Nicolaus Sombart - Utopist, Libertin, Dandy [1 ed.] 9783412526931, 9783412526917

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Nicolaus Sombart - Utopist, Libertin, Dandy [1 ed.]
 9783412526931, 9783412526917

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Nicolaus Sombart

Günter Erbe

Nicolaus Sombart Utopist, Libertin, Dandy

Günter Erbe

Nicolaus Sombart (1923-2008) war eine Reizfigur der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Als Soziologe begriff er die deutsche Sozial- und Kulturgeschichte als eine »chronique scandaleuse« der Geschlechterverhältnisse. Als Literat verstand er sich als einen Chronisten der »großen Welt«, als einen der wenigen seiner Profession, der Zugang zu ihren Umgangs- und Verhaltensformen und erotischen Geheimnissen besaß. Der Anhänger des Utopisten Saint-Simon betrachtete sein Leben als ein unausgesetztes Experiment. Sein Sinnen und Trachten war die Selbststilisierung der Person durch eine Verbindung von großbürgerlichem Habitus, dandyhafter Exzentrik und exhibitionistischer Geste, ein Unterfangen, das seine Wirkung in der heutigen medial geprägten Welt nicht verfehlte. Mit seiner facettenreichen Biographie dieser schillernden Persönlichkeit der Berliner Society, die einen berühmten Salon unterhielt, fügt der Kultursoziologe Günter Erbe seinen Untersuchungen der mondänen Welt ein weiteres illustratives Kapitel hinzu.

ISBN 978-3-412-52691-7

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Günter Erbe

Nicolaus Sombart – Utopist, Libertin, Dandy

Böhlau Verlag Wien Köln

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© 2023 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Nicolaus Sombart im Berliner Grunewald Februar 1984 © Isolde Ohlbaum Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Korrektorat: Felicitas Sedlmair Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978–3–412–52693–1

Inhalt

Einleitung: Ein Bürger auf Abwegen ....................................................... 9 Herr sein wollen in einer Gesellschaft ohne Herren .................................... 9 Über Geschmack lässt sich streiten .......................................................... 16 Bildung der Persönlichkeit ...................................................................... 26 Vom Bildungsbürger zum „Geschmacksbürger“......................................... 28 I. Kindheit und Jugend in Berlin......................................................... Großbürgerliche Geselligkeit im Schatten der Nazidiktatur ......................... Werner Sombart und der Nationalsozialismus ........................................... Degout vor der Pöbelherrschaft ............................................................... Bürgerlichkeit im Dritten Reich ............................................................... Das Eliteverständnis der bündischen Jugend ............................................. Die große Welt zu Gast ........................................................................... Der geistige Mentor Carl Schmitt .............................................................

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II. Kriegszeit und Zusammenbruch ..................................................... Einzug zum Militär. Kriegserlebnisse........................................................ Besser ein Neuarmer als ein Neureicher.................................................... Entbürgerlichung des Bürgertums............................................................

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III. Studienjahre in Heidelberg und Neapel........................................... Orientierungssuche zwischen Literatur und Wissenschaft ........................... Der Salon Corina Sombarts in Heidelberg................................................. Frühe wissenschaftliche Arbeiten............................................................. Die Geschichts- und Kultursoziologie Alfred Webers ................................. Die Dissertation über Saint-Simon und die Entstehung der Geschichtssoziologie ..............................................................................

73 73 77 79 80

IV. Zwischen Wissenschaft und Erotik. Pariser Lehrjahre ...................... Paris. Stadt der Frauen............................................................................ Parvenüallüren ...................................................................................... Rastignac redivivus ................................................................................ Begegnung mit bedeutenden Männern ..................................................... Der Kult der Frau im Werk von Auguste Comte......................................... Germaine de Staël und Juliette Récamier .................................................. Besuch bei den großen Damen ................................................................

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Inhalt

Sexuelle Erfahrungen und Experimente als soziologischer Erkenntnisgewinn.................................................................................. Auf der Suche nach der Ausnahmefrau ..................................................... Elitetheorie und neue Geschlechterordnung .............................................. Die Zukunft gehört dem Snob .................................................................

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V. Kultursekretär im Europarat. Publizistische Vorhaben ..................... Ende der Lehr- und Wanderjahre............................................................. Einer noblen Sache dienen ...................................................................... Mitarbeit beim Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie ...........................

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Abbildungen ......................................................................................... 146 VI. Rendezvous mit Ernst Jünger ......................................................... Erste Annäherungen .............................................................................. Ernst Jünger als Visionär der Technik ....................................................... Planung und Planetarisierung ................................................................. Abrechnung mit Ernst Jünger .................................................................. Abkühlung im Verhältnis zu Carl Schmitt .................................................

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VII. Max Weber. Der Bismarck der Wissenschaft ................................... Wissenschaft als ein Asyl ........................................................................ Max Weber und Werner Sombart – Bourgeois versus Bohemien .................. War Max Weber misogyn? ...................................................................... Der Antipode Otto Gross........................................................................ Max Weber – psychoanalytisch betrachtet................................................. Reinhart Koselleck über Psychohistorie .................................................... Grenzen der Patriarchatskritik................................................................. Max Webers Ideal von Männlichkeit ........................................................ Macht und Ohnmacht ............................................................................

169 169 172 174 178 182 185 187 188 192

VIII. Carl Schmitt. Zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos ......... Bisexualität als Schicksalsfrage ................................................................ Das Carl-Schmitt-Syndrom..................................................................... Sehnsucht nach dem Reich der Mütter ..................................................... Die Macht des Weiblichen....................................................................... Das Arcanum des Theoretikers des Machtstaates .......................................

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IX.

Wilhelm II. Ausnahmemensch und wagnerisches Gesamtkunstwerk ......................................................................... 205 Ein sinnbildlicher Mensch ...................................................................... 205

Inhalt

Ein genialer Exzentriker ......................................................................... Ein typischer Décadent........................................................................... Ein effeminierter Monarch ...................................................................... Man muss den Kaiser lieben....................................................................

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X. Wiederentdeckung Ernst Jüngers ................................................... Ein Herr als-ob...................................................................................... Désinvolture im Schützengraben ............................................................. Soldatische Disziplin und urbane Zivilisiertheit ......................................... Literarisches Herrentum contra Literatur aus der Wohnküche ..................... Ein Dandy im Ruhestand ........................................................................

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XI. Soziologie des mondänen Lebens .................................................. Adel und Schickeria ............................................................................... Simulation höfischer Rituale ................................................................... Ein Freund und Gönner – Der Medienfürst Hubert Burda .......................... Gregor von Rezzori über die „highest society“ ........................................... Die Berliner Gesellschaft ........................................................................

233 234 236 238 241 243

XII. Intime Bekenntnisse...................................................................... Der Honnête Homme im Petit Chalet....................................................... Lust am Skandal .................................................................................... Ein Fest für Charles Fourier .................................................................... Reise ins Land der Mutter .......................................................................

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XIII. Der Herr bittet zum Tee.................................................................. 261 Resümee ............................................................................................. 271

Anhang Mission nach Venedig [Ein Bericht aus dem Nachlass Nicolaus Sombarts] ............................................................................................ 277 Quellen- und Literaturverzeichnis .......................................................... 295 Personenregister .................................................................................. 313 Danksagung ......................................................................................... 319

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Einleitung: Ein Bürger auf Abwegen

Herr sein wollen in einer Gesellschaft ohne Herren „… so ein Paradiesvogel wie ich ist ja auch schlecht zu rubrizieren.“1

Der Berliner Kultursoziologe Nicolaus Sombart ist eine Doppelbegabung. Er ist Wissenschaftler und Schriftsteller in einer Person. Als Wissenschaftler hat er eine umfangreiche Studie zu Carl Schmitt vorgelegt. Sie ist die Summe eines langen Nachdenkens über den berühmt-berüchtigten Staatsrechtler, der in der NS-Zeit in hohe Ämter gelangte und im Laufe seines Lebens eine Vielzahl bedeutender Werke publiziert hat, die bis heute nachwirken. Die Studie beansprucht, durch ihre originelle Lesart die Schmitt-Rezeption entscheidend voranzubringen. Auch als Schriftsteller meldet Sombart einen hohen Geltungsanspruch an. Er hat keine Scheu, seine mit soziologischen Kommentaren und kulturwissenschaftlichen Reflexionen angereicherten autobiographischen Texte in eine Reihe mit den Werken Prousts, Thomas Manns und Musils zu stellen, das Mittelmaß der deutschen Gegenwartsliteratur durch ihren kosmopolitischen Horizont weit überragend. Es ist der großbürgerliche Blickwinkel, der die meisten seiner Bücher von denen anderer Schriftsteller unterscheidet, ein Blickwinkel, der auf eine vergangene Periode der europäischen Literatur verweist. Nicolaus Sombart schreibt aus der Perspektive eines Herrn, wohl wissend, dass es diesen Herrn eigentlich nicht mehr gibt. Er hat ihn gleichwohl durch Erziehung und frühe Bildungseindrücke in sich aufgenommen und ist entschlossen, diesen Habitus um jeden Preis zu kultivieren und zu behaupten. Als Soziologe und Schriftsteller versteht er sich als einen Chronisten und Anwalt der „großen Welt“, als einen der wenigen seiner Profession, der Zugang zu dieser Welt, ihren Umgangs- und Verhaltensformen und erotischen Geheimnissen besitzt. Ihr Niedergang wird nicht ohne Wehmut registriert. Dennoch verharrt Sombart nicht im Ressentiment. Er sucht und findet Anschluss an die junge Generation und stellt sich den Fragen der Gegenwart. Seine geistige Neugier, sein Hedonismus und Erotizismus bringen ihn in Kontakt mit Kreisen der intellektuellen und mondänen Boheme. Der homme du monde Nicolaus Sombart versteht sein Leben als ein unausgesetztes Experiment. Der im Feuilleton gern gebrauchte Begriff Dandy zur Kennzeichnung seiner Person trifft ihn nicht ganz, denn der Dandy als Idealtypus ist kein Hedonist und Erotiker. Er neigt eher zum Asexuellen und zur Askese. Sombart teilt mit dem

1 Nicolaus Sombart, Journal intime 1982/83. Rückkehr nach Berlin, Berlin 2003, S. 15.

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Einleitung: Ein Bürger auf Abwegen

Dandy die Nonchalance, die Lust an der Provokation und die Neigung zum kultivierten Müßiggang. Dandys schreiben keine gelehrten Werke und Künstlerisches hervorzubringen, steht ihnen nur zu, wenn es mühelos, wie beiläufig, von statten geht. Den literarischen Produktionen Sombarts haftet etwas Skizzenhaftes, Anekdotisches an. Erzählung und wissenschaftliche Deutung durchdringen einander. Eine gewisse Lässigkeit, ja Nachlässigkeit ist nicht zu übersehen. Am Beispiel Sombarts soll gezeigt werden, welche Lebensform der Dandy in Verbindung mit einer bestimmten Spielart des Bildungsbürgers angenommen hat. Auch das Risiko des Scheiterns gehört dazu. Ob Sombart, wie behauptet, als öffentliche Figur das Opfer der nivellierten Mittelstandsgesellschaft in Deutschland wurde oder nicht vielmehr diese Gesellschaft brauchte, um sich gegen sie zu profilieren und ihr die Stirn bieten zu können, gilt es zu untersuchen.2 Zweifellos bringt die weit verbreitete Kleinbürgerlichkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland einen Lesertypus hervor, den Sombarts Snobismus und grandseigneurale Attitüde befremden. Andererseits hat er es sich durch provokative Bemerkungen und sprachliche Manierismen selbst zuzuschreiben, dass seine Bücher kritische Reaktionen hervorrufen. Als öffentliche Figur ist er in einer zum Egalitären neigenden Gesellschaft zum Außenseiterdasein verdammt. Doch wächst ihm in der Rolle des Paradiesvogels und Salonlöwen auch eine gewisse Attraktivität zu. Er fällt auf, er fällt aus dem Rahmen, er skandalisiert und kann deshalb der Aufmerksamkeit der Medien sicher sein. Sombart ist ein Grenzgänger und Grenzüberschreiter. Er verbringt viele Jahre im Ausland, vor allem in Frankreich. Er ist Europäer, in dem sich Deutsches und Französisches und mütterlicherseits auch Rumänisches miteinander verbinden. Nicolaus Sombart gehört noch einer Generation an, der „Amerikanismus“ und Kommerz, Elemente der modernen Massenkultur, suspekt sind und jenseits der eigenen Bildungssphäre liegen. Dennoch zeigt er als Soziologe Interesse an den neuesten kulturellen Erscheinungen und weiß sich des modischen postmodernen wissenschaftlichen Vokabulars zu bedienen, wo es ihm angebracht erscheint. Dies berührt aber nicht sein eigenes Geschmacksverhalten und bedeutet für ihn auch nicht eine Infragestellung des tradierten Bildungskanons. Wenn wir ihn als einen Bürger auf Abwegen3 bezeichnen, dann im Sinne einer Überschreitung des bürgerlichen Wertekanons hin zu einem elitären Aristokratismus und nicht im Sinne neubürgerlicher Bestrebungen, den Bildungs- und Geschmackskanon um Elemente der Massenkultur zu erweitern. Mit der Kennzeichnung eines Bürgers auf Abwegen ist auch nicht jener feminine, neurasthenische Künstlertypus gemeint, 2 Zur These, Nicolaus Sombart sei an der nivellierten Mittelstandsgesellschaft gescheitert, vgl. Tilman Krause, Der letzte Bewohner des alten Europa. In: Die Welt vom 5. Juli 2008, S. 28. Abgedruckt in: Hommage à Nicolaus Sombart (1923–2008). Hg. von Alexander Sombart, Anvers 2008, S. 14–16. 3 Die Bezeichnung „Bürger auf Abwegen“ übernehme ich von T. Krause, ebd., S. 15.

Herr sein wollen in einer Gesellschaft ohne Herren

den Thomas Mann in seiner Novelle „Tonio Kröger“ gestaltet hat. Sombart ist als Künstler/Schriftsteller bis in den Habitus hinein immer auch Großbürger. Während sich Tonio Kröger nach den „Wonnen der Gewöhnlichkeit“ sehnt, sehnt sich Sombart nach dem Außergewöhnlichen, Außeralltäglichen. Seine Abwege führen ihn nicht in die Niederungen der Künstlerboheme, sondern in die Bezirke des eleganten Lebens und der erotischen Exerzitien. Im Unterschied zu den nachfolgenden 68ern stützt sich Sombart auf das kulturelle Erbe der Elterngeneration. Wenn er sich in späteren Jahren kritisch mit dem autoritären Denken einiger ihrer Repräsentanten wie Max Weber und Carl Schmitt auseinandersetzt, geschieht dies nicht so sehr aus politischen Gründen, sondern ist sexualwissenschaftlich und psychoanalytisch motiviert. Sombarts Persönlichkeitsprofil gewinnt an Kontur, wenn man es mit dem des Schriftstellers und Journalisten Friedrich Sieburg vergleicht, der nach 1945 ebenfalls als Zeitkritiker, wenn auch ohne jeden utopischen Elan, von sich reden machte.4 Sieburg steht mit seiner Kritik am Geschmacksverlust der führenden Kreise der Bundesrepublik Deutschland in den ersten Nachkriegsjahrzehnten in einer Reihe mit Autoren wie Gregor von Rezzori, Hermann von Eelking und Hans Georg von Studnitz.5 In seinem Buch „Die Lust am Untergang. Selbstgespräche auf Bundesebene“, erschienen 1954, ist unter dem Titel „Gibt es noch feine Leute?“ zu lesen: „Wie massenselig auch die Lebensformen der Menschen geworden sind, wie unaufhaltsam die Verteilung jener Konsumgüter, die einst nur einer kleinen Schicht vorbehalten waren, sich auch ausbreitet, das ‚Feine‘ führt dennoch ein zähes Leben und hat immer noch die Kraft, die Hoffnungen und Vorstellungen der meisten Menschen mit Romantik auszustaffieren.“6 In Deutschland gebe es eine Gesellschaft im alten Sinne nicht mehr. Sie sei auch früher nie richtig vorhanden gewesen. Mag das in diesen Feststellungen enthaltene Werturteil auch fragwürdig erscheinen, dass Sieburgs Beobachtungen in der Sache zutreffend sind, lässt sich kaum bestreiten. Eleganz und Vornehmheit sind historische Begriffe geworden. Die Prominenz, eine Erscheinung, die nicht durch Auslese, sondern durch Beifall zustande kommt, setzt die Maßstäbe. Sieburg wie auch andere Zeitzeugen bestätigen, dass

4 Zur Biographie Sieburgs vgl. Tilman Krause, Mit Frankreich gegen das deutsche Sonderbewußtsein. Friedrich Sieburgs Wege und Wandlungen in diesem Jahrhundert, Berlin 1993. 5 Vgl. Gregor von Rezzori, Der Idiotenführer durch die Deutsche Gesellschaft. Bde. I–VII, Reinbek bei Hamburg 1962ff.; Hans Georg von Studnitz, Glanz und keine Gloria. Reise durch die Wohlstandsgesellschaft, Stuttgart 1965. Zu Hermann von Eelking vgl. seine Beiträge im „Herrenjournal“. Siehe auch das Eelking-Kapitel meines Buches „Der moderne Dandy“, Köln/Weimar/Wien 2017. 6 Friedrich Sieburg, Die Lust am Untergang. Selbstgespräche auf Bundesebene, Reinbek bei Hamburg 1961, S. 110.

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Einleitung: Ein Bürger auf Abwegen

das, was einmal Society oder gute Gesellschaft hieß, in der Bundesrepublik Deutschland einen grundlegenden Wandel durchgemacht hat. Prominenz erweist sich als die demokratische Form von Society, denn ein jeder kann prominent sein, jeder ein Star werden. Geschmack und gute Manieren werden durch Glamour ersetzt. Sieburgs Gesellschaftsdiagnose betrifft auch eine Zentralfigur der guten Gesellschaft: den Herrn und dessen modische Erscheinungsform. Die Herrenmode zeigt, dass sich das Verhältnis von Schneider und Kunde umgekehrt hat. Der Kleidungsstil wird nicht mehr vom Träger bestimmt, „der zum Schneider geht, sich einen Stoff aussucht und auf einem bestimmten Schnitt besteht. Dieser Kunde existiert nicht mehr, die Männer haben in der Frage, was sie anziehen sollten, nicht dreinzureden.“7 Die Eleganz hat abgedankt. Sie ist überhaupt keine ernst zu nehmende Kategorie mehr. Sieburg zieht aus dieser Beobachtung den Schluss: „Man kann nicht mehr so denken, als ob die Herrenkleidung überhaupt noch unter einem Stilgesetz stände, das von einer dominierenden Schicht bestimmt wird. Es ist hoffnungslos, an den ‚Herren‘ zu appellieren, damit die Anzüge phantasievoller und die Muster lebendiger werden. Diesen ‚Herren‘ gibt es nicht.“8 Wenn eine gute Gesellschaft im eigentlichen Sinne nicht mehr existiert, so gibt es doch Surrogate. „Die Frage, die wir uns stellen, schrumpft also darauf zusammen, daß eine kleine Gruppe von Leuten versucht, Gesellschaft zu sein, und daß sie sich zu diesem Zweck bemüht, durch Nachahmung einen Stil vorzutäuschen.“9 Sieburg nimmt vorweg, was Nicolaus Sombart Jahrzehnte später über das Schicksal der Society in Deutschland feststellen wird, mit dem Unterschied freilich, dass es inzwischen nichts mehr nachzuahmen gibt, was Gesellschaft im engeren Sinne darstellt, sondern die Simulation die Nachahmung ersetzt hat. Sieburg und Sombart, durch eine Generation voneinander getrennt, beklagen den Mangel an Geschmack und Stil. Ihnen fehlt die hierarchisch aufgebaute Gesellschaft, deren höchste Spitze die „gute Gesellschaft“ bildet, in der Geschmack, Stil und Eleganz gepflegt werden. Sie träumen von einer solchen Gesellschaft, in die sie zuweilen, meist in ihrer Jugend, einen Schritt getan haben. Sie haben mit Leuten der eleganten Welt verkehrt, denen allein sie Kompetenz in Fragen des guten Geschmacks zugestehen. Nach dem zweiten Weltkrieg begann in der Bundesrepublik Deutschland eine weitreichende gesellschaftliche Demokratisierung. Der Adel war verarmt und die Großbourgeoisie geschwächt. Allmählich entwickelte sich wieder gesellschaftlicher Reichtum, der sich in den Händen weniger konzentrierte. Mochten die fünfziger und sechziger Jahre noch Anlass bieten für satirisch-polemische Betrachtungen

7 Friedrich Sieburg, Lauter letzte Tage. Prosa aus zehn Jahren, Stuttgart 1961, S. 247. 8 Ebd., S. 249. 9 Ebd., S. 258.

Herr sein wollen in einer Gesellschaft ohne Herren

über Schickeria und Prominenz und mochte der Eindruck entstehen, es gebe so etwas wie eine nivellierte Mittelstandsgesellschaft, so kann jedoch nicht übersehen werden, dass sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wieder eine soziale Elite formiert hat, die sich durch extremen Reichtum und Machteinfluss von der Masse abhebt. In ihrem Lebensstil setzt sich diese neue Oberschicht von der Mittelund Unterschicht deutlich ab. Sie spielt nicht nur „Gesellschaft“, wie Sieburg und Sombart feststellen. Sie bemüht sich, durch einen signifikanten Geschmacks- und Konsumstil Distanz zu demonstrieren. Statt diese Elite an den Kriterien einer versunkenen sozialen Formation wie der „guten Gesellschaft“ von einst zu messen, wäre mehr damit gewonnen, den für sie typischen Stil des Geschmacks und Konsums, des Lebensstils im Allgemeinen, zu untersuchen. Es ist nicht nur die Prominenz, die den Ton angibt. Es gibt immer noch den Hochadel als in sich geschlossene familienbezogene Parallelwelt. Es gibt das reiche Wirtschaftsbürgertum in seinen neuen global vernetzten Ausprägungen, und es gibt die Prominenz aus Mode, Medien und Popkultur. Diese Gruppen bilden eine, wenn auch diffuse, neue gute Gesellschaft, die sich über Geschmack und Stil definiert. Sie unterscheidet sich durch die Art des Wohnens, Konsumierens, die Freizeitgestaltung, die Zugehörigkeit zu Klubs, den Besitz von Statussymbolen wie Kunstsammlung, Privatjet, Segelyacht etc. Es ist ein neues Konsumbürgertum, das sich durch seinen Reichtum und seinen Lebensstil von anderen abhebt. Als lokale Society gibt es sie in Städten wie Düsseldorf, Hamburg, München und Frankfurt am Main. Nimmt man die Düsseldorfer Salonnière Gabriele Henkel oder den Münchner Medienfürsten Hubert Burda als Pars pro toto, so lässt sich feststellen, dass das Wirtschaftsbürgertum den Ton angibt, es zugleich auf die Verbindung zu Vertretern des Bildungsbürgertums (vor allem zu Künstlern) angewiesen bleibt.10 Es geht in diesen Kreisen nicht um Persönlichkeitsbildung im Sinne klassischer Ideale von Bildung, sondern um differenzierten Konsum und Lebensstilisierung auf höchster Ebene. Ein charakteristischer Zug der Persönlichkeit Nicolaus Sombarts, der im Folgenden noch häufiger zur Sprache kommen wird, ist das Interesse an der Erotik, verstanden als ein ungehemmtes Ausleben sexueller Bedürfnisse. Ein Gutteil seines Werks ist diesem Bereich gewidmet, basierend auf Mitteilungen aus seinem Privatleben, die sich zu einer Theorie des Erotischen verdichten. Leitende Maxime seines Denkens ist die These von der Notwendigkeit der sexuellen Befreiung der Frau als

10 Im Zuge der Professionalisierung und Akademisierung der Unternehmensleitungen sind die Konturen zwischen Wirtschafts- und Bildungsbürgertum seit dem späten 19. Jahrhundert freilich immer mehr verschwommen. Vgl. Dieter Ziegler, Die wirtschaftsbürgerliche Elite im 20. Jahrhundert: eine Bilanz. In: Dieter Ziegler (Hg.), Großbürger und Unternehmer. Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 9.

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Einleitung: Ein Bürger auf Abwegen

Bedingung für die Entfaltung eines von Beschränkungen freien Liebeslebens beider Geschlechter. Sombart wird immer wieder auf dieses Thema zurückkommen. Die Erotik wird als ein Medium der Erkenntnis sui generis begriffen. Für Sombart gehört sie der Sphäre des Sakralen an. Sein Bild der Frau als erotisches Wesen oszilliert zwischen ritterlicher Anbetung und Verehrung und promiskuitiver körperlicher Inbesitznahme. Georges Bataille und der Marquis de Sade, die erotische Literatur orientalischer Kulturen und die Forschungsergebnisse der Sexualwissenschaften bilden den Fundus, der Sombarts privaten Experimenten und Exkursionen auf diesem Gebiet literarisch-wissenschaftliche Dignität verschaffen soll. Mit der Erotik kommen Elemente des Spielerischen, Hedonistischen zum Zuge, wie sie in der Tradition des Abenteurers des 18. Jahrhunderts in der Gestalt eines Casanova, aber auch in dem utopischen Konstrukteur einer neuen libertären Liebesordnung Charles Fourier ein halbes Jahrhundert später Ausdruck gefunden haben. In der Persönlichkeit Sombarts vermischen sich Sozialutopist und Libertin auf eigentümliche Weise. Die autobiographischen Schriften Nicolaus Sombarts vermitteln den Eindruck, dass sich in seiner Vita Bildung, Geschmack und Eleganz miteinander verbinden. Wenn Eleganz den Beruf des Dandys darstellt, so stehen für den Bildungsbürger Bildung und Geschmack im Zentrum seiner Bestrebungen. Während Geschmack mehr auf die höfische Gesellschaft und damit auf den Adel verweist, ist Bildung ein Anspruch des sich von höfischen Schranken befreienden Bürgers. Historische Darstellungen zum Bildungsbürgertum betrachten die Bildung als ein Auszeichnungsmerkmal, das die Angehörigen dieser Schicht in besonderer Weise charakterisiert. Weniger Beachtung in der Bestimmung des Bildungsbürgertums findet die Kategorie des Geschmacks, denn dieser lässt sich schwerer fassen. Ihm haftet etwas Diffuses an. Noch weniger scheint sich der Begriff der Eleganz als Kriterium zu eignen, um die Physiognomie des Bildungsbürgers präziser zu umreißen. Offenbar gehört Eleganz einer Sphäre an, die mit Bildung nur äußerlich korrespondiert. Wenn einem Gelehrten wie Carl Schmitt attestiert wird, er verfüge über eine „elegante Intellektualität“11 , ist dies zwar als ein Kompliment zu verstehen, aber im Grunde spielt Eleganz für die Beurteilung von Bildung bzw. Bildungswissen keine Rolle. Eleganz verweist auf die Sphäre des Ästhetischen, des Stils und führt über den Bereich des Bildungswissens hinaus.

11 Vgl. Interview mit Karlheinz Stierle in: Petra Boden/Rüdiger Zill (Hg.), Poetik und Hermeneutik im Rückblick. Interviews mit den Beteiligten, Paderborn 2017. „Nicht nur Taubes, auch Blumenberg, der Philosoph Hermann Lübbe und der Historiker Koselleck waren von der zwielichtigen Gestalt Schmitts und seiner eleganten Intellektualität fasziniert. Politisch war der Kreis, wie gesagt, ein buntes Durcheinander, doch gab es eine Art Grundkonsens des Respekts oder dessen, was die Franzosen honnêteté nennen.“ (Ebd., S. 33.)

Herr sein wollen in einer Gesellschaft ohne Herren

Wie seine Generationsgefährten, die Historiker Reinhart Koselleck und Thomas Nipperdey, der Mediävist Peter Wapnewski und der Soziologe M. Rainer Lepsius, entstammt Nicolaus Sombart einem bildungsbürgerlichen Elternhaus. Im Unterschied zu den Genannten, die es als Wissenschaftler in ihrem Fach zu hohem Ansehen brachten, sieht Sombart seine Bemühungen, auf akademischem Gebiet zu Ruhm zu gelangen, als gescheitert an. Er meint, dieses „Scheitern“ durch Qualitäten auf einem anderen Gebiet wettmachen zu können: der Lebensart. Er inszeniert sein Leben als das eines Privatiers und Weltmannes – der Beamtenposten bei einer internationalen Organisation stellt nur eine Durchgangsstation dar – , der das Schreiben als ein Divertissement betrachtet und in der Wissenschaft nicht durch Gelehrsamkeit, sondern durch originelle Einfälle und Geistesblitze auf sich aufmerksam machen will. Die Durchführung seiner Ideen überlässt er den anderen. Er gibt Denkanstöße, denn die Pedanterie wissenschaftlichen Arbeitens ist nicht die Sache eines Weltmannes. Für den Literaturwissenschaftler Gert Mattenklott ist Nicolaus Sombart als Theoretiker ein „Synkretist, der seine Deutungsansätze, um akademische Konsistenz unbesorgt, aufliest und kombiniert, wie sie ihm zufallen.“12 Sein Streben nach Originalität verleitet ihn freilich manchmal zu einer pedantischen Eleganz.13 Der Spross einer großbürgerlichen Gelehrtenfamilie will nicht nur Bildungsbürger sein. Sein Selbstverständnis gründet sich nicht allein auf das erworbene Bildungswissen. Er will durch seinen Lebensstil das Bildungsbürgerliche ins Kosmopolitisch-Urbane transzendieren und bezieht sich dabei auf ein Verhaltensideal, das in der höfischen Kultur und der großen Welt von einst wurzelt. Bevor das Leben Nicolaus Sombarts näher betrachtet wird, soll deshalb ein Blick auf die Geschichte der in dieser Darstellung immer wieder gebrauchten zentralen Begriffe Bildung und Geschmack geworfen werden. Dieser Exkurs erscheint für eine Klärung und Erfassung der Physiognomie und des sozialen Profils einer Persönlichkeit wie Sombart unerlässlich. Es geht in dieser Fallstudie um die Frage: Wie sind bildungsbürgerliche und ästhetische Existenz in der Massengesellschaft möglich? Nicolaus Sombart – dies gilt es im Auge zu behalten – ist kein typischer Bildungsbürger, sondern ein mixtum compositum: ein Utopist, Freigeist und Libertin und ein Grandseigneur alter Schule. In dieser eigentümlichen Gestalt verdient er unser Interesse. Als Persönlichkeit ist er, um mit Arnold Gehlen zu sprechen, eine Institution in einem Fall.14

12 Gert Mattenklott, Grüne Nelke, heiliger Sündenbock. In: Handelsblatt, 2./3. Oktober 1996. Anlass für diese Feststellung ist Sombarts Essay über Wilhelm II. 13 Den Begriff „pedantische Eleganz“ übernehme ich von August Wilhelm Rehberg. Vgl. Carl Schmitt, Politische Romantik, 3. unveränderte Auflage, Berlin 1968, S. 54. 14 Vgl. Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Hamburg 1957, S. 118.

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Einleitung: Ein Bürger auf Abwegen

Über Geschmack lässt sich streiten Der Gegensatz zwischen dem Pedanten und dem Weltmann steht seit den ersten Renaissance-Brevieren über richtiges Verhalten bei Hofe im Mittelpunkt der Debatten über Geschmack und Bildung. Bei dem Italiener Baldassare Castiglione ist es der cortegiano, der gewandte Hofmann, bei dem Spanier Baltasar Gracián der discreto, der stoische Weise, bei den französischen Moralisten der honnête homme, der vollendete Gesellschaftsmensch und bei Lord Chesterfield der gentleman. Dieser in verschiedenen Gestalten auftretende Weltmann ist das Ideal des urbanen Menschen.15 1630 verfasste Nicolas Faret sein Höflingsbrevier „L‘Honnête homme ou l‘art de plaisir à la cour“. Faret übersetzt und verarbeitet darin vor allem „Das Buch vom Hofmann“ von Castiglione. Der honnête homme hat von der Renaissance die humanistische Bildung übernommen. Er wendet sich freilich gegen das Pedantische in der humanistischen Gelehrsamkeit, die Hypertrophie des die schöne Menschlichkeit zerstörenden Bücherdaseins und Gelehrtenwesens. Er wendet sich andererseits gegen die Libertinage zugunsten der Sublimierung der Triebe.16 Diese über ein Jahrhundert immer wieder gepriesene Idealfigur hat man später als homme du monde, als Mann von Welt, zu bestimmen versucht.17 Der honnête homme verliert seinen gesellschaftlichen Zusammenhang im Zeitalter der Aufklärung, als der Glaube an die Ordnung der Skepsis weicht. Mit dem Ende des Ancien Régime und der Ständegesellschaft ist dem honnête homme feudaler Prägung die Existenzgrundlage entzogen. Er avanciert in der bürgerlichdemokratischen Gesellschaft zu einem nur noch ästhetischen Modell, dessen ethische Regulative keine Berechtigung mehr haben, da der Begriff der Ehre einen Wandel erfährt. Wenn der Historiker Carl Jacob Burckhardt zur Bestimmung des honnête homme den Kantschen kategorischen Imperativ heranzieht, hat er den feudal-aristokratischen Diskurs hinter sich gelassen. Dieser Imperativ basiert auf menschlicher Gleichheit. Ein honnête homme kann ihn nicht akzeptieren, denn ästhetische Formung und Geschmacksverfeinerung sind nur denen möglich, die sich dem bürgerlichen Erwerbsprinzip verweigern. Im 18. Jahrhundert sind in Frankreich die Institutionen des Hofes und des Salons entscheidend für die Formung des Geschmacks. Geschmack bedeutet ein unmittelbares Unterscheidungsvermögen, eine Feinheit im Urteilen. Bei Hofe zählt der gute

15 Vgl. Robert Zimmer, Arthur Schopenhauer. Ein philosophischer Weltbürger, München 2010, S. 227. 16 Vgl. Carl Jacob Burckhardt, Der Honnête Homme. Das Eliteproblem im 17. Jahrhundert [1941]. In: ders., Gestalten und Mächte, Zürich 1984, S. 351. 17 Vgl. Mario Wandruszka, Der Geist der französischen Sprache, Hamburg 1959, S. 94.

