Notwendigkeit und Berechtigung des Realgymnasiums: Vortrag gehalten in der Delegiertenversammlung des allgem. deutschen Realschulmännervereins zu Berlin am 28. März 1894 [Reprint 2021 ed.] 9783112516461, 9783112516454

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Notwendigkeit und Berechtigung des Realgymnasiums: Vortrag gehalten in der Delegiertenversammlung des allgem. deutschen Realschulmännervereins zu Berlin am 28. März 1894 [Reprint 2021 ed.]
 9783112516461, 9783112516454

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Notwendigkeit und Berechtigung de-

(Keafggmitafiums. Vortrag gehalten in -er

Delkgiertenversammluiig des öligem deuWm ^ealsdjiilniiiimeruereiiifi ;u Berlin ant 28. Mär; 1894

Tyeovald Ziegler Professor ati der Universität Straßburg.

v. Hheoöald Ziegler Professor an der Universität Straßburg.

Stuttgart. G. I. Göschrnschr Vrrlagshandlung. 1894.

Druck der Hoffmannschen Buchdruckerei in Stuttgart.

Vorwort. Die Rede erscheint hier ziemlich genau in der Fassung,

rote sie vor acht Tagen auf der Delegierten-Versammlung des allgemeinen deutschen Realschulmännervereins zu Berlin gehalten worden ist; man wird und darf es daher ihrer

Form wohl ansehen, daß sie bestimmt war, gehört, nicht

gelesen zu werden.

Was ich im Verlaufe da und dort

ausdrücklich betone, das will ich hier für das Ganze noch einmal summarisch voranschicken, daß ich lediglich in meinem

eigenen Namen geredet habe und die Verantwortung für alles Einzelne demgemäß auch ausschließlich auf mich nehme.

Daß im Großen und Ganzen die Versammlung mit meinen Ausführungen einverstanden war,

das hat sich aus den

nachfolgenden Debatten und aus den beschlossenen Thesen

zu meiner Freude ergeben. Da ein solcher kürzerer Vortrag über eine spezielle

Frage leicht zu Mißverständnissen nach rechts und nach links

Anlaß geben kann, so darf ich mich dein gegenüber gleich hier auf meine zwölf Vorlesungen über die „Fragen der Schul-



4



refornl" beziehen, in deren Rahmen und Zusammenhang das

Gesagte

finden könnte.

naturgemäß

erst Deckung und

Ergänzung

Die paar Anmerkungen geben über das

Woher einzelner Zitate und Bemerkungen Ausschluß und dienen zugleich als kurze Erläuterung.

Straßburg i. E., 3. April 1894.

Theobald Ziegler.

Hochgeehrte Herren! Als Sie die Güte hatten, mich zu Ihrer heutigen Ver­

sammlung einzuladen, da stand auch alsbald das Thema fest, über das ich zu Ihnen sprechen sollte: es ist die Schule,

die Sie hier vor allem vertreten, das Realgymnasium

und die Notwendigkeit und Berechtigung seiner Existenz. Die Richtung aber, in welcher sich meine Ausführungen hierüber bewegen werden, kann ich am besten mit den un­

mittelbar nach der Berliner Konferenz von mir formulierten Worten angeben: „Den Schulfrieden, den wir so notwendig brauchen, schafft sicher nicht die Beseitigung der Realgym­

nasien, sondern vielmehr nur ihre Erhaltung und die Ver­

mehrung und Erweiterung ihrer Berechtigungen; und zu­

gleich wird durch diese auch den humanistischen Gymnasien die Erhaltung ihrer Eigenart und die Erfüllung ihrer be­ sonderen Aufgabe

ermöglicht

und

garantiert."T)

Und

Neues werde ich Ihnen, die Sie mitten in der Arbeit,

mitten in der Sache selbst stehen, überhaupt nicht bringen können.

Was sich sagen läßt, ist alles längst schon und

wiederholt von mir und von andern ausgesprochen worden,

so noch im vorigen Jahre in beredten Worten hier von dieser

6 Stelle aus und bei derselben Gelegenheit wie heute.2) Allein

um ein Neues handelt es sich auch nicht, sondern vielmehr darum,

immer wieder Zeugnis abzulegen für Wert und

Recht Ihrer Schule,

und dazu genügt es und dient es,

wenn Verschiedene dasselbe sagen.

Einen Augenblick hatte es freilich geschienen, als ob das Thema „Realgymnasium" in Preußen wenigstens ein

gegenstandsloses werden sollte.

Auf des Messers Schneide

war die Existenz dieser Schulgattung gestanden; die Berliner Konferenz

durchschnitten.

lich:

ihr den Lebensfaden im Prinzip bereits

hatte

Allein was nicht möglich ist, ist nicht mög­

man kann ein blühendes Schulwesen —

damals 174 Anstalten,

es waren

darunter 90 vollausgebaute, mit

34 bis 35 000 Schülern — nicht um des Prinzips willen

mit Einem Federstrich vernichten; darin läge wirklich keine Ratio.

Und

so

haben

denn

auch die neuen Lehrpläne

von 1892 gethan, als ob nichts Arges im Schilde geführt worden wäre, und haben die Dreiheit von höheren Lehr­

anstalten — Gymnasien,

Realgymnasien und

schulen

bestehen

— ruhig

weiter

lassen.

Oberreal­

Ob nicht auf

indirektem Wege dennoch die Axt an die Wurzel der Real­ gymnasien gelegt und langsam Span um Span heraus­

gehauen werden soll, das vermag der Außenstehende natürlich nicht mit Sicherheit zu beurteilen.

Die vielen Um­

gestaltungen — von den 174 Anstalten stehen heute, wenn

ich recht berichtet bin, nur noch 112 ganz unberührt von diesem Verwandlungsprozeß da — machen aus uns den Eindruck, als ob die Behörden für die Weiterexistenz der

7 Realgymnasien zum mindesten kein Herz mehr hätten; denn es wird

dabei doch zugegangen

sein, wie bei

Goethes

Fischer: Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm--------

Halb zog sie ihn, halb sank er hin, Und ward nicht mehr gesehn!

Doch, wie gesagt, ich kann mich täuschen und lasse mich gerne eines Besseren belehren. Allein es ist natürlich nicht so, als ob nur deswegen,

weil sie einmal waren und sind, die Realgymnasien nicht

durch

Einen Federstrich

beseitigt

werden könnten.

Ein

klassisches Beispiel dafür bietet meine gegenwärtige Heimat, Elsaß-Lothringen.

Hier auf diesem neuen Boden, wo die

Bureaukratie mehr kann als anderswo, ist durch den Statt­

halter Feldmarschall von Manteuffel, unter dem verhäng­ nisvollen Einfluß des Philologen Studemund, 1883 jener

Eine Federstrich wirklich exekutiert worden.

