, das sollte mitbedacht werden, verteidigte zudem vor Gericht die Organisation, die er selbst leitete („Wir konnten UNS keine Blöße geben“  – Hervorhebung AW). In den Aussagen sowohl von Wolgelernter als auch von Izrael Izaak, Lila Wider und Ignacy Pasternak erscheinen die Mitglieder der Baudienstjugend allerdings eher als willige Mittäter. Zudem sei daran erinnert, dass Wróblewski den Ungehorsam der Baudienstmänner eher in der Rekrutierungsphase verortete, während die bereits rekrutierten und kasernierten Junacy in einer anderen Beziehungshierarchie zu ihren deutschen Leitern standen, welche nicht nur durch Zwang und Strafe charakterisiert war. In Wolbrom lobten die deutschen Behörden ausdrücklich das Verhalten des Baudienstes beim „Judeneinsatz“. Von Nervenzusammenbrüchen der Baudienstmänner bei den „Aktionen“ würde, laut Wróblewski, in mehreren Quellen berichtet, doch wären diesen keine tödlichen Konsequenzen gefolgt.139 Stellt man dem die Zeuginnen- und Zeugenaussagen aus Tarnów gegenüber, so wurde laut Quellen niemand unter unmittelbarer Todesstrafe gezwungen, Köpfe mit Äxten zu spalten. Diese Eskalationsstufe während der „Aktion“ kann kaum auf Befehl der Deutschen gegen den Willen der Baudienstmänner erreicht worden sein. Auch Izrael Izaak berichtete, wie ein Deutscher – wohl aus Sadismus – ihm selbst während der ersten „Aktion“ befahl, auf dem Boden liegende Juden zu töten. Izaak weigerte sich und durfte alsbald weiterfahren. Sehr viel stärker ist bei den Aussagen von Izaak und Wolgelernter das Motiv des Raubens präsent – die Baudienstmänner wollten sich bei der Gelegenheit an den getöteten Jüdinnen und Juden bereichern. Roman Kolasiński diente selbst im Baudienst in Tarnów, er war beim Bahnausbesserungswerk tätig. In seinen 2018 erschienenen Erinnerungen beschrieb er das Verhalten seiner Kollegen und deren Motive. Zur ersten „Aktion“ im Juni 1942 in Tarnów schrieb er: Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen: schönes, sonniges Wetter, ich arbeite an den Gleisen an der Bahnbrücke über der Krakowska Straße. Wir spüren, dass etwas Böses passiert, etwas Furchtbares, von der Stadt her kommen Lastwagen – offene Loren mit nebeneinander liegenden Menschen und in den Ecken sitzenden Jungen vom Baudienst. Sobald einer von den dicht aneinander Gedrängten versucht, sich zu bewegen, schlagen sie mit voller Kraft auf ihn mit den Stielen ihrer Spitzhaken ein. Nach einigen Tagen erfahren wir dann, wovon wir Zeugen geworden waren. Sie wählten die stärksten unter den Junacy vom Baudienst für Hilfstätigkeiten bei der Liquidierung von Juden in der Altstadt aus. Man füllte sie mit Wodka ab und ließ sie gewähren, in dieser Verrohung raubten 139 Wróblewski: Służba budowlana (Baudienst) w Generalnym Gubernatorstwie, S. 157–162.

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sie kleinere Sachen im Einvernehmen mit den Deutschen, die mindestens genauso betrunken waren.140

Nach den Erfahrungen der ersten „Aussiedlungsaktion“ ging der Leiter des polnischen Baudienstes im Kreis Tarnów Alfred Eckmann dazu über, bei solchen „Einsätzen“ nur noch freiwillige Polen zu rekrutieren, was die Beurteilung von deren Handlungsoptionen in ein anderes Licht stellt. Denn insbesondere nachdem die Männer während der ersten Tage der „Aktion“ sahen, was passierte, meldeten sie sich nicht unwissend zu den ihnen bevorstehenden Aufgaben. […] in einem Falle waren Baudienstmänner von einer örtlichen Behörde, ich meine von Palten [Leiter der Sicherheitspolizei-Außendienststelle Tarnów  – AW], angefordert worden, um Aushebungen in Zbylitowska-Góra vorzunehmen, etwa 20 Männer, evtl. 25, wurden von Unterfeldmeister Weber von Lysa-Góra aus abkommandiert. Er hat auf meinen Hinweis hin nur freiwillige polnische Baudienstmänner abgestellt. Ich habe mir damals schon gedacht, daß die Gestapo wieder Juden erschießen würde. Ich habe den Befehl, Freiwillige zum Ausheben der Gräber zu stellen, weitergegeben, um das von vornherein zu verhindern, was ich während der ersten Aussiedlungsaktion erleben mußte: Das Herumliegen der Leichen mit der damit verbundenen Seuchengefahr.141

Dies ist die Aussage des ehemaligen Baudienstleiters als Zeuge vor Gericht. Er war vermutlich darum bemüht, seine Rolle und die der ihm unterstellten Junacy bei der Vernichtung der Jüdinnen und Juden so gering wie möglich zu halten. Die Baudienstmänner im Kreis Tarnów wurden auch in anderen Ortschaften zu „Judeneinsätzen“ eingeteilt, mit Bestimmtheit konnte Eckmann Dąbrowa Tarnowska nennen.142 In den erhaltenen Dokumenten des Baudienstes im AAN gibt es keine einzige Meldung aus dem Distrikt Krakau, dass sich Baudienstmänner verweigert hätten, an „Judeneinsätzen“ teilzunehmen. Allerdings sind diese Meldungen lückenhaft. Es scheint von daher plausibel, anzunehmen, dass sich in dem Chaos des blutigen Gemetzels, in dem die Täter alkoholisiert waren und jede zivilisatorische Hemmschwelle überschritten wurde, einige radikalisierten und aktiv am Morden teilnahmen. Erschwerend kommt hinzu, dass in den weiteren „Aktionen“ nach Juni 1942 Freiwillige vom Baudienst für Judeneinsätze rekrutiert wurden. Aus Berichten Überlebender wissen wir, dass es diesen 140 Kolasiński: Wspomnienia, S. 104. Ich danke Adam Bartosz aus Tarnów, der mich auf dieses Zitat aufmerksam gemacht hat. 141 Aussage Alfred Eckmann, Leiter des polnischen Baudienstes, 1965, BAL B 162/19257, Bl. 18. 142 Ebd., Bl. 23.

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oblag, versteckte Jüdinnen und Juden aufzuspüren, sie aus den Bunkern, Dachböden etc. rauszuholen und in den Tod zu schicken. „Unsere“ Jungen und der Mord an den Jüdinnen und Juden – soziale Dynamik in den Besatzungsgesellschaften Die jungen Baudienstmänner gehörten zweifelsohne zu der imaginierten nationalen Gemeinschaft, es waren gewissermaßen für die nichtjüdischen Polinnen und Polen gefühlt „unsere“ Jungen, die sich an den durch die Deutschen durchgeführten Tötungen beteiligten. In der von Hirszfeld zitierten Szene fragte das polnische Lehrerehepaar den Jungen ganz pädagogisch, ob er sich nicht schäme. Hirszfeld kommentierte, der junge Lehrer sei mit Traurigkeit erfüllt gewesen, da ihm dies den „moralischen Tod seiner eigenen Nation“ vor Augen geführt habe.143 Dies führt mich zu der übergeordneten Frage, wie die Zeitzeuginnen und -zeugen darauf reagierten, dass „unsere“ Jungen jüdische Nachbarinnen und Nachbarn töteten? Die Tatbeteiligung des Baudienstes konnte nicht geheim bleiben  – das Wissen um dessen Rolle an der Ermordung von Jüdinnen und Juden ist sehr wohl wahrgenommen worden. In ihren Situationsberichten über die Region schreibt beispielsweise die Heimatarmee im Untergrund über den Distrikt Krakau: „Zur Mithilfe an der Ermordung der Juden nutzte man den Baudienst, hauptsächlich Jahrgang 1922.“144 Explizit erwähnt sind hierbei die Städte Krakau, Rzeszów und Tarnów. Der Historiker Dariusz Libionka zitiert Aufrufe an die jungen polnischen Männer, die in den Untergrundzeitungen abgedruckt wurden, nicht an den „Aktionen“ teilzunehmen.145 Das Phänomen war also in einem solchen Maße verbreitet, dass es durch Appelle im Untergrund unterbunden werden musste. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Tatbeteiligung des Baudienstes vielen Zeitgenossen bekannt war. Umso erstaunlicher ist heute die Forschungslücke zum Thema. Bemerkenswert ist zudem die Intervention des Metropoliten in Krakau und Erzbischofs Adam Stefan Sapieha in Sachen Baudienst in seinem Brief an Hans Frank, worauf der Historiker Dariusz Libionka wiederholt aufmerksam 8.2.5

143 Hirszfeld: Geschichte eines Lebens, S. 302–303. 144 „W dystrykcie [krakowskim] pozostały tylko 3 skupiska Żydów_ Kraków/około 12  000/, Tarnów/ok. 6000/, Rzeszów/ok. 2000/. Do asysty przy mordowaniu żydów użyto Baudienst/głównie rocznik 1922“, Kwartalnik sprawozdań sytuacyjnych, kwartał IV 1942 (Stand vom 20.01.1943) AAN Delegatura Rządu RP na Kraj 1940–1945 1325/202/II/11: Meldunki terenowe, S. 244. 145 Libionka: Powiat Miechowski, S. 105–106.

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machte.146 Erzbischof Sapieha war einer der wichtigsten Repräsentanten der katholischen Kirche im besetzten Polen.147 Während der deutschen Besatzung intervenierte Sapieha für die polnische Bevölkerung bei Hans Frank.148 In einem auf Deutsch verfassten Brief an den Generalgouverneur vom 2. November 1942 beklagte Sapieha die Repressalien gegen die polnische Bevölkerung, im Besonderen das Prinzip der Kollektivstrafen, das Festnehmen von Geiseln, das „wahllose Abfangen Tausender von Menschen in den Straßen der Städte, auf den Landstraßen und in Eisenbahnen“ zur Verschickung zur Arbeit „ins Reich“, Zwangsaussiedlungen von Polen etc.149 Mit lediglich einem Satz erwähnte er auch die Vernichtung der Juden, obschon seine Sorge vornehmlich dem polnischen Baudienst galt, nicht in erster Linie den jüdischen Opfern: „Bei einer so entsetzlichen Auswuchserscheinung, [sic!] wie der Verwendung von, zu diesem Zweck alkoholisierter Baudienstjugend bei Liquidierung [sic!] von Juden, will ich nicht länger verweilen.“150 Ähnlich wie in dem Zitat bei Hirszfeld erscheint hier das Motiv der Demoralisierung der polnischen Jugend. Bemerkenswert ist zudem, dass der Metropolit die Judenvernichtung kaum erwähnt, obschon gerade im Distrikt Krakau blutige „Aktionen“ dem Gedächtnis aller Einwohnerinnen und Einwohner eindrücklich verhaftet waren. Die Sorge um die katholischen Polinnen und Polen hatte bei dem Metropoliten Vorrang. Vordergründig beschäftigten ihn die Zwangsumsiedlungen, Zwangsverschickungen sowie die Kollektivhaftungen, die in willkürlichen Erschießungen und Strafmaßnahmen mündeten. Die zur selben Zeit stattfindende Judenvernichtung wird nur insofern erwähnt, als dass sie einen demoralisierenden Effekt auf die polnische Bevölkerung, hier explizit auf die jungen Polen vom Baudienst, hätte. 146 Vgl. ebd., S. 106. Den Hinweis auf die im Folgenden zitierten Quellen verdanke ich Dariusz Libionka. 147 Nach der Flucht des polnischen Primas August Hlond in den ersten Kriegswochen berief der seit 1925 amtierende Erste Erzbischof Krakaus Adam Stefan Sapieha de  facto eine Bischofskonferenz in Krakau ein, ohne dies vorher mit dem Papst Pius  XII. oder der Regierung des GG abzusprechen. So setzte er sich in eine Führungsrolle der polnischen katholischen Kirche im besetzten Polen, genauer dazu in Czajowski: Kardynał Sapieha, S. 124–125. Sapieha selbst stammte aus dem alten polnischen Adelsgeschlecht der Sapiehas und wuchs in Galizien auf, er studierte u. a. in Kraków, Wien und Innsbruck. Seine Mutter stammte aus dem Geschlecht der Sanguszkos, die Besitztümer unter anderem in Tarnów hatten, wo ein Teil der Familie vor dem Zweiten Weltkrieg lebte. Sapieha mag sich also Tarnów unter Umständen verbunden gefühlt haben. Czajowski: Kardynał Sapieha, S. 5–7. 148 Ebd., S. 129–146. 149 Brief des Erzbischofs von Krakau Adam Stephan Fürst Sapieha an Hans Frank, 02.11.1942, abgedruckt in: Wolny (Hg.): Księga Sapieżyńska, S. 434. 150 Ebd., S. 435.

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Eine zweite Version dieses Briefes ist erhalten: Diese ist um drei Sätze länger, die sich explizit auf den Baudienst in Tarnów beziehen.151 Der Eingang des Schreibens wurde in der polnischen Botschaft am Heiligen Stuhl am 23. Februar 1943 bestätigt. In diesem Schreiben folgen dem oben bereits zitierten Satz über den Baudienst drei weitere: „In Tarnów hat man die Junacy, die für den Straßenbau bestimmt waren, alkoholisiert und befahl ihnen, die jüdische Bevölkerung zu töten. Die Szenen wurden gefilmt und das Filmmaterial verbreitet, um zu beweisen, wie die Polen Juden quälten. Das fand einen Widerhall im Ausland.“152 Laut dem Forscher Dariusz Libionka, der sich ausgiebig mit der katholischen Kirche während der Besatzungszeit und ihrer Haltung zur Judenvernichtung beschäftigte, soll der Abschnitt zu Tarnów nicht in der Endversion des Briefes enthalten sein, die Hans Frank erhielt.153 Deswegen findet er sich nicht in dem auf Deutsch abgedruckten (und hier als erstes zitierten) Dokument im Quellenband der Księga Sapieżyńska.154 Weder Dariusz Libionka noch ich konnten bestätigen, dass tatsächlich Filmaufnahmen vom Baudienst gemacht und verbreitet wurden. In keiner anderen von mir gesichteten Quelle werden Filmaufnahmen erwähnt, der Film selbst wurde nie gefunden.155 Und doch bestätigt dieser Brief, dass in informierten Kreisen Menschen – sogar an hohen Positionen – um die aktive Beteiligung des Baudienstes an den Tötungen von Jüdinnen und Juden in Tarnów wussten. Hier sind diese Tötungen camoufliert als Sorge um die jungen polnischen Männer, deren Handlungen zudem als probates Mittel der Nazipropaganda dargestellt werden. Dass die Männer vom Baudienst an der Tötung von Jüdinnen und Juden aktiv mitwirkten, dass sie deren Flucht vor dem Tod verhinderten und Hilfstätigkeiten bei dem Massenmord leisteten, davon wussten vermutlich viele – vom Metropoliten in Krakau, über die Untergrundarmee bis zu den Kollegen in Tarnów-Stadt sowie natürlich den jüdischen Überlebenden. Diese Aussagen stellen eine erdrückende Beweislast dar. Wiederholt beschrieben Zeitzeuginnen und -zeugen, dass die Baudienstmänner alkoholisiert und noch sehr jung waren  – juristisch sind dies 151 Die zweite Version ist in polnischer Sprache in einem Quellenband zur Rolle der katholischen Kirche im besetzten Polen abgedruckt: Quelle Nr.  87, Brief von Kardinal Sapieha an Generalgouverneur Hans Frank, Krakau, 02.11.1942, abgedruckt in: Jasiewicz (Hg.): Bóg i Jego owczarnia, S. 231–232. 152 Ebd., S. 232. 153 Libionka: Powiat Miechowski. 154 Brief des Erzbischofs von Krakau Adam Stephan Fürst Sapieha an Hans Frank, 02.11.1942, abgedruckt in: Wolny: Księga Sapieżyńska, S. 435. 155 Libionka: Powiat Miechowski, S. 106; auch meine eigene Recherche nach möglichen Filmaufnahmen ergab keine Ergebnisse.

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strafmindernde Umstände und sie prägten die (spätere) Wahrnehmung und den Diskurs über die Baudienstmänner. Kolasiński entwertete sie durch ihre soziale Herkunft, sie seien „grobschlächtige“ Bauern vom Dorf gewesen, stellte sie also an den gesellschaftlichen Rand.156 Dass sie von den Deutschen unter Todesandrohung zu ihren Taten gezwungen wurden, erwähnten einige Zeuginnen und Zeugen ebenso. Damit aber wird den Junacy jedwede Handlungsoption a priori genommen. Doch die soziale Dynamik auf Lokalebene war ein komplexes und von mehreren Akteuren erzeugtes und aufgeladenes Kräftefeld. Die Erwähnung der Filmaufnahmen durch den Metropoliten ist dabei sehr aufschlussreich. In den Aussagen des Metropoliten und der AK wird die Sorge deutlich, dass sich „unsere“ Jungen zu Komplizen bei den Tötungen machten. Die Erwähnung des Films durch den Metropoliten hat also eine warnende Wirkung: Die deutschen Besatzer seien bestrebt gewesen, die polnische Komplizenschaft zu belegen, um sie gegen die nichtjüdischen Polen zu verwenden. Sapieha schrieb von der Öffentlichkeit im Ausland: Die Angst, dass diese Komplizenschaft im Ausland wahrgenommen würde und dies schädigend für Polen sei, ist in diese Aussage eingeschrieben.157 Die Deutschen demoralisierten also nicht nur die Jugend und verwickelten sie in verbrecherische Tätigkeiten, sie nutzten sie auch als Instrument, um die Verantwortung für die Vernichtung der polnischen Jüdinnen und Juden auf die Lokalbevölkerung umzuverteilen. Die Erwähnung der Filmaufnahmen durch Kardinal Sapieha diente als Warnung vor einer solchen Umverteilung der Verantwortung für den Mord an Jüdinnen und Juden auf polnische Mittäter. Das Einbeziehen von Teilen der Lokalbevölkerung in die Ermordung der Jüdinnen und Juden erscheint in dem Brief von Kardinal Sapieha fast schon als eine Art Mittel zum Zweck, um „die Polen“ zu diskreditieren  – und diesem Mechanismus galt seine Hauptsorge. Gewissermaßen erscheinen die Baudienstler hier als „verführte“ Jungen. Doch gerade im Hinblick auf Sapiehas Argumentationsmuster waren die Baudienstler auch in einem anderen Sinne „unsere“ Jungen, ein Teil des polnischen „Wir“-Kollektivs. Die jungen Männer des Jahrgangs 1922 waren in den (späten) 1930er Jahren sozialisiert worden. Sie waren dem zunehmend virulenten und ansteigenden Antisemitismus der sie umgebenden Gesellschaft (und auch der katholischen Kirche) exponiert. Es waren ihre Altersgenossen 156 Kolasiński: Wspomnienia, S. 104. 157 Notabene sind hier bereits die Grundsteine für ein im Nachkriegspolen wiederkehrendes Argumentationsmuster gelegt, das sich auch bei Marian  H. in dem eingangs zitierten Brief von 1968 findet. Man müsse dem Ausland beweisen, dass Polinnen und Polen nicht antisemitisch seien.

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oder nur kaum ältere Jungen, die den Boykott jüdischer Geschäfte in Tarnów forcierten, Scheiben jüdischer Geschäfte einschlugen und mit der Młodzież Wszechpolska sympathisierten. Das war Teil ihrer Sozialisation und mit diesem kulturellen Fundus gingen sie in den Krieg hinein, wurden von deutschen Besatzern zum Baudienst zwangsrekrutiert und absolvierten judenfeindliche Schulungen. Die Männer des Baudienstes pauschal als Kollaborateure einzustufen, ist allerdings zu kurz gegriffen. Vielmehr scheint das Bild eines von der NS-Besatzung geschaffenen und geprägten Kräftefeldes passender, indem die Besatzer einen Teil der Lokalbevölkerung in das Tatgeschehen zu verstricken suchten. Einige Baudienstler radikalisierten sich, zumal unter Alkoholeinfluss, und nutzten ihre Position für eigene Interessen aus – z. B. den Raub von jüdischem Eigentum, vielleicht zur Profilierung gegenüber den Deutschen. Antisemitische Einstellungen spielten dabei sicherlich eine Rolle. Im Licht der vorgestellten Befunde erscheint die Beteiligung des Baudienstes an den Tötungen von Jüdinnen und Juden, wie es Izrael Izaak, Lila Wider und Ignacy Pasternak beschrieben, durchaus plausibel. Wie solche Faktoren wie Gier, Antisemitismus, Verrohung und Gewaltbereitschaft einerseits sowie Angst vor Strafe andererseits die Handlungen einzelner Baudienstmänner anspornten und wie diese Faktoren jeweils zu gewichten sind, ist heute schwer zu erfassen. Die Aussagen der jüdischen Zeuginnen und Zeugen, in denen sie grausame Szenen entfesselter Gewalt beschrieben, sind allerdings kaum vereinbar mit dem Bild verängstigter junger Baudienstmänner. Bei weiteren „Aussiedlungen“ in Tarnów waren es sogar Freiwillige, die sich für die „Judenliquidierungen“ meldeten. Bei diesen weiteren „Aktionen“ stöberten die jungen Männer vom Baudienst Jüdinnen und Juden auf, suchten nach Verstecken und führten sie den Deutschen zur Ermordung zu. In der furchterregenden Dynamik der „Aussiedlungsaktionen“, in denen zivilisatorische Hemmschwellen überschritten wurden, eröffneten sich Handlungsoptionen für die jungen Junacy, ein Teil von ihnen radikalisierte sich sehr wahrscheinlich während des Mordgeschehens, raubte im Einvernehmen mit den Deutschen und legte selbst Hand an Jüdinnen und Juden an, mit dem zur Verfügung stehenden Werkzeug, mit Spaten, Beilen und Spitzhacken.

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Den Jüdinnen und Juden helfen

Abbildung 72 Bronisława Gawelczyk mit Sara Hofmeister, ca. 1945/46

Die obige Fotografie aus dem Yad-Vashem-Archiv, aufgenommen vermutlich gleich nach Kriegsende, zeigt Bronisława („Bronka“) Gawelczyk mit ihrer Nichte Irena. Unter diesem Namen haben jedenfalls alle Tarnower Nachbarinnen und Nachbarn das kleine Mädchen kennengelernt. Die kleine „Irena“ aber wurde als Sara Hofmeister 1941 in Tarnów in eine jüdische Familie hineingeboren. Ihre Mutter Ela besaß vor dem Krieg einen Laden, in dem Bronisława Gawelczyk ihre Einkäufe machte. 1938 bekam Bronisława ihren ersten Sohn. Dann brach der Krieg aus, Ela Hofmeister verkaufte zunächst weiter in ihrem Laden und Bronka Gawelczyk blieb ihre Kundin. Als 1941 dann Ela Hofmeister Mutter wurde, stattete Bronka ihr einen Besuch ab. Auch 1942, als das Ghetto geschlossen wurde, ging Ela Hofmeister weiterhin ihrer Arbeit im Laden nach. Nach der zweiten „Aktion“ im September 1942, die so viele Kinderleben forderte, beschloss Ela, ihre Kundin Bronka zu fragen, ob sie die kleine Sara nicht für einige Zeit zu sich nehmen könnte. Das kleine, rund ein Jahr alte Mädchen, das in Bunkern versteckt worden war, war unterernährt und Bronka „päppelte“ sie auf. Mehrmals musste sie auf Erpressungsversuche seitens der

© Brill Schöningh, 2022 | doi:10.30965/9783657760091_011

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ethnischen polnischen Bevölkerung reagieren.1 Bald erkannte Sara-„Irena“ ihre leiblichen Eltern nicht mehr, dann besuchte Bronka mit ihr jüdisch/nichtjüdische Interaktionsräume, etwa die Werkstatt, in der Saras Vater arbeitete, damit er wenigstens aus der Ferne sehen konnte, wie es seinem Kind ging. Nach der „Liquidierung“ des Ghettos 1943 verblieb nur noch Saras Onkel Hirsch Buch in Tarnów, er war dem Aufräumkommando zugeteilt worden und sortierte die Habe jüdischer Opfer in der Czacki-Schule. Bronka ging in ein angrenzendes Gebäude, von dem aus sie Kontakt mit Hirsch Buch herstellen konnte. Er soll ihr damals 20 US-Dollar gegeben und sie gebeten haben, weiter auf das Kind aufzupassen.2 Später sah sie, wie auch er abtransportiert wurde. Von 1942 bis 1946 zog Bronisława Gawelczyk Sara Hofmeister gemeinsam mit ihrem eigenen Sohn auf.3 Sie riskierte damit ihr eigenes Leben und das ihrer Familie. Sara überlebte dank Bronisława den Krieg.4 Als Sara Hofmeister in den 1960er Jahren Hochzeit in ihrer neuen Heimat Israel feierte, lud sie Bronisława Gawelczyk ein, die dann als Gerechte unter den Völkern von der Gedenkstätte Yad Vashem geehrt wurde.5 Es gab ethnische Polinnen und Polen, die sich entschieden, Jüdinnen und Juden zu helfen. Die Unterstützung konnte ganz unterschiedliche Formen annehmen  – vom einmaligen Zustecken von Brot über die Versorgung mit Lebensmitteln über eine längere Zeit.6 Es konnte Unterstützung bei der Beschaffung falscher Papiere oder beim Ausbau von Verstecken sein. Es konnte die Beherbergung für eine Nacht oder gar einen längeren Zeitraum sein wie im Falle von Bronisława Gawelczyk und Sara Hofmeister. Einige ethnische Polinnen oder Polen halfen ohne Gegenleistung, manche nur gegen Bezahlung oder gegen Dienstleistungen. In jedem Fall mussten alle Helfenden mit harten Strafen rechnen. Das Verstecken von Jüdinnen und Juden wurde im Generalgouvernement mit dem Tode bestraft, solche Fälle sind belegt und waren auch den Zeitgenossen bekannt. Im September 1942 ließ Dr. Pernutz, stellvertretender Kreishauptmann in Tarnów, Bekanntmachungen anbringen, dass alle ethnischen Polinnen und Polen, die Jüdinnen oder Juden während

1 Chomet/Korniło: Kristn, S. 310. 2 Aussage von Hirsch Buch, YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/458. 3 Nacherzählt aus der Perspektive von Bronsiława Gawelczyk nach ihrer Aussage in Yad Vashem, YVA O.3/2833. 4 Aus der Familie überlebte nur noch Saras Onkel Hirsch Buch. 5 Chomet/Korniło: Kristn, S. 311. 6 Über das Zustecken von Brot vgl. Bienenstock, Regina: Interview 33388, 19.09.1997. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 11.04.2021); vgl. auch das Kapitel 7.3.3 „In den Werkstätten“.

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der zweiten „Aussiedlungsaktion“ halfen, erschossen würden.7 Alle Helfenden waren sich der Gefahr, die sie eingingen, bewusst. Für Tarnów registrierte die Lokalhistorikerin Pietrzykowa eine Exekution von Helfenden.8 Für die Dörfer in Tarnóws Umgebung sind jedoch mehrere solcher Fälle bekannt. Bislang wurden 23 weitere Familien aus Tarnów von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“, also als Retterinnen und Retter von Jüdinnen und Juden während des Holocaust, geehrt.9 Anhand der Beweissammlung des Department of Righteous der Yad-Vashem-Gedenkstätte sowie anderer Quellen lassen sich weitere Helfergeschichten in Tarnów rekonstruieren. Grundlage für das vorliegende Kapitel sind yizker bikher, Überlebendenberichte, die der Jüdischen Historischen Kommission in Warschau überreicht oder in den DP-Camps abgegeben wurden, ebenso Interviews, die die Verfasserin selbst geführt hat, sowie Interviews im Visual History Archive der USC und veröffentlichte wie unveröffentlichte Memoiren, aber auch Nachkriegsprozesse in Tarnów. Fast alle Quellen zu diesem Teil der Arbeit stammen von Menschen, die den Krieg überlebten. Damit ist ein gewisses Bias verbunden: Es sind Geschichten, die in einer erfolgreichen Rettung mündeten. Ausgehend davon, dass über 90  % der polnischen Judenheiten ermordet wurden und die meisten Überlebenden den Krieg in der Sowjetunion überstanden, sind diese Rettungsgeschichten sehr außergewöhnlich. Sie sind rar und erzählen nicht oder nur marginal von gescheiterten Rettungsversuchen. Władysław Gulkowski hatte zum Beispiel Maciej Bleifeld während einer „Aktion“ versteckt, doch nach seiner Rückkehr ins Ghetto Tarnów kam Bleifeld bei der nächsten „Aktion“ um.10 Häufig sind Geschichten vom Überleben Erzählungen über Trajektorien, die Jüdinnen und Juden zurücklegen mussten, von Wohnung zu Wohnung, von Versteck zu Versteck, von Ort zu Ort, mit der Eisenbahn oder zu Fuß, von Helfenden zu Helfenden. Einige Jüdinnen und Juden mussten eine „Gehenna“, wie es in einem Bericht hieß, durchgehen, die Helfenden wechseln, die Verstecke wieder verlassen, bevor sie letztlich ihre Retterinnen oder Retter trafen.11 Dieser Befund verweist auf zweierlei Aspekte: Zum einen können diese Trajektorien meist nur dann verfolgt werden, wenn die betreffende Person überlebte. Die – angesichts der Zahlen – vermutlich häufigere Variante, dass Jüdinnen und Juden sich zu verstecken versuchten, Hilfe bekamen, diese 7 8 9 10 11

Pietrzykowa: Region tarnowski, S. 190. Pietrzykowa: Z dziejów Zagłady, S. 20–21. Sie nennt die Exekution von Andrzej Kapusta durch die Gestapo am 29.06.1942 wegen der Hilfe für Jüdinnen und Juden. YVA, Dep. Righteous Among Nations. Gulkowski: Wspomnienia okupacyjne. Goldberg-Klimek: A bintel zikhroynes, S. 248–256.

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aber letztlich nicht zum Überleben führte, bleibt für die Historikerin oder den Historiker oft im Verborgenen. Zum anderen zeigt der Befund auf, dass Hilfe ein mehrstufiger, sich dynamisch entwickelnder Prozess war, der sich in einem ständig verändernden Zusammenhang abspielte. Die Radikalisierung der Besatzung sowie die drei Phasen des Holocaust bestimmten den Kontext, in dem Jüdinnen und Juden sowie Helfende agierten. So war es etwas völlig Anderes, vor der Ghettoschließung zu helfen als danach. Die „Aktionen“ vergegenwärtigten den ethnischen Polinnen und Polen die extreme Brutalität der deutschen Besatzer. Zudem erschienen Plakate, die ausdrücklich warnten, dass jegliche Hilfe für Jüdinnen und Juden durch Erschießen bestraft würde. Nach der vierten und letzten „Aktion“ bzw. „Liquidierung“ im September 1943, als Tarnów vollständig „judenfrei“ geworden war, veränderte sich die Situation abermals gravierend  – die gesamte Stadt wurde zu einer Zone, in der man keine einzige Jüdin und keinen einzigen Juden antreffen durfte. Jene, die sich während der „Liquidierung“ versteckt hielten, in Bunkern beispielsweise oder in kurzzeitigen Verstecken, konnten – so paradox und zynisch dies auch klingen mag – nicht mehr ins Ghetto zurückkehren, wenn die Hilfe von außen versagte. Sie hatten buchstäblich nirgendwo mehr einen Ort der schieren Existenzberechtigung, auch wenn die Existenz im Ghetto von den deutschen Besatzern auf die Ermordung der Insassen ausgelegt war. Diese Umstände vergrößerten die Gefahr für die Helfenden und die jüdischen Menschen, die sich zu der Zeit noch in der Stadt befanden – sie fielen auf und dadurch waren sie verstärkt Denunziationen ausgesetzt. Es war zugleich die Zeit, in der im Umland regelrechte „Judenjagden“ stattfanden, um die restlichen Jüdinnen und Juden aufzuspüren, und dies mit Beteiligung der polnischen Bevölkerung.12 Diese letzte Phase machte die Lage der Jüdinnen und Juden umso dramatischer und prekärer. Auch im Hinblick auf die unterschiedlichen Etappen des Krieges muss also Hilfe in ihrem Verlauf verstanden werden, in dem alle Beteiligten unter sich ständig verändernden Bedingungen agierten und Entscheidungen trafen. Um die Prozesshaftigkeit des Handelns der Beteiligten stärker in den Fokus der Untersuchung zu rücken, soll im Folgenden von „Helfen“ die Rede sein. Im Gegensatz zu „Retten“ erscheint „Helfen“ als der offenere Begriff, der unterschiedliche Modi miteinbezieht. Auch nimmt das Wort „Helfen“ den Erfolg des Unterfangens nicht vorweg. Jemanden zu retten, impliziert, dass die gerettete Person auch überlebt hat. Einige Helfende empfanden während der zunehmenden Radikalisierung ihre einst getroffene Entscheidung, Jüdinnen 12

Für den angrenzenden Kreis Dąbrowa Tarnowska, zum Teil aber auch mit Beispielen aus Tarnów, siehe Grabowski: Judenjagd.

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oder Juden bei sich aufzunehmen, nach einiger Zeit als doch zu riskant. Der neunjährige Emil Seidenweg wurde wieder weggeschickt, als seine Helfenden erfuhren, dass in Tarnóws Umgebung deutsche Polizisten ethnische Polinnen und Polen dafür erschossen haben, dass sie Jüdinnen und Juden halfen.13 Auch die Helfenden mussten unter den veränderten Bedingungen immer wieder neu überlegen, ob sie sich des Risikos des Helfens überhaupt oder aber in welcher Form weiterhin aussetzen konnten oder wollten. Was gestern undenkbar schien, wurde am nächsten Tag schon zur Norm – dieses Diktum galt auch für Helfende und jene, die diese Hilfe brauchten. Des Weiteren wird „Retten“ allgemeinhin mit einer moralisch einwandfreien Haltung assoziiert, doch der Krieg und die sich aus der Hilfekonstellation ergebenden Interdependenzen waren oft komplexer. Der Alltag des Helfens, die Dilemmata, mit denen sich die nichtjüdischen und jüdischen Beteiligten konfrontiert sahen, aber auch ungewöhnliche und sich verändernde Trajektorien und Wendungen sind Gegenstand des vorliegenden Kapitels. Immerhin konnte eine Person je nach den Umständen unterschiedliche Rollen im Verlauf der Besatzung einnehmen. Die Mikrogeschichte des Helfens kann einen Einblick in einen Interaktionsraum eröffnen, der von der Beziehung zwischen Helfenden und jenen, denen geholfen wurde, ausgestaltet, jedoch zugleich in einem Kräftefeld eingebunden war, welches vor allem durch Brutalität, Gewalt, Zwang und Strafe der deutschen Besatzer bestimmt war. In diesem Kräftefeld übte zugleich das ethnisch polnische Umfeld Druck auf die betreffenden Helfenden sowie auf Jüdinnen und Juden aus. Diesem Teilkapitel liegen 40 Helfergeschichten zugrunde, meistens waren in einer Geschichte jedoch mehrere Helfende und/oder mehrere jüdische Schicksale miteinander verbunden. Einige der Helfenden blieben anonym, über andere gelang es mir, aus unterschiedlichen Quellensorten mehr Informationen zu sammeln. 9.1

Die Flucht organisieren

9.1.1 Die Entscheidung, das Ghetto zu verlassen Um Verstecke auf der „arischen“ Seite zu finden, mussten Jüdinnen und Juden zunächst einmal die Entscheidung treffen, das Ghetto zu verlassen. Das hört sich banal an, doch dem Entschluss ging eine folgenschwere und oft dramatische Phase des Abwägens voraus. Die Ghettoinsassen waren sich der Gefahren auf der „arischen“ Seite bewusst, denen sie sich als konstant „Gejagte“ würden 13

Bericht Emil Seidenweg, AŻIH 301/4031.

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aussetzen müssen. Viele waren darüber hinaus noch traumatisiert von den Gewalterfahrungen der „Aktionen“. Blanka Goldman erinnerte sich: „Apathie und Passivität breiteten sich in den Menschen aus, und nur Einzelne dachten daran, sich arische Papiere zu besorgen und sich durch Flucht zu retten. Aber auch das war schwer, denn obwohl die Deutschen die Juden nicht erkannten, verrieten viele Polen sie an die Gestapo.“14 Wie schon im vorherigen Kapitel besprochen, war die Entscheidung, auf die Seite der „jüdischen Abwesenheit“ zu gehen, davon geprägt, dass Jüdinnen und Juden von nichtjüdischen Polinnen und Polen erkannt und denunziert werden konnten.15 Wenn man Familie hatte, kam die Frage auf, wer keine Chance hatte, „draußen“ zu überleben und deswegen zurückgelassen werden musste. Ältere Menschen verblieben im Ghetto und die Jüngeren hatten oft mit dem Dilemma zu kämpfen, ob sie sich selbst retten oder ihren Nächsten beistehen sollten. Die Familie Schönker entschied sich bewusst, im Ghetto zu bleiben. Die Großmutter war bei der Familie und der kleine fünfjährige Neffe. Sie fürchteten außerdem, auf der „arischen“ Seite entlarvt und denunziert zu werden. Sie kannten in Tarnów niemanden auf der „arischen“ Seite, die oder der ihnen zu Hilfe kommen konnte. Sie stammten ursprünglich aus Oświęcim und kamen, erst nachdem das Ghetto eingerichtet worden war, illegal nach Tarnów.16 Franciszka Goldsztajn hatte ein „arisches“ Aussehen und gute Freunde „draußen“, die bei der Herstellung „arischer“ Papiere zu helfen versprachen. Aber sie hatte auch eine Schwester, die sich um ihre zwei kleinen Kinder und den kranken Ehemann im Ghetto kümmerte. „Ich hatte Skrupel, ich konnte sie in dieser Lage nicht allein lassen“, berichtete Goldsztajn. Aber die Schwester überzeugte sie schließlich, ihre Rettungschancen allein zu nutzen.17 Die Entscheidung, das eigene Kind wegzugeben, wie es Ela Hofmeister getan hatte, war sicherlich kein einfacher Entschluss. Sie kannte Bronisława Gawelczyk ein wenig, andere übergaben in letzter Hoffnung ihre Kinder (fast) Fremden. Für die Eltern war es schwierig, das eigene Kind in Zeiten der Gefahr aus der eigenen Obhut zu geben, ohne zu wissen, wie es dem Kind ergehen und ob es überhaupt überleben würde.18 Die Entscheidung, das Ghetto zu verlassen, hing von vielen Faktoren ab, letztlich aber auch von den Ressourcen, die Jüdinnen und Juden besaßen. Leon Lesser rief sich die für die Flucht notwendigen Mittel ins Gedächtnis: 14 15 16 17 18

Bericht Blanka Goldman, AŻIH 301/2059. Vgl. Kapitel 7.3.2 „Über den Zaun – auf der ‚arischen‘ Seite“. Schönker: Ich war acht, S. 132, 140. Bericht Franciszka Godsztajn, YVA O3.2783. Zu der schwierigen Entscheidung, die eigenen Kinder in Obhut auf der „arischen“ Seite zu geben, siehe auch: Bogner: At the Mercy of Strangers, S. 41 ff.

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„Es war schwer zu fliehen, denn kaum einer hatte die Möglichkeiten […]. Einige konnten nicht daran denken, denn sie hatten ein semitisches Aussehen und sprachen Polnisch mit Akzent, andere wussten nicht, wohin sie fliehen konnten, wieder andere waren völlig mittellos.“19 Die von Lesser aufgezählten Ressourcen waren für die Entscheidungsfindung zur Flucht aus dem Ghetto maßgeblich. Aber gutes Aussehen oder die Fähigkeit, akzentfrei Polnisch zu sprechen, waren keine Attribute, die gegenüber den Deutschen relevant waren, sondern sie dienten dazu, nicht vom polnischen Umfeld als Jüdin/Jude erkannt zu werden. Deutsche konnten nicht beurteilen, mit welchem Akzent Menschen Polnisch sprachen. Meloch Pinkas nutzte seine Ressource „gutes Aussehen“ ganz offensiv aus. Als Meloch seine Überlebensgeschichte vor der historischen Kommission im Jahre 1945 erzählte, notierte die Protokollantin Judyta Laub: „Sein Aussehen erinnert überhaupt nicht an einen Juden.“20 Denn der Junge war blond und blauäugig. Als er sich entschied, aus dem Ghetto zu fliehen, setzte er sich einen Tirolerhut auf und befestigte ein Hakenkreuz am Revers: „Ich musste gute Miene zum bösen Spiel machen, damit musste ich die fiktive Geburtsurkunde wettmachen.“21 Schließlich heuerte er als nichtjüdischer Pole bei der Bahn an. Meloch Pinkas musste seinen Trumpf – sein sehr gutes Aussehen  – gegen das Fehlen einer anderen Ressource, der fehlenden Geburtsurkunde, kompensieren. Lila Wider traf Menschen im Ghetto, die zu ihr sagten: „Kind, was machst du mit so einem arischen Aussehen im Ghetto, flieh und rette dich!“ Daraufhin hatte Lila versucht, die Mutter zu überreden, das Ghetto zu verlassen. Schließlich kauften sie „arische“ Papiere. Doch selbst dann konnte sich die Mutter nicht entschließen, tatsächlich auf die „arische“ Seite zu gehen. Lila Wider, die bei der AB-Aktion im Mai 1940 ihren Vater verloren hatte, wollte nicht ohne ihre Mutter fort. Die zweite „Aktion“ überlebten beide nur mit viel Glück, danach war auch die Mutter bereit zu fliehen. Sie verließen Tarnów sofort, um nicht von Bekannten erkannt zu werden, aber auf ihrer Odyssee durch die Tarnower Umgebung und später in Lwów, dann wieder Przemyśl mussten sie mehrmals vor Menschen fliehen, die sie denunzieren bzw. erpressen wollten. Beide überlebten schließlich.22 Halina Korniło ließ ihre Eltern im Ghetto zurück, als sie sich entschloss, nach drei nur mit viel Glück überlebten „Aktionen“ auf die „arische“ Seite zu 19 20 21 22

Leon Lesser, AŻIH 301/4598. Bericht Meloch Pinkas, AŻIH 301/791. Ebd.; Pinkas hatte vor dem Krieg das polnische Gymnasium in Tarnów besucht, er war noch Jugendlicher, als der Krieg ausbrach. Seine Mutter und Schwester kamen bei der zweiten „Aktion“ ums Leben. Bericht Lila Wider, YVA O.3/3516; Bericht Lila Wider, AŻIH 301/2053.

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gehen. Sie hatte keine Papiere, aber ein „gutes Aussehen“ und sprach akzentfrei Polnisch.23 Viele Jugendliche und junge Erwachsene, die in den polnischen öffentlichen Schulen sozialisiert waren, hatten draußen ein besseres Startkapital, um zu überleben, als ihre Eltern. Auch Gizela Fudem, die eine öffentliche polnische Schule besucht hatte, wollte aus dem Ghetto fliehen. Ihre Eltern waren religiöse Chassidim und mit dem Entschluss der Tochter nicht einverstanden.24 Man sollte nicht danach trachten, sein Schicksal selbst zu verändern, argumentierten die Eltern. Als Gizela schließlich auf die „arische“ Seite ging, hob der Vater sein Verbot auf, damit die Tochter nicht das vierte Gebot „Du sollst Deinen Vater und Deine Mutter ehren“ brechen musste. Seinen Segen gab er ihr aber nicht mit auf den Weg. Gizelas Eltern und Geschwister, mit Ausnahme einer Schwester, wurden bei der nächsten „Aktion“ ermordet, sie selbst überlebte.25 Des Weiteren mussten Flüchtige aus dem Ghetto einen Ort haben, wohin sie fliehen konnten. Eine Möglichkeit war, „auf der Oberfläche“ zu schwimmen, wie es im Jargon damals hieß. Sie bewegten sich mit einer falschen Identität als nichtjüdische Polinnen oder Polen auf der „arischen“ Seite. Dafür mussten Jüdinnen und Juden gute Papiere haben und wie nichtjüdische Polinnen und Polen agieren, sprechen, aussehen, beten und einen entsprechenden Habitus besitzen. Die Camouflage musste alltäglich ausagiert werden, in einer Umwelt, in der der kleinste Fehler den Tod bringen konnte. Sie mussten eine Bleibe finden, also ein Zimmer anmieten und eine Arbeit suchen – alles im polnischen Umfeld. Das setzte sie der alltäglichen Denunziationsgefahr aus. Mina Milz berichtete 1945, sie fühle nun, nach dem Krieg, eine große Erleichterung. Nun könne sie aufhören, ständig „eine Komödie spielen zu müssen“.26 Eine ähnliche Theater-Metapher verwendete Naftali Fuss, der nach vielen Stationen schließlich in Lwów mit Papieren auf den Namen Stefan Lednicki landete: Diese Rolle hatte ich Tag und Nacht zu spielen, damit ich nicht einmal, wenn man mich im Schlaf überraschte, etwas über meine frühere Identität preisgab. So wurde ich Schauspieler im grausamen Theater der Nazis – wie alle, die mit einer falschen Identität leben mussten. Für gutes Schauspielern gab es keinen „Oscar“ zu gewinnen, sondern etwas viel Wertvolleres – das Leben selbst.27

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Bericht Halina Korniło, AŻIH 301/3228. Gizela Fudem hatte neben der öffentlichen Schule auch privat eine Beys-Yankev-Schule besucht. Fudem, Gizela (née Grünberg): Interview 7896, 23.10.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). Ebd. Bericht Mina Milz, AŻIH 301/1950. Fuss: Als ein anderer leben, S. 72.

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Wobei nicht nur meisterhafte Verstellung zum Überleben wichtig war, denn häufig spielten Zufall und Glück eine ebenso große Rolle. Die zweite Möglichkeit war das „Untertauchen“, also sich unterhalb der „Oberfläche“ zu verstecken. Dafür brauchten Jüdinnen und Juden einen geheimen Unterschlupf, entweder einen selbst gebauten in der Stadt (z. B. auf einem Dachboden, im Keller etc.), in den Wäldern oder aber auch bei nichtjüdischen Polinnen oder Polen. Häufig sind die Überlebenswege von einer Kombination unterschiedlicher Modi des Untertauchens gekennzeichnet. Einige versteckten sich zunächst unter der Oberfläche und versuchten dann Papiere und eine Arbeit zu besorgen.28 Andere verließen das Ghetto ausgestattet mit Papieren und einem Ziel, doch mussten sie untertauchen, weil Denunziationen folgten. Danach wechselten sie die Stadt, suchten eine neue Bleibe, Arbeit und Identität.29 Für all die oben erwähnten Schritte waren Helfende notwendig, die sich selbst in große Gefahr begaben. Materielle Dinge, die man veräußern konnte, Schmuck und Geld, waren für das Überleben äußerst notwendig. Ohne diese Mittel war es unmöglich, sich „draußen“ aufzuhalten. Vor allem mussten die Geflohenen Essen besorgen, sie brauchten Geld, um falsche Dokumente zu organisieren, um Verstecke und Wohnungen wechseln zu können und um Helfende zu bezahlen. In vielen Geschichten mussten Erpressende zum Schweigen gebracht oder bei Hindernissen Bestechungsgeld gezahlt werden. Gleichzeitig schwanden die Geldmittel im Verlauf der Kriegszeit zunehmend, sodass die Lage von Jüdinnen und Juden auf der „arischen“ Seite immer prekärer wurde. Da die Umwelt annahm, dass die fliehenden Jüdinnen und Juden Geld oder Schmuck bei sich oder in Verstecken haben mussten, um zu überleben, machte sie das zu einer leichten Zielscheibe von Angriffen, besonders da sie rechtlos waren und nur wenige Orte der Zuflucht hatten. Kaum jemand besaß all diese Ressourcen, um das Ghetto zu verlassen, sodass der dafür nötige Entschluss nicht leichtfiel. Die ersten Schritte von Elżbieta Brodzianka-Gutt, Naftali Fuss, Halina Korniło, Rahel Klimek, Franciszka Goldsztajn und Lila Wider richteten sich zum Bahnhof bzw. aus der Stadt hinaus. Alle Tarnower Jüdinnen und Juden, die sich an der Oberfläche bewegen wollten, mussten aus der Stadt weg. Zu 28

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Vgl. Fudem, Gizela: Interview 7896, 23.10.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff:  09.03.2021); Srul Bleifeld, vgl. Brief des Marian  H. an den Innenminister General Mieczysław Moczar vom 22.  Juli 1968, AAN  1521: Pomoc Polaków/7; vgl. auch Hilfstätigkeit von Halina Góralewicz, YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/1329; Lila Wider und ihre Mutter YVA O.3/3516; Naftali Fuss, vgl. Fuss: Als ein anderer leben. Brodzianka-Gutt, Elżbieta: Interview 25736, 04.12.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021).

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hoch war hier das Risiko, Bekannte aus der Vorkriegszeit zu treffen. „Rzeszów und Tarnów waren ziemlich kleine Städte, in denen man uns zu gut kannte. Daher war es so gut wie unmöglich, in der polnischen Bevölkerung unterzutauchen“, erinnerte sich Naftali Fuss.30 Viele Bekannte in einer mittelgroßen Stadt zu haben, war also nicht unbedingt eine Ressource, sondern Grund einer besonderen Bedrohung. Denn man war als Jüdin bzw. Jude auf der „arischen“ Seite als solche bzw. solcher erkennbar. Aber ebenso machte der Umstand, keine Netzwerke auf der „arischen“ Seite zu besitzen, das Überleben dort fast unmöglich. Nicht die Quantität, sondern die Qualität und Resilienz der Kontakte zählten für die Fliehenden. Es gab jedoch keine Norm des Schweigens oder Wegguckens beim Erkennen von Jüdinnen oder Juden, auf die diese zählen konnten, wenn sie das Ghetto verließen.31 Es reichte, wenn ein Mensch sich entschloss zu denunzieren, damit ihr Leben auf dem Spiel stand. Sich auf der „arischen“ Seite zu bewegen, glich einem Spießrutenlauf. Dazu schrieb ich bereits im Kapitel 7.3.2 „Über den Zaun – auf der ‚arischen‘ Seite“. Tarnower Jüdinnen und Juden „auf der Oberfläche“ begaben sich in Großstädte, zum Beispiel nach Krakau, Lwów oder Warschau. Dort hatten sie oft noch einzelne Bekannte oder Familienmitglieder, denen sie vertrauen konnten. Zugleich konnten sie hier auf die Anonymität der Großstadt zählen.32 Die Entscheidung, das Ghetto zu verlassen, war relational – sie hing in starkem Maße vom polnischen Umfeld ab. Dabei waren sich Jüdinnen und Juden sehr wohl der Gefahr bewusst, von nichtjüdischen Polinnen und Polen erkannt und denunziert zu werden. 9.1.2 „Arische“ Papiere War die Entscheidung zur Flucht aus dem Ghetto gefallen, mussten sich Jüdinnen und Juden falsche Papiere, Unterkünfte und/oder Verstecke organisieren. In Tarnów blühte ein Schwarzmarkt für „arische“ Papiere, die 30

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Fuss: Als ein anderer leben. S. 73. Doch als Naftali Fuss am Bahnhof die Fahrkarten kaufen wollte, erblickte er einen Freund aus der Schulzeit, der nun im Priesterseminar war. Konnte er darauf zählen, dass dieser ihn nicht verraten würde? Dabei war für Naftali Fuss die Kirche das „Zentrum des Antisemitismus“ gewesen. Der „Freund“ erblickte Naftali aber nicht – ebd., S. 79. In Lwów verlor Naftali Fuss innerhalb von zwei Wochen seine gesamte Familie, unter anderem aufgrund einer Denunziation, und überlebte als einziger den Krieg. Siehe dazu auch das Kapitel 7.3 „Der Zaun und die Beobachtenden – Interaktionsräume zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung während der Ghettozeit“. Es gab einige Fälle, in denen Tarnower Jüdinnen und Juden nach Warschau oder Lwów gingen, z. B. Ludwik Germada, Rahel Goldberg-Klimek, Rahel Postrong und Naftali Fuss. Dass man sich bessere Überlebenschancen in der Großstadt erhoffte, darüber schrieb beispielsweise Lila Wider Rozenberg: Zikhroynes, S. 265.

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sehr teuer waren und deren Qualität erheblich voneinander abwich. Obwohl die Netzwerke der Fälscher in Tarnów anhand der Quellengrundlage nicht en  détail zu rekonstruieren sind, gaben einige Zeitzeuginnen und -zeugen zumindest Hinweise. Es gab ethnische Polinnen und Polen, die falsche Papiere herstellten, und jüdische Mittelsmänner im Ghetto. Eine widerständige Gruppe der Ha-Shomer-Ha’Tsair-Jugend stellte falsche Papiere innerhalb des Ghettos her, sie bekamen dabei Hilfe von der „arischen“ Seite.33 Gizela Lamensdorf besorgte sich „arische“ Papiere bei einem Nichtjuden auf Empfehlung eines jüdischen Bekannten. Sie seien nicht so teuer gewesen, erwiesen sich aber später als Schwindel. Erst im weiteren Verlauf des Krieges erhielt sie Papiere auf den Namen Elżbieta Broda (Brodzianka), den sie bis heute trägt.34 Die Papiere wurden zum Teil für sehr viel Geld verkauft, ein Zeitzeuge nannte die Summe von 30 000 Złoty, ein anderer sprach davon, dass er sehr viel seines Besitzes habe verkaufen müssen, um an die Dokumente zu kommen.35 Es gab nichtjüdische Polinnen oder Polen, die zunächst Papiere verkauften, ihre Klientinnen oder Klienten dann aber bei der Gestapo denunzierten.36 Wieder andere sahen ihre Tätigkeit als Form des Beistands und beschafften die Papiere unentgeltlich. Einige Helfende aus Tarnów sind namentlich bekannt: Helena Góralewicz arbeitete im Einwohnermeldeamt in Tarnów während der deutschen Besatzung und hatte Zugang zu Papiervorlagen.37 Sie stellte unentgeltlich „arische“ Dokumente für Jüdinnen und Juden aus und konnte 1943 mindestens sieben jüdische Personen retten, die mit ihrer Hilfe das Ghetto verließen.38 Manche versteckte sie zunächst bei sich zu Hause und schickte sie dann, ausgestattet mit den von ihr besorgten bzw. gefälschten Papieren, zu weiteren Kontakten außerhalb der Stadt. Ob sie allein arbeitete oder in ein

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Birken, Józef: Udział szomrów tarnowskich w ruchu oporu: ANKr. Odd. T.  33/226: Waria/60: Organizacje młodzieżowe, S. 27. Welche Kontakte von „arischer“ Seite und wie sie geholfen haben, ist nicht bekannt. Brodzianka-Gutt, Elżbieta: Interview 25736, 04.12.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff:  09.03.2021); die ersten Papiere seien eine „lipa“/ein „Schwindel“ gewesen. Elżbieta Brodzianka hatte nach dem Krieg zweimal geheiratet, der Zusatz „Gutt“ in ihrem Nachnamen zur Zeit des Interviews ist von ihrem zweiten Ehemann. Diese Geldsumme nennt Dynowski, YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/4786. Bericht Renia Fröhlich, AŻIH 301/436. YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/1329. Es handelte sich hierbei um Zofia und Eleonore Rawner, Frau Sommerstein mit Kind und Herrn Dr. Shiper, den Arzt des jüdischen Krankenhauses, samt seiner Familie. YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/1329.