Über Geschmack lässt sich streiten

Geschmack mehr als der Geist.18 Er ist eine Art Relais zwischen der sozialen Position und dem Verhalten des Einzelnen. Der Mann der Gesellschaft, der Hofmann oder honnête homme, ist der Mann des feinen Geschmacks.19 Geschmack und Lebensart, Ästhetisches und Ethisches sind untrennbar miteinander verbunden. Das Verhalten eines Aristokraten manifestiert sich nicht allein durch seine Höflichkeit, sondern ebenso durch seinen Geschmack. Dieser darf niemals ostentativ erscheinen, sondern muss sich in den Grenzen des Schicklichen und Natürlichen halten. Der Chevalier de Méré wendet sich gegen das scholastische Diktum: De gustibus non est disputandum. Guter Geschmack lasse sich stets begründen. Auch La Bruyère ist der Auffassung, es gebe einen guten und einen schlechten Geschmack und man streite mit Recht über Geschmacksfragen. Der gute Geschmack ist das Vorrecht der kleinen Zahl. Er ist gewöhnlich nur in der Welt des Müßiggangs zu finden, denn die von Castiglione und Gracián propagierte Lebenskunst schließt Arbeit und Spezialisierung aus.20 Der perfekte Weltmann besitzt, wie der Aufklärungsphilosoph Christian Garve betont, kein Metier. Es sind seine Kultur, seine Erziehung und seine Manieren, die den Charakter der Universalität hervorbringen. Falls dazu Arbeit oder Mühe erforderlich ist, so darf diese nicht als solche erkennbar sein.21 Der honnête homme ist der vollendete Kavalier. Er tut alles mit einer lächelnden Nonchalance. Unter Fremden weiß er sogleich den Ton eines alten Bekannten anzu-

18 „Guter Geschmack ist eher eine Sache des Urteilsvermögens als des Geistes.“ [Maxime 258] (François de la Rochefoucauld, Maximen und Reflexionen, München 1987, S. 93.) Vgl. Alain Montandon, Goût. In: A. Montandon (Hg.), Dictionnaire raisonné de la politesse et du savoir-vivre, Paris 1995, S. 440. 19 Ebd., S. 445. 20 Vgl. Wandruszka, Der Geist der französischen Sprache, S. 115. Voltaire schreibt in seinem „Philosophischen Wörterbuch“ über den Geschmack: „Es ist eine Schande für den menschlichen Geist, daß der Geschmack sich für gewöhnlich nur bei reichen Müßiggängern einschleichen kann. Ich habe einen von Natur aus recht geistreichen Versailler Beamten gekannt, der immer sagte: ‚Ich bin sehr unglücklich, ich habe keine Zeit, Geschmack zu haben.‘“ (Voltaire, Philosophisches Wörterbuch. Hg. von Rudolf Noack, Leipzig 1984, S. 234.) 21 Vgl. Maria Teresa Ricci, Du cortegiano au discreto: l‘homme accompli chez Castiglione et Gracián. Pour une contribution à l‘histoire de l‘honnête homme, Paris 2009. Garve meint, zum Genuss des Umgangs gehöre Muße und diese setze Befreiung von Nahrungssorgen voraus. „Um dieser Ursachen willen kann also nur diejenige Classe einer Nation, in welcher die größte Anzahl reicher, und nicht allzu beschäftigter Leute befindlich ist, und an gemeinschaftlichen Wohnplätzen zusammenlebt, durch Umgang sich sehr verfeinern.“ (Christian Garve, Über die Maxime Rochefoucaulds: das bürgerliche Air verliert sich zuweilen bey der Armee, niemahls am Hofe. In: ders., Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Literatur und dem gesellschaftlichen Leben. Teil 1 und 2, Hildesheim/Zürich/New York 1985, S. 295–452, hier S. 319. [Nachdruck der Ausgabe Breslau 1792])

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nehmen, „ohne doch der vollkommensten Höflichkeit irgendetwas zu vergeben.“22 Unfein wäre es, sich allzu viel auf seine Fähigkeiten zugute zu halten. „Der wahre Weltmann bildet sich auf nichts etwas ein.“23 Der honnête homme bedient sich in Gesellschaft nie seines Wissens wie ein rechthaberischer und ungezogener Pedant. Er ist der liebenswürdigste und unterhaltsamste Erzähler.24 Im Laufe der Zeit trennt sich der Sinn des Wortes honnête homme immer mehr vom Ethischen zugunsten des Ästhetischen. Die mondäne Bedeutung des Wortes überstrahlt schließlich die ethische so sehr, „daß man dem Beiwort honnête sein sittliches Eigengewicht nur mehr geben kann, wenn man es hinter das Hauptwort setzt und dadurch deutlicher abhebt.“25 . Für den Adligen zählt Geschmack stets mehr als Geist. Geschmack beweist richtiges Urteilsvermögen und Kennerschaft. Er ist mit dem Begriff der honnêteté, der gesellschaftlichen Gewandtheit und Beherrschung der Form, aufs Engste verknüpft. Geist wiederum – und das heißt auch Bildung – ist oft ohne gesellschaftliche Formbeherrschung anzutreffen. Der Adlige soll zwar über Esprit verfügen, mehr noch aber über guten Geschmack. Deshalb gilt die Maxime: „Die Eigenliebe lässt uns eine Verurteilung unseres Geschmacks schwerer ertragen als eine Verurteilung unserer Ansichten.“26 Wenn Geschmack eher eine Sache des Urteilsvermögens ist als des Geistes, so gilt jedoch auch, dass ohne Geist kein Urteilsvermögen vorstellbar ist. Geschmack setzt also auch Geist voraus. Damit dieser Geist zu Geschmacksurteilen fähig ist, bedarf es freilich der Schulung und Einübung. Noch bevor die französischen Moralisten ihre Maximen und Reflexionen über richtiges Verhalten bei Hofe niederschrieben, hatte in Spanien Baltasar Gracián, der als der Begründer der modernen Geschmackstheorie gelten kann27 , ein Handbuch der Weltklugheit vorgelegt. Gracián bemüht sich in seinem Werk um „eine Typologie des herrschaftlichen Menschen und vollendeten Weltmanns.“28 Die Verhaltensregeln, die der spanische Jesuit empfiehlt, gründen sich auf humanistische Bildung und die Erfahrungen in der guten Gesellschaft. 22 Garve, ebd., S. 346. 23 La Rochefoucauld, Maximen und Reflexionen, S. 73 [Maxime 203]. 24 „In der guten Gesellschaft muß man niemals vollständig und allein Recht haben wollen, wie es alle reine Logik will: daher die kleine Dosis Unvernunft in allem französischen Esprit.“ (Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, hier zitiert nach Wandruszka, Der Geist der französischen Sprache, S. 110.) 25 Wandruszka, Der Geist der französischen Sprache, S. 95. 26 La Rochefoucauld, Maximen und Reflexionen, S. 13 [Maxime 13]. 27 Vgl. Ute Frackowiak, Der gute Geschmack. Studien zur Entwicklung des Geschmacksbegriffs, München 1994, S. 195. 28 Baltasar Gracián, Handorakel und Kunst der Weltklugheit. Deutsch von Arthur Schopenhauer. Mit einer Einleitung von Karl Voßler, Stuttgart 1967, S. X.

Über Geschmack lässt sich streiten

Für Gracián sind Bildung und Eleganz nicht voneinander zu trennen. Bildung verlange nach Wissen, doch Wissen selbst sei ungeschlacht, wenn es der Eleganz entbehre. Mit Eleganz meint Gracián einen bestimmten Stil, in dem sich das Wissen äußert. Die Fähigkeit zur Stilisierung des Lebens wird als zentraler Faktor der Persönlichkeitsbildung verstanden. Die Geschmackstradition der französischen guten Gesellschaft wurde im 18. Jahrhundert für ganz Europa vorbildlich. In Deutschland erhielten Begriffe wie Bildung und Kultur in mittelständischen Kreisen ihre spezifische Prägung. Während in Frankreich Einzelne aus diesen Kreisen in die höfische Society einbezogen wurden, blieben sie in Deutschland bis auf wenige Ausnahmen vom höfisch-aristokratischen Leben ausgeschlossen. Johann Wolfgang von Goethe und Arthur Schopenhauer stehen für jeweils unterschiedliche Verhaltensmodelle. Schopenhauer war ein notorischer Einzelgänger. Er gehörte zu jenen Bildungsbürgern, die, ausgehend von den Idealbildern der deutschen Klassik, gegen die Falschheit des Hoflebens opponierten und ihre Individualität in der Zurückgezogenheit kultivierten. Als Kenner und Übersetzer der Schriften Graciáns und der französischen Moralisten beschäftigt er sich in seinen „Aphorismen zur Lebensweisheit“ mit der Verhaltenslehre des klugen Weltmanns. Als gebildeter „philosophischer Weltbürger“ (Robert Zimmer) besitzt Schopenhauer Esprit und Witz, aber er bewegt sich nicht wie Goethe in der guten Gesellschaft. Insofern ist er kaum in der Lage, das umzusetzen, was er bei Gracián gelernt hat. Er ist gewiss ein homme de lettres, aber alles andere als ein honnête homme. Schopenhauer verfügt über Urbanität und eine gewisse Weltläufigkeit, beherrscht mehrere Sprachen und ist als junger Mann mit seiner Familie in der Welt herumgekommen. Dies unterscheidet ihn von anderen deutschen Philosophen. Allein, er pflegt ein einsames, zurückgezogenes Leben. Er verkehrt nicht in Salons, obwohl er über die Fähigkeit zu anspielungsreicher, geistvoller Konversation verfügt. Schopenhauer versteht es nicht, entgegen dem, was er in den „Aphorismen zur Lebensweisheit“ empfiehlt, sich angenehm zu machen, seine Gefühle zu maskieren. Er besitzt zwar Manieren, pflegt diese aber nicht. Seine Aphorismen, so sehr sie mit dem Menschenbild La Rochefoucaulds und Graciáns übereinstimmen mögen, beziehen sich auf ein anderes soziales Feld: das Milieu des Bildungsbürgertums. Der kluge Weltmann Schopenhauer lebt in Distanz zur höfischen Gesellschaft. Der Bildungsbürger erwartet nichts von ihr. „Er wird Privatier, der seine Persönlichkeit kultiviert.“29 Der urbane Bildungsbürger ist auf den Verkehr in der großen Welt nicht angewiesen. Die Welt, in der er seinen Mann stehen muss, ist eine andere. „Wie bei Chamfort sind auch bei Schopenhauer Hof und Standesgesellschaft keine

29 Zimmer, Arthur Schopenhauer, S. 228.

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stil- und normbildenden Instanzen mehr, an denen man sich orientiert“.30 Nicht mehr die äußere Repräsentation zählt, sondern die innere Haltung, der Reichtum des Geistes. Die Sucht nach Gesellschaft – so Schopenhauer – entspringe aus der inneren Leerheit. Je mehr einer an sich selbst habe, desto weniger könnten die Übrigen ihm sein. „Darum führt die Eminenz des Geistes zur Ungeselligkeit. Ja, wenn die Qualität der Gesellschaft sich durch die Quantität ersetzen ließe, da wäre es der Mühe werth, sogar in der großen Welt zu leben: aber leider geben hundert Narren, auf Einem Haufen, noch keinen gescheuten Mann.“31 Mit seiner Einstellung markiert Schopenhauer eine deutliche Differenz zu dem von ihm verehrten Goethe. Es sei „eine große Thorheit, um nach Außen zu gewinnen, nach Innen zu verlieren, d. h. für Glanz, Rang, Prunk, Titel und Ehre, seine Ruhe, Muße und Unabhängigkeit ganz oder großen Theils hinzugeben. Dies aber hat Goethe getan. Mich hat mein Genius mit Entschiedenheit nach der andern Seite gezogen.“32 Schopenhauers Genius ist von seinem streitsüchtigen Charakter nicht zu trennen. Im Unterschied zu Goethe fehlt ihm alles Diplomatische im Umgang. Er verhält sich rechthaberisch und starrsinnig. Andererseits bemüht er sich sein Leben lang um Anerkennung. Er zieht einen Kreis von Freunden, Anhängern und „Aposteln“ um sich, die er drängt, etwas für ihn zu tun. Im Gespräch mit Eckermann beklagt Goethe die Isoliertheit der geistigen Köpfe in Deutschland. Eine Erscheinung wie Alexander von Humboldt – dieser ging in den Pariser Salons ein und aus und war ständiger Gast am preußischen Hof – sei selten. „Wir Deutschen sind von gestern. Wir haben zwar seit einem Jahrhundert ganz tüchtig kultiviert; allein es können noch ein paar Jahrhunderte hingehen, ehe bei unseren Landsleuten so viel Geist und höhere Kultur eindringe und allgemein werde, daß sie gleich den Griechen der Schönheit huldigen.“33 Auf Eckermanns Eingeständnis, er suche in Gesellschaft Personen, die ihm gemäß seien, antwortet Goethe: „‘Diese Ihre Naturtendenz‘ ... ist freilich nicht geselliger Natur; allein was wäre alle Bildung, wenn wir unsere natürlichen Richtungen nicht wollten zu überwinden suchen. Es ist eine große Torheit zu verlangen, daß die Menschen zu uns harmonieren sollten. Ich habe es nie getan. Ich habe einen Menschen immer nur als ein für sich bestehendes Individuum angesehen, das ich zu erforschen und das ich in seiner Eigentümlichkeit kennen zu lernen trachtete, wovon ich aber durchaus keine weitere Sympathie verlangte. Dadurch habe ich es nun dahin gebracht, mit jedem Menschen umgehen zu können, und dadurch allein entsteht die Kenntnis

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Ebd., S. 235. Arthur Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit. Hg. von Max Brahn, Leipzig 1921, S. 33. Ebd., S. 37. Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Mit einer Einführung herausgegeben von Ernst Beutler, München 1976, S. 632. Gespräch vom 3. Mai 1827.

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mannigfaltiger Charaktere sowie die nötige Gewandtheit im Leben.‘“34 Goethe erteilt Eckermann den Rat: „… Sie müssen in die große Welt hinein, Sie mögen sich stellen, wie Sie wollen.“35 Hier spricht der Weltmann, der als Hofmann über Erfahrungen verfügt, die Eckermann fehlen. Wichtig ist die Bedeutung, die Goethe der Bildung beimisst. Sie wird als Bildung der Persönlichkeit verstanden und nicht wie bei Schopenhauer als reine Geistesbildung, die auf geselligen Austausch nicht angewiesen ist. Der Mensch bildet sich erst in der Gesellschaft, der großen Welt. Dort lernt er Geschmeidigkeit und Konversationskunst kennen. Er muss dabei freilich darauf achten, dass er seinen Charakter nicht verleugnet, wobei es, wie Goethe erkannt hat, gar nicht darauf ankommt, sich „authentisch“ oder seiner Naturtendenz entsprechend zu verhalten, sondern spielerisch, geschmeidig, charmant. Im Einklang mit Goethe bewegen sich auch die Ratschläge des Freiherrn von Knigge in seinem 1788 erschienenen Werk „Über den Umgang mit Menschen“, obwohl er oft kein gutes Haar am höfischen Leben lässt. Knigge befindet sich offenbar in einem Zwiespalt. Einerseits lehrt ihn die persönliche Erfahrung, dass er bei Hofe und in der großen Welt seine Talente nicht richtig entfalten kann, weil diese dort nicht geschätzt werden. Andererseits erkennt er, dass er in dieser Welt Manieren und Umgangsformen erworben hat, die ihm auch anderwärts nützlich sind. Gleichwohl vollzieht Knigge eine Abkehr vom Typus des idealen Weltmanns, da seine Welt das bürgerliche Leben darstellt. Nicht so sehr Weltgewandtheit ist in diesem Leben gefragt als bürgerliche Tugenden. Bildung wird von Knigge zwar immer noch als Persönlichkeitsbildung verstanden. Sie enthält aber einen ausgesprochen anti-höfischen Akzent. Der Bürger, wie ihn Knigge präferiert, zieht sich aus der großen Welt zurück in die Häuslichkeit des Privaten. Hier entwickelt er seine Tugenden, die von denen des Hofmanns fundamental verschieden sind. Diese Entwicklung ist typisch für das deutsche Bildungsbürgertum jener Zeit, das im Unterschied zum französischen kaum Zugang zu den Schauplätzen der großen Welt findet. Es ist die Intention Knigges, „das humanistische Bildungsideal höfischer Prägung in bürgerliches Denken zu überführen.“36 Nicht Weltklugheit wie bei La Rochefoucauld und Gracián, sondern bürgerliche Lebensklugheit steht im Mittelpunkt seines Denkens. Dennoch lässt sich Knigges Brevier so lesen, dass die Betonung der Geschmeidigkeit, der Kunst der Rede, der Zwanglosigkeit usw., also von Elementen höfischer Kultur, dafür spricht, dass er den Vertretern bürgerlicher Bildung den guten Ton beibringen will, da dieser selbst 34 Ebd., S. 113f. Gespräch vom 2. Mai 1824. 35 Ebd., S. 114. 36 Gert Ueding, Die Kunst der gesellschaftlichen Beredsamkeit. Nachwort zu Adolph Freiherr von Knigge, Über den Umgang mit Menschen. Hg. von Gert Ueding, Frankfurt am Main 3 1982, S. 435.

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in ihren Kreisen, erst recht aber im Umgang mit der großen Welt, für unentbehrlich gehalten wird. Im Unterschied zu Castigliones Buch vom Hofmann richtet sich Knigges Buch nicht an eine einzelne Klasse oder Schicht. Sein Adressat ist der einzelne Mensch, wobei er allerdings im bürgerlichen Mittelstand den richtigen Sachwalter seines humanistischen Interesses gefunden zu haben glaubt. Dass die Eminenz des Geistes Ungeselligkeit bedeutet und in die Einsamkeit führt, wie Schopenhauer hervorhebt, ist vor allem eine Erfahrung der deutschen mittelständischen Intelligenz. Das deutsche Bildungsbürgertum formiert sich abseits der höfischen Gesellschaft. Die deutsche Universität wird als ein Gegenzentrum verstanden. „Eine ernste feste Bildung des Geistes ist selten im Zirkel der großen Welt möglich“ (C. v. Wolzogen)37 , lautet das Credo des Bildungsbürgers. Die schreibende deutsche Intelligenz schwebt gleichsam in der Luft. Was ihr Selbstbewusstsein jenseits der Sphäre von Wissenschaft und Politik begründet, ist das „rein Geistige“. In Deutschland ist die Intelligenz in weitem Umfang eine Gelehrtenintelligenz ohne gesellschaftliches Hinterland. In Frankreich dagegen ist das Bewegungsfeld der Intelligenz nicht primär die Universität, sondern die beau monde. In Deutschland „bildete trotz aller gesellschaftlichen Beziehungen unter den Angehörigen der Intelligenz doch immer das Buch, wenn nicht das primäre, so doch ein besonders wichtiges Kommunikationsmittel zwischen den Menschen, in Frankreich dagegen stand bei aller Liebe für das Buch als Kommunikationsform zwischen den Menschen dennoch die Konversation an erster Stelle.“38 Während die französische bürgerliche Intelligenz dem zivilisierten Menschen der höfischen Gesellschaft nicht ein radikal anderes Menschenbild entgegensetzt, sondern dieses Modell fortzuentwickeln sucht, propagiert die mittelständische Intelligenz in Deutschland den gebildeten Menschen und die Idee der Persönlichkeit.39 Im Unterschied zu dem durch Bildung innengeleiteten Bürger ist der höfische Aristokrat „völlig freigesetzt für eine ständige Durcharbeitung des distinguierenden, geselligen Verhaltens, des guten Benehmens und des guten Geschmacks.“40 Die gute Gesellschaft nachhöfischen Typs ist mehr oder weniger in das Netz der erwerbstätigen Gesellschaft eingebunden. Sie hat in der Sphäre des geselligen Verkehrs nicht mehr die gleiche formgebende Kraft, „denn von nun an werden

37 Zit. n. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Erster Band: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt am Main 1976, S. 29. 38 Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt am Main 1983, S. 285. 39 Ebd., S. 50. 40 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Zweiter Band: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt am Main 1976, S. 415.

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immer mehr Beruf und Geld zur primären Quelle des Prestiges.“41 So hört die Kunst der Verfeinerung des geselligen Verhaltens auf, von entscheidender Bedeutung für das Ansehen und den Erfolg des Einzelnen in der Gesellschaft zu sein. Soweit jedoch der Bildungsbürger nicht in seiner Berufsrolle aufgeht und in den Salons Austausch mit dem Adel sucht, findet wie im Falle Goethes eine Art Osmose statt. Der Aristokrat eignet sich Wissen an und der gebildete Bürger Lebensart und Manieren. Für Schopenhauer dagegen ist es der Stammtisch im Wirtshaus, der ihm den Salon und den Klub ersetzt. Wo der Beruf und das Geld und nicht die Eleganz des Auftretens für den Erwerb von Prestige entscheidend sind, ist auch das Schicksal des höfisch-aristokratischen oder großbürgerlichen Außenseiters in Gestalt des Dandys besiegelt. Er hat als Geschmacksrichter ausgedient. Zwar will auch der Berufs- und Geldbürger sich durch Geschmack auszeichnen, doch die Kriterien des guten Geschmacks haben sich geändert. Dieser spielt für die Formung der Persönlichkeit keine entscheidende Rolle mehr. Er wird in die Privatsphäre abgedrängt und verliert seine modellierende Wirkung. Die Dandys des 19. Jahrhunderts markieren eine Evolution der praktizierten Traditionen der Distinktion. Während der Hofmann des 16. Jahrhunderts und sein Nachfolger der honnête homme des 17. und 18. Jahrhunderts den Wunsch zu gefallen durch ein kalkuliertes Sichzurückhalten zur Norm erheben, „bemüht sich der moderne Held des mondänen Pariser Lebens sein Image durch Überraschung und Provokation zu steigern.“42 Wenn die gute Gesellschaft in ihren Geschmacksnormen erstarrt, sind Anstöße von außen notwendig. So hat der Urtypus des Dandys, der Engländer George Brummell, den Geschmack der Society umgestaltet, allein durch sein Beispiel. Er wurde zum Geschmacksrichter, weil die Zeit reif war für eine Umformung der herrschenden Geschmacksregeln. Brummell war kein Geschmacksrebell, sondern ein Geschmacksreformer, der eine Verfeinerung des herkömmlichen Geschmacks, vor allem in der Kleidung, anstrebte und erreichte. Das „gewisse Etwas“ ist entscheidend für die Bildung des guten Geschmacks. Es ist nicht definierbar und kann auch nicht – im Unterschied zur Bildung – durch Schule und Universität erworben werden. „Was ich am meisten liebe und man nach meiner Meinung am meisten wünschen muß bei allem, was man unternimmt, um zu gefallen, ist jenes je ne sais quoi, jenes ich weiß nicht was, das man wohl fühlt, das sich aber nicht so leicht erklären läßt ...“,43 bekennt der Chevalier de Méré. Es ist die „aller Reflexion vorangehende Spontaneität des Geschmacksurteils.“44 41 42 43 44

Ebd., S. 416. Didier Masseau, Une histoire du bon goût, Paris 2014, S. 337. Chevalier de Méré (1677), hier zitiert nach Wandruszka, Der Geist der französischen Sprache, S. 70. Karlheinz Stierle, Stichwort „Geschmack“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter. Bd. 3, Basel/Stuttgart 1974, Spalte 446.

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Norbert Elias kann sich in seiner Analyse der Geschmackskultur in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf eine gebildete Zeitzeugin stützen, die viel in Europa herumkam und auch Deutschland bereiste: Germaine de Staël. Sie beobachtete an den deutschen Fürstenhöfen die Trennung der sozialen Sphären zwischen Adel und Gebildeten. Über die Schicht der Gebildeten urteilt sie: „Den Deutschen fehlt es, mit wenigen Ausnahmen, an Fähigkeit zu allem, wozu Gewandtheit und Geschicklichkeit erforderlich sind.“45 In der großen Welt schätze man Bildung weniger als den guten Geschmack, während in den bürgerlichen Kreisen Bildung gewissermaßen als Ersatz für guten Geschmack herhalten müsse. In Frankreich dagegen besitze der Hof große Anziehungskraft auch für die bürgerliche Intelligenz und gewähre dieser Zutritt, wenn sie über die erforderlichen Umgangsformen verfüge. „In Deutschland wird die gute Gesellschaft durch den Hof gebildet; in Frankreich waren es alle diejenigen, die sich auf gleichen Fuß mit diesem stellen konnten; und alle durften dies hoffen, und alle durften auch fürchten, nie dahin zu gelangen. Hieraus entstand, daß jeder die Manieren dieser Gesellschaft haben wollte … in Frankreich verbannte ein Mangel an Geschmack vom Hofe, und man eiferte weit mehr, den Weltleuten ähnlich zu werden, als sich in der Welt selbst durch persönlichen Wert auszuzeichnen. Eine aristokratische Macht, der gute Ton und die Eleganz galten mehr als Energie, Tiefe, Gefühl und sogar Geist.“46 Damit ist eine Eigenart der französischen Kultur angesprochen, die bis weit ins 20. Jahrhundert ihre Spuren hinterlassen hat. Geist haben – so Madame de Staël – heißt in der guten Gesellschaft gut sprechen zu können, über Witz und Eleganz in der Konversation zu verfügen, und nicht, sich durch Geistestiefe und Gelehrsamkeit auszuzeichnen. In einer Gesellschaft, in der die Eitelkeit herrsche, werde der Geschmack den ersten Rang behaupten, weil er die Klassen scheide und die Individuen der obersten Klasse verbinde. Germaine de Staël bringt guten Geschmack und guten Ton in einen unmittelbaren Zusammenhang. Für sie ist der gute Geschmack vornehmlich eine gesellschaftliche und keine ästhetische Kategorie. „Allein der Geschmack in seiner Anwendung auf die schönen Künste unterscheidet sich gar sehr von dem Geschmack in seiner Anwendung auf die gesellschaftlichen Sitten.“47 Die „Gleichheit des savoir vivre, die Einheit der Esprit-Kultur, die Feinheit und die reiche Durchbildung des Geschmacks“48 heben die Mitglieder der monde aus der Masse der übrigen Menschen hervor. Durch den Verkehr in der guten Gesellschaft gewinnt man das Gefühl für das, was sich gehört. Man lernt Umgangsformen. Man erwirbt Urteilskraft. Man erwirbt die Reinheit des Geschmacks. 45 46 47 48

Anne Germaine de Staël, Über Deutschland. Hg. von Monika Bosse, Frankfurt am Main 1985, S. 36. Ebd., S. 80. Ebd., S. 229. Elias, Die höfische Gesellschaft, S. 97.

Über Geschmack lässt sich streiten

Durch die vielen Territorialfürstentümer fügte sich die gute Gesellschaft in Deutschland nicht zu einem Ganzen wie in Frankreich und England. Sie hatte kein Zentrum. Die spezifische Exklusivität vieler deutscher Adelsgruppen verhinderte eine umfassende Durchdringung bürgerlicher Schichten mit adligen Verhaltensformen, die man in Frankreich und England beobachten kann. Dies ist einer der Gründe für die Flucht der bürgerlichen Intelligenz in die autonome Sphäre der Bildung. Die höfische Gesellschaft in Europa war die letzte gesellschaftliche Formation, in der man nicht arbeitete und rechnete. Es war eine Rentierformation. „Für die Angehörigen der herrschenden Schicht des ancien régime waren etwa Eleganz der Haltung und guter Geschmack im Sinne ihrer reifen gesellschaftlichen Tradition ermöglicht durch ihr Rentierdasein und erzwungen, als Voraussetzung für die Zurechnung und den Aufstieg in ihrer Gesellschaft, durch die gesellschaftliche Konvention und die Prestigekonkurrenz.“49 Marcel Proust war vielleicht der letzte Schriftsteller in einer ganzen Kette, beginnend mit dem Herzog von Saint-Simon, für den die gute Gesellschaft zugleich Lebensraum, Beobachtungsfeld und Stoff darstellte. Das heutige Interesse an Proust erklärt sich aus dem Wissen und Gefühl eines elementaren, unwiederbringlichen Verlusts von gesellschaftlichen Formen des Umgangs, die sich einem Rentierdasein verdanken. Kultur im Sinne einer eleganten Lebensführung und ästhetischen Stilisierung des Lebens setzt voraus, dass man nicht zur Erwerbsarbeit und zum Gelderwerb gezwungen ist. Nicht nur, weil Gelderwerb Zeit und Ruhe kostet, sondern weil er den Charakter verdirbt, so die unerschütterliche Überzeugung eines Mannes von Welt. Trotz Garves Plädoyer für Geschmackskultur und den Ratschlägen Knigges über den Umgang mit Menschen hat sich in Deutschland ein Bildungsbürgertum entwickelt, das, wie Madame de Staël feststellt, viel Wissen, aber wenig Geschmack besitzt. Es sind Menschen, die über eine immense Buchgelehrsamkeit verfügen, aber tapsig und ungelenk in feinerer Gesellschaft agieren. Noch im zweiten Kaiserreich sind die Gebildeten in den Salons selten anzutreffen. Sie ziehen es vor, mit ihresgleichen zu verkehren. Das deutsche Bildungsbürgertum hat auch im 20. Jahrhundert, von wenigen Ausnahmen wie Nicolaus Sombart abgesehen, keine Verbindung zum eleganten Leben herstellen können.

49 Ebd., S. 173f.

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Bildung der Persönlichkeit Besitz und Bildung sind die tragenden Grundpfeiler des Bürgertums. Neben dem Besitzbürgertum kommt dem Bildungsbürgertum eine entscheidende Rolle im Entstehungsprozess dieser Klasse zu. Zu ihm gehören im weitesten Sinne alle jene, die über die höhere Schulbildung eines Gymnasiums und ein mit einem akademischen Abschluss absolviertes Universitätsstudium verfügen.50 Im 19. Jahrhundert entwickelte sich ein Bildungskanon, der dem Angehörigen dieser Schicht vorgab, was er sich an Wissen aneignen musste, um zu den Gebildeten gerechnet zu werden. Dabei wurde das nicht direkt verwertbare Bildungswissen höher geschätzt als ein Leistungswissen, das allein dem beruflichen Fortkommen diente. Bildungswissen – etwa das Erlernen der altgriechischen und lateinischen Sprache und die Beschäftigung mit Kunst, Geschichte, Musik und Literatur – war vor allem der Persönlichkeitsentfaltung förderlich, wobei diese Vervollkommnung den geistigen Menschen im Auge hatte, unabhängig von der Fähigkeit, sich in Gesellschaft gewandt zu bewegen und souverän Konversation betreiben zu können. Zu den Lebensformen insbesondere jüdischer Kreise des deutschen Bildungsbürgertums gehörte die Salongeselligkeit. Die ersten Berliner Salons um 1800 gründeten auf dem idealistischen Bildungs- und Persönlichkeitskonzept. Sie waren Foren bürgerlichen, staatsbürgerlichen, aber auch weltbürgerlichen Gedankenguts.51 Bürgerlichkeit, verstanden als kultureller Habitus, ist ein Mittel der Distinktion, das Sprachverhalten und Bildung, Kleidung und Körperlichkeit, Esskultur und Wohnstile, Familienleben und Ehrbegriffe einschließt.52 Diese Verhaltenselemente fungieren wie ein Signalsystem. In ihnen drücken sich ein bestimmter Umgang mit materieller und geistiger Kultur und bestimmte Stilmuster und Geschmackspräferenzen aus. „Wer das Grundmodell kennt und seinen Umgang beherrscht, verfügt hier wie dort über das Entréebillet in die ‚guten‘ bürgerlichen Kreise.“53 Mit Kultur als einheitsstiftendem Element des Bildungsbürgertums gehen bestimmte Deutungsmuster, Normen und Mentalitäten und eine methodischrationale Lebensführung einher.54 Besondere Wertschätzung genießt die individu50 Vgl. Jürgen Kocka, Bürgertum und Bürgerlichkeit als Probleme der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20. Jahrhundert. In: J. Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 21–63, hier S. 34. 51 Vgl. Petra Wilhelmy, Die Berliner Salons. Mit historisch-literarischen Spaziergängen, Berlin/ New York 2000, S. 387. 52 Vgl. Wolfgang Kaschuba, Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800. Kultur als symbolische Praxis. In: J. Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. Bd. 3, München 1988, S. 9–44, hier S. 18f. 53 Ebd., S. 23. 54 Vgl. Kocka, Bürger und Bürgerlichkeit, S. 43. Vgl. auch Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt am Main/Leipzig 2 1994.

Bildung der Persönlichkeit

elle Leistung im Kontrast zum kultivierten Nichtstun des Adels. Wissen, Können und moralische Integrität, ja Überlegenheit, sollen soziale Nachteile, wenn schon nicht ganz aufheben, so doch mindern. „Die zunächst als persönliche Qualität ausgeprägte Bürgerlichkeit stellt sich in bewussten Gegensatz zum höfischen Lebensstil und beansprucht für sich die höhere moralische Dignität.“55 Im Konsum des Bürgers spiegelte sich sein Wertekosmos. Es galt das Ideal der Mäßigung. Man konsumierte nicht aus Genusssucht, sondern zur Vervollkommnung der inneren Bildung und der Gesittung. „Das gediegene, aber nicht prunkvolle Ambiente der bürgerlichen Wohnung diente als Ausweis des ‚guten Geschmacks‘, die Einrichtung von Kinderstuben mit altersgerechtem Mobiliar und Spielzeug als Beweis pädagogischen Verantwortungsgefühls, die Tischmanieren als Indiz für kultivierte Umgangsformen, die Garderobe der Bürgerfrauen als elegante Zeugnisse von schlichter Wohlhabenheit und die Matrosenanzüge der kleinen Bürger gar als politisches Loyalitätsbekenntnis ihrer Eltern.“56 Das Verhalten des Bürgers blieb jedoch im Verkehr mit dem Adel und dem Hofe als Mangel an Gewandtheit und Geschmack spürbar. Die gebildete bürgerliche Oberschicht war sich dieses Mankos bewusst. Der Rückzug auf eine machtgeschützte Innerlichkeit war eine Konsequenz, aber nicht durchweg charakteristisch für das Verhalten des Bildungsbürgers. „Mit der zunehmenden Anerkennung ihrer ‚bürgerlichen‘ Berufsauffassung durch die Regierenden und mit dem institutionellen Ausbau des Erziehungswesens wurde ‚Bildung‘ neben der Geburt, im Prinzip jedoch diese negierend, zum Kriterium für den sozialen Status, allerdings nicht ohne ambivalente Folgen.“57 In dem Maße, wie sich das Bildungssystem ausdehnte, hörte das Bildungsbürgertum auf, eine durch bestimmte Normen und Werte abgrenzbare Formation zu sein. Die Kontraststellung zum Adel einerseits und zum Kleinbürgertum andererseits verblasste zusehends. Der Kulturstil des Bürgers erfordert eine gesicherte ökonomische Existenzbasis. So wie der Adlige an Adligkeit verliert, wenn er nicht mehr wie ein Adliger lebt, verliert der Bürger an Bürgerlichkeit, wenn seine materiellen Mittel dahin schwinden. „Ohne ‚ein anständiges bürgerliches Auskommen‘ kann die ‚Bürgerlichkeit‘ damals [in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, G.E.] weder als geselliger, noch

55 M. Rainer Lepsius, Zur Soziologie des Bürgertums und der Bürgerlichkeit. In: J. Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, S. 79–100, hier S. 96. 56 Gunilla Budde, Bürgertum und Konsum: Von der repräsentativen Bescheidenheit zu den „feinen Unterschieden“. In: Heinz-Gerhard Haupt/Claudius Torp (Hg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990, Frankfurt am Main/New York 2009, S. 133. 57 Rudolf Vierhaus, Der Aufstieg des Bürgertums vom späten 18. Jahrhundert bis 1848/49. In: J. Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, S. 64–78, hier S. 72.

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Einleitung: Ein Bürger auf Abwegen

als beruflicher oder politischer Status überhaupt gedacht, geschweige denn gelebt werden.“58 Im wilhelminischen Kaiserreich genossen Verwaltungsbeamte und Richter, Universitätsprofessoren und Gymnasiallehrer Privilegien und hohes Ansehen. „Nach Einkommen, Lebensführung und sozialem Status fühlten sie sich der wohlhabenden Oberschicht zugehörig. Ihre bürgerliche Herkunft und akademische Bildung hatten ihnen günstige Lebenschancen eröffnet.“59 Durch Revolution und Demokratisierung schwächte sich der Gegensatz zwischen Bürgertum und Adel nach dem ersten Weltkrieg ab. Es kam zu einer Frontstellung zwischen den verschiedenen Fraktionen des Bürgertums, allerdings waren die Bande zwischen Wirtschaftsbürgertum und Bildungsbürgertum bis weit in die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg stärker als die Gegensätze. In dem Maße, wie Professionalisierung und akademische Spezialisierung an Bedeutung gewannen, verstärkte sich die innere Fragmentierung des Bildungsbürgertums. Aus bürgerlicher Sicht bedeutete die aufkommende Massenkultur das Aufgehen von Bildung in Konsum und Unterhaltung. Bildungsbürger wie der Soziologe Hellmuth Plessner und der Nationalökonom Werner Sombart sahen in der sich ausbreitenden Flut des „Amerikanismus“ „eine vermeintliche deutsche Hochkultur versinken, die sich gegenüber einer ‚seelenlosen‘ rein technisch-materialistischen Zivilisation durch geistige Werte ausgezeichnet hatte.“60

Vom Bildungsbürger zum „Geschmacksbürger“ In der Bundesrepublik Deutschland blieb das Bildungsbürgertum abgesehen von der literarischen Intelligenz lange Zeit in seiner Mehrzahl konservativ. Eine Minderheit wie die Repräsentanten der Frankfurter Schule bildeten eine geistige Front gegen diese Mehrheitsfraktion und gegen das Besitzbürgertum, obwohl sie diesem habituell verbunden blieben. Der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno und der Vorstandssprecher der Deutschen Bank Alfred Herrhausen standen sich in ihrem Lebensstil durchaus nahe, auch wenn sie verschiedene politische Positionen einnahmen. Dies gilt auch für engagierte Sozialisten. „Ein wesentlicher Teil der politisch diskriminierten sozialistischen Intellektuellen bleibt in seinem Lebensführungsstil der Bürgerlichkeit eng verbunden und vermittelt durch seine ständische Zugehörigkeit zum Bürgertum die Arbeiterbewegung mit dem Bürgertum.“61 58 Ebd., S. 25. 59 Andreas Schulz, Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005, S. 30. 60 Ebd., S. 35. 61 M. Rainer Lepsius, Zur Soziologie des Bürgertums und der Bürgerlichkeit, S. 98.

Vom Bildungsbürger zum „Geschmacksbürger“

Erst durch die Studentenrevolte und das Aufkommen einer neuen Generation von Bildungsbürgern, die sich durch betonte Unbürgerlichkeit im Habitus hervortaten, entstand eine Kluft zwischen Repräsentanten des Besitzbürgertums und dieser rebellischen Fraktion einer neuen akademischen Intelligenzschicht. Auch dieser Gegensatz hat sich inzwischen abgeschliffen. Zum einen ist das, was man Bildungsbürgertum nennt, nur noch residual vorhanden. Es hat keine universitäre und schulische Basis mehr. Mit dem Bedeutungsverlust akademischer Bildung verliert auch das Bildungsbürgertum seine spezifische Physiognomie und prägende Kraft für die Gesamtformation des Bürgertums. So büßt das Buch an Gewicht und Geltung ein. An die Stelle von Bildungswissen tritt die Informiertheit.62 Das deutsche Bildungsbürgertum erleidet einen Substanzverlust durch ein defizitäres Bildungssystem und erlebt eine Dekomposition seiner ästhetischen Urteilsfähigkeit. Auf Bildung kann man sich nicht mehr viel einbilden. Bildung hat aufgehört, ein wesentliches Kriterium des sozialen Status zu sein. Sie verschafft lediglich einen gewissen Nimbus und auch nur dann, wenn ihr Träger auf Erfolge im Geldverdienen verweisen kann. Dies gilt nicht nur für die Vereinigten Staaten, wo ein gebildeter Akademiker, der über ein nur geringes Einkommen verfügt, gesellschaftlich wenig zählt. Bildung muss sich durch ihren Marktwert ausweisen. Wo sie diesen nicht erzielt, ist sie unnütz und verleiht ihrem Träger keinerlei gehobenen sozialen Status. Das akademische Prekariat ist inzwischen Legion. Was Christian Garve schon Ende des 18. Jahrhunderts als Mangel bei dem Gebildeten beklagte, die fehlende Muße, trifft in gesteigertem Maße auf eine moderne Variante des Bürgers zu: den „Geschmacksbürger“ (Ulf Poschardt).63 Es handelt sich dabei um eine journalistische Wortprägung, die wohlweislich Bildung und Geschmack unterscheidet, aber nicht mehr in dem Sinne, wie es für die deutsche Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts typisch war. Dieser Geschmacksbürger verbringt die meiste Zeit des Tages mit Erwerbsarbeit. Ihm fehlt die Zeit, um wahrhaft Geschmack zu entwickeln. Zwar besitzt er durch Elternhaus und Schule zuweilen noch Reste einer humanistischen Bildung wie der Bildungsbürger alten Typs. Er ist auch um geschliffene Umgangsformen bemüht und schätzt das Urbane, Weltläufige. Er kultiviert sein Leben, doch ist er in erster Linie am materiellen Vorwärtskommen im Daseinskampf interessiert. Er kennt keine Ruhe, keine Muße. Er ist ein Leistungsfanatiker. Ihm fehlt das Sublime, die stoische Gelassenheit des einstigen Bildungsbürgers und Weltmannes.