Aber fast in

demselben Augenblick, wo auf der Berliner Konferenz der Vertreter von Elsaß-Lothringen die Aufhebung der Real­ gymnasien zu rechtfertigen suchte und ihre günstigen Wir­

kungen pries, hatte sich die elsaß-lothringische Unterrichts­ verwaltung genötigt gesehen, ganz in der Stille an einzel­

nen Gymnasien des Landes Realgymnafialkurse wieder ein­ zurichten, weil es ohne das doch nicht gegangen wäre3). Roch selten ist der Bureaukratismus durch die Macht der

Thatsachen rascher und siegreicher widerlegt und rektifiziert

morden als hier.

Genau so

würd« es auch in Preußen

gehen: heben Sie die Realgymnasien heute auf, so sind fie

8 in irgend einer Form morgen wieder da!

aber wäre

Noch schlimmer

ein unklares Schwanken zwischen Sein und

Nichtsein.

Ja und Nein

Theologie,

sondern

giebt nicht

nur

eine schlechte

auch eine schlechte Schulverwaltung;

darum hüte man sich ebenso vor dem halben wie vor dem

bleibe entschlossen und klipp und klar

ganzen Nein und

beim Ja, trotz der berüchtigten Abstimmung von 35 Nein

und nur 8 g«!4)

Warum aber beim Ja? Ich stelle zunächst zwei ganz allgemeine Erwägungen an die Spitze.

Fürs erste: drei

Schularten erscheinen mir unter allen Umständen erwünschter als zwei.

Ich gehöre nicht zu den Schulpolitikern, welche

die moderne Verstaatlichung des höheren Schulwesens be­

dauern und Notwendigkeit und Segen derselben verkennen;

im Gegenteil, ich würde vor allem auf dem Boden, auf dem ich stehe und zu wirken habe, darum kämpfen wie um ein Palladium, das freies deutsches Geistesleben zu schützen

hat und allein wirksam zu schützen im stände ist. Aber auf der andern Seite übersehe ich auch nicht gewisse Schatten­

seiten und Gefahren dieser staatlichen Schulen: sie bestehen

in einer die freie Bewegung ejnschnürenden bureaukrati-

schen Verwaltung und in einer die Individualität ertöten­

den Uniformität.

Von der ersteren habe ich hier nicht zu

reden, so sehr die neuen Lehrpläne dazu Anlaß geben und

auffordern, wohl aber von der zweiten.

Alle Bureaukratie

hat die Tendenz, sich das Regieren und Verwalten möglichst bequem zu machen,

Zug.

Bequemer

das ist ja ein allgemein menschlicher aber ist Einheit und Einfachheit,

als

9 Vielheit und Mannigfaltigkeit, bequemer ist Uniform als

bunte Lebensgestaltung.

wenn so die Behörden zu

Und

möglichster Vereinheitlichung geneigt sind, so läßt es sich ebenso auch den Eltern plausibel machen, wie bequem es für sie

sei, zwischen einem klaren Entweder—Oder, dem gymna­ sialen oder dem realistischen Wege wählen zu können; denn

je kleiner die Auswahl, je schroffer die Gegensätze,

kleiner auch die Oual dieser Wahl.

desto

Aber — ich rede vor­

läufig nur ganz allgemein — unserem deutschen Volke thut in diesem Augenblick

nichts mehr

not

als eine gewisse

Mannigfaltigkeit und Freiheit der Bewegung.

Unsere Bil­

dung hat ein verzweifelt gleichmäßiges Aussehen angenommen, dadurch ist sie so flach,

so matt, so subaltern geworden;

denn Bildung ist in aller Welt nicht Uniformierung und

Nivellierung, sondern Herausgestaltung und Herausarbeitung

eines Individuellen und Eigentümlichen. Gerade die Schule kann nach dieser Seite hin nicht allzu viel thun, in ihrem Wesen liegt an und für sich schon ein Nivellierendes und

Eigentümlichkeiten Aufhebendes;

und das muß ja auch

sein, das allzu Individuelle muß abgeschliffen und das In­

dividuum eingefügt werden in ein Ganzes, es muß diesem Ganzen untergeordnet und assimiliert werden.

mehr hüte sich die Schule,

Aber um so

dem verhängnisvollen Zuge

unserer Zeit zum geistigen Uniformtragen sich auch da an­ zuschließen, wo es vermieden werden kann, und ihre eigene

Mannigfaltigkeit jener Steigung zur Bequemlichkeit zu opfern. Drei Schulgattungen sind immer um und wertvoller als zwei!

V3 mannigfaltiger

10 Zum zweiten, wir leben in einer Uebergangszeit, ähnlich wie am Ende des vorigen Jahrhunderts.

Es ist mir oft

unbegreiflich, wie nicht alle sehen wollen, was doch geradezu

mit Händen zu greifen ist, daß sich alles um uns her ver­ wandelt und daß deshalb das zwanzigste Jahrhundert so

ganz anders sein wird und so ganz anders werden muß, als es das neunzehnte war.

Die realen Fragen,

die realen

Mächte des Daseins, ich möchte sagen: eine gewaltige Gegen­

wartsströmung zieht uns unaufhaltsam in ihre Kreise und Wirbel hinein und arbeitet mächtig an einer radikalen Umge­

staltung unseres ganzen äußeren und inneren Daseins; und was dazwischen von Idealem aufkeimt und nach Verwirklichung

drängt, hat ein seltsam romantisches Aussehen.

Das Ver­

gangene lassen wir dagegen vergangen sein, jedenfalls tritt

es in eine gewisse größere Zeitferne und wird uns historisch objektiver, innerlich fremder als je.

Das trifft mit beson­

derer Wucht auch das klassische Altertum. Ich will es hier aus­

sprechen, daß ich das schmerzlich bedaure, aussprechen, daß ich als Gegengewicht gegen diese Zeitströmung das humanistische

Gymnasium innerlich so stark als möglich gemacht sehen möchte; gerade weil es Uebergangszeit ist, haben wir kein Recht, das Alte voreilig in Trümmer zu schlagen und preis­

zugeben, wo doch noch kein Neues sichtbar, greifbar vor uns

steht.

Aber vor Bedürfnissen und Forderungen einer Zeit,

seiner Zeit das Auge zuschließen und ihnen die Berech­

tigung abstreiten zu wollen, wäre darum doch thöricht und

unbillig.

Der Lebende hat immer Recht, das Wirkliche ist

immer auch ein Vernünftiges, wenn es auch nicht das volle

11 Recht und die ganze Vernünftigkeit ist; und deshalb müssen wir auch in den Schulen das Neue und den Uebergang

zu diesem Neuen zum Ausdruck bringen.

Es kommt, also

müssen wir auch wollen, daß es kommt. Das humanistische

Gymnasium soll uns heute — denn um das Heute handelt es sich, von der Schule der Zukunst verstehe ich nichts — es soll uns heute das Alte und was gut und wertvoll ist am Alten, vermitteln und wahren; das Realgymnasium ist

die Anstalt der Uebergangszeit, des Uebergangs vom Alten

zum Neuen in Schule, Staat und Kirche, im ganzen Geistes­ leben unseres Volkes, ist somit das moderne Gymnasium, das nur nicht an der Stelle, aber neben dem alten huma­

nistischen seine in sich und in der Zeit begründete Existenz­

berechtigung hat. Um aber leben und gedeihen zu können, braucht das

Realgymnasium fraglos mehr Licht und Luft, als man ihm bisher gegönnt hat.