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Netzwerk eingebunden war, kann nicht mehr rekonstruiert werden.39 Helena Góralewicz wurde noch zu ihren Lebzeiten 1978 als Gerechte unter den Völkern geehrt, sie lebte damals weiterhin in Tarnów.40 Alina Kwoczyńska, eine junge Frau, die wegen des Kriegsausbruchs ihr kurz zuvor begonnenes Studium in Warschau unterbrechen musste und zu ihrem Vater, einem pensionierten Beamten der Polnischen Bahn, nach Tarnów zog, engagierte sich in Untergrundaktivitäten.41 Unter anderem besorgte sie falsche Papiere für Jüdinnen und Juden, schmuggelte Essen fürs Ghetto oder kaufte Fahrkarten am Bahnhof für jene, die aus dem Ghetto fliehen wollten. Als ihre ehemalige private Englischlehrerin, eine Jüdin, Hilfe brauchte, versuchte Alina ein Versteck für diese zu finden. Alles schlug fehl. Schließlich versteckten sie und ihr Vater Elfriede Thierberger über zwei Jahre lang in der eigenen Wohnung am Rande der Stadt.42 Der Postbeamte Marian  H., der uns zu Anfang des zweiten Teils der vorliegenden Studie beschäftigt hat, hatte einen Bruder Kazimierz. Dieser war in ein Fälschernetzwerk involviert und besorgte Papiere für Jüdinnen und Juden, mit denen Marian H. Kontakt hatte. Kazimierz besaß Verbindungen zum kleinkriminellen Milieu aus der Vorkriegszeit. In den 1930er Jahren waren er und sein Ring wegen Betrugs angeklagt. Sie hatten ärmeren Menschen in Zeiten der Not leere Versprechungen gemacht, ihnen gegen eine gewisse Summe eine gute Anstellung zu verschaffen.43 Es waren möglicherweise diese kleinkriminellen Verbindungen, die sich nun als nützlich erwiesen. Marian H. versteckte einige Menschen zunächst bei sich zu Hause, beispielsweise Fryderyk Dawid alias Franciszek Kwistek, der dann Buchhalter bei Władysław Ł. wurde, oder auch Srul Bleifeld. Dank der Papiere konnte Marian H. dann Anstellungen und Wohnungen für seine jüdischen Schützlinge besorgen. Sein Bruder Kazimierz H. fuhr mit einigen von diesen ins Umland oder nach Warschau, um Arbeit oder Bleiben zu organisieren.44 39

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Die Nichte einer Überlebenden berichtete in ihrer Aussage, dass Helena Góralewicz’ Kolleginnen sich am Fälschen von Papieren für Jüdinnen und Juden beteiligten und dafür in ein Konzentrationslager kamen. Diese Information konnte ich nicht verifizieren oder in einen größeren Zusammenhang stellen. YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/1329. Mehr war aus den Akten der Gerechten unter den Völkern zu Helena Góralewicz (Alter, Motivation, politische Einstellung, Kooperationspartner etc.) nicht herauszufinden. YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/1329. YVA, Dep. Righteous Among Nations, M. 31/1179. Ebd. Akten der Staatsanwaltschaft im Fall Kazimierz H., ANKr. Odd. T. 33/97 PSOT/PT 34/U 641/30. Brief des Marian H. an den Innenminister General Mieczysław Moczar vom 22. Juli 1968, AAN 1521: Pomoc Polaków/7.

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Jüdinnen und Juden berichteten auch, dass ihnen die Priester der Tarnower Kirche dabei halfen, „arische“ Papiere zu erstellen. Elżunia (Elza) Spielmans Großeltern besaßen vor und nach dem Krieg eine Kerzenfabrik in Tarnów, einer ihrer Großabnehmer war die katholische Kirche. Die Großeltern waren mit einigen der Priester befreundet: „Mit den Großeltern hatten die Priester gute Beziehungen, ansonsten waren das Antisemiten“, urteilte Elżunia (Elza) Spielman im Jahr 2013. Die Priester besorgten der Familie falsche Papiere.45 Auch Rahel Goldberg wusste noch, dass ein Priester die falschen Papiere für sie und ihren Ehemann organisierte.46 Den Nachnamen Klimek, der damals auf ihren Papieren stand, benutzt sie bis heute in Israel. „Ich lebe bis heute auf meinen arischen Papieren.“47 Mieczysław Kobylański organisierte ebenfalls Papiere über die Kirche.48 Auch die jüdische Familie Postrong bekam falsche Papiere durch einen Priester, allerdings zahlten sie insgesamt wohl 30  000 Złoty dafür.49 Keiner der hier genannten Priester wurde namentlich genannt. Die Memoiren des Priesters Jan Bochenek (ehemaliger Stadtrat für die Polnische Christliche Vereinigung PZCh im Jahre 1939) geben Hinweise auf seine wohlwollende Haltung und die eines anderen ihm unterstehenden Pfarrers.50 Sie willigten ein, Jüdinnen und Juden, Kinder und Erwachsene, zu taufen und Taufurkunden auszustellen. Da dies ab 1942 verboten war, durften die Priester nur dann taufen, wenn die Betreffenden eine „arische“ Abstammung vorweisen konnten. Die Priester begnügten sich allerdings damit, dass die anwesenden Taufpaten diese „arische“ Abstammung schriftlich bestätigten. Nachweislich taufte Priester Bochenek Jüdinnen und Juden im Jahr 1941,51 nach eigener Aussage auch noch nach der Ghettoisierung. Vermutlich im September 1942 „verschwand“ ein Stempel aus der Kirche mit der Aufschrift „Sigillum eccl. Paroch et Catedra Tanoviensis“, mit der die Taufbescheinigungen gestempelt wurden. Dieser kam nachfolgend in Fälschernetzwerken zum Einsatz, doch alsbald erschienen die so gestempelten Dokumente den deutschen Polizeistellen verdächtig.52 Die Priester hatten deswegen Unannehmlichkeiten und mussten Revisionen und Befragungen durch die gefürchteten Sicherheitspolizisten 45 46 47 48 49 50 51 52

Spielman, Elżunia (Elza): Interview, 24.05 2013, Herzliya, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. Klimek, Rahel: Interview, 24.05.2013, Ramat HaSharon, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. Ebd. YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/3071. YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/4786. Bochenek: Na posterunku, S. 92. Diese Taufen an Jüdinnen und Juden, durchgeführt von Jan Bochenek, sind verzeichnet in: ADT Liber natorum, Śródmieście, 1890–1946, Bd. V, S. 119–122. Siehe dazu auch Pietrzykowa: Z dziejów Zagłady, S. 18.

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Wilhelm Rommelmann und Karl Oppermann über sich ergehen lassen.53 Letztlich brachte den Priestern ihr Engagement keine Strafen ein. Angesichts des hohen Grads an Antisemitismus, den die katholische Kirche unter anderem durch die Diözesenschrift Nasza Sprawa in Tarnów vor dem Krieg verbreitete, ist die Haltung der oben erwähnten einzelnen Priester besonders bemerkenswert. Am sichersten war es jedoch, sich eine echte Geburtsurkunde zu beschaffen. Mit dieser konnten Jüdinnen und Juden dann eine nicht gefälschte Kennkarte erwerben. Der unternehmerische Junge Józef Mansdorf fragte auf seinen Eskapaden außerhalb des Ghettos auf dem Land einen etwa gleichaltrigen Jungen nach den Namen des Vaters und der Mutter und nach dem genauen Geburtsdatum aus. Dann gab er beim Meldeamt vor, dieser Junge zu sein und ließ sich eine Abschrift der Geburtsurkunde anfertigen.54 Jadwiga Jeż lernte die Familie Sandelman erst während des Krieges kennen, als diese nach Tarnów zog und eine Wohnung im selben Haus anmietete. Das christliche Mädchen wurde in den Jahren der Nachbarschaft unter deutscher Besatzung, also bis 1942, shabes-goy der Sandelmans. Als die etwa gleichaltrige Kajla sie darum bat, meldete Jadwiga Jeż beim Meldeamt, dass sie ihre Geburtsurkunde verloren hätte, und bekam eine Abschrift, die sie Kajla Sandelman übergab. Dies sicherte letzterer das weitere Überleben außerhalb Tarnóws.55 Wenn Jüdinnen und Juden solche Angaben von verstorbenen Polinnen oder Polen hatten, waren die Geburtsurkunden noch sicherer.56 Naftali Fuss erinnerte sich: Ich trat mit einem Händler im Ghetto in Verbindung und erfuhr von der Möglichkeit, Personalausweise zu beschaffen, die auf echten Geburtsurkunden verstorbener Polen basierten. Dafür wurden unbeschriebene Personalausweise aus dem Einwohnermeldeamt benutzt, in welche dann der neue Name eingetragen und das erforderliche Foto geklebt wurden. Zudem war die Geburtsurkunde mit einem echten Stempel der Kirche versehen, was von einer ordnungsgemäßen christlichen Taufe zeugte. Ich bekam einen Personalausweis auf den Namen Stefan Lednicki ausgestellt, einem verstorbenen Polen, der beim Einwohnermeldeamt registriert war. […] Die neuen Papiere waren nicht billig, wir mussten dafür viel von unserer Habe verkaufen.57

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Bochenek: Na posterunku, S. 90–93. Bericht Józef Mansdorf, AŻIH 301/570. YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/3043. Die oben erwähnte Elzbieta Brodzianka-Gutt, deren erste Papiere sich als Schwindel erwiesen, traf in Lwów einen alten jüdischen Freund aus Tarnów. Er hatte Kontakte und besorgte ihr eine echte Geburtsurkunde. Brodzianka-Gutt, Elżbieta: Interview 25736, 04.12.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). Fuss: Als ein anderer leben, S. 71.

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Obschon die Netzwerke des Handels mit „arischen“ Papieren nicht genau rekonstruiert werden können, so geben die Berichte der Zeitzeuginnen und -zeugen deutliche Hinweise darauf, dass sich innerhalb der lokalen Besatzungsgesellschaft(en) ein Schwarzmarkt entwickelte. An diesem waren viele unterschiedliche Personen mit divergierenden Interessen beteiligt: Vom kleinkriminellen Milieu bis zu Priestern, von Menschen, die an der Not von Jüdinnen und Juden verdienten, bis zur gefährlichen unentgeltlichen Hilfe mit viel Engagement. Zudem tritt hierbei die agency der jüdischen Opfer sichtbar in Erscheinung und deren enge Interaktion mit der nichtjüdischen Umwelt, auf deren Hilfe, auch wenn zum Teil zu Wucherpreisen, sie angewiesen waren. Waren Vorbereitungen getroffen und Papiere organisiert, mussten Jüdinnen und Juden einen Ort finden, zu dem sie hinkonnten. Der Kontakt zu Helfenden kam dann oft über die Werkstätten außerhalb des Ghettos zustande, in denen Jüdinnen und Juden sowie Nichtjüdinnen und Nichtjuden arbeiteten: entweder über Arbeitskolleginnen und -kollegen vor Ort58 oder über Bekannte aus der Kriegs- oder Vorkriegszeit, die die betreffenden Jüdinnen und Juden dort „besuchten“. Viele der Helfenden, die später intensiver in die Unterstützung eingebunden waren, brachten zunächst Essen in die Werkstätten.59 Das Verlassen des Ghettos wurde häufig über den Arbeitsplatz organisiert (zum Beispiel versteckte sich Gizela Fudem in der Toilette in Julius Madritschs Betrieb, bis es Nacht wurde).60 Andere flohen aus dem Ghetto direkt über den Zaun.61 In einigen Fällen holten Helfende nun ihre Schützlinge ab und brachten sie zu einer Bleibe.62 Hier war extreme Vorsicht geboten, wenn sich Helfende und ihre Schützlinge durch Tarnóws Straßen bewegten. Es konnte erst einmal ein Versteck bei jemandem zu Hause sein, entweder bei den Helfenden selbst „unter der Oberfläche“ oder bei Dritten. Danach ging es meistens weiter: Wo waren längerfristige Verstecke möglich oder wo konnten Jüdinnen und Juden Arbeit auf ihren „arischen“ Papieren bekommen und in welcher Stadt konnten 58 59

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Z.  B.  Cesia  Honig: Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021) oder die Familie Wodnicki YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/3009. Wie zum Beispiel Bronisława Gawelczyk, YVA O.3/2833; Thierberger-Kwoczyńska YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/1179; Blanka Goldman und Jerzy Poetschke, YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/6903; Samuel Goetz und Tekla Nagorska, Goetz: I Never Saw My Face, S. 43. Fudem, Gizela (née Grünberg): Interview 7896, 23.10.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). Vgl. Bericht Lila Wider, YVA O.3/3516; Unger/Gammon: The Unwritten Diary, S.  11–12; Goetz: I Never Saw My Face, S. 48. Ebd.; Alina Kwoczyńska: YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/1179.

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sie am besten untertauchen?63 Jene, die sich versteckt hielten, hatten sich oft dennoch „arische“ Papiere besorgt, um sich im Notfall ausweisen oder fliehen zu können.64 Die Helfenden ließen sich also auf einen mehrstufigen Prozess ein, welcher jedes Mal von ihnen einen erneuten Entschluss zur Hilfeleistung abverlangte. Gab es einen Ort und Papiere, trafen fluchtbereite Jüdinnen und Juden weitere Vorbereitungen. Viele versuchten, ihr jüdisches Aussehen zu verbergen. Einige besorgten sich Bleichmittel, um sich die Haare aufzuhellen.65 Andere „schmückten“ sich mit Kleidungsaccessoires aus: einem Pelzkragen oder einem Hut, damit sie nicht so ärmlich und ihrer Vorstellung nach eher wie ethnische Polinnen und Polen aussahen.66 Naftali Fuss schnitt seinem Vater den Bart ab, woran er sich schmerzlich erinnerte. In den Tagen vor unserer Abreise [aus Tarnów – AW] bemühten wir uns, unser Aussehen nochmals zu „korrigieren“, um so weit wie möglich polnischen Nichtjuden ähnlich zu sehen. Das auffälligste Merkmal war der Bart meines Vaters gewesen, der ganz sicher Verdacht erregt hätte. […] Lange stand ich mit dem Rasiermesser vor ihm, viel zu aufgeregt, um das schreckliche Vorhaben in Angriff zu nehmen. Das Rasieren war mehr als nur eine rein äußerliche Veränderung, war vielmehr eine Verstümmelung seiner Persönlichkeit, wie sie in meinen Augen existiert hatte.67

Viele Bilder und Berichte existieren darüber, wie zu Beginn der Besatzungszeit deutsche Soldaten Juden als Geste der Demütigung Bärte abschnitten. In dem von Naftali Fuss geschilderten Beispiel sieht der Sohn das Abschneiden des Barts als „Verstümmelung“, er musste sie aber selbst vollführen, um seinen Vater zu retten. Das Aussehen zu verändern, war nicht nur eine rein äußerliche Maßnahme, sondern ein Einschnitt in die Persönlichkeit. Die neue nichtjüdische Identität musste vor allem für die polnische Umgebungsgesellschaft 63 64

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So war es bei Marian H. und (fast) allen, denen er geholfen hatte, Brief des Marian H. an den Innenminister General Mieczysław Moczar vom 22. Juli 1968, AAN 1521: Pomoc Polaków/7; vgl. auch Alina Kwoczyńska: YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/1179. Zum Beispiel Goetz: I Never Saw My Face, S.  47–49; Fudem, Gizela: Interview 7896, 23.10.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff:  09.03.2021); Frau Dawid, die von Marian H. versteckt wurde, Brief des Marian H. an den Innenminister General Mieczysław Moczar vom 22. Juli 1968, AAN 1521: Pomoc Polaków/7. Fudem, Gizela: Interview 7896, 23.10.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021); auch der junge Fleischmann war im Ghetto damit beschäftigt, sich die Haare zu bleichen, berichtete Samuel Goetz – Goetz: I Never Saw My Face, S. 47. Lila Wider, YVA O.3/3516; Klimek, Rahel: Interview, 24.05.2013, Ramat HaSharon, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. Fuss: Als ein anderer leben, S. 76.

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glaubhaft sein, das heißt aber auch, dass sie alltäglich ausagiert werden musste und ebenso alltäglich auf die Probe gestellt wurde, wollte man sich „an der Oberfläche“ bewegen. Aus retrospektiver Sicht erschienen die äußerlichen Veränderungen als notwendige Maßnahme, als pragmatisch, da sie die Chance aufs Überleben erhöhten. Für die Betreffenden hieß dies aber, die eigene Identität, ihre Werte, Sprache, Kultur und Religion bis zur Unkenntlichkeit zu verbergen. Auch das war ein schwerwiegender Prozess. Einige, wie die chassidischen Eltern von Gizela Fudem (née Grünberg), wollten das, woran sie glaubten, nicht aufgeben und entschieden sich bewusst, im Ghetto zu bleiben. 9.1.3 Nach Hilfe fragen – agency von Jüdinnen und Juden In den allermeisten hier untersuchten Fällen fragten Jüdinnen und Juden aktiv nach Hilfe. Sie baten beispielsweise Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben außerhalb des Ghettos, Bekannte aus der Zeit vor der Ghettoschließung, manchmal auch ihnen unbekannte Personen um Unterstützung. Frau Postrong lernte während des Krieges Frau Dynowska kennen, das ehemalige Kindermädchen der Rosenblum-Familie, mit denen auch die Postrongs befreundet waren. Dynowska half beiden jüdischen Familien, indem sie Lebensmittel vom Dorf in die Stadt brachte, auch als alle bereits im Ghetto waren. Vermutlich im Spätsommer 1942 flehte Frau Postrong sie regelrecht an, ihr und ihrer 8-jährigen Tochter zu helfen.68 Diese willigte ein, besorgte falsche Papiere, für welche die Postrongs zahlen mussten, nahm die Tochter zu sich aufs Land, während die Mutter sich mit falschen Papieren in Warschau verstecken konnte. Beide werden den Krieg überleben.69 Fast alle Helfergeschichten aus Tarnów beginnen damit, dass Jüdinnen oder Juden aktiv nach Hilfe fragten. Nur selten finden sich Fälle, in denen Nichtjüdinnen oder Nichtjuden von sich aus Hilfe anboten.70 Wer sich entschied, das Ghetto zu verlassen, bemühte sich meistens proaktiv um Unterstützung von außen. Häufig ergriffen Jüdinnen und Juden die Initiative, als Gerüchte über eine nächste „Aktion“ zu kursieren begannen. Dass eine bevorstand, wussten die 68 69 70

Aussage Władysław Dynowski, YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/4786. YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/4786. Die Familie Job hatte Hania Sturm angesprochen, als diese mit ihrem Vater in Tarnóws Umgebung umherirrte und nicht mehr wusste wohin. YVA, Dep. Righteous Among Nations,  M.31/1828. Die beiden Frauen, die auch „arische“ Papiere besorgten, Alina Kwoczyńska und Helena Góralewicz, waren initiativ in die Hilfe für Jüdinnen und Juden involviert. Sie halfen nicht nur jenen, die sie bei sich versteckten, sondern durch das Fälschen von Dokumenten und die Versorgung mit Essen auch anderen Menschen. Leider konnte ich über die beiden Frauen nicht mehr herausfinden als in den Akten der „Gerechten unter den Völkern“ im Yad-Vashem-Archiv angegeben ist, YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/1179; M.31/1329.

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Jüdinnen und Juden meistens: Es gab Gerüchte, undichte Stellen.71 Jedoch waren alle Informationen, die die Ghettoinsassen bekommen konnten, nicht präzise und konnten jene, die sich entschieden hatten zu fliehen, vorab überraschen und alle Pläne zunichtemachen. Viele suchten zunächst nach kurzzeitigen Verstecken, als die Gewalt zu eskalieren drohte. Cesia Honig sprach beispielsweise ihren Arbeitskollegen in der Werkstatt von Władysław  Ł. an, ob er ihr für eine Woche Unterschlupf gewähren könnte. Sie hatte von einer bevorstehenden „Aktion“ gehört und bot Bezahlung – einen wertvollen Ring – an.72 Leon Lesser floh während der dritten „Aktion“ im November  1942 und begab sich zum Haus seines ehemaligen Mitarbeiters Leon Wałęga, dort überlebte er einige Tage. Danach kehrte er ins Ghetto zurück und blieb dort bis zur „Liquidierung“ 1943.73 Auch Ela Hofmeister bat Bronisława Gawelczyk, ihr Kind zunächst nur für einige Zeit aufzunehmen. Die Helfenden mussten dann wieder entscheiden, wie sie nach dem Ablaufen dieser Frist weitermachten. Bronisława Gawelczyk war von Beginn an fest entschlossen, das Kind aufzuziehen, auch wenn die Eltern umkommen sollten.74 Cesias Helfende hingegen waren ebenso fest entschlossen, sie nach der einen Woche, für die sie bezahlt hatte, wieder loszuwerden. Doch als sie Cesia persönlich kennenlernten und sie sich darüber hinaus als äußerst hilfreiche Pflegekraft der Parkinsonkranken Mutter erwies, durfte sie bleiben.75 Einige schickten die Versteckten wieder weg, so erging es Emil Seidenweg, Dawid Fromowicz und seiner Frau. Andere Jüdinnen und Juden wählten die Rückkehr ins Ghetto. Wieder andere versuchten sich Papiere zu besorgen und weiterzuziehen. Jüdinnen und Juden fragten nach Hilfe. Das hieß für die nichtjüdischen Polinnen und Polen, dass sie relativ schnell eine Entscheidung treffen mussten, die lebenswichtig und lebensbedrohlich zugleich war. Wenn es sich, was häufig der Fall war, dabei um flüchtige Bekanntschaften aus der Kriegszeit handelte, war die gefragte Person besonders gefordert. Entschied sie sich dagegen, zu helfen, setzte sie bewusst die fragende Person dem Tod aus. Entschied sie sich dafür, setzte sie ihr eigenes Leben und das ihrer Nächsten aufs Spiel und leitete 71

72 73 74 75

Fudem, Gizela (née Grünberg): Interview 7896, 23.10.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021); auch viele andere berichten über solche Gerüchte; Goetz: I Never Saw My Face, S. 44; Yacov Dornbusch, YVA M.1.E/171; Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598. Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598. YVA O.3/2833. Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021).

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einen Prozess ein, der der helfenden Person unter Umständen in all ihren Konsequenzen initial nicht vollends bewusst war. Auf die Entscheidung zu helfen, folgten viele weitere Schritte: Helfende brachten Jüdinnen und Juden möglichst unbemerkt zu sich nach Hause oder in ein Versteck, besorgten falsche Papiere, fanden einen sichereren Unterschlupf, besorgten unauffällig Essen, reagierten auf Bedrohungen. Wenn ein Versteck oder eine falsche Identität aufflog, kehrten die Verfolgten zu ihnen zurück und der ganze Prozess fing von vorne an.76 Marian H. hatte für eine ca. 50-jährige Jüdin aus Przemyśl ein Zimmer bei einem Ehepaar organisiert, das von ihrer jüdischen Herkunft nichts wusste. Als das Ehepaar zu vermuten begann, dass die Frau jüdisch sei, raubte es sie vollständig aus und drohte ihr, sie zur Gestapo zu bringen. Sofort begab sie sich zurück zu Marian H., der sie erneut aufnahm und mit neuen falschen Papieren zu einem Kontakt nach Warschau schickte.77 Oft mussten Helfende entweder selbst mit den versteckten Jüdinnen oder Juden umziehen oder schickten sie für eine gewisse Zeit weg, wenn Denunziationen seitens der Nachbarinnen und Nachbarn drohten.78 Jeder dieser Schritte war gefährlich. Helfen war also nichts Statisches, sondern ein mehrteiliger, in vielfacher Hinsicht nicht vorhersehbarer Prozess. Berücksichtigt man dazu die ständige Radikalisierung der nationalsozialistischen Judenpolitik, bei der die „Spielregeln“ willkürlich verändert wurden, so wird deutlich, dass die Helfenden ihre einmal getroffene Entscheidung permanent aufs Neue für sich bekräftigen mussten. Sie entschieden nicht einmal, sondern jeden Tag, das Risiko weiter zu tragen. Sie reagierten zudem auf Nachrichten, wenn andere Helfende mit ihren jüdischen Schützlingen erschossen wurden. Dies erklärt auch, warum einige ihre einst zugesagte Hilfe revidierten, „ihre“ Jüdinnen und Juden wegschickten oder „loszuwerden“ versuchten.79 Einige griffen zu grausameren Mitteln, um ihre Schützlinge loszuwerden: Im Dezember 1942, nach drei durchgeführten „Aktionen“ in Tarnów, fand die Polizei die Leiche eines jüdischen Jungen mit durchtrennter Kehle 76

77 78 79

Dies erzählen beispielsweise Marian  H.: Brief des Marian  H. an den Innenminister General Mieczysław Moczar vom 22. Juli 1968, AAN 1521: Pomoc Polaków/7; Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598; Bericht Dawid Fromowicz, AŻIH 301/4055; Kobylański hatte Rita Holdengräber und ihre Mutter zunächst bei sich versteckt, dann falsche Papiere besorgt, mit denen beide nach Warschau flüchteten. Als sie aufflogen, kehrte Rita wieder zurück, Kobylański half ihr dann abermals. YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/3071. Bericht Marian H., AŻIH 301/580. Vgl. die Familie Banek musste kurzzeitig die Familie Betrübnis-Lichtiger wegschicken, YVA, Dep. Righteous Among Nations, M 31/1407; vgl. Eleonore Lindenberg und Maria Dyrdal, YVA O.3/1862; Job-Familie YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/1828. Für soziale Alltagsdynamiken der Beziehungen zwischen Helfenden und versteckten Jüdinnen und Juden auf dem Lande siehe Engelking: „… we are entirely at their mercy“.

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in Bahnhofsnähe.80 Der anonym gebliebene Junge war offensichtlich ohne Zutun der Deutschen ermordet worden und der Fall wurde von der polnischen Staatsanwaltschaft untersucht. Diese vermutete nach den Ermittlungen, dass der Junge sich auf der „arischen“ Seite verstecken wollte. Wahrscheinlich, so die Begründung, hatten es seine polnischen Helfenden mit der Angst zu tun bekommen und beschlossen, den jüdischen Jugendlichen zu ermorden. Es gibt noch mehr Überlieferungen von außerhalb Tarnóws über Helfende, die ihre jüdischen Schützlinge, die noch Kinder waren, umzubringen versuchten.81 Natürlich fragten Jüdinnen und Juden auch vergeblich nach Hilfe. Einige ethnische Polinnen und Polen schickten sie jedoch weg, einige gaben ihnen davor noch etwas zu trinken oder zu essen. Manche denunzierten sie.82 So meldete eine nichtjüdische Polin der polnischen Polizei, dass Rosa Feigelbaum im September 1942, also bereits nach der zweiten „Aktion“, ohne Armbinde bei ihr erschien und danach fragte, ihr ihre polnische Kennkarte gegen Geld auszuleihen. Die beiden kannten sich bereits vor dem Krieg, denn Rosa Feigelbaum war die Tochter eines Konfektionsherstellers, bei dem die betreffende nichtjüdische Polin vor dem Krieg gearbeitet hatte. Bei der Polizei sagte sie aus, dass sie der Jüdin ihre Kennkarte verweigerte, aber Rosa Feigelbaum stahl die Kennkarte und schickte sie nach einigen Tagen wieder zurück.83 Das weitere Schicksal von Rosa Feigelbaum ist nicht bekannt. Die Geschichte, wie Jüdinnen und Juden während der Shoah Hilfe gewährt wurde, wird häufig aus der Perspektive der Rettenden erzählt. Dabei wird die Eigeninitiative der Jüdinnen und Juden nicht genügend gewürdigt. An der Mikrogeschichte des Helfens wird jedoch deutlich, dass Jüdinnen und Juden aktiv auf ihre eigene Rettung hinarbeiteten und hierbei existenziell auf die Hilfe von nichtjüdischen Polinnen und Polen angewiesen waren. Mittelsmänner im Ghetto arbeiteten mit Netzwerken außerhalb zusammen, um falsche Papiere zu besorgen. Diese kosteten oft ein Vermögen, das Jüdinnen und Juden erst einmal aufbringen mussten. Dennoch erwiesen sich die Papiere nicht immer als brauchbar. Wenn es um die Organisation von Verstecken und Möglichkeiten zum Untertauchen für einen begrenzten Zeitraum ging, fragten Jüdinnen und Juden aktiv nach Hilfe. Sie mussten überlegen, wen sie fragen konnten, wann der beste Zeitpunkt war und wie sie die Bekanntschaften 80 81 82 83

ANKr. Odd. T. 33/98 PSOT/PT30: I Ds 88/43. Über weitere Kinderschicksale (nicht in Tarnów), bei denen die Helfenden Kinder ermorden wollten, schreiben anhand der Berichte aus dem Archiv des Jüdischen Historischen Instituts Kenkmann/Kohlhaas: Überlebenswege, S. 25. Vgl. Bericht Lila Wider YVA O.3/3516; Wider Rozenberg: Zikhroynes, S. 265–266. ANKr. Odd. T. 33/98 PSOT 26/I DS 529/42.

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einschätzten. Es war immer einfacher, um Aufnahme für eine begrenzte Zeit zu fragen, als darum, bis zum kaum vorhersehbaren Ende des Krieges versteckt zu werden. Die agency der Jüdinnen und Juden während der Shoah wurde erst kürzlich von der Forschung hervorgehoben. Der (tödliche) Rahmen dieser Handlungsoptionen war natürlich stark begrenzt und durch Gewalt strukturiert. Dennoch ist es lohnenswert, zu fragen, wie Jüdinnen und Juden den verbliebenen Handlungsraum ausloteten und zuweilen zu weiten suchten. Das gelingt gerade durch den mikrohistorischen Blick. Wenn über die Rettung von Jüdinnen und Juden gesprochen wird, muss daher deren Eigeninitiative viel stärker in den Fokus der Untersuchung rücken. Helfen war demnach nicht nur eine Reaktion der nichtjüdischen Bevölkerung, sondern ein Prozess, an dem die hilfesuchenden Jüdinnen und Juden aktiv mitwirkten. Zugleich hing der Erfolg – das Überleben der Shoah – von sehr vielen Faktoren ab, letztlich auch vom Zufall und Glück. 9.2 Tarnóws Mietshäuser auf der „arischen“ Seite als Interaktionsräume Auf die Schränke, Hohlräume privater Wohnungen, Dachböden und Keller richtet sich nunmehr der Fokus dieses Kapitels, in dem der Alltag des Versteckens näher beleuchtet wird. Tarnóws Mietshäuser auf der „arischen“ Seite, in denen sich Jüdinnen und Juden aus dem Ghetto verborgen hielten, wurden zu paradoxen Interaktionsräumen – paradox, da es hierbei vor allem um die Nicht-Begegnung ging. Die Bindung, die sich zwischen den Helfenden sowie den Jüdinnen und Juden entwickelte, bestimmte zum großen Teil die Verstecksituation. Die Beziehungskonstellation musste enorm stressresistent sein. Helfende sowie Jüdinnen und Juden lebten gemeinsam mit einer lauernden tödlichen Gefahr, mit der Angst vor Denunziationen aus nächster Nähe. Manche lebten auf engstem Raum über einen längeren Zeitraum mit den Helfenden zusammen und waren von ihnen vollkommen abhängig. Die Sozialpsychologin Barbara Engelking untersuchte sehr ergiebig das Tagebuch einer versteckten Jüdin im Hinblick auf diese Beziehungsdynamik, allerdings nicht für Tarnów.84 Cesia Honig bezahlte den Vater der Mikowski-Familie, der sich selbst als Antisemit bezeichnete, mit einem wertvollen Ring dafür, dass sie sich während einer „Aktion“ bei der Familie eine Woche lang verstecken konnte. Die Familie hatte ein Zimmer mit Küche in Tarnóws Zentrum, wo nun insgesamt fünf Personen 84

Engelking: „… we are entirely at their mercy …“, S. 128–156.

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lebten. Die Toilette war auf dem Hof, wohin Cesia nicht durfte, um nicht von den Nachbarinnen oder Nachbarn entdeckt zu werden. Wie Cesia und die Familie dieses Problem der Notdurft lösten, schilderte sie in dem Interview nicht. Aber die Herausforderungen des Alltags mussten unauffällig bewältigt werden – fern der Aufmerksamkeit der Nachbarinnen und Nachbarn. Wenn Dritte in die Wohnung kamen, versteckte sich Cesia im Schrank. Sie musste aufrecht stehen. Einer der Gäste blieb so lange, dass Cesia schließlich bewusstlos umfiel. Allerdings erwies sich der Gast als zu betrunken, um dies zu bemerken. Ein anderes Mal schaffte es Cesia nicht mehr bis in den Schrank, als unerwarteter Besuch hereinplatzte, und stellte sich daher hinter den Schrank. Erst später sah sie, dass ihr genau gegenüber ein Spiegel hing, der sie verriet. Doch auch diese Geschichte ging glimpflich aus, denn keiner der Besucher denunzierte Cesia oder nutzte die Situation für sich aus.85 Zwischen Cesia und den Mikowskis entstand eine familiäre Bindung, welche für ihr weiteres Überleben ausschlaggebend war. Sie kümmerte sich um die an Parkinson erkrankte Frau Mikowski, während die Männer der Familie arbeiteten. Sie durfte länger als die eingangs geplante und bezahlte eine Woche bleiben. Doch als Cesia, die ihre Mutter bereits bei der zweiten „Aktion“ verloren hatte, vor der „Liquidierung“ darum bat, dass die Familie auch ihren Vater aufnimmt, stimmte diese nicht zu, mit der Begründung, dies sei zu gefährlich. Der Vater hat die „Liquidierung“ nicht überlebt. Cesia wurde daraufhin schwer krank. Familie Mikowski pflegte Cesia wieder gesund. Sie blieb bei ihnen bis weit nach Kriegsende und zog mit ihnen nach Toruń, wo sie die Schule besuchte.86 Sogar nach 1945 gab der Vater nicht öffentlich zu, dass Cesia Jüdin war: „He loved me, but not to the point, to admit, that he saved a Jewish child.“87 Elfriede Thierberger war erst während des Krieges aus dem mährischen Ostrawa nach Tarnów gekommen und hatte hier kaum Kontakte oder Netzwerke. Vor der Ghettoschließung verdiente sie sich als private Englischlehrerin bei den Kwoczyńskis etwas dazu.88 Nach zwei „Aktionen“ im Ghetto gelang es Elfriede Thierberger, durch die Werkstatt, in der sie auf der „arischen“ Seite arbeitete, mit ihrer ehemaligen Englischschülerin Alina Kontakt aufzunehmen. Diese versuchte Elfriede in verschiedenen Unterschlupfen unterzubringen, aber als alles scheiterte, beherbergten sie und ihr Vater Elfriede 85 86 87 88

Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). Ebd. Ebd. Elfriede Thierberger kam aus dem mährischen Ostrau. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in die „Resttschechei“ und der Gründung des „Protektorats Böhmen und Mähren“ im März 1939 floh Thierberger über mehrere Stationen und landete schließlich in Tarnów. YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/1179.

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in ihrer eigenen Wohnung. Im Bad bauten sie einen Hohlraum aus, in dem Elfriede sich verstecken konnte, falls jemand die Wohnung betrat. Essen und sich waschen konnte sie sich nur, wenn die Kwoczyńskis zu Hause waren. Tagsüber, als beide arbeiteten, musste sie stillsitzen, damit die Nachbarinnen oder Nachbarn keine Geräusche aus der vermeintlich leeren Wohnung vernahmen. Eines Tages öffnete eine Nachbarin heimlich die abgeschlossene Tür, um unerlaubt etwas von den Kwoczyńskis zu entwenden. Sie entdeckte Elfriede Thierberger. Nach diesem Zwischenfall berieten Elfriede und Alina Kwoczyńska lange, was als Nächstes zu tun sei. Elfriede wollte gehen, um ihre Helfenden nicht zu gefährden. Schließlich entschieden sie sich, darauf zu hoffen, dass die Nachbarin nichts verraten würde. Aber diese kam nun regelmäßig wieder und stahl: Essen und Kleidung. „Being at her mercy, we had to let her do whatever she wanted and pretended not to notice anything.“89 Die Nachbarin erwarb sich mit ihrem Wissen eine privilegierte Position in dieser Beziehungskonstellation, sie profitierte, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Aber sie denunzierte auch nicht. Marian H. versteckte einige Jüdinnen und Juden bei sich zu Hause, bevor er ihnen dabei half, Papiere und eine Bleibe zu bekommen. Lediglich Fryderyk Dawid aus Lwów blieb auf „arischen“ Papieren weiterhin bei Marian H. wohnen. Die beiden Männer verbrachten insgesamt ca. vier Jahre zusammen, von 1942 bis 1945. Marian H. habe alles mit Dawid geteilt: Essen, Zigaretten, und er hätte auch keine Mietzahlungen genommen. Für die Mutter Fryderyks, Flora Dawid, mietete Marian H. eine Wohnung in Tarnów an. Obschon sie „arische“ Papiere besaß, war es sicherer, wenn sie die Wohnung aufgrund ihres schlechten Polnischs nicht verließ. Marian H. machte die Einkäufe und brachte ihr Essen in die Wohnung. Frau Dawid wurde von einer ethnisch polnischen Nachbarin oder einem Nachbarn denunziert und anschließend von der Sicherheitspolizei erschossen.90 Marian H. flog dabei jedoch nicht auf. In keinem dieser Beispiele hatten die Helfenden zunächst beabsichtigt, die Jüdinnen und Juden für eine längere Zeit aufzunehmen, aber aus unterschiedlichen Gründen kam es schließlich dazu, dass sie sie über Jahre bei sich versteckt hielten und ständig auf Gefahren aus dem nächsten Umfeld reagieren mussten. In den meisten Fällen war Hilfe nicht auf eine längere Zeit angelegt. Einige versteckten Jüdinnen und Juden bei sich für eine gewisse Zeit. 89 90

YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/1179. Brief des Marian H. an den Innenminister General Mieczysław Moczar vom 22. Juli 1968, AAN 1521: Pomoc Polaków/7. Zunächst wohnte auch eine ca. 50-jährige Dame mit Frau Dawid zusammen. Doch es war zu gefährlich, dass beide zusammenwohnten. Für sie suchte Marian H. eine andere Bleibe.

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Samuel Goetz war sechs Wochen lang bei einer anonym gebliebenen ethnisch polnischen Frau versteckt, Leon Gries blieb einige Tage bei einem ehemaligen Schulfreund, die Fromowiczs und Emil Seidenweg für kurze Zeit bei Bauern im Umland. Janina Wałęga beherbergte Lilka Blumenkranz, bis sie ein sichereres Versteck in einem Ordenshaus in Przemyśl fand. Einige, wie Gries, Fromowicz oder Lilka Blumenkranz, fanden schließlich ein langfristiges Versteck, andere, wie Samuel Goetz und Gizela Fudem, kehrten ins Ghetto zurück und überlebten die Konzentrationslager bis zur Befreiung. Wieder andere, wie Maciej Bleifeld, starben nach ihrer Rückkehr ins Ghetto. Marian H. versteckte ebenfalls kurzzeitig Jüdinnen und Juden bei sich, ebenso Helena Góralewicz oder Mieczysław Kobylański, bis sie ihnen falsche Papiere und einen Unterschlupf besorgen konnten. Wenn dies nicht funktionierte, entschieden sich einige Helfende, die Verfolgten schließlich doch bei sich zu verstecken, wie beispielsweise Alina Kwoczyńska. Einige, die kurz- oder mittelfristig halfen, wurden später als Gerechte geehrt, andere hingegen nicht. Kaum jemand rechnete im Moment der Entscheidung zu helfen damit, dass sich die aufgenommenen Jüdinnen oder Juden mehrere Jahre bis zum Kriegsende in der eigenen Wohnung verstecken würden. Die Helfenden sowie die sich versteckenden Jüdinnen und Juden mussten dabei wiederholt umdisponieren. Die omnipräsente Gefahr von Denunziationen sowie Erpressungsversuchen seitens der nichtjüdischen polnischen Umwelt prägten diesen Prozess im starken Maße, denn Helfende und Versteckte mussten ständig darauf reagieren. Die alltägliche Nähe zu anderen nichtjüdischen Polinnen und Polen machte die Hilfe für Jüdinnen und Juden so gefährlich, sowohl für letztere als auch für ihre Helfenden. Denn Nachbarinnen und Nachbarn kannten die alltäglichen Gepflogenheiten einer Familie, hörten Tag und Nacht Geräusche aus der Nachbarwohnung, sahen die Größe der Einkaufsbeutel und des Mülls. Immer wieder gab es Geschichten von Entdeckungen, die nicht in Verrat mündeten. Doch die Angst blieb: Vielleicht würde sich die oder der „Wissende“ doch umentscheiden? In einigen Fällen erpressten die Wissenden später Geld.91 So wurde das Überleben auf der „arischen“ Seite zu einem Spießrutenlauf. Die Familie Banek hob in ihrem Garten unter dem Schuppen in der Zielona Straße  19 in Tarnów einen „Bunker“ aus und versteckte dort über drei Jahre hinweg (1942–1945) fünf jüdische Personen. Die jüdische Familie BetrübnisLichtinger hielt sich je nach Situation mal im „Bunker“ und mal im Wohnhaus auf. Die Angst vor Denunziationen verfolgte sie ständig. Aufgrund einer Anzeige wurde bei den Baneks von deutschen Polizisten eine Razzia durchgeführt, 91

Vgl. Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598; vgl. Fall Elfriede Thierberger YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/1179.

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doch Banek wurde vorher gewarnt und so zogen die Jüdinnen und Juden für eine Weile zu seinem Bruder und wurden folglich bei der Hausdurchsuchung durch die Deutschen nicht entdeckt, sonst hätte diese Helfergeschichte, wie viele andere auch, tödlich enden können.92 Aber in ihr wurden viele Elemente des Helferalltags deutlich  – ein mutiger Retter, ein denunzierender Nachbar, ein anderer Nachbar, der die Baneks warnte, der Bruder des Retters, der bereit war, die jüdische Familie kurzzeitig aufzunehmen, erneutes Verstecken. Häufig vermischten sich in einer Helfergeschichte unterschiedliche Stationen, Menschen, Denunzianten, Erpresser und erneute Hilfe. Nicht alle Geschichten nahmen ein gutes Ende. Das Mietshaus auf der „arischen“ Seite als Interaktionsraum erwies sich zuweilen als tödliche Falle. Im Keller von Jakub Nowak hatte sich der Jude Krauze (Vorname unbekannt) versteckt. Wer ihm dabei geholfen hatte, konnte auch nach dem Krieg nicht abschließend geklärt werden, da alle, die einen Schlüssel zum Keller hatten, abstritten, dass sie von dem Versteck wussten. Ein nichtjüdischer Pole denunzierte Krauze und die polnische Blaue Polizei verhaftete den Juden, der später erschossen wurde.93 Auf einem Dachboden in der Krakowska Straße versteckten sich zwei Jüdinnen. Ob ihnen vorher die Hausmeisterin K. geholfen hatte, blieb auch nach dem Krieg unklar. Sie selbst stritt es im Nachkriegsprozess ab. Auch diese Denunziation, aufgrund welcher die beiden Jüdinnen ermordet wurden, konnte niemandem nachgewiesen werden. In beiden Fällen wurden keine nichtjüdischen Polinnen oder Polen von den Deutschen für ihre Hilfe ermordet.94 Im Oktober 1942, als bereits zwei „Aktionen“ in Tarnów erfolgt waren, bekam ein nichtjüdischer Pole einen Erpressungsbrief. Der Verfasser ließ sich das Schweigen mit 1500 Złoty bezahlen, andernfalls drohte er damit, der Gestapo zu melden, dass der Betreffende eine Jüdin bei sich versteckte.95 Leon Lesser berichtete, dass, besonders im Jahre 1943, die Deutschen Jüdinnen und Juden ins Ghetto brachten, die mit „arischen“ Papieren aufgelesen worden waren. Sie brachten sie ins Ghetto und erschossen sie auf dem Hof des Judenrats. Wenn sie Familie im Ghetto hatten, erschossen sie auch diese.96 Ein weiteres Mietshaus in Tarnów: Maria Michalicka, vermutlich bereits vor dem Krieg getauft, kam 1942 mit zwei Kindern und ausgestattet mit „arischen“ Papieren aus Lwów nach Tarnów und mietete eine Wohnung an. Bald folgte Michalicka ihr jüdischer Mann, der sich „unter der Oberfläche“ 92 93 94 95 96

YVA, Dep. Righteous Among Nations, M 31.1407. Ermittlungsverfahren gegen A. N. aufgrund des Augustdekrets, IPN Kr 502/3852. Ermittlungsverfahren gegen A. N. aufgrund des Augustdekrets, IPN Kr 502/3852. ANKr. Odd. T. 33/98 PSOT 30/I DS 105/43 (Anklageschrift gegen die vermeintliche Verfasserin, Ermittlungen eingestellt). Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598.

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bei ihr versteckt hielt. Michalicka heuerte bei Genowefa  R., die das Haus verwaltete, als Hausmeisterin an. Im Jahre 1943 tauchten zwei unbekannte Menschen vor Michalickas Wohnung auf und verlangten 100 000 Złoty und Schmuck. Zunächst konnte sie die Erpresser abwimmeln, aber diese machten gemeinsame Sache mit der Hausverwalterin. Sie kamen am selben Tag mit Genowefa R. wieder und nahmen einfach alles mit: Möbel, Koffer und Schmuck packten sie auf einen Pferdewagen. Hals über Kopf musste die Familie fliehen, die Mutter fuhr mit einem Kind nach Lwów zurück, der Vater ging ins Tarnower Ghetto, die Tochter wurde erst einmal auf der „arischen“ Seite gelassen, aber später denunziert und ermordet.97 Direkt am Rynek (Haus Nr. 8) wohnte Wolf Bromberger. Besagter Bromberger war zunächst aus seiner Heimatstadt Krakau nach Lwów geflohen, im Frühling 1943 kam er mit gefälschten Papieren als Wacław Pitala nach Tarnów und meldete sich auf eine Annonce als gelernter Schaftmacher bei Jan Nikodem. Dieser stellte ihn ein, war sehr zufrieden mit dem neuen, fleißigen Mitarbeiter und ließ ihn bei sich wohnen (Rynek 6). Beide Häuser am Rynek gehörten vor dem Krieg zwei Jüdinnen: Matylda Gottlieb sowie Jochweta Lesser, die 1943 in Majdanek ermordet wurde.98 Wacław Pitala, wie Wolf Bromberg 1943 offiziell hieß, trug ein Kruzifix um den Hals und ging mit der Nikodem-Familie sonntags in die Kirche. Niemand, sogar nicht die acht anderen Arbeiter der Werkstatt, hätten auch nur geahnt, dass Pitala „nicht-arischer“ Abstammung sei.99 Eines Tages gab es eine Razzia unweit des Rynek und am selben Tag wurde Pitala aufgrund einer Denunziation inhaftiert und später ermordet. Obschon Jan Nikodem angeklagt war, Pitala/Bromberg verraten zu haben, konnte er seine Unschuld beweisen. In seiner Vernehmung machte Nikodem selbst deutlich, wie er sich verhalten hätte, wenn er gewusst hätte, dass Pitala jüdisch sei. Dieser Kommentar eröffnet einen Blick auf mögliche Handlungsoptionen der ethnisch polnischen Umwelt während des Krieges: „Auch wenn ich gewusst hätte, dass Pitala ein Jude ist, so würde ich ihn diskret aus der Arbeitsstelle entfernen um seiner und meiner Sicherheit willen, aber niemals würde ich mich zu einer solch abscheulichen Tat durchringen.“100 Nikodem berichtete, dass dies kein Lippenbekenntnis sei, sondern dass er sich zu einem früheren 97 98

Ermittlungsverfahren gegen G. R., IPN Kr 502/3679. APT 33/2: Zarząd miejski i Prezydium Miejskiej Rady Narodowej w Tarnowie/Au 194/2/ Rynek 8; Yocheved Lesser, Page of testimony – Yad Vashem Names Memorial Collection, ID Number 1649515, online unter: https://yvng.yadvashem.org/nameDetails.html?langu age=en&itemId=1649515&ind=0 (letzter Zugriff: 25.01.2019); APT 33/2: Zarząd miejski i Prezydium Miejskiej Rady Narodowej w Tarnowie/Au 194/2/Rynek 6. 99 Verhör des Verdächtigen Jan Nikodem, 20.08.1945, IPN Kr 502/3151. 100 Verhör des Verdächtigen Jan Nikodem, 20.08.1945, IPN Kr 502/3151.

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Zeitpunkt während des Krieges in einer ähnlichen Situation befunden hätte. Damals habe er einen Juden mit „arischen“ Papieren weggeschickt. Der Wahrheitsgehalt dieser Aussage konnte nicht überprüft werden, und doch zeigt Nikodems Argumentation etwas Wichtiges auf: Zwischen aktiver Hilfe und Verrat gab es eine Bandbreite an alternativen Verhaltensmöglichkeiten. Für die Denunziation eines Juden nutzte der Schuhmacher Nikodem die Worte „sich durchringen“. Auf diese Weise unterstrich er den freien Willensentschluss. Alle, die verrieten, mussten sich dazu bewusst entscheiden und sich aktiv „durchringen“, dies auszuführen, wohlwissend um die Konsequenzen.

Exkurs: Die Ambivalenz von Hilfe

Ein weiterer Interaktionsraum, ein Mietshaus in der Rogoyski Straße 31 im Jahre 1942: Die „Aktionen“ hatten bereits begonnen. Hier wohnten Volksdeutsche und nichtjüdische Polinnen und Polen zusammen. Im Keller versteckte sich der Jude Wolf (Vornamen unbekannt) mit seiner 14-jährigen Tochter. Der Volksdeutsche Feliks K. entdeckte die beiden, wollte sie aber nicht verraten, allerdings unter einer Bedingung: Das Mädchen sollte ihm für eine Nacht zur Verfügung stehen. Schließlich willigte der Vater ein und gab seine Tochter her. In seiner Verzweiflung suchte er danach ein Gespräch mit Frau K. Der weitere Verlauf der Ereignisse konnte nach dem Krieg nicht geklärt werden, aber die beiden jüdischen Versteckten wurden denunziert und erschossen. Später kam auch Feliks K. aus anderen Gründen in Gefangenschaft und wurde in Auschwitz ermordet.101 Diese Geschichte verweist auf mehrere Ebenen der Beziehungskonstellation zwischen Jüdinnen und Juden auf der „arischen“ Seite und ihrer ethnisch polnischen Umwelt. Zum einen verlieh diese Situation der polnischen Seite sehr viel Macht. Konnten sich die nichtjüdischen Polinnen und Polen gegenüber Deutschen ohnmächtig fühlen, so standen sie besonders ab 1942 weit über den todgeweihten Jüdinnen und Juden in der sozialen und lokalen Machthierarchie. Dies war allen Beteiligten bewusst. Das Machtgefälle verstärkte sich noch, als die aus dem Ghetto Entflohenen auf der „arischen“ Seite den polnischen Nichtjüdinnen und Nichtjuden begegneten. In den Mietshäusern, in denen Jüdinnen und Juden lebten, stellte sich ein hochkomplexes Beziehungsgefüge ein. Für die ethnischen Polinnen und Polen bedeutete das Wissen um versteckte Jüdinnen und Juden vor allem Macht. Sie konnten und mussten sich entscheiden, was sie mit diesem Wissen anfingen. Sie konnten 101 IPN Kr 502/2331.

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schweigen, materiell davon profitieren, einmalige Zahlungen verlangen oder aus der Wohnung der Helfenden ungestraft Sachen stehlen wie im Falle der sich versteckenden Elfriede Thierberger. Sie konnten sich dazu „durchringen“ zu erpressen oder zu denunzieren, aber auch schweigen. In der Forschung bleibt die Antwort auf die Frage danach, wie viele Jüdinnen mit ihren Körpern für das Verstecken bezahlen mussten, weiterhin ein Desiderat.102 Im obigen Fall existiert ein eindeutiger Hinweis. Oft aber werden solche Konstellationen als Liebesbeziehungen in den Quellen verschleiert. Da das Thema des sexuellen Missbrauchs durch die „Helfenden“ schambesetzt ist, legten nicht viele Frauen – sofern sie überlebten – Zeugnis darüber ab. Das äußerst asymmetrische Beziehungsgefälle zwischen einer Jüdin und ihrem männlichen „Helfer“ machte diese völlig hilflos und ausgeliefert. Jüdinnen waren nicht in der Position, irgendwelche Grenzen ziehen zu können. In einem Fall bekam eine Jüdin aus Tarnów „arische“ Papiere, in dieser falschen Identität war sie mit dem Helfer verheiratet. Sie meldeten sich als Ehepaar zur Zwangsarbeit nach Deutschland  – eine gute Camouflage für die Jüdin. Dort wurde sie von dem „Ehemann“ schwanger und bekam ein Kind. Sie blieben nach dem Krieg weiterhin zusammen, erst später wurde die Ehe geschieden. Der geschiedene Ehemann bezeichnete seine jüdische Ex-Frau später als undankbar und hatte kein gutes Wort für sie übrig.103 Der Mann und seine Familie wurden als Gerechte unter den Völkern geehrt.104 Ob es sich in diesem Fall um eine Liebesbeziehung gehandelt haben mag oder nicht, kann im Nachhinein niemand beurteilen. Strukturell hatte jedoch die jüdische Frau kaum eine Möglichkeit, in der Zwangslage, in der sie sich befand, Annäherungsversuche abzuwehren. Womöglich fühlte sie sich ihrem Helfer auch verpflichtet. Forschende können die Grundlage komplexer intimer Beziehungen zwischen Helfenden und Versteckten oft nicht ergründen, sondern lediglich auf das diesen Konstellationen immanente strukturelle Machtgefälle hinweisen. Manchmal jedoch sind die Fälle ganz explizit. Ela Rapoport kam aus Stryj, Ostgalizien, und hatte bereits eine grausame Odyssee hinter sich, als sie einen Platz in einem Kinderheim in Tarnów bekam. Sie hatte schon vorher beten gelernt und sollte niemandem ihre Herkunft verraten. In ihrem Bericht aus dem Jahr 1948 über ihren Überlebensweg schilderte sie, wie sie sich mit der 102 Vgl. zu Ostgalizien Aleksiun: Gender and the daily lives. 103 In einem am 26.08.1997 durchgeführten Interview für das Visual History Archive sprach der Mann über die Undankbarkeit, die er von seiner Ehefrau erfahren hätte, und verfluchte den Tag, an dem er sie kennenlernte. Grzebyk, Stanisław: Interview 35406, 26.08.1997. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff:  11.04.2021), seg. 100. 104 YVA, Dep. Righteous Among Nations, M31/3490.