62 „Das Gegenteil von Wissen ist nicht Nichtwissen. Information ist das Gegenteil von Wissen.“ (Erwin Chargaff zitiert nach J. Kesting, Welche Zukunft haben Amerikas Orchester? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. März 2021, S. 12.) 63 Ulf Poschardt, Stil ist die letzte Rebellion. In: Merkur, Heft 8/9, August/September 2007, S. 850–859. Vgl. auch Matthias Stolz, Die Besserbürger. In: Zeit-Magazin vom 20. September 2014.

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Der entscheidende Schritt weg von dem, was einst guter Geschmack hieß, ist die Durchsetzung alles dessen, was Geschmack verkörperte, mit Produkten des Kommerzes. Es gibt heute, wie Friedrich Sieburg schon früh erkannte, ein Geschmacksmarketing und eine Geschmacksindustrie. Der vorherrschende Geschmacksträgertypus ist der Designer. Der Geschmacksbürger stützt sich auf die Kompetenz dieser Berufsgruppe. Sie diktiert ihm den Geschmack. Der Geschmacksbürger versteht unter Geschmacksentwicklung Markenkunde, erlesenes Konsumieren, nicht die Einübung in Eleganz durch Aneignung einst aristokratischer Tugenden wie Nonchalance, Höflichkeit, Geschmeidigkeit und Schlichtheit. Der ideale Geschmacksbürger ist materiell gut versorgt und in der Lage, seinen Geschmack durch ausgesuchte Konsumgüter zu demonstrieren. Hier entfällt auch die alte Unterscheidung zwischen Hoch- und Massenkultur. Vielmehr wählt der Geschmacksbürger zwischen beiden Kultursegmenten aus. Er verschmäht weder das eine noch das andere. Er ist der Massenkultur gegenüber unvoreingenommen, während der Bildungsbürger alten Typs noch seinem elitären Geschmackskanon verbunden bleibt. Der Geschmacksbürger ist kein Randgänger des Bürgertums, sondern seine popkulturelle Neuschöpfung. Eine antibürgerliche Attitüde nimmt er lediglich in seinem Freizeitlook an, wobei dieser Look längst in seiner Tragweite als Spielart bürgerlicher Kostümierungsweise anerkannt ist. Statt auf konservative Kultiviertheit und bildungsbürgerliche Distinktion setzt der Geschmacksbürger auf „sophistication“64 im Sinne eines Geschmacksverhaltens, das nicht mehr auf klassischer Bildung, sondern einem postmodernen Kulturverständnis beruht. Dadurch ist auch der für diese Bildung typische Degout gegenüber dem Kommerz hinfällig geworden. Die Geringschätzung des Gelderwerbs, ein Relikt adliger Geschmackskultur und eine Haltung, die elitäre Teile des Bildungsbürgertums pflegten, ist ihm fremd. Der Geschmacksbürger muss vielmehr beruflich erfolgreich sein, um sich die begehrten Produkte leisten zu können, die ihn von der Masse abheben. Der Rekurs auf die Geschichte der Begriffe Geschmack und Bildung sollte zeigen, dass zum Verständnis einer Persönlichkeit wie Nicolaus Sombart, der einen großen Teil seines Lebens in Frankreich verbrachte und durch die französische Geschmackskultur geprägt wurde, der deutsche Kontext allein nicht ausreicht. Der deutsche Bildungsbürger ist die eine Seite, der homme du monde und homme de lettres die andere. Die Kategorie Geschmacksbürger wird Sombart allerdings nicht gerecht, denn er ist kein in die Jahre gekommener Popper oder Hipster wie der Erfinder dieser Wortschöpfung. Auch die moderne Variante des Dandys, die mit

64 Vgl. Nadja Geer, Sophistication. Zwischen Denkstil und Pose, Göttingen 2012.

Vom Bildungsbürger zum „Geschmacksbürger“

dem Begriff „Camp“ umschrieben wird, trägt wenig zur Charakterisierung seiner Persönlichkeit bei. Nicolaus Sombart ist eher noch ein Dandy klassischen Typs, ein Herr alter Schule mit dem Hang zur Selbstinszenierung. Seine Bildung, sein geistiger Elan, sein Insistieren auf Formen und Verhaltensregeln, die zeitlose Gültigkeit beanspruchen, sein spielerischer Umgang mit Ritualen vergangener Epochen machen ihn unabhängig von modischen Erscheinungen des Zeitgeistes. Er ist ein Solitär, anarchistisch-libertär und bürgerlich-konservativ zugleich. Ein Möglichkeitsmensch, der – zu seinem Leidwesen – existentiell, wenn auch nicht habituell sein Leben lang unter seinen Ansprüchen bleibt. Was wundert es, dass es nicht wenige gibt, die seinesgleichen mehr abgewinnen können als den austauschbaren Erfolgsmenschen unserer Tage. Nicolaus Sombart könnte einem Gesellschaftsroman des frühen 20. Jahrhunderts entsprungen sein. Geistvolle Menschen jener Zeit sind heute so gut wie ausgestorben. Anlässlich seines 70. Geburtstags schreibt der Essayist Henning Ritter: „Nicolaus Sombart … ist einer, der noch in die Dachstuben- oder Salongespräche jener Romanwelt passen würde. Aber die Romane werden nicht mehr geschrieben.“65 Dabei bietet Sombarts Leben Stoff genug. Mit seinen autobiographischen Schriften hat er das Material dafür bereitgestellt. Er selbst spricht von der Erfindung seiner Lebensgeschichte. Für den Biographen besteht die Gefahr, der Fabulierkunst seines Helden allzu leicht zu erliegen. Dem soziologischen Betrachter kommt es darauf an, hinter Sombarts virtuoser Kunst der Selbststilisierung den Typus sichtbar werden zu lassen. Die folgende Darstellung orientiert sich chronologisch an den vorgezeichneten Lebensetappen Nicolaus Sombarts. Für diesen Zweck werden die autobiographischen und wissenschaftlichen Werke, Essays, Zeitungsartikel und Interviews des Autors ausgewertet. Ferner werden Selbstzeugnisse von Gelehrten und Schriftstellern derselben Generation herangezogen, mit denen Sombart in freundschaftlicher Verbindung stand oder die kritische Auseinandersetzung suchte. Hinzu treten Lehrer und Vorbilder, die auf seinen Lebensgang Einfluss nahmen. Dazu gehören auch wissenschaftliche Autoritäten wie der Rivale seines Vaters, Max Weber, und sein geistiger Ziehvater Carl Schmitt sowie der verehrte Nestor der deutschen Soziologie, Alfred Weber. Die Optik des Kultursoziologen und psychoanalytisch geschulten Historikers erweist sich als ein Prisma, in dem sich die deutsche Geschichte im Allgemeinen wie auch die Geistesgeschichte und die Geschichte der Geschlechterbeziehungen im Besonderen bricht.

65 Henning Ritter, Lust an lauter Untergängen. Nicolaus Sombart zum siebzigsten Geburtstag. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Mai 1993, S. 35.

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Einleitung: Ein Bürger auf Abwegen

Ausdrückliches Interesse findet in dieser Untersuchung der Sozialtypus des Dandys, der Sombart immer wieder zur Stellungnahme reizt. Die Kapitel über Ernst Jünger sind für das Verständnis Sombarts deshalb von zentraler Bedeutung, spiegeln sich in der Figur des Dichters doch bestimmte Facetten seines eigenen Lebensentwurfs wider, die mit dem Stichwort „Dandyismus“ umschrieben werden können. Als weitere Quellen werden Briefe, Aufzeichnungen und Tagebuchnotizen aus dem Nachlass berücksichtigt. Dieser wird in der Handschriftenabteilung der Berliner Staatsbibliothek aufbewahrt und ist der Öffentlichkeit nur zum Teil zugänglich. Er enthält Tausende von Fundstücken. Allein das Briefkorpus ist von außerordentlichem Umfang. Als Kostprobe wird im Anhang ein Bericht von einer Reise Sombarts nach Venedig präsentiert, der die mondäne Seite seiner Rolle als Sekretär des Europarats unverhüllt hervortreten lässt. Ferner fließen in diese Darstellung die zahlreichen journalistischen Würdigungen und publizistischen Kommentare zu Sombart ein. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Autor steht noch in den Anfängen. Der von Martin Tielke herausgegebene und kommentierte Briefwechsel Nicolaus, Werner und Corina Sombarts mit Carl Schmitt ist hier an erster Stelle zu nennen sowie einige Beiträge in Fachzeitschriften und Sammelbänden. Eine wichtige zusätzliche Informationsquelle sind die Mitteilungen der Teilnehmer des Sombartschen Salons. Mit einigen Habitués, die dieser Einrichtung von Beginn an angehörten, wurden längere Gespräche geführt, um ein anschauliches Bild von der Persönlichkeit Nicolaus Sombarts zu gewinnen und eigene Eindrücke zu überprüfen. Allzu Persönliches und Intimes wird in dieser Arbeit jedoch nicht berührt, sofern es nicht von Sombart selbst publik gemacht worden ist und zur Erhellung seiner Theorien beiträgt.

I.

Kindheit und Jugend in Berlin

Großbürgerliche Geselligkeit im Schatten der Nazidiktatur Nicolaus Sombart wurde am 10. Mai 1923 in Berlin geboren. Sein Vater war der berühmte Nationalökonom und Soziologe Werner Sombart (1863–1941), der seit 1917 an der Berliner Universität wirtschaftliche Staatswissenschaften lehrte, der Großvater war ein reicher Rittergutsbesitzer, Mitglied des preußischen Landtags und nationalliberaler Reichstagsabgeordneter. Die Mutter Corina Sombart, geb. Leon (1892–1970), Tochter eines rumänischen Universitätsprofessors, dessen Vorfahren dem Landadel entstammen, hatte in Berlin Nationalökonomie studiert und an Seminaren von Werner Sombart teilgenommen.1 Aus erster Ehe hatte Werner Sombart vier Töchter. Aus der Ehe mit Corina – die Heirat fand 1922 statt – entstammte eine weitere Tochter, Ninetta, die nach dem Krieg Malerin wurde.2 Die Familie bezog 1927 eine Villa im Grunewald-Viertel. Das Vermögen seiner Frau Corina hatte Werner Sombart den Kauf des Hauses ermöglicht. Dort pflegten die Sombarts einen Lebensstil, der sich deutlich von dem eines durchschnittlichen Professorenhaushalts abhob.3 Dies zeigte sich schon am Dienstpersonal. Es gab eine Mamsell, ein Zimmermädchen, ein Hausmeisterehepaar und eine französische Gouvernante. Werner Sombarts Kollegen Ferdinand Tönnies und Alfred Vierkandt verfügten dagegen über keinerlei Dienstboten. Die Sombarts legten Wert auf Distinktion und soziale Distanz, eine Verhaltenseinstellung, die sie an ihren

1 In Rumänien hatte sie – laut Nicolaus Sombart – an der Universität von Jassy in Literaturwissenschaft promoviert. Soziologische und philosophische Aufsätze von ihr seien in Fachzeitschriften erschienen. Vgl. Nicolaus Sombart, Rumänische Reise. Ins Land meiner Mutter, Berlin 2006, S. 91 und 144. Vgl. auch Corina Sombart, Werner Sombart. In: Festschrift zum 50. Gründungstag der Handels-Hochschule Berlin. Hg. vom Verband Deutscher Diplom-Kaufleute e. V. Berlin, Berlin 1956, S. 201–204, hier S. 203 sowie Ruth Ludwig, Pistolen im Zucker. Ein Leben in zwei Welten, Frankfurt am Main/Berlin 1990, S. 115f. 2 Ninetta Sombart (1925–2019), anthroposophisch inspiriert, bevorzugte in ihrer Malerei religiöschristliche Motive, die sie in einer eigenartigen Farbgebung gestaltete. Sie erlangte durch ihre Werke internationale Anerkennung. Vgl. Volker Harlan, Ninetta Sombart: Leben und Werk, Stuttgart 2004. 3 Dieser Befund über Werner Sombarts Lebensverhältnisse gilt vor allem für die Zeit vor dem ersten Weltkrieg, in der er sich hinsichtlich seines Wohlstandes „noch weit stärker von den meisten seiner Berufskollegen absetzte als nach den Vermögensverlusten der Nachkriegsinflation und dem Verkauf seiner umfangreichen Bibliothek nach Osaka 1928.“ (Friedrich Lenger, Einleitung zu Werner Sombart, Briefe eines Intellektuellen 1886–1937. Hg. von Thomas Kroll, Friedrich Lenger und Michael Schellenberger, Berlin 2019, S. 9.) Lenger spricht von einem „großbürgerlichen Lebenszuschnitt“ der Familie Sombart. Ebd., S. 18.

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Kindheit und Jugend in Berlin

Sohn Nicolaus weitergeben sollten. Der Lebensrahmen des höheren Mittelstandes konnte von der Familie nach der Emeritierung des Hausherrn 1931 allerdings nicht mehr ganz mühelos aufrechterhalten werden. So sah man sich zum Beispiel beim häuslichen Speiseplan zu Einsparungen gezwungen.4 Über das Leben im Villenviertel Grunewald in der Zeit der Nazidiktatur hat Nicolaus Sombart in seinen Erinnerungen „Jugend in Berlin 1933–1943“ anschaulich berichtet. Die Sombarts führten ein geselliges Leben. Man verkehrte mit dem französischen und italienischen Botschafter, dem jüdischen Großbürgertum und Angehörigen des deutschen und internationalen Adels. Man empfing russische Emigranten und Besucher aus Rumänien wie den jungen Sergiu Celibidache. Die Gästelisten der Tischgesellschaften und Empfänge im Hause Sombart waren fein abgestuft. Werner Sombart hatte vornehmlich seine akademischen Kollegen zu Gast, während Corina Sombart in ihrem Salon eine illustre, kosmopolitische Gesellschaft empfing.5 Der einzige Sohn, Nicolaus, genoss die besondere Förderung seiner Eltern und erfreute sich der Zuwendung der im Hause verkehrenden intellektuellen und künstlerischen Koryphäen, während die Schwester Ninetta im Schatten ihres bewunderten Bruders stand.6 Zu den Gästen zählte der prominente Jurist Carl Schmitt, der im Dritten Reich von Göring zum Staatsrat ernannt worden war. Er nahm den jungen Sombart, dessen Vater 1941 starb, unter seine Fittiche und wurde zu seinem wichtigsten geistigen Mentor. Die entscheidenden geistigen Prägungen seines Lebens hat der junge Sombart durch den hochgebildeten, in Politik, Geschichte, Philosophie, Theologie und Literatur gleichermaßen bewanderten Rechtsgelehrten erhalten. Wichtiger noch als die intellektuellen Impulse waren für Nicolaus Sombart die ästhetischen Eindrücke. Wissenschaftliche Reputation mochte imponieren, prägender für die Lebenseinstellung des Heranwachsenden waren jedoch elegantes Auftreten und vornehme Lebensart, verkörpert durch Besucher wie Hermann Graf von Keyserling oder Helene von Nostitz. Nicolaus Sombart kostete in seiner Jugend noch etwas vom Fluidum der „großen Welt“ der Reichshauptstadt. Dieser Welt verdankte er für sein ferneres Leben die verbindlichen Maßstäbe. 4 Vgl. Friedrich Lenger, Werner Sombart 1863–1941. Eine Biographie, München 1994, S. 281. 5 Im Vergleich zur Vorkriegszeit war das gesellige Leben – so der Werner Sombart-Biograph Friedrich Lenger – konventioneller, da der Umgang mit Künstlern geringere Bedeutung, der Austausch mit Kollegen umso größeres Gewicht besaß. In der Erinnerung Nicolaus Sombarts überwiegt jedoch der Eindruck des Exklusiv-Mondänen. 6 Vgl. Harlan, Ninetta Sombart. S. 189. Ninetta litt unter der Missachtung ihrer Eltern. Nicolaus Sombart berichtet: „Die Mutter, für mich eine bewundernswerte, liebevoll um mich bemühte Frau, für sie eine Megäre, die sie täglich schlug. (Ich habe nicht eine einzige Erinnerung daran!) Der Vater ein Freund fast ein Kamerad, mit dem ich täglich umging, für sie eine ferne Respektsperson, der für sie nur verletzende, abfällige Bemerkungen hatte, wenn er sie überhaupt wahrnahm.“ (Sombart, Journal intime, S. 148.)

Großbürgerliche Geselligkeit im Schatten der Nazidiktatur

Nicolaus Sombart glaubte sich zu Höherem berufen. Seine vielfältigen Talente schienen zu großen Erwartungen zu berechtigen. Würde er in die Fußstapfen seines Vaters treten und ein bedeutender Wissenschaftler werden, wie sein Mentor Carl Schmitt erhoffte? Oder lag seine Zukunft mehr auf dem Felde diplomatischer Repräsentation? Ein Gast des Hauses, der Historiker Carl Jacob Burckhardt, verkörperte exemplarisch eine derartige Existenzform. Oder war er gar zu einem Leben als Künstler bestimmt? Der junge Sombart, so bekennt er in seinen Erinnerungen, wollte ursprünglich Architekt werden. Auf diesem Gebiet sah er große Aufgaben auf sich zukommen. Er wollte für seine reichen rumänischen Verwandten nach dem Krieg die herrschaftlichen, repräsentativen Bauten errichten, die ihrem – und wohl auch dem sich selbst zugeschriebenem – gesellschaftlichen Rang entsprachen. „Jugend in Berlin“ ist der Lebensrückblick eines Sechzigjährigen. Nicolaus Sombart schrieb das Buch in den Jahren 1982/1983 als Fellow des Berliner Wissenschaftskollegs. Er konnte auf ein fast dreißigjähriges Leben als Kulturbeamter beim Europarat in Straßburg und als Publizist und Lehrbeauftragter an verschiedenen deutschen Universitäten zurückblicken. Eine Professur war ihm versagt geblieben. Und auch als Schriftsteller hatte er bislang nicht reüssieren können. Eine frühe Erzählung brachte ihm zwar einen Achtungserfolg bei der Gruppe 47, doch weitere literarische Projekte kamen über ein Entwurfsstadium nicht hinaus. Nicolaus Sombart empfand die Berufung an das Wissenschaftskolleg als einen Befreiungsschlag. Endlich konnte er die Früchte seines geistigen Lebens zusammentragen und ihnen eine Form geben. Mehrere Bücher wurden geplant. Die Themen reichten von einer Biographie Wilhelms II. über ein Buch zu Charles Fourier und eine Studie zu Carl Schmitt bis hin zu verschiedenen autobiographischen Projekten. Den Auftakt bildete „Jugend in Berlin“. Mit diesem Buch – der Inszenierung seines Familienromans – wurde Nicolaus Sombart erst eigentlich zum Schriftsteller und als ein solcher von nun an auch von einer größeren Öffentlichkeit wahrgenommen. Ein Schriftsteller besonderer Art freilich, wie man ihn in der bundesrepublikanischen Literatur bisher kaum kannte. Nicht nur ein konservativer, sondern ein geradezu provokativ elitär auftretender Schriftsteller, einer, der auf seine großbürgerliche Herkunft stolz war und sie als Auszeichnung verstand. Ein Sonderfall im Milieu der deutschen Literatur, in der das Kleinbürgertum nach 1945 den Ton angab. Mit „Jugend in Berlin“ werden Motive angeschlagen, die Sombart von nun an in einer Reihe autobiographischer Texte zur Entfaltung bringen sollte: das Heraufbeschwören der „guten Gesellschaft“ von einst, des Adels und eines angeblich höheren Menschentums, das Plädoyer für eine Elite, die der Plackerei der vielen als ihrer Voraussetzung bedarf, die Vergötterung der Frauen und die Anpreisung eines erotischen Hedonismus, die Entlarvung der Männerherrschaft und die Utopie einer neuen, libertären Ordnung, in der die Bisexualität zu ihrem Recht kommen soll. Zumindest mit dem letzten Topos hatte Sombart einen Nerv der Zeit ge-

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Kindheit und Jugend in Berlin

troffen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass so manche feministische Sombart-Leserin ihre Schwierigkeiten mit dieser Art von Frauenverherrlichung haben dürfte. „Jugend in Berlin“ ist ein Abgesang auf das deutsche Bildungsbürgertum, in einer Erzählweise, die ihren Gegenstand soziologisch betrachtet und zugleich poetisch verklärt. Aus der Binnenperspektive des Grunewald-Bewohners nehmen sich die Jahre 1933 bis 1943 geradezu idyllisch aus. Die vergiftete Atmosphäre der Nazizeit ist kaum spürbar. Die großbürgerliche Welt scheint noch in Ordnung. Sie schließt sich gegen den Pöbel ab, den die Nazis für sie darstellen. Nur selten drängt sich ein Gefühl des Unbehagens auf, wenn der eine oder andere jüdische Bewohner des Viertels seine Koffer packen muss oder plötzlich verschwindet. Der Schrecken scheint im Leben der privilegierten nichtjüdischen Schichten im gewöhnlichen Faschismus keinen Platz zu haben. Sombart beschreibt das Grunewald-Viertel als eine Enklave, in der die Schwingungen der großen Politik kaum wahrgenommen werden. So stellt sich ihm diese Welt in seiner Erinnerung dar. Im Hause Sombart war man über die politischen Vorkommnisse gleichwohl gut unterrichtet. Man hatte sich eingerichtet, um mit den Machthabern nicht in Konflikt zu geraten und fühlte sich in seinem täglichen Leben so gut wie nicht eingeschränkt. Erst der Krieg änderte die Lage. Bis 1939 führte man ein Haus, verkehrte in der „großen Welt“, mit ihren halb adligen, halb großbürgerlichen Repräsentationsformen, die durch die Machtergreifung der Nazis nicht angetastet worden waren. Es gab großartige Empfänge und Diners. Das Salonleben, sofern es nicht von jüdischen Großbürgern getragen wurde, war noch nicht zum Erliegen gekommen. Man verfügte über Dienstpersonal, und die althergebrachten Konventionen bürgerlicher Wohlanständigkeit blieben intakt. Dem jungen Sombart erschien die Welt im Hause seiner Eltern in vollständiger Harmonie. Alles hatte seinen Platz. Da war der weltberühmte Gelehrte, der nach strengem Reglement sich seinen Studien widmete. Da war die Dame des Hauses, die das Personal anleitete. Da waren die Dienstboten, einem ebenso strengen Regiment gehorchend. Da waren die gesellschaftlichen Verbindungen, die einen Umgang allerersten Ranges verbürgten. Von Trübungen dieser Harmonie ist in Sombarts Erinnerungen kaum die Rede. Liest man das Buch mit kritischem Blick, stellen sich jedoch einige Fragen. Sie berühren die politische Einstellung der Eltern zum Nationalsozialismus, die politischen Erfahrungen des jungen Sombart in der Schule und der bündischen Jugend und die Eindrücke, die Nicolaus Sombart von dem grassierenden Antisemitismus in sich aufnahm.

Werner Sombart und der Nationalsozialismus Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland wurden nach einer weit verbreiteten Auffassung durch die nationalsozialistische Machtergreifung in ihren

Werner Sombart und der Nationalsozialismus

Grundfesten erschüttert. Liest man die Memoiren nichtjüdischer Angehöriger des Bürgertums, die das Dritte Reich erlebt haben, erfährt man hingegen, dass das bürgerliche Leben in dieser Zeit nahezu ungestört von den politischen Verwerfungen seinen Lauf nahm. Als Beleg mögen neben den Erinnerungen von Nicolaus Sombart die autobiographischen Zeugnisse des Verlegers und Publizisten Wolf Jobst Siedler gelten. Die Familien lebten nicht weit voneinander in den Berliner Stadtteilen Grunewald und Dahlem. Im Unterschied zu den Sombarts, die eine Villa ihr eigen nannten, wohnte die Familie Siedler in einem – wenn auch großzügig ausgestatteten – Reihenhaus. Beide Familien verfügten über Dienstpersonal. Wolf Jobst Siedlers Vater war Jurist und als Syndikus für Unternehmensverbände tätig. Zuvor war er in konsularischen Diensten aktiv gewesen. Nicolaus Sombarts Vater war Universitätsprofessor und trug den Titel eines Geheimen Regierungsrats. Im Bildungsgang der Söhne lassen sich keine wesentlichen Unterschiede feststellen. Wenn sich beide dem gehobenen Bürgertum zurechnen, dann durch die Lebensführung, die es den Familien gestattete, einen gewissen Lebensstandard zu halten und bestimmten Repräsentationspflichten Genüge zu tun. Dabei spielte nicht nur der Vater, sondern auch die Mutter eine wichtige Rolle. Sombarts Mutter Corina „machte“ einen Salon und schloss damit an eine adlige Repräsentationskultur an. Dagegen nahm Elisabeth Siedler eine weniger repräsentative Rolle ein. Politisch war bei den Siedlers eine deutliche Distanz zum Nationalsozialismus gegeben. Wolf Jobst Siedlers Mutter war eine „Vierteljüdin“ und erlebte unmittelbar die Diskriminierung ihrer Verwandten. In Sombarts Familie gab es dagegen keine jüdische Verwandtschaft. Dass der Ordinarius sich der Ausschaltung seiner jüdischen Kollegen widersetzte, ist nicht bekannt. Werner und Corina Sombart waren leidenschaftliche Anhänger Mussolinis. Man hielt den Duce für einen großen Mann. Sehr beeindruckt zeigte sich der Gelehrte von einem Empfang beim italienischen Diktator im November 1932, dem auch Carl Schmitt beiwohnte. Corina Sombart war eine Verehrerin des Juristen, dessen Vortrag „Staatsethik und pluralistischer Staat“ sie ins Rumänische übersetzte. Mit seinem 1934 erschienenen Buch über einen „Deutschen Sozialismus“ unternahm Werner Sombart den vergeblichen Versuch, sich der NSDAP als Theoretiker anzuempfehlen. In diesem Bemühen ähnelte er Carl Schmitt, der bestrebt war, dem Regime seine juristischen Dienste zur Legitimation seiner Macht anzubieten. Mit Schmitt verband Werner Sombart die radikale Ablehnung der modernen kapitalistischen und demokratischen Massengesellschaft. Zur Realisierung der von ihm entworfenen planwirtschaftlichen Konzepte bedürfe es – so Sombart im März 1933 – einer starken Regierung, die nun existiere und deren Energie er bewundere.7

7 Vgl. Lenger, Werner Sombart, S. 358.

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Über Werner Sombart meint einer der einflussreichsten Repräsentanten der nach 1945 wieder aufblühenden Soziologie in der Bundesrepublik, René König, ein früherer Student des Nationalökonomen, dieser habe als Marxist begonnen und sei als Nationalsozialist geendet.8 Das in der Sache fragwürdige, wenngleich für die Generation Königs nicht untypische Urteil erklärt, warum Werner Sombarts Werke nach 1945 in Deutschland kaum noch verlegt und beachtet worden sind. Während von anderen Klassikern der Soziologie wie Ferdinand Tönnies, Max und Alfred Weber und Georg Simmel inzwischen Gesamtausgaben vorliegen oder im Entstehen begriffen sind, ist dies von dem Œuvre Werner Sombarts bisher nicht der Fall. Dabei galt Sombart durch seine bahnbrechenden Arbeiten über den modernen Kapitalismus und den proletarischen Sozialismus lange Zeit als der neben Max Weber bedeutendste deutsche Soziologe.9 In jungen Jahren sah man in ihm einen Marxisten und Parteigänger der Sozialdemokratie. Später entwickelte er sich zum scharfen Gegner des Marxismus, zum Anti-Materialisten und Anti-Demokraten.10 Für den nur wenige Jahre jüngeren Kultursoziologen Alfred Weber war der Rang Werner Sombarts in der Wissenschaft unbestritten und auch im Ausland, z. B. in Frankreich und Italien, war Sombart in Fachkreisen eine bekannte Größe. So konnte sich sein Sohn Nicolaus bei seinen Antrittsbesuchen bei Benedetto Croce in Neapel und Maxime Leroy oder Raymond Aron in Paris sicher sein, dass der Name seines Vaters einen guten Klang besaß. Er stellte gleichsam ein kulturelles Kapital dar, das Nicolaus Sombart für seine Karriere von Nutzen sein konnte. Nach dem zweiten Weltkrieg galten prominente Geistes- und Sozialwissenschaftler, die sich mehr oder weniger eindeutig mit dem Nationalsozialismus eingelassen hatten – genannt seien Martin Heidegger, Carl Schmitt, Hans Freyer und Arnold Gehlen – in Deutschland als politisch belastet. Dies hinderte sie freilich in vielen Fällen nicht daran, ihre akademischen Karrieren, wenn auch mit einer gewissen Verzögerung, als Professoren fortzusetzen. Andere wie Alfred Weber und Alfred von Martin, die in Deutschland geblieben waren und aufgrund ihrer Distanz zum Nationalsozialismus mit Publikationsschwierigkeiten zu rechnen hatten, waren im Vergleich mit ihren politisch diskreditierten Kollegen nicht immer in einer vorteil-

8 René König, Soziologie in Berlin um 1930. In: Soziologie in Deutschland und Österreich 1918–1945. Materialien zur Entwicklung, Emigration und Wirkungsgeschichte. Hg. von M. Rainer Lepsius (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 23/1981, S. 31.) 9 In seinem Nachruf auf Werner Sombart bezeichnet Alfred Weber ihn als den neben Max Weber führenden Vertreter der Sozialwissenschaften seiner Generation. Vgl. Alfred Weber, Werner Sombart [Nachruf] (1941). In: Alfred Weber, Schriften zur Kultur- und Geschichtssoziologie (1906–1958). Alfred Weber-Gesamtausgabe. Bd. 8. Hg. von Richard Bräu, Marburg 2000, S. 456, 461. 10 Vgl. Bernhard vom Brocke, Werner Sombart 1863–1941. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung. In: Sombarts „Moderner Kapitalismus“. Materialien zur Kritik und Rezeption. Hg. u. eingel. von Bernhard vom Brocke, München 1987, S. 40.

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hafteren Position. Akademische Seilschaften aus der Nazi-Zeit waren vielfach noch intakt. So konnte der Soziologe Alfred von Martin, der 1933 sein Amt als Direktor des Soziologischen Seminars in Göttingen aus politischen Gründen niedergelegt hatte, nicht wieder beamteter Professor werden.11 Carl Schmitt, der sich der Entnazifizierung verweigerte, hat allerdings nie wieder eine Professur erhalten, was seinen Einfluss freilich nicht minderte. Der 1941 verstorbene Werner Sombart war durch sein Verhalten im Dritten Reich in der Wahrnehmung der Nachkriegsgeneration ins Zwielicht geraten. Dabei wurde die Lage des 1931 emeritierten Hochschullehrers, der bis 1940 weiter unterrichtete, unter der Nazi-Diktatur zunehmend prekärer. Sein 1938 erschienenes Buch „Vom Menschen“, ein beredtes Zeugnis dafür, dass er nicht „als Nationalsozialist endete“, brachte ihm keinerlei Anerkennung durch das Regime. Die Zahl der Besucher seiner Vorlesungen ging Ende der dreißiger Jahre rapide zurück. Auch sein Werk „Deutscher Sozialismus“ (1934), auf das René König mit einem gewissen Recht sein Verdikt vom Nazi-Kollaborateur stützt, fand in der Parteiöffentlichkeit ein eher negatives Echo. Gleichwohl ist es vor allem diese Schrift, durch die Werner Sombart sein Renommee und sein Nachleben als weltberühmter Gelehrter aufs Spiel setzen sollte. Im Vorwort schreibt der Autor: „Es ist keine Tagesschrift, weil ich mit Vorbedacht auf die Politik unserer Regierung keinen unmittelbaren Bezug genommen habe. Nicht etwa, weil ich der Hitlerregierung gleichgültig oder gar feindlich gegenüberstünde. Nichts weniger als dieses. Der Grund, weshalb ich auf eine Auseinandersetzung mit dem herrschenden Regime im einzelnen verzichtet und die politischen Maßnahmen unserer Regierung und die Meinungsäußerungen unserer Machthaber nur gelegentlich und meist nur beispielsmäßig berücksichtigt habe, ist vielmehr der, daß ich glaube, durch ein solches Verhalten meinem Lande am besten dienen zu können.“12 Die Aufgabe des Buches sei es, „die offenbar starken Kräfte, die einer Vollendung der nationalsozialistischen Ideen nach ihrer sozialistischen Seite hin zustreben, in Bahnen zu lenken, in denen sie nicht verheerend, sondern befruchtend sich auswirken können.“13 Damit war der linke Flügel der NSDAP um Georg Strasser gemeint, mit dem Werner Sombart in Verbindung stand. Liest man die Einleitungssätze unvoreingenommen, so erinnern sie an die Huldigungsfloskeln

11 „Einen Anspruch auf Wiedereinsetzung auf eine Beamtenstelle besaß er nicht, im Gegensatz zu denjenigen Professoren, die 1945 wegen ihrer Parteimitgliedschaft suspendiert worden waren und 1948 fast alle wieder in ihre Ämter an den Universitäten zurückkehrten.“ (M. Rainer Lepsius, Soziologie als Profession. Autobiographische Skizzen. In: Adalbert Hepp/Martina Löw (Hg.), M. Rainer Lepsius. Soziologie als Profession, Frankfurt am Main/New York 2008, S. 86f.) 12 Werner Sombart, Deutscher Sozialismus, Berlin 1934, S. XII. 13 Ebd., S. XVI.

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in Texten von Wissenschaftlern in der DDR, die sich genötigt sahen, ihre im Haupttext vorgetragenen kritischen Argumente durch einen pflichtschuldigen Verweis auf die Beschlüsse des letzten Parteitages der SED abzusichern. Gleichwohl muss die Frage gestellt werden, ob Werner Sombart nicht in der Tat mit dem nationalen Aufbruch 1933 sympathisierte und die Chance sah, durch seine wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Kompetenz Einfluss auf die Politik der NSDAP nehmen zu können. Zu berücksichtigen ist, dass Sombart das Vorwort seines Buches im Juli 1934 verfasste. Kurz zuvor hatte der Röhm-Putsch stattgefunden: die Ausschaltung und physische Liquidierung des linken Flügels der NSDAP. Sombart will mit seiner Schrift den Ideenkreis der nationalen Bewegung nicht verlassen. Es kommt ihm vielmehr darauf an, zur Klärung ihrer sozialistischen Inhalte beizutragen. Die Schrift entspringt der tiefen Überzeugung eines Nationalökonomen, der sich seit längerem der nationalen Sache verschrieben hat und durch die „nationale Revolution“ die Voraussetzungen erfüllt sieht, seine Vorstellungen von einem deutschen Sozialismus zu verwirklichen. „Was ich Deutschen Sozialismus nenne, bedeutet – in der Verneinung ausgedrückt – nichts anderes als die Abkehr vom ökonomischen Zeitalter in seiner Gänze.“14 Mit dem ökonomischen Zeitalter ist der vollständige Siegeszug des Kapitalismus gemeint, die Vorherrschaft der materiellen Werte, die Auflösung der Dorfgemeinschaft, des Handwerks und der Hauswirtschaft, die Umgestaltung der Lebensformen durch Entseelung, Versachlichung und Gleichförmigkeit, die ausschließliche Anerkennung der Geldwerte. Auch die Kultur werde vom Geist des ökonomischen Zeitalters geprägt. Dies bedeute eine Vermassung der Kulturgüter bei Senkung des Niveaus und die Loslösung des Menschen von seinen transzendenten Bezügen. Sombart versucht, den bisherigen Typen sozialistischer Systeme – dem proletarisch-marxistischen und dem katholischen Sozialismus – einen dritten Typus entgegenzustellen: den Deutschen Sozialismus. Der renommierte Gelehrte, der wie kein zweiter etwas von Sozialismus und Wirtschaft versteht, will sich der NSDAP als loyaler Ratgeber empfehlen. „Für mich bedeutet deutscher Sozialismus soviel wie Sozialismus für Deutschland, das heißt einen Sozialismus, der ganz allein und ausschließlich für Deutschland Geltung hat und zwar für Deutschland unserer Tage (…).“15 Es gehe darum, das Land aus der Wüste des ökonomischen Zeitalters herauszuführen. Während der proletarische Sozialismus diesem Zeitalter verhaftet bleibe und nur ein Kapitalismus mit umgekehrtem Vorzeichen sei, sei der Deutsche Sozialismus Anti-Kapitalismus.