Das führt ja auf die Frage nach den

Berechtigungen und auf jene Kämpfe zwischen Gymnasiuin und Realgymnasium

um

das

sogenannte Monopol

des

ersteren, Kämpfe, die im Interesse der Sache nur zu be­ dauern waren: — waren, denn glücklicherweise liegen sie heute hinter uns, die eiserne Not schmiedet nicht nur Menschen, sondern auch Schulgattungen zu gemeinsamem Schutz und

Trutz zusammen. Aber auch hier stelle ich noch einmal eine

allgemeine und — ich weiß es — sehr ketzerische Erwägung voran.

Wir Deutsche haben in unserer Wertschätzung der

Examina etwas von dein Volk der Mitte an.uns.

Eine

der bedeutsamsten Errungenschaften der Berliner Konferenz,

12 so etwas wie eine nationale That, war darum auch die Ein­ führung eines neuen Examens, der sogenannten Abschluß­

prüfung, um „zu ermitteln, ob der Schüler die Reife zur Versetzung nach Obersekunda erreicht habe".

Weil wir

selbst alle so und so oft durch dieses Sieb durchgewürfelt worden sind — wir Württemberger schon im vierzehnten

Jahr durch das „Landexamen" —,

so

wollen wir auch

unseren Jungen diese „Prüfungen" nicht ersparen, exami­ nieren fröhlich darauf los und konservieren unsere ehemalige

Angst nunmehr als heiligen Respekt vor den Ergebnissen eines solchen Tags.

Examina sind ja gewiß notwendig,

aber vom Standpunkt der Schule aus sind sie notwendige

Uebel; darum muß man sie quantitativ und qualitativ auf ein Mindestmaß beschränken, das ist die Forderung einer gesunden Pädagogik. Wir dagegen vermehren und erschweren5) sie nicht

nur, sondern wir legen auch unser Leben lang einen zu großen Wert auf ihre Ergebnisse, wir führen sozusagen eine blei­

bende Konduitenliste über den Menschen nach dem Aus­ fall seiner Examina. Und zwar treiben wir das nicht immer

so naiv, wie jener Württembergische

20 Jahre nach

meinem

Schulmann, den ich

Abiturientenexamen in

Baden-

Baden traf, und der mir nichts Schmeichelhafteres sagen

zu können meinte, als daß

er „sich

meiner

lateinischen

Examensarbeit noch mit Vergnügen erinnere".

Aber that­

sächlich ist es dasselbe, wenn wir beim Staatsexamen, beir Doktorprüfung, beir Habilitation eines Privatdozenten immer noch und immer wieder das Abiturientenzeugnis zu sehen ver­

langen und von der Existenz oder Nichtexistenz eines solchen

13 Legitimationspapieres

die Zulassung

Prüfungen abhängig machen.

zu

allen

solgenden

So schleppen sich auch hier

„Gesetz' und Rechte wie eine ew'ge Krankheit fort". Kommt

dagegen ein Ausländer zur Doktorprüfung, so wird ihm der Nachweis seiner Vorbildung erlassen, weil wir denselben

ja doch nicht prüfen und beurteilen könnten, und wir be­ gnügen uns mit dem Mann und seiner Arbeit und dem,

was er im Augenblick weiß und kann; und es geht auch so.

Unseren

eigenen

Landeskindern gegenüber aber be­

stehen wir mit gewohnter Gründlichkeit auf der Kontinuität von Zeugnis und Examen: das ist, wie mir scheint, eine

Pedanterie, eine Unbilligkeit, ein Zuviel, immer erst zu

fragen, woher der Mensch weiß, was er weiß, statt einfach selber zuzusehen, was er jetzt weiß; einen zurückzuweisen,

der genug weiß, nur weil er es nicht auf dem ordnungs­ mäßigen Wege erworben hat, das heißt doch:

„Vernunft

wird Unsinn, Wohlthat Plage!"

Doch ich weiß, daß ich damit gegen den Strom schwimme, daß ich das nicht ändern kann.

Aber weil ich auf die

Vorbildung nicht diesen entscheidenden Wert für eine ganze

Menschenzukunft legen kann, so komme ich nun freilich zu der Ansicht und Uebergangsforderung, daß man wenigstens

weitherzig sein soll in der Erteilung der Berechtigungen. Und hier gehe ich dann sofort den Schritt weiter, den auch Sie über das nächstliegende Begehren hinaus thun: nicht

die Zulassung zum Studium der Medizin allein, sondern die Zulassung zum Universitätsstudium überhaupt soll das

Realgymnasium fordern.

Praktisch — man verlasse sich da-

14 bei doch auf die Sitte und nicht immer nur bureaukratisch

auf Vorschrift und Verordnung — praktisch wird das für ge­

raume Zeit auf dasselbe hinauskommen: wenn die Schranken fallen, werden es vor allem nur Mediziner sein, welche auf dem Realgymnasium ihre Vorbildung suchen, die Theologen und klassischen Philologen wohl nie, die Juristen selten.

Das letztere aus äußerlichen Gründen, aus Standesrücksichten, während es mir aus inneren sachlichen Gründen ganz

erwünscht zu sein schiene,

wenn

am grünen Tisch

unserer Behörden und Gesetzgeber, wo es sich unter anderm um die Schaffung

eines sozialen Rechtes handelt,

auch

solche Juristen Platz fänden, die von. der modernen Welt

und ihrer Weltanschauung und Wissenschaft etwas mehr verstünden, als dies meistens der Fall ist; gerade inner­

halb unserer Bureaukratie wäre eine gewisse Mannigfaltig­ keit und Verschiedenartigkeit der Bildung vom allergrößten

Wert; die Mühe des sich Verstehens hin und her würde durch das sich Ergänzen reichlich ausgewogen und belohnt.

Dagegen will ich nicht leugnen und es als meine per­

sönliche Ansicht auch hier aussprechen, daß ich, so lange überhaupt an dem System der Berechtigungen in der bis­ herigen Weise festgehalten wird, die Aenderung, wonach

die Reifezeugnisse der Oberrealschulen als zureichend an­ erkannt werden für das Studium der Mathematik und der

Naturwissenschaften auf der Universität, für ein übles Da­ naergeschenk an diese Schulgattung halte. Daß sich diese latein­

losen Studenten auf unseren in die lateinische Vergangenheit zurückgehenden läiiversitates et almae inatres doch recht de-

15 placiert vorkommen werden, will ich nicht urgieren; das mögen

sie mit sich selbst ausmachen. Viel wichtiger ist mir ein An­ deres : es ist der Apfel des Sündenfalls, den man diesen Anstalten darreicht, und wehe, wenn sie einmal hineingebisfen und

davon gegessen haben.