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Mutter zunächst bei einem ukrainischen Bauern im Umland von Stryj versteckt hielt. Er vergewaltigte die Mutter regelmäßig, sodass diese für ihre Tochter eine weitere Fluchtmöglichkeit organisierte, damit sie nicht dasselbe Schicksal ertragen musste. Nach dem Krieg erfuhr die Tochter, dass der Bauer, der die Mutter versteckt hatte, sie schließlich umbrachte, als sie im siebenten Monat von ihm schwanger war.105 Die grausamen Geschichten verdeutlichen in all ihrer Eindeutigkeit, dass einige „Hilfeleistungen“ der Absicht des Helfens widersprachen. Aber in vielen nuancierteren Fällen ist die Linie zwischen dem Akt des Helfens und dem Akt des Profitierens feiner und schwerer erkennbar, sie verschob sich mit der Zeit, als Jüdinnen und Juden immer weniger Rettungsmöglichkeiten besaßen. Hilfe gegen Geld/Dienstleistungen Es gab individuelle Helfende in Tarnów, die große Empathie und Mut bewiesen, um ihren jüdischen Mitmenschen zu helfen, obgleich sie sich selbst und ihre Familien dabei in Gefahr brachten. Doch nicht alle Helfenden waren von edlen Motiven geleitet, wie oben bereits gezeigt. Oft konnte die Linie zwischen Habgier und Altruismus sehr dünn sein, wie Omer Bartov in seiner Studie zu Buczacz beschrieb.106 Neuere Forschungen betonen von daher die Komplexität der Helferbeziehungen. Jan Grabowski hat in einer Studie gezeigt, wie auf dem Land eine regelrechte „Helferindustrie“ dadurch entstand, dass sich Helfende ihre Unterstützung teuer bezahlen ließen.107 Sie profitierten von der lebensbedrohlichen Situation der Jüdinnen und Juden, gleichzeitig halfen sie ihnen zu überleben. Auch für Tarnów, vor allem aber für das Umland, gibt es in den Quellen Hinweise darauf, dass Jüdinnen und Juden für Hilfe bezahlen mussten. So erfährt man aus den Berichten des jungen Józef Mansdorf, dass er Bauern Geld dafür gab, dass er sich bei ihnen verstecken durfte.108 Cesia Honig hatte zu Beginn auch für Hilfe bezahlen müssen. Noch während des Krieges setzte Fryderyk Dawid in seinem Versteck eine Liste mit seinem Besitz (darunter Immobilien) in Lwów auf: Sollten er und seine Familie überleben, würde Marian H. 20 % des Besitzes bekommen, im anderen Falle bestimmte Dawid Marian H. als Alleinerben.109 Obschon die Dankbarkeit gegenüber dem 105 106 107 108 109

Bericht Ela Rapoport, AŻIH 301/4002. Bartov: Wartime Lies, S. 492. Grabowski: Ratowanie Żydów, S. 88–90. Bericht Józef Mansdorf, AŻIH 301/570. Pro Memoria – verfasst von Fryderyk Dawid während der Besatzungszeit, ohne Datum (Abschrift auf Schreibmaschine); Brief von Fryderyk Dawid an die Towarzystwo Ubezpieczeń Generali  – Port Polonia. Dyrekcja w Warszawie, ul. Jasna  19, Tarnów den 12.11.1942, AAN 1521: Pomoc Polaków/7, S. 27–29.

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Retter nachvollziehbar ist, konnte ein solches Schreiben gefährlich werden, da der Retter vom Tod seines entrechteten und völlig auf ihn angewiesenen Schützlings profitiert hätte. Doch Marian  H. nutzte die Situation nicht zu seinem Vorteil aus. Das Ehepaar Dawid hat überlebt. Eleonora Lindenberg berichtete, dass das Leid von Jüdinnen und Jude zu einer guten Einnahmequelle wurde: Diese Art Händlerinnen, die sich mit Schmuggel beschäftigten, gab es viele: Sie kauften den Juden alles ab, denn die verscherbelten ihre Habe spottbillig, nur um etwas Essen zu kaufen. Die Händlerinnen verdienten ein Vermögen an der Not von Juden. Für den Transport einer [jüdischen – AW] Mutter mit Kind erhielten sie auch eine beträchtliche Summe Geld. Es kam jedoch häufig vor, dass sie einem Juden zunächst Geld und Wertsachen abnahmen und ihn dann der Gestapo übergaben, nur um die Last loszuwerden, die ein Jude damals überall darstellte. So haben sie es mit meiner Mutter gemacht. Sie brachten sie nach zwei Wochen nach Tarnów, wo ein Zimmer für sie angemietet wurde und am nächsten Tag haben sie sie an die Gestapo verraten.110

Auch in anderen Fällen wurde die Gier, an der Not von Jüdinnen und Juden zu verdienen, zu einem wichtigen Motiv, diese zu denunzieren oder gar selbst Hand anzulegen. Die deutschen Besatzer hatten ein hierarchisches System angelegt, in welchem sich in Lokalgesellschaften neue, kriegsbedingte soziale Prozesse entwickelten. Das Gefälle zwischen den nichtjüdischen polnischen Opfern und den jüdischen war sehr groß. Dass sich Schmuggler in einer gefährlichen Zone bewegten und Hilfe gegen Geld ein Verdienstzweig war, war dem System immanent. Wo im Einzelfall die Grenze zwischen Altruismus und Habgier lag, war sehr unterschiedlich. 9.3

Wer half?

Wen fragten die Jüdinnen und Juden nach Hilfe? Spielten Bekanntschaften aus der Vorkriegszeit eine Rolle? In diesem Teil möchte ich auf die Helfenden eingehen und nach der Belastbarkeit von Vorkriegskontakten fragen. Ausgehend davon, dass es vor dem Krieg in Tarnów viele Interaktionsräume gab, ist zu fragen, inwiefern sich belastbare Helferbeziehungen entwickelten. Wer waren die Helfenden? Kann man ein gemeinsames Muster erkennen und etwas über ihre Motivlage in Erfahrung bringen? Ob es organisierte Netzwerke gab, die Jüdinnen und Juden halfen, ist anhand der erhaltenen Quellen nicht mehr zu rekonstruieren. Besonders bei der 110 Bericht Eleonora (Lonka) Lindenberg, YVA O.3/1862.

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Beschaffung „arischer“ Papiere und der Organisation von Verstecken könnten Netzwerke eine Rolle gespielt haben. So gibt es vage Hinweise darauf, dass die als Gerechte unter den Völkern geehrten Helferinnen Alina Kwoczyńska und Helena Góralewicz zumindest nicht allein arbeiteten, bzw. die erstere Kontakte zum polnischen Untergrund hatte. Der Ende 1942 gegründete Rat zur Judenhilfe Żegota in Warschau hatte in seinen Berichten an die Delegatur der Exilregierung im Land über die Lage außerhalb der Hauptstadt rapportiert. Als Handlungsfelder („teren działania“) wurden die folgenden Städte beschrieben, zu denen Tarnów dezidiert nicht gehörte: Warschau, Krakau, Brześć, Lublin, Kielce, Bochnia, Izbica, Zakopane, Zamość, Biłgoraj, Kraśnik, Radom, Puławy, Siedlce und Białystok.111 Im Bericht für den Zeitraum Dezember 1942 bis Oktober 1943 wird Tarnów dagegen einmal erwähnt, und zwar dass sich „Tarnów“ mit dem Rat für Judenhilfe in Verbindung gesetzt habe, dieser aber nicht „mehr Mittel“ zur Verfügung stellen könne.112 Wer genau aus Tarnów mit dem Rat Kontakt aufnahm, konnte nicht ermittelt werden. Da es sich um „mehr“ Mittel handelte, bedeutet dies scheinbar, dass der Rat für Judenhilfe bereits jemanden in Tarnów bezuschusst hatte oder aber, dass Tarnów als noch eine weitere Stadt nicht mehr aufgenommen werden konnte. So kann anhand dieser bruchstückhaften Informationen zwar davon ausgegangen werden, dass es womöglich inoffizielle Netzwerke der Judenhilfe in Tarnów gab, diese aber nur einen schwachen Organisationsgrad aufwiesen. Daher konzentriert sich das folgende Unterkapitel auf individuelle Hilfeleistungen. Häufig kann nicht mehr rekonstruiert werden, ob sich die Helfenden und die Schutzsuchenden aus der Vorkriegszeit kannten. Nicht in allen Quellen erwähnen die Überlebenden, um was für eine Art von Kontakt es sich handelte. In einigen Fällen kannten sich die Jüdinnen und Juden und die Helfenden, bei denen sie sich versteckten. Jerzy Poetschke zum Beispiel wohnte vor dem Krieg als Mieter der Goldmans auf deren Gut, das im Volksmund als „Goldmanówka“ bezeichnet wurde (siehe Abbildung 39). Die jüdische Familie musste 1941 das Schlösschen verlassen. Jerzy versorgte Blanka Goldman während der Ghettozeit mit Essen, welches er ihr zur Werkstatt brachte, in der sie arbeitete.

111 Sprawozdanie z działalności Komitetu im. Konrada Żegoty, Aktensammlung: Sprawoz­ dania z działalności Komitetu im. Konrada Żegoty 1942–1943/pisma do Delegatury Rządu i do Dyr. Dep. Spraw wewnętrznych w sprawie Organizowania Rady Pomocy Żydom, 1942–01.02.1943, AAN: 1325: Delegatura Rządu RP na Kraj 1940–1945, 202/XV Rada Pomocy Żydom. 112 Sprawozdanie Rady Pomocy Żydom przy Pełnomocniku Rządu w Kraju za czas grudzień 1942 do października 1943 włącznie, AAN: 1325: Delegatura Rządu RP na Kraj 1940–1945, 202/XV Rada Pomocy Żydom.

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Schließlich versteckte sie der ehemalige Mieter und Nachbar bis Kriegsende bei sich (bzw. bei ihr) zu Hause.113 Erstaunlich ist jedoch, dass in den von mir untersuchten Beispielen relativ viele jener Kontakte, die später in länger andauernde Hilfe mündeten, nicht unbedingt aus der Vorkriegszeit stammten.114 Marian  H. beispielsweise half der jüdischen Familie Dawid, die aus Lwów geflohen war und niemanden in Tarnów kannte. Andere Jüdinnen und Juden, denen Marian H. half, waren vermutlich Bekanntschaften aus der Zeit vor dem Krieg. Cesia Honig bat ihren Arbeitskollegen, der erst während des Krieges aus Toruń nach Tarnów kam, um Hilfe.115 Herr Rosner fragte seinen Arbeitskollegen bei der Ostbahn, den er erst während des Krieges kennenlernte, ob dieser seine 3-jährige Tochter Esther verstecken würde. Die Wodnickis versteckten Esther bis Kriegsende bei sich, danach wuchs sie bei ihnen auf, denn die Eltern waren bereits während der ersten „Aktion“ im Juni 1942 umgekommen.116 Auch Kajla Sandelman fragte eine Bekanntschaft aus Kriegszeiten, ähnlich war es bei Elfriede Thierberger und Alina Kwoczyńska.117 Hania Sturm berichtete: „My parents had a leather goods business and therefore came into contact with many gentile shoemakers. […] Some of these people we considered to be close friends, but no one would help us when we needed them. Ironically, we were saved by a family that we had never seen before.“118 Rahel Klimek (née Goldberg) stammte aus einer akkulturierten, polnischsprechenden Familie.119 Der Vater war vor dem Krieg Stadtrat und Rahel Klimek war die Welt der jiddisch-sprechenden religiösen Jüdinnen und Juden sehr fremd. Ihre Familie war vor dem Krieg mit einer christlichen Familie eng befreundet. Die Väter – beide Juristen – hatten sich bei ihrem Dienst in der 113 YVA, Dep. Righteous Among Nations M.31/6903. 114 In den von mir 40 untersuchten Fällen kannten sich in elf Beispielen Helfende und Schutzsuchende nicht aus der Vorkriegszeit, bei weiteren sechs ist über eine eventuelle Vorkriegsbekanntschaft nichts bekannt, in anderen Fällen konnten Helfende sowohl Jüdinnen und Juden, die sie aus der Vorkriegszeit kannten, als auch anderen, die sie nicht kannten, helfen. 115 Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 116 Die Familie Wodnicki wurde als Gerechte unter den Völkern geehrt YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/3009. 117 YVA, Department of the Righteous Among Nations, M.31/1179. 118 Letter of H. K., New York to Yad Vashem, January 15, 1980, YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/1828. 119 Die Familie war jedoch auch zionistisch geprägt. Rahel Klimek besuchte die Safa-BeruraSchule, sie konnte kein Jiddisch, war nicht religiös, lernte aber Hebräisch. Klimek, Rahel: Interview, 24.05.2013, Ramat HaSharon, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska.

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österreichischen Armee während des Ersten Weltkrieges kennengelernt. Die Familien verbrachten gemeinsam die Ferien sowie die christlichen Feiertage. Als der Krieg ausbrach, zog die eng befreundete christliche Familie jedoch fort. Aus dem Ghetto heraus besorgte sich Rahel falsche Papiere über einen Priester. Losere christliche Bekannte der Goldbergs stellten Empfehlungsschreiben auf Rahels „arischen“ Namen aus, mit deren Hilfe Rahel mit „arischen“ Papieren in Warschau eine Bleibe finden konnte.120 Als ich persönlich Rahel GoldbergKlimek danach fragen konnte, wie sie die Haltung der nichtjüdischen Umwelt einschätzte, ob sie darauf zählen konnte, dass jemand helfen würde, antwortete sie: Nein, nicht wirklich. Nein, nein. Sogar meine Freunde. Auch nicht so richtig. […] Es gab nicht viel Hilfe. Aber ich sage Ihnen etwas. Ich kann das verstehen. Die Menschen hatten Angst. Einen Juden zu verstecken, da drohte eine furchtbare Strafe. Ich weiß nicht, ob ich an deren Stelle jemanden […] verstecken könnte. […] Aber denunzieren, das mussten sie nicht.121

Welche Erklärungen gab es dafür, dass – in einer Stadt mit so vielen polnischjüdischen Interaktionsräumen und Verflechtungen, in der vor dem Krieg die Hälfte der Bewohnerinnen und Bewohner jüdisch war – sich in vielen Fällen Vorkriegskontakte nicht als belastbar erwiesen? Hier kann man nur spekulieren. Rahel Goldberg erwähnte die Angst der ethnischen Polinnen und Polen, sie nannte auch Denunziationen. Diese ständige Angst, verraten oder erpresst zu werden, verursachte, dass viele Tarnower Jüdinnen und Juden, die sich an der Oberfläche bewegten, nicht in der Stadt bleiben konnten. Gerade jene, die ein „gutes Aussehen“ hatten und polnisch sozialisiert waren, sich also vermutlich vor dem Krieg stärker in den Interaktionsräumen mit ethnischen Polinnen und Polen bewegten, verließen Tarnów schnellstmöglich und suchten Anonymität in der Großstadt. In ihrer breit angelegten Studie über Helfende zeigte Nechama Tec, dass Freundschaft kein bedeutender Faktor bei der Rettung von Jüdinnen und Juden war.122 In dem von ihr analysierten Sample wies Tec nach, dass die meisten Jüdinnen und Juden von Fremden gerettet wurden.123 Auch in Tarnów bestand eine wesentliche Gruppe von Helfenden aus Menschen, die die Versteckten nicht aus der Vorkriegszeit kannten. Andererseits hatten 50 % der Retter, die Tec analysierte, gute Kontakte mit Jüdinnen und Juden vor der 120 Rahel Goldberg bekam Papiere auf den Namen „Klimek“ und ging nach Warschau, Klimek, Rahel: Interview, 24.05.2013, Ramat HaSharon, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. 121 Ebd. 122 Tec: When Light Pierced, S. 129–136. 123 Ebd.

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Kriegszeit gehabt.124 Sie halfen nicht unbedingt diesen Jüdinnen und Juden, mit denen sie befreundet waren, aber dafür anderen. Dieser Trend kann auch für Tarnów nachgezeichnet werden. 9.3.1 Jüdische Kinder und Jugendliche auf der „arischen“ Seite und ihre Helfenden Wenn sich Helferkonstellationen aus Vorkriegskontakten ergaben, war häufig ein Kind beteiligt, oder diese resultierten aus alten Schulfreundschaften. So war es auch bei Bronisława Gawelczyk und Sara Hofmeister, bei Mieczysław Kobylański und Rita Holdengräber, bei den Niedolajadłos und Gizela Fudem, bei Samuel Goetz und Tekla Nagórska.125 Blanka Goldman, der ein Nachbar aus der Vorkriegszeit half, war Jugendliche, als die deutsche Besatzung begann.126 Ergaben sich bei jüdischen Kindern und/oder Jugendlichen besondere Beziehungskonstellationen zu nichtjüdischen Polinnen und Polen, welche eher in Hilfe mündeten? Christliche Kindermädchen, die früher bei jüdischen Familien arbeiteten, spielten als Helferinnen eine entscheidende Rolle. Sie waren mit der Familie eng verbunden und hatten häufig ein warmes Verhältnis zu den Kindern. Genowefa Madej war Hausmädchen bei der jüdischen Familie Feld in Tarnów gewesen. Sie nahm 1943 die sieben Jahre alte Ruth Feld zu sich aufs Land mit und kümmerte sich bis Kriegsende um sie.127 Obwohl sie das Kind auf dem Dachboden oder im Kleiderschrank versteckte, kam es zu Denunziationen vonseiten ethnischer Polinnen und Polen, und nur mit Glück entdeckte die Gestapo das Mädchen nicht. Genowefa Madej wurde erst posthum als Gerechte unter den Völkern geehrt – da sie Anfeindungen und Bedrohungen fürchtete, sollte man im Dorf die Wahrheit erfahren, dass sie im Krieg einer Jüdin das Leben gerettet hatte.128 Samuel Goetz’ ehemaliges Kindermädchen Tekla Nagórska hielt die ganze Zeit Kontakt zu dem Jugendlichen, der seine gesamte Familie bei den ersten beiden „Aktionen“ verloren hatte. Als Gerüchte von der dritten „Aussiedlung“ zu kursieren begannen, brachte sie ihm die Papiere und die Geburtsurkunde ihres eigenen Sohnes. Tekla brachte ihn zu einer jungen Frau, die ein 18-Monate altes Baby hatte und ein Zimmer vermietete. Ihr Name ist unbekannt. Tekla versorgte Samuel mit Essen, konnte aber nur mit ihm 124 Ebd. 125 YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/202; M.31/3071; M.31/6640; Fudem, Gizela (née Grünberg): Interview 7896, 23.10.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021); Goetz: I Never Saw My Face, S. 47–48. 126 YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/6903. 127 YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/11786. 128 Ebd.

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flüstern aus Angst vor Denunziationen seitens der polnischen Nachbarinnen und Nachbarn. Nach sechs Wochen entschied sich Samuel Goetz, zurück ins Ghetto zu gehen. In seiner Autobiografie begründete er seinen Entschluss damit, dass es ihm zu einsam in der Isolierung war und er das Bedürfnis verspürte, das Schicksal der Tarnower Jüdinnen und Juden zu teilen. Nach der Ghettoliquidierung im September 1943 wurde Samuel Goetz ins ZL Płaszów gebracht, danach ins KZ  Groß-Rosen und schließlich nach Mauthausen (KZ Ebensee), wo er im Mai 1945 befreit wurde.129 Die als Gerechte geehrten Franciszka Dynowska sowie Maria Dyrdal waren bei jüdischen Familien in Tarnów als Hausmädchen angestellt und retteten beide ein jüdisches Kind.130 Es waren allerdings nicht die Kinder, die sie selbst gehütet hatten, sondern die anderer Familien. Beide hatten mit Denunziationen seitens der Nachbarinnen und Nachbarn zu kämpfen. Im Fall von Dyrdal war die Geschichte komplizierter: Eine Jüdin namens Lindenberg (Vorname unbekannt) aus Lwów war mit ihrem 1941 geborenen Baby auf der „arischen“ Seite in der Nähe von Tarnów gestrandet. Mittellose Händlerinnen hatten ihr gegen Geld geholfen – sie boten ihr ein „Versteck“ in Tarnów, verrieten die Jüdin aber danach an die Gestapo. Das Baby dagegen verkauften sie an die kinderlose Maria Dyrdal für 10 kg Tabak weiter, ohne sie darüber in Kenntnis zu setzen, dass das Mädchen jüdisch war. Als Dyrdal die ersten Erpresserbriefe erreichten, begann sie zu vermuten, dass „ihr“ Kind wohl jüdisch sei. Das änderte jedoch nichts an ihrem Verhältnis zu dem Mädchen. Sie versorgte sie wie eine eigene Tochter. Wegen der Denunziationsgefahr mussten sie häufig umziehen. Dyrdal nahm alle Gefahren und alle finanziellen Mehraufwendungen auf sich. Sie zog das Mädchen bis 1955 auf. Für das Mädchen gab es keine andere Mutter, obwohl sie nach und nach ihre Geschichte erfuhr. Als Maria Dyrdal wegen Privathandels 1955 inhaftiert wurde, schickte sie das Mädchen Lonka in ein jüdisches Waisenhaus nach Krakau. 1956 ging Lonka – dann schon 15-jährig – mit den Mädchen und den zionistisch gesinnten Erzieherinnen und Erziehern nach Israel und wuchs in einem Kibbuz auf. Maria Dyrdal besuchte ihre Ziehtochter später dort.131

129 Goetz: I Never Saw My Face, S. 47–73. 130 YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/4786; M.31/119. Dass auch Maria Dyrdal eine Hausangestellte war, schreiben Chomet und Korniło. Ob dem tatsächlich so war, lässt sich nicht anhand weiterer Quellen bestätigen, Chomet/Korniło: Kristn, S. 301–314. 131 Bericht Eleonore (Lonka) Lindenberg YVA O.3/1862; Lonkas Lehrerin aus dem Kibbuz berichtete, Dyrdal habe Lonkas jüdische Familie gesucht, um von dieser Geld dafür zu bekommen, dass sie Lonka zurückgab. Inwiefern dieser Eindruck der Lehrerin stimmte, ist nicht zu ermitteln, YVA O.3/1862.

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Auch Ordensschwestern halfen jüdischen Kindern in Tarnów. Der kleine Jurek Górski (Besatzungsname), geboren 1939, hatte wahrscheinlich bereits eine Odyssee hinter sich, als ihn eine „Tante“ 1943 nach Tarnów brachte. Dort sollte er mit einem weiteren Helfenden in Kontakt treten, der ein Versteck organisiert hatte. Treffpunkt war die Kirche der Heiligen Familie in Tarnów, wo die „Tante“ Jurek allein ließ. Aber niemand kam, um den Jungen abzuholen. Schließlich nahm ihn ein Priester mit zur polnischen Polizei, dann zur Heilanstalt für Kinder mit angeschlossener Krippe der Albertinnen-Schwestern in der Nowodąbrowska Straße  6. Obschon der Verdacht bestand, der Junge sei jüdisch, nahmen die Nonnen ihn auf. Auch weitere jüdische Kinder sollen hier versteckt worden sein.132 Im Armenhaus der Albertinnen-Schwestern in der Szpitalna Straße  65 soll ein erwachsener Jude bis zum Kriegsende versteckt worden sein.133 Die Historikerin Ewa Kurek gibt zudem an, dass sich in der Einrichtung für unheilbar Kranke der Josefinnen-Schwestern (Zgromadzenie sióstr Miłosierdzia Józefa) in der Starodąbrowska Straße 53 unweit des Ghettos Schwester Kolomba Czarnota für die Unterstützung von Jüdinnen und Juden einsetzte, auch hier wurden Jüdinnen und Juden versteckt.134 Kurz vor Weihnachten, am 18. Dezember 1942, stand ein etwa zweieinhalb Jahre alter Junge vor der Tür des Hauses der Kongregation der AlbertinnenSchwestern. In den Händen hielt er eine Karte, handschriftlich beschrieben von der Mutter mit der Bitte, das Kind aufzunehmen. Es würde den Krieg besser in der Obhut der Nonnen überstehen können, schrieb die Mutter und fügte hinzu: „Bitte denken Sie nicht, dies sei ein jüdisches Kind, ich stamme von einer polnischen Familie ab, von der Szlachta-Familie Straszewski.“135 Die Mutter verpflichtete sich auch, regelmäßig etwas zu schicken als Entschädigung für die Aufnahme. Doch die Nonnen ahnten, dass dies ein jüdisches Kind sein könnte und riefen einen polnischen Arzt zu Rate. Dieser stellte das Jüdischsein des Kindes fest.136 Die Schwestern meldeten daraufhin das Kind der deut­ schen Sicherheitspolizei.137 Sein weiteres Schicksal ist unbekannt. Auch eine 132 Bericht Jurek Górski, AŻIH 301/5326; Bericht der Schwester Tarsycja Małodobra sowie Bericht Pomoc udzielana Żydom przez zgromadzenie SS: Albertynek w czasie II wojny swiatowej, YVA Microfilm 3636. Ich danke Yechiel Weizman für die Hilfe bei der Sichtung dieser Dokumente. 133 Ebd. 134 Bericht von Schwester Nikodema Łytkowska, vgl. Kurek: Dzieci żydowskie w klasztorach, S. 262. Trotz mehrerer Kontaktaufnahmen mit dem Orden konnte ich das Archiv nicht sichten und kann die angegebenen Informationen nicht bestätigen. 135 Die handgeschriebene Karte befindet sich in den Akten der Staatsanwaltschaft beim Kreisgericht, ANKr. Odd. T. 33/98 PSOT 30/I Ds. 62/43. 136 ANKr. Odd. T. 33/98 PSOT 30/I Ds. 62/43. 137 Ebd.

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Schwester des Felicjanerinnen-Ordens meldete die vierjährige Emilia bei der Polizei, die eines Tages vor dem Haus der Nonnen auftauchte. Das Mädchen war die Tochter von Halina Kozłowska, einer Jüdin, die „ausgesiedelt“ wurde. Nach der Meldung der Nonne wurde das Mädchen im Jahr 1943 ins Ghetto an den Judenrat überstellt. Ihr weiteres Schicksal ist nicht bekannt.138 Orte, an die sich Jüdinnen und Juden wandten, um sich oder ihre Nächsten zu verstecken, erwiesen sich nicht immer als sicher. In den letztgenannten Fällen hatte die Obhut katholischer Nonnen versagt. Die Haltung der einzelnen Vertreterinnen und Vertreter der katholischen Kirche war höchst unterschiedlich und hing letztlich von individuellen Entscheidungen ab. 9.3.2 Netzwerke aus der Schule Als der Überlebende Israel Unger in seiner neuen Nachkriegsheimat Kanada „Das Tagebuch der Anne Frank“ las, hatte er das Gefühl, dass die Lebensverhältnisse im Versteck der Franks luxuriös im Vergleich zu jenen waren, an die er sich aus seiner Kindheit in Tarnów erinnerte.139 Im Winter 1942/1943 organisierte sein Vater Mordechai Unger ein Versteck in der Mühle der Dagnans, in der er vor und während des Krieges gearbeitet hatte. Diese Überlebensgeschichte zeigt auf, wie Jüdinnen und Juden selbst ein Versteck vorbereiteten und zugleich Hilfe von nichtjüdischen Polen erhielten. Die Dagnan-Mühle befand sich im Grabówka-Viertel, aber schon außerhalb des Ghetto-Areals. Die nichtjüdischen polnischen Gebrüder Drożdż zogen eine zusätzliche Ziegelwand im Dachboden der Werkstatt auf dem großen Dagnan-Gelände hoch. Es sollte so aussehen, als ob der Dachboden mit dieser Wand endete. Eine Täuschung, die nur dann ihren Zweck erfüllte, wenn die zusätzliche Wand nicht zu weit von der echten Außenwand entfernt lag, damit sich die Gesamtfläche des Dachbodens nicht auffällig verkleinerte. Zwischen echter und vorgetäuschter Außenwand entstand ein etwa zehn Quadratmeter großes Versteck, in dem Familie Unger sowie weitere Familien, insgesamt neun Personen, zwei Jahre lang lebten. Essen wurde ihnen von Zbigniew Skorupa, einem nichtjüdischen Polen, gebracht.140 Mordechai Unger bezahlte die Drożdż-Brüder dafür, dass sie eine falsche Wand auf dem Dachboden der Dagnan-Mühle einzogen und vermutlich auch Skorupa. In der Retrospektive fand sein Sohn Israel diese Übereinkunft gerechtfertigt: „I don’t think it was immoral or unethical. You’re sorry to see what is happening to these people [the Jews  – AW]; you’re going to help 138 ANKr. Odd. T. 33/98 PSOT 30/I Ds. 237/43. 139 Unger/Gammon: The Unwritten Diary, S. ix. 140 Ebd., S. 13.

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Abbildung 73 Unger/Dagnan Versteck, 2001

Abbildung 74

Der Leiter des Kreismuseums Tarnów Adam Bartosz kriecht in das Unger / Dagnan Versteck, 2001

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them, but you need some help too. So why should it not be symbiotic? I don’t have anything against that.“141 Dies ist die Erinnerung eines Sohnes an seinen Vater, sodass ungewiss ist, inwiefern sie davon überlagert ist, dass Israel Unger seinen Vater nicht als hilflos ausgelieferten Menschen im Gedächtnis behalten wollte. So schrieb er ihm unter Umständen eine agency und Kontrolle über die Situation zu, die der Vater nicht hatte. Denn diese Sicht verschleiert das der Situation immanente asymmetrische Machtgefälle zwischen sich versteckenden Jüdinnen und Juden sowie nichtjüdischen Polinnen und Polen, die sie jederzeit erpressen oder verraten konnten. (Es in diesem Fall aber nicht taten.) Vielleicht aber hatte der Vater selbst das Bedürfnis, für die ihm erwiesene Hilfe wie für eine Dienstleistung zu bezahlen, anstatt das Gefühl zu haben, auf die Gnade der Nichtjüdinnen und Nichtjuden angewiesen zu sein. Tagsüber, als unten nichtjüdische Arbeitende waren, schliefen die Jüdinnen und Juden in ihrem Versteck, redeten nicht und bewegten sich kaum. Erst nachts, als die Werkstatt unten sich geleert hatte, trauten sie sich aus der Enge ihres Raumes in den größeren Teil des Dachbodens. Mordechai Unger ging nach unten, um Essensreste aus dem Müll, Wasser sowie – sie lebten in einer Mühle – Mehl und Gerste heraufzuholen. Irgendwann kam Zbigniew Skorupa nicht mehr mit Essen. Später stellte sich heraus, dass er anderen Jüdinnen und Juden zur Flucht aus dem Generalgouvernement verholfen hatte und dabei von Deutschen ergriffen und ermordet wurde.142 Mordechai Unger verließ dann selbst das Gebäude und entfernte sich aus dem Areal der Mühle, da er Essen besorgen musste. Dies war riskant und zugleich überlebensnotwendig. Die Ungers und die fünf weiteren Personen kochten auf einer kleinen Platte nachts, durch das Versteck lief ein Schornstein, der Wärme spendete. Alle sprachen Jiddisch im Versteck, was gefährlich war, denn die Sprache war nach der „Liquidierung“ aus dem soundscape der Stadt verschwunden. Da der Vater religiös war, beachteten sie die religiösen Feste. Zweimal wurden sie beinahe von ethnischen Polen entdeckt, aber mit viel Glück kam es doch nicht zum Verrat. Die Drożdżs, die Skorupas, auch Dagnan, insgesamt mindestens zehn Personen, wussten von dem Versteck, aber keiner verriet sie.143 Obschon der 1938 geborene Israel Unger, der sich mit seiner Familie auf dem Dachboden der Dagnan-Mühle versteckte, sich dessen nicht bewusst war, tauchten viele Namen der an dieser Geschichte beteiligten Menschen in den Vorkriegs-Klassenbüchern der Czacki-Schule auf.144 In diesem Fall zeigt sich 141 142 143 144

Ebd., S. 14. Ebd. Ebd., S. 14–20. ANKr. Odd. T. 33/363: Księgi ocen szkoły im. Czackiego.

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Abbildung 75

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Dagnan Mühle während der Kriegszeit, im Hintergrund rechts die Czacki-Schule

der Mehrwert einer mikrogeschichtlichen longitudinalen Untersuchung, die solche – auf den ersten Blick nicht wahrnehmbaren – Zusammenhänge aufdecken kann. Durch die Arbeit mit den Klassenbüchern der Czacki-Schule aus den 1930er Jahren fiel mir auf, dass Zbigniew Skorupa und seine Brüder die Schule besuchten,145 ebenso Aleksander Dagnan,146 der Sohn des Mühlenbesitzers Augustyn Dagnan. Ignacy und Ryszard Drożdż, vielleicht waren dies die von Unger genannten Drożdż-Brüder, gingen vor dem Krieg ebenfalls in die Czacki-Schule.147 Die Czacki-Schule grenzte zudem direkt an das Areal der Dagnan-Mühle. Gleich in der Nähe, ebenfalls im Grabówka-Viertel, wohnte Marian H., der Protagonist vom Beginn dieses zweiten Teils der vorliegenden Studie. Er versteckte über eine gewisse Zeit hinweg in seinem Haus einige

145 ANKr. Odd. T.  33/363: Księgi ocen szkoły im. Czackiego/47, S.  49; 33/363: Księgi ocen szkoły im. Czackiego/46, S. 53. 146 ANKr. Odd. T. 33/363: Księgi ocen szkoły im. Czackiego/54, S. 6. 147 ANKr. Odd. T. 33/363: Księgi ocen szkoły im. Czackiego/46, S. 403; ANKr. Odd. T. 33/636: Księgi ocen szkoły im. Czackiego/45, S. 383; ANKr. Odd. T. 33/363: Księgi ocen szkoły im. Czackiego/53, klasa I.

Den Jüdinnen und Juden helfen

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Jüdinnen und Juden.148 Seine Kinder besuchten ebenfalls die Czacki-Schule.149 Waren Kontakte aus der öffentlichen Schulzeit also etwas Besonderes und förderten sie die Bereitschaft, Jüdinnen und Juden zu helfen? Leon Gries floh aus Tarnów nach Lwów, wo ihn ein nichtjüdischer Freund, den er noch aus Schulzeiten in Tarnów kannte, über einige Tage versteckte.150 Gizela Fudem (née Grünberg) besuchte die Królowa-Jadwiga-Grundschule für Mädchen mit einem hohen Anteil an jüdischen Schülerinnen.151 Dort war sie zwar eher mit anderen Jüdinnen befreundet. Aber als Gizela auf dem Weg vom Ghetto zur Madritsch-Fabrik 1942 ihre alte nichtjüdische Schulbekanntschaft Gabriela Niedojadło traf, gab sie ihr zu verstehen, dass sie mit ihr sprechen müsse. Die einstigen Schulfreundinnen nahmen so wieder Kontakt auf. Als Gerüchte von der dritten „Aktion“ aufkamen, bat Gizela die Freundin, sich bei ihr verstecken zu dürfen. Sie verabredeten am Zaun, wie und wann sie das Ghetto verlassen würde. Nach einigen Hindernissen und nur weil sie einen nichtjüdischen Polen „geschmiert“ hatte, gelangte Gizela zu den Niedojadłos, der Familie ihrer Schulfreundin. Tadeusz Niedojadło, vermutlich der Bruder von Gabriela, besuchte im Übrigen die Czacki-Schule.152 Die Niedojadłos verdienten ihren Lebensunterhalt, indem sie zu Hause Waren verkauften. Kundinnen und Kunden, die zu ihnen kamen, schöpften bald Verdacht. „Seien sie mir nicht böse, mein Fräulein, sie sehen ganz wie eine Jüdin aus“, dieser Kommentar einer Käuferin konnte leicht tödlich enden.153 Es war gefährlich, in der Wohnung zu bleiben. Das jüdische Mädchen hatte sich Papiere beschafft und suchte nach einer Arbeit außerhalb Tarnóws. Doch sie fand nichts und gleichzeitig begann die dritte „Aktion“, bei der fast die gesamte Familie Gizelas umkam. Einzig die Schwester hat überlebt. Aus dem 148 Vgl. Kapitel  4 „Das Fallbeispiel Marian  H.  und  Władysław  Ł. oder: Hinführung zum Thema“. 149 H., Marek: Interview, 04.04.2012, Tarnów, Polen, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska, siehe auch Schülerlisten der Czacki-Schule für das Jahr 1928, hier steht auch Romana H., Tochter von Marian H., wohnhaft in der Nadbrzeżna Górna: ANKr. Odd. T. 33/363: CzackiSchule/21: Metryka szkolna, n. p. 150 YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/1115. 151 Der Anteil jüdischer Mädchen war in dieser Schule auch ausgesprochen hoch: knapp 70 % in den 1920er Jahren bis 50 % in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre. Durchsicht der Klassenbücher von 1918 bis 1943, Szkoła Królowej Jadwigi, APT 33/373/7 – 31. Anteil jüdischer Schülerinnen: 1923/4: 69 %, 1924/5: 69 %, 1924/25: 71 %, 1926/7: 67 %, 1927/8: 65 %, 1928/9: 61 %, 1929/30: 59 %, 1930/1: 52 %, 1931/2: 47 %, 1932/3: 45 %, 1933/4: 49 %, 1934/5: 52 %, 1935/6: 54 %, 1936/7: 55 %, 1937/8: 48 %, 1938/9: 52 %. 152 ANKr. Odd. T. 33/363: Księgi ocen szkoły im. Czackiego/45, S. 309. 153 „Nie obraź się, panieneczka, ale całkiem jak żydóweczka“, Fudem, Gizela: Interview 7896, 23.10.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021).

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Gefühl heraus, die Schwester nicht allein im Ghetto lassen zu können und weil sie auf der „arischen“ Seite trotz der Hilfe der Niedojadłos keinen Fuß fassen konnte, kehrte Gizela ins Ghetto zurück. Die Schwestern arbeiteten zunächst bei Madritsch, überlebten gemeinsam die „Liquidierung“ des Ghettos im September  1943 und kamen ins KZ  Płaszów, dann nach Auschwitz und schließlich nach Bergen-Belsen, wo sie befreit wurden. Eine Woche nach der Befreiung starb Gizelas Schwester Tosia an Typhus.154 Kannten sich die Helfenden im Unger-Dagnan-Fall und jene, denen geholfen wurde, aus der Vorkriegszeit? Das lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Vielleicht kannten sie sich lediglich vom Sehen, aus der Nachbarschaft in Grabówka oder aus der Schule vom Hörensagen. Vielleicht ist aber auch eine persönliche Bekanntschaft für die Entscheidung zu helfen, nicht notwendig gewesen. In der Czacki-Schule waren 50  % der Schüler jüdisch gewesen, sodass der Grad der Nähe zwischen jüdischen und nichtjüdischen Kindern hier sehr hoch war.155 Diese alltägliche Nähe aus dem Klassenzimmer konnte bei einigen der Schülerinnen und Schüler das Gefühl einer kulturellen Distanz mindern. Die Gemeinsamkeit mit jenen, mit denen sie einst im ärmlichen Arbeiterviertel Grabówka die Schulbank drückten, erwies sich in den oben erwähnten Beispielen in Zeiten der Bedrohung als resilient. Spielte es eine Rolle, dass die Czacki-Schule in einem ärmlichen Arbeiterviertel lag? Viele der Eltern standen vielleicht den Arbeiterparteien PPS oder Bund nahe, die hier jeweils ihre Hauptsitze gehabt und als Parteien in Tarnów sehr gut zusammengearbeitet hatten. Beispielsweise besuchte Roman Rępala, der Sohn des PPS-Stadtratsabgeordneten Stanisław Rępala, die Czacki-Schule.156 Die Familie wohnte vor dem Krieg im Grabówka-Viertel, in der Widok-Gasse, dem Schauplatz exzessiver Tötungen im Sommer 1942. Andererseits waren auch religiöse und orthodoxe Jüdinnen und Juden, die Chassidim, im Grabówka-Viertel beheimatet. Aleksander Dagnan, der Sohn des Besitzers der Dagnan-Mühle, erinnerte er sich an die Czacki-Schule und an das Grabówka-Viertel aus der Vorkriegszeit wie folgt: Das waren doch genau solche Jungs wie wir, besonders in Grabówka, wo es mehr Juden gab als, als  … Arier [ethnische Polen  – AW].157 Also hier gab es 154 Ebd. 1995 wurden die Niedojadłos als Gerechte unter den Völkern geehrt, YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/6640. 155 Vgl. Kapitel 3.2 „Gemeinsam die Schulbank drücken – die allgemeinen Schulen.“ 156 Roman Rępala, Vater von Stanisław, verzeichnet in den Schülerlisten der Czacki-Schule für das Jahr 1928, ANKr. Odd. T. 33/363: Czacki Schule/21: Metryka szkolna, n. p. 157 Im Interview verwendete Aleksander Dagnan das Wort „Arier“ synonym für nichtjüdische Polen, auch wenn er über die Zeit vor dem Krieg sprach. Er bediente sich jener Trennlinie,

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keine Differenzen. Unterschiede, Unterschiede gab es nur bei den chassidischen Gruppen, die sich sehr isolierten. […] Ich sage es ihnen ganz ehrlich, dass das Verhältnis zwischen der arischen Bevölkerung und der jüdischen [vor dem Krieg – AW], nicht in den oberen Schichten, aber hier an diesem Ort, sehr in Ordnung war […], weil alle im Grunde im gleichen Boot saßen – der Armut, der gemeinsamen Armut.158

Mag dieses Bild lediglich eine subjektive und dazu noch retrospektive Wahrnehmung widerspiegeln, zeigt es doch, dass Einzelne ein solches Gemeinschaftsgefühl durch die Nähe in Nachbarschaft und den gemeinsamen Schulbesuch entwickeln konnten. Janina Wałęga hatte ebenfalls vor dem Krieg eine Schule mit einem hohen Anteil jüdischer Mädchen, die Eliza-Orzeszkowa-Mädchenschule, besucht. In ihrer Klasse waren von 30 Schülerinnen nur fünf katholisch, erinnerte sich eine Schulfreundin.159 Janina Wałęga rettete die 1937 geborene Lila Blumenkranz (später Leah Fried), die sie zunächst bei sich zu Hause in Tarnów versteckte und dann für sie einen Platz in einem Orden in Przemyśl fand, wo sie überlebte.160 Janina kannte wohl Lilas Mutter aus der Vorkriegszeit.161 Janina Wałęga, verheiratete Filozof, wurde in den 1980er Jahren als Gerechte unter den Völkern geehrt.162 Als 1987 der Regisseur Igal Burstein Janina Filozof traf, fragte er sie, ob sie sich des Risikos bewusst war, das sie und ihre Familie eingingen. Sie bejahte, dass sie alle wussten, dass sie erschossen würden, sollten sie auffliegen. „Und warum haben Sie geholfen?“, bohrte der Regisseur nach, und sie antwortete: „Ich hatte viele jüdische Freundinnen und ich habe viel Zuneigung von ihnen erfahren, im Gymnasium, und so haben wir uns irgendwie zusammengelebt. So, irgendwie.“163 Nachama Tec verwies in ihrer breit angelegten Studie darauf, dass 50  % der Helfenden zwar gute Kontakte mit Jüdinnen und Juden vor der Kriegszeit gehabt hatten, aber während der Besatzung fremden jüdischen Menschen

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die erst die Deutschen zwischen Juden/Jüdinnen und Nichtjuden/Nichtjüdinnen in der Lokalgesellschaft einführten – auch retrospektiv. Dagnan, Aleksander: Interview, 06.03.2013, Tarnów, Polen, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. Koch, Łucja: Łucja Koch talks to her grandmother, Dorota Chaber, about her Classmate Janka Wałężanka (08.01.2009), online unter: https://sprawiedliwi.org.pl/en/storiesof-rescue/your-stories/lucja-koch-talks-her-grandmother-dorota-chaber-about-herclassmate-janka-walezanka (letzter Zugriff: 03.01.2019). YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/952. Siehe dazu Ghetto Fighters’s House Archives, Photo Archive, Catalog Number 26338, online unter: http://infocenters.co.il/gfh/notebook.asp? (letzter Zugriff: 01.02.2019). YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/952. Unfinished Talk, Israel 1988, Regie: Igal Burstein, min: 29:50–30:00.

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halfen. Wenn Nichtjüdinnen oder Nichtjuden Jüdinnen oder Juden in Tarnów halfen, die sie nicht kannten, war ihre Nähe zu jüdischen Schulfreundinnen und -freunden, Bekannten, Familien etc. aus der Vorkriegszeit ein wichtiger Erfahrungshorizont, von dem aus sie agierten. Dabei schien der Schulbesuch in einer Schule mit einem hohen Anteil jüdischer Kinder eben jenen Erfahrungshorizont zu stiften. 9.3.3 Wer also half? Gab es also Gemeinsamkeiten zwischen jenen ethnischen Polinnen und Polen, die geholfen haben? Für die Fallbeispiele aus Tarnów ist dies schwer zu beantworten, da sich für die Helfenden keine Gruppeneigenschaften feststellen lassen. Allein schon die Haltung der unterschiedlichen Geistlichen hat gezeigt, dass es ein „Einerseits“ – den Priester Bochenek und seine Weggefährten sowie einige Ordensschwestern  – und ein „Andererseits“  – die denunzierenden Ordensschwestern – gab. Dieser Befund lässt sich auch für alle weiteren Beispiele durchdeklinieren. Die Schulzeit in einem jüdischen Umfeld konnte zwar prägend auf junge ethnische Polinnen und Polen wirken, aber war noch lange kein Garant dafür, dass ein Czacki-Schüler nicht auch denunzieren würde, wenn er eine fliehende Jüdin oder einen fliehenden Juden sah. Ehemalige christliche Kindermädchen von jüdischen Familien halfen, aber dies taten bei Weitem nicht alle. Das Kindermädchen der Wróbels (der Familie des zu Beginn des Buches zitierten Zvi Ankori), die allerdings ein angespanntes Verhältnis zu ihren Arbeitgebern hatte, übernahm deren Wohnung und scheuchte Malka Wróbel nach Kriegsende aus dieser möglichst schnell weg.164 Auch das Geschlecht konnte eine Rolle spielen, so beispielsweise bei den Kindermädchen, manchmal half aber die ganze Familie der ehemaligen Kindermädchen mit, sodass sich in den für Tarnów studierten Fällen die Verteilung von Frauen und Männern die Waage hält. Es sind nur sehr wenige Informationen über die politische Zugehörigkeit oder die soziale Schicht, den Bildungsgrad und die Motivation der Helfenden überliefert, sodass sich auch bei der Betrachtung dieser Faktoren kein Muster ergibt. Es gab Menschen mit progressiven Ansichten, wie Jan Stolarz, der letztlich die Fromowicz-Familie in einem Dorf in Tarnóws Umgebung rettete.165 Ein Schuhmacher, welcher der PPS angehörte, hatte eine Werkstatt am Rynek, die 1943 als Treffpunkt von Helfenden genutzt wurde sowie als Übergabestation

164 Ankori: Chestnuts, S. 406–407. 165 Bericht Dawid Fromowicz, AŻIH 301/4055; vgl. Kapitel  9.4.2 „Tarnower Jüdinnen und Juden außerhalb Tarnóws“.

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für Menschen, die jüdische Kinder bei sich aufnahmen.166 Ein anderer PPSMann dagegen hatte bereits vor der Ghettoschließung von der Enteignung der Jüdinnen und Juden profitiert.167 Mikowski war ein eingefleischter Antisemit, der sich selbst mit Stolz so bezeichnete. Er entschied, Cesia Honig aus der Werkstatt von Władysław Ł. für eine Woche gegen Bezahlung aufzunehmen. Doch dann entwickelte er eine große Sympathie zu Cesia Honig. Sie blieb letztlich bei der Familie bis weit nach Kriegsende ohne weitere Bezahlung. Diese (Nicht-)Erkenntnisse vom Fehlen eines Musters der Helfenden decken sich mit der bisherigen Forschung. Auch Nechama Tec konnte den Helfenden keine eindeutige Schicht- oder politische Zugehörigkeit zuordnen.168 Sie erklärte aber das Helfen durch individuelle Persönlichkeiten, die bereit waren, eine Barriere bzw. eine gesellschaftliche Norm zu durchbrechen.169 Historikerinnen und Historiker betonen, dass die Helfenden oft bereits vor dem Krieg irgendwie „außerhalb“ standen, durch ihre soziale Position, religiöse Zugehörigkeit oder ihren religiösen Übereifer, dadurch dass ihr Haus etwas abseits gelegen war, dass sie irgendwie „anders“ waren oder am Rand der Gesellschaft standen. Bei einigen Helfenden in Tarnów wird in den Berichten zwar erwähnt, dass ihr Haus etwas abseits lag, aber ein Muster ergibt sich daraus noch nicht. Ich kann für Tarnów nicht bestätigen, dass es sich um auf irgendeine Art „deviante“ Personen handelte, die bereits vor dem Krieg aus ihrer Umgebung herausstachen. So gelingt es nicht, eine Arbeitshypothese über Gruppeneigenschaften oder zumindest gemeinsame Muster der Tarnower Helfenden herauszuarbeiten. Samuel und Pearl Oliner untersuchten in ihrer Studie zu Rettenden, ob diese eine altruistische Persönlichkeit besaßen oder ob die Umstände sie zu Rettenden machten.170 Ihr Sample bestand zu über 50  % aus den Akten zu den Gerechten unter den Völkern im Yad-Vashem-Archiv. Es handelte sich also zumeist um Rettungsgeschichten, die durch die Kriterien der YadVashem-Kommission bereits einer Vorauswahl unterzogen worden waren (die Retterinnen und Retter halfen Jüdinnen und Juden, ohne selbst davon zu profitieren). Die Vorauswahl des Quellensamples deckte sich zum großen Teil mit den aufgestellten Kriterien der Definition einer altruistischen 166 Bei dem Schuhmacher handelte es sich um Jan Nikodem, diese Informationen kommen bruchstückhaft im Ermittlungsverfahren gegen ihn aufgrund des Augustdekrets zutage. Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt, IPN Kr 502/3151. 167 Ermittlungsverfahren gegen A. W., IPN Kr 502/368, zu diesem Fallbeispiel vgl. Kapitel 5.5 „Die Verfolgung der jüdischen Lokalbevölkerung“. 168 Tec: When light pierced, S. 116–127. 169 Ebd., S. 130. 170 Oliner/Oliner: The Altruistic Personality.

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Persönlichkeit, die es erst zu erforschen galt. Eine altruistische Persönlichkeit, so wie sie in der Studie der Oliners definiert wird, kann sicherlich auch einigen der Retterinnen und Rettern aus Tarnów zugeschrieben werden, so beispielsweise den Baneks, Bronisława Gawelczyk, Alina Kwoczyńska und anderen. Sie handelten selbstlos, halfen, ohne davon zu profitieren, und setzten sich einer extremen Gefahr aus.171 Doch die Geschichten des Überlebens verliefen selten geradlinig, unterschiedliche Helfende und Modi des Helfens verweisen auf ein hochkomplexes Bild. Hilfe war nichts Statisches, sie wandelte sich stetig und stand unter wechselnden Prämissen. Meistens war die Hilfe nicht für eine längere Zeit angelegt. Kaum jemand rechnete im Moment der Entscheidung, zu helfen, damit, dass sich die aufgenommenen Jüdinnen oder Juden mehrere Jahre bis zum Kriegsende in der eigenen Wohnung verstecken würden. Auch die Helfenden veränderten sich im Laufe der Zeit, mussten ständig auf die wechselnde Lage reagieren, einst getroffene Entscheidungen revidieren und sich neu ausrichten. Statische Kategorien erfassen daher nur mangelhaft den Prozess des Helfens. In den Fallbeispielen zu Tarnów erscheinen zudem auch zwielichtige Charaktere, die dennoch gute Taten vollbrachten, Menschen, die ihre einst eingeschlagenen Wege oder Glaubenssätze verließen und in einer neuen Situation anders als gewohnt handelten. Kazimierz  H., der gemeinsam mit seinem Bruder Marian unentgeltlich falsche Papiere für Jüdinnen und Juden besorgte, war vor dem Krieg ein Kleinkrimineller gewesen, der die Armut und Gutgläubigkeit der Menschen ausgenutzt hatte. Nun nutzte er vermutlich seine alten Kontakte. Einige Menschen stellten „arische“ Papiere her und verlangten hohe Summen dafür. Sie halfen, begaben sich in Gefahr und profitierten zugleich. Einige Helfende gewährten Jüdinnen und Juden für einige Zeit bei sich Unterschlupf, drei Tage, einige Wochen, schickten sie dann aber wieder weg. Sie retteten die Menschen vor einer „Aussiedlung“, brachten sich selbst in Gefahr, hielten aber nicht lange aus. Sie setzten die Jüdinnen und Juden somit erneut der Todesgefahr aus. Zugleich waren sie mit der zunehmenden Radikalisierung und fortschreitenden Brutalisierung der deutschen Vernichtungspolitik gegenüber Jüdinnen und Juden konfrontiert. Und was ist mit Władysław  Ł., dem ONR-Sympathisanten, der die Waffe für das Attentat an dem PPS-Mann Eugeniusz Sit besorgt hatte? Bei ihm im Betrieb konnten sich Jüdinnen und Juden während der „Aktion“ verstecken, er setzte fiktive Arbeiterinnen- und Arbeiterlisten auf, beschäftigte Jüdinnen und Juden auf falschen Papieren, verriet niemanden, aber zugleich beutete er 171 Ebd., S. 6.