14 Ebd., S. 43. 15 Ebd., S. 121.

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Man müsse begreifen, dass über den Nützlichkeits- und Annehmlichkeitswerten höhere Werte stehen. „Daß die neue Wertewelt ein deutsches Gepräge tragen soll, versteht sich von selbst für diejenigen, die sich zum Deutschen Sozialismus bekennen. Dieser steckt sich ja gerade zum Ziel, daß der deutsche Geist zur vollen Entfaltung komme, das heißt also, wie wir wissen, daß wir als unsere Aufgabe erkennen, Geistigkeit, Heldentum und Vielgestaltigkeit zu pflegen und zu entfalten.“16 Sombart bezieht sich auf Carl Schmitt, demzufolge der politische Verband auf dem Freund-Feind-Verhältnis beruhe. In der „Judenfrage“ sei zwischen einem Sach- und einem Personenproblem zu unterscheiden. Sombart plädiert für eine Ausschaltung jüdischer Staatsbürger von der Besetzung leitender und verantwortungsvoller Stellen. Dies solle bei Menschen „rein jüdischen Blutes“ geschehen, unabhängig davon, ob sie dem „jüdischen Geist“ verbunden sind oder nicht. Um sich vom jüdischen Geist zu befreien – und dieser Geist fände sich auch bei Nichtjuden, während sich andererseits die assimilierten Juden von diesem Geist losgesagt haben –, genüge es nicht, alle Juden auszuschalten. „Es gilt vielmehr, die institutionelle Kultur so umzuschaffen, dass sie nicht mehr als Bollwerk des ‚jüdischen Geistes‘ dienen kann.“17 Unter „jüdischem Geist“ versteht Sombart den Geist des ökonomischen, liberalen Zeitalters, der durch den Deutschen Sozialismus überwunden werden soll. Unmissverständlich distanziert er sich von der Rassentheorie der Nationalsozialisten. Unter Gesichtspunkten der Rasse seien die Juden ein wertvoller Bestandteil der deutschen Gesellschaft. „Überdies: wer bürgt uns denn dafür, daß alle rassigen Menschen wertvolle Menschen sind, und daß die wertvollen Menschen nur rassige Menschen sein können?“18 Der Deutsche Sozialismus erfordere einen starken Staat, in dem das Führerprinzip verwirklicht sei. Der Führer des Staates erhalte seinen Auftrag nicht vom Volk, sondern von einer transzendenten, göttlichen Instanz. „Daß das parlamentarische Ausleseprinzip nicht in Frage kommt, hat die Erfahrung der letzten Jahrhunderte gezeigt.“19 Sombart, für den Mussolini den Idealtypus des Führers verkörpert, sieht im politischen System des italienischen Faschismus offenbar ein Vorbild für den Deutschen Sozialismus. Die Überwindung des modernen Kapitalismus durch den Deutschen Sozialismus bedeute, dass in Zukunft nicht mehr Industrie und Industriearbeiterschaft die Grundlage des Staates bilden, sondern die handwerkliche und bäuerliche Produktionsweise. Großbanken, Schlüsselindustrie und Verkehrsbetriebe gehörten

16 17 18 19

Ebd., S. 162f. Ebd., S. 195. Ebd., S. 197. Ebd., S. 214.

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in öffentliche Verfügungsgewalt. Auch in der Wirtschaft gelte das Führerprinzip. Dieses führe „mit zwingender Notwendigkeit zur Planwirtschaft, das heißt zum Sozialismus.“20 Privateigentum und Gemeineigentum würden nebeneinander bestehen. Dem Deutschen Sozialismus wohne das Streben nach weitgehender nationaler Autarkie inne. Die außenwirtschaftlichen Beziehungen der Zukunft richteten sich nicht nach dem Prinzip des Freihandels, sondern denen einer planmäßigen nationalen Politik. Wenn ein Hauptnachteil einer Beseitigung des Kapitalismus die Verlangsamung des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts sein werde, so sei dies in Kauf zu nehmen. In „Jugend in Berlin“ kommentiert Nicolaus Sombart das Buch seines Vaters mit den Worten: „Es wurde ihm nicht erspart, wegen dieses Versuches, den Wegbereitern des Nationalsozialismus zugerechnet zu werden, und sicher gehörte er zu denen, die nicht sofort übersahen, wie tiefgreifend die revolutionären Veränderungen sein würden, die sich da anbahnten. Auch seine Phantasie reichte dazu nicht aus. Aber schon im Moment der Machtübernahme war ihm klar, daß hier der falsche Weg beschritten wurde.“21 Der NSDAP einen falschen Weg zu ersparen, war der Anlass für Werner Sombarts Buchveröffentlichung. Er wurde dadurch nicht zum Wegbereiter des Nationalsozialismus, denn dieser hatte längst die Macht ergriffen. Vielmehr verstand er sich als sympathisierender Begleiter dieses Weges. Ein Wegbereiter der Bewegung war Sombart längst durch Schriften, die vor 1933 erschienen waren.22 Die Kritik der Parteipresse an seinem Buch „Deutscher Sozialismus“ 23 hat Werner Sombart tief enttäuscht und zur Ernüchterung beigetragen. Sie machte ihm deutlich, dass die Partei, der er nicht angehörte, ihn auch nicht als einen der ihren 20 Ebd., S. 308. „Planung war staatliche Planung und der planende Staat eine autoritäre Erziehungsdiktatur, die ein konkretes Vorbild am ehesten im faschistischen Italien hatte.“ (F. Lenger, Einleitung zu Sombart, Briefe eines Intellektuellen, S. 26.) 21 Nicolaus Sombart, Jugend in Berlin 1933–1943. Ein Bericht, München/Wien 1984, S. 31. In seinem Vorwort zu dem 1966 neu aufgelegten Buch Werner Sombarts „Sozialismus und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert“ schreibt er dagegen: „Denn der Weg von der mutigen Würdigung des Marxismus zu seiner Denunziation als ‚proletarischer Sozialismus‘ führte mit unheimlicher Konsequenz zu einem ‚Deutschen Sozialismus‘ und damit in die unmittelbare Nachbarschaft des Nationalsozialismus“. (Nicolaus Sombart, Vorwort zu: Werner Sombart, Sozialismus und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert, Wien 1966. Wieder abgedruckt in: Nicolaus Sombart, Nachdenken über Deutschland. Vom Historismus zur Psychoanalyse, München/Zürich 1987, S. 19.) 22 Bernhard vom Brocke, schreibt: „Sombart hat zweifellos dem Nationalsozialismus den Weg geebnet, da gibt es nichts zu beschönigen. Die von ihm am Schluß seiner Schrift ‚Die Zukunft des Kapitalismus‘ geäußerte Hoffnung auf den ‚Träger eines entschlossenen Willens‘, eines ‚Einzelwillens‘ in der Art Lenins oder Mussolinis, als Retter vor dem drohenden Chaos war schon 1932 als Ruf nach dem Führer, als Kniefall vor Hitler interpretiert worden.“ (Brocke, Werner Sombart, S. 53.) 23 Der „Völkische Beobachter“ schrieb: „Es gibt nur einen Weg, den unseres Führers Adolf Hitler, und keinen zweiten des Herrn Professor Sombart.“ (Zit. n. Brocke, S. 54.)

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betrachtete. Sombart entfernte sich daraufhin mehr und mehr von der nationalsozialistischen Ideologie. Seinem Kollegen, dem Nationalökonomen und Soziologen Johann Plenge, schrieb er am 24. September 1933: „Was nun Ihren Anspruch auf die Vaterschaft des Nationalsozialismus anbetrifft, so geht es Ihnen nicht anders wie andern auch. So bin ich mir bewußt, ebenfalls zahlreiche Ideen seit langem vertreten zu haben, die die heutige Politik bewegen. Ich kann mich berufen auf mein grundlegendes Buch über die Juden (1911) [Die Juden und das Wirtschaftsleben, G. E.], auf meine Kriegsschrift „Händler + Helden (1915), auf die Einleitung zu meiner Anthologie des Sozialismus (1919), auf meinen 2bändigen Proletarischen Sozialismus (1924) (…) auf meine Schrift „Die Zukunft des Sozialismus“ (1932) u. a.“24 Nicolaus Sombart bekennt in seinen Erinnerungen, dass die ständige Auseinandersetzung mit Person und Werk seines Vaters für ihn die ergiebigste Form sei, über sich selbst nachzudenken. Durch ihn kenne er das 19. Jahrhundert. Es sei nicht etwas, über das er sich durch Quellenstudium informieren müsse. Er trage es in sich. Sein Vater sei gleichsam das verkörperte 19. Jahrhundert, das er an den Sohn weitergebe. Nicolaus Sombart hat nicht nur ein Vorwort zur Neuauflage von „Sozialismus und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert“ geschrieben. Früher schon – 1956 – steuerte er ein solches zu einer Sammlung von Aufsätzen seines Vaters bei, die er unter dem Titel „Noo-Soziologie“ herausgab.25 Es wird im Laufe dieser Untersuchung zu zeigen sein, ob sich Theorieansätze Werner Sombarts in den Arbeiten seines Sohnes nachweisen lassen. Neben Carl Schmitt und Alfred Weber ist es vor allem der in aller Welt zu Lebzeiten hochgeachtete Gelehrte Werner Sombart, der das Denken seines Sohnes beeinflusst hat. Es galt, eine Dankesschuld abzutragen, nicht nur in den Erinnerungen an die Person des verehrten Geheimrats, sondern auch im Eintreten für das Werk des nach dem Kriege vielfach zu Unrecht Vergessenen.

24 Werner Sombart an Johann Plenge, Brief vom 24. September 1933. In: Sombart, Briefe eines Intellektuellen, S. 520. In einem Brief an seinen Schüler Edgar Salin, der in Basel Staatswissenschaften lehrte, schreibt Sombart: „Mein ‚Deutscher Sozialismus‘ ist Gegenstand zahlreicher sich höchst tüchtig widersprechender Meinungsäußerungen geworden (…) Die Gegensätze gehen bis tief in die NSDAP hinein (…) Mir sind diejenigen Äußerungen der ausländischen Presse (deren schon mehrere vorliegen) besonders wertvoll, in denen gesagt wird: das Buch sei geeignet, den Intellektuellen der fremden Länder eine bessere Meinung – oder überhaupt eine begründete Ansicht – vom Nat.Soz. beizubringen.“ (Ebd., S. 529.) Edgar Salin (1892–1974) verkehrte im Salon Corina Sombarts und blieb der Familie auch nach 1945 eng verbunden. 25 Werner Sombart, Noo-Soziologie. Mit einer Vorbemerkung von Nicolaus Sombart, Berlin 1956.

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Degout vor der Pöbelherrschaft Nicolaus Sombart schreibt in „Jugend in Berlin“, er selbst sei in Schule und Elternhaus frei von jeder Nähe zu den Ideen des Nationalsozialismus gewesen. Zur Begründung nennt er die Pöbelhaftigkeit der NS-Parteigänger, ihre Vulgarität, das Proletenhafte ihres Auftretens, das jeder bürgerlichen Vorstellung von Anstand, Sitte und Stil Hohn sprach. Aus großbürgerlicher Sicht waren die Nazis primitive Horden, deren Treiben man hilflos zusah. Nicolaus Sombart spricht angesichts der Indoktrinationsversuche auf der Schule von einer natürlichen Abwehrreaktion seiner bildungsbürgerlichen Grundbefindlichkeit. „Irgendwie war ich gegen den Zugriff der Naziideologie immun.“26 Was den Bürger von einem typischen Parteigänger des Nationalsozialismus unterschied, waren die Kultiviertheit seines Lebensstils, sein ästhetischer Geschmack und seine humanistische Bildung. Das Bürgerliche reichte aber tief in den Nationalsozialismus hinein. Dass es humanistisch gebildete fellow travellers gab, die über Geschmack und Lebensart verfügten, beweist nicht zuletzt der Lebenszuschnitt einiger der Gäste im Salon Corina Sombarts. Sie fühlten sich den Nazis geistig weit überlegen. Eigen ist ihnen eine gewisse reservatio mentalis. Gleichwohl waren sie durch die Wahrnehmung wichtiger Ämter und Funktionen in das Regime eingebunden und bereit, wenn nötig, die jeweils gewünschte Einverständniserklärung zu unterschreiben.27 Nicolaus Sombart versucht in seinen Erinnerungen, sein damaliges Hitler-Bild zu rekonstruieren. Dabei geht es nicht ohne Widersprüche zu. So schreibt er: „Ich kann, glaube ich, ohne mich zu irren und ohne Übertreibung, behaupten, daß es in meiner näheren und ferneren Umgebung keinen Menschen gab, der Hitler und das, was er repräsentierte, bejahte. Das gab es einfach nicht.“28 Wenig später berichtet er über seine Spaziergänge mit Carl Schmitt, dem Kronjuristen des Dritten Reiches, der „den Führer führen“ wollte. Freilich wusste der junge Sombart damals nur wenig über die Verwicklung des Juristen in die Machenschaften des Nationalsozialismus. Des Weiteren berichtet er von dem Georgier Grigol Robakidse, einem Stammgast des Hauses, der eine Eloge auf Hitler veröffentlicht hatte und dem jungen vielversprechenden Peter Scheibert, einen Wegbegleiter Sombarts nach dem Krieg, der sich zur SS meldete. Wenn Nicolaus Sombart nicht umhinkann, einzuräumen, dass sein Vater gelegentlich seine Solidarität mit dem Hitler-Regime

26 Nicolaus Sombart, Rendezvous mit dem Weltgeist. Heidelberger Reminiszenzen 1945–1951, Frankfurt am Main 2000, S. 188. 27 Vgl. M. Rainer Lepsius, Kultur und Wissenschaft in Deutschland unter der Herrschaft des Nationalsozialismus. In: ders., Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1993, S. 119–132. 28 Sombart, Jugend in Berlin, S. 169.

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bekundete, spricht er von ironisch gemeinten Loyalitätsadressen und schwarzem Humor. Die Darstellungsform, die er wählt, um die Haltung seiner Familie und der im Hause Sombart verkehrenden Personen zum Nazi-Regime zu charakterisieren, ist das anonyme „man“. „Man karikierte eher, als daß man dämonisierte. Man wußte sehr wenig und wollte auch gar nichts wissen.“29 Dessen ungeachtet berichtet der Verfasser von einem Gespräch des Vaters mit dem französischen Botschafter François-Poncet, das „hochpolitisch“ gewesen sei. Auch eine Einladung zum Abendessen bei der Kronprinzessin und dem Kronprinzen im Schloss Cäcilienhof in Potsdam war ein politischer Ereignis.30 Selbstverständlich war Werner Sombart über die Vorkommnisse im Dritten Reich gut informiert. Auch die Maßnahmen zur Deportation und Vernichtung der Juden müssen ihm bekannt gewesen sein, wenn auch nicht in allen ihren mörderischen Konsequenzen, die erst nach seinem Tod 1941 sichtbar wurden. Nicolaus Sombarts Haltung zum Nazi-Regime änderte sich – seinem Bekenntnis zufolge – erst, als er sich – er war achtzehn Jahre alt – in eine junge Jüdin verliebte. Nun beschäftigte er sich intensiv mit der „Judenfrage“ und verschaffte sich Zugang zu sekretierten Teilen der Staatsbibliothek. Ergebnis seiner Studien sei eine Bewunderung des Judentums gewesen, wie sie auch Carl Schmitt, Hans Blüher und sein Vater Werner Sombart bekundeten, ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen, dass derlei Bewunderung bei den Genannten antisemitische Einstellungen nicht ausschloss. Nach der Begegnung mit dem Mädchen Rahel und dem Einzug zum Militär Ende 1942 hat Nicolaus Sombart angeblich zu entschiedener Gegnerschaft zum Hitler-Regimes gefunden. „Jetzt wäre ich bereit gewesen, zu handeln, mich zu engagieren in irgendeinem Widerstand.“31 Nach dem 20. Juli 1944 hat er – wie er sich erinnert – in seiner Militäreinheit seine Sympathie mit den Attentätern, denen man noch Denkmäler errichten werde, offen bekundet. Ein Unteroffizier habe ihn denunziert, der Kompaniechef aber seine schützende Hand über ihn gehalten. Es gibt keinerlei Dokumente, die es erlauben, diese Aussage zu verifizieren. Die vorliegenden Feldpostbriefe aus der Kriegszeit enthalten verständlicherweise keine diesbezüglichen Hinweise. Verglichen mit der Familie Sombart zeichnet andere bürgerliche Elternhäuser eine kritischere Haltung zum Nazi-Regime aus. Im Fall der Familie Joachim Fests ist eine uneingeschränkte Distanz des Vaters, der ein entschiedener Republikaner war, festzustellen. Auch bei der Familie Wolf Jobst Siedlers war besonders durch

29 Ebd. 30 Vgl. Lenger, Werner Sombart, S. 279. 31 Sombart, Jugend in Berlin, S. 172.

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die jüdischen verwandtschaftlichen Beziehungen der Mutter eine Sensibilität gegenüber den Diskriminierungspraktiken der Machthaber vorhanden, die im Hause Sombart fehlte. Als ein weiteres Beispiel kann die Familie des Musikwissenschaftlers und Publizisten Joachim Kaiser herangezogen werden. Kaisers Vater trat zwar 1932 der NSDAP bei, trat aber zwei Jahre später wieder aus, weil er sich mit dem Kreisleiter überworfen hatte. Der Vater Dietrich Fischer-Dieskaus wählte dagegen 1932 die NSDAP, da er von der Weimarer Republik enttäuscht und vom Ende des Liberalismus überzeugt war. Die Mutter schloss sich den Ansichten ihres Mannes an. Fischer-Dieskau räumt ein: „Der domestizierte, immer wieder überspielte Antisemitismus, damals überall im gehobenen Bürgertum heimisch, war auch meiner Familie nicht fremd.“32

Bürgerlichkeit im Dritten Reich In der Biographie Nicolaus Sombarts spiegelt sich die Situation jener Generation des Bildungsbürgertums wider, die im Nationalsozialismus aufwuchs. Um Wertund Verhaltensorientierung, Mentalität und Habitus Sombarts besser verstehen zu können, sollen im Folgenden die autobiographischen Zeugnisse von Autoren dieser Herkunftsschicht, die zwischen 1922 und 1929 geboren wurden, zum Vergleich herangezogen werden. Es sind dies die Lebenserinnerungen von Peter Wapnewski (geb. 1922), Reinhart Koselleck (geb. 1923), Dietrich Fischer-Dieskau (geb. 1925), Joachim Fest und Wolf Jobst Siedler (geb. 1926), M. Rainer Lepsius und Joachim Kaiser (geb. 1928) und Ralf Dahrendorf (geb. 1929). Zu den Grundelementen bürgerlichen Lebens gehören Besitz und Bildung, verbunden mit einer bestimmten politischen Ordnungsidee.33 Zur Bürgerlichkeit gehören ferner die Wertorientierungen der Selbstständigkeit und Selbstverantwortlichkeit und die Wertschätzung von Arbeit und Leistung. Dies alles führt zu einer bestimmten Art der Lebensführung, zu bestimmten Formen der Kommunikation und des Verhaltens. Das Bildungsbürgertum beruht auf dem Besitz von Bildungswissen. Dieses Bildungswissen begründet seinen Geltungsanspruch auf soziale Reputation und Prestige. „Über das gemeinsame Bildungswissen konstituiert sich nach innen die zugemutete Lebensführung und die Homogenität der Verkehrskreise, nach außen der gesamtgesellschaftliche Geltungsanspruch und zugleich auch das Streben nach privilegierten Erwerbschancen.“34 32 Dietrich Fischer-Dieskau, Zeit eines Lebens. Auf Fährtensuche, Berlin 2000, S. 54. 33 Vgl. Manfred Hettling, Bürgerlichkeit im Nachkriegsdeutschland. In: Manfred Hettling/Bernd Ulrich (Hg.), Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005, S.10. 34 Lepsius, Das Bildungsbürgertum als ständische Vergesellschaftung. In: ders., Demokratie in Deutschland, S. 304.

Bürgerlichkeit im Dritten Reich

Wie schon erwähnt, verdankt Nicolaus Sombart sein Bildungswissen nicht zuletzt der umfangreichen väterlichen Bibliothek. Sein Selbstwertgefühl war durch den Zugang zu dieser Bibliothek geprägt, die zwar zum größten Teil Ende der zwanziger Jahre nach Japan verkauft worden war, aber immer noch 5000 Bände zählte. Im Büchertempel seines Vaters habe er unzählige Nachmittage verbracht. „Alles, was ich weiß, stammt eigentlich aus dieser Zeit. Ich habe später immer nur nachgelesen.“35 Es gehört zu den Inkonsistenzen der Sombartschen Erinnerungen, dass er einige Jahre später eine völlig andere Sichtweise präsentiert. Demnach habe er erst in Heidelberg während seines Studiums sich das Corpus der deutschen Geistesgeschichte angeeignet. „Ich wußte nicht viel davon. Mein Vater hatte auf meine Jugendlektüre einen geringen Einfluss. Er war über das Zeug, das ich las, eher ungehalten. Es war in seinen Augen zu viel Literatur, noch dazu französische, nichts Seriöses. Vergeblich versuchte er, mich für Schopenhauer zu interessieren. Wissenschaftliche Werke, inklusive seiner eigenen, mutete er mir nicht zu.“36 Wesentliche Sozialisationsinstanzen für das Bildungsbürgertum sind die Familie und das Gymnasium. Die dort vermittelten Werte und Konventionen spiegeln sich im Lebensstil wider. In der Generation der in den zwanziger Jahren Geborenen kommt der Mutter dabei eine besondere Rolle zu. „Die Freisetzung der Mütter von Erwerbsarbeit und mit Hilfe der Dienstmädchen von der Hausarbeit läßt diese zu den zentralen Trägern eines bildungsbürgerlichen Lebensstils werden (…) Die Frauen des Bildungsbürgertums lernen Sprachen, Literatur, Musik, Kunst, sie mußten ja diskursfähig sein für ihre Männer. Ihnen war die moralisch-ästhetische Erziehung der Töchter und vor allem der Söhne anvertraut, sie organisierten die familialen Netzwerke und über diese auch die Heiratskreise der Kinder, sie bestimmten das kulturelle Niveau des Haushalts und trugen damit auch wesentlich zum Sozialprestige der berufstätigen Männer bei.“37 Dieser Sachverhalt lässt sich an der Familie Sombart gut belegen, wo der einzige Sohn, der Stolz der Familie, im Mittelpunkt musisch-ästhetischer Erziehung stand. Insbesondere Corina Sombart stärkte diese Seite ihres Sohnes. Über geistige Erlebniswelten gewann der junge Sombart das Gefühl, ein zu Höchstem fähiges Talent zu besitzen. Spuren dieses Überlegenheitsgefühls finden sich noch im Briefwechsel mit den Heidelberger Kommilitonen Hanno Kesting und Reinhart Koselleck.38 In den Briefen kündet sich auch sein zukünftiges Dilemma an: Die Problematik des einzigen Sohnes eines prominenten Vaters, der seine vielfältigen Begabungen nicht

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Sombart, Jugend in Berlin, S. 13. Sombart, Rendezvous mit dem Weltgeist, S. 187. Lepsius, Das Bildungsbürgertum, S. 312. Vgl. NL N. Sombart 405, 856 und 889. Der in der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrte Nachlass wird unter der Signatur NL 405 erfasst.

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zu nutzen weiß, da ihm sekundäre Tugenden wie Fleiß und Sorgfalt im Umgang mit Wissenschaft und Literatur nur unzulänglich zur Verfügung stehen. Was sind die Charakteristika des bildungsbürgerlichen Lebensstils? Die Selbstzeugnisse der in den zwanziger Jahren geborenen Angehörigen dieser Schicht vermitteln davon einen präzisen Eindruck. Man besitzt ein eigenes Haus, wenigstens aber eine großräumige Mietwohnung in einem bürgerlichen Stadtviertel. Man verfügt über Hausangestellte. Man kultiviert eine bestimmte Form von Geselligkeit. Man pflegt einen regelmäßigen Umgang mit Literatur, Musik und bildender Kunst. Man legt Wert auf gute Umgangsformen. Auch die Kleidung hat bestimmten Konventionen zu entsprechen. Man behauptet eine prinzipiell humanistische Wertorientierung, was freilich ein gelegentliches Liebäugeln mit autoritären Herrschaftsformen nicht ausschließt. Die bürgerliche Lebensführung basiert auf klaren sozialen Unterscheidungen und einem ausgeprägten Klassenbewusstsein. Man lebt in einer Gesellschaft, die sozial vertikal gegliedert ist. Über dem Bürgertum steht der Adel, dessen Lebensstil vom Großbürgertum adaptiert wird, sofern es seine materiellen Mittel erlauben. Als verbindliche Wertorientierung gelten eine strenge Arbeitsethik und ein materieller Konsum, der alles Ostentativ-Luxuriöse ausschließt. Ist ein gewisser Standard nicht mehr gewährleistet, droht die Familie aus dem Bürgertum auszuscheiden. So ist der Einzug in eine kleine Mietwohnung unvereinbar mit einem bildungsbürgerlichen Lebensstil, erst Recht der Verzicht auf Dienstpersonal. Im Fall der Generationsgenossen von Nicolaus Sombart zeichnen sich Gemeinsamkeiten, aber auch deutliche Unterschiede in der Behauptung dieses Lebensstils ab. Unterschiede in der Wohnlage spielen dabei eine wesentliche Rolle. Während die Familie Sombart ein Haus im vornehmen Grunewald-Viertel bewohnt, muss die Familie Siedler mit einem Reihenhaus im nicht ganz so vornehmen Dahlem vorliebnehmen. Die Familie Siedler beschäftigt ein Dienstmädchen und eine Hausgehilfin, während die Familie Sombart über eine Vielzahl von Dienstkräften verfügt. Die Familie Fest frequentiert eine großräumige Mietwohnung in Berlin-Karlshorst, einem Viertel, in dem vorwiegend Angehörige des mittleren Bürgertums wohnen. Die Familie Fischer-Dieskau wiederum lebt in Lichterfelde, einem in den zwanziger Jahren vor allem vom kleinen und mittleren Bürgertum bewohnten Viertel. In der Prestige-Skala der genannten Familien rangierte die Familie Sombart an vorderster Stelle. Der Familienvorstand war Universitätsprofessor und Geheimrat. Wolf Jobst Siedlers Vater war Syndikus von Wirtschaftsverbänden. Joachim Fests Vater war Schulrektor. Er wurde 1933 aus dem Dienst entlassen, was den Lebensstandard der Familie erheblich minderte. Auch die Väter von Ralf Dahrendorf, Reinhart Koselleck, Peter Wapnewski, Joachim Kaiser, M. Rainer Lepsius und Dietrich Fischer-Dieskau sind dem Bildungsbürgertum zuzurechnen. Sie sind entweder Berufspolitiker, Studienrat, Künstler, Arzt, Jurist oder Schuldirektor.

Bürgerlichkeit im Dritten Reich

Auf die Frage, ob ihm sein Vater als ein Bürger erschienen sei, antwortet Reinhart Koselleck: „Danach wurde überhaupt nicht gefragt. Es war einfach selbstverständlich, wenn man Bildungsbürger war. Selbstbenennung war überflüssig. Dazu gehörten Hausmusik, Lesen und nochmals Lesen, Konzert und Museumsbesuche, Stolz auf die Familiengeschichte und das Briefeschreiben. Meine Mutter verfaßte beinahe jeden Tag vier bis fünf Briefe. Meine Familie ist ein Zusammenschluss einer über anderthalb Jahrhunderte hinweg etablierten akademischen Bürgerfamilie hugenottischer Herkunft mütterlicherseits mit der Aufsteigerfamilie meines Vaters. Er war in der dritten Generation Aufsteiger, über die Stufen Handwerker, Kaufmann, Akademiker.“39 Großer Wert wird auch in den anderen Fällen auf die Familiengeschichte gelegt, die mindestens bis ins 18. oder 19. Jahrhundert zurückverfolgt wird. Wie im Hause Koselleck wurde auch in der Familie Fest viel vorgelesen, in anderen Häusern häufig musiziert. Nicolaus Sombart berichtet von der täglichen halben Stunde, die sein Vater seiner Arbeitszeit abzwang, um den Kindern vorzulesen. Auch des Abends wiederholte sich der Vorgang. „Vorlesen gehörte, wie Hausmusik, die es bei uns nicht gab, zur bürgerlichen Kultur. Es gehörte auch zu den Verkehrsformen meiner Eltern: jeden Abend, nachdem die Kinder Gute Nacht gesagt hatten, setzten sich die beiden im Salon beim Schein einer Leselampe zusammen, aber jetzt war es meine Mutter, die vorlas. Schnitzler, Fontane, Spielhagen, Wassermann – diese Namen sind mir von daher vertraut.“40 Im Vergleich der verschiedenen bildungsbürgerlichen Lebensläufe zeichnen sich deutliche Unterschiede in der politischen Einstellung zum Nationalsozialismus ab, die von weitgehender politischer Ignoranz (Sombart) bis zu offener Ablehnung des Regimes (Dahrendorf, Siedler) reichen. Dahrendorf und Siedler verbüßten als Jugendliche wegen anti-nazistischer Äußerungen längere Gefängnisaufenthalte. Die Imprägnierung durch die nationalsozialistische Ideologie war dementsprechend gering. Ralf Dahrendorf, dessen Vater wegen Beteiligung am Attentat gegen Hitler im Zuchthaus saß und der selbst nach dem 20. Juli 1944 für einige Wochen mit anderen Jugendlichen inhaftiert war, da er mit anti-nazistischen Flugblättern in Verbindung gebracht wurde, schreibt: „Wenn ich je erwogen haben sollte, mich mit dem Nazi-Regime einzulassen, anstatt es zu bekämpfen – und es mag wohl sein, dass es ein paar solcher Momente gab – , war ich nun für alle Zeit resistent gegen

39 Hettling/Ulrich, Formen der Bürgerlichkeit. Ein Gespräch mit Reinhart Koselleck. In: dies., Bürgertum nach 1945, S. 46. 40 Sombart, Jugend in Berlin, S. 34. Der Biograph Ninetta Sombarts, Volker Harlan, berichtet: „Eine besondere Stunde am Tage war die vor dem Abendbrot, wenn der Vater um sechs Uhr kam, um vorzulesen. Er machte die Kinder früh mit Werken der europäischen Literatur vertraut. Auch sonst wurde viel vorgelesen, von der Mutter oder vom Kindermädchen, vor allem Märchen (…).“ (Harlan, Ninetta Sombart, S. 190.)

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solche Versuchung. Wahrscheinlich hat jene Zelle in Frankfurt an der Oder mich sogar immun gemacht gegen die Versuchungen jeder Art von Totalitarismus. Sie hat mich nicht nur immunisiert, sondern auch mit Antikörpern versehen, die ein Leben lang ausreichen sollten.“41 Siedlers Vater fühlte sich in der Weimarer Republik der Deutschen Demokratischen Partei verbunden. Die Eltern hielten Distanz zu den Nazis. Nationalsozialistische Sympathisanten, die im Hause Sombart verkehrten, waren bei den Siedlers kaum anzutreffen. M. Rainer Lepsius hatte das Glück, in einer nichtnationalsozialistischen Familie groß geworden zu sein. Entscheidend für das fehlende Einverständnis der Mutter mit dem Regime war die Vertreibung und Entrechtung der Juden. Der Großvater, ein Richter, ließ sich 1936 pensionieren. Der Vater, ein Jurist, war ebenfalls kein Parteimitglied. Er war ein preußischer Nationaler und Weltkriegsoffizier. Er starb 1942. Nur die, die über einen festen Wertbezug verfügten, waren – so Lepsius – Nicht-Faschisten.42

Das Eliteverständnis der bündischen Jugend Von seinem zehnten bis sechzehnten Lebensjahr gehörte Nicolaus Sombart einer Formation des Jungvolks an, die 1933 der Hitlerjugend eingegliedert worden war.43

41 Ralf Dahrendorf, Über Grenzen. Lebenserinnerungen, München 2 2002, S. 72. Auch die Familie des Botschaftsrats a. D. Clemens von Brentano ist hier zu nennen. Dessen Tochter, die 1922 geborene Philosophin Margherita von Brentano, schreibt über die Situation ihres Vaters nach 1933: „… es ist nicht wahr, wenn als Rechtfertigung für das Mitmachen bei den Nazis angeführt wird, man wäre sonst in großer Gefahr gewesen. Man mußte keineswegs für die Nazis sein, man machte nur im öffentlichen Dienst keine Karriere. Wie man am Beispiel meines Vaters sieht, erhielt ein wegen mangelnder Gesinnung entlassener sogar seine Pension.“ (Margherita von Brentano, Das Politische und das Persönliche. Eine Collage. Hg. von Iris Nachum und Susan Neiman, Göttingen 2010, S. 21.). 42 „Blicke zurück und nach vorne“. M. Rainer Lepsius im Gespräch. In: Hepp/Löw (Hg.), M. Rainer Lepsius. Soziologie als Profession, S. 18. 43 Im Alter von zehn Jahren wurde jeder Jugendliche im Jungvolk erfasst. Mit vierzehn Jahren war die Mitgliedschaft in der HJ oder dem BDM verpflichtend. Vgl. Heinz Bude, Deutsche Karrieren. Lebenskonstruktionen sozialer Aufsteiger aus der Flakhelfer-Generation, Frankfurt am Main 1987. Zur Mitgliedschaft Sombarts in der bündischen Jugend vgl. Bodo Mrozek, „Ein sonderbarer Haufen!“ Jugendbewegte Prägung als autobiographische Erzählstrategie in Nicolaus Sombarts „Jugend in Berlin 1933–1943“. In: Barbara Stambolis (Hg.), Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013, S. 668–682. Mrozek resümiert: „An der Gesamtdarstellung einer splendid isolation in privilegierter Wohnlage und unter den bunten Wimpeln der verbotenen Jugendbewegung weit ab vom Nationalsozialismus sind daher ebenso Zweifel angebracht wie an der vermeintlich unpolitischen bürgerlichen Geselligkeit im Elternhaus.“ (Ebd., S. 676.)

Das Eliteverständnis der bündischen Jugend

In ihr herrschte ein Kult der Männlichkeit und Kameradschaft. Das Beziehungsmuster dieser Gemeinschaft war die homoerotische Bindung des inneren Kerns. Im Mittelpunkt – so Sombart – stand meist ein außergewöhnlicher Jüngling, den die Aura des Ausnahmemenschen umstrahlte. Im Rückblick auf seine Zeit in der bündischen Jugend erschließt sich Sombart das Geheimnis einer wichtigen Komponente der deutschen Geschichte: Die Fixierung der deutschen Führungsschicht auf „mann-männliche“ Gesellschaftsformen. „Hier liegt, so scheint mir, die Wurzel eines sonderbar gestörten Verhältnisses zur Realität: jener Zwang zu elitärer Abschottung und blinder Abwehr des ‚Feindes‘, der, wenn man näher hinschaut, immer das ‚Weibliche‘ in seinen mannigfaltigen Repräsentationen war.“44 Anfang der vierziger Jahre machte Sombart im Elternhaus die Bekanntschaft mit Alfred („Fred“) Schmid, dem Begründer des „Grauen Korps“, einem der elitärsten und exklusivsten Jugendbünde. „Sein harter Kern würde ein durch strenge Auslese gebildeter, um eine Ausnahmepersönlichkeit gescharter Kreis geheimen Adels sein, persönliche Gefolgschaft ihres Führers, ein Elite-Korps jenseits von Gut und Böse, eigenen Rechtes.“45 Schmid schien an dem blonden Knaben Nicolaus besonderes Gefallen gefunden zu haben wie manche anderen homosexuell orientierten Männer, von denen Sombart in seinen Erinnerungen berichtet. Es erschloss sich ihm durch diesen Umgang, wie überhaupt durch seine Mitgliedschaft in der bündischen Jugend, das Geheimnis bündischer Prägungen auf Staat und Gesellschaft in Deutschland. Durch viele seiner Schriften geistert das Phänomen der elitären Gemeinschaft, die von der Ebene der bündischen Jugend auf die gesamtgesellschaftliche und politische Ebene ausstrahlt. In „Jugend in Berlin“ werden die kulturellen und geistigen Auswirkungen dieses Phänomens für die Biographie des Autors ausführlich erörtert. Sombart glaubt einen Schlüssel für das Verständnis der Besonderheiten des deutschen Geistes und des deutschen Sonderweges gefunden zu haben, den er in seinen Schriften als hermeneutisches Instrument handhabt. Die Begriffe zur Deutung dieses Phänomens entnimmt er den Werken Hans Blühers, Max Webers und Carl Schmitts. So erkennt er in Schmitts Definition des Politischen als Unterscheidung von Freund und Feind eine bündische Devise. Der Bund konstituiert Freundschaft, die Außenstehende ausschließt. Max Webers Begriff des Charismas ist für Sombart eine weitere zentrale Kategorie zur Kennzeichnung der Struktur des Männerbundes und dessen Führergestalten. Schließlich hat ihm Hans Blüher mit seinen Thesen zur Homosexualität und ihrer staatstragenden Bedeutung wichtige Einsichten vermittelt.46 44 Sombart, Jugend in Berlin, S. 25. 45 Ebd., S. 185. 46 Vgl. dazu ausführlich Nicolaus Sombart, Männerbund und Politische Kultur in Deutschland. In: Typisch deutsch: Die Jugendbewegung. Beiträge zu einer Phänomengeschichte. Hg. v. Joachim H.