Angesichts des thörichten Vorurteils,

das nun doch einmal besteht, daß das Universitätsstudium der einzige Weg zur höheren Bildung uni) eine Schule um

so vornehmer sei, wenn sie ihre Schüler durch die enge Pforte ihrer Reifeprüfung diese Pfade wandeln lassen könne, werden die Oberrealschulen mit der Zeit immer mehr darauf

hinarbeiten, solche Studenten zu produzieren, werden Ge­

lehrtenschulen werden wollen, und werden darüber die viel höhere und schönere Aufgabe verabsäumen, neben den Tech­

nikern für Handel und Industrie im großen Stil zu sorgen; und unsere kleinen Realschulen werden nun erst recht streben, mit dem Giebel einer

solchen Oberrealschule gekrönt zu

werden und werden damit noch weit mehr als jene ihr

wahres Ziel aus den Augen verlieren, für den kleinen

Bürger und Handwerker die richtigen Anstalten zu sein: ich würde hinzufügen: es in aller Bescheidenheit zu sein,

wenn ich das nicht für eine so vornehme soziale Aufgabe

hielte, daß ich eher sagen möchte: allen Stolz sollten sie

darein setzen, solche Schulen zu bleiben, und es verschmähen, ein paar lateinlose Studenten zur Reife zu zeitigen.

Aus

meiner württembergischen Heimat, wo die Zahl dieser kleinen

Realschulen an die 70 heranreicht, kenne ich den Segen und den

Wert derselben für die Hebung der Volksbildung auf brei­ tester Basis recht gut.

Das hat Preußen nicht; und in dem

16 Augenblick, wo es seine höheren Bürgerschulen durch Namen und Lehrplan zu unvollständigen Oberrealschulen avancieren

ließ und diesen das studentische Berechtigungsgeschenk machte, hat es thatsächlich darauf verzichtet, ein solches blühendes

Realschulwesen in sozialem Geist und in weitem Umfang zu begründen.

Den preußischen Realschulen aber möchte

ich, jeder einzeln zurufen: Mein Sohn, hüte deine Seele

vor dem Karriöremachen!

Aber ist denn das Realgymnasium, im Unterschied von

der Oberrealschule, wirklich ein Gymnasium, wie wir die Vorbereitungsschule für die Universität zu nennen pflegen? Namen sind Bezeichnungen für Begriffe, und Begriffe sind das

Wesen der Sache selbst; Namen sind also nicht gleichgültig, sind etwas mehr und etwas Besseres als bloße Titel. Es war deshalb auch sachlich ein gewaltiger Schritt, als 1882 die

Realschule I. Ordnung

nahm.

den Namen Realgymnasium

an­

In diesem Namenswechsel steckt zunächst schon eine

ganze Geschichte.

Das preußische Realgymnasium ist aus

der Realschule entstanden, die ursprünglich lateinlos war

oder doch von ihren Gründern so gedacht war.

Da war

es nun so recht ein Beweis dafür, daß Preußen — darauf

beruht ja zum Teil seine Größe mit — im eminenten Sinn

ein Beamtenstaat ist, als diese Realschulen das Lateinische in ihren Lehrplan aufnahmen.

Nicht um des Lateinischen

selbst willen haben sie das gethan, in der Erkenntnis seines

pädagogischen Wertes, sondern um der Berechtigungen teilhaftig zu werden; denn die verschiedenen Ressorts verlangten

von ihren Beamten allen mehr oder weniger Latein.

Im

17 Interesse der Beamtencarriöre also fügte man das Lateinische zunächst unorganisch in den Lehrplan dieser jüngeren Schul­

gattung ein.

Dieselbe blieb aber dabei Realschule bis 1882,

Ganz anders entwickelte sich

eine Realschule mit Latein.

die Sache in Württemberg.

Hier waren die humanistischen

Schulen seit dem Reformationszeitalter, seit der Kirchen­ ordnung

von

1559

lateinische Schulen mit ein bißchen

Griechisch. Wie wenig aber dieses, jedenfalls in den kleineren

Städten, für den Lehrplan notwendig schien, mögen Sie daraus ersehen, daß ich selbst noch bis zum vierzehnten Jahre in einer solchen Lateinschule war, in der offiziell und obli­

gatorisch kein Griechisch gelehrt wurde; das mußten wir privatim

in

besonders

zu

bezahlenden Stunden abends

zwischen 6 und 7 bei unserem Präzeptor lernen, und daran nahm außer mir nur noch ein einziger Junge teil.

Daher

empfanden es auch am Stuttgarter Gymnasium Eltern und Schüler wie

ungehörigen Zwang,

einen

daß

dort

das

Griechische obligatorisch sein sollte; und deshalb die viel­ fache Forderung und Gewährung des Dispenses davon, und

die Einrichtung der sogenannten Barbarenklassen innerhalb des humanistischen Gymnasiums.

im Jahre 1860 dorthin kam.

So war es noch, als ich

Erst 1867 wurden diese un­

griechischen Lateinklassen vom humanistischen Gymnasium

losgelöst

und

als

eine

besondere Schule einem eigenen

Rektor unterstellt, der sie auch alsbald mit eigenartigem Geist und Leben zu erfüllen wußte.

war von Haus

aus

Diese Schule nun

ein Gymnasium und

wurde durch

stärkere Betonung der neueren Sprachen, der Mathematik

18

und der Naturerkenntnis zu einem Realgymnasium.

Was

somit hier organisch geworden war, das suchte Preußen —

so wenigstens habe ich den Schritt von 1882 verstanden und interpretiert — nachträglich zu erreichen, als es die Stundenzahl für das Lateinische von 44 auf 54 erhöhte. Es hatte sich nämlich mit der Zeit herausgestellt, daß das Lateinische des Realgymnasiums nicht genügte, wie das

Dr. Matthias, der Direktor des Düsseldorfer Realgymna­

siums, auf der Berliner Konferenz ausdrücklich anerkannte und konstatierte.

Hierin lag ja etwas wie die Berechtigung

zu jenem Vorwurf, der so manches Mal gegen die Real­ gymnasien erhoben worden ist, daß sie ihren Schülern nur halbe Bildung geben. An und für sich freilich weiß ich nichts

Thörichteres als das; denn wenn ich mir den Primaner eines

humanistischen Gymnasiums ansehe, so vermag ich auch bei ihm nur halbe Bildung, nirgends etwas Abgeschlossenes und

Fertiges zu entdecken; und ich möchte sagen: Gottlob! was bliebe denn sonst noch uns auf der Hochschule zu thun und zu leisten übrig? Ja, ich bin so ehrlich und sage, daß auch

unseren Studenten bei ihrem Abgang von der Universität das Zeugnis ganzer, fertiger Bildung nicht ausgestellt werden kann.

Das Leben bildet, und wir alle wissen, daß wir in

diesem Kursus noch einmal erst recht nicht fertig werden. Immer

strebe zum Ganzen! sagt der Dichter, dem Totalität des Charakters als das Höchste von Menschenbildung erschien, eben weil er als Kantianer weiß, daß das nur eine Idee

ist,

und daß wir ein Ganzes niemals wirklich sind und

niemals wirklich werden.