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die jüdischen Angestellten aus, wie ihm ein Richter bescheinigte, damit sein Betrieb Gewinn machte. Der Antisemit Mikowski, der nur gegen einen wertvollen Ring Hilfe für eine Woche gewährte, mutierte im Verlauf des Krieges zum selbstlosen Retter. Maria Dyrdal kaufte für Tabak ein Kriegsbaby, über dessen Herkunft sie nichts wusste, da sie sich ein Kind wünschte. Dann aber hütete sie das Baby wie ihr eigenes und nahm alle Risiken auf sich. Und wie verhält es sich mit den Gebrüdern Drożdż? Über sie kursierten Gerüchte, sie hätten die Liste als Stammdeutsche unterschrieben.172 Doch gleichzeitig halfen sie der Unger-Familie gegen Geld ein Versteck auszubauen und verrieten sie nicht. Es erscheint zu kurz gegriffen, der Mehrheit der Helfenden eine altruistische Persönlichkeit zuzuschreiben. Dies wird der Alltagsrealität und den Beziehungskonstellationen in den Besatzungsgesellschaften nicht gerecht. Statische Kategorien helfen oft nicht weiter, um einen dynamischen Prozess nachzuvollziehen. 9.4

Die dritte Phase der Shoah

Die dritte Phase des Holocaust veränderte abermals die Situation der Jüdinnen und Juden. Das Ghetto war Ende 1943 liquidiert worden, die Brutalisierung des Krieges wirkte sich auch auf die nichtjüdischen Polinnen und Polen mit starker Resonanz aus. Bei Verrat konnten jüdische Flüchtlinge nicht mehr ins Ghetto zurück und hatten im Grunde keinen Ort der Zuflucht mehr. Sie waren existenziell auf die Hilfe der nichtjüdischen Polinnen und Polen angewiesen. Im Folgenden betrachte ich diese dritte Phase der Shoah im Hinblick auf die Dynamiken zwischen schutzsuchenden Jüdinnen und Juden und ihrer nichtjüdischen Umwelt. 9.4.1 In der Stadt Häufig hatten Jüdinnen und Juden aus Tarnów  – die wenigen, die noch bis zur Liquidierung im Ghetto verblieben und diese überlebten  – selbst Vorbereitungen getroffen und Verstecke organisiert, so beispielsweise die Unger Familie auf dem Dachboden der Dagnans. Doch auch sie mussten „draußen“ Essen besorgen. Leon Lesser und seine Freunde hatten bis zur „Liquidierung“ im Ghetto überlebt und wurden danach dem Aufräumkommando zugeteilt. Das „Ghetto“ war mittlerweile zu einigen Häusern zusammengeschrumpft und den Lesser-Brüdern gelang die Flucht. Ihre Geschichte gibt einen guten 172 Unveröffentlichtes Interview von Adam Bartosz mit Adolf Skorupa, Privatsammlung Adam Bartosz.

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Einblick in die Trajektorien des Überlebens in einer Zeit, als es kein Ghetto mehr gab und Jüdinnen und Juden keine andere Wahl mehr hatten, als sich auf der „arischen“ Seite aufzuhalten. Die Lessers hatten noch zu Ghettozeiten auf dem Gelände, das nun „liquidiert“ worden war, einen „Bunker“ auf einem Dachboden vorbereitet und dort Essensreserven deponiert. Nun versteckte sich Leon Lesser dort mit acht anderen Personen. Ende des Jahres 1943, nach sechs Wochen, entdeckte sie ein ethnischer Pole, der das ehemalige Ghetto nach Nahrung oder Gütern durchsuchte. Die Jüdinnen und Juden flohen und teilten sich in Kleingruppen auf, um eine größere Überlebenschance zu haben. Eine dieser Kleingruppen fand Unterschlupf bei einer Hausmeisterin in Tarnów. Die anderen gingen in die Wälder ins Umland. Sie irrten umher, mieden tagsüber die Stadt, schliefen manchmal in Scheunen, ohne dass deren Besitzer bzw. Besitzerinnen etwas ahnten. „Wir waren wie gehetzte Tiere, obdachlos“, erinnerte sich Leon Lesser.173 Als es im Januar 1944 sehr kalt wurde, schliefen sie bei der oben erwähnten Hausmeisterin, wo bereits ihre Freunde waren. Sie schlichen sich nachts in das Versteck, ohne dass die Hausmeisterin davon wusste, und wanderten tagsüber weiterhin ziellos in den Wäldern umher. Doch schließlich fanden sie einen unfertigen Rohbau ohne Fenster, wo sie sich einen Schlafplatz einrichteten. Bald entdeckte sie der Besitzer. Da er selbst in einer anderen Ortschaft wohnte, war er bereit, sie nicht wegzuscheuchen. Denn die sich Versteckenden bedrohten nicht unmittelbar seine Sicherheit. Leon Lesser und die anderen Jüdinnen und Juden konnten nur hoffen, dass sie nach dieser Entdeckung nicht denunziert würden. Sie entschlossen sich schließlich, trotz dieser Gefahr zu bleiben, denn sie hatten kaum eine andere Wahl. Nach und nach bauten sich Lesser und seine Weggefährten das Versteck aus, sogar mit einer Kochnische. Am Abend gingen meistens die Frauen in die Stadt, um Nahrungsmittel zu besorgen. (Es war Frauen schwerer nachzuweisen, dass sie Jüdinnen waren, bei Männern reichte es, ihnen die Hose herunterzuziehen.) Für einen Mann aus der Gruppe endete das Einkaufen tödlich, da er von einer Verkäuferin an die Gestapo verraten wurde. Im März 1944 kam der Besitzer des Baus wieder und verlangte Geld von den Jüdinnen und Juden, 3000 Złoty pro Monat. Die Verfolgten gaben ihm zunächst 100 Dollar. Im Sommer entdeckten weitere nichtjüdische Polinnen und Polen das Versteck und durchsuchten es: „Verdammt, das waren schäbige Juden, keine Dollars und kein Gold“, hörte einer der Zeugen, der sich noch versteckt hielt, sie sagen.174 Einige der

173 Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598. 174 Ebd.

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verbliebenen Jüdinnen und Juden kehrten, weil sie nicht weiterwussten, zu der Hausmeisterin zurück, die sie erneut aufnahm. Die restlichen flohen weiter.175 Nur unweit vom Haus des Schuhmachers Nikodem, am Rynek Nr. 12, wohnte Ludwika  K. allein mit ihren Kindern, die sie versorgen musste. Sie handelte mit Schuhen. Ihr Mann war ins KZ Auschwitz deportiert worden. Im Jahr 1944, das Ghetto war längst liquidiert, begannen Gerüchte zu kursieren, dass die Frau einen Juden bei sich versteckt hielt. Einige Tage später kamen polnische Polizisten. Frau  K. sagte nach dem Krieg aus, dass sie nie Jüdinnen oder Juden bei sich versteckt gehalten hätte, dass aber eines Tages im Jahre 1944 ein jüdischer Mann zu ihr gekommen sei, um Schuhe zu kaufen. Eine weitere Zeugin bestätigte dies. Ludwika  K. sagte ihm, er solle am Folgetag wiederkommen. Wie der jüdische Mann tatsächlich zu Ludwika  K. kam, ob er tatsächlich erst im Jahre 1944 bei ihr anklopfte oder ob sie ihn versteckt gehalten hatte, bleibt bis heute unklar. Bestätigt werden kann nur, dass am besagten Folgetag die polnische Polizei den Mann in der Küche von Ludwika  K. erschoss. Als die Nachbarinnen und Nachbarn des Mietshauses am Rynek den Schuss hörten, liefen sie zusammen, um nachzuschauen, was passiert war. Bei Frau K. habe man einen Juden erschossen, hieß es gleich.176 Keiner machte großes Aufheben darum, Spuren zu verwischen. Die Polizei bestellte einen Pferdewagen und ein Mann schaffte die Leiche weg, indem er sie an den Beinen fasste und die Treppe hinunterzerrte. Dann befahl die Polizei der Hausmeisterin, die Treppe vom Blut zu säubern. Ein Nachbar vermutete, Ludwika K. selbst hätte die Polizei gerufen, um den Juden loszuwerden und alles, was er bei sich führte, mit den polnischen Polizisten zu teilen. Sie kam straffrei davon (sowohl im Krieg als auch in der Anklage nach dem Krieg).177 Der jüdische Mann dagegen war am Rynek im Jahre 1944 hilflos der polnischen Umwelt ausgeliefert gewesen. Obwohl die deutsche Vernichtungspolitik gegenüber Jüdinnen und Juden den Rahmen für diese Geschichte schuf, waren an der Ausführung des Mordes keine Deutschen beteiligt. Diese Geschichte zeigt, wie gewöhnlich der Mord an einem Juden 1944 geworden war – am helllichten Tag erschoss die polnische Polizei grundlos direkt am Rynek in einem Mietshaus einen Juden. Es gab keine Vertuschungsversuche, im Gegenteil: Lauter Spuren (Blutspur im Treppenhaus) sowie Zeuginnen und Zeugen (Hausmeisterin, Nachbarinnen und Nachbarn, Pferdewagenkutscher) wurden produziert, ganz so, als wäre zu diesem Zeitpunkt das Töten einer Jüdin oder eines Juden kein (Kapital-) Verbrechen mehr. 175 Ebd. 176 Zeugenaussage M. D., IPN Kr 502/2342. 177 Ermittlungsverfahren auf Grundlage des Augustdekrets gegen L. K., IPN Kr 502/2342.

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kapitel 9

Tarnower Jüdinnen und Juden außerhalb Tarnóws

Im Umland Die aus dem Ghetto entflohenen Tarnower Jüdinnen und Juden suchten häufig Schutz außerhalb der Stadt, um nicht von Bekannten erkannt zu werden – in den Wäldern, in Schuppen oder Ställen auf Höfen, bei Bäuerinnen und Bauern. Im Folgenden soll ein Blick auf die Situation der Tarnower Jüdinnen und Juden geworfen werden, die außerhalb der Stadt Unterschlupf suchten. Hier gehe ich vor allem auf die Kreishauptmannschaft Tarnów ein, die außer der Stadt selbst die Landkreise Tarnów, Brzesko und Dąbrowa Tarnowska einschloss.178 Besonders nach den Ghettoliquidierungen, in der dritten Phase des Holocaust, war die Situation der Jüdinnen und Juden prekär. Dawid Fromowicz floh mit seiner Frau und anderen Jüdinnen und Juden aus dem Tarnower Ghetto, nachdem ihr Kind in einer der „Aktionen“ umgebracht worden war.179 Sie versteckten sich immer wieder bei unterschiedlichen Bäuerinnen und Bauern auf dem Land, kehrten bisweilen ins Ghetto zurück und versuchten dann erneut auf der „arischen“ Seite unterzutauchen. Sie überlebten die „Liquidierung“ des Ghettos im September 1943 in einem Bunker in Tarnów und suchten danach, nachdem Tarnów „judenfrei“ war, abermals nach Rettung auf dem Land. Jan Stolarz aus Biadoliny kannten sie bereits aus der Zeit vor dem Krieg, er hatte sehr „fortschrittliche Ansichten“.180 Stolarz beherbergte die Fromowiczs und andere Jüdinnen und Juden, teilweise auf seinem Hof. Längerfristig versteckten sich die meisten von ihm versorgten Jüdinnen und Juden im Wald. Dorthin brachte Stolarz ihnen regelmäßig Essen und warnte sie vor „Judenjagden“. Aufgrund einer Denunziation aus dem polnischen Dorf fanden deutsche Polizisten den im Haus von Jan Stolarz versteckten jüdischen Rechtsanwalt Dr. Gries. Sie erschossen ihn sowie den Sohn des Hausbesitzers, Antoni Stolarz. Trotz dieses schmerzhaften Verlustes gab Jan Stolarz nicht auf, weiter für die im Wald ausharrenden Jüdinnen und Juden zu sorgen. Er wiederholte gegenüber den Fromowiczs, dass, solange er lebe, auch sie leben würden.181 Ein Jude wurde auf dem Weg von Jan Stolarz zurück in den Wald von ethnischen Polen umgebracht, ein anderer starb aufgrund einer Krankheit, die im Versteck nicht behandelt werden konnte. Insgesamt aber überlebten sechs Jüdinnen und Juden in dem Versteck dank Stolarz. Er hatte sich beharrlich immer wieder 178 Hembera: Die Shoa, S. 41. Zu den Aufgaben der Kreishauptmänner siehe ebd., S. 46. 179 Bericht Dawid Fromowicz, AŻIH 301/4055. 180 Ebd. Bereits vor dem Krieg half er den Fromowiczs, als die Familie vom anti-jüdischen Boykott betroffen war. 181 Ebd.

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dafür entschieden, zu helfen – trotz der Denunziationen aus dem polnischen Umfeld, trotz dessen, dass sein eigener Sohn von den Deutschen für seine Hilfe ermordet worden war. Nach Kriegsende wurde Stolarz als Gestapoinformant auf Grundlage des Augustdekrets angeklagt.182 Erst 2017 wurde er als Gerechter unter den Völkern geehrt.183 Estera Gruber aus Tarnów konnte sich nach der dritten „Aktion“ im Novem­ ber 1942 auf dem Weg zu einem Transport entfernen, wobei sie ihre Armbinde mit dem Davidstern abstreifte. Sie irrte zwei Wochen lang in der Gegend von Tarnów umher und übernachtete in Scheunen, ohne dass deren Besitzerinnen oder Besitzer etwas davon wussten.184 Estera Gruber hatte Glück und überlebte. Anders erging es den Jüdinnen und Juden (Namen unbekannt), die sich in der Scheune des Michał W. ohne sein Wissen versteckt hielten. Als er sie entdeckte, meldete er es dem Ortsvorsteher, der deutsche Polizeieinheiten benachrichtigte. Diese kamen ins Dorf und erschossen die Jüdinnen und Juden. Als Michał W. am Abend noch ein 12-jähriges Mädchen fand, das verschont geblieben war, brachte er es selbst zur deutschen Polizei.185 Józef Mansdorf aus Tarnów versteckte sich mit seiner Schwester auf dem Dorf, zunächst als Jüdin und Jude gegen Geld, dann mussten sie das Versteck wechseln und gaben sich als nichtjüdische Polin und Pole bei einem Bauern aus, bis ihre wahre Identität entdeckt wurde. Schließlich beschaffte Mansdorf für sich und seine Schwester falsche Geburtsurkunden und sie heuerten bei einem dritten Bauern als „Polen“ an. Als die Vermutung aufkam, sie seien jüdisch, durften sie dennoch bleiben. Doch als das Gerücht weitere Kreise zog, verließen sie schließlich das Dorf.186 Auf einer ihrer vielen Stationen wurden sie in Jodłowa (rund 30  km von Tarnów entfernt) Zeugen, wie Bronisław Z. die Familie Birn verriet, die sich während einer „Aktion“ auf dem Feld versteckt hielt. Die Familie war vor dem Krieg Bronisław Z.’s Nachbarn. Er meldete es zunächst dem Ortsvorsteher, dieser reagierte jedoch nicht auf die Denunziation und unternahm keine weiteren Schritte. Bronisław Z. nahm es daher selbst in die Hand und fuhr zur Gestapo, die daraufhin ins Dorf kam und

182 Ebd. 183 YVA, Dep. Righteous Among Nations,  M.31.2/13486. (Yad Vashem Righteous Database: http://db.yadvashem.org/righteous/righteousName.html?language=en&itemId=12834752 (letzter Zugriff: 08.01.2018). 184 Bericht Estera Sybirska, née Gruber, AŻIH 301/2593. 185 Ermittlungsverfahren gegen M.  W. aufgrund des Augustdekrets, ANKr  29/SAKr  965 K134/49 (Luszowice, powiat dąbrowa tarnowska). 186 Bericht Józef Mansdorf, AŻIH 301/570.

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kapitel 9

die Familie Birn erschoss. Józef Mansdorf sagte im Nachkriegsprozess gegen Bronisław Z. aus.187 Das Wissen über versteckte Jüdinnen und Juden verbreitete sich meist schnell und bedeutete Macht. Jüdinnen und Juden brauchten in einer kleinen Gemeinde nicht nur Helfende, sondern auch solche, die sich entschieden zu schweigen, auch wenn sie von den Versteckten wussten. Eine Art „kritische Masse“ in der Gemeinde, die schwieg, war jedoch nicht ausreichend. Wenn nur eine oder einer aus der Dorfbevölkerung bereit war zu denunzieren, wurden Jüdinnen und Juden ermordet und deren Helfende, aber auch alle „Mitwissenden“ in Gefahr gebracht. Während der Shoah mussten die sozialen Konstellationen und Machtverhältnisse in kleinen Gemeinden neu ausgelotet werden. Der oben genannte Bronisław Z. konnte nicht nur auf die Habe seiner ehemaligen Nachbarinnen und Nachbarn rechnen sowie auf Belohnung durch die deutschen Besatzer, sondern konnte dem Ortsvorsteher  – jenem, der die lokale Autorität besaß und der die Denunziation nicht an deutsche Stellen weiterleitete – erheblich schaden, wenn nicht sogar in tödliche Gefahr bringen. Der Mut des Gemeindevorstehers dagegen reichte nicht aus, um letztlich die betreffenden Jüdinnen und Juden zu retten. Die „Wissenden“ hatten Macht und mussten eine Entscheidung treffen, wie sie die so erworbene Macht innerhalb ihres lokalen Gefüges ausagierten. Der Grad des Involviertseins aller in die Prozesse, die die Shoah ausgelöst hatte, wird hierbei deutlich. Alle mussten ständig lebenswichtige Entscheidungen treffen. Der Ortsvorsteher verweigerte mutig sein Mitwirken an der Denunziation. Aber Bronisław Z. ließ sich davon nicht beirren, er nahm die nächste Hürde und wandte sich direkt an die deutsche Polizei. Wie schon der Schuhmacher Nikodem aus Tarnów es formulierte, man musste sich zur Denunziation „durchringen“. Es gab keine deutsche Präsenz in Jodłowa, der Denunziant musste die Gestapo erst ins Dorf holen, um die Jüdinnen und Juden erschießen zu lassen. In Żabno musste der Denunziant für diesen Zweck ein Fahrrad ausleihen, um zur deutschen Kommandantur zu fahren.188 In der Kreishauptmannschaft Tarnów gab es nach dem Zweiten Weltkrieg mehrere Ermittlungsverfahren aufgrund des Augustdekrets von 1944 gegen ethnische Polinnen und Polen, die versteckte Jüdinnen und Juden denunziert haben sollen, welche daraufhin von Deutschen (Gendarmerie oder Gestapo) ermordet wurden.189 Einige haben sich nachweislich dabei bereichert. Im 187 Ermittlungsverfahren gegen B. Z. aufgrund des Augustdekrets, IPN Kr 502/3880. 188 Ermittlungsverfahren aufgrund des Augustdekrets, ANKr 29/439/1307. 189 Die Akten zu Ermittlungs- und Gerichtsverfahren aufgrund des Augustdekrets liegen für Tarnów und die Kreishauptmannschaft Tarnów zum einen im Archiv des IPN, zum

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Herbst 1944 nahm Zofia R. Leizer Mojżesz und Rafael Frisch, die vorher in den Wäldern ohne Bleibe umherirrten, in Świebodzin (acht Kilometer von Tarnów entfernt) auf. Sie konnten sich auf einem Dachboden verstecken. Sie nahm im Gegenzug ihr Hab und Gut sowie Geld, acht US-Dollar, an sich. Einige Tage später verriet sie beide an die Gestapo, wozu sie erst nach Tarnów fahren musste.190 Ein Tierarzt in Ciężkowice, Tarnower Landkreis, 35 km von Tarnów entfernt, denunzierte den sich versteckenden jüdischen Tierarzt und übernahm seine Stellung und Praxis im Dorf.191 Manchmal wurden auch die Helfenden zu Denunzianten. In Żabno versteckte ein Mann drei Monate lang einen Juden, dann begannen im Dorf Gerüchte zu kursieren und er schickte ihn fort. Der Jude (Name unbekannt) war verzweifelt und klopfte an die Türen Anderer im Dorf, sodass mehrere Menschen ihn gesehen haben. Immer mehr Bewohnerinnen und Bewohner wussten von dem Juden, der sich im Dorf verstecken wollte, was die Situation gefährlich machte. Die Gemeinschaft musste entscheiden, was zu tun war. Welchem Druck der damalige Helfer unterworfen war, ist im Nachhinein kaum mehr nachzuvollziehen. Einige Prämissen kann man sich nur vorstellen: Würde jemand anders den Juden verraten, konnte dies auch tödlich für den Helfer enden. Schließlich lieh er sich von einem anderen Dorfbewohner ein Fahrrad aus, um zur nächsten deutschen Polizeistation zu fahren und den Juden selbst zu denunzieren. Die Deutschen kamen ins Dorf und erschossen anderen  – wenn es zu einer Berufung kam  – im Nationalarchiv Krakau, Akten des Berufungsgerichts. Letztere habe ich für Tarnów und das Umland vollständig durchgesehen. Die Akten im IPN habe ich aufgrund der schieren Anzahl nicht vollständig durchgesehen, bei der Quellendurchsicht stand die Stadt Tarnów im Fokus, nicht die Landkreise der Kreishauptmannschaft. Ich verfolgte zum Teil Schicksale der aus Tarnów geflohenen Jüdinnen und Juden.  14  Ermittlungsverfahren für die Kreishauptmannschaft, bei denen Jüdinnen und Juden aufgrund von Denunziationen seitens ethnischer Polinnen und Polen ermordet wurden, habe ich selbst gesichtet, Es handelt sich um folgende Fälle: ANKr  29/439/1402 (Ciężkowice, powiat tarnowski); ANKr  29/439/1472 (Ciężkowice, powiat Tarnowski); ANKr  29/439/1448 (Świebodzin, powiat tarnowski); ANKr  29/439/1307 (Żabno, powiat tarnowski); ANKr  29/SAKr K123/49 (Lisia Góra, powiat Tarnowski); IPN Kr  502/3863 (Wola Szczucińska, powiat dąbrowa tarnowska); ANKr 29/439/1246 (Bolesław, powiat dąbrowa tarnowska); ANKr 29/439/1312 (Bolesław, powiat dąbrowa tarnowska); ANKr  29/SAKr  965 K134/49 (Luszowice, powiat dąbrowa tarnowska); IPN Kr 502/3802 und ANKr 29/SAKr 964 K122/49 (Akten zu einem Fall in zwei verschiedenen Archiven, Otwinów, powiat dąbrowa tarnowska); IPN Kr  502/3801 (Bolesław, powiat dąbrowa tarnowska); ANKr  29/SAKr  963 K 103/49 (powiat dąbrowa tarnowska); ANKr 29/SAKr 974 K 206/49 (Stróże, powiat Brzesko); IPN Kr 502/3939. 190 Ermittlungsverfahren gegen Z. R. aufgrund des Augustdekrets, das Verfahren wurde eingestellt, ANKr 29/439/1448. 191 Ermittlungsverfahren gegen J. K. aufgrund des Augustdekrets, ANKr 29/439/1472.

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den Juden.192 Ester Polonicer versteckte sich zunächst bei Stanisław  W., der sie aber nach einiger Zeit und nachdem er ihre Sachen an sich genommen hatte, wieder wegschickte. Da sie nicht wusste wohin, versteckte sie sich ohne sein Wissen in seiner Scheune. Sie wurde denunziert und von Deutschen erschossen. Ob sie von ihrem einstigen Helfer denunziert wurde, konnte nicht nachgewiesen werden.193 Zuweilen konnten sich das Auflauern von jüdischen Verstecken und die Ermordung von Jüdinnen und Juden auch ohne aktives Zutun der deutschen Besatzungsbehörden abspielen, obschon die deutsche Terrorherrschaft und Besatzungsordnung die Rahmenbedingungen hierfür geschaffen hatte. Über die Tatbeteiligung der Blauen Polizei wurde bereits im Kapitel  8 „Polen in Uniform“ berichtet. Mitunter haben aber auch zivile Dorfbewohner selbst Hand angelegt.194 In Pleśna (12  km von Tarnów) suchte eine Jüdin (Name unbekannt) nach einem Versteck. Ein Bauer gewährte ihr Zuflucht, doch schnell bekam er es mit der Angst zu tun und schaute sich nach einem anderen Versteck für sie um. Er klopfte bei der Familie N. an. Da der Ehemann nicht anwesend war, willigte die Frau ein, die Jüdin erst einmal aufzunehmen. Doch der Ehemann wollte die Jüdin nicht verstecken. Er erschlug sie mit einem Pflock. Zwölf Mal, so berichtete der erste Bauer, der ihr zunächst Hilfe gewährt hatte und das Morden mitanhören konnte, musste Władysław N. auf sie einschlagen. Zwischendurch schrie die Frau, versprach ihm, ihren ganzen Besitz herzugeben, doch es half nichts. Später, so berichtete weiter der Zeuge, habe Frau  N.  den  Ring und das Kleid der Ermordeten getragen.195 Michał  K.  versteckte Rywka Gliksman und ihre beiden Söhne von 1943 bis 1944. Vermutlich, weil das Geld nicht mehr reichte, brachte er alle drei mit einer Axt um und versenkte ihre Leichen, beschwert mit einem Stein, im naheliegenden Fluss. Mehrere Augenzeuginnen und -zeugen hörten die Schreie der Opfer, auch der Sohn des Angeklagten sagte gegen seinen Vater im Nachkriegsprozess aus.196 Doch Tötungen von Jüdinnen und Juden waren nicht nur Einzelaktionen, zum Teil veranstalteten ethnische Polinnen und Polen auch ohne Initiative der deutschen Besatzer „obławy“ („Treibjagden“), zuweilen im Polnischen 192 ANKr 29/439/1307. 193 Ermittlungsverfahren gegen Stanisław W., IPN Kr 502/3802 sowie ANKr 29/SAKr 965/K 122/49. Kalman Adler, ein Cousin Ester Polonicas, überlebte den Krieg und klagte Stanisław W. an. Er nahm die Sachen von Polonica an sich und ließ ihre gefundenen Überreste auf dem jüdischen Friedhof begraben. 194 ANKr  29/SAKr  974 K210/49; ANKr  29/SAKr  961 K 83/49; ANKr  29/SAKr  983 K238/49; ANKr 29/SAKr 965 K 136/49; ANKr 29/SAKr 963/K98/49. 195 ANKr 29/439/1291. 196 Verfahren gegen Michał K., IPN Kr 502/3939.

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mit dem deutschen Wort „Judenjagd“ bezeichnet, in den Wäldern, in denen sie Jüdinnen und Juden vermuteten. Diese fanden überwiegend seit 1943 und bis zum Kriegsende statt. Jan Grabowski hat solche Jagden für den Landkreis Dąbrowa Tarnowska untersucht.197 Von diesen „Judenjagden“ berichteten auch der Helfer Jan Stolarz aus Biadoliny und die jüdische Überlebende Helena Aussenberg aus Tarnów. Sie floh aus der Stadt und versteckte sich in den Wäldern in unterschiedlichen Unterschlupfen. Sie berichtete von Bauern, die regelrechte „Jagden“ auf versteckte Jüdinnen und Juden in den Wäldern machten und sie ohne Zutun der Deutschen erschossen. So starb auch ihr eigenes Kind.198 Gegen einige nichtjüdische polnische Beteiligte wurde nach dem Krieg ein Verfahren angestrengt.199 Bei Dąbrowa Tarnowska hatten fünf Polen die Bevölkerung agitiert: Alle sollten bei der „obława“ mitmachen, sonst drohten sie, die Gestapo zu rufen. Diese war nicht vor Ort und konnte somit niemanden zwingen – es waren aber die fünf Polen, die mit den Deutschen drohten und zugleich zu einer gemeinschaftlichen Tat aufriefen. Diese Gemeinschaft des Mordens würde das Schweigen über das Verbrechen sichern.200 Schätzungen von Forschenden zufolge entflohen im Generalgouvernement samt dem Bezirk Białystok insgesamt ca. 200 000 bis 300 000 Jüdinnen und Juden den Ghettoliquidierungen, die im Jahre 1943 stattfanden.201 (Das waren lediglich ca.  8,6 bzw. 5,7  % aller polnischen Jüdinnen und Juden, die vor dem Zweiten Weltkrieg in der Zweiten Polnischen Republik lebten.) Schätzungen, wie viele Jüdinnen und Juden im Generalgouvernement das Kriegsende erlebt haben, gehen weit auseinander und reichen von 30 000 bis 150 000, wobei hier auch die Überlebenden in den Konzentrationslagern mitgezählt werden. Grabowski und Engelking gehen von der in der Forschung am häufigsten genannten Zahl von 40  000 bis 50  000 jüdischen Überlebenden in Verstecken im Generalgouvernement aus.202 Letztere Schätzung würde bedeuten, dass zwischen 150 000 bis 260 000 Jüdinnen und Juden, die nach den „Liquidierungen“ der Ghettos Schutz auf der „arischen“ Seite suchten, den Krieg nicht überlebten. Oder anders ausgedrückt: Die Mehrheit aller Jüdinnen und Juden, die die Ghettoliquidierungen im Jahr 1943 überlebt hatten, erlebte das Kriegsende im Generalgouvernement nicht. Was mit ihnen passierte, dem können sich Forschende nur durch kleinteilige Mikrountersuchungen annähern. Der Verbund von Wissenschaftlerinnen und 197 198 199 200 201 202

Grabowski: Judenjagd. Bericht Helena Aussenberg, AŻIH 301/3215. ANKr. 29/439/1309; ANKr. 29/SAKr 961K83/49; ANKr. 29/SAKr 983 K238/49. ANKr. 29/SAKr 964 K115/49. Engelking/Grabowski: Wstęp, S. 28. Ebd., S. 28–29.

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Wissenschaftlern um das Zentrum für Holocaustforschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften hat sich zum Ziel gesetzt, möglichst viele Überlebenswege von Jüdinnen und Juden aus einzelnen Landkreisen und Kreishauptmannschaften genau in dieser dritten Phase zwischen 1942/1943 und 1944 zu erforschen. In den von den Forschenden untersuchten neun Kreisen (davon sind sieben ganze Kreishauptmannschaften und zwei Landkreise) analysierten sie Überlebensstrategien von Jüdinnen und Juden sowie die durch die Judenvernichtung ausgelösten sozialen Prozesse in ländlichen Gemeinden fernab der Großstädte. Von der jüdischen Bevölkerung, die noch im Jahr 1942 in den untersuchten Gebieten lebte, retteten sich nach der Liquidierung der Ghettos ca. 10 % (Median der untersuchten Landkreise). Von diesen Menschen wiederum konnten sich in den neun Landkreisen insgesamt 30 % bis Kriegsende retten, während 60 % nicht überlebten.203 Über die verbliebenen 10 % kann aufgrund fehlender Informationen keine Aussage gemacht werden, da deren Schicksal unbekannt ist. Die Zahlen variieren je nach Landkreis sehr stark: Während im Landkreis Złoczów 47 % der Geflüchteten nach den „Liquidierungen“ überlebten, waren es im Landkreis Łuków nur 12 %.204 Da für mich die Stadt Tarnów und nicht die gesamte Kreishauptmannschaft im Fokus der Untersuchung stand, kann ich zur letzteren keine vergleichbaren Zahlen liefern. Dazu bedürfte es weiterer, geografisch breiter angelegter Forschung. Ignorieren kann man jedoch das Umland der Städte nicht, da viele Jüdinnen und Juden aus Tarnów nach der Ghettoliquidierung eben dorthin flohen. Es gab kein Ghetto mehr, den einzigen Ort, in dem sie bis September 1943 noch eine „Existenzberechtigung“ hatten, wie zynisch und makaber dies auch scheinen mag. Aber es war noch eine Zuflucht vor den „wachsamen Blicken“ des ethnisch-polnischen „Beobachters“, wie die Historikerin Elżbieta Janicka es nannte. Die Stadt, in der Jüdinnen und Juden Bekannte treffen konnten, war nach der Ghettoliquidierung keine sichere Bleibe, weswegen sich viele für die Flucht aufs Land entschieden. Auch waren die deutschen Besatzer in den Dörfern nicht so präsent, was aber – wie wir gesehen haben – kein Garant für das Überleben war. In den Großstädten Warschau und Lwów Jene Jüdinnen und Juden, die sich „arische“ Papiere besorgt hatten, ein „gutes“ Aussehen besaßen und akzentfrei Polnisch sprachen, suchten oft die Anonymität der Großstädte, um nicht als jüdisch von Bekannten in Tarnów enttarnt zu werden. Häufig empfanden sie ihr Leben auf der „arischen“ Seite 203 Ebd., S. 32. 204 Ebd., S. 32.

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als eine permanente und anstrengende Verstellung. Gizela Lamensdorf hatte nach ihrer Ausreise aus Tarnów ein gutes Kapital, sie sprach muttersprachlich Polnisch ohne jeglichen Akzent, war schon vor dem Krieg akkulturiert und in einer polnischen öffentlichen Schule eine gute Schülerin gewesen. Zu gut. Denn sie heuerte in Lwów als Krankenschwester an, machte jedoch beim Verfassen von Vermerken keine Rechtschreib- oder Grammatikfehler. Das war für eine typisch polnische Krankenschwester zu der Zeit ungewöhnlich – der Bildungsgrad von Gizela Lamensdorf war höher als ihrer sozialen Stellung in ihrer „polnischen“ Rolle als Krankenschwester Elżbieta Brodzianka angemessen. Daraus entstand der Verdacht, sie sei jüdisch, woraufhin sie denunziert wurde. Es gelang ihr aber, weiter nach Warschau zu fliehen.205 Vielleicht führte diese ständige „Verstellung“ auch zu einer gewissen Einsamkeit. Das würde erklären, warum einige junge erwachsene Tarnowianerinnen und Tarnowianer, die mit „arischen“ Papieren in Warschau lebten, das Bedürfnis hatten, sich zu treffen – obwohl dies sehr gefährlich war. Zygmunt Schönfeld war ein Arztsohn und vor dem Krieg auf dem I. Kazimierz-Brodziński-Gymnasium in Tarnów. Nach vielen (Um-)Wegen kam er nach Warschau, wo er als Ludwik Garmada lebte. Er unterhielt Kontakt zu seinen Freunden aus Tarnów – alles gutbürgerliche, gebildete, völlig akkulturierte junge Leute mit „arischen“ Papieren. „Ich hatte hier einen ganzen Freundeskreis“, berichtete er später.206 Diesen Freundeskreis von Ludwik Garmada, Rahel Klimek und Elżbieta Brodzianka-Gutt, die alle vor dem Krieg anders hießen, haben wir bereits im Kapitel  1.5 „Private Räume“ kennengelernt. Sie alle waren akkulturierte Jüdinnen und Juden aus gutbürgerlichen, Intelligenzja Familien und wohnten in der Wallstraße oder in ihrer Nähe und waren bereits vor dem Krieg miteinander befreundet. Als Ludwik Garmada im besetzten Warschau einmal in eine Notlage geriet, ging er zu einer Freundin aus Tarnów, Rahel (Rysia) Klimek (née Goldberg). Das war jene Frau, deren Vater vor dem Krieg Stadtrat, später Judenältester war, bis er nach Auschwitz deportiert wurde. Sie war es auch, die im Ghetto „die traurigste Hochzeit“ feierte und nun im Warschauer Stadtteil Żoliborz unter dem Namen „Klimek“ lebte und arbeitete. Erstaunlich ist, dass die jungen Leute auch ihre Wohnstätten kannten. Als Rahels Schulfreundin, die oben erwähnte Elżbieta Broda/Brodzianka nach Warschau kam, nahm auch sie mit ihr sowie mit ihrem alten Freund Zygmunt Schönfeld, der nun Ludwik Garmada hieß, Kontakt auf sowie mit anderen Tarnowianerinnen 205 Brodzianka-Gutt, Elżbieta: Interview 25736, 04.12.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 206 Garmada, Ludwik: Interview 7329, 05.12.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 10.03.2021).

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kapitel 9

und Tarnowianern wie Karol Szpalski.207 Szpalski war der Sohn des Tarnower Kerzenfabrikanten Avraham Spielman und Bruder des ehemaligen zionistischen Stadtratsabgeordneten Henryk Spielman, der ebenfalls im ersten Teil der Studie erscheint. Elżbieta Brodzianka-Gutt erzählte in einem Interview für das Visual History Archive sogar einen Witz, der unter Jüdinnen und Juden mit „arischen“ Papieren kursierte: „Ein Jude auf ‚arischen‘ Papieren wird von einem Mann verfolgt, er versucht zu entkommen, aber als er nicht mehr kann, dreht er sich um und fragt: ‚Was wollen sie denn von mir?‘. Da sagt der Verfolger: ‚Ich wollte ihnen nur sagen, dass man in der Straße so und so koscheres Essen bekommt‘.“ Die Heiterkeit war eher schwarzer Humor in dieser Situation, sie sollte nicht über die schwere Lage dieser Menschen hinwegtäuschen. Auch nicht über die tatsächliche, ständige Angst vor Denunziationen auf Warschaus Straßen, von denen die sich „an der Oberfläche“ versteckenden Tarnower Jüdinnen und Juden auch berichteten. Und doch zeigen diese Anekdoten, dass die jungen jüdischen Menschen aus Tarnów untereinander Halt suchten und in den Freundschaften aus ihrer Heimatstadt auch fanden, obwohl das Wissen über die Verstecke gefährlich war. Jüdinnen und Juden halfen einander gegenseitig, auch das muss im Prozess der Hilfeleistungen bedacht werden. Es gab jüdische Netzwerke – hier ist nur eines dargestellt, in denen jüdische Menschen, ausgestattet mit falschen Papieren, anderen halfen. Naftali Fuss erzählt beispielsweise detailliert, wie er in Lwów mehreren anderen Jüdinnen und Juden falsche Papiere besorgte.208 Die Geschichte der jüdischen Helfernetzwerke ist bislang in der Forschung kaum erzählt. 9.5

Helfen als dynamischen Prozess erzählen

Das vorliegende Kapitel trägt zwar den Titel „Jüdinnen und Juden helfen“, und dennoch war hier häufig von Denunziationen, Erpressungen, Vergewaltigungen und Mord die Rede. Doch so ähnlich, wie sich die Narrative vom Helfen und vom Denunzieren nicht auseinanderhalten lassen, ließ sich in der historischen Realität auch Hilfe nicht von der Angst vor Verrat trennen. Stellt man die Prozesshaftigkeit des Helfens in den Vordergrund der Analyse, so wird deutlich, dass die Angst vor Denunziationen und Erpressungen eine treibende Kraft war, die im Grunde diese Prozesse des Helfens gestaltete. Die Mikrogeschichte eröffnet dabei einen Einblick in ein hochkomplexes Kräftefeld, in 207 Brodzianka-Gutt, Elżbieta: Interview 25736, 04.12.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 208 Fuss: Als ein anderer leben.

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dem Jüdinnen und Juden und ihre Helfenden agierten. Dieses Kräftefeld war bestimmt durch den NS-Besatzungsterror und die auf polnischem Boden von den deutschen Tätern ausgeführte physische Vernichtung der Judenheiten. Doch die nichtjüdischen Polinnen und Polen bewegten sich in dieser sozialen Realität. Sie besaßen noch Handlungsoptionen. Die Wissenden mussten und konnten selbst entscheiden, was sie mit ihrem „Wissen“ um Versteckte anfingen – das konnte den „Eingeweihten“ enorme Macht verleihen. Es brauchte von den Nichtjüdinnen und Nichtjuden eine bewusste Entscheidung, dieses Wissen nicht gegen die Schutzsuchenden zu verwenden. Denunzianten mussten sich in den Worten eines Zeitzeugen dazu „durchringen“, Jüdinnen und Jude zu verraten – sie mussten also eine bewusste Entscheidung treffen und aktiv werden. Hinzu kam die moralische Normverschiebung durch die Radikalisierung der Vernichtung  – zusehends betrachtete die nichtjüdische polnische Bevölkerung die Jüdinnen und Juden als „Leichen auf Urlaub“, wie sich Emanuel Ringelblum ausdrückte. Die Motive für Denunziationen waren unterschiedlich. Angst spielte mit Sicherheit eine Rolle, doch sollte die Möglichkeit materieller Vorteile nicht unterschätzt werden. Laut verschiedener Aussagen konnte die oder der Denunzierende beispielsweise die Hälfte der bei einer Jüdin oder einem Juden gefundenen Habe behalten.209 Manche sollen auch zwei Kilogramm Zucker für das Aufspüren einer Jüdin oder eines Juden bekommen haben.210 Das gängige Bild der „reichen Juden“ trug zu der Vorstellung bei, die schutzlosen Jüdinnen und Juden auf der „arischen“ Seite würden viel Geld bei sich haben, um Verstecke zu bezahlen. Helfende machten also, folgt man diesen weit verbreiteten Vorstellungen, ein lukratives Geschäft, während sie zugleich ihre gesamte Umgebung in Gefahr brachten. Gewissermaßen forderten die Nachbarinnen und Nachbarn ihre „Teilhabe“ an der Bereicherung ein. Dabei war nicht nur die Missgunst gegenüber Jüdinnen und Juden, sondern auch der Neid auf den Teil der nichtjüdischen Bevölkerung, der half, erheblich. Tatjana Tönsmeyer brachte es wie folgt auf den Punkt: „Das Verstecken von Juden [wurde] zum Teil als ungerechte Vorteilsnahme bei der Redistribution von jüdischem Besitz verstanden.“211 Zudem führten die Helfenden vor Augen, dass es im Fächer der Handlungsoptionen für die polnische Bevölkerung auch die Möglichkeit gab, Jüdinnen und Juden nicht nach den Kriterien der deutschen

209 Verhör des Verdächtigen Jan Nikodem, 20.08.1945, Ermittlungen aufgrund des Augustdekrets gegen Jan Nikodem, IPN Kr 502/3151. 210 Ermittlungsverfahren gegen B. P. aufgrund des Augustdekrets, IPN Kr 502/3939. 211 Tönsmeyer: Besatzungsgesellschaften.

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Besatzer zu behandeln, sondern deren (und damit auch die eigene) Menschlichkeit zu bewahren. Jene, die denunzierten, verrieten dabei nicht nur die Jüdinnen und Juden, sondern auch diejenigen, die ihnen halfen. Sie gaben der Gestapo also nicht nur jene preis, die sie selbst außerhalb des eigenen Wir-Kollektivs verorteten. Sie wiesen damit auch allen, die Jüdinnen und Juden halfen, einen Platz außerhalb dieses „Wirs“ zu. Auch im kollektiven Gedächtnis über die Retterinnen und Retter sollte verstärkt integriert werden, dass sie bei Verrat zwar von deutscher Hand starben, ihrer Ermordung jedoch häufig eine Denunziation seitens ethnischer Polinnen und Polen vorausging. Letztere machten sich mitschuldig. Die omnipräsente Angst, von Erpressenden oder Denunzianten enttarnt zu werden, verursachte, dass Menschen, die Empathie für Jüdinnen und Juden empfanden, sich nicht trauten, aktiv Hilfe zu leisten. Es gab keine Norm der Solidargemeinschaft der einen Opfern deutscher Besatzung (den nichtjüdischen) mit den anderen (den jüdischen). Die Helfenden waren Einzelfälle, die sich selbst in extreme Gefahr brachten. Es gelang den deutschen Besatzern, die Besatzungsgesellschaften tief zu spalten, sodass die Hierarchie von Macht und Gewalt sich auch innerhalb dieser Lokalgemeinschaften fortdeklinierte. Ethnische Polinnen und Polen konnten in ihrem Alltag auf der einen Seite zwar Ohnmacht gegenüber den deutschen Besatzern verspüren, auf der anderen Seite aber auch Macht gegenüber Jüdinnen und Juden. Dieses System war durch die Besatzer auf maligne Art und Weise in die polnische Gesellschaft eingepflanzt worden und gedieh zudem auf dem bereits vor dem Krieg genährten Antisemitismus und der Exklusion von Jüdinnen und Juden aus dem „Wir“-Kollektiv. Umso außerordentlicher war der Mut der Helfenden, trotz aller Widrigkeiten zu agieren. Die Helfenden stachen aus dem von den Deutschen aufoktroyierten System in besonderer Weise hervor. Sie opponierten gegen die Ordnung der deutschen Besatzer und mussten zugleich Angst vor ihrer eigenen polnischen Umwelt haben. Einige Helfende waren aber zum Teil in dieses System verstrickt. Sie halfen und nutzten gleichzeitig die Situation zu ihrem Vorteil aus. Dass Hilfe ambivalent sein konnte oder nur für Gegenleistungen stattfand, war dem Kriegsalltag immanent und strukturierte die Beziehungen zwischen hilfesuchenden Jüdinnen und Juden und ihrer nichtjüdischen Umwelt.

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Zur Rolle nichtjüdischer Polinnen und Polen während der Shoah – ein Fazit Die Debatte über das Verhalten der nichtjüdischen Polinnen und Polen gegenüber ihren jüdischen Nachbarinnen und Nachbarn während der Shoah wird bis heute mit aller Heftigkeit geführt. Neben der kritischen Aufarbeitung durch Historikerinnen und Historiker sowie Kulturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler seit der Jedwabne-Debatte im Jahr 2000 wird die Geschichte des Zweiten Weltkrieges gedächtnispolitisch von konservativen Kreisen mit großer Wirkmächtigkeit instrumentalisiert. In den letzten Jahren intensivierte sich die Forschung, wobei zunehmend solche Begriffe wie Bystander oder auch Zeugin/Zeuge für den polnischen Kontext dekonstruiert und neue Narrative und Konzepte vorgeschlagen wurden. 10.1 Kräftefeld Die Besatzungsgesellschaften waren von der NS-Besatzungsordnung und dem von ihr und den jeweiligen Akteuren vor Ort ausgehenden Terror strukturiert und hierarchisiert. Im Lokalen begegneten sich jene Menschen, die nach unterschiedlichen Kategorien geordnet waren, die „Herrenmenschen“, die polnischen „Arbeitssklaven“ und die zur völligen physischen Vernichtung vorgesehenen Jüdinnen und Juden. Gewalt, die Erzeugung von Angst und der Vernichtungswillen der NS-Besatzer waren die Ingredienzen ihrer Herrschaft, ebenso wie das Prinzip der sozialen Manipulation der jeweiligen Gruppen unter deutscher Besatzung und das Ausspielen dieser Gruppen gegeneinander. Besatzungsgesellschaften sind nicht als homogene Entitäten zu verstehen, sondern als mehrfach und asymmetrisch gespaltene Gruppen unter großem Stress. Dies ist die Struktur, die das Leben unter deutscher Besatzung im Lokalen bestimmte. Im vorliegenden Teil der Studie habe ich mein Augenmerk auf den Alltag der Besatzungsgesellschaft an einem Ort gelenkt und unter anderem nach den Handlungsoptionen der Tarnower Bevölkerung gefragt und deren Beziehungskonstellationen vor dem Hintergrund des NSTerrors untersucht.

© Brill Schöningh, 2022 | doi:10.30965/9783657760091_012

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Aus der mikrohistorischen Perspektive wird deutlich, dass Passivität der nichtjüdischen Bevölkerung angesichts der Proximität der Gewalt und des Ausmaßes der Vernichtung nicht denkbar war. Passivität angesichts der massenweisen Ermordung des jüdischen Teils der Bevölkerung ist keine Kategorie, die die Alltagswirklichkeit der Besatzung im Generalgouvernement angemessen zu beschreiben vermag. Besonders in urbanen Räumen, in denen der Anteil der jüdischen Bevölkerung sehr hoch war, gab es keine Option, sich schadlos zu halten. Alle ethnisch polnischen Stadtbewohnerinnen und -bewohner wurden nolens volens in den sozialen Prozess involviert, der sich in den Lokalgesellschaften durch die Durchführung der Shoah „vor ihrer Haustür“ vollzog. Die Architekten der Shoah waren die deutschen Besatzer, aber die nichtjüdischen Polinnen und Polen bewegten sich in diesem von den Besatzern geschaffenen Kräftefeld und mussten sich zu der Situation verhalten. Es gab unterschiedliche Handlungsoptionen: Die Blaue Polizei, der Baudienst und in anderen Ortschaften die Freiwillige Feuerwehr nahmen aktiv an den „Aktionen“ und zum Teil an den Tötungen teil. Es gab unter den nichtjüdischen Polinnen und Polen Menschen, die Jüdinnen oder Juden töteten, in „Judenjagden“ aufspürten, denunzierten und erpressten. Es gab Menschen, die Jüdinnen und Juden aktiv halfen, auch wenn sie sich selbst in Lebensgefahr brachten. Aber es gab auch Menschen, die nicht halfen, jedoch auch nicht denunzierten, aber in eine größere Wohnung, die ehemals Jüdinnen und Juden gehört hatte, zogen. Es gab auch solche Menschen, die nicht die Habe der Ermordeten aus den verlassenen Wohnungen mitnahmen. Doch auch sie mussten  – wie ich gezeigt habe – bewusst eine Entscheidung treffen, dies nicht zu tun. Eine quantitative Schätzung, wie viele Menschen sich jeweils wie verhalten haben, erscheint auf der Quellengrundlage unmöglich, zumal sich eine einzelne Person im Kriegsverlauf unterschiedlich verhalten haben mag. Die deutschen Besatzer setzten durch die extreme Hierarchisierung der Opfer einen malignen sozialen Prozess in den Lokalgesellschaften in Gang, in dem die einen Opfer der deutschen Besatzung – die polnische nichtjüdische Bevölkerung  – von der Ermordung der anderen Opfer profitieren konnten. Wenn in Tarnów über 50 % der Stadtbewohnerinnen und -bewohner innerhalb von nicht einmal 16 Monaten (Juni 1942 bis September 1943) ermordet wurden, besteht für die andere Hälfte kein Raum für Passivität. Die Leerstellen, die die Hälfte der Stadt hinterlassen hat (räumlich, sozial, materiell), mussten zwangsläufig gefüllt werden. Bei der Umverteilung jüdischen Besitzes geriet die nichtjüdische Lokalbevölkerung in einen Wettbewerb untereinander. In der Zeit des Krieges, der Mangelwirtschaft und der Lebensmittelknappheit hierbei nicht mitzumachen – wie es einige durchaus taten –, erforderte einen bewussten Entschluss. Das Wissen um sich versteckende Jüdinnen und Juden

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in der zweiten und dritten Phase der Shoah verlieh zudem eine gewisse Macht: Die „Eingeweihten“ mussten entscheiden, wie sie mit dieser Macht umgingen. Profitierten sie von ihrem Wissen, indem sie zum Beispiel Helfende straflos bestahlen, wie im Fall der sich versteckenden Elfriede Thierberger, erpressten sie Jüdinnen und Juden, wie im Fall von Maria Michalicka, verlangten sie sexuelle Dienstleistungen, wie im Fall der Tochter von Wolf, denunzierten sie wie im Fall der Betrübnis Familie und Flora Dawid, riefen sie auf der Straße „Jude!“ oder schwiegen sie lieber, wie im Fall des Mannes, der sich später deswegen zum Retter stilisierte? Oder legten sie gar selbst Hand an? All diese Handlungsoptionen musste jede und jeder „Wissende“ für sich (wiederholt) ausmachen und entsprechend agieren. Diese inneren Dilemmata, über die jede und jeder entscheiden musste, zeigen den Grad des alltäglichen „Sichdazu (zu der Shoah)-verhalten-Müssens“ auf. Aus diesem Grund ist der Begriff des Bystanders aus mikrohistorischer Perspektive ungeeignet. Er vermag weder die Alltagswirklichkeit im besetzten Polen zu beschreiben, noch umfasst er als Kategorie unterschiedliche Handlungsoptionen und Verhaltensmodi der nichtjüdischen Bevölkerung. Der ursprünglich aus der Hilberg’schen Triade Perpetrators, Victims, Bystanders entliehene Begriff galt als eine Dachkategorie für jene Akteurinnen und Akteure, die sich weder als Täter noch als Opfer klassifizieren ließen. Hilbergs Verdienst war es, die „Dritten“ als Akteure überhaupt in die Diskussion miteinzubringen. Unter den Bystandern subsumierte Hilberg solche Akteure wie Drittstaaten oder die katholische Kirche.1 Zunächst wurde der Begriff auch für die nichtjüdische Lokalbevölkerung verwendet, doch in intensiveren Mikrostudien wurde er zunehmend infrage gestellt. So kritisierte ihn auch der Historiker Omer Bartov in seiner Studie zum ostgalizischen Buczacz.2 Für den deutschen Forschungskontext verwiesen Andrea Löw und Frank Bajohr auf die Verschiebung der Wahrnehmung der deutschen Bevölkerung als Bystander hin zum Tätervolk.3 Mittlerweile wird der Begriff für den gesamten europäischen Kontext systematisch und kritisch hinterfragt.4 In der deutschen Übersetzung von Hilbergs Werk wird die hier diskutierte Kategorie als „Zuschauer“ übersetzt. Diese deutsche Übertragung verdeutlicht umso mehr, wie unpassend der Begriff ist. Nimmt man die Theatermetapher ernst, so wird hier die Shoah als ein Ereignis konzipiert, das sich 1 2 3 4

Hilberg: Perpetrators, Victims, Bystanders. Bartov: Wartime lies, S. 486–511. Bajohr/Löw: Beyond the „Bystander“, S. 3–4; vgl. auch: Wierzcholska: Beyond the Bystander. Für eine breitere methodologische Diskussion siehe Morina/Thijs (Hg.): Probing the Limits of Categorization.