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Blühers Untersuchung zur Erotik der männlichen Gesellschaft, Webers Vorstellung von charismatischer Herrschaft und Schmitts Dezisionismus haben das Denken Sombarts auch in späteren Jahren geprägt. Seine Abrechnung mit den deutschen Männern, die in seiner Schrift „Die deutschen Männer und ihre Feinde“ über Carl Schmitt ihr Zentrum findet, zeigt, dass er dem Phänomen der das Weibliche ausschließenden autoritären Männerherrschaft, die, wie er glaubte, im wilhelminischen Deutschland kulminierte, immer wieder höchstes Interesse abgewann. Die Vermutung liegt nahe, dass die Imprägnierung durch die bündische Jugend auch in seinem späteren Politik- und Gesellschaftsverständnis und seiner Betrachtung des Verhältnisses der Geschlechter Spuren hinterlassen hat. Die scharfe Kritik an den auf massiver Triebunterdrückung basierenden autoritären deutschen Gesellschaftsformen, sei es das wilhelminische Kaiserreich oder die Nazidiktatur, führt Sombart jedoch nicht notwendigerweise zu einem Bekenntnis zu einer liberalen, demokratischen politischen Ordnung, wenn in dieser die Masse das Sagen hat. Sein Verständnis von Gesellschaft und Politik – ebenso wie sein Verständnis von Kultur – ist getragen von einem entschiedenen Plädoyer für eine funktionstüchtige Elite und der Sympathie für eine auf Herkunft gegründete ständisch-gegliederte Ordnung, die den Vorstellungen seines Vaters Werner Sombart nicht fremd ist. „Jugend in Berlin“ liefert für dieses Denken, das auch seine weiteren Schriften durchzieht, zahlreiche Hinweise. Auch das Bemühen, Wiedergutmachung für seinen Vater zu fordern, ist deutlich erkennbar. Während er Carl Schmitt und Max Weber als Repräsentanten eines der Triebunterdrückung abgewonnenen autoritären Denkens bezeichnet, nimmt Sombart seinen Vater ausdrücklich davon aus. Er habe nie richtig zum Establishment der „deutschen Männer“ gehört. Werner Sombart sei der Ruf eines homme à femmes vorausgegangen. Trotz seiner Karriere als Professor und Geheimrat sei der Vater ein Außenseiter geblieben, ein Mann mit den Zügen eines Bohemiens. Wie in der Reinwaschung des Vaters von einer Verwicklung in den Nationalsozialismus bemüht sich der Sohn um den Nachweis einer Sonderstellung seines Vaters in der Phalanx deutscher Intellektueller. Zwar berichtet er stolz vom Nimbus seines Vaters als einem deutschen Mandarin, der zur führenden Elite der deutschen Wissenschaft gehörte. In Mentalität und Habitus will er ihn aber vom typischen deutschen Universitätsprofessor unterschieden wissen.47 Dagegen sprächen seine liberal-rationale Geistesart und sein romantisches

Knoll/Julius H. Schoeps, Opladen 1988, S. 155–176. Wieder abgedruckt in: Nicolaus Sombart, Die Frau ist die Zukunft des Mannes. Aufklärung ist immer erotisch. Hg. von Frithjof Hager, Frankfurt am Main 2003, S. 61–90. 47 Nicolaus Sombart bezieht sich in einer früheren Charakteristik seines Vaters auf die Worte Alfred Webers in seiner Gedenkrede anlässlich des Todes Werner Sombarts. „‚Diese Erscheinung war ganz bewußt unbürgerlich, ja anti-bürgerlich, bis zum ‚épater le Bourgeois‘. Sie war es nicht in irgendeinem Bohème-Sinne. Sie war es auch in einer Koinzidenz des Wesens mit einer historischen Lage, diese

Die große Welt zu Gast

Italienerlebnis. Charakteristisch für sein Wesen seien ferner das unerschütterliche Elitebewusstsein, die Verachtung der Masse und die Attitüde des großen Herrn, Eigenschaften, die dem Sohn bewundernde Worte entlocken.48 Die Begegnungen mit bedeutenden Persönlichkeiten in seinem Elternhaus, insbesondere im Salon der Mutter, und die Erlebnisse in der bündischen Jugend haben bei Nicolaus Sombart zur Herausbildung eines Wertekanons beigetragen, in dem der „höhere Mensch“ im Zentrum steht. Dieser ist einerseits ein männerbündisches Züchtungsprodukt, andererseits eine zivilisatorische Errungenschaft, die sich der „großen Welt“ von einst verdankt. Beide, der charismatische Führer des Männerbundes und der aristokratische Grandseigneur oder honnête homme, sind Ausprägungen einer Herrschaftselite. Freilich ist die Gestalt des Führers, wie ihn der Männerbund hervorbringt oder imaginiert, grundverschieden von der Gestalt des „höheren Menschen“ in Gestalt des Grandseigneurs. In der Logik des Denkens von Nicolaus Sombart wäre der Erstere in der „großen Welt“ kaum satisfaktionsfähig, denn er zeichnet sich nicht durch das Privileg der Familienherkunft aus. Eine charismatische Führungsfigur des Männerbundes wie Alfred Schmid bringt es trotz großen Reichtums immer nur zum Parvenü, bestenfalls zum Dandy. Ihm fehlt der Stallgeruch, der große Name, der den „höheren Menschen“ der besseren Gesellschaft adelt. Sombart spricht deshalb nicht zufällig, Bruno Goetz paraphrasierend, von einem „neuen Adel“ oder einer „spirituellen Aristokratie“ des zu schaffenden Bundes, von großen Persönlichkeiten, um die sich lebendige Gemeinschaften zusammenschließen.

Die große Welt zu Gast Nicolaus Sombart entstammt mütterlicherseits einer Bojarenfamilie, die in den Fürstentümern Walachei und Moldau siedelte, und über ausgedehnten Großgrundbesitz verfügte. Gehörte die Berühmtheit seines Vaters zu ihm wie ein Adelsprädikat,

bewußt erfassend und für das Geistige vorwärtstreibend in sachlich äußerst relevantem Sinne.‘“ Nicolaus Sombart bestätigt: „Ja, er war unbürgerlich. In Opposition zu einer konformistischen Vätergeneration, die ihr politisches Mitspracherecht im dynastischen Militärstaat um einer sehr problematischen sozialen Sekurität willen verpfändet hatte.“ (Nicolaus Sombart, Vorwort zu: Werner Sombart, Sozialismus und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert, Wien 1966. Wieder abgedruckt in: Sombart, Nachdenken über Deutschland, S. 14–21, hier S. 18.) 48 Der mit Werner Sombart befreundete Historiker Kurt Breysig sah ihn „als adligen Gelehrten mit all der Schroffheit, dem seigneurialen Hochmut, der Absonderungsneigung, der Kampflust, aber auch mit der Kraft und der selbstverpflichteten Gesinnung eines erlesenen und in besonderem Maße ritterlichen Menschen.“ (Gertrud Breysig, Kurt Breysig. Ein Bild des Menschen, Heidelberg 1967, S. 85.)

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so war über die rumänische Herkunft der Mutter weitläufig ein direkter Adelsbezug gegeben. Ihr Vater, Nicolas Leon (1862–1931), war Biologe und Rektor der Universität von Jassy, der Hauptstadt der im Nordosten Rumäniens gelegenen Moldau-Region. Ein Foto zeigt einen eleganten Herrn mit Borsalino, Spitzbart, einem um den Hals geschlungenem Plastron und einer Chrysantheme im Knopfloch. Er entsprach ganz und gar dem Lebensideal seines Enkels Nicolaus. In Deutschland hatte er bei Ernst Haeckel in Jena studiert. „Nichts war also für ihn natürlicher, als seine Tochter Corinna [!] nach Deutschland zu schicken, um dort ihre Studien zu vervollkommnen und sie einem deutschen Professor zur Frau zu geben.“49 Sombarts ausgeprägtes Herkunftsbewusstsein ist verknüpft mit einer Hochschätzung der „großen Welt“. Es handelt sich dabei um ein vom Adel dominiertes gesellschaftliches Segment, an das auch Angehörige des Großbürgertums Anschluss suchten, sei es indirekt durch repräsentative Zurschaustellung ihres erworbenen Reichtums, sei es direkt auf dem Wege der Nobilitierung durch das regierende Fürstenhaus. Der Geheime Regierungsrat und Universitätsprofessor Werner Sombart ragte durch seinen Lebensstil weit über den normalen Standard eines akademischen Beamten hinaus. Das Leben in ihrer Grunewald-Villa erlaubte es der Familie, Repräsentationsformen zu entwickeln, die das mittelständische Maß deutlich überschritten. Um Anschluss an die „große Welt“ des Adels zu gewinnen, waren neben großzügigen Räumlichkeiten, Dienstpersonal und Sprachkenntnissen auch bestimmte Formen der Geselligkeit unerlässlich. Der Salon Corina Sombarts bildete das Scharnier zu dieser Welt, von der Nicolaus Sombart in seinen Erinnerungen nicht müde wird, in den allerhöchsten Tönen zu berichten. Seine Kindheit war nicht nur „bürgerlich im besten Sinne des Wortes“. Sie überschritt gelegentlich das Bürgerliche in Richtung einer das Aristokratische aufgreifenden Lebensform. Dies alles schreibt Nicolaus Sombart vor allem dem Wirken seiner rumänischen Mutter zu. Sie hatte ihren Mann dem durchschnittlichen Dasein eines deutschen Professors entrissen. „Sie hatte es verstanden, seinen internationalen Ruf als Gelehrter in die Sphäre kosmopolitischer Repräsentation zu heben. Alles, was unser Haus auszeichnete, war gleichzeitig das, was es von einem normalen deutschen Professorenhaushalt unterschied.“50 Der Salon Corina Sombarts war eine Institution der Hochkultur. Mit dieser Einrichtung versuchte die Familie Anschluss an die tonangebenden Häuser der Hauptstadt zu finden. Da der Adel nach 1918 im gesellschaftlichen Leben keine große Rolle mehr spielte, waren es die Häuser der jüdischen Hochfinanz und die

49 Sombart, Rumänische Reise, S. 91. Die Behauptung, Corina Sombart sei gräflicher Herkunft, wie sie sich verschiedentlich findet, ist genealogisch nicht belegt. 50 Sombart, Jugend in Berlin, S. 298f.

Die große Welt zu Gast

großen Botschaften mit ihrem diplomatischen Protokoll, die den Ton angaben. Die Einladung der Sombarts zu diplomatischen Empfängen und Diners entsprach dem Eintritt in die bewunderte „große Welt“. Wenn sich die Eltern für einen solchen Besuch zurechtmachten, betraten sie eine gehobene soziale Sphäre. Die Welt der mondänen Oberschicht, in die die Eltern seiner Überzeugung nach gehörten, war für den Sohn der Inbegriff des Schönen und Besonderen schlechthin. Die Eltern erschienen ihm nach ihrem Vorbereitungszeremoniell als hoheitsvolles, königliches Paar. „Das setzt Maßstäbe für das Verhältnis zu ihnen und für das Verhältnis zur Welt.“51 Dieser Maßstäblichkeit trägt das Gesellschaftsbild Nicolaus Sombarts Rechnung. Es hat sich in seiner frühen Jugend herausgebildet und sollte Zeit seines Lebens für ihn verbindlich bleiben. Jede Gesellschaft – so lautet die These – braucht eine kulturbildende Oberschicht. „Der gesellschaftliche und kulturelle Standard eines Volkes (…) wird nun einmal durch tonangebende Häuser geprägt. Wenn es sie nicht mehr gibt, herrschen die Boutiquenbesitzer, Schneider, Photographen, Coiffeure und Kunsthändler, die schließlich zum wichtigsten Umgang der reichen Leute werden, und die Öffentlichkeit bekommt als Vorbild höherer Lebensformen nichts anderes geliefert als die Kaufgewohnheiten der Konsumgesellschaft auf der höchsten Einkommensstufe, die die Medien, mehr durch Werbung als durch eine Berichterstattung – denn was sollen sie berichten – vermitteln.“52 Nichts sei demokratischer, als wenn reiche Leute ihr Geld vorbildlich ausgeben, in Lebenskultur umsetzen. So beurteilt Nicolaus Sombart auch die neue demokratische Elite der Bundesrepublik Deutschland. Seinem Freund, dem Unternehmer Hubert Burda, attestiert er, dass er es vermocht habe, auf noble und vorbildliche Weise einen Teil seines Vermögens für kulturelle Zwecke zu stiften und Geselligkeit auf hohem Niveau zu pflegen. „Jugend in Berlin“ enthält eine Vielzahl solcher die Gegenwart betreffende soziologische Invektiven, die Sombart als scharfblickenden Gesellschaftsbeobachter ausweisen, dessen Herangehensweise die Prämisse zugrunde liegt, man könne die Gesellschaft in ihrer Funktionsweise nur verstehen, wenn man sie von der sozialen Spitze her betrachte. Um eine Vorstellung von den Maßstäben zu gewinnen, die für Nicolaus Sombart prägend wurden, soll auf zwei Galionsfiguren des Salons von Corina Sombart näher eingegangen werden. Als Prototyp des Grandseigneurs betritt Hermann Graf Keyserling die Szene. „Wer Menschen wie ihm begegnet ist, hat einen absoluten und definitiven Maßstab für das, was ein ‚Mensch‘ sein kann.“53 Keyserling sieht

51 Ebd., S. 93. 52 Ebd., S. 80f. 53 Ebd., S. 105.

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die Welt aus der Herrenperspektive. Es ist das Unprofessorale, Weltmännische, Impertinente und großzügig Dilettantische, das dem Sohn des Hauses an Keyserling imponiert. Dazu kommt die Attitüde absoluter Überlegenheit eines Ausnahmemenschen. Nicolaus Sombart schildert eine Episode, in der Keyserling, ein Hüne von Gestalt, in einem Anfall von Wut einen Gesprächspartner, der sich erdreistete, ihm zu widersprechen, mit aller Kraft in die Knie zwang. Er bewundert die Entschiedenheit des Grafen, die Regeln des guten Tons einmal gut sein zu lassen. Nur eine Ausnahmepersönlichkeit könne sich dieses leisten. „Wie oft im Leben habe ich fassungslos vor der Frechheit irgendeiner Mediokrität gestanden, die sich herausnahm, d’égal à égal mit jemandem zu argumentieren, der ihn turmhoch überragte – und sei ich selbst es gewesen.“54 Wahrscheinlich hat Sombart im demokratischen akademischen Milieu der Bundesrepublik des Öfteren erleben müssen, dass Menschen von aus seiner Sicht bescheidenem geistigen Rang sich herausnahmen, von gleich zu gleich zu ihm zu sprechen und ihm den nötigen Respekt zu versagen – ein Ausdruck der von ihm beklagten Miserabilität der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die beschriebene Szene mit Graf Keyserling zeigt zugleich, dass der Salon Corina Sombarts kein herrschaftsfreier Raum war, in dem jede Stimme gleichviel zählte, sondern hierarchische Vorstellungen und Rangabstufungen, wenn auch gemildert, ihren Platz behielten. Es gab die weniger Namhaften, die weniger galten, und die Ausnahmepersönlichkeiten, denen Sonderrechte zugebilligt wurden. Eine weitere imposante Erscheinung in der Humboldtstraße war Helene von Nostitz, die Enkelin des Fürsten Münster und Nichte des Feldmarschalls und verstorbenen Reichspräsidenten Hindenburg. Sie war „eine der wenigen Damen der deutschen Gesellschaft, die in sich die Attribute hoher Abkunft und hoher Kultur vereinigte“.55 Helene von Nostitz verkörperte noch einen Hauch der „großen Welt“ von einst, die in den kulturellen Wertvorstellungen Sombarts einen Fixpunkt darstellt. Gewiss war diese Welt längst versunken und nicht wiederzubeleben. Dennoch lieferte sie ihm die Maßstäbe, die er, einem Don Quichote gleich, in die miserable Gegenwart hineinzutragen suchte, als gleichsam letzter Bannerträger höchster Lebenskunst. Sombart zieht eine Parallele zu Marcel Proust, der gleich ihm bestrebt gewesen sei, das Flair der „großen Welt“ dem Leser nahezubringen. Im Unterschied zu Sombart besaß Proust freilich unmittelbaren Zugang zu dieser Welt, die seinerzeit ihre letzte Blüte erlebte. Obgleich die Authentizität seiner Zeugenschaft von Angehörigen dieser gesellschaftlichen Kreise nach Erscheinen des Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ bestritten wurde, waren unparteiische Beobachter sich

54 Ebd., S. 107. 55 Ebd., S. 111.

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doch darin einig, dass Proust es vermocht habe, durch subtiles Eindringen in diese Sphäre ihre inneren Mechanismen offenzulegen. Der Hochadel des Pariser Faubourg Saint-Germain erscheint in Prousts Schilderung als eine der Fäulnis anheimgegebene gesellschaftliche Formation. Die Bewunderung des Autors für ihre hohe Kultur, ihr savoir vivre hindert ihn nicht daran, ein schonungsloses Bild der Welt der von ihm geliebten Adligen zu zeichnen. Er zeigt die Barbarei hinter der Fassade des schönen Lebens. Er entlarvt die geistige Beschränktheit der beau monde, die Verflachung des Schönheitssinns und des künstlerischen Geschmacks. Ihre sublime Kultur bewahrte sie nicht vor einem militanten Antisemitismus, wie die Dreyfus-Affäre enthüllte. Dagegen wahrt Sombart in seinen Erinnerungen keinerlei Distanz zur „großen Welt“. Vielmehr habe sich ihm schon in seiner Kindheit ein Vorstellungshorizont erschlossen, „in dem alles, was Kunst und Literatur, was die Geschichte an Zeugnissen höherer Formen menschlicher Selbstverwirklichung vermittelte, seinen natürlichen Platz hatte – ein Olymp gewissermaßen des Grandiosen und Schönen, des Eleganten und Generösen, des Erhabenen und Graziösen, zu dem aufzuschauen man gar nicht umhin konnte, weil hier alles, was man sich nur wünschen konnte, versammelt war.“56 Somit war ein unverrückbarer Maßstab für die Beurteilung menschenmöglicher höherer Existenz- und Ausdrucksformen gefunden. Sombart gewinnt seinem nostalgischen Rückblick richtungweisende soziologische Einsichten ab, die er in seinem nachfolgenden Buch „Pariser Lehrjahre“ in einem angefügten Traktat kodifizieren wird. Die Spitze der Gesellschaft erhält gleich dem Gottesgnadentum des absoluten Monarchen sakrale Weihe. Hier „vollzieht sich die geheimnisvolle alchimistische Verwandlung von Reichtum in Geist, von Macht in Schönheit, von Materie in Bilder göttlicher Vollendung.“57 Nach diesem Muster hat Sombart seine Biographie Wilhelms II. verfasst. Das Fin de siècle sei das letzte Stadium europäischer Hochkultur gewesen, die letzte Ausformung des okzidentalen Traums von der Größe und Würde des Menschen. In der Gegenwart erleben wir nurmehr das „peinliche Schauspiel der Saturnalien des Zerfalls. Schlimmer noch: das Marketing der Surrogate“.58 Mit diesen Worten hat Nicolaus Sombart sein Gesellschaftsbild und sein Geschichtsverständnis prägnant zum Ausdruck gebracht. Für eine Gesellschaftsutopie ist hier kein Platz mehr, obwohl er andererseits immer wieder die Aktualität seiner Lehrmeister Saint-Simon und Fourier betont. Die kulturelle Dekadenz scheint definitiv und irreversibel zu sein. Was bedeutet dieser Befund für die Zukunft des Herrn aus gutem Hause? Da ihn keine gesellschaftliche Formation mehr trägt, die seinen

56 Ebd., S. 114. 57 Ebd., S. 114f. 58 Ebd., S. 115.

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Vorstellungen von Elite entspricht, bleibt ihm kein anderer Weg, als die Herrenattitüde in der Position des Exzentrikers zu behaupten. Umgeben von Mediokritäten erschafft sich der zu einer freischwebenden Existenz genötigte Grandseigneur eine imaginäre Welt, bildet einen Kreis von Adepten und ähnlich Denkenden um sich und zehrt von Gedanken an die beau monde der Vergangenheit. Freilich erweist sich Sombart im praktischen Leben als ein Pragmatiker. Der Grandseigneur und honnête homme ist nur eine, wenn auch besonders markante, Maskierungsform dieses Zeitgenossen. Die andere ist der Dandy. Dieser Verhaltenstypus ist dem deklassierten Großbürger und Ästheten wie auf den Leib geschnitten. Er erlaubt es, die erfahrenen Demütigungen zu kompensieren und ihnen einen anderen Sinn zu geben: als Konsequenz einer freiwillig gewählten Existenzform. Sombarts Verständnis von der gesellschaftlichen und kulturellen Überlegenheit einer auserwählten Elite wird von der Überzeugung geleitet: „Das Wissen um die Hierarchie der Werte, die die höchste menschliche Lebensform bestimmen, besteht, so will ich meinen, unabhängig von jeder sozialen Wirklichkeit. Es ist eine anthropologische Konstante.“59 Sombart vertraut darauf, dass die Sehnsucht nach der großen Welt der Schönen, Reichen und Kultivierten den Menschen eingeboren ist. Ein großer Teil der Medienlandschaft versuche, dieses Bedürfnis nach Selbstveredelung zu stillen. So kann Sombart sicher sein, dass die Umwelt für einen Typus seiner Art Verständnis aufbringt, ja bereit ist, sich von seinesgleichen faszinieren zu lassen.

Der geistige Mentor Carl Schmitt In der Weimarer Republik hatte das durch den Wilhelminismus autoritär sozialisierte deutsche Bürgertum damit begonnen, politisch Anschluss an die parlamentarische Demokratie des Westens zu finden. Der Weimarer Staat war indes nicht mächtig genug, die Herrschaft der demokratisch gesinnten Teile dieser Klasse zu sichern. Mit dem Nationalsozialismus glaubte eine starke bürgerliche Fraktion im Verein mit dem radikalisierten Kleinbürgertum und Teilen der Arbeiterschaft und des Adels ihre soziale und politische Herrschaft besser behaupten zu können. Der Soziologe M. Rainer Lepsius diagnostiziert: „Der in Deutschland besonders hartnäckig geführte Kampf gegen die politische Teilnahme der Arbeiterbewegung führte schließlich große Teile des Bürgertums zum Rückzug auf den Glauben der Eliteherrschaft, die Ablehnung der Massendemokratie und zur Annahme auto-

59 Ebd.

Der geistige Mentor Carl Schmitt

ritärer politischer Organisationsvorstellungen unter den Krisenbedingungen der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.“60 Die Werke Carl Schmitts (1888–1985) in der Weimarer Zeit sind exemplarisch für den sich radikalisierenden Zeitgeist. Sie gelten der Kritik des liberalen Rechtsstaats und dem konstruktiven Nachweis der Möglichkeit einer demokratischen Willensbildung jenseits des Liberalismus.61 Schmitt war kein Apologet des Bürgertums. Wie für Ernst Jünger schien für ihn der Bürger eine abgelebte Gestalt, die er zugunsten des soldatischen Typus abwertete. Der Professor für öffentliches Recht an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, seit 1933 Mitglied der NSDAP und von Göring zum Staatsrat ernannt, war ein gern gesehener Gast im Hause von Sombarts Eltern. Er war bedeutend jünger als Werner Sombart und erfreute sich neben der kollegialen Wertschätzung durch den Nationalökonomen der besonderen Zuneigung der nahezu gleichaltrigen Corina Sombart. Wenn Nicolaus Sombart auch seine Bildung zu einem erheblichen Teil den Bücherschätzen seines Vaters und der Unterrichtung durch diesen verdankt, so kommt dem Einfluss Carl Schmitts – den er seit 1929 kannte62  – auf seine geistige Entwicklung eine wohl noch größere Bedeutung zu. In „Jugend in Berlin“ berichtet Nicolaus Sombart von regelmäßigen Spaziergängen mit Carl Schmitt seit Kriegsbeginn 1939, die sich – mit Unterbrechungen – bis zu seinem Eintritt in die Wehrmacht im Spätherbst 1942 erstreckten. Nach dem Abitur im Frühjahr 1941 und der Absolvierung des Arbeitsdienstes schrieb sich Nicolaus Sombart an der Technischen Hochschule und an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin ein, wo er seinen vielfältigen Interessen gemäß Vorlesungen und Seminare über technisches Zeichnen, Philosophie, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft belegte. Als Nicolaus Sombart mit Carl Schmitt seine Spaziergänge durch den Grunewald begann, war er mit dem politischen Wirken des berühmt-berüchtigten „Kronjuristen“ des Dritten Reiches noch wenig bekannt. Die Gespräche mit dem Gelehrten schlossen tagespolitische Themen weitgehend aus. Sombart verweist auf einen Dissens zwischen seinem Vater und Schmitt. Im Salon der Mutter sei Schmitt angeblich mehrere Jahre lang wegen seines Engagements für das Nazi-Regime persona non grata gewesen. Erst nachdem er gegen Ende der dreißiger Jahre auf Distanz zum Regime gegangen sei, habe man ihn wieder willkommen geheißen. „Jetzt war Carl Schmitt in das Lager der Regimegegner übergetreten. Was das in concreto

60 Lepsius, Zur Soziologie des Bürgertums, S. 164. 61 Vgl. Reinhard Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, München 2009. 62 Vgl. Brief von Carl Schmitt an Julien Freund vom 24.2.1976. Siehe Martin Tielke (Hg.) in Zusammenarbeit mit Gerd Giesler, Schmitt und Sombart. Der Briefwechsel von Carl Schmitt mit Nicolaus, Corina und Werner Sombart. Berlin 2015, S. 112.

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bedeutete, wußte ich nicht, wie ja überhaupt diese Gegnerschaft in unseren Kreisen nie eine politische, sondern eine stimmungsmäßige-viszerale war.“63 Im Unterschied zu den Kreisen um Werner Sombart war der von Schmitt unterstützte Reichskanzler und spätere Vizekanzler unter Hitler, Franz von Papen, sich des Unterschiedes zwischen politischer und stimmungsmäßiger Haltung zur NSDiktatur indes wohl bewusst. So schreibt er im März 1933 im Vorwort zu seinem Buch „Appell an das deutsche Gewissen. Reden zur nationalen Revolution“: „Daß der Sinn der deutschen Revolution sich nicht darin erschöpfen kann, die Demokratie stimmungsmäßig nach der nationalistischen Seite hin abzuwandeln, wird von niemand bezweifelt werden. Denn ihr Sinn ist nicht die stimmungsmäßige, sondern die letzte innere Einheit des deutschen Volkes.“64 Ein „stimmungsmäßiger“ Gegner des Regimes war zu dieser Zeit zweifellos auch Werner Sombart. Die Bezeichnung Carl Schmitts als „Regimegegner“, die dem Selbstverständnis des Juristen wohl entspricht, erscheint jedoch als einer jener Euphemismen, deren sich Nicolaus Sombart in seinen Erinnerungen häufig bedient, wenn für ihn unliebsame Sachverhalte angesprochen werden.65 Was Sombart in seinem Berlin-Buch über seine Begegnungen mit Schmitt mitteilt, wird nur verständlich, wenn man sich über die Vorgeschichte Klarheit verschafft: den nach dem Krieg Schritt für Schritt einsetzenden Prozess der Ablösung von seinem geistigen Ziehvater. Als Nicolaus Sombart „Jugend in Berlin“ schreibt, ist dieser Prozess bereits weitgehend abgeschlossen. Er hat endlich einen kritischen Zugang zur Deutung von Leben und Werk des Gelehrten gefunden. Diese nimmt endgültige Gestalt in dem Buch „Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt – ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos“ an, das 1991, sechs Jahre nach Schmitts Tod, erscheint. Bietet diese Schrift eine umfassende Abrechnung mit dem Gelehrten, so kommt es Sombart in dem Buch

63 Sombart, Jugend in Berlin, S.250. 64 Franz von Papen, Reden zur nationalen Revolution, Oldenburg 1933, S. 8. 65 Schmitt wurde Ende 1936 Opfer der Machtkämpfe innerhalb der NSDAP und der SS. Er musste sämtliche Ämter aufgeben, blieb aber Staatsrat. Auch seine Professur konnte er weiter ausüben. Die SS-Zeitschrift „Das Schwarze Korps“ hatte Schmitt, den Anhänger der katholischen Kirche, zu einem Opportunisten und Karrieristen erklärt, der vor 1933 eine anti-nationalsozialistische Position eingenommen und sich nach der Machtergreifung in ihre Reihen eingeschlichen habe. Schmitt war folglich nicht aus eigener Initiative in das Lager der Regimegegner übergetreten, sondern wurde von einer einflussreichen Fraktion des Regimes als ein solcher eingestuft. Vgl. Martin Tielke, Der stille Bürgerkrieg. Ernst Jünger und Carl Schmitt im Dritten Reich, Berlin 2007, S. 93ff. Vgl. auch den Brief Görings an den Hauptschriftleiter des „Schwarzen Korps“ Gunter d‘Alquen vom 21. Dezember 1936, in dem er fordert, „den Pressefeldzug gegen den Staatsrat Prof. Dr. Carl Schmitt sofort einzustellen.“ (Zit. nach Carl Schmitt/Hans-Dietrich Sander, Werkstatt-Discorsi. Briefwechsel 1967–1981. Hg. von Erik Lehnert und Günter Maschke, Schnellroda 2008, S. 255, Anm. 56.)

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„Jugend in Berlin“, das noch zu Lebzeiten Schmitts veröffentlicht wird, mehr darauf an, eine Dankesschuld an den Denker und Erzieher Carl Schmitt abzutragen. Durch Schmitt wird Sombart über die geschichtliche Rolle der Juden belehrt. Er erfährt, dass diese sich als eine überlegene Rasse betrachten und in dem englischen Premierminister Benjamin Disraeli einen ihrer klügsten Vordenker und Strategen hervorgebracht haben, der einen Kampf der Rassen propagiert. Vom Weltherrschaftsanspruch der jüdischen Rasse und der welt- und heilsgeschichtlichen Bedeutung dieses Volkes sei in Disraelis Roman „Tancred oder der neue Kreuzzug“ die Rede. Für Carl Schmitt – so Sombart – sind die Juden die Propagandisten der Ideen von 1789, des Fortschrittsglaubens einer zivilisierten Menschheit. Der Vertreter der illiberalen Demokratie und des starken Staates erkenne im Juden Disraeli seinen überlegenen Gegner. „Disraelis Portrait hing über seinem Schreibtisch, wie das Photo Rommels über dem Kartentisch Montgomerys. Er hatte eine Zeitlang vielleicht geglaubt, ihn besiegen zu können. Er wußte jedoch, daß er der Besiegte war. Freund oder Feind? Immer wieder zitierte er: ‚Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt.‘“66 Es ist das Jüdische – später wird Sombart sagen: das Weibliche – in sich selbst, das Carl Schmitt zeitlebens bekämpft. In Erinnerung bleibt Sombart das Raumdenken Schmitts. Er sei von einem neuen Nomos der Erde, einer neuen Raumordnung überzeugt. Europa als Großraum mit Deutschland als geistiger Führungsmacht – das sei Schmitts Theorie-Angebot an die Mächte der Welt. Nicolaus Sombart glaubt, sich dieses Konzepts einer neuen planetarischen Ordnung später bei seiner Europarats-Tätigkeit zunutze machen zu können. Auch für seine Theorie des Weiblichen sollte Schmitt ein wichtiger Ideengeber werden. Die Selbstrechtfertigung des Juristen, seine Rolle im Dritten Reich betreffend, ist ein Thema der Gespräche. Schmitt erkennt sich in Benito Cereno wieder, der Hauptfigur der gleichnamigen Erzählung Herman Melvilles.67 Benito Cereno ist der spanische Kommandant eines von schwarzen Sklaven gekaperten Schiffes. Als der amerikanische Kapitän Amasa Delano dem scheinbar herrenlos dahintreibenden Schiff zur Hilfe kommen will, gibt ihm das sonderbare Verhalten Benito Cerenos und der Besatzung Rätsel auf. Er sieht den Spanier unter dem Rasiermesser seines schwarzen Dieners Babo. Der Vorgang wirft ein merkwürdiges Licht auf die Lage

66 Sombart, Jugend in Berlin, S. 266. 67 Die Erzählung erschien 1935 erstmals auf Deutsch. Am 3. Februar 1941 schrieb Schmitt in sein Tagebuch: „Ich bin der arme Benito Cereno.“ (Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 bis 1958. Erweiterte und kommentierte Neuausgabe. Hg. von Gerd Giesler und Martin Tielke, Berlin 2015, S. 309.) Vgl. auch Jüngers Tagebuch-Notiz vom 18. Oktober 1941: „Carl Schmitt verglich seine Lage mit der des weißen, von schwarzen Sklaven beherrschten Kapitäns in Melvilles ‚Benito Cereno‘“. (Ernst Jünger, Strahlungen, Tübingen 4 1955, S. 52.)

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an Bord. Die Szene symbolisiert die Lage des Schiffes, des Kapitäns, der Besatzung und der Sklaven, die das Schiff unter ihre Macht gebracht haben und dessen Anführer Babo Benito Cereno als Geisel hält. „So sah sich Carl Schmitt! Hitler war dieser Babo. Die nationalsozialistische ‚Revolution‘ bedeutete nichts anderes als ein Sklavenaufstand ...“.68 Schmitt fühlte sich 1936 nach Verlust von Ämtern und Einfluss offenbar als Opfer der Nazi-Diktatur, die er bisher nach bestem Wissen unterstützt hatte. Im internen Machtkampf war er seinen Rivalen unterlegen, stand aber weiter unter dem Schutz Görings. Von einer unmittelbaren Bedrohung seines Lebens konnte keine Rede sein. Sich gar als Benito Cereno zu inszenieren, als ein von finsteren Mächten bedrohter Alteuropäer, kam einer grotesken Selbstverkennung seiner Lage im Dritten Reich gleich, eine Deutung, die Sombart offenbar noch zum Zeitpunkt der Niederschrift seiner Erinnerungen überzeugte. Die Erzählung und ihre Deutung durch Carl Schmitt sei „die vollkommenste Metapher seines exemplarischen Schicksal geblieben.“69 Nicolaus Sombart wird die Erzählung 1954 für einen Rundfunkbeitrag und einen Zeitungsartikel heranziehen, wobei auch in diesem Fall auf Carl Schmitt Bezug genommen wird.70 Die Identifikation Schmitts mit der Figur des Benito Cereno kennzeichne auch seine Lage nach dem Krieg. In einem Erfahrungsbericht aus den Jahren 1945–47 bezeichnet Schmitt sich selbst als den letzten Vertreter des europäischen öffentlichen Rechts.71 Er erhebt Benito Cereno „zu einem Symbol für die Lage der Intelligenz in einem Massensystem“.72 Die Unterschiede zwischen der Nazidiktatur und der deutschen Nachkriegsordnung verwischen sich. Das eine Massensystem, die Volksgemeinschaft der Nazis, wird durch ein anderes Massensystem, eine von den Westmächten oktroyierte demokratische Verfassung, abgelöst. In beiden Systemen steht die alteuropäische Intelligenz mit ihren Vorstellungen von einer Herrschaft der Elite auf verlorenem Posten. Hierdurch verstärkt sich der Eindruck, dass Schmitts Identifikation mit der Titelfigur der Erzählung Melvilles vor allem apologetischen Zwecken dient. So wird die Sklavenfrage als zentrales Problem des Textes bewusst ausgeklammert. Sie würde eine völlig andere Lesart des Geschehens nach sich ziehen. Der Aufstand der schwarzen Sklaven lässt sich nicht mit der nationalsozialistischen Machtergreifung vergleichen. Benito Cereno ist somit weder geeignet, Schmitts Rolle im

68 Sombart, Jugend in Berlin, S. 272. 69 Ebd., S. 273. 70 Vgl. Nicolaus Sombart, Benito Cereno – ein Mythos? Ein erdachtes Gespräch. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Oktober 1954, S. BuZ4. 71 „Ich bin der letzte, bewußte Vertreter des jus publicum Europaeum, sein letzter Lehrer und Forscher in einem existenziellen Sinne und erfahre sein Ende so, wie Benito Cereno die Fahrt des Piratenschiffs erfuhr.“ (Carl Schmitt, Ex Captivitate Salus. Erfahrungen der Zeit 1945/47, Köln 1950, S. 75.) 72 Ebd., S. 21f.