Also ganze Bildung giebt keine

19 Schule, die Schule giebt überhaupt keine Bildung, sondern

nur Vorbildung; aber was sie dazu geben kann und soll,

das ist der solide Grund für alles,

was

sie lehrt, ein

gründliches Bekanntmachen und sich Einleben Gegenstände ihres Unterrichts.

in

die

Es ist das vor allem auch

eine sittliche Forderung. Daß das nun mit dem Latein bis

1882 nicht der Fall und nicht möglich war, darüber war

so ziemlich alle Welt einig; ich selbst habe mich Jahre lang

mit einer Realsekunda, die freilich noch außerdem das Un­ glück hatte, Anhängsel einer humanistischen Sekunda zu

sein, auf diesem schwanken Boden der Ungründlichkeit und Unsolidität — mir und den armen Jungen zur Qual — bewegen müssen.

Und so that denn die preußische Regie­

rung gewiß weise daran, 1882 die Zahl der Stunden für das Lateinische zu erhöhen auf 54.

Wie hatte sich nun das erprobt?

Der Versuch war —

es ist das wahrhaft belustigend und entspricht den konser­ vativen Traditionen der preußischen Verwaltung sehr wenig — noch nicht einmal zum Abschluß und zur vollen Durch­

führung gekommen, als man ihn auch schon wieder auf­

zugeben beschloß, und er ist überhaupt nur bei einem ein­

zigen Jahrgang von Anfang bis zu Ende verwirklicht worden. Wir sind daher zu einer sicheren Erfahrung überhaupt nicht

gekommen, zu einem abschließenden Urteil überhaupt nicht berechtigt.

9hm könnte man boshaft sein und sagen: die

Resultate müssen jedenfalls keine gar zu ungünstigen ge­ wesen sein; denn die preußische Schulverwaltung habe ja beschlossen, das Latein der humanistischen Gymnasien jener

20 Zahl bedeutend anzunähern und es um 15 Stunden zu verkürzen, auf 62 herabzusetzen.

Ich habe hier diese Maß­

regel nicht zu beurteilen; ich kann nur sagen, daß wir in

Elsaß-Lothringen mit der Zahl 71, der bis dahin gering­ fügigsten in Deutschland an humanistischen Gymnasien, keine

übermäßig guten Erfahrungen gemacht haben.

Wenn man

dem Realgymnasiumslatein auf der Berliner Konferenz allerlei

Uebles nachsagte, so kann ich konstatieren, daß der Satz: ut pugnae finem faceretur neuerdings in der Prima eines

unserer humanistischen Gymnasien geschrieben worden ist.

Wenn also an dem Latein des Realgymnasiums noch etwas

zu bessern war—und das war meines Erachtens allerdings der Fall —, so mußte man den 1882 gemachten Schritt 1892

noch einmal thun und die Zahl der Lateinstunden noch ein­ mal erhöhen.

Wieder denke ich dabei an das Stuttgarter

Realgymnasium, auf dem bis 1891 die Zahl der lateinischen Stunden 91 betrug; heute sind es immer noch 74, also 12 Stunden mehr als an den humanistischen Gymnasien Preußens.

Mußten es auch nicht so viele sein — man kann

ja auch des Guten zu viel thun —, aber unter allen Um­

ständen war für das preußische Realgymnasium weit eher als eine Verminderung eine bescheidene Erhöhung angezeigt: sie hätte äußerlich der Realschule I. Ordnung erst vollends ganz

die Berechtigung gegeben, sich Gymnasium zu heißen, und inner­ lich gab sie demselben die volle Berechtigung, Vorbildungs­ anstalt für die Universität zu werden und zu sein. Statt dessen

kehrte der neue Lehrplan zu dem notorisch ungenügenden

Latein vor 1882 zurück und verminderte es sogar noch

21 gegen damals um 1 Stunde.

Was aber bis 1882 mit 44

Stunden nicht erreicht worden ist, das wird von 1892

ab mit 43 Stunden gerade so wenig erreicht werden.

Setzt

man dem gegenüber etwa die Hoffnung auf die neue Me-

thode, so mögen ja deren Thyrsosschwinger und Eooerufer an ihre Zauberkraft und ihre Wunderwirkung glaube«; ich

bleibe dabei, daß 43 um 11 weniger ist als 54 und daß auch nach der neuen Methode in der Schule mit Wasser

gekocht wird. Aber der neue preußische Lehrplan geht noch einen

verhängnisvollen Schritt weiter; er verlangt geradezu vom

Realgymnasium, „sich entschloffen zu bescheiden, die dritte Fremdsprache,

das Lateinische,

ähnlich dem Französischen

an Gymnasien, wieder als Nebenfach zu behandeln, wie dies von 1859 bis 1882 bei einer der jetzigen ungefähr

gleichen Stundenzahl der Fall gewesen fei".6)

Also

ein

Fach, für das noch immer 43 Stunden, d. h. die meisten

Stunden im ganzen Lehrplan ausgesetzt sind, ein Neben­ fach!

Etwas — ich will mich

etwas Seltsameres ist noch

bescheiden ausdrücken —

selten

amtlich

ausgesprochen

worden; und der Hinweis auf das Französische am huma­

nistischen Gymnasium ist so verkehrt als möglich,

wenn

man an die dafür bestimmten 19 Stunden im Verhältnis zu den 36 Stunden Griechisch denkt, das dort Hauptfach

ist.

Und dieses böse Wort, es sanktioniert ja hinfort alle

Angriffe auf das Realgymnasium, es giebt allen Abwei­ sungen seines Anspruchs auf Gleichberechtigung mit dem

humanistischen Gymnasiuni zum voraus recht:

bei euch ist

22 ja das Lateinische nur Nebenfach! gesprochen worden!

Ich wollte, es wäre nie

Ich wollte. Sie würden alle dagegen

auf das lebhafteste protestieren! Nein, wo das Lateinische auch nur mit 43 Stunden

bedacht ist, da ist es eine der Säulen, auf denen das Haus ruht.

Eine Säule zunächst für die sprachliche Schulung,

weil eben diese Sprache sich ganz

besonders zu der be­

scheidenen und doch für die Schule so überaus wichtigen Stellung

des grammatischen Knechts eignet.

Daher

ist

meine Meinung auch nach wie vor die — und ich will sie

aussprechen auch auf die Gefahr hin, damit auf Wider­

spruch bei der Mehrzahl von Ihnen zu stoßen —, daß wo Lateinisch gelehrt wird, im Unterricht damit und nicht mit einer der modernen Sprachen zu beginnen sei.

Fügt man

es erst später und nachträglich hinzu, so geht dieser eine Hauptwert dabei jedenfalls völlig verloren.

dem Frankfurter

Lehrplans

lasse ich

mir

Versuche mit

bei meinem

Dringen auf Mannigfaltigkeit und meiner Abneigung gegen Uniformität darum doch gerne gefallen und sehe ihrem Ver­

lauf mit Interesse zu, umsomehr als ich erst von 1901 an

darüber zu urteilen mich berufen, verpflichtet und befähigt glaube und deshalb auch jede frühere Begutachtung und Anpreisung ihres Gelingens dem Thun der Knaben ver­

gleichen muß, die die Pflänzchen von Zeit zu Zeit aus der Erde reißen, um zu sehen, ob sie auch wachsen. Handelt es sich aber bei dem lateinischen Unterricht von unten her um die Grundlage sprachlich grammatischer Schulung, so kommt

nach oben fürs zweite hinzu — heißen Sie es nun groß-

23 artig Einführung in den Geist des klassischen Altertums,

oder lieber ganz schlicht und

bescheiden Bekaimtschaft mit

dem Inhalt einiger der bedeutendsten Schriftsteller des alten

Rom.