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auf der Bühne zwischen Tätern und (jüdischen) Opfern abspielte. Die restliche Lokalbevölkerung stand quasi außerhalb des Geschehens, obschon sie darauf blicken musste, aber nicht eingreifen konnte. Aus meiner mikrohistorischen Forschung ergibt sich ein völlig anderes Bild: Die Bühne war der Ort, im vorliegenden Fall Tarnów, und die nichtjüdische Lokalbevölkerung war ebenso auf dieser Bühne gegenwärtig. Sie war durch die deutschen Täter leid- und gewalterfahren und stand zwangsläufig in „Beziehung“ zu den jüdischen Nachbarinnen und Nachbarn. Die nichtjüdische Lokalbevölkerung musste nolens volens auf dieser Bühne und nicht in einem imaginierten „Außerhalb“ agieren. Zusätzlich war sie selbst, wie Mary Fulbrook betont, einer über Jahre stattfindenden systematischen Gewalt ausgesetzt.5 Es gab gewißermaßen kein „Außerhalb“ des Kräftefeldes. Wie sich die Menschen im Einzelnen verhalten haben, muss daher differenziert betrachtet werden. Um die Handlungsmodi und -optionen angemessen zu beschreiben, müssen weitere Faktoren berücksichtigt werden, denen ich mich im Folgenden widmen möchte. Die Figur eines Kräftefeldes erlaubt es, die unterschiedlichen Akteurinnen und Akteure, samt der vorhandenen Spannungen, Asymmetrien und des Machtgefälles zu verorten. Das Feld war nicht statisch, sondern dynamisch und die Konstellationen unter den hier Agierenden veränderten sich ständig.6 Dieses Kräftefeld wurde maßgeblich von der Gewalt strukturiert, die die deutschen Besatzer in die Lokalbevölkerung hineingetragen hatten. Tatjana Tönsmeyer erinnerte daran: „Angehörige von Besatzungsgesellschaften sind daher in ihren Handlungen und Verhaltensformen vielfach direkt oder indirekt ‚occupier-driven‘. […] dabei [ist] als  driving force  ganz wesentlich an die von den Besatzern ausgeübte Gewalt zu denken.“7 Es ist daher nicht zu unterschätzen, wie sich die Unmittelbarkeit und Nähe der Gewalt auf die nichtjüdische Bevölkerung auswirkte. Die kumulative Radikalisierung der Shoah  – ein Begriff aus der Täterforschung  – hatte für die besetzten Lokalbevölkerungen und die Handlungsoptionen der nichtjüdischen Polinnen und Polen existenzielle Auswirkungen. Die Massenmorde an der jüdischen Bevölkerung führten zu einer extremen Normverschiebung in den Besatzungsgesellschaften. Um es noch einmal mit Andrzej Leder zu sagen: Die Shoah verschob die Grenze der menschlich-moralischen Ordnung  – dessen, was ein Mensch dem anderen antun kann.8 In Tarnów zeigte sich besonders drastisch 5 Fulbrook: Bystander, S. 112–114. 6 Für eine Definition des Kräftefeldes nach Alf Lüdtke siehe Kapitel  4.1 „Methodologische Überlegungen: Besatzungsgesellschaften und Mikrogeschichte“. 7 Tönsmeyer: Besatzungsgesellschaften. 8 Leder: Konsekwencje doświadczenia Zagłady, S. 499.

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während der ersten „Aktion“, als Blut in Rinnsalen die Straßen hinablief, mit welcher Brutalität die deutschen Besatzer Jüdinnen und Juden mordeten. Das Menschenleben von Jüdinnen und Juden verlor zunehmend vor den Augen aller an Wert. „Der Holocaust hinterließ bei einem gewissen Anteil der Polen den Eindruck, man dürfe Juden ungestraft umbringen“, äußerte sich 2002 der Historiker Feliks Tych, damals Leiter des Jüdischen Historischen Instituts, und zitierte aus der 1943 verfassten Schrift von Maria Kann „Vor den Augen der Welt“: „In den Gemütern der Kinder beginnt die Vorstellung zu keimen, dass es verschiedene Arten von Völkern gibt: die ‚Herren‘, die ‚Knechte‘ und schließlich die ‚Hunde‘, die man ungestraft töten kann.“9 Dieses Muster und seine tödlichen Konsequenzen waren mit der fortschreitenden Radikalisierung der Shoah auch in Tarnów und Umgebung sichtbar – so beispielsweise, als 1944 die Blaue Polizei einen Juden in einer Wohnung am Rynek erschoss, alle Nachbarinnen und Nachbarn zusammenliefen, ein Kutscher die Leiche die Treppen hinunterzerrte und die Hauswärterin diese vom Blut reinigte.10 Dieser Mord war ein semi-öffentliches Schauspiel ohne Beteiligung der Deutschen. Im Jahr 1944 wurden in den Dörfern um Tarnów nachweislich Jüdinnen und Juden erschlagen, ertränkt oder an die deutsche Polizei denunziert; es fanden regelrechte „Judenjagden“ statt.11 In dem vom Zentrum für Holocaust-Studien herausgegebenen Sammelband Dalej jest noc sind die Überlebensstrategien von Jüdinnen und Juden in neun Landkreisen bzw. Kreishauptmannschaften aus mikrohistorischer Perspektive in der dritten Phase der Shoah nachgezeichnet.12 Auch in diesen Forschungen wird deutlich, wie weitverbreitet die Annahme war, dass Jüdinnen und Juden ungestraft getötet werden können. Hans-Jürgen Bömelburg und Bogdan Musiał werteten den Einfluss der ausgeübten Gewalt der deutschen Besatzer auf die Lokalbevölkerungen, gepaart mit der sozialen Manipulation derselben, wie folgt: Die deutsche Besatzung „bedeutete nicht nur einen normativen Bruch, einen Bruch der moralischen Konventionen, sondern eine gezielte Förderung niedriger Instinkte und negativer Werte. Solidarität mit den Verfolgten war verboten und wurde bestraft, Denunziantentum, Verrat und 9

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Maria Kann war Mitglied des Rats für Judenhilfe „Żegota“, ihre Schrift „Na oczach świata“ („Vor den Augen der Welt“) erschien nach dem Warschauer Ghettoaufstand 1943, zit. nach Tych: Polen und Juden; von ebd. entstammt auch das Zitat von Feliks Tych; über den antisemitischen Gehalt der Schrift von Maria Kann siehe Janicka: Świadkowie własnej sprawy. Ermittlungsverfahren auf Grundlage des Augustdekrets gegen L. K., IPN Kr 502/2342; vgl. Kapitel 9.4.1 „In der Stadt“. Vgl. Kapitel 9.4.2 „Tarnower Jüdinnen und Juden außerhalb Tarnóws“. Engelking/Grabowski: Dalej jest noc.

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Servilität zur Pflicht erhoben und belohnt.“13 Die deutsche Besatzung und die NS-Vernichtungspolitik und -praxis verwüsteten die soziale Beschaffenheit der Lokalgesellschaften, führten zu moralischen Normverschiebungen und entwerteten Jüdinnen und Juden in den Augen ihrer nichtjüdischen Nachbarinnen und Nachbarn. Zugleich verwies Tatjana Tönsmeyer darauf, dass alte Spannungen, Gegensätze und Konflikte fortwirkten.14 Die deutschen Besatzer stellten Jüdinnen und Juden in ein „Außerhalb“  – zuerst durch die Stigmatisierung mit Armbinden und die Markierung der Geschäfte mit Davidsternen, danach topografisch, räumlich, zunächst mit dem Verbot, den Strzelecki-Park und andere Straßenzüge zu betreten, und letztlich durch die Verbannung ins Ghetto im ärmsten und desolatesten Stadtteil. Danach – mit Beginn der „Aussiedlungen“  – stellten die deutschen Besatzer die Jüdinnen und Juden endgültig außerhalb der moralischen und menschlichen Ordnung. Doch bereits vor dem Zweiten Weltkrieg war das Exkludieren von Jüdinnen und Juden Teil des politischen und öffentlichen Diskurses und zunehmend eine alltägliche Praxis. Forderungen nach der „Entjudung“ der Märkte und des Handels waren in der Öffentlichkeit präsent, die Exklusion von Jüdinnen und Juden aus Berufen wurde forciert. Jüdinnen und Juden wurden zunehmend als „Fremde“ wahrgenommen, die sich in einen Raum hinein „ausbreiteten“, der eigentlich den polnischen „Hausherren“ vorbehalten sei. Dass zu viele Jüdinnen und Juden den ärmsten Stadtteil, „ihr“ Grabówka, verlassen würden und sich im Strzelecki-Park breitmachten, war schon 1926 kritisch beäugt worden.15 Damals blieb der Wunsch, nicht so viele Jüdinnen und Juden mögen sich „ausbreiten“, noch im Bereich des nationalistischen Imaginariums. Es blieb jedoch nicht bei bloßen Vorstellungen und Diskursen: Durch Pogrome und gewalttätige Ausschreitungen während der Boykotte hatten Jüdinnen und Juden auch real Gewalt erfahren müssen und zunehmend wurde die Exklusion jüdischer Menschen zur politischen Praxis der späten Zweiten Republik nach Piłsudskis Tod. Am Fall Silbiger wurde dargestellt, wie 1936 nichtjüdische Polen ihr vermeintliches Recht als „Hausherren“  – ein Begriff, der damals häufig genutzt wurde, um Machtverhältnisse diskursiv herzustellen  – auf lokalpolitischer Bühne gegen Jüdinnen und Juden durchzusetzten. Das Verdrängen von Jüdinnen und Juden in ein „Außerhalb“ war ein zunehmender Teil einer antisemitischen Kultur, die im Polen der Vorkriegszeit vorherrschte. 13 14 15

Bömelburg/Musiał: Die deutsche Besatzungspolitik, S. 105. Tönsmeyer: Besatzungsgesellschaften. Wszistko dla nas (sic!). In: Nasz Głos, 15.08.1926, S.  4; siehe auch Kapitel  1 „Tarnów vermessen – eine Einführung in den Stadtraum“.

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Allerdings gab es einen qualitativen Unterschied zwischen den radikalsten antisemitischen und nationalistischen Vorstellungen und der in die Praxis umgesetzten Vernichtungspolitik der deutschen Besatzer. Auf den Unterschied zwischen einem eliminatorischen und einem exterminatorischen Antisemitismus machte die bereits oben zitierte Maria Kann in ihrer 1943 erschienenen Broschüre „Vor den Augen der Welt“ aufmerksam. Sie schrieb: Unsere Schwierigkeiten mit der jüdischen Frage haben mit dem Massenmord nichts zu tun. Das versteht die ganze polnische Gesellschaft. Wir brauchen keine fremde Hilfe, und schon gar nicht die der Deutschen, um unsere eigenen, inneren Angelegenheiten zu regeln. Wir werden sie schon selbst lösen, in Einklang mit Gerechtigkeit, dem Gesetz und unseren nationalen Interessen. Für den Mord haben wir nur Verachtung übrig.16

Eine ähnliche Denkfigur findet sich in dem Aufruf von Zofia Kossak-Szczucka, die wie Kann Mitglied des Rats für Judenhilfe war. Bereits im August  1942 schrieb sie den Aufruf „Protest!“, in dem sie den Massenmord an den Jüdinnen und Juden verdammte und jedwedes Schweigen als Komplizenschaft verurteilte. In derselben Broschüre schrieb sie jedoch auch: „Unsere Gefühle für die Juden haben sich nicht verändert. Wir hören nicht auf, sie als politische, wirtschaftliche und ideologische Feinde Polens zu betrachten.“17 Auch wenn die Methoden der NS-Besatzer verurteilt wurden, auch wenn zur Judenrettung aufgerufen wurde, waren der Antisemitismus und die Vorstellung, es würde Polen ohne Jüdinnen und Juden besser gehen, nicht diskreditiert, nicht einmal bei den hier zitierten intellektuellen Eliten. So blieb bei einem Teil der Bevölkerung die antisemitische Vorstellungswelt auch während der Besatzungszeit bestehen. Die antisemitischen Vorstellungen wurden während der Besatzung bei einigen gar verstärkt, denn nun waren sie gepaart mit der Normverschiebung durch die Morde der Deutschen an Jüdinnen und Juden, gepaart mit der sozialen Manipulation durch die Besatzer, das heißt, dass die nichtjüdischen Polinnen und Polen die Möglichkeit hatten, von dem Mord an den Jüdinnen und Juden zu profitieren. Die deutschen Besatzer schufen Anreize: Es gab Belohnungen für Denunziationen und ethnische Polinnen und Polen konnten Besitz, Schmuck und Geld der Jüdinnen und Juden einbehalten. In extremen Fällen legten sie dafür auch selbst Hand an.

16 17

Zit. nach: Janicka: Świadkowie własnej sprawy, S. 14. Zur Kritik an der Unterscheidung von eliminatorischem und exterminatorischem Antisemitismus siehe ebd., S. 14. Kossak-Szczucka, Zofia: Protest! [1942], abgedruckt in: Kunert (Hg.): Polacy – Żydzi, S. 214.

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Doch es gibt in der vorliegenden Arbeit auch Beispiele, in denen ethnische Polinnen und Polen sich versteckende Jüdinnen und Juden zwar entdeckten, aber nicht verrieten. Cesia Honig schilderte zwei solcher Begebenheiten während ihrer Zeit bei den Mikowskis. Elfriede Thierberger wollte sich schon von ihren Helfenden trennen, weil die Nachbarin sie aufgespürt hatte, diese verriet sie schließlich doch nicht. Die Unger-Familie berichtete ebenso von solchen Fällen. Jan Nikodem beteuerte, er hätte sich nie zu einer Denunziation „durchringen“ können. Die Banek-Familie wurde zunächst von einem Nachbarn denunziert, dann aber von einem anderen Nachbarn gewarnt, sodass letztlich eine Durchsuchung durch die Deutschen erfolglos blieb.18 Wie viele Menschen mag es gegeben haben, die weder halfen noch denunzierten, die sich dazu entschlossen, zu schweigen und/oder wegzuschauen? Schutzsuchende Jüdinnen und Juden mussten im Prozess des Überlebens auf solche Menschen zwangsläufig getroffen sein, gänzlich verheimlichen ließ sich ihr Verstecken vermutlich nicht. Wie aus Überlebendenberichten ersichtlich wird, war das größte Problem nicht, dass nicht genügend Menschen aktiv halfen, sondern dass es zu viele gab, die die Überlebenswege erschwerten und versperrten. Das Beispiel aus dem Umland von Tarnów zeigt die soziale Dynamik solch einer Situation sehr gut auf: Als ein Mann dem Gemeindevorsteher meldete, dass jemand im Dorf Juden versteckte, entschloss sich dieser bewusst dazu, die erhaltene Information nicht an die deutschen Besatzer weiterzugeben.19 Er zeigte besonderen Mut, weil es einen Zeugen seines Mitwissens gab, der zum Verrat bereit war. Der Gemeindevorsteher war nicht aktiv an der Hilfe beteiligt, verriet aber auch nichts. Doch schließlich ging der Mann, der den Juden und seine Helfenden gemeldet hatte, selbst zur deutschen Polizei. Er brachte damit auch den Gemeindevorsteher und alle anderen Mitwissenden in Gefahr. Die Geschichte zeigt zweierlei: Auch wenn sich einzelne Menschen dazu entschlossen, nicht zu verraten, mussten sie mit dem überwachenden Blick der anderen rechnen. Dabei genügte ein einziges Mitglied der Gemeinschaft (im Dorf, im Mietshaus, auf der Arbeitsstelle), das bereit war zu verraten, um alle anderen in Gefahr zu bringen. Alle wussten darum. Dies kann auch die Dynamik in Żabno erklären, wo  – als immer mehr Menschen von dem schutzsuchenden Juden erfuhren  – die Gefahr exponentiell anwuchs, dass einer von ihnen den Juden verraten würde, womit alle, die Bescheid wussten, ebenso in Gefahr waren. Schließlich sah sich der einstige Helfer dazu

18 19

Vgl. zu den hier genannten Fällen Kapitel 9 „Den Jüdinnen und Juden helfen“. Ermittlungsverfahren gegen B.  Z. aufgrund des Augustdekrets, IPN Kr  502/3880; vgl. Kapitel 9.4.2 „Tarnower Jüdinnen und Juden außerhalb Tarnóws“.

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gezwungen, den Juden zu denunzieren.20 Es reichte also oft nur eine einzige Person, die bereit war zu verraten, um die Überlebensstrategien von Jüdinnen und Juden zunichte zu machen. Aber war es tatsächlich diese „eine“ Person, die die omnipräsente Angst der Schutzsuchenden und Helfenden hinreichend erklären würde? Menschen nehmen als soziale Wesen ständig das öffentliche Meinungsklima wahr.21 Sie schätzen fast immer ab, ob das, was sie glauben, auch in den Augen anderer akzeptabel ist. Sie sind eher dazu bereit, ihre Meinung zu äußern, wenn sie sich auf der Seite der Mehrheit wähnen. Aus Furcht vor sozialer Isolation schweigen dagegen eher diejenigen Menschen, die sich mit ihrer Position auf der Seite der Minderheit glauben. In der Besatzungsgesellschaft unter dem NS-Terrorregime fürchteten Menschen nicht nur soziale Isolation, sondern auch für ihre Taten mit dem eigenen Leben zu bezahlen. All die anderen Faktoren, die ich oben dargestellt habe, müssen ebenfalls mitbedacht werden (Normverschiebung, Radikalisierung, bewusste soziale Manipulation der Lokalbevölkerung durch die deutschen Besatzer, antisemitische Kultur, Unmöglichkeit der Passivität). Dennoch geht aus den Berichten der jüdischen Opfer und der Helfenden, aus ihren Beschreibungen von ständiger Angst vor Verrat hervor, dass die Denunzierenden und Erpressenden sich in einem sozialen Klima wähnten, das ihr Verhalten unter ihren Nachbarinnen und Nachbarn akzeptabel machte. Es waren eher die Helfenden, die einschätzten, ihr Verhalten würde nicht von der sie umgebenden Gesellschaft akzeptiert. Dieses Gefühl bestand auch nach dem Krieg weiter. Ein ehemaliges Kindermädchen aus Tarnów war erst posthum als Gerechte unter den Völkern geehrt worden, weil sie fürchtete, was ihre Nachbarinnen und Nachbarn sagen oder tun würden, wenn sie – nach dem Krieg – erführen, dass sie eine Jüdin gerettet habe.22 Auch Mikowski, dessen Geschichte weiter oben dargestellt wurde, gab nach dem Krieg nicht öffentlich

20 21

22

Ermittlungsverfahren aufgrund des Augustdekrets, ANKr 29/439/1307; vgl. Kapitel 9.4.2 „Tarnower Jüdinnen und Juden außerhalb Tarnóws“. Zur Wahrnehmung des Meinungsklimas, siehe zum Beispiel, auch wenn in einem anderen Kontext, Noelle-Neumann: Die Schweigespirale. 1980 legte Elisabeth NoelleNeumann ihre Untersuchung zur Wahrnehmung des Meinungsklimas und der Schweigespirale vor. Ihre Forschung diente hauptsächlich der Erklärung des last-minute-swings bei politischen Wahlen. Obschon ihre Theorie einem anderen Kontext entstammt, erscheint mir, dass einige ihrer Prämissen auch im vorliegenden Fall hilfreich sein können, um die lokalen Dynamiken unter der nichtjüdischen Lokalbevölkerung zu verstehen. YVA, Dep. Righteous Among Nations, M.31/11786, vgl. Kapitel: 9.3.1 „Jüdische Kinder und Jugendliche auf der ‚arischen‘ Seite und ihre Helfenden“.

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zu, dass die von ihm versteckte Cesia eine Jüdin war.23 Elfriede Thierberger hielt sich auch nach Kriegsende bei der polnischen Familie Kwoczyński, die ihr während der Besatzung geholfen hatte, weiterhin versteckt. Dann verließ sie nachts unbemerkt mit einem Koffer das Haus. Sie kam am nächsten Tag um die Mittagszeit wieder, um ein lautes Wiedersehen mit den Kwoczyńskis zu inszenieren. Möglichst alle Nachbarinnen und Nachbarn sollten sehen, dass die überlebende Jüdin erst NACH dem Krieg zu den Kwoczyńskis kam, um die Wahrheit zu verschleiern, dass diese Helfende waren.24 Andererseits redete Marian H. im Familienkreis offen über seine Hilfe für Jüdinnen und Juden.25 Er machte seine Taten öffentlich bekannt  – 1968 schrieb er den zu Beginn dieses Teils der Arbeit zitierten Brief an Mieczysław Moczar. 1971 wurde seine Geschichte in einem Sammelband veröffentlicht.26 Beides tat er in einem spezifischen politischen Kontext – seine Geschichte sollte pars pro toto „die Polen“ von den Vorwürfen des Antisemitismus reinwaschen. Das bedeutet nicht, dass die Mehrheit der ethnischen Polinnen und Polen denunzierte, sondern dass jene, die es taten, dies als gesellschaftlich „akzeptabel“ einschätzten, was ihnen eine gewisse Legitimation gab, entsprechend zu handeln. Es entwickelte sich eine Art sozial wahrgenommene „przyzwolenie“ (allgemeine Akzeptanz/Duldung/Zustimmung), die mit der Radikalisierung der NS-Vernichtungspraxis zunahm, sodass man auf der Straße mit einem Finger auf einen Menschen zeigen und ausrufen konnte: „Ein Jude!“ Die neue soziale Norm war auch ein Effekt der Normverschiebung und Brutalisierung der deutschen Besatzung, die die jüdische Bevölkerung außerhalb der moralischen und menschlichen Ordnung stellte. Zudem war sie ein Effekt des Versprechens von Profit und war gepaart mit Versatzstücken aus tradierten Lagen antisemitischer Vorstellungen noch aus Vorkriegszeiten. Dies erklärt auch, warum der Mann aus Tarnów, der zur Besatzungszeit einen Juden erkannt und nicht denunzierte hatte, dies später als Heldentat anpries.27 Er hatte das Gefühl, als würde er mit seinem Schweigen einer gesellschaftlich 23 24 25 26 27

Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff:  09.03.2021); Vgl. Kapitel  9.2. „Tarnóws Mietshäuser auf der ‚arischen‘ Seite als Interaktionsräume“. YVA, Dep. Righteous Among Nations,  M.31/1179, zu dem Fall siehe auch Kapitel  9.2. „Tarnóws Mietshäuser auf der ‚arischen‘ Seite als Interaktionsräume“. H., Marek: Interview, 04.04.2012, Tarnów, Polen, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska, Vgl. auch Kapitel 4 „Das Fallbeispiel Marian H. und Władysław Ł. oder: Hinführung zum Thema“. Franciszek Kwistek oświadcza, S. 304–305. Vgl. Kapitel 7.3.2 „Über den Zaun – auf der ‚arischen‘ Seite“.

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akzeptierten Norm zuwidergehandelt haben. Heinrich Schönker beschrieb pointiert diese neue soziale Norm: Es wimmelte von Denunzianten und Erpressern […]. Selbst Menschen, die bereit gewesen wären zu helfen, hielten sich zurück, weil sie befürchteten, von ihren Nachbarn, Bekannten, Freunden und sogar von der eigenen Familie denunziert zu werden. Die Juden gewannen den Eindruck, die Mehrheit des polnischen Volkes sei ihnen gegenüber feindselig oder zumindest gleichgültig eingestellt.28

Die wahrgenommene Mehrheit und die schweigenden Helfenden (und jene, die nicht bereit waren zu verraten) erscheinen in diesem Zitat in aller Deutlichkeit. Ja, es reichte nur ein Einzelner, um den Überlebensweg eines jüdischen Schutzsuchenden zu durchkreuzen. Aber die Helfenden und die jüdischen Opfer hatten nicht wegen eines einzelnen „Außenseiters“ Angst, sondern weil sie wussten, dass der Denunzierende sein Verhalten als gesellschaftlich akzeptabel wahrnahm und daher eher bereit war, dieses Verhalten öffentlich an den Tag zu legen. Diese soziale Norm und „przyzwolenie“ erklärt, warum Jüdinnen und Juden sich „umzingelt“ fühlten, wie „gehetzte Tiere“, wie es Leon Lesser beschrieb.29 Sie konnten nicht darauf zählen, dass es eine soziale Norm des „Nicht-Verratens“ gab, dass sie Teil einer „Solidargemeinschaft“ gegen den deutschen Feind sein könnten. Nein, sie gehörten weitestgehend nicht dazu. Die ethnisch polnischen Kinder, die Emil Seidenweg „Du Jude!“ hinterherriefen, und jene, die Józef Mansdorf verraten wollten, sind Gradmesser dafür. Denn das scheinbar selbstverständliche kindliche Verhalten ist ein Zeichen dafür, wie sehr es als von der Gesellschaft sanktioniert verstanden wurde. Letztlich aber überlebten beide, Mansdorf und Seidenweg, weil es genügend Menschen gab, die sie nicht verrieten oder „einfach nur“ wegschickten, wenn sie bemerkten, dass die Jungen jüdisch waren.30 Auch wenn nicht die Mehrheit der ethnischen Polinnen und Polen denunzierte, so waren jene, die es taten, zum einen von den Besatzern dazu ermächtigt und zum anderen wurden sie deswegen nicht von ihrem Umfeld isoliert. Die hier vorgestellten Geschichten und Zitate zeigen, dass es keine breite gesellschaftliche Norm der Solidarität mit den jüdischen Opfern gegeben hat.

28 29 30

Schönker: Ich war acht, S. 132. Bericht Leon Lesser, AŻIH 301/4598. Bericht Emil Seidenweg, AŻIH 301/4031; Bericht Józef Mansdorf, AŻIH 301/570; vgl. auch Kapitel 7.3.2 „Über den Zaun – auf der ‚arischen‘ Seite“.

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Zofia Nałkowska beschreibt in ihrem Buch „Medaliony“ in der Geschichte „An den Bahngleisen“ eine erschütternde Begebenheit.31 Nałkowska Erzählung ist zwar dokumentarische Fiktion, stellt aber punktgenau jene sozialen Dynamiken dar, die sich auch in den zahlreichen Beispielen aus Tarnów finden lassen. Eine aus einem Transport ins Vernichtungslager fliehende Jüdin wird auf der Flucht aus einem Transport von Deutschen angeschossen. Die Kugel trifft sie ins Knie. Sie kann nicht weg und quält sich. Etwas weiter liegt die Leiche ihres Mannes, der von den Kugeln tödlich verwundet wurde. Die lokalen Bewohnerinnen und Bewohner stehen um sie herum und wissen nicht weiter. Einer bringt ihr Zigaretten und Wodka. Eine andere Milch und ein Stück Brot. Niemand schlägt vor, dass man sie in ein Haus bringt und dort versteckt, zumindest bis sie halbwegs genesen ist. Oder dass man sie zu einem Arzt bringen sollte. In diesem Beispiel geht es nicht darum, dass die Menschen die Jüdin letztlich nicht bei sich zu Hause versteckt haben – das konnte sie und die anderen Mitwissenden in Lebensgefahr bringen. Aber sie haben es in ihrer Semi-Öffentlichkeit, in der keine Deutschen anwesend waren, auch nicht miteinander verhandelt. Nałkowska beschreibt das Verhalten der Gruppe, die sich um die verletzte Jüdin versammelt, vielmehr als ein ratloses Umherstehen, als ein Nichtwissen, was zu tun sei. Keiner traut sich, in der Gruppe die Möglichkeit der Rettung auch nur anzusprechen. Nur eine Frau erfasst die Gruppensituation: Man könne die Jüdin nirgendwo hinbringen, da alles „vor den Augen anderer“ passiere.32 Die „Anderen“ – das war die nichtjüdische polnische Lokalbevölkerung. Deutsche waren in dieser Szene nicht präsent. In dieser Aussage wird deutlich, dass das von allen Beteiligten wahrgenommene soziale Klima darauf ausgelegt war, der Jüdin nicht zu helfen. Es würde die Norm, die alle stillschweigend wahrnahmen, brechen. Um es zu wiederholen: Es gab keine Solidargemeinschaft mit den Jüdinnen und Juden gegen den „gemeinsamen“ deutschen Feind. Schließlich bekam die verletzte Jüdin aus Nałkowskas Erzählung einen „Gnadenschuss“ von einem der Versammelten aus der Lokalbevölkerung. Damit sich das gesellschaftliche Klima wandeln konnte, brauchte es Meinungsführer und Autoritäten. Im besetzten Polen gab es jedoch wenige Stimmen, die aktiv zur Solidarität und Empathie mit den verfolgten Jüdinnen und Juden aufriefen. Die katholische Kirche sorgte sich zwar um die Demoralisierung der ethnisch polnischen Jugend durch den Mord an Jüdinnen und Juden, wie im Brief des Kardinal Sapiehas verdeutlicht, aber es gab keinen

31 32

Nałkowska: Medaliony, S. 43–49. „na ludzkich oczach“, Nałkowska: Medaliony, S. 48.

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eindeutigen Appell seitens der obersten im Land verbliebenen Autoritäten.33 In Tarnów halfen zwar einzelne Vertreter der Kirche und Ordensschwestern, aber es gibt keine Überlieferung, dass lokale Priester ihre Gemeinden dazu aufgerufen hätten, zu helfen, oder zumindest gepredigt hätten, dass man nicht verraten oder denunzieren dürfe. Die katholische Kirche beförderte den Antisemitismus bereits vor dem Krieg – das Sprachrohr der Diözese Tarnóws, die Zeitung Nasza Sprawa, war dabei einer der wichtigsten Träger des Antisemitismus im Vorkriegstarnów. Der Priester Jan Bochenek taufte zwar Jüdinnen und Juden während der Besatzung und war erleichtert, als der Stempel aus der Pfarrei verschwand, aber im Jahre 1939 gehörte er der PZCh an, die Jüdinnen und Juden ausschloss und sich für ein „polnisches Antlitz“ Tarnóws einsetzte.34 Die weiter oben erwähnten Maria Kann und Zofia Kossak-Szczucka aus Warschau engagierten sich in der Hilfe für Jüdinnen und Juden und setzten ihr eigenes Leben aufs Spiel, bestätigten aber zugleich, dass „die Juden“ schädlich für Polen seien. Für Tarnów bleibt dennoch die Frage offen, was mit dem Erbe der PPS und des Bund während der Besatzungszeit geschah. Auch für viele andere Städte, in denen die PPS und der Bund kurz vor Kriegsausbruch an Wählerstimmen dazugewannen, kann diese Frage gestellt werden. Für Tarnów aber gilt sie umso mehr, da hier die Kooperation zwischen Bund und PPS sehr eng gewesen ist. War der Diskurs der Stadtratswahlen von 1939 durch die Politisierung von Ethnizität geprägt und hatten die nichtjüdischen Wahlgruppierungen mit Slogans der „Selbstverteidigung“ gegen „die Juden“ Wahlkampf betrieben, so setzte sich dennoch bei den Wählerinnen und Wählern 1939 die PPS mit dem Bund durch. Die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler in Tarnów hatte sich für ein anderes Antlitz der Stadt entschieden als jenes „polnische“, welches die PZCh und die Endecja propagierten. Wo blieb das Potenzial dieser PPS/ Bund-Wählerschaft in den Kriegsjahren? Mit anderen Worten: Warum gab es kein anderes, breites soziales Klima der Solidarität mit den Jüdinnen und Juden, wenn noch im Jahre 1939 eine polnisch-jüdische sozialdemokratische Lokalregierung mehrheitsfähig war? Auf diese Frage konnte ich letztlich keine Antwort finden. Es bleiben nur Spekulationen: Zum einen wurde in den ersten Kriegsjahren, vor allem 1940, die Führung der PPS zerschlagen, ihre Mitglieder wurden verhaftet und ins KZ Auschwitz deportiert (Kasper Ciołkosz, Maciej Bandura), viele andere flohen aus der Stadt (Eugeniusz Sit, Adam und Lidia Ciołkosz). Die „Enthauptung der Stadt“, der Verlust von Autoritäten und 33 34

Modras: The Catholic Church; zu Sapieha siehe Kapitel  8.2.5 „‚Unsere‘ Jungen und der Mord an den Jüdinnen und Juden – soziale Dynamik in den Besatzungsgesellschaften“. Vgl. Kapitel 9.1.2 „‚Arische‘ Papiere“.

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Führungspersönlichkeiten in den ersten Kriegsjahren blieb sicherlich nicht folgenlos.35 Zum anderen war vielleicht bereits vor dem Krieg, im Wahlkampf 1939, das wahrgenommene Meinungsklima anders als das reale. Somit war es auch für viele eine große Überraschung, dass die PPS und der Bund die Wahlen 1939 gewannen.36 Die lokale Öffentlichkeit in Tarnów – von der katholischen Nasza Sprawa, über das Sanacja-nahe Hasło bis zum Głos Ziemi Tarnowskiej – ließ den Eindruck entstehen, als wären die Mehrheiten anders gelagert, und verschleierte so die realen Wahlpräferenzen. Während die Regierung auf Landesebene einen immer stärker autoritären und nationalistischen Kurs einschlug, hatte sich in der urbanen Lokalgesellschaft eine andere Machtkonstellation eingestellt, die sich aber erst durch die Wahlen selbst zeigte, nicht aber im vorherrschenden Meinungsklima präsent war. So könnte man auch erklären, dass sich die einstigen PPS-Wählerinnen und -Wähler während der Besatzungszeit nicht als dominierende Gruppe empfanden, besonders da ihre Meinungsführer frühzeitig verhaftet wurden. Allerdings gab es, wie beschrieben, Hinweise auf die Zusammenarbeit zwischen PPS und Bund während der Ghettozeit, viel mehr ist aber über die Resilienz dieser Kontakte nicht bekannt. Vielleicht sind die Kontakte über die Czacki-Schule, die auch die Kinder von Marian H. besuchten, und die Nachbarschaft in Grabówka (siehe hierzu das Kapitel 9.3.2 „Netzwerke aus der Schule“) ein Hinweis darauf, dass in den Arbeitervierteln, in denen PPS und Bund ansässig waren und ihre Wählerschaft hatten, die wahrgenommene kulturelle Differenz zwischen jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerung kleiner war. Es gab also vielleicht gewisse Milieus oder Teilöffentlichkeiten, in denen ein soziales Klima vorherrschend war, in welchem Empathie für Jüdinnen und Juden eher zum Tragen kam.37 Eindeutig belegen lässt sich dies anhand der Quellenlage allerdings nicht. 10.2

Der Abschied vom Bystander – über die Diskussion neuer Kategorien

Kann eine „neue“ Kategorie geschaffen werden, in der diese unterschiedlichen Handlungsmodi und Faktoren der Besatzungsgesellschaft adäquat zusammengebunden werden können? Seit einigen Jahren wird diese Frage 35 36 37

Vgl. dazu Kapitel 5.3 „Die alten Eliten und die Enthauptung der Stadt“. Vgl. Kapitel 2.4 „Die Wahlen von 1939“. In Warschau haben sich viele Jüdinnen und Juden im Żoliborz versteckt, wo sich vor dem Krieg der Genossenschaftswohnungsbau etablierte. Weitere Studien müssten das Thema tiefer ausloten.

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in Polen vor allem in den Kulturwissenschaften diskutiert. Im Polnischen wurde der Hilberg’sche Bystander mit dem Begriff des Zeugen übersetzt.38 Die Warschauer Kulturwissenschaftlerin Elżbieta Janicka geht mit der Figur der Zeugin oder des Zeugen scharf ins Gericht. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen in dem Aufsatz „Pamięć przyswojona“ ist die Kritik an Michael  C.  Steinlaufs  Buch Bondage to the Dead und seinen Beobachtungen zum Trauma der Zeugenschaft.39 Janicka stellt fest, dass es auch in den Geisteswissenschaften in Polen seit den 1990er Jahren zur Praxis geworden sei, über das Trauma der polnischen Zeugenschaft zu schreiben. Auch Feliks Tych sprach in dem oben zitierten Gespräch für die Zeitschrift Dialog über die „ZeugenGesellschaft“.40 Janicka lehnt die Kategorie des Zeugen als ahistorisch und aus dem Kontext gerissen ab. Der interpretative Rahmen des Traumas habe die eigentliche Rekonstruktion von der polnischen Erfahrung des Holocaust eher erschwert. Er bewirkte eine Art „Blockade“, welche nicht erlaubte, die Muster der dominierenden Kultur gegenüber den Opfern der Shoah herauszuarbeiten. Die Zeugin bzw. der Zeuge, so zeigt Janicka überzeugend auf, tritt in der (Forschungs-) Literatur als eine durch Passivität und „obojętność“ gekennzeichnete Figur auf – „obojętność“ kann hierbei mit „Gleichgültigkeit“ oder auch „Teilnahmslosigkeit“ übersetzt werden. Die Zeugin oder der Zeuge erscheint zudem als Figur, die macht- und ratlos dem Geschehen gegenübersteht. Janicka führt als Beispiel eine im Jahr 2013 in Warschau abgehaltene Konferenz zur „Zeugenschaft der Shoah“ an, bei welcher das erste Panel mit „Machtlosigkeit, Teilnahmslosigkeit und das Schweigen der Zeugen“ betitelt war.41 Janicka kommentierte dies wie folgt: „Obwohl bereits viel Zeit vergangen ist, in der sich die Wissensakkumulierung und Reflexion über die Shoah weiterentwickelte, hält sich das Paradigma eines machtlosen und im schlimmsten Fall gleichgültigen/teilnahmslosen Zeugen hartnäckig, zuweilen, wie man sieht, unter Experten.“42 Janicka benennt, um ihr Gegennarrativ zu stärken, ganz andere Rollen der polnischen Nichtjüdinnen und Nichtjuden: etwa die aktive Teilnahme an den „Aktionen“ der Blauen Polizei, des Baudienstes und der Freiwilligen Feuerwehr. Sie nennt auch die Übernahme von Wohnungen und Habseligkeiten, die einst Jüdinnen und Juden gehörten, für welche sich

38 39 40 41 42

Hilberg: Sprawcy, Ofiary, Świadkowie. Janicka: Pamięć przyswojona, S. 148–226; Steinlauf: Bondage to the Dead. Tych: Polen und Juden. Die Konferenz wurde organisiert vom IPN, dem Jüdischen Historischen Institut und vom Zentrum für Holocaust-Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften, nach Janicka: Pamięć przyswojona, S. 153. Ebd., S. 153.

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im Polnischen der Begriff des „mienie pożydowskie“ eingebürgert hat.43 Vor allem verweist sie auf die Figur des allgegenwärtigen Beobachtenden, der das Überleben der Jüdinnen und Juden außerhalb des Ghettos so schwer machte. Janicka zitiert dabei den Überlebenden Cerel Perechodnik: Ich bin keineswegs verblendet, um zu glauben, es sei die Pflicht jedes Polen gewesen, das eigene Leben auf Spiel zu setzen, um einen Juden in der eigenen Wohnung zu verstecken, aber ich bin der Überzeugung, es war die Pflicht der polnischen Gesellschaft, Juden zu ermöglichen, sich freizügig auf der polnischen Seite zu bewegen.44

Janicka schlussfolgert daraus, dass die postulierte „unschuldige“ Passivität nicht nur nicht existiert hat, sondern dass genau diese sehr wünschenswert gewesen wäre: Im Gegensatz zum dominierenden Narrativ der Mehrheit waren Passivität und Teilnahmslosigkeit des nichtjüdischen Umfelds von Juden sehr erwünscht gewesen und wurden schmerzlich vermisst. Das Hauptproblem war also nicht das Fehlen von Hilfe oder nicht genügend Hilfe für Juden. Das Hauptproblem war, dass es nicht genügend Passivität gab und es an Gleichgültigkeit fehlte.45

Anstatt der Figur des „teilnahmslosen Zeugen“ schlägt Janicka den Begriff des „eingeweihten, teilnehmenden Beobachters“ vor. Das Schauen, das Beobachten und Überwachen des nicht-jüdischen Umfelds nehmen in ihrer Analyse einen breiten Platz ein. Sie beruft sich dabei auf die Konzeption des droit de regard, entwickelt von Michel Foucault und Pierre Bourdieu, als eines Instruments symbolischer Macht. Der überwachende Blick der nichtjüdischen Polinnen und Polen exerzierte letztlich die Besatzungsordnung gegenüber den Jüdinnen und Juden. Er sei zudem tief eingebettet gewesen in eine antisemitische Kultur Polens.46 Das erklärt, so Janicka, auf den ersten Blick so unbegreifliche Verhaltensmuster der Jüdinnen und Juden, die ins Ghetto zurückkehrten oder erst gar nicht versuchten zu fliehen. Aus der eigenen Forschung kann ich bestätigen, dass die Konzepte Passivität und Zeugenschaft zur Beschreibung des Verhaltens nichtjüdischer Polinnen und Polen die Realität der Erfahrungen von Jüdinnen und Juden nicht adäquat darzustellen vermögen.

43 44 45 46

Ebd., S. 157. Perechodnik: Spowiedź, S. 129, zit. nach Janicka: Pamięć przyswojona, S. 154. Ebd., S. 154. Ebd., S. 169

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Des Weiteren untersuchten Kulturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler breit, wie im polnischen Film und Theater sowie in der polnischen Literatur die Verhaltensmuster der nichtjüdischen Polinnen und Polen verhandelt wurden. Grzegorz Niziołek zeigte in seinem 2013 erschienenen Buch Das polnische Theater der Shoah, wie sehr das polnische Drama der Nachkriegszeit mit der Frage nach der Rolle der nichtjüdischen Bevölkerung während der Shoah beschäftigt war und bis heute noch ist.47 Zu einer authentischen Konfrontation sei es dennoch nicht gekommen, da in den Theaterstücken oder in deren öffentlicher Rezeption diese „Rolle“ wiederholt verschleiert und uminterpretiert wurde. 2018 erschien Tomasz Żukowskis Studie zur Darstellung der Rolle nichtjüdischer Polinnen und Polen in polnischen Filmen und Theaterstücken.48 Die Studie trägt den bezeichnenden Untertitel „Wie wir vergaßen, dass Polen Juden töteten“ und schält heraus, wie das „NichtWahrhaben-Wollen“ der dunklen Seiten dieser Verhaltensmuster camoufliert und verdrängt wurde. Ebenfalls im Jahre 2018 erschien ein umfangreicher Band, der aus kultur- und literaturwissenschaftlicher Perspektive die Konstruktion des nichtjüdischen polnischen Zeugen der Shoah in Belletristik und Filmen untersucht.49 Haupttenor der Untersuchungen ist, dass die Figur der Zeugin oder des Zeugen dazu diente, die Unschuld der Mehrheitsgesellschaft darzustellen, worauf bereits die Herausgeber im Titel verweisen: „Erzählungen über die Unschuld“. Es erscheint mir in diesem Zusammenhang wichtig, zu unterstreichen, dass auch im jüdischen Kontext der Begriff der Zeugenschaft der Shoah einen wichtigen Platz einnimmt, wobei ihm hier eine diametral andere Bedeutung zukam.50 Zeuge sein bedeutete hier, „Zeugenschaft“ abzulegen darüber, was während der Shoah passiert war. Die polnischen „Zeuginnen und Zeugen“ aber waren auf die eigene Rolle fokussiert und um das eigene (positive) Selbstbild bemüht und nicht primär mit dem Anliegen beschäftigt, das Menschheitsverbrechen an Jüdinnen und Juden zu dokumentieren.51 Neue Kategorien notwendig? Die Begriffe Bystander, Zuschauende und Zeugin/Zeuge wurden dekonstruiert und als nicht adäquat verworfen. Elżbieta Janicka offerierte die Kategorie des „eingeweihten teilnehmenden Beobachters“, der jedoch auch nicht alle 47 48 49 50 51

Niziołek: Polski Teatr Zagłady. Żukowski: Wielki Retusz. Hopfinger/Żukowski (Hg.): Opowieści o niewinności. Vgl. Kassow: Rigelblums Vermächtnis. Zur Zeugenschaft als Bemühen, das individuelle und kollektive Selbstbild positiv zu besetzen, siehe Hopfinger: Zamiast wstępu.

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Verhaltensweisen umklammern kann, sondern vor allem auf den überwachenden, kontrollierenden Blick auf Jüdinnen und Juden verweist. Eine Auffächerung der Verhaltensmodi und deren Kategorisierung schlug Mary Fulbrook vor, indem sie von „beneficiaries“, „facilitators“ oder „active participants“ schrieb.52 In meiner Arbeit habe ich gezeigt, dass die Shoah einen sozialen Prozess in den Lokalbevölkerungen in Gang gesetzt hat, dem sich niemand entziehen konnte. Die wichtigsten Faktoren dieses Prozesses habe ich oben zusammengefasst. Die nichtjüdischen Einheimischen, die in diesen Prozess auf vielfältigste Weise involviert waren, haben diverse Verhaltensmuster an den Tag gelegt (zuweilen auch widersprüchliche), wobei ihre Handlungsoptionen nicht als feste Rollenzuschreibungen verstanden werden, sondern als Handlungsmuster, die zu unterschiedlichen Zeiten (oder zeitgleich) von ein und derselben Person ausagiert werden konnten. Die Prozesshaftigkeit des Geschehens unterminiert statische Zuschreibungen. Wenn die Shoah als ein multifaktorieller sozialer Prozess verstanden wird, so liegt der Erkenntniswert darin, diesen im Einzelnen zu beschreiben und die verschiedenen Akteursgruppen mit ihren jeweiligen Interessen differenziert darin zu verorten. Die Verhaltensmodi der nichtjüdischen Polinnen und Polen müssen nuanciert beschrieben und in ihrem jeweiligen Kontext betrachtet werden. So erscheinen der mikrogeschichtliche Zugang und die dichte Beschreibung der Fallbeispiele, wie in dieser Arbeit vorgenommen, als Möglichkeit, durch eine kleinteilige Analyse die vielfältigen sozialen und kulturellen, aber auch alltagspragmatischen Dynamiken in ihrem über das Dorf und die Stadt hinausweisenden Zusammenhang zu verstehen. Die Besatzungsgesellschaften erscheinen dann als mehrfach asymmetrisch gebrochene Akteurskonstellationen, mit sich verschiebenden Machtgefällen, die sich dynamisch mit der Radikalisierung des Krieges veränderten. Durch das Prisma der Unmöglichkeit von Passivität können die nichtjüdischen Polinnen und Polen nicht mehr als „daneben“, als irgendwie „unbeteiligt“ gedacht werden, denn dies entsprach nicht der historischen Realität. Es muss vielmehr jedes Mal danach gefragt werden, wie genau sie sich verhalten haben. Schließlich führt diese Betrachtungsweise dazu, dass die Shoah, die sich größtenteils im östlichen Europa abspielte und von den deutschen Besatzern durchgeführt wurde, nicht als eine Geschichte wahrgenommen wird, die nur „sie“  – also „die Jüdinnen und Juden“, „die Anderen“  – betraf. 52

Fulbrook: Erfahrung, Erinnerung; dies.: A Small Town, S. 7–8, in diesem Kontext benennt sie vor allem Mitglieder der deutschen Besatzungsverwaltung als „functionaries, facilitators and beneficiaries“.

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Die Vernichtung der polnischen Judenheiten, die herausgerissen wurden aus ihren lokalen Zusammenhängen und zum Teil in ihren Heimatorten ermordet wurden, besonders in den Städten, wo sie einen so großen Bevölkerungsanteil ausmachten, ist auch ein Teil der Geschichte der nichtjüdischen Polinnen und Polen. Letztere standen nicht nur „daneben“, sondern mussten sich dazu – zu der sich vor „ihrer Haustür“ vollziehenden Shoah – verhalten.

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Ausblick: Eine „Geisterstadt“? – Tarnów nach dem Krieg Am 18. Januar 1945 marschierte die Rote Armee in Tarnów ein und damit ging für die Tarnowianerinnen und Tarnowianer der Zweite Weltkrieg zu Ende. Da die deutschen Besatzer die Stadt bereits verlassen hatten, gab es keine Kampfhandlungen im Ort. Die Bausubstanz einiger Gebäude war zwar beschädigt, aber die Stadt blieb weitestgehend unzerstört. Doch zugleich war es ein völlig anderes Tarnów als jenes vor 1939. „Meine Stadt – ein großer Friedhof“ betitelte Dovid Eichenholz seine Erinnerungen an Tarnów. Er schrieb: Wisst ihr, dass Tarne, unsere Stadt, nach dem Zweiten Weltkrieg fast unbeschädigt geblieben ist? Dort stehen weiterhin die Häuser, Fabriken und Werkstätten, die von Polen oder Juden über Generationen hinweg gebaut worden sind. Wie früher ziehen sich die langen Straßen durch die Stadt, beginnend mit der Krakowska, über die Wallstraße bis zum Pilzner Tor und die Lwowska Straße. Die alten Mauern stehen noch, das alte Rathaus, der Stolz von Tarne, eine ganze Reihe Kirchen mit spitzen hohen Türmen. Es sind auch alle Allgemeinschulen und Gymnasien heil geblieben, die wir mit unseren Kindheitserinnerungen verbinden. Es fehlen nur die knapp dreißigtausend Juden, Tarner Juden, der einmal so großen, starken, agilen und stolzen Gemeinschaft von Menschen, die mit Ausdauer und Fleiß gewirkt, gearbeitet und geistige wie materielle Werte geschaffen haben.1

Auf diesem „Friedhof“, in dieser „Geisterstadt“, begann ein neues Leben.2 Im Januar 1945 kamen die ersten Jüdinnen und Juden aus ihren Verstecken heraus. Usher Bleiweis war einer der ersten. Er hatte sich zuletzt in Bunkern im Wald verborgen gehalten. Bleiweis war Bundist und war vor dem Krieg Vorsitzender des Gewerkschaftsverbands in Tarnów.3 Er überlebte das Ghetto, wo er versucht hatte, den Widerstand und Kontakte mit der PPS zu organisieren.4 Nach der „Liquidierung“ hielt er sich zunächst noch in Tarnów auf. Im November 1943 war er nach Szebnie verschleppt worden und von dort aus wurde er ins Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau 1 Eichenholz: Mayn shtot, S. 887. 2 Der Ausdruck Geisterstadt „miasto widmo“ stammt von Lavyel, Amos: Rede zum Gedenken an die Liquidierung des Ghettos, Tarnów 8.9.1993. Privatarchiv Shulamith Lavyel. 3 Zu Bleiweis, siehe auch Kapitel 1.1 „Arbeitswelten“. 4 Vgl. Kapitel 7.2.4 „Selbstbehauptung und Widerstand/Amidah“.

© Brill Schöningh, 2022 | doi:10.30965/9783657760091_013

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deportiert.5 Ihm gelang die Flucht aus dem Transport und er versteckte sich seither in den Wäldern, zum Teil mit Partisanengruppen.6 Nach seiner Ankunft in Tarnów besetzte der erfahrene Organisator und klal-tuer7 sofort ein Haus in der Goldhammer Straße 1 (benannt nach dem ersten jüdischen Vizebürgermeister der Stadt Eliasz Goldhammer)8, sicherte es und richtete es ein, so dass andere Jüdinnen und Juden einen Platz zum Schlafen hatten, wenn sie zurückkehrten.9 Langsam kamen sie aus den Bunkern, aus anderen Städten, aber auch aus den befreiten Konzentrationslagern in ihre Heimatstadt zurück. Unter ihnen waren die bereits im Buch erwähnten Elfriede Thierberger, Cesia Honig, Józef Korniło, Blanka Goldman oder die Familie Betrübnis. Der siebenjährige Israel Unger kletterte aus dem Verschlag in der Dagnan Mühle heraus, den er mit acht anderen Menschen fast anderthalb Jahre lang geteilt hatte. Als er die Leiter vom Dachboden herunterstieg, war er entweder zu schwach zum Laufen oder hatte es durch die Enge des Verstecks verlernt und stürzte herunter.10 Der ehemalige Stadtratsabgeordnete Avraham Spielman, der sich mit seiner Familie in der Nähe von Warschau versteckt gehalten hatte, kam ebenfalls nach Tarnów zurück. Sein Sohn Henryk Spielman, der als Zionist 1939 in den Stadtrat gewählt wurde und häufig im Tygodnik Żydowski geschrieben hatte, erlebte das Kriegsende nicht. Er starb am 16. Januar 1945, als er durch Zufall von einem Granatsplitter tödlich getroffen wurde.11 Chana Zwikelberg überstand die Konzentrationslager Płaszów und Auschwitz. Nach ihrer Befreiung kehrte sie nach Tarnów zurück. So sammelten sich immer mehr Jüdinnen und Juden in der Stadt. Im Februar 1945 zählte Tarnów 232 Jüdinnen und Juden.12 Das waren weniger als 1 % der jüdischen Bevölkerung, die noch im Mai 1942 hier gewohnt hatte. Doch obwohl wiederholt die Unversehrtheit der Tarnower Bausubstanz unterstrichen wurde, waren die jüdischen Stätten sehr wohl von der Zerstörung betroffen. Keine Synagoge stand in Tarnów nach dem Krieg noch. 5 6 7 8 9 10 11 12

Pat: Ash un fayer, S. 142–143. Ebd. Klal-tuer jiddisch für ein aktives Mitglied der jüdischen community. Vgl. Kapitel 2.2.1 „Das Erbe der k. u. k. Monarchie: der Tarnower Stadtrat nach dem Ersten Weltkrieg (1918–1924)“. Bericht des TSKŻ, Abteilung Tarnów, 11.3.1956, AŻIH, TSKŻ 325/267. Unger/Gammon: The Unwritten Diary, S. 21. Spielman, Elżunia (Elza): Interview, 24.05 2013, Herzliya, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska; Chomet: Di letste, S. 803–804. Sitzungsprotokoll des städtischen Nationalrats vom 02.03.1945, ANKr. Odd. T.  33/2/ PMRNT / I/1, S.  21; Ende Mai 1945 waren 422 jüdische Personen in Tarnów registriert: 146 Männer, 217 Frauen und 53 Kinder sowie 16 Jugendliche, Bericht der Inspektionsreise 22.05.–01.06.1945, AŻIH 303/ II CKŻP, WOiK, 23: Sprawozdania.

Ausblick

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„After we came out of hiding, we lived on ulica Zydowska (sic!) – Jew’s Street – right in the middle of town off the Rynek”, erinnerte sich Israel Unger an das Jahr 1945. „Our apartment looked out on four pillars that were the remains of the bima of Tarnow’s oldest synagogue – the only such Jewish remains in the city.“13 Die Gleichzeitigkeit zwischen Zerstörung und Neuanfang des jüdischen Lebens konnte kaum bildlicher dargestellt werden. Das Polen der Nachkriegszeit war ein gänzlich anderes Land als vor dem Krieg. Über  90% der polnischen Judenheiten, rund drei Millionen, waren ermordet worden. Rund zwei Millionen nichtjüdischer, ethnischer Polinnen und Polen hatten ihr Leben verloren.14 Die polnischen Eliten (Intelligenzija, Lehrerinnen und Lehrer, Vertreterinnen und Vertreter der freien Berufe) waren der deutschen Besatzung zum Opfer gefallen. Sowohl die jüdische Bevölkerung als auch die nichtjüdische Intelligenzija hatten vor dem Krieg hauptsächlich in Städten gewohnt, welche einen enormen Bevölkerungsverlust erlitten. Diese Leerstellen wurden nun ausgefüllt, denn nach dem Krieg strömten Menschen vom Land zunehmend in die urbanen Räume. Włodzimierz Borodziej charakterisierte die erste Zeit nach dem Krieg deswegen als einen Prozess der ethnischen Homogenisierung des Landes und der Proletarisierung der Städte.15 Und noch mehr hatte sich in Polen verändert: Die Grenzen des Landes wurden nach Westen „verschoben“, es fand ein enormer Bevölkerungsaustausch statt. Durch Repatriierungen aus der Sowjetunion, Umsiedlungen im großen Ausmaß, zum Teil Zwangsumsiedlungen (der Deutschen, der Ukrainer), Emigration und Binnenmigration glich Polen in den ersten Nachkriegsjahren einem Land „auf Rädern“.16 Zugleich war das Ende des Zweiten Weltkrieges zur Geburtsstunde eines neuen Herrschaftssystems geworden: Polen sollte zu einem Satellitenstaat Moskaus werden. In einigen Gebieten kämpften Partisanen nun gegen Einheiten der Roten Armee und gegen den NKVD, so dass zuweilen noch kriegsähnliche Zustände herrschten.17 Die politischen, sozialen und demographischen Umwälzungen führten zu einer Atmosphäre der Angst und Unsicherheit.18 Gleichzeitig war durch die brutale deutsche Besatzung das Gewaltkapital in der polnischen Bevölkerung angewachsen und 13 14 15 16 17 18

Unger/Gammon: The Unwritten Diary, S. 22. Łuczak: Szanse i trudności, S. 12. Borodziej: Geschichte Polens, S. 260. Ebd., S. 259. Zu den Untergrundgruppierungen der frühen Nachkriegszeit im Kreis Tarnów Wenklar: Nie tylko WiN i PSL. Vgl. die sozialhistorische Studie zur polnischen Nachkriegsgesellschaft: Zaremba: Wielka Trwoga; Zum „social anger management“ der neuen Machthaber, die durchaus ethnische Spannungen instrumentalisierten, siehe Fleming: Communism, Nationalism.