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Nationalsozialismus noch seine Rolle im Nachkriegsdeutschland widerzuspiegeln. Wie Schmitt parallelisiert Sombart den Aufstand des Nazipöbels mit der Meuterei der Sklaven auf der „San Dominick“ und gesteht seinem Mentor einen waghalsigen Balanceakt zu. Das geistige Band, das Sombart mit Schmitt verbindet und das diese Interpretation trägt, ist die Elitetheorie. Die geistige Elite Europas hat sich der Massen zu erwehren, sei es die Bewegung der Nationalsozialisten, seien es die aufbegehrenden Völker kolonisierter Erdteile oder die demokratischen Apostel der modernen Konsumgesellschaft. Zu ihnen allen wahrt der Alteuropäer Äquidistanz. Im Dritten Reich war Schmitt bereit, diese Distanz zeitweise aufzugeben, in der Hoffnung, den Formeln des Nationalsozialismus „einen etatistischen Sinn“ geben zu können.73 In einem Nachsatz zu einer Neuauflage von „Jugend in Berlin“ (1991) sieht sich Sombart veranlasst zu erklären, warum er über Carl Schmitt berichtete, ohne den Stab über ihn zu brechen. Er rechtfertigt sich damit, dass ihm damals nicht das Ausmaß der Verstrickungen Schmitts im Dritten Reich bekannt gewesen sei. In der Tat wäre eine Verurteilung Schmitts ein Leichtes gewesen. Er habe sich vielmehr um ein Verstehen des in seiner intellektuellen Statur widersprüchlichen Denkers bemüht. Mehr noch sei es ihm darum gegangen, das Bleibende im Denken Schmitts, das, was er, Sombart, selbst als Soziologe und Europaratsmitglied von ihm habe lernen können, festzuhalten. Es wird im Weiteren zu klären sein, wie und in welchem Umfang das Werk Nicolaus Sombarts von Carl Schmitt geprägt wurde. Wesentliche Topoi seines Denkens – so scheint es – sind von Schmitt übernommen und bestimmen sein Denken auch noch dort, wo er vorgibt, von ihnen fundamental abzuweichen. Das dezidiert antibürgerliche Element im Denken Schmitts beeindruckte den jungen Nicolaus Sombart, sah er doch selbst in seinem Vater nicht nur den professoralen Großbürger, sondern zugleich den Bohemien und Künstler, der den bürgerlichen Konventionen widerstrebte. Wenn Nicolaus Sombart auch nicht in die Fußstapfen seines Vaters treten wollte, sondern den Beruf eines Architekten anstrebte, so hoffte er doch, das Niveau des großbürgerlichen Mandarinen-Haushalts beibehalten und in der Berliner Gesellschaft eine standesgemäße Position bekleiden zu können. Nicolaus Sombart plädiert weder für den Bürger, noch wie Ernst Jünger und Carl Schmitt für das Soldatische. Er plädiert für den kosmopolitischen, mondänen Aristokraten, der anders als der Bürger und der Soldat psychosexuell dem Femininen seinen Platz in der Persönlichkeitsbildung einräumt. Nicolaus Sombarts Mentalität und Habitus kennzeichnet eine antibürgerliche Bürgerlichkeit, die ganz im Sinne

73 Vgl. Carl Schmitt, Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916–1969. Hg. mit einem Vorwort und mit Anmerkungen versehen von Günter Maschke, Berlin 1995, S. XVIII.

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seines Vaters das Bürgerliche zugunsten eines aristokratisch mondänen Lebensstils zu transzendieren sucht. Bezeichnend für ein solches Denken ist eine an der Figur des Grandseigneurs orientierte Herrenmentalität, die sich in Begriffen wie Rang, Charakter und Geschmack artikuliert.74 Solche Aspirationen wurden durch den Krieg und die desaströsen Nachkriegsfolgen einstweilen zunichte gemacht.

74 Vgl. Jürgen Habermas, Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der Bundesrepublik. In: ders., Die Normalität einer Berliner Republik. Kleine Politische Schriften VIII, Frankfurt am Main 1995, S. 116.

II.

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Einzug zum Militär. Kriegserlebnisse Die Jugenderinnerungen Nicolaus Sombarts brechen 1942 ab. Der zweite Band der Erinnerungen über die Heidelberger Zeit setzt 1945 ein. Die Jahre des Kriegseinsatzes Ende 1942 bis Frühjahr 1945 sind Thema einer Erzählung, die unter dem Titel „Capriccio Nr. 1. Des Wachsoldaten Irrungen und Untergang“ 1947 in Frankfurt am Main erschienen ist. Von 1950 bis 1962 arbeitete Nicolaus Sombart an einer Fortsetzung unter dem Titel „Capriccio Nr. 2“, von der mehrere Entwürfe im Nachlass vorliegen. Teile daraus beziehen sich auf einen Dr. Volland, der Züge von Carl Schmitt trägt. Andere Teile reflektieren Russland-Erlebnisse während des Krieges.1 Ferner existieren Briefe an Carl Schmitt und an Corina Sombart aus der Zeit des Krieges. Offenbar hielt Sombart seine Erlebnisse als Soldat für wenig berichtenswert. Im April 1941 rückt Nicolaus Sombart zum Arbeitsdienst ein. Um die Zeit dort zu verkürzen, hat er sich freiwillig zum Militär gemeldet. Der Einberufungsbefehl erfolgt erst Ende 1942, da er wegen des Todes des Vaters am 18. Mai 1941 auf Antrag Corina Sombarts als Kriegsfreiwilliger für ein Jahr zurückgestellt wird. Einem Brief an Carl Schmitt, geschrieben Anfang 1943, ist zu entnehmen, dass er zu einem Luftwaffenstützpunkt in Frankreich abkommandiert worden ist. Im Frühjahr 1943 wird Nicolaus Sombart nach Ostpreußen verlegt. Von dort schreibt er Feldpostbriefe an seine Mutter. Er berichtet über eine Flakausbildung östlich von Königsberg, wo er als Obergefreiter Dienst tut. Als das Elternhaus in der Humboldtstraße abbrennt, befindet er sich in der Nähe von Pleskau an der Ostfront.2 Von Sommer 1944 bis Oktober 1944 hält sich er sich mit seiner Truppe in Lettland auf.3 Über seine Militärzeit finden sich in „Jugend in Berlin“ nur wenige verstreute Angaben. Er habe – auf die Erzählung „Capriccio Nr. 1“ anspielend – die „unnützen Jahre“ nur dadurch überstanden, dass er sich mit Hilfe der Phantasie in ein fast schizophrenes Doppelgängertum geflüchtet habe. Nicolaus Sombart sah sich als ein anonymes Rädchen in einer gewaltigen Kriegsmaschinerie. Das Erlebnis der unermesslichen Weite der Landschaft im Osten Europas hatte ihn in „eine Art von

1 Das Manuskript in einem Umfang von 200–250 Seiten befindet sich im Nachlass Nicolaus Sombarts in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin. Siehe NL N. Sombart 405,13. 2 Vgl. Sombart, Jugend in Berlin, S. 146. 3 Vgl. Brief Corina Sombarts an Carl Schmitt vom 31.8.1944. In: Tielke, Schmitt und Sombart, S. 146.

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nihilistischen Rausch“ versetzt, so dass ihm das alte Europa – das er doch so sehr verehrte – verachtenswert erschien.4 Zu den prägenden Eindrücken des Landserlebens gehörte das ambivalente Erlebnis der Kameradschaft. Zum einen habe er hier im stillen Widerstand gegen das Leiden Spuren einer anarchistischen Grundbefindlichkeit des Menschen jenseits der Erfahrungswelt des bürgerlichen Individuums gefunden. Zum anderen forderte die Kameradschaft die Aufgabe der individuellen Autonomie, was in ihm die Vorstellung des Termitenhaften auslöste. In diesen Zusammenhang gehört auch ein Erlebnis beim Arbeitsdienst in Grutschno an der Weichsel. Für seine Dienstvorgesetzten hatte Nicolaus Sombart einen Lebenslauf verfasst, der den Satz enthielt: „Was ich bin und weiß, verdanke ich der Bibliothek meines Vaters und dem Salon meiner Mutter“, eine Aussage, die er auch später gern zitierte. Die Lagerleitung nahm diese Darstellung zum Anlass einer Schikane, um dem Rekruten klar zu machen, dass er sich auf seine Herkunft nichts einbilden könne und behandelt würde wie jeder andere auch. Sombart kommentiert die Zurechtweisung vor versammelter Mannschaft mit den Worten: „Da hatten die Proleten zugeschlagen! Ich brauchte mir meine Meinung über sie nicht zu bilden. Sie saß tief in mir. Aber die Demütigung treibt mir heute noch, wo ich dies schreibe, die Röte ohnmächtiger Wut ins Gesicht. Das war meine erste konkrete, handfeste Konfrontation mit dem Nationalsozialismus.“5 Diese Erfahrung bestätigt das Bild, das Nicolaus Sombart auch an anderer Stelle vom Nationalsozialismus zeichnet. Es handele sich um „den Einbruch sinistrer Kräfte der Zerstörung“ und um „das Werk einer üblen Kategorie von Menschen“, die von Deutschland Besitz ergriffen hätten, ein Vorgang, der den einen oder anderen „Ausnahmemenschen“, der im Hause Sombart verkehrte, freilich nicht davon abhielt, für das Regime Partei zu ergreifen. Einen anderen Eindruck von der Lage des jungen Sombart beim Arbeitsdienst vermittelt Peter Wapnewski, der ihn dort als Leidensgenossen kennenlernte. Sombart genoss sichtlich Privilegien. „Es verdient angemerkt zu werden, dass der Arbeitsmann Nicolaus Sombart, Sohn des berühmten Sozialwissenschaftlers Werner Sombart und mit mir dem ersten Zug zugeteilt, von Hauptfeldmeister Berger einen Auftrag erhielt, der seinem Bedürfnis nach kreativem Tun ebenso entgegenkam wie dem nach Schonung seiner Person: nämlich ein Modell des Lagers zu formen aus Plastilin. Das Kunstwerk erlebte seine Vollendung nicht, der Künstler wusste sie klüglich hinauszuzögern (...)“.6

4 Vgl. Sombart, Jugend in Berlin, S. 148. 5 Ebd., S. 58. 6 Peter Wapnewski, Mit dem anderen Auge. Erinnerungen 1922–2000, Berlin 2005, S. 68.

Einzug zum Militär. Kriegserlebnisse

Mit „Capriccio Nr. 1“ liegt ein Dokument vor, an dem abzulesen ist, wie Nicolaus Sombart seine Militärzeit erlebt hat: als sinnlose Schinderei und Verlust seiner Identität, eine Lage, die schizophrene Schübe auslöste. Erzählt wird von dumpfer Kameradschaft, aber mehr noch von stumpfsinnigem Drill und dem Dahinvegetieren in einem mechanisch-stupidem Wachdienst. „Capriccio Nr. 1“ berichtet von den Wachträumereien eines deutschen Soldaten, der auf einem nordfranzösischen Flughafen Dienst leistet. Er identifiziert sich mit einem zweiten fiktiven Ich, das bemüht ist, seine Identität auszulöschen, indem es sämtliche amtlichen Daten, die über seine Person vorliegen, beseitigt. Der Soldat selbst tut es seinem zweiten Ich gleich und vernichtet auf der Schreibstube alle ihn betreffenden Akten. Als ein Niemand taucht er unter und schließt sich dem französischen Widerstand an. Die Erzählung ist eine Parabel über die Sinnlosigkeit des Kriegsdienstes und die Absurdität des modernen Daseins. Sie fand auf der ersten Lesung der Gruppe 47 den Beifall der Anwesenden. Sombarts Darstellung des einsamen Postens im Krieg unterscheidet sich fundamental von der Heroisierung dieser Figur bei Ernst Jünger. Hier wird das Postenstehen des Frontsoldaten im ersten Weltkrieg ins Mystische überhöht, mit einer nationalen Sendung verknüpft und hymnisch beschworen: „Ihr Brüder, durch diese unzähligen und schrecklichen Nachtwachen in der Finsternis habt ihr für Deutschland einen Schatz angesammelt, der nie verzehrt werden kann. Der Glaube an die Einsamen entspringt der Sehnsucht nach einer namenloseren Brüderlichkeit, nach einem tieferen geistigen Verhältnis, als es unter Menschen möglich ist.“7 Von einer derartigen Glorifizierung des Soldaten, der nächtlich auf Posten steht, ist Sombarts Kriegserzählung weit entfernt. Sein Buch ist eine bewusste Absage an die Kriegsliteratur des ersten Weltkriegs. In der Diagnose der Zeit weiß er sich freilich mit Jünger einig. „Mein Capriccio ist ein poetisches Paradigma der Situation des Menschen im technischen Zeitalter. Es geht um das Ende des bürgerlichen Individuums in einer vollkommen verwalteten und durchrationalisierten Welt.“8 In einem im Juni 1942 – zwischen Arbeitsdienst und Einzug zur Wehrmacht – entstandenen Gedicht mit dem Titel „Selbstbildnis 1942“ imaginiert Nicolaus Sombart ein Traumschiff mit purpurnen Segeln und illustrer Gesellschaft an Bord, das sich plötzlich in ein waffenstarrendes Kriegsschiff mit Gestalten in zerrissenen Gewändern verwandelt. Das schöne Spiel hat ein jähes Ende gefunden. Erläuterungen zu diesem Gedicht finden sich in einem Brief, den Sombart Anfang 1943 an Carl Schmitt abschickt. „Das alte Traumschiff, auf dem die bunte Gesellschaft meines Ichs ihre Feste gefeiert hatte, ist abgetakelt worden,

7 Ernst Jünger, Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung. Aufzeichnungen bei Tag und Nacht, Stuttgart 1987 (1. Auflage 1929), S. 20. 8 Sombart, Rendezvous mit dem Weltgeist, S. 138.

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und man ist drauf und dran, ein graues, camoufliertes Kanonenboot daraus zu machen!“9 Die gutbürgerliche Salongesellschaft, in der Nicolaus Sombart aufwuchs, ist verschwunden. Sie hat die Farbe des Feldgraus angenommen. Kühl seziert Sombart in diesem Brief die ökonomischen Existenzgrundlagen des von Deutschen errichteten Militärflughafens im besetzten Frankreich. Die Besatzung des Flughafens ernährt sich auf Kosten der versklavten einheimischen Bevölkerung. „Der Ertrag dieses ‚Betriebes‘ reicht vollauf, um das gesamte militärische Personal zu ernähren, das als faule Kriegerkaste in den mehr oder weniger gepflegten Unterkünften herumliegt. Die Arbeit wird von Heloten (Holländern, Franzosen oder Polen) geleistet, die irgendwelche Inspektoren anleiten.“10 Im Flugplatz und seinem Personal spiegele sich „der Staat, wie man ihn wohl möchte: eine Herrenschicht, die fliegt und wacht (…) Eine ‚Klassen‘schicht, die Land- und sonstige Arbeiten leistet.“11 So sei ein Flugplatz tatsächlich das einzig Positive, was der Krieg an Organisation und Neuordnung geleistet habe, schreibt Sombart an Carl Schmitt. Die Sprache der Mitteilung ist sarkastisch-nüchtern, unbeteiligt-satirisch. Der Schüler hat von seinem Meister gelernt. Die letzten Briefe vor Kriegsende stammen aus Kurland. Es gelingt Sombart, mit einem der letzten Schiffstransporte vor der Roten Armee nach Schleswig-Holstein zu entkommen.12 Dort kommt er in ein englisches Lager. Nach zwei Monaten wird er freigelassen und macht sich auf den Weg nach Heidelberg.

Besser ein Neuarmer als ein Neureicher Das Kriegsende wird von Nicolaus Sombart nicht so sehr als Befreiung, sondern als Entlassung in eine unsichere Zukunft empfunden. Er muss am eigenen Leibe erfahren, dass die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Spitzengruppe nicht mehr selbstverständlich gewährleistet ist. Zwar sind Bildung und Herkunftskapital als Ressourcen vorhanden. Der Besitz aber ist erodiert. Folglich sucht Sombart seinen Anspruch, einer Elite anzugehören, vor allem durch Herkunftsstolz, zugeschriebene und erworbene Bildung und prononciert hervorgehobene großbürgerliche Verhaltenseigenschaften zu legitimieren. Eine materiell gesicherte, repräsentative bürgerliche Lebensführung auf dem Niveau seines Vaters liegt in weiter Ferne. „Es ist besser, ein Neuarmer als ein Neureicher zu sein“13 , lautet seine Devise.

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Tielke, Schmitt und Sombart, S. 13. Ebd., S. 14. Ebd. Vgl., ebd., S. 242. Sombart, Rumänische Reise, S. 182.

Entbürgerlichung des Bürgertums

Als Lösung des Problems bietet sich ihm die Lebensphilosophie des Dandyismus an. Die großbürgerlich-aristokratische Lebensführung wird prätendiert, ideologisch verklärt und spielerisch in Anschlag gebracht, wohl wissend, dass ihr die materielle Grundlage fehlt. Der Dandyismus erlaubt es, die Legitimationslücke zu überbrücken, die durch eine als Deklassierung empfundene Lage entstanden ist. Diese Philosophie ist Ausdruck einer prekär gewordenen gesellschaftlichen Stellung. Der Bildungsbürger und verhinderte Grandseigneur Nicolaus Sombart präsentiert sich – so werden wir sehen – in der Maske des Provokateurs und „enfant terrible“. Er katapultiert sich damit in die Position einer Randfigur des sich nach 1945 neu formierenden bildungsbürgerlichen Establishments. Er glaubt sich dabei dem Durchschnittsrepräsentanten dieser Schicht weit überlegen, da er noch über ein Bewusstsein und einen Lebensanspruch verfügt, dessen Maßstab die „große Welt“ von einst darstellt. Politisch läuft diese Haltung in der Konsequenz auf ein Plädoyer für die Herrschaft einer Herkunfts- und Leistungselite hinaus bei einer nur eingeschränkten Mitsprache der Minderbemittelten. So ist auch, sollten es die Umstände verlangen, eine bestimmte Form autoritärer Herrschaft hinzunehmen, wenn sie vor der perhorreszierten Massendemokratie bewahren hilft. Freilich ist dies nur die äußerste Konsequenz einer solchen Denkweise. In der politisch-gesellschaftlichen Praxis wird die Massendemokratie als irreversibles Faktum widerwillig akzeptiert. Die Einstufung eines solchen, durch die Schule Carl Schmitts gegangenen Denkens als liberal-konservativ ist deshalb nur mit Vorbehalt zu betrachten. Es brauchte längere Zeit, bis die Generation von Nicolaus Sombart sich von dieser Art des politischen Denkens löste und Zugang zu den Grundwerten einer liberal-demokratischen Gesellschaftsordnung fand. Freilich bleibt zu erörtern, wie Sombarts Vorstellungen von Elite sich auf dieser Basis fortschreiben lassen.

Entbürgerlichung des Bürgertums In seinen Lebenserinnerungen bekennt Wolf Jobst Siedler, dass für ihn im Jahr 1945 die Welt der Väter unwiederbringlich dahingegangen sei. In dieser Diagnose stimmt er mit anderen bürgerlichen Zeitzeugen seiner Generation überein. Differenzen lassen sich allenfalls bei der genaueren Einschätzung der Ursachen und Folgen dieses Befundes erkennen. Siedler schreibt: „Wahrscheinlich war tatsächlich die Wende von 1945 viel tiefgreifender als jene Umwälzungen, die 1918 die Monarchie und 1933 die Republik abgelöst hatten. Damals war das Kaiserreich zwar abgetreten, aber die bestimmenden Mächte waren bestehen geblieben, und selbst im Dritten Reich waren die Verhältnisse nicht wirklich umgestürzt worden. Es war noch immer

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eine bürgerliche Gesellschaft, über die die Gewaltherrschaft nur gestülpt war (…) Jetzt war eine Revolution auf leisen Füßen gekommen.“14 Nicolaus Sombarts Schilderungen vom Leben im Dritten Reich bestätigen, dass es noch eine bürgerliche Gesellschaft gab, auf die – in den Worten Siedlers – die Diktatur nur übergestülpt worden war. Bürgerlichen Lebensstil, bürgerliche Umgangsformen, Festlichkeiten, Konventionen, Vorhandensein von Dienerschaft, Salonkultur – das alles gab es noch während der Nazi-Zeit. Sombart überliefert das Bild einer hochkultivierten bürgerlichen Welt inmitten diktatorischer Verhältnisse und alltäglich praktizierter Barbarei. Selbst unter den Nazi-Repräsentanten überlebte ein bürgerlicher Lebensstil. Dies erklärt auch, warum Siedler und Fest, die den Rüstungsminister des Dritten Reichs Albert Speer nach seiner Haftentlassung ermutigten, seine Erinnerungen zu schreiben, in ihm – wenn auch mit Abstrichen – eine verwandte Bürgerlichkeit erkannten. Letztlich zählte für die Zurechnung zum Bürgertum der Habitus mehr als die politische Ideologie. Der Umgang mit Speer „war merkwürdig leicht, ein älterer Herr, erkennbar aus guten Kreisen, wie von langer Abwesenheit zurückgekommen.“15 Speer war ersichtlich ein Bürger, wenngleich er einen „Pakt mit dem Teufel“ (Golo Mann) geschlossen hatte. Die gemeinsame Herkunft aus „guten Kreisen“ hat trotz massiver politisch-moralischer Differenzen Siedler und Fest mit Speer verbunden. Mehr noch: Die Zugehörigkeit Speers zum Bürgertum milderte das politische Verdikt über ihn. Er war der entlaufene Bürger, der Bürger auf Abwegen. Speer hatte eine antibürgerliche Seite, da er sich als Künstler verstand. Siedler hält Speer darin für repräsentativ, dass er das Ende der bürgerlichen Verhaltensweise in seiner Person vorführte. Hinter dem Habitus des Bürgers Speer verbarg sich ein zutiefst unbürgerliches Denken und Handeln.16 Vom Bürgertum – so Siedler – sei die Nazi-Herrschaft als eine Revolution des Kleinbürgertums empfunden worden. Die Ordnungssehnsucht des Bürgers habe dazu geführt, dass er bereit gewesen sei, zur Verhinderung des Chaos eine gewisse Gewaltsamkeit und einen vorübergehenden Verzicht auf Freiheit hinzunehmen. Infolge der Verwerfungen des Krieges sei schließlich die soziale Basis, auf die sich das Bürgertum in der Weimarer Zeit stützen konnte, vollends erodiert. Die „gute Gesellschaft“ löste sich in Einzelfragmente auf. In der Diagnose eines Zerfalls des Bürgertums nach 1945 sind sich Siedler, Fest, Lepsius und Sombart weitgehend einig. Was im Nationalsozialismus noch möglich war – die Verhinderung einer politischen Teilnahme der Arbeiter durch die

14 Wolf Jobst Siedler, Ein Leben wird besichtigt. In der Welt der Eltern, Berlin 2000, S. 298f. 15 Wolf Jobst Siedler, Wir waren noch einmal davongekommen. Erinnerungen, München 2004, S. 259. 16 Vgl. Der lange Abschied vom Bürgertum. Joachim Fest und Wolf Jobst Siedler im Gespräch mit Frank A. Meyer, Berlin 2005, S. 86f. und 106. Im Unterschied zu Speer ist Nicolaus Sombart nicht dem Bürgertum „entlaufen“. Er blickt vielmehr stolz auf seine Herkunft zurück und verbindet die Bürgerlichkeit mit mondäner Nonchalance.

Entbürgerlichung des Bürgertums

Errichtung einer autoritären politischen Ordnung unter Beibehaltung bürgerlicher Lebensverhältnisse – , hatte sich nach 1945 durch die Etablierung einer Massendemokratie endgültig überlebt. Das Ergebnis war – wie Lepsius schreibt – eine allmähliche „Entbürgerlichung“ des Bürgertums bis hin zur Etablierung eines Wohlfahrtsstaats. Der einst erhobene Anspruch des Bürgertums auf moralische Geltung und politische Führung und Elemente einer exklusiven Lebensführung seien pluralisiert und universalisiert worden.17 Es spricht einiges dafür, dass so, wie die Höflichkeit die Höfe überlebt hat, auch die Bürgerlichkeit als Verhaltensform und Wertorientierung weiterbestehen wird, nachdem die bürgerliche Gesellschaft als Gesamtformation verschwunden ist. Der bürgerliche Habitus – so Lepsius – wird in der Generationenfolge auch dann noch übermittelt, wenn die Ursprungskonstellation, die zu seiner Entstehung geführt hat, längst zerfallen ist.18 Ein weiteres Kriterium für Bürgerlichkeit ist ein noch vorhandenes Traditionsbewusstsein. Peter Wapnewski sieht Bürgerlichkeit am Leben, wenn die Geschichte der Familie im Gedenken ihrer Angehörigen weiter existiert. Dort, wo man auf große Vorfahren verweisen kann, besteht wie im Adel ein Herkunftsstolz, mag die aktuelle soziale Lage auch noch so bescheiden ausfallen. Die persönliche Leistung des einzelnen Bürgers allein reicht nicht aus. Es muss der Familienhintergrund hinzutreten, wie Wapnewski am Beispiel der Familie Wolf Jobst Siedlers illustriert.19 Nicolaus Sombart befand sich nach dem Krieg in einem Dilemma. Sein Bildungskapital allein konnte ihm nicht die ersehnte standesgemäße Stellung sichern. Eine Universitätskarriere war ein steiniger Weg und würde nicht zu einem Lebensstandard führen, den seine Familie vor dem Krieg aufrechterhielt. Nicolaus Sombart war zu einer Stilreduktion gezwungen. Großbürgerliche Repräsentation musste einem verkleinerten Verfahren Platz machen. Seinen Geschmack am Luxus und seine Vorliebe für das Befehlegeben hatte er indes nicht verloren. Er lebte in der festen Überzeugung, dass ihm all das selbstverständlich zustehe. Sein Ideal blieb der honnête homme, wie er ihm im Salon seiner Mutter begegnet war und wie er ihn später in der Person eines Carl Jacob Burckhardt oder eines Dolf Sternberger verwirklicht sah. Seine Bedenken gegen Professionalisierung und Fachmenschentum finden in dem Befund des Soziologen Alfred von Martin ihre Bestätigung: „Die notwendigerweise immer mehr dominierende Ausrichtung auf feste ‚Anstellung‘ in irgendeiner Organisation drängt überall die berufliche Fachausbildung in den Vordergrund und verdrängt eine, unabhängig davon, an sich für wertvoll erachtete

17 Lepsius, Zur Soziologie des Bürgertums, S. 167. 18 Ebd. 19 Wapnewski, Mit dem anderen Auge, S. 438f.

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Kriegszeit und Zusammenbruch

Bildung. Das einseitig fachmännische Berufsinteresse (…) absorbiert allen Sinn für allgemein-menschliche Bildung, die nur als ‚nutzlos‘ noch gelten kann.“20 Persönliche seelische und geistige Bildung würden – so Martin – als Egozentrizität abgestempelt. Diese Konstellation sei Ausdruck einer nachbürgerlichen Bildungsatmosphäre. Als Gegentypus bezeichnet Martin – ganz im Sinne Sombarts – den gebildeten Gentleman, qualifizierten Honoratioren oder auch geistvollen Dilettanten, in jenem ursprünglich humanistischen Sinne, wie ihn der Historiker Jacob Burckhardt gemeint habe. Damit transzendieren Martin und Sombart die bildungsbürgerliche Haltung ins Aristokratische, mit dem Unterschied freilich, dass Martin nicht so sehr den Ästheten als vielmehr den Humanisten alter Schule im Blick hat. Dies manifestierte sich nicht zuletzt in Martins Engagement gegen den Nationalsozialismus. Adlige Distanz zur bürgerlichen Macht des Wissens ist der Versuch, das Ideal vom unzersplitterten Sein gegen jede professionelle Deformation der Persönlichkeit zu bewahren.21 Diese Haltung hatten allerdings große Teile des deutschen Adels seit dem späten 19. Jahrhundert zugunsten einer Orientierung an Leistung und Erwerb längst aufgegeben, so dass der hier geforderte geistige Typus einem Anachronismus gleichkommt.

20 Alfred von Martin, Mensch und Gesellschaft heute, Frankfurt am Main 1965, S. 162. 21 Vgl. Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Deutscher Adel und Nationalsozialismus, Berlin/ Boston 2014, S. 89.

III.

Studienjahre in Heidelberg und Neapel

Orientierungssuche zwischen Literatur und Wissenschaft Nach Kriegsende sollte Nicolaus Sombart seine Geburtsstadt Berlin vorerst nicht wiedersehen. In Heidelberg wollte er Geistes- und Sozialwissenschaften studieren. Das Studium der Architektur hatte er verworfen. Der Name Sombart bildete das Eintrittsbillet in die Kreise von Alfred Weber und Else Jaffé, der Lebensgefährtin Alfred Webers. Weber leitete das Institut für Sozial- und Staatswissenschaften, wo Nicolaus Sombart sich im Wintersemester 1945/46 einschrieb.1 Außerdem belegte er Philosophie bei Karl Jaspers. In seiner Autobiographie „Rendezvous mit dem Weltgeist“ hat Nicolaus Sombart über die Heidelberger Jahre ausführlich berichtet. Das Buch erschien im Jahr 2000 und ist geprägt von einer Sichtweise, die Sombart sich in den zurückliegenden Jahren erarbeitet hatte. Wo das Buch persönliche und politisch-wissenschaftliche Werturteile enthält, ist zu berücksichtigen, dass mehr als fünfzig Jahre seit der Studienzeit des Verfassers vergangen waren und dass Sombarts Position sich in wichtigen politischen und wissenschaftlichen Fragen grundlegend geändert hatte. So soll im Folgenden vor allem auf Zeugnisse – Briefe, Notizen, Abhandlungen – zurückgegriffen werden, die aus der Studienzeit stammen. Nicolaus Sombart war sich nach Kriegsende über seinen künftigen Lebensweg keineswegs im Klaren. Zum einen trieb es ihn zur Literatur, zum anderen hatte es ihm die Wissenschaft angetan. Literarische Versuche wechselten ab mit wissenschaftlichen Studien. Besonders umtriebig war er im Zeitschriftenwesen. So war er einer der Mitbegründer der Zeitschrift „Der Ruf “, die 1946/47 von Hans Werner Richter und Alfred Andersch herausgegeben wurde, wie auch des „Skorpion“, von dem im Herbst 1947 allerdings nur ein Probeheft erschien. Im „Ruf “ war Sombart mit zahlreichen Beiträgen vertreten. In seinem Aufsatz „Studenten in der Entscheidung“ plädiert er dafür, dass Studenten sich ihre Mittel selbst neben dem Studium durch eigene Arbeit verdienen, statt sich ihr Studium von der Familie finanzieren zu lassen.2 Das Bürgertum sei verarmt – er selbst weiß es

1 Das Heidelberger Institut für Sozial- und Staatswissenschaften wurde 1949 in „Alfred-Weber-Institut für Sozial- und Staatswissenschaften“ umbenannt. Vgl. Reinhard Blomert, Intellektuelle im Aufbruch. Karl Mannheim, Alfred Weber, Norbert Elias und die Heidelberger Sozialwissenschaften der Zwischenkriegszeit, München/Wien 1999, S. 7. 2 Vgl. Nicolaus Sombart, Studenten in der Entscheidung. In: Der Ruf, H. 7, 15. November 1946. Wieder abgedruckt in: Der Ruf. Eine deutsche Nachkriegszeitschrift. Hg. von Hans Schwab-Felisch, München 1962, S. 88–93. Zu Sombarts Mitwirkung an der Zeitschrift vgl. ders., Rendezvous mit dem Weltgeist, S. 128ff.

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Studienjahre in Heidelberg und Neapel

nur zu gut – und eine neue Elite nicht allein aus den alten Besitzständen, sondern aus allen Begabungen, die die Gesellschaft bereithält, zu schaffen. Durch seine Nebentätigkeit mache der Student Bekanntschaft mit der Schicht der einfachen Arbeitnehmer, aus deren Kreisen Talente ebenso zu fördern seien wie aus den höheren Schichten. Der Aufsatz verrät den Einfluss seines Lehrers Alfred Weber, den das Thema einer demokratischen Elite nach Ende des Krieges intensiv beschäftigte. Aus dem Umfeld des „Ruf “ konstituierte sich die Gruppe 47, die erstmals im September 1947 in Bannwaldsee bei Füssen im Allgäu tagte. Mit seiner Erzählung „Capriccio Nr. 1“ errang Nicolaus Sombart nicht nur einen Achtungserfolg bei der Gruppe. Er erhielt dafür auch den Goethe-Preis des Nordwestdeutschen Rundfunks.3 Dies gab ihm Auftrieb und in den folgenden Jahren entstanden mehrere literarische Arbeiten, Feuilletons, Romanentwürfe und -skizzen. Sein Studium hat Sombart offenbar mit einer gewissen Nonchalance betrieben. Im Unterschied zu seinen Kommilitonen und Freunden Reinhart Koselleck und Hanno Kesting, deren Doktorarbeiten eine beachtliche Qualität aufweisen und als Bücher veröffentlicht wurden, liegt Sombarts Studie über Saint-Simon nur als Dissertationsdruck vor. Dennoch strotzte der junge Sombart vor Selbstbewusstsein und war sich seiner vielfältigen Begabungen wohl bewusst. Im Wintersemester 1947/48 studierte Nicolaus Sombart bei dem Philosophen Benedetto Croce in Neapel. Der Italienaufenthalt sollte länger dauern als geplant. Erst im Herbst 1948 kehrte er nach Heidelberg zurück, um sein Promotionsstudium bei Alfred Weber wieder aufzunehmen. So sehr ihn Croce und sein Institut auch beeindruckten, mehr noch genoss er die Zeit, die er im nahegelegenen Positano verbrachte. Sie waren dem literarischen Schreiben gewidmet. Der Mutter berichtet er, er habe sich restlos in Neapel verliebt und hoffe, irgendwann dorthin zurückkehren zu können. Croce sei sehr hilfsbereit und sein Institut der ideale Ort für wissenschaftliches Arbeiten. Zugleich beschäftigt ihn die Frage, wann denn nun endlich sein Buch „Capriccio Nr. 1“ erscheinen werde. Mit großem Vergnügen habe er begonnen, ein neues Manuskript, „Capriccio Nr. 2“, niederzuschreiben. Während er den Winter in Neapel verbringt, zieht es ihn im Frühjahr 1948 an die Amalfiküste. In Positano trifft Sombart die Schriftsteller Armin T. Wegner, einen Freund seines Vaters, und Stefan Andres, die dort ein Domizil besitzen. In seinem Tagebuch reflektiert er über das Schreiben und über seine Sorge vor existentieller Entwurzelung. Der Schritt ins bürgerliche Leben erscheint ihm unausweichlich. „Ich glaube wirklich eine ganz solide Ehe – finanziell, moralisch, gesellschaftlich ist das Einzige,

3 Vgl. Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993, S. 266, Anm. 147.

Orientierungssuche zwischen Literatur und Wissenschaft

was mich vor ewiger Boheme und Misere retten kann.“4 In einem Notizbuch variiert er diesen Gedanken: „In Neapel heiraten, sich ein Häuschen in Positano kaufen und hier nett miteinander leben: (gute Schwiegereltern im Hintergrund). Ist das nicht eine Sache?“5 Wenig später notiert er, wie es um seinen Seelenzustand bestellt ist: „Es fehlt jeder Enthusiasmus, jeder Elan (…) Es fehlt aber auch jedes Leiden, jeder wirkliche Hass. Meine Misanthropie liegt darin, daß mir alle Menschen höchst ‚schnuppe‘ sind, nicht, daß ich sie verachte oder hasse, oder ein Ressentiment gegen sie habe. Im Gegenteil, ich habe sie nötig und gebrauche sie.“6 Nicolaus Sombart sucht für sein Manuskript „Capriccio Nr. 2“ Kontakt zu einem Schweizer Verlag. Ein Vorschuss vorausgesetzt, würde er seine Zeit in Positano um drei bis vier Monate verlängern, wo es ihm immer besser gefällt. Der Mutter schreibt er: „In Positano hat mir eine polnische Dame (Typ Frau Uwaroff, doch weniger dämonisch, ich glaube sie ist auch irgendwie Fürstin) in ihrer weitläufigen Villa, nicht nur ein Gastzimmer, sondern ein ‚Appartement‘ zur Verfügung gestellt. Du ahnst nicht, wie wunderbar es ist: ich habe eine eigene Terrasse und Loggia, von Glyzinien überwuchert; ein kleiner Brunnen zwischen Begonien und Kakteen plätschert; mein Blick aber öffnet sich aufs Meer, wo ich die beiden kleinen Inseln sehe, von denen ich Dir damals, als ich das erste Mal in Positano war, schrieb. […] ‚Schreiben Sie etwas Schönes und fühlen Sie sich wie zuhause.‘ Mit diesen Worten stellte man mich unter den Schutz einer unbegrenzten Gastfreundschaft.“7 Kurze Zeit später wohnt Nicolaus Sombart in einem Häuschen hoch oben in den Bergen, das ihm Wegner zur Verfügung gestellt hat. Dort führt er ausgiebig Tagebuch. Er befindet sich in einer Hochstimmung. Das Schreiben fällt ihm leicht und die äußeren Bedingungen sind ideal. „Ich lebe in Positano, aber nicht, wie ich erst annahm (und wie es auch einige Übergangsnächte lang der Fall war) bei der liebenswürdigen polnischen Dame, sondern, viel schöner, viel unvergleichlicher: in einer kleinen Klause hoch in den Bergen über dem Städtchen, einsiedlerisch, ganz dicht unter den Sternen! Arnim Wegner (jener Schriftsteller, von dem ich Dir einst den so freundlichen Brief beilegte; Freund übrigens Papas, und der großen Schwestern), - hat mir einen kleinen Turm, genannt das ‚Eidechsenhäuschen‘, (der sich aus Nazarenertagen hier auf einem Felsvorsprung erhalten hat), und in dem er sich eine Arbeitsstätte für ruhebedürftige Tage eingerichtet hat, zur Verfügung gestellt. Und da wohne ich jetzt, ‚hause‘, besser gesagt, - und schreibe in wunderbarer Ruhe und Fülle an meinem Roman.“8 Die glückliche seelische Verfassung drängt ihn zu dem Bekenntnis: „Ich glaube, drei Dinge gehören dazu, um einen Mann 4 5 6 7 8

Nicolaus Sombart, Tagebuch, Positano 1948. Eintragung vom 16.4.1948. NL N. Sombart 405, 1868. Nicolaus Sombart, Notizbuch. Eintragung vom 17.4.1948. NL N. Sombart 405, 455,1. Nicolaus Sombart, Notizbuch. Eintragung vom 21.4.1948. NL N. Sombart 405, 455,1. Nicolaus Sombart an Corina Sombart. Brief vom 13.4.1948. NL N. Sombart 405, 1737. Nicolaus Sombart an Corina Sombart. Brief vom 10.5.1948. NL N. Sombart 405, 1737.