Bringen es aber die Realgymnasien nicht dahin,

Tacitus und Horaz mit ihren Schülern zu lesen, io fehlt ihnen gerade das Interessanteste, das Fesselndste, das den

Geist

am

meisten

Befruchtende

römischen Litteratur.

und

Bildende aus

der

Vier Jahre lang Cäsar lesen8), wie

es in den fast alle freie Wahl ausschließenden Lehrplänen

vorgeschrieben ist, das ist für Lehrer und Schüler

eine

Tortur, ist wahrhaft unerträglich; und wenn schließlich das Ge­

bäude mit zwei Catilinarischen Reden Ciceros gekrönt werden soll, so dauern mich die Primaner erst recht, wenn ihnen zwar die Eitelkeit und Phrase eines politischen Achselträgers, da­

gegen wenig oder nichts von jenem echten Römergeist und

Römersinn vorgeführt werden soll, welcher in seiner gravitas, in seiner schlichten, sogar in seiner posierenden Größe und

in seinem unerbittlichen Gerechtigkeitsgefühl etwas so Im­

ponierendes und Charakterbildendes hat.

Bleibt aber das

Lateinische so sehr das Aschenbrödel Ihrer Schule, dann

glaube ich auch nicht, daß das Gefühl der historischen Kon­ tinuität über Ihre Schüler kommt.

dies die Aufgabe

Und doch ist ja gerade

dieser Uebergangs- oder Vermittlungs­

anstalt oder wie Sie dieselbe sonst heißen wollen, die natur­ wissenschaftliche Strömung des 19. Jahrhunderts mit der

geschichtlichen zu verbinden, die moderne Kultur und ihre

historische Grundlage verstehen zu lehren.

Diese Kultur

ruht aber zunächst auf römischem Grunde: im römischen

24 Reich sind die Germanen in die Kulturwelt eingefügt wor­

den, als römische Kirche ist das Christentum, im römischen corpus iuris ist das Recht zu ihnen gekommen, und noch

immer ragt in Kirche und Staat mächtig und lebendig

und das päpstliche Rom in

das kaiserliche Rom

Gegenwart herein.

unsere

Cb man diese Porta nigra konser­

vieren oder ob man sie bekämpfen will, kennen muß man sie auf jeden Fall.

Wollen Sie aber dazu nicht wenigstens

den Grund, einen gründlichen Grund legen, dann weiß ich in der That nicht, wozu überhaupt noch an den oberen

Klassen des Realgymnasiums das Lateinische gelehrt und

getrieben werden soll. Nun sagt man freilich, auch das Latein des huma­

nistischen Gymnasiums habe sich ja schränkung Minus

gefallen

stehe dort sogar

gegenüber.

müssen;

lassen

eine erhebliche Ein­

Ihren 11

Stunden

eine Einbuße von 15 Stunden

Schön war das just auch nicht, und ich halte

es, wie schon gesagt, für ein recht Bedenkliches.

Aber ich

sehe gerade darin den Trost für die Zukunft.

So kann

es unmöglich bleiben, die neuen Lehrpläne dauern in unserer

raschlebenden Zeit zum mindesten nicht länger als die alten, d. h. nicht über 10 Jahre.

Die Stellung der Parteien in

dem neuen Kampf um die Schulreform,

der bald genug

wieder entbrennen wird, wenn er nicht schon entbrannt

ist, wird aber dann eine wesentlich veränderte sein: Vertreter der Gymnasien

und

nun gemeinsame Interessen.

der Realgymnasien

Die ersteren

die

haben

müssen sagen:

Wir sind für die Realgymnasien und für die Erweiterung

25 ihrer Berechtigungen, weil wir sonst ihre Aufgabe mit übernehmen müßten und damit zu einem wahren Zwitter­

ding würden; auf der einen Seite wollen wir das Grie­ chische festhalten, auf der andern sollen wir das Zeichnen

verstärken, das Englische wenigstens fakultativ als vierte9) Fremdsprache einführen, und den Anforderungen der Medi­

ziner auf Verstärkung

der

Realien können

wir auf die

Dauer ohnedies immer weniger widerstehen: Kegelschnitte, kein

griechisches

Skriptum

mehr!

das

verhängnisvolle

Wort tönt uns fort und fort in den Ohren.

Wir selbst

haben auf der Berliner Konferenz — das müssen die Ver­ treter der

humanistischen

Gymnasien zugestehen — den

schweren Fehler gemacht, die Existenzberechtigung der Real­

gymnasien zu verneinen, ihr Verlangen nach. Oeffnung der

Universitäten abzuweisen; die Folge davon ist gewesen, daß man uns — eine contradictio in adjecto! — zu Real­

gymnasien mit Griechisch oder wie Willmann10) so geschmack­ voll vom Realgymnasium sagt, zu „einem Bastard von

gelehrter und moderner Bildung" gemacht hat.

Das kann

nicht so bleiben, wir wollen wieder werden, was wir waren; darum muß es neben uns eine Anstalt geben, die durch

Weglassung des Griechischen für Englisch und Zeichnen und für Pflege der Realien in dem Umfang, wie es die Medi­

ziner zu brauchen glauben, Raum gewinnt, und das seid

Ihr Realgymnasien!

So muß sich und wird sich in huma­

nistischen Kreisen immer mehr die Einsicht durchringen, daß,

wer ein Freund der klassischen Sprachen und ihres gründ­

lichen Betriebs auf dem alten Gymnasium ist, konsequenter-

26 weise auch ein Freund und Verteidiger des Realgymnasiums sein müsse. Die Vertreter des Realgymnasiums aber müssen sagen:

Den Bildungswert des Euch ausschließlich überlassenen Grie­

chisch anzuzweifeln haben wir keinen Grund, den Glanz

und den Schimmer des griechischen Geisteslebens, seinen idealen Wert und seine hohe pädagogische Verwertbarkeit bestreiten wir Euch nicht; aber wenn wir unsere Jugend zu Lessing und Schiller und Goethe und statt zu Sophokles zu

Shakespeare führen, so meinen wir damit auch ein Höchstes von menschlicher Geisteskraft ihnen zu erschließen, und wenn

wir sie in die Geheimnisse der Natur tiefere Blicke thun lassen können als Ihr, so offenbart sich ja auch in den hier

waltenden ewigen Gesetzen ein Geistiges, ein Ideales anderer Art, das in dem Anspruch auf absolute Unterordnung des

Menschen unter ein Gesetz unter unseren Händen zu einer nicht minder großen erziehenden Macht werden kann.

Zu­

sammentreffen aber wollen wir mit Euch wie in der Pflege

des Deutschen und der Geschichte, so auch im lateinischen

Unterricht zum Zweck sprachlicher Schulung und zur Er­ kenntnis der historischen Zusammenhänge unseres ganzen Kultur- und Geisteslebens.