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kapitel 11

die moralischen Verheerungen gravierend. Antisemitische Ausschreitungen, zu denen ich noch zurückkommen werde, fanden in ganz Polen statt. Die wenigen Jüdinnen und Juden begannen in diesem Kontext ihren Alltag nach der Shoah. Ein neues jüdisches Leben in Tarnów? – Demographie Die jüdischen Überlebenden mussten sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit mehreren komplexen Herausforderungen stellen – allein der Weg zurück ins Leben nach den traumatischen Erfahrungen der Shoah und dem Verlust eines Großteils der Familie verlangte enorme Kraftanstrengungen. Die Überlebenden mussten zudem entscheiden, ob sie in Polen bleiben oder ob sie emigrieren. Eine große Anzahl von Jüdinnen und Juden entschied sich für Letzteres. Unterschiedlichen Schätzungen zufolge verließen von Beginn 1945 bis Juli 1946 rund 60 000–70 000 Jüdinnen und Juden Polen.19 Einige blieben zunächst, suchten nach ihren Familien, versuchten ihre Wohnungen oder Betriebe wiederzubekommen und entschieden sich etwas später, in einer anderen Stadt oder in einem anderen Land neu anzufangen. Viele registrierten sich mehrmals an unterschiedlichen Orten, um leichter die Familie wiederzufinden oder wiedergefunden zu werden. Ab Januar 1946 begann die massive Repatriierung von Jüdinnen und Juden aus der Sowjetunion.20 Bis zum Ende des Jahres 1946 kamen insgesamt rund 170  000 Menschen jüdischer Herkunft nach Polen sowie eine unbekannte Anzahl von nichtorganisierten Rückkehrenden.21 In der ersten Jahreshälfte 1946 – mit dem Beginn der Repatriierungen aus der Sowjetunion – stieg auch in Tarnów die Zahl der Jüdinnen und Juden stetig an. Der größte Anstieg von 370 Personen war im Juni 1946 zu verzeichnen.22 Ihren Zenit erreichte die jüdische Bevölkerungsanzahl in Tarnów am 1.  Juli 1946 mit 1  221 Personen, die im jüdischen Kreiskomitee registriert waren.23 Von diesen hatte die überwiegende Mehrheit von 981 Menschen in der Sowjetunion überlebt, 31 im besetzten Polen auf der „arischen“ Seite unter der nichtjüdischen Bevölkerung und 24 in Verstecken in Wäldern oder in Bunkern.24 Nachdem am 4. Juli 1946 in einem Pogrom in der Stadt Kielce, nur 120 km von Tarnów entfernt, 42 Jüdinnen und Juden von ethnischen Polinnen und Polen ermordet wurden, begann ein Exodus der verbliebenen Judenheiten aus 19 20 21 22 23 24

Vgl. Aleksiun: Dokąd dalej?, S. 68. Vgl. dazu Stankowski/Weiser: Demograficzne skutki, S. 32–37. Zur Zusammenstellung unterschiedlicher Zahlen siehe Aleksiun: Dokąd dalej?, S. 66. AŻIH CKŻP, WEiS 303/V/327. AŻIH CKŻP, WEiS 303/V/329: Sprawozdania i korespondencja. Korrespondenz vom 15.08.1946, AŻIH CKŻP, WEiS 303/V/328: Korespondencja, 1946.

Ausblick

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Abbildung 76 Anzahl der jüdischen Bevölkerung in Tarnów 1946–1949

Polen.25 Zwischen Juli 1946 und Mitte 1947 flüchteten circa 100 000–120 000 Menschen aus dem Land.26 Diese Auswanderungswelle war auch in Tarnów spürbar: Noch im Juli und August  1946 verließen 343 jüdische Personen die Stadt.27 Ein weiterer Schub, durch den die jüdische Bevölkerungszahl sank, fand im November  1946 statt. 1948/49 pendelte sich die Zahl der jüdischen Bevölkerung von Tarnów auf circa 360–390 ein, 1954 fiel die Zahl auf 190.28 Wie überall in Polen war also auch in Tarnów die Bevölkerungsfluktuation der Jahre nach 1945 sehr groß und von Bewegungen (Zuwanderung aus der Sowjetunion) und Gegenbewegungen (Auswanderung, Binnenmigration) geprägt. Die Leere, welche die über 27000 ermordeten Jüdinnen und Juden hinterließen, wurde schnell „aufgefüllt“. Im Jahr 1946 zählte die Stadt bereits 33000 Einwohnerinnen und Einwohner, davon waren eine kurze Zeit lang höchstens (also Stand 1. Juli) 3,7% jüdisch.29 Vier Jahre später erreichte Tarnów bereits annähernd seine Vorkriegsbevölkerungsgröße mit 52000 Menschen und 1955 wohnten in Tarnów 59000 Personen.30 Zu der Zeit lebten noch rund

25 26 27 28 29 30

Zum Kielce Pogrom siehe Tokarska-Bakir: Pod Klątwą; zum Antisemitismus in Polen nach 1945 siehe: Gross: Angst. Vgl. Aleksiun: Dokąd dalej, S. 269. Korrespondenz vom 29.08.1946, AŻIH CKŻP, WEiS 303/V/328, Korespondencja, 1946. AŻIH CKŻP, WEiS 303/V/333 und 337a. Zur Gesamtbevölkerung Tarnóws nach dem Krieg: Wenklar: Nie tylko WiN i PSL, S. 10. Wenklar: Nie tylko WiN i PSL, S. 10.

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kapitel 11

190 Jüdinnen und Juden in der Stadt, also 0,3% der Bevölkerung.31 Doch nicht nur demographisch, auch sozial wurde der Platz der Judenheiten eingenommen. Vor dem Zweiten Weltkrieg wurden rund 90% der Läden in Tarnów von Jüdinnen und Juden betrieben. Gleich nach dem Krieg vergab der Stadtrat Konzessionen an Ladenbesitzerinnen und -besitzer, die nunmehr fast alle nichtjüdisch waren.32 „Verschwunden sind alle Großhandelsgeschäfte und Magazine“, beklagte im yizker bukh Abraham Chomet, „es gibt keine Kleinhändler, Verkäufer und Marktstandbetreiber mehr, keine Spur mehr von den jüdischen Werkstätten und Unternehmen.“33 Als Avraham Spielman, vor dem Krieg Stadtratsabgeordneter, im Februar 1945 einen Antrag an die Stadt stellte, eine Konzession zu erhalten, um als Kerzenhersteller seine alte Produktionsstätte wieder aufzunehmen, protestierte ein Priester. Kein Jude könne Kerzen herstellen, wo doch die katholische Kirche der größte Abnehmer sein werde. Doch Spielman hatte auch vor dem Krieg vor allem für die Kirche produziert. Der Priester fand kein Gehör. Im Protokoll wurde notiert, der Stadtrat behandle Bewerber unterschiedlicher Religionen gleich.34 Dennoch: Spielman war einer der wenigen noch übrig gebliebenen jüdischen Ladenbetreiber in Tarnów. Ein neues jüdisches Leben in Tarnów? – Institutionen und Gedenken „Fahr nach Tarnów“, hatte man dem in Amerika lebenden Jakob Pat (1890–1966) gesagt, als er 1945 nach Polen reiste, „dort befindet sich eine gute jüdische Gemeinde, ein gute jüdische Schneiderkooperative und ein gutes jüdisches Komitee.“35 Jakob Pat war vor dem Krieg ein prominenter Aktivist des Bund und des TSYSHO in Polens Hauptstadt gewesen. Er verbrachte die Kriegsjahre in den USA und war einer der ersten jüdischen klal-tuers, der ins Nachkriegspolen reiste und die ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager besuchte. Seine Eindrücke, auch aus Tarnów, hielt er in dem 1946 auf Jiddisch veröffentlichten Buch Ash un fayer (Asche und Feuer) fest. Auch er war eingenommen von der Gleichzeitigkeit des Lebens in der unzerstörten Stadt von Tarnów und der Abwesenheit von Jüdinnen und Juden. „Ich sehe keine zerschossenen, zerbrochenen, zerlöcherten Häuser wie in anderen Städten […] Menschen gehen über Trottoire, Menschen fahren mit Wagen, mit Droschken.

31 32 33 34 35

AŻIH CKŻP, WEiS 303/V/333 und 337a. Sitzungsprotokoll des städtischen Nationalrats vom 15.06.1945, ANKr. Odd. T.  33/2: PMRNT /I/1, S. 81. Chomet: Yidishe virtshaftlekhe organizatsies, S. 254. Sitzungsprotokoll des städtischen Nationalrats vom 02.03.1945 sowie 14.03.1945, ANKr. Odd. T. 33/2: PMRNT /I/1, S. 17, 29. Pat: Ash un fayer, S. 139.

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Ich sehe Restaurants, Schenken – ich sehe aber keine Juden.“36 Doch bald überzeugte er sich, wie sehr die verbliebenen oder nach Tarnów zurückkehrenden Jüdinnen und Juden trotz allem ein neues Leben aufzubauen bemüht waren. Bereits im Februar 1945 entstand ein provisorisches jüdisches Komitee in Tarnów, das dem CKŻP angeschlossen war. Das CKŻP – Zentralkomitee der Juden in Polen – wurde im November 1944 unter den Auspizien des PKWN (Polski Komitet Wyzwolenia Narodowego/ Polnisches Komitee der Nationalen Befreiung) gegründet.37 In den Anfangsjahren (bis 1949/1950) besaß die jüdische Minderheit in Polen eine gewisse Autonomie. Innerhalb des Vorstands des CKŻP beispielsweise versammelten sich unterschiedliche (noch) zugelassene Parteien wie der Bund, der zionistische Ichud, die linke und rechte Poale Zion, die jüdische Fraktion der PPR (Polska Partia Robotnicza / Polnische Arbeiterpartei) und Vertreter anderer Organisationen.38 Dem jüdischen Kreiskomitee in Tarnów stand zunächst Chaim Schiffer vor, außerdem waren Usher Bleiweis, Franciszka Kryształ, Abraham Betrübnis, Marek Kohn, Józef Korniło und andere aktive Mitglieder.39 Das Komitee organisierte Volksküchen, um die zurückkehrenden, ausgemergelten und erschöpften Jüdinnen und Juden, die nach Tarnów kamen oder durch Tarnów durchreisten, zu versorgen. Sie besetzten Häuser, um Schlafmöglichkeiten zu schaffen. Am  14.  November  1946 konnte das Komitee verlautbaren, dass das jüdische Kreiskomitee in der Goldhammer Straße 1 seinen Sitz bezog, die Religionsvereinigung (Żydowskie Zrzeszenie Religijne), die sich mittlerweile samt einer Gebetsstube gegründet hatte, dagegen gleich daneben in der Nummer 3. In den Nummern 5 und 7 der Goldhammer Straße befanden sich jeweils von Jüdinnen und Juden bewohnte Häuser, in der Brodziński Straße 8 ein jüdisches Wohnheim, ebenso in der Lemberger Straße 7. Die Häuser in den Straßen Folwarczna 6 und 7 sowie Wałowa 34 wurden ebenfalls von jüdischen Gruppen bewohnt.40 Neben den Hilfsleistungen und Volksküchen, die noch bis 1948 bestanden, wurde ein jüdischer Kindergarten aufgebaut, in welchem Jiddisch- und Hebräischkurse angeboten wurden. Leider wurde der Kindergarten 1950 geschlossen, da es zu wenige jüdische Kinder gab.41 Das jüdische 36 37 38

39 40 41

Ebd., S. 142. Zur Geschichte des CKŻP siehe auch: Grabski: Centralny Komitet. Zur Repräsentation jüdischer politischer Parteien innerhalb des CKŻP, siehe Adelson: W Polsce, S.  426–428; Zum Verhältnis zwischen den jüdischen Parteien (insbesondere Zionisten und Bund) zum Machtapparat in der unmittelbaren Nachkriegszeit und der Volksrepublik, ihrem Taktieren und den Antworten des Regimes, siehe: Aleksiun: The Vicious Circle, S. 158–180; zur jüdischen Fraktion der PPR Grabski: Działalność komunistów. AŻIH / 303/III/CKŻP Wydział Personalny, 177; Kwiek: Dzieje ludności żydowskiej, S. 188. Korrespondenz der Kreiskomitees Tarnów an das Wojewodschaftskomitee, 14.11.1946, AŻIH CKŻP, Centralna Komisja Specjalna 1946–1947 303/XVIII/ 59. Kwiek: Dzieje ludności żydowskiej, S. 192.

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Kreiskomitee unterhielt außerdem einen Klubraum und eine Bibliothek, zudem erfreute sich eine jüdische Amateur-Theatergruppe großer Beliebtheit.42 Im Februar 1945 gründete Usher Bleiweis eine Schneiderkooperative, die später den Namen Naftali-Botwin-Kooperative erhielt. Viele der Überlebenden waren Schneiderinnen oder Schneider und vor dem Krieg in der Textilbranche tätig.43 Bereits Anfang 1946 sollen hier um die 100 Arbeitende eine Anstellung gefunden haben.44 Die Textilindustrie der Vorkriegsjahre wurde in Tarnów allerdings nicht wiederaufgebaut. Größere Industriebetriebe wie die Stickstofffabrik in Mościce wurden verstaatlicht. Ein wichtiges Anliegen war den Hinterbliebenen, der Ermordeten zu gedenken und erlittenes Leid zu dokumentieren. Bereits im April 1945 gründete sich in Tarnów beim jüdischen Kreiskomitee eine Historische Kommission mit dem Ziel, Zeugenaussagen der Überlebenden zu sammeln. Diese historischen Kommissionen entstanden am CKŻP und analog dazu in den einzelnen Wojewodschaften und Städten, in denen Jüdinnen und Juden lebten. In Tarnów waren zunächst Rahel Borgenicht, eine Absolventin der Safa Berura, sowie Judyta Laub Mitglieder der Kommission. Sie erbaten auf Wojewodschaftsebene Unterstützung, wie sie die Zeuginnen und Zeugen interviewen sollten.45 Die von ihnen damals gesammelten Berichte lagern heute im Archiv des Jüdischen Historischen Instituts und bildeten eine wichtige Grundlage des vorliegenden Buches.46 Wilhelm Rommelmann, der ab 1942 für „Judenangelegenheiten“ bei der Gestapo verantwortlich gewesen war, wurde 1946 bei Bremen verhaftet und ein Jahr darauf nach Polen ausgeliefert. In Tarnów wurde Rommelmann der Prozess gemacht und er wurde zum Tode verurteilt. In den Morgenstunden des 9. November 1948 wurde er in Tarnów gehenkt. Bei seinem Prozess sagten viele der überlebenden Tarnower Jüdinnen und Juden aus.47 Er war der einzige deutsche Täter, der in Tarnów vor Gericht stand.48

42 43 44 45 46 47 48

Ebd., S. 194; Pat: Ash un fayer, S. 150. Bericht des TSKŻ, Abteilung Tarnów, 11.03.1956, AŻIH TSKŻ 325/267. Pat: Ash un fayer, S. 149. Sprawozdanie z działalności Komisji Historycznej w Tarnowie, kwiecień 1945 AŻIH / Centralna Żydowska Komisja Historyczna przy Centralnym Komitecie Żydów w Polsce (1944–1947)/303 /XX/455. AŻIH Bestand 301. Siehe Ermittlungs- und Prozessakten gegen Rommelmann: IPN  502/1997; Zu Rommelmann außerdem Szczerba: Gdy zapłonął nagle świat, S. 64; Der kalte Blick, S. 259; Hembera: Die Shoah, S. 292–293. Zum Nachkriegsleben und zum Teil Verurteilungen anderer deutscher Täter siehe Hembera: Die Shoah, S. 287–307; Der Kalte Blick, S. 256–264; Amon Goeth wurde in Płaszów gehenkt, im Prozess gegen ihn kamen auch seine Verbrechen bei der Liquidierung des Tarnower Ghettos zur Sprache, Vgl. Blumental (Hg.): Proces ludobójcy Amona Leopolda Goetha.

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Abbildung 77

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Israel und Kalman Unger mit anderen Kindern auf dem jüdischen Friedhof, 1946

Dawid Beckert errichtete 1946 auf dem jüdischen Friedhof ein Denkmal zur Erinnerung an die Ermordung der Jüdinnen und Juden Tarnóws. Er nutzte dazu eine erhaltene, aber gebrochene Säule aus den Ruinen der 1939 gesprengten Neuen Jubiläumssynagoge (Franz-Josef-Synagoge). „Die Sonne schien und schämte sich nicht“ ist auf der Säule im Hebräischen zu lesen, ein Fragment aus einem Gedicht von Nachman Bialik (1873–1934). Der berühmte hebräischsprachige Dichter hatte vor dem Krieg Tarnów besucht und die damals kleine Shulamith Feig, die Tochter des zionistischen Aktivisten Jeshajahu Feig, erinnerte sich Jahrzehnte danach daran, wie sie neben Bialik in einer Pferdekutsche durch die Stadt fuhr.49 Jedes Jahr zum Jahrestag der ersten „Aktion“ versammelten sich am Friedhof die Jüdinnen und Juden Tarnóws, aber auch Vertreter der regierenden Parteien und der Stadt. Es wurden Kränze niedergelegt und Gebete gesprochen. Eine Fotografie zeigt jüdische Kinder 1946 vor der Gedenksäule, unter ihnen der in der Dagnan-Mühle versteckte Israel Unger mit seinem Bruder Kalman.50 In Zbylitowska Góra wurde 1948 ein Mahnmal aufgestellt, bis heute sind jedoch die Ausmaße des Massengrabs nicht genau bekannt und nicht gekennzeichnet. 49 50

Lavyel, Shulamith: Interview, 01.06.2013, Haifa, Israel, durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska. Unger/Gammon: The Unwritten Diary, S. 23.

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Antisemitismus im Nachkriegstarnów Der zarte Neubeginn fand vor dem Hintergrund extremer Anfeindungen statt, denen die heimkehrenden Jüdinnen und Juden ausgesetzt waren. Als der Bundist Aron Sporn, langjähriger Stadtrat während der Zweiten Republik, 1946 aus der Sowjetunion nach Tarnów zurückkehrte, beschrieb er seine Heimatstadt mit folgenden Worten: Am 4. Mai 1946 kehrte ich in meine Heimatstadt zurück. Dies war für mich der grausamste Tag seit den verschiedenen schrecklichen Erlebnissen in Russland, wo ich fünf Jahre lang hinter Gefängnismauern darbte. Die erste Stunde nach dem Betreten der Tarnower Erde hat mich physisch und moralisch zerbrochen. Es war ein Sonntagmorgen. Obwohl ich schon 1944 in Russland gehört hatte, dass mein jüdisches Tarnów nicht mehr existiere, wollte ich noch die Illusion bewahren, dass nicht alles der Wahrheit entsprach, was ich da las und hörte. Leider überstieg alles, was ich später gesehen habe, die menschliche Vorstellungskraft. Zusammen mit meinem Sohn bin ich die Krakowska und Wałowa Straßen entlang gegangen, und wir haben keinen Juden gesehen. Wir konnten kein Wort miteinander reden. Tränen haben unsere Stimmen erstickt und wir konnten keinen Laut herausbringen. Instinktiv fragten wir uns: Zu wem sind wir da zurückgekommen? Wir sahen viele christliche Passanten, aber ich konnte ihnen nicht in die Augen blicken, weil ich wusste, dass sie in der großen Masse den Mördern bei ihrer verbrecherischen Arbeit geholfen haben. So gingen wir bis zur Goldhammer Straße 1, wo sich damals das bisschen jüdische Leben nach dem hurbn konzentrierte.51

Neben der schmerzhaften Rückkehr, die Sporn schilderte, erwähnte er auch die „christlichen Polen“. Für Sporn waren sie Helfershelfer der deutschen Besatzer. Während der Kriegsjahre hatten die nichtjüdischen Polinnen und Polen die Dehumanisierung der Jüdinnen und Juden erlebt und in einem Teil der Bevölkerung verankerte sich der Glaube, dass man Letztere straffrei töten konnte. Die Brutalisierung während der Shoah führte zu einer extremen Verrohung und einem Zusammenbruch moralischer Werteordnungen. Wie sollte vor diesem Hintergrund ein erneutes Zusammenleben mit den wenigen jüdischen Überlebenden, die nun zurückkehrten, möglich sein? Des Weiteren wirkten alte antisemitische Glaubenssätze fort, wenn sie sich nicht gar durch die deutsche Besatzung verstärkt hatten. Das alte Schreckgespenst der żydokomuna entfaltete in der angespannten politischen Lage der Nachkriegszeit seine Wirkmächtigkeit erneut. Die Behörden beobachteten, dass große Teile der Bevölkerung Tarnóws Jüdinnen und Juden allgemein als eine „Brücke

51

Sporn: Der algemeyner yidisher arbeyter-bund, S. 665. Hurbn ist das jiddische Wort für Katastrophe, mit dem die Shoah im Jiddischen bezeichnet wurde.

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zwischen der Sowjetunion […] und dem polnischen Staat“ sahen und sie für die Unterdrückung Polens verantwortlich machten.52 Nichtjüdinnen und Nichtjuden hatten darüber hinaus während der Besatzung Wohnungen, Betriebe und Gegenstände von Jüdinnen und Juden übernommen. Jene, die im Besitz ehemals jüdischer Habe waren, hatten auf die „Totalität der Shoah“ spekuliert, wie im Kapitel 7.1.1 „Die Hälfte der Stadt und ihre Dinge“ bereits beschrieben. Sie waren nicht gerade erfreut, wenn sich nach dem Krieg herausstellte, dass ausgerechnet „ihre“ Jüdinnen oder Juden überlebt hatten. Cesia Honig – die einzige Überlebende aus ihrer unmittelbaren Familie – wurde von der Frau, die nun in ihrer einstmaligen Wohnung lebte, zunächst einmal gefragt: „Wie kommt es, dass Du noch lebst?“53 Und dann stellte sie klar: „Hier gehört Dir nichts mehr, das ist alles unser.“54 Anderen Überlebenden erging es ähnlich: Zvi Ankoris Schwester wurde von ihrem ehemaligen Kindermädchen, die nun selbst in der Wohnung der Wróbels wohnte, verscheucht.55 Aron Sporn traute sich nicht mehr in seine Wohnung in der Szpitalna Straße 26, wo er über zwanzig Jahre lang gelebt hatte.56 Jüdinnen und Juden wurde häufig Gewalt angedroht, falls sie auch nur versuchten, den Besitz zurückzubekommen.57 „Lebst Du noch?“, „Sieh nur, ein Żydek [pejorativ für Jude – AW] konnte sich retten?!“ – das waren die Reaktionen der nichtjüdischen Nachbarinnen und Nachbarn, wie sie die Tarnower Jüdinnen und Juden 1945 und 1946 beschrieben.58 Usher Bleiweis erinnert sich gar an die Entgegnung: „Was Hitler nicht zu Ende gebracht hat, das werden wir schon zu Ende bringen.“59 In der unmittelbaren Nachkriegszeit kam es in ganz Polen zu Angriffen auf Jüdinnen und Juden. Die Schätzungen, wie viele von ihnen in Polen zwischen 1945 und 1947 ermordet wurden, gehen weit auseinander. Während die meisten Historikerinnen und Historiker von einer Zahl zwischen 1  000 und 1 500 Mordopfern ausgehen, hält David Engel diese für zu hoch, die unterste 52 53 54

55 56 57 58 59

Zit. nach Kwiek: Dzieje ludności żydowskiej, S. 195. Ritter, Cesia (née Honig): Interview 2367, 28.04.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). Ebd. Cesia ging mit Familie Mikowski, die sie gerettet hatte, nach Toruń. Schließlich fanden Verwandte Cesia, mit denen sie in die USA ausreiste. Vor ihrer Emigration gelang es ihr, einen Teil des Besitzes ihrer Familie zurückzuerlangen. Den Erlös übergab sie den Mikowskis für ihre Hilfsleitungen. Ankori: Chestnuts, S. 406–407. Sporn: Der algemeyner yidisher arbeyter-bund, S. 666. Vgl. die Situation der Heimkehrenden für Radom: Krzyżanowski: Dom, którego nie było; zur rechtlichen Lage siehe: Krawczyk: Status prawny własności żydowskiej, S. 705–707. Pat: Ash un fayer, S. 147. Ebd., S. 148.

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Schätzung von circa 350 allerdings für zu niedrig. Adelson dagegen spricht von 1 500 bis 2 000 jüdischen Mordopfern in der unmittelbaren Nachkriegszeit.60 Gut bekannt ist das bereits erwähnte Pogrom von Kielce 1946, doch da sich die Forschung diesem vielfach widmete, wird hier auf eine Darstellung verzichtet.61 Am Beispiel Tarnóws kann jedoch sehr gut gezeigt werden, was in einer mittelgroßen Stadt passierte, in der es zu keinem Pogrom kam. Die antisemitische Stimmung war so angeheizt, dass die Stadt einem Pulverfass zu gleichen schien, das fortwährend zu explodieren drohte. Auch wenn die große Gewalteskalation in Tarnów ausblieb, ereigneten sich durchaus antisemitisch motivierte Übergriffe und vereinzelte Morde. Am 12. Juni 1945 wurde in Rzeszów, rund 80 km östlich von Tarnów, ein neunjähriges Mädchen tot aufgefunden. Es herrschte das Gerücht, sie sei von Juden umgebracht worden. Dieser Vorwurf stellte eine moderne Version der Ritualmordlegende dar und war Auslöser für das rund ein Jahr später stattfindende Kielcer Pogrom.62 In Rzeszów bedrohte die Miliz im Juni 1945 Jüdinnen und Juden und verhaftete viele von ihnen. Die Atmosphäre in der Stadt war pogromartig. Einige Jüdinnen und Juden flohen mit dem Zug aus Rzeszów.63 Doch die Gerüchte machten schnell die Runde in der Region. In einem Stimmungsbericht meldete der PUBP (Powiatowy Urząd Bezpieczeństwa Publicznego/Kreisamt für öffentliche Sicherheit), in Tarnów herrsche große Erregung wegen der Ermordung des Mädchens in Rzeszów. Auch in Tarnów machten Menschen Jüdinnen und Juden für den Mord verantwortlich.64 Die Tarnower Sicherheitsbehörden griffen am 13. Juni die mit dem Zug fliehenden Jüdinnen und Juden aus Rzeszów in Tarnów auf und misshandelten sie.65 Die jüdische Überlebende Mete Rosenstock, die – aus einem Konzentrationslager befreit – nach Rzeszów zurückgekehrt war, dort nunmehr um ihr Leben bangen musste und aus der Stadt floh, wurde in Tarnów von einem Mann der UB erschossen. Im Bericht des Kreisamts für öffentliche Sicherheit (PUBP) wurde lapidar als Grund angegeben: „unvorsichtiger Umgang mit dem Maschinengewehr“.66 Vier Tage später ereignete sich ein Raubüberfall „mit 60 61 62 63 64 65 66

Adelson: Polska zwana ludową, S.  401; Engel: Patterns of Anti-Jewish Violence; Gross: Angst, S. 83. Tokarska-Bakir: Pod Klątwą; Gross: Angst; Szaynok: Pogrom Żydów; Kamiński (Hg.): Wokół pogromu kieleckiego. Zum Kielcer Pogrom siehe ebd., zur Ritualmordlegende in Polen: Żyndul: Kłamstwo krwi; Tokarska-Bakir: Legendy o krwi. Zum Pogrom in Rzeszów Gross: Angst, S. 105–112. Bericht des PUBP vom 16.06. 1945, IPN Kr. 028/1/4. Gross: Angst, S. 105–112. Bericht des PUBP vom 20.06.1945, IPN Kr 028/2/2; über diesen Mord berichtet auch Pat: Ash un fayer, S. 151.

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Tötungsabsicht“ auf Dora Garenreich Weisstock in Tarnów. Als Täter gaben die Sicherheitsbehörden vier Männer von der Heimatarmee an, die in Uniformen der polnischen Streitkräfte verkleidet gewesen wären.67 Eine weitere Gewaltwelle erschütterte die jüdische Bevölkerung in Tarnów im August  1945. Die jüdischen Überlebenden Abraham Roth und seine Schwester Paulina Fries wurden am Morgen des 5. August 1945 in einer Blutlache in ihrer Wohnung tot aufgefunden. Die Wohnung war völlig demoliert. Der Angriff zielte offensichtlich nur auf die jüdischen Bewohner, denn die Täter ließen die nichtjüdischen Nachbarinnen und Nachbarn in Ruhe und befahlen ihnen sogar, ihre Wohnungen während des Tatgeschehens nicht zu verlassen. Sie brachten die kleine Tochter der Paulina Fries in die Nachbarswohnung, bevor sie die Mutter und den Onkel töteten.68 Nur knapp eine Woche später, am 11. August, kam es in Krakau zu einem Pogrom.69 Zwei Tage später tauchten in Tarnów Handzettel mit der Losung „Bij Żyda!“ (Schlag den Juden!) auf.70 Im selben Monat meldete Usher Bleiweis, dass in einem jüdischen Wohnheim in der Brodziński Straße die jüdische Familie Jachimowicz mit Schusswaffen angegriffen wurde.71 Die Jachimowiczs kamen mit dem Leben davon. Weitere Überfälle auf Jüdinnen und Juden wurden in Tarnów registriert.72 Im August  1945 meldete das Landratsamt von Tarnów, dass „antisemitische Stimmungen“ in der Stadt anstiegen. Das Jüdische Kreiskomitee erhielt einen Erpresserbrief mit einer Zahlungsaufforderung in Höhe von 100 000 złoty. Andernfalls würde man „auf den Straßen auf Juden schießen.“73 Im Oktober 1945 wurden drei weitere Jüdinnen und Juden ermordet – ihre Identität und die näheren Umstände sind nicht bekannt.74 Antisemitische Übergriffe verantworteten wiederholt Angehörige der polnischen Armee, die in Tarnów stationiert waren. Im Herbst 1945 wurden sechs jüdische Familien vom Militär und dem zuständigen Wohnungsamt ersatzlos ihrer Wohnungen verwiesen. Im Juni 1945 wurden Juden angegriffen, als die Armee Quartiere für Militärs in Tarnów suchte.75 Im April 1946 meldete Chaim Schiffer, der Vorsitzender des jüdischen Kreiskomitees, dass Banden 67 68 69 70 71 72 73 74 75

Bericht des PUBP vom 20.06.1945, IPN Kr 028/2/2. Bericht des PUBP vom 05.08.1945, IPN Kr 028/2/2. Cichopek: The Cracow Pogrom. Bericht des PUBP vom 15.08.1945, IPN Kr. 028/1/4. Brief von Usher Bleiweis an das Bundkomitee in Kraków, 21.8.1945, AAN 1214: Bund w Polsce 1900–1948/30/IV/2, Bd. 6: Korespondencja z Tarnowem. Kwiek: Dzieje ludności żydowskiej, S. 194–195. Pat: Ash un fayer S. 151; Canin: Przez ruiny, S. 421. Bericht des operativen Vorgangs, 20.–25.08.1945, IPN Kr. 028/1/4. Wenklar: Nie tylko WiN i PSL, S. 459–460.

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polnischer Soldaten mit Messern in der Hand Juden auf der Straße aufgriffen. Diese mussten sich ausweisen und wurden verprügelt. Die Täter drohten der Gruppe, alle „niederzumetzeln“.76 Im Juni 1946 debattierte der Vorstand des jüdischen Kreiskomitees, wie man auf die „ständigen antisemitischen Attacken“ seitens polnischer Soldaten reagieren sollte.77 Am 17. Oktober 1946 ereignete sich folgende Begebenheit: […] zwischen 6 und 6:30 abends kehrten Juden vom jüdischen Friedhof zurück. Als sie sich an der Ecke der Straßen Drukarska und Goldhammer befanden, wurde plötzlich das Feuer auf sie eröffnet. Die Schüsse kamen von der Goldhammer Straße her, aus der Nähe der Kasernen. Die Kugeln verfehlten die Juden und blieben in dem gegenüberliegenden Gemäuer an der Wallstraße stecken. Die Juden versteckten sich im Restaurant an der Ecke. […] Als die Juden aus ihrem Versteck kamen, sahen sie Soldaten mit ausgerichteten Gewehren, die in verschiedene Richtungen davonliefen. Kein Jude wurde verletzt.78

Im Juli 1946 ereignete sich das Pogrom in Kielce. Die sichtlich erschütterten Mitglieder des Vorstands des jüdischen Kreiskomitees Tarnów diskutierten über die Konsequenzen des Pogroms für die jüdische Bevölkerung in ganz Polen.79 Doch auch in Tarnów begannen Gerüchte zu kursieren, dass Juden ein christliches Kind ermordet haben sollen.80 „Unter den Juden brach Panik aus. Sie versteckten sich auf Dachböden und in Kellern. Sie fingen an zu packen, um zu fliehen“, schrieb Mordechaj Canin in seinem Bericht über das Nachkriegstarnów.81 Die jüdische Überlebende Rela Bogucka Wałęga, née Kohn, erinnerte sich genau, wie Polen versuchten, in ihr Zuhause einzubrechen. Die Täter konnten jedoch weder die schwere Eisentür im Hof noch die Gitterstäbe an den Fenstern überwinden. Die Familie hatte Todesangst, auch weil der Überfall sich kurz nach dem Kielcer Pogrom ereignete.82 Józef Korniło wurde von unbekannten Personen auf der Straße gefragt, ob er jüdisch sei und dann misshandelt.83 Jüdinnen und Juden begannen Marek Kohn, den Vater der oben genannten Rela und im Vorstand des jüdischen Kreiskomitees aktiv, danach zu fragen, ob sie ein „gutes Aussehen“ hätten. Die Frage 76 77 78 79 80 81 82 83

Telefonogramm aus Tarnów von Chaim Schiffer, 29.04.1946, IPN Kr. 028/2/2. Protokoll des jüdischen Kreiskomitees Tarnów, 29.06.1946, AŻIH CKŻP 303/II: WOiK/113. Jüdisches Kreiskomitee Tarnów an das CKŻP in Warschau, 28.10.1946, AŻIH CKŻP 303/ XVIII/59 Centralna Komisja Specjalna 1946–1947. Protokoll des jüdischen Kreiskomitees Tarnów, 21.07.1946, AŻIH CKŻP 303/II: WOiK113. Vgl. Meldungen des PUBP in Wenklar: Nie tylko WiN i PSL, S. 459. Canin: Przez ruiny, S. 423. Pasierski: Tożsamość powojennej społeczności żydowskiej, S. 89. Jüdisches Kreiskomitee Tarnów an das CKŻP in Warschau, 28.10.1946, AŻIH CKŻP, Centralna Komisja Specjalna 303/XVIII/ 59.

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nach dem „arischen Aussehen“ zeigt, dass die Kategorien aus der deutschen Besatzungszeit in der unmittelbaren Nachkriegszeit weiterhin Relevanz für die jüdischen Überlebenden hatten, obschon weder Deutsche präsent waren noch der von ihnen gesetzte Rahmen aus der Besatzungszeit existierte.84 Aufgrund der verschärften Sicherheitslage erteilte das jüdische Kreiskomitee schließlich Ende Oktober 1946 den Jüdinnen und Juden von Tarnów die Weisung, sich während der näher rückenden Wahlen nicht in Gruppen in der Öffentlichkeit aufzuhalten. Die politische Situation war angespannt, da die (manipulierten) Wahlen zum Sejm im Januar 1947 die schrittweise Machtübernahme der PPR (Polska Partia Robotnicza/ Polnische Arbeiterpartei) sichern sollten. Die lokalen jüdischen Anführer fürchteten, dass sich die politischen und gesellschaftlichen Spannungen an Jüdinnen und Juden „entladen“ könnten. Unmittelbar nach dem Kielcer Pogrom verließen über 300 Jüdinnen und Juden Tarnów, darunter der Bundist Aron Sporn, Mitglied des Vorstands des Kreiskomitees.85 Auch Israel Unger und sein Bruder Kalman reisten 1946 auf Grund der sich mehrenden antisemitischen Überfälle aus. Die Ungers sowie Aron Sporn fanden schließlich ein neues Zuhause in Kanada. Diejenigen, die in Polen verblieben, versuchten, die jüdischen Gemeinden zu schützen. Unter Usher Bleiweis entstand 1946 in Tarnów eine „Spezialkommission“ (Komisja specjalna), die es sich zur Aufgabe machte, Juden und Jüdinnen zu verteidigen. Diese Spezialkommissionen zur Selbstverteidigung wurden auch in anderen Städten unter den Auspizien des CKŻP eingerichtet. Usher Bleiweis verhandelte mit den Sicherheitsbehörden von Tarnów, er zeichnete einen genauen Plan der Innenstadt auf, markierte, in welchen Häusern Jüdinnen und Juden wohnten und die jeweilige Wegstrecke der Miliz. Die 18-Mann starke jüdische Truppe zur Selbstverteidigung hatte feste Wachposten und besaß insgesamt 16 Gewehre mit Waffenscheinen.86 Aber auch sie konnte nicht verhindern, dass im März 1947 ein Mitglied des jüdischen Kreiskomitees, Henryk Buan, erschossen wurde.87 In der Fachliteratur zum Antisemitismus in der Nachkriegszeit in Polen werden natürlich die schrecklichen Ereignisse während der Pogrome von Kielce (1946) und Kraków (1945) beschrieben oder zumindest erwähnt. Die vorliegende Studie zu Tarnów zeigt aber deutlich, wie bedrohlich die Sicherheitslage von Jüdinnen und Juden überall war, auch in den Orten, die in der 84 85 86 87

Pasierski: Tożsamość powojennej społeczności, S. 89. Protokoll des jüdischen Kreiskomitees Tarnów, 26.09.1946, AŻIH CKŻP 303/II: WOiK/113. AŻIH CKŻP, Centralna Komisja Specjalna 303/XVIII/59 Das Kreiskomitee lobte 10  000 Złoty Belohnung für die Ergreifung der Mörder aus. Protokoll des Präsidiums des jüdischen Kreiskomitees vom 20.03.1947, AŻIH CKŻP, WOiK 303/II/113.

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Forschung bisher wenig Aufmerksamkeit bekamen, gerade weil hier keine verdichteten Gewaltexzesse stattfanden.88 Es stimmt, in Tarnów kam es zu keinem Pogrom, und doch wurden Jüdinnen und Juden wiederholt Opfer von physischer Gewalt, von Raubüberfällen und Tötungsdelikten. Insgesamt konnten in dieser Studie sieben jüdische Mordopfer zwischen 1945 und Frühjahr 1947 ermittelt werden. Die Stimmungsberichte und die Briefkorrespondenz der Sicherheitsorgane (PUBP), des jüdischen Kreiskomitees und des Tarnower Bund lassen den Eindruck entstehen, dass nur ein Funke genügt hätte, damit sich die Ereignisse noch gewaltvoller überschlugen. Das jüdische politische Leben Unmittelbar nach Kriegsende entstanden jüdische Parteien in Tarnów wie der zionistische Ichud, die linke Poale Zion und der Bund, welcher unter der Führung von Usher Bleiweis schnell zur stärksten jüdischen Partei der Stadt aufstieg.89 Im November  1945 zählte er 85 Mitglieder, im Juni 1946 bereits 132.90 Der Bund organisierte die Jugendgruppe Tsukunft, in welcher auch Jiddischkurse angeboten wurden.91 Bald konnte der Bund sein altes Gewerkschaftshaus, das nun nach B. Michalewicz benannt wurde, im alten GrabówkaViertel beziehen. 1946 entsandte der Bund ein Mitglied, Usher Bleiweis, in den städtischen Nationalrat (so hieß nun der „Stadtrat“). 1947 folgte ihm ein zweiter Bundist, Leon Gotlob. Letzterer war bereits vor dem Krieg im Tarnower Bund aktiv gewesen. Als die Deutschen Tarnów besetzt hatten, floh er in die Sowjetunion. Seine Ehefrau und seine beiden Kinder wurden während der Shoah in Tarnów ermordet. Gotlob trat in der Sowjetunion in die Anders-Armee ein und kämpfte unter anderem in Italien.92 Nach Kriegsende traf er in Rom eine Tarnower Jüdin, Zofia Flaumenhaft, die er aus Vorkriegszeiten kannte und die das Tarnower Ghetto und mehrere Konzentrationslager überlebt, aber ihren Ehemann und ihr Kind verloren hatte. Beide heirateten, bekamen noch zwei Kinder, und gingen nach London. Doch Gotlob wollte unbedingt den Bund in Tarnów wieder aufbauen und so entschied er sich 1947, bewusst aus London 88 89 90 91 92

Für eine Studie zu Radom siehe Krzyżanowski: Dom, którego nie było. Ichud – zionistische Partei in Polen 1944–1950; dem Ichud in Tarnów stand Marek Kohn vor, siehe Informationssammlung des Sicherheitsdienstes: IPN Kr 07/1882; Kwiek: Dzieje ludności żydowskiej, S. 196. Mitgliederliste, 28.11.1945; Mitgliederliste vom 06.06.1946, AAN 1214: Ogólnopolski Żydowski Związek Robotniczy Bund w Polsce 1900–1948 30/IV/2, Bd.6: Korespondencja z Tarnowem. Korrespondenz des Vorsitzenden des Bund in Tarnów mit dem ZK des Bund in Warschau, 26.01.1947 AAN 1214: Bund w Polsce 1900–1948 30/IV/2, Bd.6: Korespondencja z Tarnowem. Wenklar: Nie tylko WiN i PSL, S. 457.

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nach Tarnów zurückzukehren.93 Nun war der Bund durch ihn und Bleiweis erneut im städtischen Nationalrat vertreten, obschon in einem gänzlich anderen politischen und gesellschaftlichen Kontext als vor dem Krieg.94 Die Zusammenarbeit zwischen Bund und PPS begann erneut und fußte auf persönlichen Bekanntschaften aus Vorkriegszeiten. 1945 wurde Eugeniusz Sit von der PPS zum Stadtpräsidenten gewählt.95 Sit war während der Zweiten Republik in der Gewerkschaft der Bahnarbeiter aktiv und ein stadtbekannter PPS-Aktivist, der ab 1939 ein Mandat im Stadtrat für die Partei innehatte. Auch war er 1937 von einem ONR-Aktivisten angeschossen worden. (Władysław Ł. hatte damals die Waffe besorgt).96 Es ist mehr als wahrscheinlich, dass die beiden Gewerkschaftler Sit und Bleiweis sich bereits vor dem Krieg gekannt hatten. Am 7. Oktober 1945 fand eine Bund-Veranstaltung statt, bei der auch der Stadtpräsident Eugeniusz Sit anwesend war und das Wort ergriff. Er unterstrich, dass „PPS und Bund immer unter einer Standarte gekämpft haben und weiterhin zusammenarbeiten werden.“97 PPS und Bund knüpften bewusst an die Tradition der engen Kooperation aus der Vorkriegszeit an. Zum ersten Mai 1946 marschierten sie wieder zusammen durch die Stadt, nun auch mit der der PPR (Polnische Arbeiterpartei) (vgl. Abbildung 78). Die Zusammenarbeit der zwei Parteien, die so eine lange Tradition in Tarnów besaß, währte im Polen der Nachkriegszeit allerdings nicht lange, da die Machtübernahme durch die moskautreue PPR immer weiter voranschritt. Doch zunächst hatte die PPS großen Einfluss in der Lokalbevölkerung gewonnen, war die stärkste Partei in der Stadt und lief der PPR den Rang ab. Im November  1946 hatte die PPS im gesamten Landkreis Tarnów 2270 Mitglieder (die meisten in der Stadt), die PPR dagegen 760.98 Die Sicherheitsbehörden beäugten die PPS kritisch und sammelten seit 1945 gezielt Informationen gegen den Stadtpräsidenten von der PPS, Eugeniusz Sit. In den Berichten hieß es, Sit würde den „geheimen Kampf“ gegen die PPR befeuern.99 93 94 95 96 97 98 99

Gotlob, Sophie: Interview 16833, 03.07.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). Korrespondenz des Vorsitzenden des Bund in Tarnów mit dem ZK des Bund in Warszawa, 22.08.1947 AAN 1214: Bund w Polsce 30/IV/2, Bd.6: Korespondencja z Tarnowem. Vgl. Sitzungsprotokoll des städtischen Nationalrats, 14.06.1945, ANKr. Odd. T 33/2/ PNMRT I/1, S. 73. Zu Władysław Ł. siehe Kapitel 4 „Das Fallbeispiel Marian H. und Władysław Ł. oder: Hinführung zum Thema“ sowie Kapitel 7.3.3 „In den Werkstätten“. Brief des Bund-Vorsitzenden in Tarnów Usher Bleiweis an das Zentralkomitee des Bund vom 10.10.1945, AAN 1214: Bund w Polsce 30/IV/2, Bd.6: Korespondencja z Tarnowem. Situationsbericht UBP in Tarnów, 16.11.1946, IPN Kr 028/7, Bd. 1. Operative Berichte der PUBP vom 01.09.1945, 05.09.1945, 16.10.1945, IPN Kr  028/1/4; 03.12.1945, 10.12.1945, IPN Kr 028/2/2.

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Abbildung 78 Am 1. Mai 1946 in Tarnów

Im Zuge der weiteren Machtübernahme durch die PPR und der schrittweisen „Stalinisierung“ Polens wurden 1948 PPS-Mitglieder, die sich der Vereinigung mit der PPR entgegenstellten, nach und nach politisch „ausgeschaltet“. Auch Sit wurde als Stadtpräsident 1948 abgesetzt. Im Dezember desselben Jahres vereinigten sich auf Landesebene PPR und PPS zur Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP). Auch die Bauernpartei PSL wurde immer weiter ausgehebelt, bis die Partei sich 1949 in ihrer alten Form auflöste. Im Zuge der immer weiter voranschreitenden politischen Vormachtstellung der PVAP wurden andere politische Kräfte gegeißelt. Auch die jüdische Minderheit, mit ihren diversen politischen Parteien und dem pluralistisch geführten CKŻP, büßte ihre relative Autonomie zunehmend ein. 1949 löste sich die Tarnower Abteilung der Ichud Partei auf. Der Bund geriet zunehmen unter Druck. Der oben erwähnte Tarnower Bundist Leon Gotlob, der aus London nach Polen zurückgekehrt war, wollte sich zunächst dem Diktat der PVAP nicht beugen. Im März 1949 wurde er verhaftet und zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt.100 Seine Frau Zofia Gotlob blieb nun mit zwei Kleinkindern allein in Tarnów.101 Die noch 1949 verbliebenen Parteimitglieder lösten den Bund schließlich auf und riefen zum Eintritt in die PVAP auf. Die PVAP-Zelle in 100 Wenklar: Nie tylko WiN i PSL, S. 457, Gotlob, Sophie: Interview 16833, 03.07.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). 101 Ebd.

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Tarnów verifizierte die einzelnen Bundmitglieder, erlaubte aber nur 15 von ihnen, sofort in die Partei einzutreten.102 Das CKŻP musste 1950 seine Tätigkeit beenden und wurde von dem neugegründeten TSKŻ abgelöst. Das TSKŻ, also der sozial-kulturelle Verband der Juden in Polen, entstand im Grunde durch die Verschmelzung zweier Institutionen, des CKŻP und der Jüdischen Kulturgesellschaft. Seine Funktion unterschied sich stark von den „Vorgängern“. Es fungierte in erster Linie nicht mehr als relativ autonome Wohlfahrtseinrichtung für jüdische Überlebende, sondern übernahm die „Rolle eines Transmissionsriemens zwischen Partei und der jüdischen Bevölkerung“.103 Das TSKŻ informierte seine Mitglieder regelmäßig in Plenarsitzungen über Beschlüsse des Plenums des Zentralkomitees der PVAP oder über aktuelle Mitteilungen zum Sechsjahresplan. Im Jahr 1951 zählte die Tarnower Sektion  47 Mitglieder und 1954 84 Mitglieder.104 Usher Bleiweis, der vom Bund in die PVAP eingetreten war, saß nun dem TSKŻ in Tarnów vor. Er war zugleich im Vorstand der Naftali-Botwin-Kooperative und hielt ein Mandat im städtischen Nationalrat. In ihm schienen auf lokaler Ebene alle Stränge der Parteiinstitutionen und der ihr unterliegenden jüdischen Einrichtungen zusammenzulaufen. Tatsächlich fungierte das städtische PVAPKomitee als Kontroll- und Leitinstanz der TSKŻ-Abteilung. In Konfliktfällen innerhalb der Tarnower TSKŻ-Abteilung sollte beispielsweise nicht die TSKŻZentrale in Warschau schlichten, sondern die Tarnower PVAP.105 Die Partei konnte Versammlungen zu den Vorstandswahlen des TSKŻ absagen.106 Mitglieder des Ortskomitees der PVAP sowie des Nationalrates wurden zu allen öffentlichen Veranstaltungen der TSKŻ und regelmäßig zu den Sitzungen des Vorstandes eingeladen. Die Partei hatte ein Mitspracherecht in Fragen der Mitgliedschaft. Der TSKŻ konnte seine Mitglieder beispielsweise nicht entlassen, wenn sie gleichzeitig Parteimitglieder waren.107 In der Forschung zu jüdischen Institutionen wird häufig vor allem die Zentrale in Warschau in den Blick genommen, die lokalen Filialen werden – wie in einer Pyramide – als ihre Ableger untersucht. Dreht man dem Blick vom Zentrum in die Peripherie um und schaut aus der Perspektive einer Stadt auf die Institution, so wird noch eine andere Dimension deutlich: Erst so wird sichtbar, wie sehr die jüdischen Institutionen in den einzelnen Ortschaften mit den kommunalen 102 103 104 105 106

Kwiek: Dzieje ludności żydowskiej, S. 197. Protokoll des Vorstands des TSKŻ am 12.05.1953, AŻIH TSKŻ 325/266. Kwiek: Dzieje ludności żydowskiej, S. 207. Protokoll der Versammlung des Aktivs der TSKŻ am 19.07.1953, AŻIH TSKŻ 325/266. Protokoll der Versammlung des Aktivs des TSKŻ in Tarnów vom 22.09.1953, AŻIH TSKŻ 325/266. 107 Vgl. z. B. Protokoll des Vorstands der TSKŻ vom 23.03.1954, AŻIH TSKŻ 325/266.

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Parteizellen der PVAP verbunden, bzw. wie abhängig sie von letzteren waren. Diese horizontale Verflechtung zwischen lokalen TSKŻ- Filialen, den PVAPZellen und den städtischen Nationalräten wird erst durch den Blick auf die mittelgroßen Städte nach dem Krieg deutlich. Entsprechend der Vorstellung, dass der TSKŻ ein Transmissionsriemen der Partei war, gehörte zu seinen wichtigsten Aufgabenfeldern die Agitation der jüdischen Bevölkerung vor Wahlen, etwa zum Sejm oder zu den städtischen Nationalräten. Als die Wahlen zum Nationalrat in Tarnów anstanden, kannte der örtliche TSKŻ über Monate kein anderes Thema. Ziel war es, dass „jeder Jude“ in der Stadt wählen geht.108 Die Kandidaten stellten sich der jüdischen Bevölkerung in den Räumen des TSKŻ und in der Naftali-Botwin-Kooperative vor, es wurden formelle Versammlungen und Vorträge abgehalten und Freiwillige rekrutiert. Dabei sollte der Partei die Unterstützung der jüdischen Bevölkerung unter Beweis gestellt werden. Usher Bleiweis ermahnte, dass „unsere Partei auf uns zählt.“109 Des Weiteren sollte der TSKŻ dazu beitragen, die Tarnower Juden „produk­ tiver“ zu machen. Die Jüdinnen und Juden von Tarnów sollten aktiv an der Verwirklichung des Sechsjahresplans beteiligt werden und so dazu beitragen, den Lebensstandard in der Volksrepublik zu heben. In den Berichten über die Errungenschaften des TSKŻ in Tarnów wurde wiederholt erwähnt, dass die Mitglieder Aktivisten („przodownicy pracy“) in der Naftali-Botwin-Kooperative waren.110 Das TSKŻ hatte nie mehr als hundert Mitglieder, organisierte einige Kul­ turveranstaltungen, einen Kinderchor, ein Mandolinenorchester und Rhyth­ mikunterricht, unterhielt eine Bibliothek und einen Klubraum. Das Ziel, Jiddischunterricht anzubieten, wurde in den 1950er Jahren jedoch nie erreicht. Der Vorstand warb unter den Mitgliedern dafür, das Abonnement der jiddischsprachigen Zeitung Folks-shtime und des Verlags Yidish bukh zu bestellen, aber das jüdische Kulturleben war weitgehend zum Erliegen gekommen.111 1956, nach dem XX. Parteitag der KPdSU, dem Tod Bolesław Bieruts und den Protesten in Poznań und anderen Städten fand in Polen ein Machtwechsel 108 Protokoll der Vollversammlung des TSKŻ am 10.10.1954, AŻIH TSKŻ 325/266. 109 Protokoll der Sitzung des TSKŻ 18.10 1954, AŻIH TSKŻ 325/266. 110 Protokoll einer außergewöhnlichen Vollversammlung des TSKŻ Odd. w Tarnowie, am 04.10.1953 AŻIH TSKŻ 325/266; Protokoll des Vorstands des TSKŻ am 25.06.1954, 03.02.1955, 07.02.1955 AŻIH TSKŻ 325/266 und 267, Protokoll des Vorstands des TSKŻ samt aller Kommissionen und Sektionen am 14.02.1956, AŻIH TSKŻ 325/267. 111 Vgl. z. B. Protokoll der Sitzung des TSKŻ vom 04.05.1952, AŻIH TSKŻ 325/266; Protokoll der Vollversammlung des TSKŻ am 28.02.1953, AŻIH TSKŻ 325/266; Kwiek: Dzieje ludności żydowskiej, S. 206–208.