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glücklich zu machen: ein Werk, das ihn beschäftigt und erfüllt; eine geliebte Frau, die ihm gehört; und ein Haus, das ihm Spaß macht und gemäß ist. Ja, und alles drei habe ich hier.“9 Das Idyll in Positano sollte indes nicht lange andauern. Für sein neues Buchprojekt findet Sombart keinen Verleger, und so fehlt es an der existentiellen Grundlage, um sich an dem bezaubernden Ort für längere Zeit niederzulassen. In den folgenden Jahren, die er vornehmlich seiner Dissertation und Habilitation widmet, publiziert Sombart eine Reihe von kleineren literarischen Texten, Reiseberichten und Feuilletons für eine Vielzahl von Zeitungen. Hervorzuheben sind.: „Der Mann in der Zelle“ (1949), „Tage in Neapel“ (1951) und „Benito Cereno – ein Mythos?“ (1954). Für Sombarts Verhältnis zu Carl Schmitt ist der emblematische Text „Der Mann in der Zelle“ charakteristisch, der im Februar 1949 in der „Neuen Zeitung“ erschien.10 Sombart bezieht sich auf Günther Weisenborns „Memorial“ und Arthur Koestlers „Sonnenfinsternis“, Werke, in denen das Bild des „Mannes in der Zelle“ zum Thema wird. Während Kafkas „Prozeß“ noch in den Kulissen der bürgerlichen Welt spiele, sei der Ort des neuen Verfahrens „die Verfallenheit des Menschen selbst.“11 Der Mann in der Zelle büße keine Strafe ab. Vielmehr sei er der Gefangene einer Gewalt, „von der einfach zu sagen ist, daß sie schlechterdings herrscht.“12 Weil er mit dieser Gewalt in Zwietracht lebe, hocke er in der Zelle. Seinsgeschichtlich überhöht wird die Situation, indem es heißt, der Mann in der Zelle befinde sich „in einer Auseinandersetzung mit den Instanzen seiner Geschichtlichkeit. Von ihnen ist er ergriffen und hier in diese Zelle geworfen und vor ihnen muß er bestehen.“13 Sombart gewinnt der Zellensituation eine existentialistische Deutung ab. Der Mensch ist in die Geschichte geworfen. Seine „Verfallenheit“ lässt ihn zum Opfer anonymer Gewalten werden. Carl Schmitt sah in der sinnbildlichen Darstellung der Figur des Mannes in der Zelle seine eigene Situation widergespiegelt. Er selbst war vom 29. März bis zum 6. Mai 1947 im Nürnberger Justizgefängnis inhaftiert. Die rechtlichen Grundlagen und der Zweck der Verhaftung blieben unklar. Erwogen wurde, ihn als Angeklagten oder Zeugen vor Gericht zu laden. Der stellvertretende Chefankläger der Nürnberger Prozesse, Robert Kempner, verhörte Schmitt. In jenen Wochen verfasste er

9 Nicolaus Sombart an Corina Sombart. Brief von Pfingsten 1948 (o. Datum). NL N. Sombart 405, 1737. 10 Nicolaus Sombart, Der Mann in der Zelle. In: Neue Zeitung vom 12. Februar 1949. Wieder abgedruckt in: Wilfried F. Schoeller (Hg.), Diese merkwürdige Zeit. Leben nach der Stunde Null. Ein Textbuch aus der „Neuen Zeitung“, Frankfurt am Main/Wien/Zürich 2005, S. 335–337. 11 Ebd., S. 337. 12 Ebd., S. 336. 13 Ebd.

Der Salon Corina Sombarts in Heidelberg

seine Meditation „Weisheit der Zelle“, die er seiner 1950 veröffentlichten Schrift „Ex Captivitate Salus. Erfahrungen der Zeit 1945/47“ als Kapitel einfügte.14 Schmitt findet für Sombarts Text anerkennende, aber auch kritische Worte. „Der ‚Mann in der Zelle‘ hat meine alte Liebe zu Dir hell entfacht. Es sind Momente darin, die Deine ureigenste Genialität sichtbar machen (…), anderes scheint mir zu psychologisch, Zeitgespräch und allzu naheliegende Reflexion.“15 Zugleich tadelt er, „dass Du Dich zu billig machst, wenn Du solche Keime in den Müllhaufen eines Zeitungsaufsatzes wirfst.“16 Ähnlich hatte sich Schmitt schon zu Sombarts Erzählung „Capriccio Nr. 1“ geäußert: „Traurig der Gedanke, daß dieser Junge, den ich liebe, unter die Fruchtabtreiber gegangen ist; er hat einen ehrlichen Keim echter wissenschaftlicher Intuition (die Existenz gegen den Apparat) literarisch abgetrieben, aus Ungeduld, Bequemlichkeit, Genußsucht, Eitelkeit und Darbietungsbedürfnis seiner knabenhaften Mysterien mit Mädchen.“17 Obgleich Carl Schmitt bedauerte, dass Nicolaus Sombart sich nicht konzentriert der Wissenschaft zuwandte, zollte er ihm Anerkennung für seine literarischen Skizzen. Dies zeigt ein Brief vom 18. September 1951, in dem er seinen Schützling zu dem Feuilleton „Tage in Neapel“ gratuliert, das in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ erschienen war. Der Aufsatz sei „ein Kabinettstück; eine zauberhafte Mischung von unbefangener Subjektivität und ebenso müheloser Objektivität. Ich bin ganz entzückt (…).“18

Der Salon Corina Sombarts in Heidelberg In Heidelberg, wo Nicolaus Sombart studierte, wohnte auch seine Mutter Corina. Sie hatte dort bei alten Freunden ihres Mannes Zuflucht gefunden. An eine Rückkehr nach Berlin war nach der Zerstörung ihres Hauses im Grunewald nicht zu denken. In Heidelberg fand sie schnell Zugang zu akademischen Kreisen. Sie bewohnte ein kleines Appartement, ausgestattet mit den Resten der Möbel, Teppiche und Bilder, die aus den Flammen der niedergebrannten Villa gerettet werden konnten. Um ihre karge Witwenpension aufzubessern, widmete sie sich dem Malen und dem Verkauf von Ikonen. Corina Sombart war Mitte fünfzig und immer noch eine imponierende Erscheinung. An der Universität besuchte sie Lehrveranstaltungen

14 15 16 17 18

Vgl. Schmitt, Ex Captivitate Salus, S. 79–91. Carl Schmitt an Nicolaus Sombart. Brief vom 10.3.1949. In: Tielke, Schmitt und Sombart, S. 23. Ebd. Schmitt, Glossarium, S. 128. Eintrag vom 27.6.1948. Carl Schmitt an Nicolaus Sombart. Brief vom 18.9.1951. In: Tielke, Schmitt und Sombart, S. 47.

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des akademischen Nachwuchses, darunter auch die des jungen Privatdozenten Peter Wapnewski. In seinen Lebenserinnerungen singt Wapnewski das hohe Lied der Corina Sombart. Er genießt das Privileg, zum Tee zugelassen zu werden, den Corina jeden Freitag in kleiner Runde zelebriert. Der spätere Professor für Mediävistik und erste Rektor des Berliner Wissenschaftskollegs hat die Atmosphäre des Salons anschaulich beschrieben und ein pointiertes Bild der Gastgeberin gezeichnet: „Ihre eigentümliche und von exzentrischem Charme bewegte Persönlichkeit, ihr furioses Temperament machte sie zu einer einzigartigen Erscheinung in der Heidelberger Gesellschaft … In ihrer kultivierten Exotik war sie Balkan in dessen subtilster Ausprägung, das meint: eigenwillig bis zur Monomanie, sich jeder Kategorisierung entziehend und nur der eigenen Kategorie zugehörig, von flackernder Fantasie und orientalischer Erzähllust. Mit imperativer Gebärde jegliche gesellschaftliche Situation beherrschend und überzeugend auch da, wo sie souverän irrte.“19 Corina Sombart, die einer Familie von Generälen, Diplomaten und Gelehrten entstammte, ließ – so fährt Wapnewski in ironischem Duktus fort –  „in der präzisen Schilderung dieser Herkunft keinen Zweifel aufkommen an dem Rang dieser Familie und ihrer Bedeutung … An der Gültigkeit ihres Urteils, das heißt seiner Endgültigkeit, zu zweifeln, kam niemandem in den Sinn.“20 Im Rückblick auf Corina Sombarts Berliner Salonzeit spricht Wapnewski von der Noblesse des Gastgebens und Gastseins als einer hohen Form gelebter Humanität. Nachdem diese großbürgerliche Umgangs- und Lebensform durch den Krieg zerstört worden war, habe sich in Corina Sombart bewährt, „was auch die Elite des Adels vorlebt: das klaglose Sich-Fügen in einen Daseinsabschnitt, der bar war all des wunderbar Überflüssigen, des Luxuriösen und Üppigen, der Großzügigkeit und der Largesse, wie es in diesen Kreisen einst zum Selbstverständlichen der Lebenskunst gehört hatte.“21 Liest man die Briefe von Nicolaus an seine Mutter und ihre Antwortbriefe aus den vierziger und fünfziger Jahren, so sind Klagen über die Widrigkeiten des Alltags und die finanzielle Misere freilich ein Dauerthema. Mutter und Sohn fügten sich keineswegs klaglos in einen neuen Daseinsabschnitt – wenn diese Klagen auch nicht nach außen drangen – , sondern empfanden die Nachkriegslage für sich als eine einzige Folge von Demütigungen. So schreibt Corina 1948 an ihren Sohn, ihre finanzielle Lage sei miserabel. Wer wolle noch Ikonen kaufen? Auch Kirchenvorträge hätten keine Chance.22 19 20 21 22

Wapnewski, Mit dem anderen Auge, S. 270f. Ebd., S. 271. Ebd., S. 272f. Vgl. NL N. Sombart 405/1737. Corina Sombart an Nicolaus Sombart. Brief vom 3.6.1948. NL 405, 1177.

Frühe wissenschaftliche Arbeiten

Nicolaus erteilt seiner Mutter bei ihren finanziellen Problemen mancherlei Ratschläge, die allerdings wenig nutzen. Einige Jahre später sieht sie sich gezwungen, Carl Schmitt um Geld zu bitten, indem sie sich auf die alte Familienfreundschaft beruft.23 Im Januar 1952 schreibt Nicolaus aus Paris an seine Mutter, sein einziger Trost sei, dass sie wenigstens ihr Leben gehabt habe und sich mit Erinnerungen trösten könne. In einem späteren Rückblick lässt Sombart das Leben seiner Mutter in Heidelberg jedoch in einem milderen Licht erstrahlen. Er scheut selbst vor einer völligen Umwertung nicht zurück. „Bei Licht besehen war ihre große Zeit nicht die ihres Berliner Salons, sondern die Zeit in Heidelberg“24 , heißt es nun. Seine Vorstellung von einem höheren Menschentum duldet es nicht, dass dieser durch Herkunft geadelte Mensch auf ein Normalmaß zusammenschrumpft. Die Mutter hat für ihn nie das Air einer großen Dame eingebüßt, die unverwechselbaren Charakterzüge „einer eigenständigen und eigenwilligen Persönlichkeit, mit Stolz und Noblesse, was man als Vornehmheit bezeichnen muß.“25 Sie habe mit eiserner Disziplin den Nimbus ihrer Zugehörigkeit zu den oberen Schichten der Gesellschaft aufrecht erhalten und Wert darauf gelegt, stets mit Frau Geheimrat angeredet zu werden.

Frühe wissenschaftliche Arbeiten Im Folgenden sollen Nicolaus Sombarts frühe wissenschaftliche Arbeiten genauer betrachtet werden, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Reihe seiner wissenschaftlichen Publikationen erst 1955 beginnt. Es handelt sich dabei meist um Ausarbeitungen und Ergänzungen zu seiner Doktorarbeit, die bereits 1950 fertig vorlag. Sombart befand sich zur Zeit seines Studiums in Heidelberg im Bannkreis Carls Schmitts und Alfred Webers, zweier Autoritäten, wie sie unterschiedlicher kaum gedacht werden können. Obwohl der Verkehr mit Schmitt, der in Plettenberg im Sauerland wohnte und einen privaten Kreis von Freunden und Verehrern um sich scharte, vor allem brieflich erfolgte, war die geistige Nähe zu seinem Mentor aus der Berliner Jugendzeit ungebrochen. Erst allmählich gewann das Denken Alfred Webers Einfluss, was sich in den frühen wissenschaftlichen Publikationen allerdings kaum niederschlug. Für das Abrücken Sombarts von seinem geistigen Ziehvater mag eine Rolle gespielt haben, dass einer Universitätskarriere unerwartete Hindernisse im Wege standen und Carl Schmitt ihm nicht verheimlichte, dass er ihn als Wissenschaftler für ungeeignet hielt.

23 Corina Sombart an Carl Schmitt. Brief vom 25.10.1952. In: Tielke, Schmitt und Sombart, S. 153. Vgl. S. 93, Anm. 226. 24 Sombart, Rumänische Reise, S. 83. 25 Ebd., S. 82.

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In Alfred Weber erkannte Sombart den Gegentypus zu Schmitt. Dieser war ein präzise denkender und systematisch arbeitender Wissenschaftler. Jener neigte zu großen geschichtsphilosophischen Entwürfen, die in einer nicht immer begrifflich klaren, transparenten Sprache vorgetragen wurden. Was Alfred Weber von seinem berühmteren Bruder Max Weber und auch von Carl Schmitt unterschied, erachtete Sombart indes für eine besondere Qualität: Den Hang zum utopischen Denken, frei vom Zwang zu methodisch-begrifflicher Distinktion. Um Nähe und Distanz des jungen Nicolaus Sombart zu beiden Gelehrten ermessen zu können, soll nach Carl Schmitt nun auch die geistige Position Alfred Webers und ihre Rezeption durch Nicolaus Sombart erläutert werden.

Die Geschichts- und Kultursoziologie Alfred Webers Nicolaus Sombart war der letzte Doktorand des Soziologen Alfred Weber.26 Als er sein Promotionsverfahren im Januar 1951 abschloss, war Weber bereits 83 Jahre alt. Alfred Weber gilt als der Begründer der Kultursoziologie in Deutschland. In der Weimarer Zeit war er Ordinarius in Heidelberg. Zu seinen bedeutendsten Schülern gehören u. a. Erich Fromm und Karl Mannheim. 1933 ließ er sich, angewidert von den Nazis, emeritieren und zog sich in die innere Emigration zurück. Er hielt Kontakt zum Kreisauer Kreis des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Sein Hauptwerk „Kulturgeschichte als Kultursoziologie“ erschien 1935 in Holland. Seine Auseinandersetzung mit der Nazi-Diktatur fand nach dem Krieg in dem Buch „Abschied von der bisherigen Geschichte“ (1946) ihren Niederschlag. Nach Wiedereröffnung der Universität Heidelberg nahm er – von den Amerikanern als Unbescholtener eingesetzt – seine Lehrtätigkeit wieder auf und unterrichtete bis zu seinem Tod 1958. Zusammen mit seinen Schülern – unter ihnen Nicolaus Sombart – veröffentlichte Alfred Weber 1955 den Band „Einführung in die Soziologie“. Darin fasste er noch einmal zusammen, was er in zahlreichen Publikationen über ein halbes Jahrhundert hinweg zu Fragen der Soziologie, speziell zur Kultursoziologie, zu Papier gebracht hatte. Für Alfred Weber ist Soziologie vor allem Geschichtssoziologie. Sie befasst sich als innere Strukturlehre der Geschichte mit der Sphäre der Gesellschaft, wozu Wirtschaft, Politik und Recht gehören; der Sphäre der Zivilisation, in der Wissenschaft und Technik, Rationalisierung und Intellektualisierung dominieren und der Sphäre der Kultur, in der seelische Kräfte ihre Wirkung entfalten.

26 Vgl. Eberhard Demm, Von der Weimarer Republik zur Bundesrepublik. Der politische Weg Alfred Webers 1920–1958, Düsseldorf 1999, S. 487.

Die Geschichts- und Kultursoziologie Alfred Webers

Es sei die zentrale Aufgabe der Soziologie, nach dem Schicksal des Menschen in der Gesamtbewegung der Geschichte zu fragen. Während Gesellschaft und Zivilisation wesentlich vital und zweckmäßig bestimmt seien, überschreite die Kultur das Vitale und Zweckmäßige.27 Sie gilt Alfred Weber als das Reich der Freiheit, die Sphäre produktiver, schöpferischer Geister. Einen Kulturfortschritt könne es in dem Sinne, wie etwa der Zivilisationsprozess fortschreite, nicht geben, sondern nur verschiedene Kulturphysiognomien der verschiedenen Geschichtskörper. Kulturelle Leistungen – so Weber – unterscheiden sich von den Hervorbringungen des Zivilisationsprozesses durch ihre seelischen Ursprünge, die den intellektuellen Bereich transzendieren. Weber verkennt hier freilich, dass künstlerische Artefakte nicht allein der Phantasie und den seelischen Bestrebungen ihrer Schöpfer, sondern einem nicht zu unterschätzenden intellektuellen Impetus ihr Dasein verdanken können. Wenn Alfred Weber der Kultur in seinen geschichtssoziologischen Betrachtungen einen besonderen Stellenwert einräumt, so ist dies wissenssoziologisch zu verstehen „als Reaktion auf die Entwertung des bis dahin gültigen Wissens des Bildungsbürgertums durch die neue Wertschätzung von Technik und Naturwissenschaften (...), die eine relative Zurücksetzung der Träger dieses Wissens mit sich brachte (…).“28 Die veränderte Stellung des Menschen im Arbeitsprozess durch Rationalisierung und Bürokratisierung wertet Alfred Weber als Kulturzerfall und Ausdruck von Rebarbarisierung. Der Mensch des modernen Kapitalismus verliere als Kulturträger mehr und mehr an Bedeutung. Kultur ist für Weber gleichbedeutend mit Hochkultur, ein Ausfluss transzendenter Mächte, die sich literarisch-künstlerisch oder religiös Ausdruck verschaffen. Es handelt sich in diesem Verständnis von Kultur um nicht relativierbare, absolute Setzungen, die empirisch-soziologisch nicht erfassbar sind. In der besonderen Wertschätzung der Kultur erweist sich Alfred Weber als Vertreter einer spezifisch deutschen Haltung, die in der Ablehnung des nur Zivilisatorischen bzw. der Geringschätzung äußerlicher Zivilisiertheit auf eine lange bildungshumanistische Tradition zurückblicken kann.29 Wie seine Vorgänger Saint-Simon, Comte, Lorenz von Stein und Marx erhofft Alfred Weber sich durch das Studium des Bewegungsablaufs der Geschichte Aufschluss über die Gründe der von ihm als krisenhaft diagnostizierten Gegenwart. Von einer Geschichtsphilosophie, die den Verlauf der Geschichte vorhersagen will,

27 Alfred Weber, Geistige Einordnung der Soziologie. In: Alfred Weber, Einführung in die Soziologie in Verbindung mit Herbert von Borch, Nicolaus Sombart, Hanno Kesting u. a., München 1955, S. 42f. Vgl. auch Roland Eckert, Kultur, Zivilisation und Gesellschaft. Die Geschichtstheorie Alfred Webers, eine Studie zur Geschichte der deutschen Soziologie, Tübingen 1970, S. 7. 28 Blomert, Intellektuelle im Aufbruch, S. 177f. 29 Vgl. ebd., S. 182. Vgl. dazu auch Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Erster Band, S. 43–50.

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unterscheidet sich seine Geschichtssoziologie jedoch durch das Festhalten an einer empirischen Analyse der inneren Gliederung der verschiedenen Sphären des historischen Gesamtprozesses. „Die kulturell orientierende Geschichtssoziologie ist (…) keineswegs bloß eine Hilfsdisziplin oder Methode der Universalgeschichte, denn sie hat oder kann wenigstens andere Ziele haben als diese. Aber ihre Hilfsmittel der Analyse und Synthese sind etwas, an dem der künftige Universalhistoriker wohl nicht mehr vorbeigehen dürfte.“30 Eine geschichtsphilosophische Vorstellung der Kulturbewegung als „geistige Entwicklung“ erscheint Weber suspekt. Er sieht darin eine Vermengung der intellektuellen und seelischen Sphären, die im deutschen Idealismus ihren Höhepunkt erreicht habe. Geschichte ist für Weber nicht primär Aufklärung im Sinne der Aufhellung des Bewusstseins. Ein ausschließlich auf logisch-intellektuellen Prinzipien basierendes Entwicklungsdenken sei Ausdruck einer instrumentellen Vernunft, denn „(...) das schließlich herausgestellte Reich der Vernunft, dem der Einzelmensch sich in ‚Freiheit des Bewußtseins‘ einzugliedern hat, ist im Grunde nichts anderes, als eben unser aufgehellter und herausgestellter Zivilisationskosmos, der alles andere, Kunst, Religion, Ideen usw. alle Kulturemanationen, als Elemente seines ‚vernünftigen‘ Fortschritts in sich aufsaugt und in seiner vernünftigen Schlußgestalt verschlingt.“31 Die Frage nach dem Geschick des Menschen ist für Alfred Weber Anlass zu einer kritischen Diagnose der Gegenwart. „Ein Konflikt zwischen Individuum und Gesamtheit steigt also für uns in jener Eigenevolution des von Wissenschaft und Technik aus sich geschaffenen Daseins auf, die wir tatsächlich heute erleben. Ein Konflikt steigt gleichfalls auf, falls die kapitalistisch technisch fundierte Eigenevolution der Wirtschaft den Menschen, der ihr Zweck sein sollte, als eines ihrer Mittel auffrißt.“32 Die technische Entwicklung habe die Tendenz, das „volle Menschsein“ aufzulösen. Symptome dieser Entwicklung sieht Weber in der Zerstückelung des Arbeits- und Berufsprozesses und der „Sensationalisierung“ des außerberuflichen Lebens. Weber spricht von einem von Geschäftemachern betriebenen „praktischen Nihilismus“ und von der Gefahr der Desintegrierung und Deshumanisierung. Von dieser Gefahr sei auch die geistige Elite betroffen. Sie sei einbezogen in die technokratische Massenumformung des Daseins. In Alfred Webers Werk spielen Überlegungen zur Elite eine zentrale Rolle. Zu fordern sei von den Angehörigen der Elite „irgend eine Form der vorbildlichen

30 Alfred Weber, Prinzipien der Geschichts- und Kultursoziologie, München 1951, S. 39. Vgl. ders., Kultursoziologie. In: Alfred Vierkandt (Hg.), Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1959 [Unveränderter Nachdruck der Erstausgabe von 1931], S. 293. 31 Weber, Prinzipien, S. 84. Es handelt sich hier um den Wiederabdruck des 1921 publizierten Textes „Gesellschaftsprozess, Zivilisationsprozess und Kulturbewegung“ im Archiv für Sozialwissenschaft. 32 Weber, Einführung in die Soziologie, S. 55.

Die Geschichts- und Kultursoziologie Alfred Webers

Existenz.“33 Er insistiert auf einer sozialen Tuchfühlung, die von oben nach unten auf dem Wege der Nachahmung der Verhaltensmuster der Oberen durch die Unteren verlaufe. Die Oberschichten sollten Charakter formend auf die unteren Schichten wirken. Durch einen freiheitlichen Sozialismus, der den breiten Massen Eigentumsanteile verschafft, will Weber den Abstand zwischen Elite und Masse überbrücken. Alfred Weber sieht die Aufgabe der Soziologie darin, einen Beitrag zur Überwindung der Krise, d. h. der Entfremdung und „Verapparatung“ des modernen Menschen, zu leisten. Eine neue Menschenart, so fürchtet er, sei im Entstehen begriffen, die den seit dem Aufklärungszeitalter um die Ideen von Freiheit und Humanität integrierten Menschen ablöse. Die technokratische Terrorapparatur, wie sie im stalinistischen Russland existiere, stelle nur die Spitze der modernen, rationellen und bürokratischen „Daseinsapparatur“ dar. Opfer der „Gesamtverapparatung“ und des „Funktionarismus“ sei vor allem die Schicht der Angestellten und Beamten, weniger die der Arbeiter, da diese Gruppe noch über ein Widerstandspotential verfüge. Webers Bewertung der Vorgänge stützt sich auf empirisch-soziologische Untersuchungen zur Lage dieser gesellschaftlichen Gruppen. Es ist die Stimme des besorgten Bildungsbürgers, dessen geistige Tätigkeit noch ganzheitliches Gepräge trägt, der sich aber ebenfalls von der innerweltlichen Entfremdung und „Funktionarisierung“ der Arbeit bedroht sieht.34 Alfred Weber geht in seiner Analyse von der Prämisse aus, dass es in der vorkapitalistischen Phase ein geschlossenes Menschentum gegeben habe, das durch die Dynamik der kapitalistischen Entwicklung in Auflösung begriffen sei. Er registriert eine Aufspaltung des bisherigen Menschen und seinen Ersatz „durch ein anderes, ein fragmentarisiertes, pluralistisches Wesen ohne regulierende und integrierende Menschlichkeitsmitte (…).“35 Als traditionsbewusster Bildungsbürger orientiert sich Alfred Weber an den Ideenbeständen des deutschen Humanismus der klassischen Periode und dessen Postulat der allseitig entwickelten Persönlichkeit, ein Leitgedanke, der auch in der Philosophie des jungen Marx widerhallt. Alfred Weber ist ein typischer Vertreter dieses deutschen Bildungsbürgertums, das – wie auch der Nationalökonom und Soziologe Werner Sombart – dem mo-

33 Weber, Prinzipien, S. 67. 34 Vgl. Roland Eckert, Die Kulturtheorie Alfred Webers. Überlegungen zur Wissenssoziologie des Bildungsbürgertums. In: Eberhard Demm (Hg.), Alfred Weber als Politiker und Gelehrter. Die Referate des Ersten Alfred-Weber-Kongresses in Heidelberg (28.–29. Oktober 1984), Stuttgart 1986, S. 79. 35 Alfred Weber, Kommt der „vierte Mensch“? [1951] In: ders., Haben wir Deutschen nach 1945 versagt? Politische Schriften. Ein Lesebuch. Ausgewählt und eingeleitet von Christa Dericum, Frankfurt am Main 1982, S. 58.

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dernen Kapitalismus ebenso ablehnend gegenübersteht wie dem proletarischen Sozialismus in Gestalt des russischen Bolschewismus. Die von beiden Formationen betriebenen Entwicklungen werden als auflösend betrachtet, vorkapitalistische bzw. genossenschaftliche oder kleinkapitalistische Produktionsformen dagegen als ganzheitliche Formen gepriesen. Alfred Weber fürchtet als Konsequenz dieser Tendenzen einen Einflussverlust der gebildeten Schichten, der traditionellen geistigen Elite des Landes. In dieser Positionsbestimmung erweisen sich die Forschungen seines Schülers Nicolaus Sombart zur Elite als durchaus anschlussfähig. Sombart weiß sich mit Alfred Weber darin einig, dass es nicht nur gilt, das Aufkommen des bürokratisch kontrollierten und abgerichteten „vierten Menschen“ zu verhindern, sondern auch und vor allem die eigene, auf humanistischer Bildung basierende gesellschaftliche Führungsposition zu verteidigen. Nach seinem Ableben 1958 war es um die Nachfolge Alfred Webers in der deutschen Soziologie schlecht bestellt. Es gab zwar eine große Zahl von Schülern, doch eine traditionsbildende Schule war nicht entstanden. Alfred Weber blieb ein Solitär in der soziologischen Landschaft der fünfziger Jahre. Seine eigenwillige Terminologie erschien seinen Schülern kaum geeignet, um damit beruflich zu reüssieren, zu sehr stehen Wortschöpfungen und Begriffsprägungen wie „Daseinsgesamt“, „Daseinsapparatur“, „Gesamtverapparatung“, „Verumstandungen“ und „Verunfreiungstendenzen“ einer modernen soziologischen Begriffssprache entgegen.36 Dementsprechend fiel das akademische Urteil auf den Sammelband „Einführung in die Soziologie“, das letzte größere von Alfred Weber initiierte Werk, zwiespältig aus. Unter den Kritikern tat sich besonders der Kölner Soziologe René König hervor, der sich sowohl für die Aufarbeitung und Weiterentwicklung der klassischen soziologischen Theorien als auch für die Rezeption des amerikanischen Strukturfunktionalismus einsetzte. Seine Rezension in der angesehenen Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie war zwar milde im Urteil über den Altmeister der Soziologie, in seinem Urteil über die Mitarbeiter des Bandes gab König jedoch jede Zurückhaltung auf.37 Seine Beanstandungen betrafen auch die Beiträge von Nicolaus Sombart, der die Kapitel über Saint-Simon, Comte und Herbert Spencer beigesteuert hatte. Sein

36 M. Rainer Lepsius urteilt: „Die in hohem Maße auf persönlichen Begriffsbildungen und Überzeugungen aufbauenden Analysen und Einsichten Alfred Webers waren von seiner Person nicht auf Schüler übertragbar, dafür waren schon die kategorialen Analyseinstrumente zu unbestimmt und ambivalent.“ (M. R. Lepsius, Die Entwicklung der Soziologie nach dem zweiten Weltkrieg 1945 bis 1967. In: Deutsche Soziologie seit 1945. Entwicklungsrichtungen und Praxisbezug. Hg. von Günther Lüschen. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 21/1979, Opladen 1979, S. 30.) 37 René König, Rezension zu „Einführung in die Soziologie“. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 8 (1956), H. 1, S. 151–156.

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salopper Stil erinnere an den seines Vaters. König weist Sombart zahlreiche Unsauberkeiten und Unkorrektheiten nach; so schreibe er Namen falsch und stütze sich im Übrigen „recht unselbständig“ auf Standardwerke. Der Abschnitt über Spencer strotze zwar vor massiven Werturteilen, in der Ausführung sachlichen Materials sei Sombart jedoch äußerst zurückhaltend. Von den älteren Soziologen meine Sombart, dass sich bei ihnen „Soziologen und Proleten“ zusammentun, um endlich die Ordnung zu schaffen, deren die Bürger nicht fähig seien. König moniert: „Es ist uns völlig schleierhaft, was damit wohl gemeint sein kann. Saint-Simon ist gewiß der Begründer des sogenannten Frühsozialismus, aber er tut dies als Sprachrohr der ‚industriels‘, worunter sowohl Handel, Gewerbe und Industrie wie arbeitende Klasse insgesamt gemeint sind. Marx appelliert zwar ausschließlich an die Klasse der Lohnarbeiterschaft, aber vielleicht ist es dem Verfasser entgangen, daß Proleten und Proletarier nicht dasselbe sind.“38 Auch in späteren Schriften verwendet Nicolaus Sombart gern die saloppe Bezeichnung „Proleten“, wenn Angehörige der Unterschichten oder ein diffuser Pöbel gemeint sind. Da es sich um die erste wissenschaftliche Publikation Nicolaus Sombarts handelt, sollen seine Ausführungen auf mögliche Einflüsse des Denkens von Alfred Weber und Carl Schmitt geprüft werden. Bemerkenswert ist, dass in dieser Schrift offenbar der Lehrer vom Schüler gelernt hat. Die These Webers, die Soziologie sei eine Tochter der Krise, Soziologie eine Krisenwissenschaft39 , schließt an Gedanken an, die Nicolaus Sombart in seiner Dissertation von 1950 am Beispiel Saint-Simons vorgetragen hat und in seinen Beiträgen zur „Einführung in die Soziologie“ wieder aufnimmt. Dieser Gedanke wird später von den Kommilitonen Sombarts Reinhart Koselleck und Hanno Kesting weiter ausgeführt. Offenbar entstammt er dem Umfeld Carl Schmitts, der auch den Topos des Weltbürgerkriegs, der von Sombart, Koselleck und Kesting aufgegriffen wird, in die Debatte geworfen hatte.40

38 Ebd., S. 152. 39 Vgl. A. Weber, Der Mensch und die Zeiten. In: Einführung in die Soziologie, S. 496f. Vgl. ders., Motto – Die Soziologie, eine Tochter der Krise. In: Weber, Haben wir Deutschen nach 1945 versagt?, S. 27. Weber bezieht sich hier ausdrücklich auf Sombarts Beitrag in „Einführung in die Soziologie“. 40 Wie für Thomas Hobbes war für Carl Schmitt der Bürgerkrieg und dessen Beendigung durch den Staat ein zentrales Thema. „Wo Staat ist, da hört der Bürgerkrieg auf, und umgekehrt gilt, wo Bürgerkrieg herrscht, ‚ist überhaupt kein Staat mehr da‘.“ (Tielke, Der stille Bürgerkrieg, S. 96f.) „Carl Schmitt hat die Unterdrückung des Bürgerkrieges als Aufgabe und Leistung des Staates immer wieder hervorgehoben.“ (Helmut Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts. 3. überarb. u. erg. Auflage, Berlin 1995, S. 39.) Das setzt auch einer liberalen Interpretation Schmitts Grenzen, wie Mehring im Anschluss an Kriele ausführt: „Hobbes und Schmitt sind Absolutisten, meint Kriele, die auf politische Unterwerfung setzen, und das widerspricht der Friedenslogik des modernen Verfassungsstaates.“ (Reinhard Mehring, Carl Schmitt: Denker im Widerstreit. Werk – Wirkung – Aktualität, München 2017, S. 236.) Die Nachkriegsschüler Schmitts – Kesting, Koselleck, Schnur und Sombart – folgten nicht mehr dem absolutistischen Staatsmodell. Vgl. dazu ausführlich: Lukas

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Demnach sei es die Aufgabe der Soziologie, dazu beizutragen, den durch die Französische Revolution ausgelösten und seit der russischen Oktoberrevolution im Ost-West-Konflikt sich weiter ausbreitenden Weltbürgerkrieg zu beenden.41 Alfred Weber übernahm zwar die These von der Soziologie als Krisenwissenschaft, sah aber nicht ihre Aufgabe darin, den Weltbürgerkrieg zu beenden. Er hatte konkretere Ziele vor Augen. Ihm ging es als freiheitlicher Sozialist darum, die Soziologie dafür zu präparieren, die durch den modernen Kapitalismus produzierten Systemzwänge zu überwinden. Nicht die Beendigung der Geschichte durch Beendigung des Bürgerkrieges war das Ziel soziologischer Arbeit, sondern die Verhinderung der Heraufkunft des „vierten Menschen“ bzw. des von Alfreds Bruder Max im Anschluss an Nietzsche so bezeichneten „letzten Menschen“.