Und wenn Ihr Euer Latein

wieder zu verstärken sucht, weil es diese Zwecke nicht mehr

voll erfüllen kann, so stehen wir auch darin Schulter an Schulter zu Euch; denn Gymnasien sind wir wie Ihr, d. h.

Vorbereitungsschulen für die Universität. So wird die Reform von 1902 einen Schritt zurück­ thun müffen, um einen Schritt vorwärts zu kommen.

Die

27

definitive Lösung wird auch sie nicht bringen.

Aber welches

die Schule der Zukunft sein wird, das vermögen wir, die wir mitten in einer Uebergangszeit stehen, am wenigsten

vorauszusehen und vorauszusagen.

Wie in aller Politik,

so gilt es auch in der Schulpolitik, den Blick immer fest

auf die Gegenwart zu richten und nur die nächsten Schritte

über diese hinaus vorzubereiten;

denn der Lebende hat

Recht. Dieser nächsten Schritte aber sind es, soweit ich sehen kann, drei, und sie sind für humanistisches und Realgym­

nasium gemeinsam zu fordern und zu machen:

1)

der

Widerstand

gegen

eine

das

freie

Leben ertötende Gestaltung und Formu­ lierung der Lehrpläne; denn nur wo Frei­

heit, wo Mannigfaltigkeit, wo Differenzierung ist,

da ist Leben; 2)

die völlige Gleichberechtigung des Real­ gymnasiums mit dem alten Gymnasium;

denn sie ist für beide Anstalten notwendig, für jenes zum äußeren Leben, für dieses zur inneren

Entlastung und Wiedererstarkung; und 3) die Verstärkung des Lateinischen hier wie dort;

denn in beiden Schulgattungen hat das

Lateinische dieselbe Doppelaufgabe und kann sie

nur erfüllen, wenn es gründlich gelehrt und gelernt und nicht stiefmütterlich zum „siebenfach" degra­ diert wird.

Andere Fragen und andere Forderungen zu stellen, es wäre so, wie die Dinge im Augenblick liegen, kein unmög-

28 liches und kein mutwilliges Thun.

Aber heute und hier

sollte es sich ja nur um die Eine Frage des Realgymnasiums handeln.

Den Blick in die Ferne schweifen zu lassen und

pädagogische Ideale zu zimmern, bleibt darum doch jedem

unbenommen, und auch ein solches Thun hat sein gutes

Recht und ist nicht ohne Wert.

Nur bleibe man sich, um

sich vor Enttäuschungen zu hüten und dann nicht mutlosem Pessimismus anheimzufallen, dabei immer auch dessen be­

wußt, was Goethe sagt: Es hat die Erscheinung fürwahr nicht Jetzt die Gestalt des Wunsches, so wie ihr ihn etwa geheget.

Denn die Wünsche verhüllen uns selbst das Gewünschte; die Gaben

Kommen von oben herab in ihren eignen Gestalten.

Anmerkungen. Theobald Ziegler, Die Fragen der Schulreform. Zwölf Vorlesungen 1891, S. 60. Ich verweise überhaupt aus die fünfte dieser Vorlesungen „Das Realgymnasium und das Gymnasialmonopol", wo sich die Gedanken dieses Vor­ trags in der Hauptsache alle schon finden. 2) Friedrich Pauls en. Ueber die gegenwärtige Lage des höheren Schulwesens in Preußen 1893, eine etwas er­ weiterte Gestalt des Vortrags, den derselbe auf der Delegierten-Versammlung des Allgemeinen Deutschen Realschul­ männervereins im Jahre 1893 gehalten hat. 3) Erstmals für das Schuljahr 1890—91 finde ich in dem Programm des Lyeeums zu Straßburg 4 Stunden Englisch und 2 Stunden Rechnen „für die vom Griechischen dispensierten Schüler" der Untertertia angesetzt. Das hat sich inzwischen, bis Herbst 1893, zu einem dreijährigen Kursus bis Untersekunda inkl. entwickelt, wo an Stelle des Rechnens 2 Stunden Chemie treten. Ter Jahresbericht des Lyceums zu Metz 1889 90 teilt über die Genesis dieser Einrichtung fol­ gendes mit: „Durch eine Verfügung Sr. Excellenz des Herrn Staats­ sekretärs von Puttkamer vom 9. Juli 1889 salso N.B. noch vor der Berliner Konferenz!J wurde genehmigt, daß diejenigen Schüler der Tertia und Untersekunda, deren Eltern um Befreiung vom griechischen Unterricht für ihre Söhne nach-

30

suchen, einen Ersatzunterricht im Englischen und in den Naturwissenschaften erhalten, falls eine hinreichend große Zahl von Schülern der bezeichneten Art sich finden." Es ist das genau derselbe Modus, aus dem sich in Württemberg das Realgymnasium heraus entwickelt hat. Man hat also im Elsaß zerstört, was man hatte, und baut nun wieder­ mühsam auf, was man zerstörte. Um so seltsamer nehmen sich Angesichts dieser damals bereits bestehenden Ver­ hältnisse die Bemerkungen des Vertreters von Elsaß-Loth­ ringen auf der Berliner Konferenz über das Dillmannsche Realgymnasium und seine Schlußfolgerung aus, „daß die württembergischeu Angaben durchaus für die Zweiteilung zwischen lateinlosen Realschulen und humanistischen Gym­ nasien sprechen" (Verhandlungen über Fragen des höherer: Unterrichts, S. 359 f.). 4) Auf die Frage „sind in Zukunft nur zwei Arten von höheren Schulen grundsätzlich beizubehalten, nämlich Gym­ nasien mit den beiden alten Sprachen und lateinlosen Schulen?" antworteten auf der Berliuer Konferenz (Verhandlungen

S. 490 f.) 35 mit Ja, 8 mit Nein. 5) Ten Beschlüssen der Berliner Konferenz und der Praxis in Elsaß-Lothringen gegenüber bleibe ich trotz aller mir inzwischen zuteil gewordenen Belehrungen» bei dem in „den Fragen der Schulreform" ausgesprochenen Paradoxon: je mehr schriftliche Arbeiten, desto leichter das Examen! Und auch in Preußen scheint man ja ganz neuerdings aus Er­ schwerungen der Reifeprüfung zu denken. Von der Praxis, nebenher die Lehrer mit zu prüfen und die Anstalt zu visi­ tieren, können sich manche Schulräte ohnedies nicht frei­

machen. 6) Diese Stelle findet sich in der amtlichen „Denkschrift, betreffend die geschichtliche Entwicklung der Revision der Lehrpläne und Prüfungsordnungen für höhere Schulen,