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an der Spitze statt. Der wegen „rechtnationaler Abweichungen“ 1948 in Ungnade gefallene Władysław Gomułka wurde nun Erster Parteisekretär. Viele Menschen verbanden mit ihm die Hoffnung auf Liberalisierung, doch diese wurde alsbald enttäuscht. Zugleich war 1956, im Zuge der Proteste gegen die Machthaber, ein ansteigender Antisemitismus spürbar geworden, sowohl von unten als auch als Instrument parteiinterner Auseinandersetzungen. Denn nunmehr wurden hochrangige Parteimitglieder jüdischer Herkunft für die Verfehlungen der Partei vor 1956 angeklagt.112 Auch in Tarnów waren antisemitische Äußerungen wahrnehmbar. So beklagte sich Naftali Wulf, dass er in seiner Arbeitsstelle als Jude schikaniert wurde.113 Im Zuge der Kritik an alten Kadern wurde auch Usher Bleiweis unter dem Vorwurf angegriffen, dass er in der Naftali-Botwin-Kooperative gegenüber den Mitarbeitenden stalinistische Methoden angewendet habe.114 Der ansteigende Antisemitismus habe unter den Juden eine gewisse Panik ausgelöst, berichtete Leon Gotlob, der nach seiner Freilassung im TSKŻ aktiv geworden war.115 Eine Welle des Antisemitismus mache den Judenheiten immer mehr zu schaffen, so Gotlob im Oktober 1956.116 Als 1956 die Ausreisebeschränkungen, die zwischen 1950 und 1955 sehr restriktiv waren, gelockert wurden, nutzten viele Jüdinnen und Juden die Chance, Polen zu verlassen.117 In Folge reisten zwischen 1956 und 1959 rund 50 000 Jüdinnen und Juden aus Polen mit der so genannten Gomułka-Aliyah aus.118 Unter ihnen war Rahel Klimek, née Goldberg, die Tochter des im KZ Auschwitz ermordeten ehemaligen Tarnower Stadtrats. Sie wanderte mit ihrem Mann nach Israel aus. Im Januar 1957 verließen rund 90 % der noch in Tarnów lebenden Jüdinnen und Juden die Stadt für immer, samt des gesamten Vorstands des TSKŻ. Obwohl Gotlob weiterhin für das TSKŻ aktiv agitierte, stellte auch er einen Ausreiseantrag. Mit seiner Frau wanderte er in die USA aus. Usher Bleiweis reiste ebenfalls aus, er verstarb 1971 in New York. Alle jüdischen Institutionen in Tarnów wurden zu Beginn des Jahres 1957 aufgelöst, nur wenige Menschen wie Abraham Ladner oder vereinzelte Familien, wie die Familie Bergman, oder die Familie Flaumenhaft, verblieben noch in der 112 113 114 115

Machcewicz: Polski Rok 1956. Sprawozdanie TSKŻ Oddzial Tarnów, 11.03.1956, AŻIH TSKŻ 325/267. Kwiek: Dzieje ludności żydowskiej, S. 210. Protokoll des Vorstands des TSKŻ Odd. Tarnów am 14.06.1956 AŻIH TSKŻ 325/267; Seine Frau Zofia Gotlob war im Vorstand der Frauensektion des TSKŻ und Józef Flaumenhaft, der Bruder ihres ersten, ermordeten Mannes, war ebenfalls im TSKŻ tätig. 116 Protokoll der Sitzung des Vorstands des TSKŻ Odd. Tarnów am 05.10.1956 AŻIH TSKŻ 325/267. 117 Zu der Entscheidungsfindungen und der Ausreise, siehe Węgrzyn: Wyjeżdżamy? 118 Kichelewski: A Community under Pressure, S. 162.

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Stadt. Als Ladner 1993 verstarb, hieß es in Tarnów, der letzte Hüter der Torah sei gegangen.119 Im selben Jahr, 1993, reiste Amos Lavyel, dem wir im Verlauf der Studie mehrmals begegnet sind, aus Haifa in seine Heimatstadt Tarnów. Hier hatte er das II.  Hetman-Jan-Tarnowski-Gymnasium besucht, hier hatte sein Vater als Arzt praktiziert und hier wurde sein Bruder Henryk ermordet.120 Am  8. September 1993 hielt Amos Lavyel eine Rede in Tarnów zum 50. Jahrestag der Ghettoliquidierung: Wenn wir durch Tarnów schreiten, erkennen wir jede Straße, jeden Winkel, jedes Haus. Jeder Ort ruft uns unsere Nächsten ins Gedächtnis, die nicht mehr da sind. Das blieb von unserem Tarnów: Erinnerungen und Steine.121

Abbildung 79 Ruine der Bima der alten Synagoge, Tarnów, zweite Hälfte der 1940er Jahre

119 Kwiek: Dzieje ludności żydowskiej, S. 211. 120 Zu Amos Lavyel (früher Leibel) siehe Kapitel  3.3 „Die Sekundarstufe – staatliche Gymnasien und die Safa Berura“ sowie Kapitel  7.2.2 „Alltag von Kindern und Jugendlichen im Ghetto“. 121 Lavyel, Amos: Rede zum Gedenken an die Liquidierung des Ghettos, Tarnów  8.9.1993. Privatsammlung Shulamith Lavyel.

Schluss Die Erzählung über Städte als polnisch-jüdische Interaktions- und Verflechtungsräume eröffnet eine alternative Sichtweise auf die Geschichte Polens. Sie bewegt sich jenseits eines nationalen Masternarrativs, das sich hauptsächlich der Geschichte ethnischer Polinnen und Polen zuwendet und Minderheiten, wenn überhaupt, separat behandelt. Die Städte in Polen waren Verdichtungsräume interethnischer Beziehungen und ihre Geschichten zeigen die vielfältigen Verflechtungen der jüdischen und nichtjüdischen Lebenswelten auf. Um es mit der Historikerin Natalia Aleksiun zu sagen, die urbane Historiographie zeigt auf, wie sehr Jüdinnen und Juden ein Teil Polens – „part of Poland’s landscape“1 – gewesen sind. Dabei ging es in dieser Studie nicht darum, Alterität zwischen der jüdischen und der nichtjüdischen Bevölkerung zu verwischen oder bestehende Machtkonstellationen der ethnisch polnischen Mehrheitsgesellschaft zu nivellieren. Vielmehr wurden Begegnungsräume mikrohistorisch untersucht, um Dynamiken der alltäglichen Interaktion in einem breiteren Zusammenhang zu verstehen. Dabei eröffnete gerade das dichte Lesen des Quellenmaterials zu ausgewählten, alltäglichen Interaktionsräumen neue Erkenntnisse über die Beziehungsdynamiken zwischen der jüdischen und der nichtjüdischen Bevölkerung in Polen. Was erlaubt uns der mikrohistorische Blick, die Verkleinerung des Untersuchungsmaßstabs, neu zu sehen? Wie der zu Beginn der Arbeit zitierte Jan Boudoin de Courtenay es formulierte: Die Bewohner eines Hauses oder eines Ortes werden auch gleiche Interessen haben, ungeachtet ihrer Herkunft oder ihrer politischen Überzeugung. Welche Rolle spielte also an diesem gemeinsamen Ort die Ethnizität in Gruppenbildungsprozessen? Um mit Rogers Brubaker zu fragen: Wann, wie und von wem wurde Ethnizität mobilisiert? Inwiefern strukturierten aber andersherum der zunehmend nationalisierende polnische Staat sowie die dominierende Kultur der römischkatholischen Mehrheitsgesellschaft diesen Prozess der Gruppenbildungen auf Lokalebene? Diese Fragen begleiteten den ersten Teil der Arbeit zur Zweiten Polnischen Republik. Deutlich geworden ist, dass sich die Geschichte der Städte nicht ohne Jüdinnen und Juden erzählen lässt, ja, dass ihre Behandlung als eine separate Gruppe der historischen Realität weitestgehend nicht entsprach. Die Judenheiten Polens waren sehr heterogen und bildeten keine geschlossene, homogene Interessengruppe. Urbane Gesellschaften formierten sich lange Zeit – und das 1 Aleksiun: Setting the Record Straight, S. 128.

© Brill Schöningh, 2022 | doi:10.30965/9783657760091_014

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wird am Beispiel des Stadtrates überaus deutlich – nach diversen Kategorien. Stadträte bieten insofern einen bedeutenden Untersuchungsgegenstand für Beziehungen zwischen der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung, da erstere eine mehrheitlich urbane Population war und der Stadtrat zur Arena der Aushandlung von politischer Teilhabe wurde. Des Weiteren waren in der Stadt Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse völlig anders gelagert als auf Gesamtlandesebene. Immerhin war die Hälfte der Wählerschaft in Tarnów jüdisch und diese Tatsache beeinflusste Wahlprogramme und -kämpfe auf Lokalebene. So konnte sich zum Beispiel die Nationaldemokratie erst Ende der 1930er Jahre in Tarnów etablieren und hatte keine nennenswerten Wahlerfolge auf städtischer Ebene. In den ersten Jahren der Zweiten Polnischen Republik war der Tarnower Stadtrat einerseits geprägt von den Traditionslinien der k.u.k. Monarchie. Die alten Eliten regierten weiterhin die Stadt, waren aber um einen (interethnischen und politischen) Ausgleich bemüht. Die seit 1906 gepflegte Tradition eines nichtjüdischen polnischen Bürgermeisters und seines jüdischen Stellvertreters zeugt von diesen Ausgleichsbemühungen, allerdings nur innerhalb der bürgerlich-vermögenden Schicht. Andererseits verlangten die homines novi – allen voran Zionisten und Vertreterinnen und Vertreter der Arbeiterschichten  – Teilhabe an der Politik und Mitbestimmung. Dies war jedoch erschwert, da im alten Galizien weiterhin das Dreiklassenwahlrecht für lokale Gremien bestehen blieb. Die Neuordnung der territorialen Selbstverwaltung für ganz Polen verzögerte sich durch die Uneinigkeit im Sejm. Denn die Frage nach einer flächendeckenden Regelung der Lokalgremien war eng verflochten mit solch grundlegenden Entscheidungen, wie weit die Zentralisierung des Staates gehen und wie viel Autonomie Stadtparlamenten zugebilligt werden sollte. Damit war wiederum die Frage nach der Autonomie und Stellung von Minderheiten verbunden. Besonders in den östlichen Regionen der Zweiten Polnischen Republik, in denen nationale Minderheiten einen hohen Bevölkerungsanteil stellten, wäre diesen sehr viel Macht durch die Autonomie lokaler politischer Gremien zugekommen. Die Neuordnung der territorialen Selbstverwaltung war damit an eine der wichtigsten Fragen gekoppelt, die die Zweite Republik spaltete, nämlich ob Polen ein National- oder ein Nationalitätenstaat sei. Doch bereits in dieser ersten Zeit (1918–1933) wird in Tarnów sichtbar, dass sich die Wahlgruppierungen nicht nach ethnischen Gesichtspunkten zusammenschlossen. Mit anderen Worten: Ethnizität hatte kein zusammenschweißendes Potenzial im politischen Gruppenbildungsprozess auf Lokalebene. Gerade am Beispiel der Lokalpolitik wird deutlich, dass die Stadträte unterschiedliche und variierende Konstellationen eingingen, die sich je

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nach Kontext und Situation, je nach Interessenlage und nach den Möglichkeiten, etwas zu erreichen, konstituierten. Intraethnische Konflikte und interethnische Allianzen waren in einer multikulturellen Stadt wie Tarnów an der Tagesordnung. Andere als ethnische oder religiöse Kategorien, wie politische Weltanschauungen, konkrete lokale Zielsetzungen oder die soziale und ökonomische Schichtzugehörigkeit waren bei der Entscheidungsfindung im Stadtrat lange Zeit dominierender als ethnische Selbst- oder Fremdzuschreibungen. An diesem Fallbeispiel wird klar sichtbar, dass Ethnizität kein essenzialistisches, organisches Merkmal einer Bevölkerungsgruppe, sondern ein dynamisches Konzept ist, das erst dann an Bedeutung gewinnt, wenn es mit dieser aufgeladen wird. Mit anderen Worten: Ethnizität ist nicht per se ein politisches Argument, sie wird erst zu einem politischen Argument gemacht. So etablierte sich in den ersten Jahren folgende Polarisierung im Stadtrat: Auf der einen Seite standen die alten bürgerlichen, wohlhabenderen Eliten (unter ihnen Juden und Nichtjuden), auf der anderen die Arbeiterschichten (ebenfalls jüdische und nichtjüdische Menschen). Mit der Wirtschaftskrise und Inflation von 1923 verstärkte sich diese Kluft zwischen den Arbeitenden und den bürgerlichen Eliten. Schließlich führte diese Polarisierung im Jahre 1929 zu einem bürgerlichen christlich-jüdischen Wahlblock einerseits und einem sozialistischen Block aus PPS und dem Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund andererseits. Zu keinem Zeitpunkt des Stadtrats von Tarnów gab es eine jüdische Fraktion, in der sich alle jüdischen Stadträte zu einer Gruppe zusammengeschlossen hätten. Ebenso wenig entstand ein einheitlicher ethnisch polnischer Block im Stadtrat (obwohl einige Akteure dies zu erreichen versucht hatten – allerdings erst im Jahre 1939 und das auch erfolglos). Nach dem Maiputsch von Józef Piłsudski im Jahre 1926 wurde – nach einer anfänglichen, auch für die PPS hoffnungsvollen Phase  – bald deutlich, dass unter dem Sanacja-Regime der Parlamentarismus immer weiter ausgehöhlt wird. Für die Oppositionsparteien wie PPS und Bund, besonders nach den Verhaftungen von Sejm-Abgeordneten im Jahr 1930, wurden die Stadträte zur letzten Bastion der Demokratie. Ihnen wurde eine kompensatorische Ersatzfunktion in dem zunehmend autoritären Regime unter Piłsudski zugeschrieben. Doch in Galizien war dieses Potenzial durch das Dreiklassenwahlrecht bis 1933 verhindert. Die Polarisierung zwischen Sanacja-Anhängern, also dem Pro-Regierungslager, und der linken Opposition verstärkte sich auch in Tarnów zusehends. Diese Polarisierung war aber nicht von ethnischen Gesichtspunkten geprägt. Zudem wurde erkennbar, dass in den Jahren 1926 bis 1929 jüdische Institutionen vom Stadtrat großzügig gefördert wurden. Mit der ustawa scaleniowa (Vereinheitlichungsgesetz) von 1933 änderte sich die Lokalpolitik grundlegend. Durch die Vereinheitlichung der territorialen

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Selbstverwaltung in ganz Polen wurde auch das alte galizische Dreiklassenwahlrecht für die Stadtratswahlen abgeschafft. Das führte zu einem Demokratisierungsschub in Tarnów, was paradox erschien, denn zugleich galt die ustawa scaleniowa als ein Schritt zur Einschränkung der Gemeindeautonomie in einem zunehmend autoritären Regime unter Piłsudski. Stadträte sollten nunmehr primär als Transmissionsriemen fungieren, die zur Aufgabe hatten, die staatlichen Direktiven auf Lokalebene zu implementieren. In Tarnów jedoch hatten 1934 erstmals die Stimmen aller Wahlberechtigten das gleiche Gewicht. In dem Wahlkampf von 1933/1934 waren fast alle Wahlgruppierungen ethnisch gemischt: Die PPS und der Bund hatten eine gemeinsame Wahlliste, ebenso ein Zusammenschluss von jüdischen und nichtjüdischen Immobilieneigentümern, und auch in der Pro-Regierungsliste der Sanacja-Unterstützer waren Aguda-Mitglieder und Anhänger diverser jüdischer religiöser Grup­ pierungen versammelt. Die einigende Klammer der Sanacja-Gruppierung war allein die Unterstützung für Piłsudski. In diesem Wahlkampf setzte das Sanacja-Lager auf lokalpolitischer Bühne auf das einigende staatsbürgerliche Konzept. Die Politik sollte „entpolitisiert“ werden und alle Staatsbürger und -bürgerinnen sollten für die Gesundung (wörtliche Übersetzung von Sanacja) des Staates tätig werden, unabhängig von ihrer Nationalität oder religiösen Ausrichtung. Ethnizität trat hinter das Primat des für das Staatswohl arbeitenden Bürgers (oder Bürgerin) zurück. Sogar der spätere lokale Anführer der Endecja hatte im Wahlkampf 1933/1934 noch für die Stimmen der Jüdinnen und Juden geworben. Lokalpolitik in einer Stadt, in der die Hälfte der Wählerinnen und Wähler jüdisch war, war ohne sie nicht zu machen. So schien es zumindest noch im Wahlkampf von 1933/1934. Doch die Zionisten kritisierten bereits während des Wahlkampfes, dass diese Entpolitisierung der Ethnizität im Grunde verschleiere, dass es keine wirkliche Repräsentanz spezifisch jüdischer Interessen innerhalb des SanacjaLagers und des Stadtrats geben würde. Laut den Zionisten brauchte das ProRegierungslager die Jüdinnen und Juden lediglich, um Wahlen zu gewinnen. Danach würden Juden des Sanacja-Lagers nicht fähig sein, jüdische Positionen zu vertreten. Daraus entbrannte eine (innerjüdische) Auseinandersetzung darüber, was jüdische Repräsentanz und Teilhabe an den lokalen politischen Machtstrukturen bedeutete (Kapitel 2.3 „Der demokratische Stadtrat 1933– 1939“). In den Stadtratswahlen 1934 erreichte das Sanacja-Lager die absolute Mehrheit im Tarnower Stadtrat. In ganz Polen dominierte der BBWR, also der Parteilose Block zur Zusammenarbeit mit der Regierung, die Lokalwahlen von 1933/1934, was erhebliche Vorwürfe von Wahlmanipulationen nach sich zog.

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Die sozialistische Opposition aus PPS und Bund war nun im gemeinsamen sozialistischen Klub im Stadtrat vertreten. In den ersten Jahren des frei gewählten Stadtrats von Tarnów hatte die Opposition aber kaum Wirkungsmöglichkeiten, ja nicht einmal die Gelegenheit zu debattieren, da das ProRegierungslager das Gremium dominierte. Doch seit Anbeginn der Amtszeit des Stadtrates 1934 brachen Auseinandersetzungen über den Stellenwert von Juden im Stadtrat, über Teilhabe von Juden an lokaler Macht und über die Repräsentanz jüdischer Interessen auf – und diese Diskussionen waren bereits 1934 an die Wahl Zygmunt Silbigers zum zweiten Vizepräsidenten Tarnóws gekoppelt. Nehmen wir nun den Silbiger-Streitfall von 1936 in den Fokus der Betrach­ tung, so ergeben sich übergreifende Fragen: nach der Rolle von Ethnizität bei der Aushandlung der Teilhabe an lokalen Machtstrukturen, nach der Selbst- und Fremdzuschreibung des Jüdischseins in der Moderne, nach der politischen Instrumentalisierung von Ethnizität sowie nach der Verfasstheit der Zweiten Polnischen Republik als National- oder Nationalitätenstaat und der Stellung der jüdischen Minderheit in dieser. Die Analyse der Kontroverse um die Person Silbigers im Jahr 1936 weist Mechanismen der schrittweisen Politisierung und Instrumentalisierung von Ethnizität auf. Diese speisten sich sowohl aus einer lokalpolitischen Dynamik als auch aus nationalpolitischen und internationalen Entwicklungen. Lokalpolitische Antagonismen waren eng verflochten mit innerjüdischen und in die Allgemeinheit zielenden Disputen über den Platz der Judenheiten in der Gesellschaft der Zweiten Polnischen Republik. Die zunehmende Salonfähigkeit des Antisemitismus und die Gewaltbereitschaft gegenüber Jüdinnen und Juden, die auch in Tarnów in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre immer spürbarer wurden, verschärften die Spannungen weiter. Als die Affäre Silbiger im Jahre 1936 aufflammte, bündelten sich in ihr wie in einem Prisma unterschiedliche Konfliktpotenziale. Zunächst muss der gesamtgesellschaftliche Kontext in Betracht gezogen werden. Nach dem Tod von Józef Piłsudski im Mai 1935 zerfiel das alte BBWR-Lager und es formierte sich an seinem rechten Rand eine neue Gruppierung, die sich letztlich als OZN (OZON) im Februar 1937 konsolidierte. Der Rechtsruck in der polnischen Politik nach Piłsudskis Tod 1935 sowie der zunehmende Nationalismus und Antisemitismus in der späten Zweiten Polnischen Republik begünstigten jene politischen Kräfte, die ein ethnozentriertes, nationales und exkludierendes Programm verfolgten. In diesem Sinne muss die Auseinandersetzung um den Verbleib des letzten Juden Zygmunt Silbiger im Präsidium einer mittelgroßen Stadt in einem übergreifenden Zusammenhang betrachtet werden. Letztlich ging es auch darum, wie der „nationalisierende Staat“ agierte und die Exklusion

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von Jüdinnen und Juden bis in die Peripherie vorantrieb. Die Entwicklungen in ganz Europa, die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Deutschland, die Erlassung der Nürnberger Gesetze 1935 oder auch der Spanische Bürgerkrieg wurden in Tarnów sehr genau und für die jüdische Minderheit als bedrohlich wahrgenommen. Wie sich in Tarnów antisemitische Muster und Judenfeindschaft Bahn brachen, wurde im Kapitel 2.3.3 „Der Fall Silbiger 1936 – und der Antisemitismus in Polen“ genauer dargestellt. Am Beispiel Tarnóws konnte gezeigt werden, wie der Diskurs um den Stadtrat, der zunächst auf das staatsbürgerliche Konzept von Zugehörigkeit ausgerichtet war, von einem ethno-national zentrierten verdrängt wurde. Doch diese Entwicklung bedeutete auch, dass die mit dem Fall Silbiger manifest gewordene Judenfeindschaft in der Stadt bereits mehr oder weniger latent im gesellschaftlichen Gefüge existent war. Wer Jüdin bzw. Jude war und wer nicht, war ein geteiltes Wissen, eine Matrix der gesellschaftlichen Ordnung, die zwar vorhanden war, aber in Alltagssituationen in unterschiedlicher Weise und unterschiedlichem Maße genutzt und politisch aufgeladen werden konnte (oder eben nicht). Solange die Lokalpolitik primär über andere Kämpfe, Konflikte, Interessen und Zusammenschlüsse funktionierte, spielte Ethnizität auf lokalpolitischer Bühne in Tarnów eine weniger bedeutende Rolle. Erst mit dem evidenten Rechtsruck an der Spitze der Politik, als der Antisemitismus „salonfähig“, als die Diskriminierung von Jüdinnen und Juden fast schon zur politischen Doktrin der späten Zweiten Polnischen Republik wurde, wurden Juden auch in Tarnów aus verantwortlichen Positionen ausgeschlossen. Um das damals weit verbreitete, ethnisch kodierte Bild von „Hausherren und Gästen“ zu evozieren, versinnbildlichte die Debatte und schließlich die Entlassung Silbigers, ja sie war eine Art Vorführung, wie nichtjüdische Polen auf lokalpolitischer Bühne ihr vermeintliches „Hausrecht“ durchsetzten und dem letzten Juden des städtischen Präsidiums die Teilhabe an der lokalen Macht verweigerten. So zeigen die Kapitel über Silbiger wie in einer galizisch geprägten Stadt antisemitische Kultur und Praxis schrittweise auf vielen Ebenen im Alltag „salonfähig“ wurden. Diesen Wandel von dem Diskurs der upaństwowienie, der Ausrichtung auf den Staat, hin zum Einzug offen antisemitischer Praktiken wurde auch am Beispiel der öffentlichen Schule genauer analysiert (Kapitel 3: „Interaktionsraum Schule“). Denn auch für die Schülerschaft und Jugend waren die späten 1930er Jahre von einem spürbaren Anwachsen von Judenfeindschaft und Diskriminierung geprägt (das wird an den Beispielen von Cesia Honig, des Strzelecki-Parks, der Staszic-Schule und der ethnischen Spaltung in der Sekundarstufe deutlich). Die Absetzung Silbigers in einer höchst antisemitischen Stimmung im Jahr 1936 zeitigte zugleich paradoxe Effekte. Die Sanacja-nahen Juden spalteten

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sich aus Protest gegen die Absetzung Silbigers vom Pro-Regierungslager ab und gründeten einen eigenständigen Jüdischen Klub. Damit verlor das Pro-Regierungslager die absolute Mehrheit und musste seitdem um die Stimmen des Jüdischen Klubs buhlen. Dieser wurde nun bei Abstimmungen zum sprichwörtlichen Zünglein an der Waage, was zur Folge hatte, dass der Jüdische Klub sowohl jüdische Interessen als auch jüdische Kandidaten auf Posten durchsetzen konnte. Das war bis dahin, als sich die jüdischen Stadträte der Parteidisziplin des Pro-Regierungslagers fügten, nicht denkbar gewesen. Themen wie Antisemitismus, Diskriminierung von Jüdinnen und Juden fanden immer häufiger Eingang in die Sitzungen des Stadtrates. Zum einen, weil sich die Situation tatsächlich immer mehr verschärfte, zum anderen, weil diese Debatten, die meist von der sozialistischen Opposition in den Stadtrat hineingetragen wurden, nicht mehr vom Pro-Regierungslager geblockt werden konnten, da dieses ohne seine jüdischen Räte keine Mehrheit besaß. Da der Jüdische Klub immer eigenständiger agierte, setzte sich in einigen Fällen auch die sozialistische Opposition mithilfe des Jüdischen Klubs gegen den Rumpf des Pro-Regierungslagers durch. Damit war eine paradoxe Situation geschaffen: Während die Politik des OZN auf gesamtgesellschaftlicher Ebene die politische Kultur und die policies im Polen der späten 1930er Jahre prägte, musste in Tarnów auf städtischer Ebene der Rumpf des ProRegierungslagers Kompromisse mit dem Jüdischen Klub eingehen, um nicht gar von der sozialistischen Opposition überstimmt zu werden. Ob auch in anderen Städten mit einer zahlenmäßig starken jüdischen Bevölkerung ähnliche Entwicklungen nach Piłsudskis Tod und dem Zerfall der BBWR sichtbar wurden, bleibt zu untersuchen. Noch 1933 war die Loyalität zum Staat, im Sinne der Unterstützung für Piłsudskis Sanacja-Regime, ausschlaggebend für das politischen Gruppieren im Stadtrat von Tarnów. Sanacja-Anhänger und sozialistische Opposition saßen sich im Stadtrat gegenüber, die ethnisch-konfessionelle Zugehörigkeit der einzelnen Mitglieder der Gruppierungen trat während des Wahlkampfes in den Hintergrund. Eine Verschiebung des Diskurses von „allen Bürgern“ gleich welcher Religion und Nationalität hin zu ethno-national definierten Gruppen war bereits beim Eklat um Silbiger im Jahr 1936 zu verzeichnen. Der Anstieg des Antisemitismus in allen Lebensbereichen, gefördert und angefeuert von den nationalisierenden politischen Entwicklungen in Warschau und international, verursachte eine ethnisch motivierte Polarisierung der Stadtgesellschaft, die bis in die Provinzen, bis in die Peripherie, bis nach Tarnów ihre Wirkmächtigkeit entfaltete. In der Wahlkampagne zum Stadtrat 1939 manifestierten sich letztlich die Effekte dieser Polarisierung. Es schien in diesem Stadtratswahlkampf keinen Raum mehr für andere Argumentationslinien oder Zusammenschlüsse

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zu geben. Im Wahlkampf 1939 schien für die Gruppierungen der Polnischen Christlichen Vereinigung und der zum ersten Mal für den Tarnower Stadtrat kandidierenden Endecja die politische Agenda deckungsgleich mit ethnischer Herkunft zu sein. Doch die paradoxe Diskrepanz zwischen gesamtgesellschaftlicher Entwicklung einerseits und alternativer Politikgestaltung in den multiethnischen Städten andererseits wurde während der Stadtratswahlen 1939 erneut sichtbar. In Tarnów gewannen PPS und Bund die absolute Mehrheit. Bei dieser Wahl wurde deutlich, dass trotz aller polnisch-nationalistischen Rhetorik ein „allpolnisches“ Bündnis in einer Stadt, in der die Hälfte der Wählerschaft jüdisch war, nicht möglich war. Vom Beispiel Tarnóws ausgehend stellt sich die Frage, ob sich unter dem Radar einer nationalistischen OZN-Politik auf gesamtgesellschaftlicher Ebene in den Städten Polens eine alternative politische Kultur gestaltete, in der PPS und Bund durchaus stark und gar mehrheitsfähig waren. Mit dem Einmarsch der Wehrmacht im September  1939 wurde die Stadtbevölkerung Tarnóws zu einer Besatzungsgesellschaft unter deutschem Terrorregime. Für die erste Kriegsphase (1939–1942) zeigt diese Studie den Prozess auf, wie sich das soziale Gewebe einer polnisch-jüdischen Stadt wandelte und zerriss. In dieser Studie werden zugleich alte soziale, ethnische und andere Konfliktlinien aus der Vorkriegszeit im Blick behalten und andererseits neue, von den Besatzern entfachte Spannungen und Gräben über den Zeitverlauf des Zweiten Weltkrieges hinweg verfolgt und deren gegenseitige Überlagerung untersucht. In der ersten Phase waren zunächst noch Nachbarschafts- und Handelskontakte zwischen der jüdischen und der nichtjüdisch-polnischen Lokalbevölkerung möglich, doch zugleich stellten die deutschen Besatzer die Jüdinnen und Juden auf die niedrigste Stufe der von ihnen oktroyierten rassistischen Hierarchie. Das von den Deutschen induzierte maligne Machtgefälle unter den ungleichen Opfern – den nichtjüdischen Polinnen und Polen einerseits und den Jüdinnen und Juden andererseits  – rief seit Beginn der Besatzung Profiteurinnen und Profiteure unter der Lokalbevölkerung auf den Plan. Zudem konnte sich dieses von den Deutschen neu eingeführte Machtgefälle zum Teil auf die bereits vor dem Krieg vorhandenen antisemitischen Muster der nichtjüdischen Lokalbevölkerung stützen. Wie rote Fäden zogen sich durch die Studie symbolische und reale Orte, an denen diese unheilvolle Dynamik versinnbildlicht wurde. Sehr schnell nach Kriegsbeginn, bereits 1940, haben die deutschen Besatzer die Führungspersönlichkeiten der Stadt, politische Eliten, Intelligenzja und

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Geistliche verfolgt, verhaftet und ermordet. Die Stadt wurde quasi „enthauptet“. Damit wurden Autoritätspersonen ausgeschaltet sowie der anfänglich durch die (politischen) Vorkriegseliten der Stadt aufgebaute Widerstand schnell durchbrochen. Auch den Terrorwellen gegen nichtjüdische Polinnen und Polen wird in der vorliegenden Arbeit Beachtung geschenkt. Dabei wird deutlich, dass die ethnisch polnischen Eliten ohne jegliche Binnendifferenzierung verfolgt wurden – sowohl der PPS-Politiker Kasper Ciołkosz als auch Vertreter der OZN-nahen Polnischen Christlichen Vereinigung und schließlich eingefleischte Antisemiten wie Maciej Bandura wurden in den Jahren 1940/1941 ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert und überlebten den Krieg nicht. Mit der Beschreibung der zweiten Phase der Judenverfolgung in Tarnów, also mit der Aktion Reinhardt im Juni 1942, nimmt die Studie die Räume Tarnóws noch dichter in den Blick. Die erste „Aktion“ wurde minutiös, fast Stunde um Stunde, dann Tag um Tag, beschrieben. Um einen möglichst multiperspektivischen Blick und eine dichte Beschreibung zu generieren, wurden für diese eine Woche der „Aktion“ Quellen der deutsche Besatzer, der jüdischen Opfer und der nichtjüdischen Polinnen und Polen genutzt und die jeweiligen Perspektiven auf das Tatgeschehen rekonstruiert. Dabei wurde erstens (1) deutlich, wie diese euphemistisch genannten „Aussiedlungen“ ins Vernichtungslager in einer Stadt, in der die jüdische Bevölkerung zu dem Zeitpunkt noch die nichtjüdische zahlenmäßig überstieg, vor sich gingen. Dass die „Aussiedlung“ letztlich zu einem öffentlich ausgetragenen Gemetzel und buchstäblichem Blutbad im Zentrum Tarnóws wurde, konnte anhand der zusammengeführten Quellen deutlich gezeigt werden (Kapitel 6 „Genozid vor der Haustür“). Zweitens  (2) wird dabei noch deutlicher, dass wir den Holocaust nicht nur als industriell betriebenen Massenmord in weit entfernten Vernichtungslagern verstehen können. Die „killing fields“ im östlichen Europa waren mehr als die Gaskammern von Auschwitz und der „Holocaust by bullets“ in der besetzten Sowjetunion. Öffentliche Massaker passierten während der „Aussiedlungsaktionen“ in mittelgroßen Städten wie Tarnów, aber auch in kleineren Städten und Städtchen des Generalgouvernements. Drittens  (3) rückt vor diesem Hintergrund der Nähe und Unmittelbarkeit der Gewalt an den Jüdinnen und Juden die Rolle ihrer nichtjüdischen Nachbarinnen und Nachbarn in ein anderes Licht. Die polnische Lokalbevölkerung brauchte kein Abstraktionsvermögen, um sich vorzustellen, was genau mit der jüdischen Bevölkerung passierte. Es ging nicht darum zu erahnen, was den abgeholten Jüdinnen und Juden bevorstand. Die nichtjüdischen Bewohnerinnen und Bewohner Tarnóws erlebten vielmehr hautnah, mit allen Sinnen, den Genozid an der jüdischen Bevölkerung ihrer Stadt. Erstere waren nolens-volens

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involviert und gezwungen, sich zu der Shoah „vor ihrer Haustür“ irgendwie zu verhalten. Sie waren Teil des Kräftefeldes der Shoah, das die deutschen Besatzer geschaffen haben, und mussten sich in diesem bewegen. Die unterschiedlichen Verhaltensmodi lote ich im Verlauf der Arbeit aus, besonders in den Kapiteln  6.4  „Die Schauplätze“ sowie 6.6  „Die Shoah im Stadtraum und die Reaktionen der nichtjüdischen Bevölkerung“ und zusammenfassend im Kapitel 11 „Zur Rolle nichtjüdischer Polinnen und Polen während der Shoah – ein Fazit“. Viertens (4) werden durch die dichte Beschreibung, aufgrund derer die Tathergänge möglichst genau rekonstruiert wurden, neue Akteure sichtbar. Das gilt in diesem Fall insbesondere für die Tatbeteiligung der jungen Polen vom Baudienst, die ich im Kapitel 8 „Polen in Uniform“ näher analysiert habe. Ohne den mikrohistorischen Blick werden diese Akteure zuweilen in der Forschung über-lesen. Mit der Schließung des Ghettos brannte sich die Hierarchisierung der ungleichen Opfer der deutschen Besatzungsherrschaft in den Stadtraum von Tarnów ein. Der non-Jewish space wurde durch die Abwesenheit von Jüdinnen und Juden markiert. Diese waren entweder ermordet oder ins Ghetto gesperrt. Doch sie hinterließen Dinge, Wohnungen, Betriebe. Wie sich die deutschen Besatzer daran bereichert haben und wie nichtjüdische Polinnen und Polen sich dieser – zum Teil auch gegen den Willen der deutschen Besatzer – bemächtigten, wurde anhand verschiedener Dokumente rekonstruiert. Wie sehr nichtjüdische Polinnen und Polen in dem durch die Deutschen geschaffenen Kräftefeld der Shoah involviert waren und darin agieren mussten, wie sie sich im Alltag entscheiden mussten, etwas zu nehmen oder darauf bewusst zu verzichten, wurde im Kapitel 7.1.1 „Die Hälfte der Stadt und ihre Dinge – der Raub jüdischen Eigentums“ dargestellt. Die Beschreibung des Jewish space zeigte Überlebenswege der im Ghetto Verbliebenen auf (Kapitel  7.2 „Jewish space – Überleben und Sterben im Ghetto“). Deutlich wurde, wie sehr „das Ghetto“ ein Überbegriff für sehr diverse jüdische Erfahrungen war. Denn das Leben und Sterben im Ghetto Tarnów unterschied sich von den großen Ghettos wie Warschau oder Łódź, die oft unsere Vorstellung von „dem Ghetto“ prägen. Das Ghetto in Tarnów wurde erst nach der ersten „Aussiedlungsaktion“ im Juni 1942 geschlossen und wiederholt durch weitere „Aussiedlungsaktionen“ dezimiert und verkleinert. So wurden Netzwerke im Ghetto, Beziehungen, Versuche, sich zu organisieren oder gar ein „Leben“, einen Alltag im Ghetto aufzubauen, immer wieder unterbrochen und vereitelt. Hunger – ein wichtiges Merkmal der „indirekten Vernichtung“ in den großen, während der ersten Phase der Shoah geschlossenen Ghettos – überwiegt nicht in den Erinnerungen der Überlebenden aus Tarnów. Des Weiteren war Tarnóws Ghetto semi-geschlossen. Die Jüdinnen und Juden

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wurden zu Werkstätten außerhalb des Ghettos geführt, wo sie mit nichtjüdischen Polinnen und Polen arbeiteten. Interaktionsräume der jüdischen und nichtjüdisch-polnischen Bevölkerung während der Ghettozeit wurden in der vorliegenden Studie ebenfalls dargestellt: Die Begegnungen und der Handel am Zaun (Kapitel 7.3.1. „Am Zaun), wie Jüdinnen und Juden den Zaun überquerten und sich auf der „arischen“ Seite zurechtfinden mussten – häufig unter dem wachenden Blick nichtjüdischer Polinnen und Polen, wurden wiederholt thematisiert sowohl im Kapitel 7.3.2 „Über den Zaun – auf der ‚arischen‘ Seite“ als auch im Kapitel 9.1.1 „Entscheidung, das Ghetto zu verlassen“, und schließlich die Begegnung in den Werkstätten (Kapitel 7.3.3 „In den Werkstätten“). Ein zentraler Punkt dieser Studie war das Verhalten bzw. die Rolle der nichtjüdischen Polinnen und Polen während der Shoah. Dabei wurde deutlich, dass der Begriff eines Bystanders oder auch eines Zeugen oder einer Zeugin, im Sinne eines oder einer unbeteiligten Außenstehenden, zu hinterfragen ist. Zusammenfassend und detailliert bin ich darauf im Kapitel 10 „Zur Rolle nichtjüdischer Polinnen und Polen während der Shoah  – ein Fazit“ eingegangen, auf das hier ausdrücklich verwiesen wird, da es zentrale Aspekte der aus der Studie generierten Überlegungen zur Rolle der nichtjüdischen Bevölkerung während der Shoah zusammenbringt, die an dieser Stelle nicht wiederholt werden sollen. Auch die nichtjüdischen Polinnen und Polen waren Opfer des NSTerrorregimes, aber sie standen in der von den Deutschen geschaffenen Hierarchie immer noch über den ab spätestens 1942 mit aller Deutlichkeit „totgeweihten“, zunehmend als entmenschlicht wahrgenommenen Jüdinnen und Juden. Auf Lokalebene führte dieses Machtgefälle, zugleich gepaart mit judenfeindlichen Vorstellungen aus der Vorkriegszeit und noch weiter verstärkt durch die Erfahrung der Behandlung von Jüdinnen und Juden sowie ihrer grausamen Ermordung durch die deutschen Besatzer zu einer malignen und unheilvollen sozialen Dynamik. In dieser wurde Servilität der nichtjüdischen Polinnen und Polen belohnt, Profiteurinnen und Profiteure konnten einen Nutzen aus der Ermordung ihrer jüdischen Nachbarinnen und Nachbarn ziehen. Es gab keine breite Norm der Solidarität mit den verfolgten Jüdinnen und Juden. Dies wird näher ausgeführt im Kapitel 10 „Zur Rolle nichtjüdischer Polinnen und Polen während der Shoah – ein Fazit“. Jene, die unter diesen Umständen Jüdinnen und Juden halfen, taten dies entgegen der von ihnen wahrgenommenen Norm, und in fast allen Fällen war die Angst vor Denunziation oder Erpressung durch nichtjüdisch-polnische Nachbarinnen und Nachbarn sehr groß. An zahlreichen Beispielen belege ich dies im Kapitel  9 „Den Jüdinnen und Juden helfen“. Die vorliegende Mikrostudie lotet den Facettenreichtum von Hilfe als einen mehrstufigen Prozess

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aus. Dabei muss vor allem die agency von Jüdinnen und Juden im Prozess des Helfens in der Forschung künftig stärker berücksichtigt werden. Diese fragten Nichtjüdinnen und Nichtjuden aktiv nach Hilfe, organisierten sich untereinander, besorgten Papiere und Versteckmöglichkeiten und trieben die Mittel auf, um diese zu bezahlen. Helfen war demnach ein Prozess, an dem die hilfesuchenden Jüdinnen und Juden aktiv mitwirkten. Mit der Zeit verfügten Jüdinnen und Juden über immer stärker eingeschränkte Handlungsoptionen und Ressourcen. Zugleich hing der Erfolg – das Überleben der Shoah – von sehr vielen Faktoren ab, letztlich auch vom Zufall und Glück. Häufig mussten Jüdinnen und Juden den Ort, an dem sie versteckt waren, wieder verlassen, die Helfenden auf Erpressungen oder Denunziationen reagieren und den Schutzsuchenden erneut helfen, falls ein Versteck verraten wurde. Oft hatten die Helfenden nicht damit gerechnet, jemanden in der eigenen Wohnung über Jahre unterzubringen, aber einige taten es dennoch, wenn alle anderen Alternativen fehlschlugen. Die Helfenden mussten unauffällig Essen besorgen, Müll und Nachttöpfe wegschaffen, und das unter dem überwachenden Blick ihrer Nachbarinnen und Nachbarn. Die Helfenden ließen sich also auf einen äußerst gefährlichen und dynamischen Prozess ein, der ihnen selbst zu Beginn vielleicht noch gar nicht in dem Ausmaß bewusst war. Hilfe war nichts Statisches, sondern veränderte sich ständig. Die Helfenden entschieden sich also nicht nur einmal zu helfen, sondern mussten immer wieder ihre einst getroffene Entscheidung (für sich) bekräftigen. Sie mussten sich immer wieder dazu entschließen, trotz aller Hindernisse und Krisen in ihrer Haltung auszuharren und durchzuhalten, auch wenn sie dabei wiederholt in eine kritische Lage kamen. Diese Prozesshaftigkeit wird noch deutlicher, wenn wir uns die schubweise Radikalisierung der deutschen Judenvernichtung in Tarnów vor Augen führen. Einige Helfende entschieden sich, die Schutzsuchenden wieder wegzuschicken. Zum Beispiel waren einige Helfende dazu bereit, in den Verdichtungsmomenten von Verfolgung und Gewalt Jüdinnen und Juden zu beherbergen, aber wollten dies nicht über Jahre hinweg tun. Die Schutzsuchenden mussten dann eine neue Überlebensstrategie verfolgen. Viele kehrten ins Ghetto zurück, einige flüchteten erneut. Die Lage der aus den Ghettos Geflohenen wurde zunehmend prekärer, als diese „liquidiert“ wurden. Es gab keinen Ort mehr, an dem Jüdinnen und Juden noch eine „Existenzberechtigung“ besaßen. Der Begriff klingt für das Ghetto paradox, denn letztlich war dieser Ort darauf ausgerichtet, Jüdinnen und Juden zu vernichten. Zugleich war diese letzte, dritte Phase der Shoah geprägt von der extremen Radikalisierung und Brutalisierung des Krieges, von den Normverschiebungen der menschlich-moralischen Ordnung. Ein jüdisches Menschenleben war in den Augen einiger in den Jahren 1943/1944 nicht mehr viel wert

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und zugleich wurde das Verstecken von Jüdinnen und Juden immer gefährlicher. Die dritte Phase der Shoah im Generalgouvernement avancierte erst in den letzten Jahren zum Gegenstand historischer Forschung. Deren wichtigste Ergebnisse und meine eigenen Erkenntnisse aus der vorliegenden Mikrostudie habe ich im Kapitel 9.3 „Die dritte Phase der Shoah“ zusammengefasst. Betrachtet man Hilfe als einen dynamischen Prozess, der sich durch die Radikalisierung der NS-Vernichtungspraxis veränderte, so können auch ganz unterschiedliche Verhaltensweisen darin eingeschlossen werden. Es gab Menschen, die unentgeltlich halfen und altruistische Motive hatten, die lange in ihrem Entschluss zu helfen ausharrten, trotz aller Widerstände. Es gab Menschen, die sich bezahlen ließen. Es gab noch andere, die an der Hilfe zu verdienen versuchten, und jene, die Jüdinnen und Juden aus ihren Verstecken herausscheuchten, als diese die dafür verlangten Summen nicht mehr aufbringen konnten. Es gab auch „Helfende“, die schutzsuchende jüdische Frauen sexuell missbrauchten. Helfen war ein mehrstufiger, sich dynamisch entwickelnder Prozess. Das Überleben war gekennzeichnet von Trajektorien, unterschiedlichen Stationen und einem ständigen Umdisponieren. Andrzej Leder nannte in seinem Buch die Zeit von 1939 bis 1956 in Polen eine Revolution „im Wachtraum“ – eine soziale Revolution, die sich gewissermaßen ohne Zutun der polnischen Bevölkerung abspielte.2 In diesem langen Betrachtungszeitraum einer Stadt und durch den mikrohistorischen Zugang zu den polnisch-jüdischen Interaktionsräumen zeigte die vorliegende Studie auf, wie zumindest einige der Aspekte dieser Umwälzungen im Einzelnen vor sich gingen und wie sich die soziale Beschaffenheit der multiethnischen Städte Polens veränderte. Die menschlich-moralische Ordnung wurde völlig zerstört, als die Hälfte der Stadt, die Jüdinnen und Juden grausam ermordet wurden. Am Umverteilungsprozess der jüdischen Habe während und nach deren Ermordung hatten die nichtjüdischen Polinnen und Polen teil – sie bewegten sich innerhalb des Kräftefeldes der Shoah, den die deutschen Besatzer geschaffen hatten, und sie blieben buchstäblich in diesem Raum zurück, als die deutschen Besatzer wieder abgezogen waren. Die Leerstellen hinter den Jüdinnen und Juden wurden wieder aufgefüllt – die demografischen wie die sozialen. Der Historiker Borodziej schrieb von einer ethnischen Homogenisierung und Proletarisierung der Städte nach dem Krieg.3 Nun war zum Teil denkbar geworden, was polnische Nationalisten bereits vor 1939 gefordert hatten: Dass die ethnischen Polen die sozialen Stellungen der Juden in den Stadtgesellschaften übernahmen. Zudem hatten viele Bewohnerinnen und 2 Leder: Prześniona rewolucja. 3 Borodziej: Geschichte Polens, S. 260.

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Bewohner auf die Totalität der Vernichtung spekuliert4 und hielten an ihrem neuen Besitz fest, das ehemals Jüdinnen oder Juden gehört hatte, was die Beziehung zu den zurückkehrenden nachhaltig prägte. Trotz vieler Hindernisse entschlossen sich einige Jüdinnen und Juden dazu, nach dem Krieg nach Tarnów zurückzukommen. Darauf gehe ich genauer in Kapitel  11 „Ausblick: Tarnów nach dem Krieg“ ein. Obwohl es in Tarnów keinen Pogrom gab, wie durchaus in anderen polnischen Städten, konnten die Rückkehrenden letztlich langfristig kaum ein jüdisches Leben in Tarnów etablieren. Ein gewichtiger Faktor dabei war der für alle jüdischen Überlebenden spürbar gefährliche Antisemitismus der Nachkriegszeit.

4 Vgl. Janicka: Pamięć nieprzyswojona, S. 173.

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Tarnóws „Skyline“, 1930er Jahre. Foto: Jan Pazdro, aus der Sammlung des Kreismuseums Tarnów, Signatur MT-H/neg /P/2728 . . . . . . . . . 44 Abbildung 2: Straßenbahn vor dem Tarnower Bahnhof. Privatarchiv Marek Tomaszewski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Abbildung 3: Karte. Simche, Zdzisław: Plan krajobrazowy Tarnowa, 1927, aus der Sammlung des Kreismuseums Tarnów . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Abbildung 4: Das Rathaus von Tarnów. Foto: Jan Pazdro, aus den Sammlungen des Kreismuseums Tarnów, Signatur: MT-H-Neg/P/2696 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Abbildung 5: Rynek Aufstellung am Markttag, 1930. Skizze Zdzisław Simche, abgedruckt in Simche: Tarnów, S. 165  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Abbildung 6: Handel am Marktplatz I. Foto: Karol Fusiarski, aus den Sammlungen des Kreismuseums Tarnów, Signatur MT-H-Neg/P/2639  . . . . . . 50 Abbildung 7: Handel am Marktplatz II. Foto: Jan Pazdro, aus den Sammlungen des Kreismuseums Tarnów, Signatur MT-H-Neg/P/2747 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Abbildung 8: Handel am Marktplatz III, im Hintergrund der Turm der Kathedrale. Foto: Karol Fusiarski, aus den Sammlungen des Kreismuseums Tarnów, Signatur MT-H-Neg/P/ 2650  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Abbildung 9: Alte Synagoge. Sammlung des Kreismuseums Tarnów, Inw.pom. nauk. 1710 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Abbildung 10: Blick auf die Krakowska Straße mit der Straßenbahn, hinten die Türme der Missionarskirche. Sammlung des Digitalen Nationalarchivs NAC (Narodowe Archiwum Cyfrowe), Signatur 3/1/0/9-6222 . . . . . . . . . . . . . . . 54 Abbildung 11: Arbeiterinnen in der Firma „Wurzel und Daar“. Aus den Sammlungen des YIVO, Institute for Jewish Research, New York . . . . . . . . . . . . 58 Abbildung 12: Bahnwerke in Tarnów. Foto: W. Gorgul, abgedruckt in, Simche: Tarnów, Abbildung 22 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Abbildung 13: Eines der wenigen Fotos des fortschrittlichen „Tempels“ in der Sankt-Anna-Straße. Das Bild wurde bereits nach der Zerstörung aufgenommen, am 07.07.1940, Foto: Czesław Wilczyński, Privatsammlung Zbigniew Wilczyński . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Abbildung 14: Die Mikwe – das jüdische Badhaus im mauretanischen Stil. Foto: Witold Giżbert-Studnicki, aus den Sammlungen des Kreismuseums Tarnów, Signatur: Inw.pom.nauk. 2528/93 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Abbildung 15: Neue Synagoge, auch Jubiläumssynagoge genannt, 1937. Privatarchiv Marek Tomaszewski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Abbildung 16: Busbahnhof, im Hintergrund eine Synagoge. Aus den Sammlungen des Kreismuseums Tarnów, Signatur: Inw.pom.nauk 4016 . . . . . . . 67

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Abbildung 17: Einweihung des Fußballplatzes des Samson, 1939. Vorne in weiß Rahel Goldberg, später verheiratete Klimek, sitzend mit Augenklappe Salomon Goldberg, Stadtrat von Tarnów, und seine Frau Elza, die Mutter von Rahel Foto zuerst abgedruckt in: Tarne, S. 729 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Abbildung 18: Nach dem Krieg in Israel: Milek Shif (Mitte) mit Dr. Jeshajahu Feig (rechts außen mit Brille) und seine Tochter Shulamith Feig (verheiratete Lavyel) hinten mittig. Privatarchiv Shulamith Lavyel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Abbildung 19: Aufruf zur Demonstration am 1. Mai 1936. ANKr. Odd. T. 33/97 PSOT/PT 110/I DS 1369/36 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Abbildung 20: Wahlplakat SN, 1939. Archiv des Kreismuseums Tarnów, MT-H/2340 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Abbildung 21: Ergebnisse der Stadtratswahlen am 05.03.1939 in Tarnów . . . . . . . . 212 Abbildung 22: Klassenfoto an der Czacki-Schule. Aus den Sammlungen „I ciągle widzę ich twarze / And I Still See Their Faces“ Fundacja Shalom Gołda Tencer-Szurmiej (Warszawa, Polska), www.shalom.org.pl, Signatur: FS/1/0283/0001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Abbildung 23: Tabelle Schülerzahlen nach Religion und Nationalität, I. KazimierzBrodziński-Gymnasium. Erstellt anhand von: Sprawozdanie Dyrekcji Państwowego Gimnazjum im. Kazimierza Brodzińskiego w Tarnowie [za lata 1928–1937]. Tarnów 1928–1937 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Abbildung 24: Tabelle: Schülerzahlen nach Religion, II. Hetman-Jan-TarnowskiGymnasium. Erstellt anhand von Klassenbüchern: ANKr. Odd. T. 33/189: Szkoła im. Tarnowskiego/22–29  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Abbildung 25: Tabelle: Schülerzahl nach Religion, III. Adam-MickiewiczGymnasium (und Lyzeum). Erstellt nach Klassenbüchern: ANKr. Odd.T.  33/190: III Gimnazjum im. Adam Mickiewicza, 1885–1957/23–39 Katalog Główny III Gimnazjum w Tarnowie, 1922–1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Abbildung 26: Anteil jüdischer Schüler in den staatlichen Gymnasien Tarnóws. Erstellt anhand der Klassenbücher und Berichte der drei Schulen, siehe Abbildungen 23–25 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Abbildung 27: Rathaus mit deutscher Hakenkreuzfahne. Privatarchiv Marek Tomaszewski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Abbildung 28: Marktsituation, 1939. Jüdische und nichtjüdische Bevölkerung sowie die deutschen Besatzer. Im Hintergrund die neue Synagoge. Foto: Ernst Schnelle, Stadtarchiv Detmold, Nachlass Ernst Schnelle, DT N9 Nr. 75  . . . . . . 283 Abbildung 29: Marktsituation 1939, im Hintergrund die Mikwe. Foto: Ernst Schnelle, Stadtarchiv Detmold, Nachlass Ernst Schnelle, DT N9 Nr. 75  . . . . . . 283 Abbildung 30: Marktsituation 1939, im Hintergrund die Mikwe. Foto: Ernst Schnelle, Stadtarchiv Detmold, Nachlass Ernst Schnelle, DT N9 Nr. 75  . . . . . . 284

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Abbildung 31: Flüchtlinge in Tarnów. Privatarchiv Marek Tomaszewski  . . . . . . . . 290 Abbildung 32: Erste Deportation ins KZ Auschwitz aus Tarnów, Wallstraße, Juni 1940. Aus den Sammlungen des Staatlichen Museums AuschwitzBirkenau (ursprünglich aus dem Holocaust History Archive in den Niederlanden), Signatur 26701 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Abbildung 33: Verhaftung von Roman Sitko. Die Gestapo-Männer sind laut Bildunterschrift auf der Rückseite Gerhard Grunow (x) und Jerzy Kastura (+), Privatarchiv Zbigniew Wilczyński . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Abbildung 34: Gestapomänner Otto von Mallotke und Jan Nowak im Hof der Gestapo-Außenstelle Tarnów, Juni 1941. Beide Männer verkleidet mit Pfaffenmützen, Bildunterschrift auf der Rückseite: Malotki/Nowak (auf Jiddisch) und Datum (auf Polnisch), Privatarchiv Zbigniew Wilczyński  . . . . . . . . . . . . . . 300 Abbildung 35: Private Aufnahmen der Gestapo-Männer. Wer im Einzelnen hier zu sehen ist, ist nicht überliefert. Die Mutter von Zbigniew Wilczyński arbeitete als Hausmeisterin in dem Haus, in dem die Gestapo ihre Außenstelle Tarnów bezog. Sie entwendete einige private Fotografien der Männer, Privatarchiv Zbigniew Wilczyński  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Abbildung 36: Alltag während deutscher Besatzung, Lemberger Straße, im Hintergrund der Turm des Rathauses. Privatarchiv Marek Tomaszewski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Abbildung 37: Anordnung über die Festsetzung unterschiedlicher Sperrstunden für Deutsche, Polen („mit Ausnahme der Juden“) und Juden. ANKr, Odd.T, 33/ ZMTo 33, Bl. 413 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 Abbildung 38: Nichtjüdische Polinnen lassen sich am Ogród Strzelecki ablichten. Privatarchiv Zbigniew Wilczyński. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Abbildung 39: Das Haus der Familie Goldman, bis heute im Volksmund „Goldmanówka“ genannt. Foto: Augustyn Dagnan, Privatarchiv Marek Tomaszewski  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Abbildung 40: Menschen vor dem Judenrat, Folwarczna Straße 8, vermutlich Frühjahr 1940. Foto eines namentlich unbekannten Deutschen; Privatarchiv Marek Tomaszewski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Abbildung 41: Brennende alte Synagoge. Privatarchiv Marek Tomaszewski . . . . . 314 Abbildung 42: Brennende alte Synogaoge. Privatarchiv Marek Tomaszewski . . . . 314 Abbildung 43: Aleksander Plucer: Die Tora brennt   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Abbildung 44: Schaulustige laufen vor der brennenden Mühle zusammen.  Foto: Augustyn Dagnan, Privatarchiv Marek Tomaszewski . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Abbildung 45: Deutsche Besatzer, polnische Polizisten, Feuerwehr, Zivilisten und Kinder vor der Fisz-Mühle. Foto: Augustyn Dagnan, Privatarchiv Marek Tomaszewski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324

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Abbildung 46: Polnische Polizisten, Feuerwehr, Juden und Kinder an der Fisz-Mühle. Foto: Augustyn Dagnan, Privatarchiv Marek Tomaszewski . . . . . . Abbildung 47: Marktplatz, vermutlich um 1940, Filmausschnitte. Sammlung des Kreismuseums Tarnów . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 48: Marktplatz Tarnów, „Aussiedlungsaktion“, Juni 1942. Kriegstagebuch des Polizeibataillons 307, Nationalni Archiu Respubliki Belarus, Minsk, Fond 1440/Op. 3/delo 1001, 006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 49: Marktplatz Tarnów, „Aussiedlungsaktion“, Juni 1942. Kriegstagebuch des Polizeibataillons 307, Nationalni Archiu Respubliki Belarus, Minsk, Fond 1440/Op. 3/delo 1001, 006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 50: Marktplatz Tarnów, „Aussiedlungsaktion“, Juni 1942. Kriegstagebuch des Polizeibataillons 307, Nationalni Archiu Respubliki Belarus, Minsk, Fond 1440/Op. 3/delo 1001, 006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 51: Marktplatz Tarnów, „Aussiedlungsaktion“, Juni 1942. Kriegstagebuch des Polizeibataillons 307, Nationalni Archiu Respubliki Belarus, Minsk, Fond 1440/Op. 3/delo 1001, 006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 52: Marktplatz Tarnów, „Aussiedlungsaktion“, Juni 1942. Kriegstagebuch des Polizeibataillons 307, Nationalni Archiu Respubliki Belarus, Minsk, Fond 1440/Op. 3/delo 1001, 006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 53: Marktplatz Tarnów, „Aussiedlungsaktion“, Juni 1942. Kriegstagebuch des Polizeibataillons 307, Nationalni Archiu Respubliki Belarus, Minsk, Fond 1440/Op. 3/delo 1001, 006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 54: Erschießungsorte im Zentrum von Tarnów, Juni 1942 (eigene Darstellung)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 55: Ein Teil des Grabówka Viertel während des Krieges, aber vor der Ghettoisierung. Privatarchiv Marek Tomaszewski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 56: Verlauf der Ghettogrenze. Von Mitgliedern des ZBOWID in der Nachkriegszeit erstellte Karte, Autorinnen/Autoren und Jahr unbekannt, in den Beständen des ZBOWID: ANKr. Odd. T. 33/350, ZBOWID/225 . . . . . . . . . . . . . Abbildung 57: Personaldokumente Alter Siedlisker alias Karol Proszowski. ANKr. Odd. T. 33/98 PSOT/PT 26/I Ds 599/42  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 58: Meldekarte von Alter Siedlisker. ANKr. Odd. T. 33/98 PSOT/PT 26/I Ds 599/42 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 59: Ghettozaun. Foto: Augustyn Dagnan, Privatarchiv Marek Tomaszewski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 60: Magdeburger Platz. Foto: Augustyn Dagnan, Privatarchiv Marek Tomaszewski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 61: Henryk Leibels Geburtstagsfeier, 1942. Aus der Privatsammlung von Shulamith Lavyel (Haifa/Israel), der Schwägerin von Henryk Leibel . . . . .