31

sowie Gesichtspunkte für die vorgenommenen Aenderungen", abgedruckt im Centralblatt für die gesammte Unterrichts­ verwaltung in Preußen, Iahrg. 1892, S. 349. 7) Ueber die Frankfurter Lehrpläne giebt näheren Auf­ schluß die Schrift von dem dortigen Direktor Dr. Kart Reinhardt „Die Frankfurter Lehrpläne" 1892. 8) Nicht gegen die Cäsarlektüre an sich, wie es in einem Referat über meine Rede hieß, sondern gegen eine vorge­ schriebene vierjährige Beschäftigung mit demselben Autor spreche ich mich aus; und ebenso tadle ich nicht das Lesen von Ciceronianischen Reden und Schriften im allgemeinen, sondern den Abschluß der lateinischen Lektüre mit „Cicero, in Catil. I, II oder III", wie im Centralblatt Jahrgang 1892 S. 222 zu lesen ist. (J) Daß daneben auch noch das Hebräische als fünfte Fremdsprache für künftige Theologen am humanistischen Gym­ nasium ex officio gelehrt wird und sogar einen Gegenstand der Reifeprüfung bildet, dagegen muß als gegen ein Ueberflüssiges und der Schule nicht Würdiges immer aufs neue und bei jeder Gelegenheit Einsprache erhoben werden. 10) O. Willmann, Didaktik als Bildungslehre, zweiter Band 1889 S. 450.

Früher im Göschen schen Verlage erschienene Schriften von

Prof. Dr. Theob. Ziegler: Die fragen der Schulreform.

Zwölf Vorlesungen.

Inhalt: Vorlesung I. Klagen und Anklagen. Die Berliner Konferenz. II. Er­ ziehen und Unterrichten. III. Der Sturm auf die klassischen Sprachen. IV. BildungsEinheit oder Mannigfaltigkeit. V. Das Realgymnasium und das Gymnasial­ monopol. VI. Die RealschuleundderEinjährig-Freiwilligen-Schein.VII.Der staatliche Lehrplan und die Freiheit der Bewegung. Konzentration und Ueberbürdung. VIII. Geschichte und Deutsch. IX. Turnen und Spielen. X. Schule und Haus. XI. Das Abiturienten-Examen und der Schulrat. XII. Lehrerbildung und Lehrer­ stellung. Schluß. - Anhang: 1. Die der Berliner Konferenz vorgelegten Fragen. II. Fragen Sr. Majestät des Kaisers und Königs. III. Zusammenstellung der Beschlüsse der Schulkonferenz. 8". VI, 176 S. M. 2.50. Pädagogium: . . . Die frische, kernige, freimütige Sprache fesselt und erfreut den Leser von Anfang bis Ende; durchaus ernst und gediegen im Gehalte, fließend und ungekünstelt in der Diktion, bringen sie neben gründlicher Gelehrsamkeit auch den gesunden Menschenverstand und einen köstlichen Humor zum wirkungsvollsten Ausdrucke. Wenn man dieses Buch durchgelesen hat, bedauert man nur eins, nämlich, daß es scholl zu Ende ist. Dann dankt man dem Verfasser und beglückwünscht die Universität Straßburg zu einer solchen Lehrkraft, die deutsche Pädagogik zu einem solchen Vertreter. Lit. Eentralblatt: ... Von hoher Warte aus unterzieht der auf dem Gebiete der Schule und Pädagogik von je her rührige Verfasser den gesamten Umkreis dessen, was seit den letzten Jahren in unserem Schulwesen als reformbedürftig bezeichnet wurde, einer eindringlichen und freimütigen Kritik. Die Fülle geistvoller und zutreffender Bemerkungen und das tiefe Verständnis für die jugendliche Eigenart und die Bedürfllisse unserer Seit, welches die Ausführungen des Verfassers osseilbaren, verleihen dem Buche einen dauernden Wert.

Die soziale Frage eine sittliche Frage.

M^alismus

und Sozialismus. — Kap. 2. Die sozialistischen Utopien. — Kap. 3. „Bum sozialen Frieden." — Kap. 4. Staat und Kirche; Vaterland und Jnternationalität. — Kap. 5. Faniilie und Frau; die Frauenfrage. — Kap. 6. Armut mid Wohl­ thätigkeit; Luxus und Glück. —- Kap. 7. Die Nebervölkerungsfrage. 4. Auflage. 8°. 182 S. M. 2.50. ---------------Scbmollers Iahrbn ch: Ein herzerfrischendes Büchlein, angenehin, ja glänzend geschrieben, mit natürlicher Beredsamkeit al, den Idealismus appellierend, die Tagesparteien und die sozialen Gruvpel», die sich bekämpfen, auf das verweisend, was der Urgrund alles Menschlichen ist, auf das innere Seelenleben, seine Ent­ wickelung, Veredlung, Verfeinerung. Kein guter Mensch aus der großen Majorität der Nation, die nicht zu diesen beiden Kreisen gehört, wird die Erörterungen ohne Teilnahme, ohne Erhebung lesen können. Um diese große Menge der zunächst Nichtbeteiligten, aber Lauen und Gleichgültigen in Fluß zu bringen, für deil „sozialen Geist" zu gewinnen, wüßten wir kaum ein besseres Mittel als die Lektüre des Schriftchens .. . Kaum je ist dieser Standpunkt so tief, so fein, so geschmackvoll und so beredt vertreten worden und nirgends ist die Wahrheit so anschaulich ausgefiihrt, daß aller sozialer Fortschritt in letzter Instanz eine sittliche Frage sei.

Das Gefühl.

Line psychologische Untersuchung.

328 S.

M. 4 20, geb. M. 5.20.

Gr. 8".

Gegen wart: Das Buch richtet sich an die Gebildeten jedes Standes, denn es enthält gemeinverständ­ liche Darlegungen allerdings abstrakter Begriffe, die jedoch so glücklich und klar mit den, Leben »rnd den Erfahrungen verbimden sind, daß sie dadurch allgemein verständlich und anziehend roerben und obendrein zum Nachdenken anregen. Das Gefühl, von seiner ersten Phase als „Bewußtsein" bis in seine äußersten sittlichen Folgerungen entwickelnd, zeigt der Verfasser das Egoistische der Menschennatur au manche», un­ erwarteten Punkte . . . sein Werk über das Gefühl bedeutet einen Fortschritt auf dem Gebiete einer ge­ sunden und unbestechlichen Ethik.

Friedrich Theodor Vischer. Vortrag gehalten im Verein für Kunst und Wissenschaft zu Hamburg.

Gr. 8".

45 S.

M. 1.20.

Leipziger Zeitg.: Ein früherer Hörer und Schüler Vischers, auch ein Schwabe, zeichnet uns hier ein Bild seines Meisters und Landsmanns aus der Erinnerung. Es ist kein trocknes Zusammenfassen des Lebens und Wirkens Vischers, sondern ein lebendiges Spiegelbild der Persönlichkeit dieses Mannes, wie es sich im Auge eines Einzelnen gefangen bat, eines Mannes, der als Mensch, Aesthetiker und Dichter von seltener Urwüchsigkeit und Kraft und trotz seiner Schwächen und Einseitigkeiten doch be­ deutend und bleibend genannt zu werden verdient . . . In unserer Zeit des Nivellierens und des flachen Materialismus ist ein Vorbild von solcher Eigenheit und des reinsten ideellen Strebens sehr am Platze.