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Abbildungsverzeichnis Abbildung 62: Werkstatt und Sattlerei von Władysław Ł. Hier arbeiteten Jüdinnen/Juden und nichtjüdische Polinnen/Polen zusammen, AAN 1521: Pomoc Polaków/12  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 63: Werkstatt und Sattlerei von Władysław Ł. AAN 1521: Pomoc Polaków/12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 64: Ruinen der neuen Synagoge und Reste des Ghettos nach dem Krieg, im Hintergrund die Mikwe. Foto: Augustyn Dagnan, Privatarchiv Marek Tomaszewski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 65: Tabelle: Anzahl der rekrutierten Baudienstleute in den Distrikten Krakau, Radom, Lublin und Galizien. Tabelle in Wróblewski: Służba budowlana (Baudienst) w Generalnym Gubernatorstwie, S. 41 . . . . . . . Abbildung 66: Diagramm: Zahlenmäßige Stärke des polnischen Baudienstes in den Distrikten Krakau, Radom, Lublin und Galizien. Diagramm erstellt nach den Zahlen aus Wróblewski: Służba budowlana (Baudienst) w Generalnym Gubernatorstwie, S. 41 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 67: Baudienstmänner Tarnów bei Flussarbeiten. Autor und Jahr unbekannt; Bundesarchiv Koblenz BArch B 162/Bild 1830 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 68: Abzeichen des Baudienstes. AAN 111: Rząd GG/498, Bl. 8  . . . . . . . Abbildung 69: Zahlenmäßige Stärke des Baudienstes im Kreis Tarnów. Nach den Meldungen über die reale Stärke der Baudienstmänner für Zigarettenzuteilungen, AAN 111: Rząd GG / 554 und 554/1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 70: Tagesablauf Baudienst. ANKr. Odd.T. ZMTo 21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 71: Material aus der Propagandaschulung für den Baudienst. AAN 111: Rząd GG /496, S. 206 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 72: Bronisława Gawelczyk mit Sara Hofmeister, ca. 1945/46. Aus den Sammlungen des Yad Vashem, YVA, Bildarchiv, Signatur: 3883/2913 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 73: Unger/Dagnan Versteck, 2001. Foto: Robert Moździerz, Privatarchiv Adam Bartosz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 74: Der Leiter des Kreismuseums Tarnów Adam Bartosz kriecht in das Unger / Dagnan Versteck, 2001. Foto: Robert Moździerz, Privatarchiv Adam Bartosz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 75: Dagnan Mühle während der Kriegszeit, im Hintergrund rechts die Czacki-Schule. Foto: Augustyn Dagnan, Privatarchiv Marek Tomaszewski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 76: Anzahl der jüdischen Bevölkerung in Tarnów 1946–1949. Zusammengestellt nach der Korrespondenz des Tarnower Kreiskomitees der Juden in Polen an das Zentralkomitee der Juden in Polen, AŻIH CKŻP, WEiS 303/V/327–339 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildung 77: Israel und Kalman Unger mit anderen Kindern auf dem jüdischen Friedhof, 1946. Privatarchiv Israel Unger  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585 Abbildung 78: Am 1. Mai 1946 in Tarnów. Privatarchiv Marek Tomaszewski . . . . . 594 Abbildung 79: Ruine der Bima der alten Synagoge, Tarnów, zweite Hälfte der 1940er Jahre. Aus den Sammlungen des Yad Vashem, YVA, Bildarchiv, Signatur: 209DO9  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598

Abkürzungsverzeichnis AAN Archiwum Akt Nowych / Archiv neuer Akten ADT Archiwum Diecezji Tarnowskiej / Archiv der Tarnower Diözese AK Armia Krajowa / Heimatarmee ANKr. (Odd. T.) Archiwum Narodowe w Krakowie (Oddział w Tranowie)/ Nationalarchiv Krakau (Abteilung Tarnów) AŻIH Archiwum Żydowskiego Instytutu Historycznego / Archiv des Jüdischen Historischen Instituts BBWR Bezpartyjny Blok Współpracy z Rządem/ Parteiloser Block zur Zusammenarbeit mit der Regierung CKŻP Centralny Komitet Żydów w Polsce / Zentralkomitee der Juden in Polen DP Displaced Persons DSAP Deutsche Sozialistische Arbeitspartei Polens GKBZH Główna Komisja Badania Zbrodni Hitlerowskich/ Hauptkommission zur Verfolgung der Hitler’schen Verbrechen IDO Institut für Deutsche Ostarbeit IPN Instytut Pamięci Narodowej / Institut des Nationalen Gedenkens JOINT American Jewish Joint Distribution Committee JSDP Jüdische Sozialdemokratische Partei KOP Komitet Opiekuńczy Powiatowy / Kreisfürsorgekomitee KZ Konzentrationslager NKVD Narodnyj komissariat vnutrennich del/Innenministerium der UdSSR NSP Narodowe Stronnictwo Pracy/Nationale Arbeiterpartei OD Ordnungsdienst ONR Obóz Narodowo Radykalny/National-radikales Lager OOB Organizacja Orła Białego / Organisation Weißer Adler OZN/OZON Obóz Zjednoczenia Narodowego/Lager der Nationalen Einheit PKWN Polski Komitet Wyzwolenia Narodowego / Polnisches Komitee der Nationalen Befreiung PMRNT Prezydium Miejskiej Rady Narodowej w Tarnowie/Präsidium des städtischen Nationalrats Tarnów POW Polska Organizacja Wojskowa/Polnische Militärorganisation PPR Polska Partia Robotnicza / Polnische Arbeiterpartei PPS Polska Partia Socjalistyczna/Polnische Sozialistische Partei

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PPSD Polska Partia Socjalno-Demokratyczna Galicji i Śląska Cieszyńskiego/ Polnische Sozialdemokratische Partei Galiziens und Teschener Schlesiens PSL Polskie Stronnictwo Ludowe / Polnische Bauernpartei PSOT Prokuratura Sądu Okręgowego w Tarnowie/ Staatsanwaltschaft am Kreisgericht Tarnów PUBP Powiatowy Urząd Bezpieczeńtswa Publicznego / Kreisamt für öffentliche Sicherheit PVAP Polnische Vereinigte Arbeiterpartei PZCh Polskie Zjednoczenie Chrześcijańskie/Polnische Christliche Vereinigung SAKr Sąd Apelacyjny w Krakowie / Berufungsgericht Krakau SDAP Sozialdemokratische Arbeiterpartei SiPo Sicherheitspolizei SKIF Sotsyalistisher Kinder Farband/Sozialistischer Kinderverband SN Stronnictwo Narodowe/Nationale Partei SP Stronnictwo Pracy/Partei der Arbeit TOR Towarzystwo Osiedli Robotniczych/Gesellschaft für Arbeitersiedlungen TSKŻ Towarzystwo Społeczno-Kulturalne Żydów w Polsce / Sozial-kultureller Verband der Juden in Polen TSL Towarzystwo Szkoły Ludowej/Verband der Volksschulen TSYSHO Tsentrale Yidishe Shulorganizatsye/Zentrale Jüdische Schulorganisation TUR Towarzystwo Uniwersytetu Robotniczego/Gesellschaft der Arbeiteruniversität UB Urząd Bezpieczeństwa/Sicherheitsbehörde UNDO Ukrajinske Nacjonalno-Demokratyczne Objednannia/ Ukrainische National-Demokratische Vereinigung USC University of South California VHA Visual History Archive WIZO Women’s International Zionist Organization WEiS Wydział ewidencji i statystyki/Statistikabteilung WiN Wolność i Niepodległość/Freiheit und Unabhängigkeit WOiK Wydział organizacji i kontroli/Organisations und Kontrollabteilung YIVO Yidisher Visnshaftlekher Institut/Jüdisches Wissenschaftliches Institut YVA Yad Vashem Archiv ZAL Zwangsarbeitslager

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ZBOWID Związek Bojowników o Wolność i Demokrację / Verband der Kämpfer für Freiheit und Demokratie ZfH Zentrale für Handwerkslieferungen ŻIH Żydowski Instytut Historyczny ZMT Zarząd miasta Tarnowa / Stadtverwaltung Tarnów ŻPSD Żydowska Partia Socjal-Demokratyczna/Jüdische Sozialdemokratische Partei ŻSS Żydowska Samopomoc Społeczna / Jüdische Soziale Selbsthilfe ZWZ Związek Walki Zbrojnej / Verband für bewaffneten Kampf

Quellen- und Literaturverzeichnis

Zeitungen / Periodika

Głos Ziemi Tarnowskiej (Stimme der Tarnower Erde) Hasło (Parole) Nasz Głos (Unsere Stimme) Nasz Przegląd (Unsere Rundschau) Nasza Droga (Unser Weg) Nasza Sprawa (Unsere Sache) Świt. Pismo Młodzieży Szkół Średnich (Tagesanbruch. Blatt der Gymnasialjugend) Tygodnik Żydowski (Jüdisches Wochenblatt) Ziemia Tarnowska (Tarnower Erde)

Archive Tarnów, Polen Archiwum Narodowe w Krakowie, Oddział w Tarnowie, ANKr. Odd. T. (Nationalarchiv Krakau, Abteilung Tarnów) Archiwum Muzeum Okręgowego w Tarnowie, Dział historii (Archiv des Kreismuseums Tarnów, Abteilung Geschichte) Archiwum Diecezji Tarnowskiej, ADT (Archiv der Tarnower Diözese) Krakau, Polen Archiwum Narodowe w Krakowie, ANKr. (Nationalarchiv Kraków) Jagiellonenbibliothek Warschau, Polen Archiwum Instytutu Pamięci Narodowej, IPN (Archiv des Instituts für Nationales Gedenken) Archiwum Akt Nowych, AAN (Archiv der Neuen Akten) Archiwum Żydowskiego Instytutu Historycznego, AŻIH (Archiv des Jüdischen Historischen Instituts) Ludwigsburg, Deutschland Bundesarchiv, Außenstelle Ludwigsburg (BAL) Detmold, Deutschland Stadtarchiv Detmold

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Jerusalem, Israel Yad Vashem Archiv, Jerusalem (YVA) New York, USA YIVO-Archives Minsk, Belarus Nationalni Archiu Respubliki Belarus, Minsk

Interviews Durchgeführt von Agnieszka Wierzcholska Bartosz, Adam: Interview, 16.03.2016, Tarnów, Polen. Dagnan, Aleksander: Interview, 06.03.2013, Tarnów, Polen. Francoz, Gershon: Interview, 02.06.2013, Haifa, Israel. H., Marek: Interview, 04.04.2012, Tarnów, Polen. Klimek, Rahel: Interview, 24.05.2013, Ramat HaSharon, Israel. Lavyel, Shulamith: Interview, 01.06.2013, Haifa, Israel. Łoziński, Mikołaj: Interview, 16.09.2013, Warschau, Polen. Palcur, Mordechai: Interview, 01.06.2013, Jerusalem, Israel. Spielman, Elżunia (Elza): Interview, 24.05 2013, Herzliya, Israel. Wasserman, Henry: Interview, 25.05.2013, Tel-Aviv, Israel. Aus dem Visual History Archive der USC Shoah Foundation Baicher, Israel: Interview 16493, 25.06.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). Berkelhammer, Harry: Interview 14300, 16.04.1996, Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 14.03.2021). Bersay, Sarine: Interview 28109, 05.04.1997. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 07.10.2018). Bienenstock, Regina: Interview 33388, 19.09.1997. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 11.04.2021). Bloch, Chana (née Zwikelberg): Interview 7291, 01.10.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 09.03.2021). Brand, Samuel: Interview 11434, 26.01.1996. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 28.12.2020). Brand, Yetta (née Geld): Interview 5343, 09.08.1995. Visual History Archive, USC Shoah Foundation (letzter Zugriff: 02.12.2020).

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Danksagung Mein Dank gilt als erstes den jüdischen Tarnowianerinnen und Tarnowianern, die ihre persönlichen Geschichten, Erinnerungen, Fotografien und Briefe mit mir teilten und mich auf dem Weg in ihre Vergangenheit begleiteten: Shulamith Lavyel und ihrer Tochter Tamar Lavyel, Rahel Klimek und ihrer Familie, Elżunia (Elza) Spielman und Tali Drucker, Jerzy Bergman, Gershon Francoz, Henry Wasserman, Mordechai Palcur und Israel Unger. Dieses Buch ist eine leicht geänderte Fassung der 2019 an der Freien Universität verteidigten Dissertation. Meiner Betreuerin Prof. Dr. Pickhan bin ich zutiefst zu Dank verpflichtet, sie hat mir stets die Augen geöffnet und mich unterstützt. Dieses Buch wäre ohne die Hilfe vieler großzügiger Menschen nicht entstanden, die mir mit Rat und – buchstäblich – Tat zur Seite standen: Allem voran Adam Bartosz und Janusz Kozioł, das Kreismuseum Tarnów sowie Jan Chmura vom Tarnower Archiv. Marek Tomaszewskis Fotoarchiv und seine Generosität sind wahrhaftig einmalig. Für die Fotos danke ich ebenso Zbigniew Wilczyński. Wissenschaft kann es ohne gemeinsame Diskussionen unter Kolleginnen und Kollegen nicht geben, ebenso wenig ohne gegenseitige Unterstützung. Allen, mit denen ich Teile der Arbeit diskutieren konnte und die mich bei der Quellenrecherche unterstützt haben, möchte ich herzlich danken: Thomas Abel, Natalia Aleksiun, Ulrich Baumann, Alina Bothe, Roland Borchers, Katerina Čapková, Tomasz Frydel, Jan Grabowski, Jürgen Hensel, Elżbieta Janicka, Kamil Kijek, Yvonne Kleinmann, Anne-Christin Klotz, Henryk Kowalski, Łukasz Krzyżanowski, Mathis Klockow, Mikołaj Łoziński, Ezra Mendelsohn z.l., Julia Metger, Markus Nesselrodt, Doron Oberhand, Andreas Ruppert, Dagmara Swałtek-Niewińska, Yechiel Weizman, Magda Wel sowie allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Gollwitz-Workshops. Besonders verbunden bin ich meinen Kollegen vom Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin Arkadi Miller und dem unermüdlichen Vitali Taichrib, die große Teile der Arbeit gelesen, diskutiert und korrigiert haben – und immer noch Freunde geblieben sind. Eran Torbiner danke ich für die jahrelange Begleitung, Unterstützung und für unsere Gespräche über den Bund und die Welt. Die Recherchearbeit wurde zum Teil finanziert durch Stipendien des Deutschen Historischen Instituts Warschau sowie der Stiftung Bildung und Wissenschaft. Mein sehr persönlicher Dank gilt Jan T. Gross.

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Danksagung

Als die Recherche zu dem Buch begann, wurde mein Sohn Adrian geboren. Ihn beim Aufwachsen zu begleiten, ist stets Quelle großer Freude. Ihm bin ich unendlich dankbar. Berlin/Paris, August 2021

Personenregister Ackermann, Felix 38 Affenkraut, Sala 311, 435 Agatstein, Alfred 151, 216 Albin, Micha 424 Anderson, Benedict 23, 227 Ankori, Zvi (Wróbel, Hersh / Hesiek) 1, 2, 45, 48, 52, 55, 64, 71, 76, 77, 82, 102, 251, 258, 390, 540, 587 Arendt, Hannah 413 Aussenberg, Helena 551 Baal Shem Tov 67 Bacon, Gershon 32, 33, 34, 133, 223, 224, 226, 242, 258 Baicher, Israel (Bajczer) 62, 82, 169, 210, 250, 257, 259, 281, 316, 317, 433, 434, 435 Bajohr, Frank 34, 331, 386, 559 Bak, Salomea (née Stier, Schwester von Maria Dawid) 265 Bałaban, Majer 7 Bandura, Maciej 293, 297, 569, 607 Banek (Familie) 515, 520, 521, 542, 564 Bartosz, Adam 26, 58, 60, 65, 68, 69, 71, 74, 251, 257, 294, 453, 491, 534, 543 Bartoszewski, Władysław 277 Bartov, Omer 34, 37, 271, 347, 388, 525, 559 Bartsch, Hans 333, 334, 470 Batist, David 88, 112, 122, 143, 147, 150, 152, 178, 179, 180, 184, 185, 186, 213, 216, 289 Baudoin de Courtenay, Jan 23 Bauer, Yehuda 396, 424 Becht, Walter 292 Beck, Józef 153 Beckert, Dawid 585 Bełza, Władysław 240, 241 Bergman (Familie) 597 Berkelhammer, Harry 60, 62, 288 Betrübnis (Familie) 515, 520, 559, 578, 583 Bialik, Nachman 77, 585 Biberberg, Idek 1 Biegeleisen (Vorname unbekannt) 429 Bielatowicz, Jan 257 Bienenstock (Vorname unbekannt) 420 Bienenstock, Majlech 423 Bienenstock, Max 198, 199

Bienenstock, Regina 341, 408, 435, 498 Bienenstock, Sara 198, 199 Bierut, Bolesław 596 Birken, Josef 422, 423, 507 Blache, Hermann 299, 335, 338, 342, 343, 346, 349, 350, 356, 357, 359, 361, 364, 378, 402, 403, 404, 405, 406, 407, 427, 428, 429, 449, 450, 451, 452, 462, 463, 464 Bleifeld, Maciej 433, 499, 520 Bleifeld, Srul 265, 433, 505, 508 Bleiweis, Usher 20, 62, 214, 418, 422, 577, 583, 584, 587, 589, 591, 592, 593, 595, 596, 597 Blumenkranz, Lilka 520, 539 Bobrowski, Emil 108 Bochenek, Jan 26, 52, 63, 191, 281, 288, 291, 292, 509, 510, 540, 569 Bogucka, Rela (Wałęga, née Kohn, Tochter von Marek Kohn) 590 Böhler, Jochen 298 Borenshteyn-Rus, Hela 424 Borgenicht, Janek 1 Borgenicht, Rahel 584 Borodziej, Włodzimierz 110, 157, 159, 579, 611 Bourdieu, Pierre 241, 572 Brach, Władysław 58 Brand, Samuel 256 Brigg, Emil 251 Brodzianka-Gutt, Elżbieta (Gizela Lamensdorf) 21, 30, 57, 78, 83, 84, 210, 251, 252, 257, 306, 319, 320, 359, 399, 410, 505, 507, 510, 553, 554 Brodziński, Mieczysław 148, 155, 174, 188, 215, 216, 291 Bromberger, Wolf (Pitala, Wacław) 522 Broszat, Martin 298 Browning, Christopher 332, 337, 339, 347, 361 Brubaker, Rogers 22, 24, 27, 28, 31, 37, 90, 141, 599 Bruder, Giza (née Gross) 422 Bruder, Josef 422 Brumberg, Abraham 119

658 Bryg, Aleksander 199, 200, 266 Brzoza, Czesław 6, 103, 104, 106, 107, 111, 117, 124 Buan, Henryk 591 Buch, Hirsch (Bruder von Ela Hofmeister)  433, 498 Bulanda, Stanisław 63 Burstein, Igal 45, 248, 539 Cała, Alina 36, 37, 80, 92, 93, 168, 171 Canin, Mordechaj 589, 590 Celnik, William 223, 241 Chomet, Abraham 30, 53, 57, 58, 59, 63, 65, 71, 72, 100, 101, 103, 112, 157, 158, 193, 204, 207, 257, 289, 310, 313, 323, 335, 341, 342, 349, 373, 380, 381, 397, 399, 402, 403, 406, 412, 415, 420, 423, 424, 427, 443, 453, 463, 498, 531, 578, 582 Chrobak, Walenty 63 Chrząszcz, Józef 63, 164 Cierniak, Józef 245, 246, 260 Ciołkosz, Adam (Sohn von Kasper, Ehemann von Lidia) 69, 97, 103, 106, 109, 110, 115, 119, 120, 121, 122, 123, 125, 138, 139, 151, 200, 201, 213, 214, 216, 289, 569 Ciołkosz, Kasper (Vater von Adam) 105, 106, 110, 120, 121, 122, 123, 137, 138, 139, 140, 142, 146, 147, 151, 181, 182, 198, 214, 253, 293, 296, 569, 607 Ciołkosz, Lidia (Ehefrau von Adam) 17, 69, 89, 120, 121, 122, 138, 139, 143, 150, 151, 152, 179, 187, 192, 214, 289, 456, 569 Cole, Tim 375, 376, 377 Cwecher (Vorname unbekannt) 256 Cyrankiewicz, Józef 293 Dagnan, Aleksander (Sohn von Augustyn)  22, 54, 55, 78, 349, 354, 463, 533, 535, 536, 538, 539, 543, 585 Dagnan, Augustyn (Vater von Aleksander)  60, 61, 76, 78, 323, 393, 442, 533, 534, 535, 536, 538, 543, 585, 617, 618 Darnton, Robert 10, 13 Daszyński, Ignacy 109 Dawid Maria (née Stier, Frau von Fryderyk Dawid, Schwester von Salomea Bak)  264, 265, 266, 512, 526, 528 Dawid, Abraham 59

Personenregister Dawid, Flora (née Robinsohn, die Mutter von Fryderyk Dawid) 264, 265, 512, 519, 528, 559 Dawid, Fryderyk (Franicszek Kwistek, Ehemann von Maria Dawid, Sohn von Flora Dawid) 264, 265, 269, 270, 271, 445, 508, 519, 525, 526, 528, 566 Dmowski, Roman 128, 132, 195, 197 Dornbusch, Yakov 403, 404, 407, 416, 440, 443, 444, 514 Drożdż (Brüder), Ignacy und Ryszard (?)  423, 424, 533, 535, 536, 543 Dubiel, Gabriel 293 Dusza, Gabriel 60, 293, 296 Dynowska, Franciszka 513, 531 Dyrdal, Maria 515, 531, 543 Dziama, Leszek 197, 256 Eckert, Reinhold 285 Eckmann, Alfred 337, 339, 348, 354, 355, 356, 362, 364, 365, 379, 381, 463, 467, 470, 471, 472, 474, 475, 482, 489, 490, 491 Edelman, Marek 411 Ehrlich, Henryk 117, 118 Eichenholz, Dovid 577 Eichhorn, Max 102 Emeliantseva, Ekaterina 394, 395 Ender, Markus 249 Engel, David 35, 587, 588 Engelking, Barbara 35, 268, 274, 375, 396, 515, 517, 551, 561 Enke, Teofila 361, 362, 363, 431 Epple, Angelika 14 Feig, Jeshajahu 1, 71, 73, 79, 82, 251, 585 Feig, Shulamith (siehe Lavyel, Shulamith, Tochter von Jeshajahu Feig) Feigelbaum, Rosa 516 Feld, Ruth 530 Fellenz, Martin 333, 334, 335, 336, 339, 348, 351, 359, 366, 482, 483 Felser, Heinrich 475 Filozof, Janina (née Wałęga) 520, 539 Flaumenhaft (Familie) 597 Flaumenhaft, Józef 597 Flaumenhaft, Zofia (siehe Gotlob, Sophie) Fleischer, Estera 424

Personenregister Francoz, Gershon (Geniek, Enkel von Hermann Mütz und Neffe von Leon Mütz) 81, 82, 259, 320, 321 Frank, Hans 285, 286, 287, 290, 294, 308, 330, 459, 466, 492, 493, 494 Friedholer (Vorname unbekannt) 360 Friedländer, Saul 15, 331 Friedman, Filip 7, 375, 376, 396, 397 Friedrich, Klaus-Peter 457, 458, 466, 480, 481 Fries, David 354 Fries, Paulina (Schwester von Abraham Roth)  589 Frisch, Rafael 549 Friszke, Andrzej 106, 109, 115, 120, 123, 125, 289 Fröhlich, Renia 349, 351, 356, 364, 380, 415, 418, 507 Fromowicz, Dawid 402, 408, 418, 433, 514, 515, 520, 530, 540, 546 Fudem, Gizela (née Grünberg) 226, 227, 302, 403, 407, 408, 417, 427, 430, 433, 442, 449, 450, 504, 505, 511, 512, 513, 514, 520, 530, 537 Fulbrook, Mary 387, 560, 574 Fuss, Naftali (auch Stefan Lednicki) 288, 400, 401, 412, 438, 504, 505, 506, 510, 512, 513, 554 Gaa, Gerhard 285, 286, 290, 291, 299, 301, 310, 313, 319, 322, 323, 335, 342, 359, 373, 374, 393, 399, 402, 406, 409, 430, 431, 441, 455, 462 Gans, Emil 58, 441, 442, 444 Garenreich Weisstock, Dora 589 Garmada, Ludwik (Zygmunt Schönfeld) 21, 27, 28, 30, 55, 57, 78, 84, 85, 169, 244, 257, 258, 288, 553 Gastwirth, Jacob 223, 248 Gawelczyk, Bronisława 327, 497, 498, 502, 511, 514, 530, 542 Geertz, Clifford 13, 14 Gellner, Ernest 23 Garder (Vorname unbekannt) 360 Gerlach, Christian 34, 370, 371 Getzler, Wolf 313 Gewürz, Elias 204 Ginzburg, Carlo 12, 13

659 Gliksman, Rywka 550 Globocnik, Odilo 330, 332 Goetz, Sam 82, 311, 319, 327, 339, 341, 342, 352, 357, 361, 362, 398, 402, 404, 415, 425, 430, 442, 443, 511, 512, 514, 520, 530, 531 Goldberg, Rahel (siehe Klimek, Rahel / Tochter von Salomon) Goldberg, Salomon (Vater von Rahel Goldberg/Klimek) 72, 82, 204, 208, 296, 310, 327, 329, 412, 414, 415, 528, 529, 553, 597 Goldberg, Elza (née Beitsch / Ehefrau von Salomon und Mutter von Rahel) 72, 82, 327, 329 Goldfein 281, 282, 289, 306, 350, 352, 353, 363, 364 Goldhammer, Eliasz 100, 101, 578 Goldman, Blanka 306, 307, 340, 341, 348, 350, 351, 359, 366, 374, 398, 404, 405, 406, 410, 418, 435, 436, 463, 502, 511, 527, 530, 578 Goldsztajn, Franciszka 321, 361, 502, 505 Gomułka, Władysław 275, 277, 597 Góralewicz, Helena 505, 507, 508, 513, 520, 527 Górski, Jurek 532 Göth, Amon 367, 449, 450, 451 Gotlob, Leon 592, 593, 594, 597 Gotlob, Sophie / Zofia (née Suess, primo voto Flaumenhaft (Ehefrau von Józef), secundo voto Gotlob, Ehefrau von Leon) 82, 243, 592, 593, 594, 597 Gottlieb, Matylda 522 Götzler, Wolf 204 Grabowski, Jan 15, 35, 36, 268, 287, 308, 355, 382, 437, 439, 451, 458, 459, 460, 461, 466, 470, 482, 484, 500, 525, 551, 561 Grabski, Stanisław 106, 108, 221, 222 Gries, Leon 520, 537, 546 Gross, Jan T. 3, 34, 35, 268, 274, 360, 581, 588 Gruber, Estera 547 Grünbaum, Icchak 133 Grünbaum, Izaak 422 Grünberg, Gizela (siehe Fudem, Gizela) Grünberg, Tosia (Schwester von Gizela) 538 Grünkraut, Samuel 402, 406, 433, 441, 449, 450, 451, 464

660 Grunow, Gerhard 297, 341, 380, 402, 452 Grzebyk, Stanisław (Bruder von Stefania)  434, 524 Grzebyk, Stefania (Schwester von Stanisław)  434 Gulkowski, Władysław 362, 433, 499 Gutter, Gizela 327 Hackbarth, Gustav 285, 373 Hallberg, Frederik 345, 346, 350, 364, 380, 463 Haslinger, Peter 34, 272 Hass, Emil 343, 346, 350, 362 Hass, Oskar 443 Hehner (Vorname unbekannt) 475 Hein, Reinhold 285 Heller, Celia 32, 34, 161, 163, 164, 168, 222, 223, 227, 241, 254 Hembera, Melanie 9, 38, 285, 286, 287, 291, 303, 308, 316, 317, 319, 333, 334, 335, 336, 337, 338, 339, 340, 354, 355, 356, 362, 364, 365, 367, 373, 374, 378, 380, 381, 398, 399, 400, 401, 403, 424, 425, 427, 428, 430, 440, 441, 443, 451, 452, 546, 584 Henschel, Christhard 24, 33, 181 Hershkowitz, Joe 248 Heuman, Józef 110 Hilberg, Raul 278, 330, 369, 375, 376, 377, 396, 397, 413, 559, 571 Hilbrenner, Anke 70, 71, 74, 75, 76 Himmler, Heinrich 330, 333 Hinkel, Heinrich 466 Hirszfeld, Ludwik 485, 486, 487, 488, 489, 492, 493 Hitler, Adolf 137, 139, 210, 284, 330, 484, 587 Hlond, August 164, 493 Hoborski, Maksymilian 292, 293, 296 Hobsbawm, Eric 23 Hochberger, Józef (Vater von Moris) 58, 441, 442, 444 Hochberger, Moris (Moryc, Mojżesz / Sohn von Józef) 398, 441, 442, 444 Hofmann 345, 346 Hofmeister, Ela (Mutter von Sara) 327, 497, 502, 514 Hofmeister, Sara (Tochter von Ela) 497, 498, 530 Holdengräber, Rita 515, 530

Personenregister Hollender 76 Honig, Cesia 57, 169, 209, 210, 219, 250, 251, 252, 253, 260, 264, 289, 290, 322, 341, 374, 375, 391, 399, 408, 410, 418, 419, 439, 445, 511, 514, 517, 518, 525, 528, 541, 564, 566, 578, 587, 604 Honig, Naftali (Vater von Cesia) 57, 289, 518 Horrwitz, Salomon 357 Huppert, Ludwik 88, 151, 177 Hutter, Maurycy 1, 65, 102, 103, 105, 107, 118, 150, 166, 179, 183, 214, 289 Irrgang, Franz 475 Izaak, Izrael 313, 314, 316, 335, 336, 341, 342, 343, 345, 346, 348, 351, 352, 354, 355, 356, 359, 360, 364, 365, 367, 402, 403, 404, 405, 406, 407, 408, 415, 416, 418, 457, 463, 464, 465, 482, 490, 496 Izdebski, Hubert 94, 95, 126, 144, 145, 149, 156, 212, 213 Jachimowicz 589 Jagiencarz, Roman 353, 355, 356, 363, 463 Janczy, Zofia 301 Janicka, Bronisława (siehe Wider, Lila) Janicka, Elżbieta 31, 278, 369, 391, 436, 437, 458, 551, 552, 561, 563, 571, 572, 573, 612 Jeck, Oskar 359, 380, 402, 452 Jędrzejewicz, Janusz 158, 159, 160, 161, 221, 239, 253, 254 Jędrzykiewicz, Tomasz 293 Jeż, Jadwiga 510 Kann, Maria 561, 563, 569 Kantor, Józefa 301 Karski, Jan 436 Kastura, Jerzy 297, 402, 446 Kershaw, Ian 330 Kessler, Philip 451, 452 Kijek, Kamil 34, 40, 220, 226, 227, 241 Kipke, Alfred 285, 336, 337, 342, 392 Klapholz, Sara 409 Klein, Leo 30, 49 Kleinow, Johannes 338, 339, 355 Klimek, Rahel (Rysia / née Goldberg) 22, 72, 78, 82, 83, 84, 204, 251, 252, 253, 327, 410, 412, 430, 499, 505, 506, 509, 512, 528, 529, 553, 597 Klukowski, Zygmunt 367, 388

Personenregister Kobylański, Mieczysław 509, 515, 520, 530 Koc, Adam 158, 159, 160, 161 Kohn, Marek (Vater von Bogucka/Wałęga, Rela) 583, 590, 592 Kolasiński, Roman 353, 379, 463, 472, 474, 490, 491, 495 Kołodziej, Tadeusz 148, 294, 296 Komusiński, Stanisław 291 Kornbluth, Andrew 267 Korniło, Halina (Tochter von Józef) 322, 357, 362, 402, 404, 405, 406, 407, 412, 418, 427, 437, 440, 463, 482, 503, 504, 505 Korniło, Józef (Vater von Halina) 217, 301, 302, 303, 304, 305, 306, 313, 316, 323, 336, 340, 344, 349, 351, 356, 357, 364, 365, 367, 373, 380, 393, 402, 403, 404, 405, 406, 407, 408, 412, 416, 417, 418, 427, 428, 440, 443, 449, 450, 451, 452, 455, 461, 463, 475, 482, 498, 531, 578, 583, 590 Koselleck, Reinhart 29, 31 Kossak-Szczucka, Zofia 563, 569 Kozińska-Witt, Hanna 33, 93, 97, 98, 99, 101, 126 Kozłowska, Halina 533 Krauze (Vorname unbekannt) 462, 521 Krieger, Chaskiel 423 Kryplewski, Julian 111, 114, 291, 292 Kryształ, Franciszka 583 Kula, Marcin 3, 27, 28 Kundt, Ernst 285, 302, 304, 316, 478 Kupferberg, „Kubcia“ 422, 423 Kurek, Ewa 532 Kuwałek, Robert 275, 329, 332, 367, 368 Kwiatkowski, Eugeniusz 59, 158 Kwistek, Franciszek (siehe Dawid, Fryderyk) Kwoczyńska, Alina 508, 511, 512, 513, 518, 519, 520, 527, 528, 542, 566 Ladner, Abraham 597, 598 Lamensdorf, Gizela (siehe Brodzianka-Gutt, Elżbieta) Landau, Jehoshua 103, 117, 118 Lantner, Dawid 181, 182, 307, 308 Laub, Judyta 263, 409, 503, 584 Lavyel, Amos (Moniek / Markus) (früher Leibel, Bruder von Henryk Leibel, Ehemann von Shulamith) 82, 258, 259, 320, 321, 577, 598

661 Lavyel, Shulamith (née Feig, Tochter von Jeshajahu Feig, Ehefrau von Amos) 49, 55, 73, 79, 81, 82, 199, 251, 258, 259, 321, 411, 577, 585, 598 Leder, Andrzej 9, 36, 369, 372, 388, 389, 560, 611 Lednicki, Stefan (siehe Fuss, Naftali) Lehrhaupt, Julian (Eliahu) 311, 404, 415, 417, 420 Leibel, Amos (siehe Lavyel) Leibel, Eva 1 Leibel, Hersh (Henryk, Henio/ Bruder von Amos Lavyel) 320, 321, 411, 598 Leizer, Mojżesz 549 Lenartowicz, Stefan 419 Lenkowicz, Dawid 310 Leociak, Jacek 35, 375, 396 Lerner, Wilhelm 380, 419, 420, 421 Lesser, Jochweta 522 Lesser, Leon 319, 322, 341, 342, 343, 346, 350, 354, 357, 359, 362, 367, 373, 398, 399, 400, 402, 404, 406, 407, 408, 409, 418, 427, 428, 429, 431, 435, 437, 441, 449, 451, 462, 482, 502, 503, 514, 515, 520, 521, 543, 544, 567 Levi, Giovanni 13 Lewin, Abraham 413, 414 Libionka, Dariusz 35, 36, 277, 332, 449, 466, 483, 484, 492, 493, 494 Lindenberg (Vorname unbekannt, Mutter von Eleonora) 531 Lindenberg, Eleonora (Lonka) 515, 526, 531 Lisowski, Franciszek 64 Longerich, Peter 289, 329, 330 Löw, Andrea 34, 290, 331, 394, 395, 396, 417, 425, 559 Lubelski, Józef 63, 181, 182, 291 Luckmann, Thomas 394, 395 Lüdtke, Alf 35, 273, 387, 560 Madej, Genowefa 530 Madritsch, Julius 443, 449, 511, 537, 538 Mahler, Raphael 7 Majewski, Witold 446, 447 Mallotke, Otto von 300, 402 Manaczyński, Józef 136, 137, 138, 139, 142, 147, 198, 199, 202, 293 Mansdorf, Józef 288, 359, 409, 432, 435, 510, 525, 547, 548, 567

662 Marcus, Joseph 32, 56, 158, 159, 163, 167 Margulies, Artur 102 Mariański, Mieczysław 439 Maschler, Ignacy 102 Mazur, Kasper 63 Mazurkiewicz, Wojciech 246, 247, 249 Medick, Hans 2, 11, 12, 13, 157 Meloch, Pinkas 503 Melzer, Emanuel 32, 161 Mendelsohn, Ezra 32, 70 Menkes, Deborah 65 Merz, Hermann 65, 101 Messerer, Terese 350 Michalicka, Maria 521, 522, 559 Michalik, Eugeniusz 220, 348, 353, 362, 463 Michlic, Joanna Beata 3, 37, 197, 410 Mikowski, Franciszek (Vater von Ludwik und Zbigniew) 290, 517, 518, 541, 543, 564, 565, 566, 587, 589 Mikowski, Ludwik und Zbigniew (Söhne von Franciszek) 290, 445, 517, 518, 564, 587 Millet, Zygmunt 318 Milz, Mina 504 Mitler, Lila 341, 409 Moczar, Mieczysław 263, 265, 269, 270, 275, 276, 277, 505, 508, 512, 515, 519, 566 Mommsen, Hans 287, 329, 330 Mościcki, Ignacy 59, 158, 159 Musiał, Bogdan 275, 286, 329, 332, 561, 562 Mussolini, Benito 188 Mütz, Hermann (Vater von Leon, Großvater von Francoz, Gershon) 81, 100, 102, 104, 105, 110, 112, 116, 125, 293, 320 Mütz, Leon 216, 295, 296, 320 Nagórska, Tekla 352, 362, 443, 511, 530 Nałkowska, Zofia 568 Niedojadło, Gabriela 430, 537, 538 Niedojadło, Tadeusz 537, 538 Niedolajadło (Familie) 530, 537, 538 Nikodem, Jan 522, 523, 541, 545, 548, 555, 564 Niziołek, Grzegorz 573 Nordau, Max 71 Nowak, Jakub 521 Nowak, Jan 300 Nowak, Karol 150 Nussbaum 322

Personenregister Offner, Józef 309, 310, 414 Okamura, Jonathan 21 Okoń, Edward 291 Oliner, Pearl 541, 542 Oliner, Samuel 541, 542 Oppermann, Karl 285, 286, 290, 291, 299, 301, 310, 313, 322, 323, 335, 342, 359, 373, 374, 393, 399, 402, 406, 409, 430, 431, 440, 441, 446, 455, 462, 510 Paciorek, Józef 164 Palten, Josef 335, 342, 402, 403, 404, 405, 406, 450, 451, 452, 491 Paruch, Waldemar 109 Pasternak, Ignacy 335, 464, 465, 490, 496 Pat, Jakob 578, 582, 584, 587, 588, 589 Perechodnik, Cerel 572 Pernutz, Karl 285, 337, 498 Pickhan, Gertrud 33, 94, 117, 118, 119, 120, 140, 185, 210, 212 Pieracki, Bolesław 130 Pietrzykowa, Aleksandra 26, 38, 281, 287, 291, 292, 293, 294, 296, 297, 298, 299, 301, 302, 303, 304, 305, 306, 309, 317, 337, 339, 367, 391, 392, 393, 461, 466, 499, 509 Piłsudski, Józef 87, 88, 94, 108, 109, 110, 124, 126, 128, 129, 130, 135, 139, 141, 142, 144, 151, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 171, 172, 181, 188, 191, 192, 197, 215, 238, 562, 601, 602, 603, 605 Pisz, Antonia 53 Pitala, Wacław (siehe Bromberger, Wolf) Plucer, Aleksander 256, 257, 314, 315 Poetschke, Jerzy 306, 511, 527 Pogoda, Walenty 296 Polonicer, Ester 550 Polonsky, Antony 3, 6, 32, 33, 214 Postrong, Rahel 399, 406, 408, 506 Postrong (Familie) 509, 513 Potępa, Stanisław 26, 45, 53, 55, 63, 96, 98, 100, 104, 105, 106, 107, 108, 111, 112, 116, 117, 120, 121, 125, 126, 141, 142, 195, 198, 199, 202, 210, 211, 213, 214, 266, 293, 310, 441 Pradelski, Klara 352 Pragier, Adam 92, 93, 145 Prokop-Janiec, Eugenia 16, 34, 220, 226

Personenregister Prystor, Aleksander 163 Prystor, Janina 163 Pufelska, Agnieszka 37 Rapoport, Ela 524, 525 Rebhan (Vorname unbekannt) 423 Rec, M. 63 Regenbogen, Cyla 383, 391 Regenbogen, Rafael 383 Reiss, Paul 311, 351, 416 Rępala, Roman (Sohn von Stanisław) 538 Rępala, Stanisław (Vater von Roman) 538 Ringelblum, Emanuel 7, 413, 414, 460, 555 Ritter, Cesia (siehe Honig, Cesia) Rommelmann, Wilhelm 287, 335, 341, 380, 402, 403, 418, 433, 464, 510, 584 Rosenblum (Familie) 513 Rosenbusch, Maximilian 251, 295 Rosenstock, Mete 588 Rosner 445, 528 Rossoliński-Liebe, Grzegorz 457, 458 Roth, Abraham 589 Roth, Markus 286, 290, 337, 396 Rozwadowski, Mieczysław 295, 296 Rydarowska, Maria 301 Rypuszyński, Janusz 107, 108, 110 Sakowska, Ruta 318, 396, 397, 425, 426 Sandelman, Kajla 326, 510, 528 Sanguszko, Roman 59, 61, 64, 76, 210 Sapieha, Adam Stefan 492, 493, 494, 495, 568, 569 Sawicka, Paula 411 Schantzer / Szancer 76, 93, 210 Schenkel, Wolf 110, 114, 310, 414, 415 Scherner, Julian 333, 334, 336, 338, 366, 441 Schiff, Dudek 1 Schiff, Janina 313, 341, 351, 357, 362, 363, 416, 440 Schiffer, Abbe 269, 446 Schiffer, Chaim 583, 589, 590 Schnelle, Ernst 282 Schönfeld, Szymon (Vater von Zygmunt)  84, 288, 289 Schönfeld, Zygmunt (siehe Garmada, Ludwik / Sohn von Szymon und Rozalia Schönfeld)

663 Schönker, Henryk / Heinrich 402, 408, 409, 410, 415, 418, 430, 431, 462, 502, 567 Schönker (Familie) 410, 415, 462, 502 Schorr, Mojżesz 7 Schulze, Winfried 12, 13, 14 Schussler, Rywka 423 Schütz, Alfred 394, 395 Seidenweg, Emil 432, 435, 501, 514, 520, 567 Shif, Milek 72, 73, 76 Shiper, Ignacy 225 Sidor, Monika 93, 95, 96, 97, 110, 130, 131, 138, 141, 143, 144, 145 Siedlisker, Alter 384, 385, 391, 393 Sikorski, Władysław 105 Silber, Hilda 320, 321 Silber, Marcos 33, 93, 98, 101, 422 Silberman (Vorname unbekannt) 360 Silberpfennig, Szajek (Zahariah) 58, 76, 251 Silbiger, Juliusz (Vater von Zygmunt) 87 Silbiger, Zygmunt Szaja 10, 17, 48, 57, 87, 88, 89, 90, 91, 100, 102, 116, 128, 132, 135, 141, 145, 148, 149, 151, 153, 154, 155, 156, 159, 161, 162, 163, 165, 166, 167, 170, 171, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 178, 179, 180, 181, 182, 189, 191, 192, 195, 196, 197, 204, 205, 211, 217, 294, 562, 603, 604, 605 Simche, Eliasz 102, 103, 107 Simche, Zdzisław 49, 54, 57, 59, 69, 256, 295 Sirkowski (Vornamen unbekannt) 475 Sit, Eugeniusz 60, 199, 200, 214, 266, 542, 569, 593, 594 Sitko, Roman 297 Skibińska, Alina 35 Skorupa, Zbigniew 533, 535, 536 Skorupa, Adolf 536, 543 Skowroński, Roman 216, 296 Skwirut, Edward 289 Sławek, Walery 128, 158 Sławoj-Składkowski, Felicjan 167 Śmigły-Rydz, Edward 158, 159, 160, 188, 239 Spann, Salomon 1, 56, 71 Spielman, Avraham (Vater von Henryk)  204, 554, 578, 582 Spielman, Elżbieta (Elżunia, Tochter von Henryk und Enkelin von Abraham) 204, 278, 327, 509, 578

664 Spielman, Henryk (Izrael Hirsch/ Izrael, Vater von Elżunia) 203, 204, 205, 206, 207, 278, 554, 578 Sporn, Aron 58, 74, 75, 89, 104, 117, 118, 122, 174, 214, 289, 456, 586, 587, 591 Sporn, Shlomo 58, 422 Springer, Smilek 423 Stach, Stephan 24, 32, 33, 181 Starzec, Roman 471, 472, 478 Steffen, Kathrin 25, 33, 394, 395 Steinlauf, Michael 571 Stolarz, Antoni 546 Stolarz, Jan 540, 546, 547, 551 Storch, Hermann 359 Straus (Vornamen unbekannt) 423 Strauss, Rubin 204 Sturm, Hania 513, 528 Sukatsch, Leopold 442 Sukman, Józef 187 Suwada, Maciej 165, 201, 256, 295 Szalit, Edward 125 Szpalski, Karol 554 Tec, Nehama 529, 539, 541 Tertil, Tadeusz 98, 101, 104, 105, 107 Tesse, Bernhard (Vater von Marceli) 313, 400, 412 Tesse, Marceli (Sohn von Bernhard) 412, 418 Thierberger, Elfriede 327, 425, 508, 511, 518, 519, 520, 524, 528, 559, 564, 566, 578 Thum, Lazar 384, 391 Thum, Salomon 384 Titsch, Raimund 443 Tokarska-Bakir, Joanna 35, 36, 37, 171, 581, 588 Tomaszewski, Jerzy 6, 32, 33, 53, 83, 96, 103, 105, 133, 163, 210, 223, 224, 225 Tönsmeyer, Tatjana 34, 35, 272, 273, 274, 331, 370, 371, 372, 388, 389, 457, 555, 560, 562 Topfer, Isaak 289, 320 Trunk, Isaiah 309, 397, 412, 413, 414, 417 Trzeciak, Stanisław 163, 164 Tych, Feliks 36, 561, 571

Personenregister Unger, Israel (Sohn von Mordechai, Bruder von Kalman) 61, 442, 511, 533, 534, 535, 536, 538, 543, 564, 578, 579, 585, 591 Unger, Mordechai David (Vater von Israel und Kalman) 60, 61, 442, 533, 534, 535, 538, 543, 564 Unger, Kalman (Sohn von Mordechai, Bruder von Israel) 585, 591 Unger, Dawid Rabbi 67 Van Rahden, Till 37, 38 Vogel, Jakub 432 Volkmann, Artur 311, 350, 351, 352, 400, 415, 416, 417, 419, 420 Wachtel, Jakób 231, 232, 233, 237, 241, 242, 256 Waksmann, Ruven 310 Wald (Familie) 360 Wałęga, Janina (siehe Filozof, Janina) Wałęga, Leon 64, 514 Wałęga, Rela (siehe Bogucka, Rela) Walicki, Andrzej 129 Weber 475, 491 Wedekind, Elfriede 434 Wedekind, Ernst 336 Weichert, Michał 311 Weinman, Jakub 62, 63 Weiss, Rutka 319 Weissmann 251 Weisstock, Dora (siehe Garenreich Weisstock, Dora) Wensierski, Norbert 353 Wideł, Aniela 301 Wider, Lila 295, 304, 306, 313, 319, 320, 322, 323, 350, 380, 404, 408, 418, 435, 464, 465, 490, 496, 503, 505, 506, 511, 512, 516 Wider, Emil 295 Wieczorek, Kazimierz 362 Witos, Wincenty 106, 294 Wodnicki, Jan und Józefa 511, 528 Wojcikówna 234 Wojtas, Dorota 34, 219, 221, 234, 239 Wolgelernter, Chaim 484, 487, 490 Wróbel, Aazik (Vater von Ankori, Zvi) 48

Personenregister Wróbel, Hersch (siehe Ankori, Zvi) Wróbel, Malka (Schwester von Zvi Ankori)  540 Wróblewski, Mścisław 465, 466, 467, 469, 471, 472, 477, 478, 479, 481, 482, 487, 488, 490 Wulf, Naftali 597 Wunder, Ernst 295, 296, 322, 374, 379, 402, 403, 404, 405, 406, 407, 441, 449, 450, 451, 482 Wunstorf, Gertrud 343, 350 Wurtsel, Eliezer 54, 62, 77, 78, 119

665 Zaremba, Marcin 36, 579 Zaremba, Zygmunt 120 Zarzycki, Adolf 233, 237, 245, 246, 259 Zawadzka, Anna 31, 37, 369 Zins, Samuel 441 Zloch, Stephanie 24, 33, 127, 129, 221, 222, 225 Zlocisti, Theodor 71 Zossel 475 Żukowski, Tomasz 369, 573 Zwikelberg, Chana 226, 578 Zyndram-Kościałkowski, Marian 131