Die Dissertation über Saint-Simon und die Entstehung der Geschichtssoziologie Die Unabhängigkeit Nicolaus Sombarts von der Gedankenwelt Alfred Webers findet schon in seiner Dissertation ihren Ausdruck. An keiner Stelle des Textes verweist er auf seinen Doktorvater, nur in einem nachgereichten Lebenslauf heißt es: „Von Anfang an stellte ich meine Studien unter die Aufsicht von Prof. Alfred Weber, der einer systematischen Auseinandersetzung mit den Problemen der Soziologie die Richtung wies. Unter seiner Anleitung entstand auch diese Dissertation.“42 Dagegen verweist Sombart in dem Kapitel „Exkurs über die Große Parallele“ ausdrücklich auf Carl Schmitt, dessen Werk „Donoso Cortés in gesamteuropäischer Interpretation“ er tief verpflichtet sei. Ursprünglich hatte Nicolaus Sombart über den Begriff der Klasse promovieren wollen. Im Wintersemester 1946/47 hielt er in einem Seminar Alfred Webers ein

Potsch, Die Moderne als Weltbürgerkrieg. Zeit- und Geschichtskritik bei Roman Schnur, Reinhart Koselleck, Hanno Kesting und Nicolaus Sombart. In: Leviathan, 47 (2019), H. 2, S. 244–265. 41 In einem Brief an Nicolaus Sombart bedauert Hanno Kesting: „Schade, dass Du die Passagen über Marx nicht selber ausgeführt hast. [Sie waren zusammen mit Alfred Weber verfasst worden. G.E.] Durch Webers Intervention verlieren unsere beiden Stücke die Geschlossenheit, die sie ohne alle Verabredung haben. Sie erläutern sich gegenseitig und würden wie ein Block in dem Buch stehen, wenn Weber sich nicht dazwischengeschaltet hätte. Ich stelle mir schon die Verblüffung des Lesers vor, wenn er, nach Webers einleitenden Auslassungen, plötzlich auf Dein Kapitel stößt … ein Leser wie Hans Zehrer oder wie Arnold Gehlen.“ (Hanno Kesting an Nicolaus Sombart, Brief vom 10.10.1955. NL N. Sombart 405, 856.) 42 Nicolaus Sombart, Die geistesgeschichtliche Bedeutung des Grafen Henri de Saint-Simon. Ein Beitrag zu einer Monographie des Krisenbegriffs. Diss. Heidelberg 1950. Typoskript, S. 87.

Die Dissertation über Saint-Simon und die Entstehung der Geschichtssoziologie

Referat zu diesem Thema. Carl Schmitt gab Sombart wertvolle Anregungen, wie er dieses Thema angehen solle.43 Die Dissertation sollte in den nächsten Jahren allerdings keine rechten Fortschritte machen. Sombart führt dies auf „die mésalliance mit dem Doktorvater“44 zurück. Andererseits war er zu dieser Zeit zu sehr mit literarischen Arbeiten beschäftigt, die einer Konzentration auf die Doktorarbeit im Wege standen. Schließlich teilt er Carl Schmitt mit, dass er sein Dissertationsthema über die Klasse aufgegeben habe und sich nun „ganz bescheiden“ dem Frühsozialisten Saint-Simon widme, im „Sinne der Fixierung einer ‚europäischen‘ Kontinuität im 19. Jahrhundert, die nicht diejenige der Marxistischen Geschichtsinterpretation ist. St. Simon also nicht ‚Vorläufer‘ und ‚utopisch unwissenschaftlicher Früh-‘ Sozialist, sondern: Sozialismus wird erst verständlich, nachdem man gezeigt hat, was in St. Simon eigentlich vor sich gegangen ist.“45 Im August 1949 kam es zu einer ersten Begegnung zwischen Schmitt und Sombart nach dem Krieg. Offenbar verlief dieses Treffen für Sombart enttäuschend, denn – so schreibt er: „Ich konnte das Gefühl nicht loswerden, dass Sie mich irgendwie aufgegeben und abgeschrieben haben; dass ich einen Lehrer verloren hätte.“46 Schmitt erklärte ihm ohne Umschweife: „Ich stelle fest, dass Du kein Gelehrter geworden bist, sondern ein Schriftsteller, das ist kein Grund zu divorcieren. Meine Erwartung, in Dir einen Gelehrten der Werner Sombart – Max Weber – Zeit wiederzufinden, war doch im Grunde naiv. Ihr lag die Erwartung einer Doublette Deines Vaters zugrunde, und Du hast gut daran getan, meine Senilismen zu enttäuschen.“47 Die Abwertung des Wissenschaftlers zugunsten des Schriftstellers Nicolaus Sombart durch Carl Schmitt sollte eine Zäsur in ihrer Beziehung darstellen. Obgleich der Kontakt zu seinem geistigen Ziehvater nie ganz verloren ging und der intellektuelle Einfluss Schmitts in seiner wissenschaftlichen Produktion erhalten blieb, war ein Bruch eingetreten, der sich nie ganz kitten ließ und schließlich zu einer Generalabrechnung Nicolaus Sombarts mit Carl Schmitt führen sollte. Zunächst jedoch blieb es bei einem regelmäßigen Briefaustausch und gelegentlichen Besuchen Sombarts in Plettenberg. Schmitt nahm regen Anteil an seinen Publikationen und begleitete weiterhin sein Dissertationsvorhaben. Als sich ein Ende der Arbeit über Saint-Simon abzeichnete, verwendete sich Schmitt bei dem Verlag Greven in Köln, in dem mehrere seiner Nachkriegsarbeiten

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Vgl. Carl Schmitt an Nicolaus Sombart, 29.1.1947. In: Tielke, Schmitt und Sombart, S. 16. Nicolaus Sombart an Carl Schmitt. Brief vom 6.3.1949, ebd., S. 22. Nicolaus Sombart an Carl Schmitt. Brief vom 14.7.1949, ebd., S. 24. Nicolaus Sombart an Carl Schmitt. Brief vom 16.8.1949, ebd., S. 25. Carl Schmitt an Nicolaus Sombart. Brief vom 21.8.1949, ebd., S. 26.

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erschienen, für das Manuskript. Die Arbeit blieb jedoch ungedruckt. Sombart beendete seine Dissertation im September 1950. Das Manuskript hat einen Umfang von 86 Seiten und wurde – wie er Schmitt mitteilte – von Alfred Weber „schnaubend (weil zu viel Hegel und keinerlei Kultursoziologie) akzeptiert.“48 Wenn Weber die Arbeit seines Doktoranden mit der Höchstnote „summa cum laude“ bewertete – das Rigorosum fand im Januar 1951 statt –,49 so muss der Gesamteindruck gleichwohl sehr positiv gewesen sein. Sombart betrachtete sich keinesfalls als einen Adepten Alfred Webers. In einem Brief an Schmitt lässt er diesen wissen : „Sobald die Abschriften gemacht sind, werde ich Ihnen ein Exemplar zuschicken – rasend gespannt, was Sie sagen werden, denn Sie wissen, nur das interessiert mich.“50 Er bedankt sich auch für das ihm von Schmitt zur Verfügung gestellte Vorwort zu dessen Publikation „Donoso Cortés in gesamteuropäischer Integration“, die im Greven Verlag erschienen war. Es koinzidiere in wunderbarer Weise mit seinem Saint-Simon. „Wenn Krise Geschichte ist und Geschichte Bürgerkrieg, gibt es nur eine Geschichtsphilosophie!“51 Mit einer Zusendung der Dissertation an Schmitt ließ sich Sombart jedoch Zeit. Er fürchtete, seinen Mentor zu enttäuschen. In einem Brief vom 1. Februar 1951 heißt es: „Ich habe bis heute gebraucht, um mir das Herz zu fassen, Ihnen meine Dissertation vorzulegen, so wie sie der Hohen Heidelberger Fakultät vorgelegen hat. Mich ließ ihr ungünstiges Urteil über das 1. Kapitel zögern, das ich Ihnen früher einmal zeigte.“52 Es würde ihn sehr schmeicheln, die Arbeit neben den Werken Schmitts im Greven-Verlag veröffentlicht zu sehen. Nicolaus Sombarts Dissertation trägt den Titel „Die geistesgeschichtliche Bedeutung des Grafen Henri Saint-Simon. Ein Beitrag zu einer Monographie des Krisenbegriffs.“ Seit 1789, lautet seine These, befinde sich Europa in einem Ausnahmezustand. „Krise“ sei der Zentralbegriff allen geschichts- und kulturphilosophischen Denkens. Ohne dessen Kenntnis sei eine neuzeitliche Wissenschaft von der Geschichte nicht denkbar. Der erste, bei dem das Wort Krise moderne

48 Nicolaus Sombart an Carl Schmitt. Brief vom 4.9.1950, ebd., S. 33. In einem Brief Hanno Kestings an Schmitt ist über Nicolaus Sombart zu lesen: „Seine Dissertation ist fertig und Weber hat sie, wenn auch einigermaßen schockiert und verärgert, entgegen genommen (…) Die Arbeit selbst ist nicht ganz gleichmäßig, hat aber herrliche Passagen.“ (Hanno Kesting an Carl Schmitt. Brief vom 22.9.1950, ebd., S. 217.) 49 Siehe Nicolaus Sombart an Carl Schmitt. Brief vom 17.1.1951, ebd., S. 37. 50 Nicolaus Sombart an Carl Schmitt. Brief vom 4.9.1950, ebd., S. 34. In einem Brief an Duška Schmitt, die Frau seines Mentors, schreibt Nicolaus Sombart im September 1950: „Sie wissen, dass die entscheidende Begegnung meines Lebens diejenige mit Carl Schmitt gewesen ist; ein Verführer, ein Magier, hat er mein Denken verzaubert; durch die Jahre hindurch hat es in immer neuen Verwandlungen den Gesetzen dieses Zaubers gehorcht (...).“ (Ebd., S. 214.) 51 Nicolaus Sombart an Carl Schmitt. Brief vom 4.9.1950, ebd., S. 34. 52 Nicolaus Sombart an Carl Schmitt. Brief vom 1.2.1951, ebd., S. 40.

Die Dissertation über Saint-Simon und die Entstehung der Geschichtssoziologie

Bedeutung erhalte, sei Saint-Simon. Die These, die Revolution von 1789 habe ein Zeitalter der Revolutionen eingeleitet, das noch nicht beendet sei, sieht Sombart durch Marx und dessen Theorie des Klassenkampfes bestätigt. „Er scheute sich nicht zu proklamieren, was sie alle fürchteten: daß die Wahrheit der Revolution der Bürgerkrieg ist.“53 Die Daten 1789, 1793, 1830, 1848, 1870, 1917 und 1933 sind die entscheidenden Fluchtlinien der europäischen Geschichte. Sie markieren die Etappen des europäischen Bürgerkrieges. Dieser Bürgerkrieg sei ein Kampf um die Wiederherstellung der Ordnung. Die Fronten des Bürgerkrieges bildeten die elementaren Gruppierungen von Freund und Feind, heißt es unter Bezug auf Carl Schmitt. Die alte Ordnung gehöre der Vergangenheit an. Es gehe darum, die Lebensbedingungen der Menschen neu zu gestalten und die Gesellschaft neu zu organisieren. Der Plan sei der dialektische Zwillingsbruder der Krise. Die Planer bildeten nach Saint-Simon eine dirigierende Klasse. Die Planungsinstanz werde mit der Dignität eines Klerus ausgestattet. Diese Gruppe repräsentieren die „industriels“, zu denen Saint-Simon Unternehmer wie Arbeiter rechnet. Saint-Simons Planungsvorstellungen sollten im Verein mit den Raumordnungsmodellen Carl Schmitts schließlich in Sombarts Überlegungen zu seiner Tätigkeit im Europarat eingehen. Im September 1950 tritt Nicolaus Sombart in das Lektorat des S. Fischer-Verlages in Frankfurt ein. Dort gerät auch die altehrwürdige Zeitschrift „Neue Rundschau“ in sein Blickfeld. Sein Kommilitone Hanno Kesting frohlockt in einem Brief an Carl Schmitt: „Er [Nicolaus Sombart] beabsichtigt, unter dem alten Namen und hinter der Fassade von Aufsätzen alter N. R.-Schreiber wie Thomas Mann usw., die der Verlag sich nicht leisten kann an die Luft zu setzen, der Zeitschrift ein ganz neues Gesicht zu geben und so etwas wie ein ‚Archiv für Weltbürgerkrieg und Raumforschung‘ aus ihr zu machen. Dann wäre die N. R. eine gut gedeckte Stellung, aus der sich manches lancieren ließe, und ein solches Organ im Handstreich zu nehmen, bedeutete darüberhinaus ein nettes kleines Husarenstück.“54 Kesting verhehlt dem Meister in Plettenberg nicht seine Bedenken. Was ihm Sorgen mache, sei die Frage, „ob der gute Nikolaus bei der Stange bleibt und sich nicht im entscheidenden Augenblick kassieren lässt. Er hat, wie Sie wissen, einen ungeheuren Hang zum Karrieremachen und gilt bei Freund und Feind nicht

53 Sombart, Die geistesgeschichtliche Bedeutung des Grafen Henri de Saint-Simon, S. 16. 54 Hanno Kesting an Carl Schmitt. Brief vom 22.9.1950. In: Tielke, Schmitt und Sombart, S. 218. Wenige Wochen später teilt Kesting Sombart die Reaktion Schmitts auf die Übernahmepläne mit: „Jedenfalls versicherte er mir mehrmals, es sei ein prächtiges Husarenstück, wenn wir aus dieser guten Deckung, mit Thomas Mann als Tarnkappe und Panzerplatte, über Bürgerkrieg sprechen würden.“ (Hanno Kesting an Nicolaus Sombart. Brief vom 11.10.1950. NL N. Sombart 405, 856.)

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gerade als sicherer Kantonist.“55 Aller Umgang und alle Freundschaft mit ihm werde dadurch beeinträchtigt, „dass man irgendwo das Gefühl hat, es mit einer Art Luftikus zu tun zu haben.“56 Kesting nennt Schmitt auch gleich die Themen, die eine handstreichartig übernommene „Neue Rundschau“ in den Mittelpunkt stellen werde: Bürgerkrieg, Weltbürgerkrieg, Ideologien und Ideologiekritik, europäischer und asiatischer Marxismus, Großraumprobleme und Elitenlehre. Zugleich stellt Kesting klar, was von der im Schmittschen Sinne umgestalteten „Neuen Rundschau“ zu erwarten sei: „Es soll da so allerlei klar gemacht werden, z. B. dass der eigentliche Gegensatz heute keineswegs der von Demokratie und totalem Staat ist, dass es keinen Staat mehr gibt, der nicht total ist, dass man die Ost-West-Spannung nur rassisch verstehen kann usw. usw. Mit einem Wort, wenn Nino hält, was er verspricht, haben wir bald eine herrliche deutsche Zeitschrift.“57 Hanno Kesting gehörte in Heidelberg zum engeren Schülerkreis Alfred Webers und war an dem Sammelband „Einführung in die Soziologie“ mit einem Beitrag über Lenin beteiligt. Gleichwohl fühlte er sich wie Sombart geistig mehr zu Carl Schmitt hingezogen und besuchte ihn wiederholt in seinem Refugium in Plettenberg. In einem Brief Kestings an Sombart ist zu lesen, wie Schmitt Alfred Webers Kultursoziologie beurteilte. Dessen Amerika-Analyse sei unhaltbar, weil er nichts von Großräumen verstehe und auch von Pressure Groups und Lobbyismus keine Ahnung habe. Kesting verhehlte seinem Freund Nicolaus nicht, dass Schmitt befürchte, dass er ins Publizistisch-Literarische abgleite und auf dem Weg zum Apostaten sei.58 Zu einer handstreichartigen Umgestaltung der „Neuen Rundschau“ in ein „Archiv für Weltbürgerkrieg und Raumforschung“ sollte es nicht kommen. Ehe es noch recht begonnen hatte, endete, trotz guter persönlicher Beziehungen zum Ehepaar Bermann-Fischer, im Juni 1951 Sombarts Lektorat beim Fischer-Verlag, Ein Jahr später bot sich ihm die Möglichkeit, zusammen mit dem Juristen Roman Schnur59 , einem weiteren Schüler Carl Schmitts, und dem Heidelberger Freundeskreis an einem neuen Zeitschriftenprojekt in europäischem Maßstab mitzuwirken. Als Herausgeber waren u. a. der Jurist, Politologe und Ökonom Bertrand de Jouvenel, der Sozialhistoriker Maxime Leroy und der Politologe Eric Voegelin vorgesehen. Von Sombart erwartete Schnur, dass es ihm in Paris nicht schwerfallen würde, die nötigen Verbindungen aufzunehmen. Nachdem auch dieses Projekt einer eigenen

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Hanno Kesting an Carl Schmitt. Brief vom 22.9.1950. In: Tielke, Schmitt und Sombart, S. 218. Ebd. Ebd. Vgl. Hanno Kesting an Nicolaus Sombart. Brief vom 13.8.1949. NL N. Sombart 405, 856. Roman Schnur (1927–1996) war Staats- und Verwaltungsrechtler und lehrte u. a. an der Universität Tübingen.

Die Dissertation über Saint-Simon und die Entstehung der Geschichtssoziologie

Zeitschrift nicht vorankam, versuchten Sombart und Schnur das in Mainz unter der Leitung des Rechtsphilosophen Theodor Viehweg erscheinende altehrwürdige, 1907 gegründete „Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie“ „in Gang zu bringen.“60 Hier sollten seit Mitte der fünfziger Jahre zahlreiche Wissenschaftler, die Carl Schmitt nahestanden, eine Plattform finden. Für die erste Nummer der ursprünglich von Schnur und Sombart geplanten Zeitschrift war ein Aufsatz Nicolaus Sombarts über Max Webers Wissenschaftslehre vorgesehen. Der nicht publizierte Text liegt im Nachlass vor. Er vermittelt einen Eindruck von seinem Max-Weber-Bild zu jener Zeit und nimmt bereits Motive vorweg, die in seiner späteren Abrechnung mit dem Großmeister der deutschen Soziologie Mitte der siebziger Jahre wieder auftauchen.61 In Frankfurt besucht Sombart zusammen mit „Tutti“ Fischer eine Lehrveranstaltung von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer und ist beeindruckt. Im Rückblick wird er die beiden Philosophen der Frankfurter Schule indes für den Verlust kultureller Maßstäbe in Deutschland verantwortlich machen. Eine „Generation von Zynikern, Bildungsverweigerern und auch Sinnverweigerern“62 sei von ihnen herangezogen worden. Der Siegeszug der Kritischen Theorie habe in beängstigender Weise zur Verunsicherung und Verwirrung der Geister beigetragen. Mit ihrer Kritik des bürgerlichen Subjekts habe die Frankfurter Schule genau das erreicht, „was sie verhindern wollte: die Zerstörung der geistigen Grundlagen des europäischen Humanismus.“63 Als Schüler Carl Schmitts und Alfred Webers hielt Sombart zeitlebens Distanz zu den von Hegel und Marx inspirierten Vertretern der Frankfurter Schule. Obwohl er selbst unter den geistigen Einfluss der 68er-Bewegung geriet und sich intensiv mit dem anarchistischen Zweig der Psychoanalyse beschäftigte, blieben ihm die geistigen Ziehväter dieser rebellischen Generation suspekt. Mit einer „Verunsicherung und Verwirrung der Geister“ ist offenbar die Fundamentalkritik an der kapitalistischen Gesellschaft und der sie tragenden Pfeiler der Kultur gemeint. Dabei hatte die Kritische Theorie nichts anderes im Sinn, als die durch den Nationalsozialismus diskreditierte bürgerlich-humanistische Tradition durch Reflexion ihrer Bestände zu retten. Für die von Sombart später betriebene Zukunftsforschung ließen sich ihre Gesellschaftsanalysen freilich kaum gebrauchen. Der „kleine jüdische Professor

60 Vgl. Nicolaus Sombart an Carl Schmitt. Brief vom 17.9.1952, in: Tielke, Schmitt und Sombart, S. 55. Schnur wurde 1955 Redaktionssekretär des „Archivs für Rechts- und Sozialphilosophie“. Vgl. Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens, S. 282f. Siehe auch Kapitel V dieser Arbeit. 61 Siehe Kapitel VII dieser Arbeit. 62 „Retten die Frauen das Feuilleton, Herr Sombart?“ Nicolaus Sombart im Gespräch mit Tilman Krause. In: Der Tagesspiegel vom 27. Januar 1995, S. 22. 63 Sombart, Rendezvous mit dem Weltgeist, S. 290.

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mit dem Linksdrall“64 - wie Sombart Adorno nennt – ist dem antimarxistischen Soziologen ein Dorn im Auge. Die „Zerstörung der geistigen Grundlagen des europäischen Humanismus“, die Sombart dem Denken Adornos anlastet, hatte sich längst 1933 und in den Jahren davor vollzogen, initiiert und verantwortet von Repräsentanten des deutschen Bildungsbürgertums, von denen nicht wenige im Salon seiner Eltern ein- und ausgingen. Dagegen war es die Frankfurter Schule, welche die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus und der NS-Vergangenheit zu einem zentralen Thema ihrer Forschungen erhob, zu einer Zeit, da Nicolaus Sombart noch im Bannkreis seines Mentors Carl Schmitt verharrte.65

64 Sombart, Pariser Lehrjahre, S. 213. 65 Neben der Frankfurter Schule sind hier auch die Schriften von Margherita von Brentano (1922–1995) zu nennen, neben Hannah Arendt die Grande Dame der deutschen Nachkriegsphilosophie.

IV.

Zwischen Wissenschaft und Erotik. Pariser Lehrjahre

„Lehrjahre im vorzüglichen Sinn sind die Lehrjahre der Kunst zu leben.“ Novalis, Fragmente

Die erste Paris-Reise Nicolaus Sombarts fand im Januar 1951 statt. Er war damals 27 Jahre alt und arbeitete als Lektoratsassistent beim S. Fischer Verlag in Frankfurt. Schon bei einer Lesung aus „Capriccio Nr. 1“ auf der Tagung der Gruppe 47 in Bannwaldsee hatte ihm die Gastgeberin Ilse Schneider-Lengyel zum Abschied gesagt: „Mir hat sehr gefallen, was Sie gelesen haben. Aber Sie gehören nicht hierher. Sie gehören nach Paris. Kommen Sie mich besuchen, wenn Sie dort sind.“1 Die Reise, die der Herstellung von Verlagskontakten diente, ermöglichte ihm die Verlegerin „Tutti“ Fischer, die zusammen mit ihrem Mann Gottfried Bermann Fischer den Verlag leitete. Sie protegierte den jungen Sombart und hatte ihn auf der Tagung der Gruppe 47 „von der Stelle weg für ihr Lektorat engagiert.“2 Für Sombart war „Tutti“ Fischer „eine königliche Frau“, so wie ihm das Ehepaar Fischer als ein königliches Paar erschien. Mit diesem Prädikat hatte er schon seine Eltern bedacht, wenn sie sich auf einen Empfang oder Ball vorbereiteten. Er wird – wie wir sehen werden – das Etikett noch für andere außergewöhnliche Paare aus Geschichte und Gegenwart verwenden. Gemessen an den durch das Elternhaus gewonnenen Maßstäben war für den jungen aufstrebenden Sombart die Lebenssituation eines Lektoratsassistenten mit einem nur geringen Monatsgehalt unzumutbar. „Ich gewann eine Anschauung von dem Abgrund, der sich zwischen der materiellen Misere des kleinen Angestellten, zu dem ich geworden war, und der großbürgerlichen Daseinssphäre meiner Arbeitgeber und Brotherren, und das waren die Fischers jetzt, und ihrem so selbstverständlichen Lebensstil auftat.“3 Die Protektion, die man ihm angedeihen ließ, und die Sonderstellung, die er für sich beanspruchte und die ihm auch eingeräumt wurde, entfremdeten ihn den Verlagsangestellten und waren Anlass für Konflikte. Wegen des Ärgers mit missgünstigen Sekretärinnen und Kollegen, vor allem aber wegen der schlechten Bezahlung – rechtfertigt er sich später gegenüber seiner Mutter – , habe er es für angebracht gehalten, die Stelle aufzugeben.4 Seinem Mentor Carl Schmitt berichtet er, nach der Rückkehr von einer Reise sei ihm die

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Sombart, Rendezvous mit dem Weltgeist, S. 147. Ebd., S. 279. Ebd., S. 281. Vgl. Nicolaus Sombart an Corina Sombart. Brief vom 8.2.1952. NL N. Sombart 405, 1737.

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Entlassung aus einem engeren Mitarbeiterverhältnis mitgeteilt worden, „‚um mir die Möglichkeit zu geben, mich ganz meinen eigenen Plänen und Arbeiten zu widmen‘.“5 Diese Pläne sahen einen längeren Forschungsaufenthalt in Paris vor. Ab November 1951 winkten Sombart ein einjähriges Stipendium des französischen Staates und ein Folgestipendium der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, der Vorgängerinstitution der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Paris. Stadt der Frauen Ein Paris-Aufenthalt war immer ein Traum von Nicolaus Sombart gewesen. Im Elternhaus hatten die Erzählungen der Mutter von ihren Reisen in die Stadt die Phantasie des Kindes angeregt. Die Sombarts bezogen französische Zeitschriften und Modemagazine. Mit Werken der französischen Literatur wurde der Jugendliche schon früh vertraut. Auch die französische Sprache erlernte er – unterrichtet von einer französischen Gouvernante – , so dass es ihm nicht schwerfiel, in Paris zurecht zu kommen. Die Stadt hatte sich Anfang der fünfziger Jahre noch ihren Nimbus als Ort erotischer Freizügigkeit bewahrt. Entsprechend hoch gesteckt waren die Erwartungen des deutschen Besuchers. Zu den Stereotypen im Kopf gehörte die Vorstellung von der französischen Metropole als einem Sündenbabel. Es waren vor allem die Pariserinnen, an denen sich die Träume des jungen Mannes entzündeten. Einem längeren Forschungsaufenthalt in Paris lag die Entscheidung für eine akademische Laufbahn zugrunde. Diese Entscheidung war Nicolaus Sombart nicht leichtgefallen, wie ein Brief an seine Mutter Corina aus Kampen/Sylt enthüllt. Er verbrachte dort im Hause seiner Halbschwester Cläre Creuzfeldt die Sommerferien und nutzte die Gelegenheit, um seine Lage zu überdenken und über seine Möglichkeiten und Chancen Rechenschaft abzulegen. „Das wichtigste Ergebnis ist, dass ich meine literarischen Ambitionen – für die nächsten fünf Jahre wenigstens – liquidiert habe, und zu dem Entschluss gekommen bin, mich jetzt doch mit allen Kräften und ganz systematisch auf die ‚Wissenschaften‘ zu werfen, – mit dem Ziel, mich in zwei, drei Jahren zu habilitieren.“6 Das gewählte Habilitationsthema galt Pierre Simon Ballanche, einem Schüler Saint-Simons, und der soziologischen Theorie der Elite. Mit Paris, so hoffte der frisch promovierte Soziologe, werde sein eigentliches Leben beginnen. Die Jugend in Berlin, das Studium in Heidelberg und die Reise

5 Nicolaus Sombart an Carl Schmitt. Brief vom 28.6.1951. In: Tielke, Schmitt und Sombart, S. 43. 6 Nicolaus Sombart an Corina Sombart, Brief vom 24.9.1951. NL N. Sombart 405, 1737.

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nach Italien waren nur Vorstufen auf diesem Weg. Dem Heidelberger Studenten galt Paris als die Hauptstadt der Revolution und der Freiheit. Sombart war sich sicher: Es besteht ein unüberbrückbarer zivilisatorischer Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich, insbesondere zwischen Paris und Berlin, der auch nach dem zweiten Weltkrieg weiter existiere. Dieser Gegensatz artikuliere sich in den Büchern „deutscher Männer“ der Väter- und Großvätergeneration. Die deutsche Kultur werde der französischen Zivilisation gegenübergestellt und als höherwertig begriffen. Anti-Liberalismus und Anti-Parlamentarismus gehen einher mit Misogynie und Paris-Phobie. In Paris sei die Rolle der Frauen „eine andere als in der preußisch-protestantisch-professoralen Welt“7 seines Vaters. Die Männerwelt werde gegen eine Welt verteidigt, in der die Frau herrsche. Die Frau repräsentiert für die deutschen Männer das Urbane, während der Mann das heroisch-soldatische Prinzip verkörpert. „Nach Paris zu gehen, heißt für einen Deutschen immer, sich den Zwängen der deutschen Männergesellschaft zu entziehen – auszuschweifen in das Reich der Mütter.“8 Es ist dies ein längst historisch gewordenes Paris-Bild, das sich in den Jahren, als sich der junge Sombart in der Stadt aufhielt, zwar noch behauptete, in den Jahrzehnten danach aber an Überzeugungskraft einbüßte. Sombart ist in seiner Paris-Verherrlichung der typische Vertreter einer Generation, für die die Stadt eine Projektionsfläche unbefriedigter erotischer Wünsche bildete, mochten sie aus der Schweiz anreisen wie der Schriftsteller Paul Nizon oder aus Deutschland wie Nicolaus Sombart. In der nachfolgenden Generation ist dieses Paris-Bild zusehends verblasst. Die Stadt der Freiheit und der Liebe unterscheidet sich in ihrem Unterhaltungsangebot und ihrem Flair heute kaum noch von anderen Metropolen Europas wie London oder Berlin. Die Reise ins „Reich der Mütter“ bedeutete für Sombart nicht die Suche nach zärtlicher Geborgenheit im Mutterschoß, sondern das Verlangen nach sexueller Freizügigkeit eines in Heidelberg und Neapel in seiner Libido offenbar unbefriedigt gebliebenen jungen Mannes. „Paris war nicht darum so attraktiv, weil man dort freiheitlicher denken, sondern auch weil man dort freier lieben konnte.“9 Außerdem fehle es in Deutschland, und das galt auch für Heidelberg und Frankfurt, an Großzügigkeit und Eleganz. Berlin – Sombart hat seine Heimatstadt kurz vor Beginn seines Pariser Aufenthalts im Herbst 1951 zum ersten Mal nach dem Krieg wiedergesehen – war als Metropole abgeschrieben. Außerdem herrschten dort noch die preußischen Sekundärtugenden. Als Sombart Anfang der achtziger Jahre nach Berlin zurückkehrte und sich dort niederließ, hatte sich die Situation grundlegend

7 Nicolaus Sombart, Pariser Lehrjahre 1951–1954. Leçons de Sociologie, Hamburg 1 1994, S. 13. 8 Ebd., S. 22. 9 Ebd., S. 21.

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gewandelt. Er genoss dort nun alle Formen sexueller Libertinage, die – wie sein „Journal intime“ enthüllt – selbst seine Pariser Abenteuer in den Schatten stellen sollten.

Parvenüallüren Über Nicolaus Sombarts Jahre in Paris vom 1. November 1951 bis zum 1. Mai 1954 – der Aufenthalt wurde durch mehrere Reisen unterbrochen – unterrichten uns seine Briefe an Carl Schmitt und Corina Sombart, vor allem aber der 1994 erschienene Erinnerungsband „Pariser Lehrjahre“, in dem der siebzigjährige Sombart von seinen Erlebnissen in der französischen Metropole erzählt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass quälende Sorgen und wiederkehrende Selbstzweifel, die er in seinen Briefen offen anspricht, im milden Licht der Erinnerung an Bedeutung verlieren oder gar nicht erst erwähnt werden. In seinem ersten Brief an die Mutter vom 16. November 1951 berichtet Nicolaus Sombart von seinen Plänen. Die Rede ist von kleinen Feuilletons und einem großen Aufsatz über Alfred Weber für die Zeitschrift „Der Monat“, der allerdings nicht recht vom Fleck kommt. Er fühle sich Weber zu sehr verpflichtet und sei nicht frei genug, um den richtigen Abstand herzustellen. Ausführlich schildert er der Mutter seine Auftritte in der Pariser Gesellschaft. Dabei kann er an die Verbindungen seiner Eltern aus der Vorkriegszeit anknüpfen. So erzählt er von einem Diner bei der Comtesse de Vogüé, einer Grande Dame, die in einem prunkvollen Appartement mit kostbaren Möbeln, echten Gemälden und Dienerschaft residiert und von seinen Verbindungen zur Botschafterfamilie de Margerie, mit der die Eltern vor dem Krieg in Berlin verkehrten. Er studiert an der Sorbonne und hört Vorlesungen des Philosophen Jean Hippolyte über Henri Bergson. Corina Sombart besucht ihren Sohn in Paris um die Jahreswende 1951/1952. Sie ermahnt ihn, sich nicht zu sehr zu zersplittern und sich mehr seinem Studium zu widmen. Nicolaus Sombart nimmt sich diese Ermahnungen zu Herzen und antwortet mit einem langen Brief, in dem er Bilanz über seinen nunmehr dreimonatigen Paris-Aufenthalt zieht und seine Lage mit schonungsloser Offenheit schildert. Da dieser Brief, eine ungeschminkte Bestandsaufnahme seiner Aktivitäten nach dem Krieg, als Korrektiv zu seinen späteren autobiographischen Schilderungen gelesen werden muss, soll dieses Dokument in nahezu vollständiger Länge zitiert werden:

Parvenüallüren

Paris, den 24. Januar 1952 Liebe Mama, […] Zunächst einmal kann ich Dir ganz aufrichtig gestehn, dass ich alle Gefahren und Misslichkeiten meiner momentanen Existenz genauso deutlich und mit nicht weniger Beunruhigung sehe, wie Du. Vielleicht sogar noch schärfer und mit weniger Wohlwollen. Was mich aber in einen Zustand der Lähmung und Angst versetzt, ist, dass ich überhaupt keinen Ausweg sehe, mich aus dieser Lage zu befreien. Du stellst die Frage, wo der Nicolaus geblieben sei, der voller Ideale und Pläne aus dem Krieg zurückgekommen sei. Genau dieselbe Frage stelle ich mir auch. Auch frage ich mich, wo mein ‚Lebensideal‘ geblieben ist … Ich habe nur eine sehr grobe und lapidare Antwort darauf: sie sind zum Teufel. Wie das geschehen ist? Ich erkläre es mir so: Ich kam aus dem Krieg zurück, ahnungslos, voller guter Absichten, voller aufgestauter Energien. Ich hatte keine Vorstellung von den materiellen Voraussetzungen des Lebens, nicht nur, weil ich aus einem Milieu stammte, in dem die Verheimlichung und Verschleierung dieser Seite des Daseins zum guten Ton gehörte, sondern auch weil ich in den Jahren, in denen man langsam eine Ahnung davon bekommt, bei der Armee war, wo ich, bei allen Ärgernissen, frei von der Notwendigkeit war, mich um meinen Unterhalt zu kümmern. Gut, ich kam nach Heidelberg und wurde Student, und die seltsamen Bedingungen, der allgemeine ‚Ausnahmezustand‘ der ersten Nachkriegsjahre, hinderte mich daran, mir über die entscheidende Tatsache meines Lebens klar zu werden: die Deklassierung und völlige Verarmung meiner Familie. Mit einem CARE-Paket und einem alten Anzug aus Amerika war ich durchaus auf der Höhe der Situation. Außerdem konnte ich damals mit zwei Zeitungsartikeln so viel verdienen, wie heute ein Universitätsprofessor im Monat. So, ahnungslos, fuhr ich nach Italien, und begriff da immerhin schon Eines: was es heißt, arm zu sein. Doch ich konnte noch von der Sondersituation Deutschlands profitieren. Mein Schicksal war noch verdeckt durch das Kollektivgeschick meines Volkes. Wenn ich mit meinen neapolitanischen Freunden nicht nach Capri fahren konnte, weil ich keinen Pfennig hatte, so machte das nichts aus, ja es gab mir ein gewisses Prestige, ich war der povero tedesco … Nach meiner Rückkehr nach Deutschland änderte sich die Sache. Unser gemeinsames Leben, die ständigen Geldsorgen, das ständige Umdrehen von Pfennigen, die Erniedrigungen denen Du und ich uns aussetzen mussten, machten mir langsam, l angs am sage ich, klar, was eigentlich los war. Parallel zu diesen persönlichen Erfahrungen liefen meine Studien als ‚Soziologe‘ - ich lernte, dass es nicht ‚Menschen‘ schlechthin gibt, (wie man uns auf der Schule weismachen wollte) - sondern solche, die in einer gegebenen Gesellschaftsordnung etwas darstellen und solche, die es nicht tun. Und dass alles darauf ankam, zu der ersten Kategorie zu gehören, dass aber diese Kategorie, man kann sagen was man will, durch ein gewisses Minimum an Besitz gekennzeichnet war. Das alles war noch gar nicht

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tragisch, denn ich wusste sehr wohl, dass ich durch Herkunft und Namen noch irgendwie ‚dazu‘ gehörte, dass ich keineswegs die gleiche Ausgangsstellung hatte, wie, sagen wir mal, ein Arbeitersohn. Aber da war etwas Anderes: ich lernte langsam und in einer Folge bitterster kleiner Enttäuschungen, dass jenes ‚Lebensideal‘, das ich aus meiner Jugend und den Träumen meiner Soldatenjahre mitgebracht hatte, in einem krassen Missverhältnis zu meinen tatsächlichen Bedingungen stand. In einem Missverhältnis, das durch nichts, durch überhaupt nichts, – es sei denn durch ein Wunder, – behoben werden könnte. Auf keinen Fall sicher durch Arbeit. Denn so wie meine Begabungen und Interessen, und vor allem die Ausbildung, die ich ahnungslos und alten traditionellen Vorbildern folgend, gewählt hatte, versperrten mir den Weg in die Bereiche des ‚Geldverdienens‘ im wahren Sinne des Wortes. Ich war weder Jurist noch Mediziner noch Kaufmann (oder wollte es sein), um mit einer gewissen Sicherheit in einem gewissen Alter eine ‘Situation‘ innehaben zu können. Ich wollte den ‚geistigen‘ Idealen leben, auf die ich so stolz war, mich der ‚Wissenschaft‘ widmen, wie Vater und Großvater, – oder, ich wollte erzählen, was ich dachte und träumte, das heißt, ‚Schriftsteller‘ werden. Sehr schön, sehr gut. Nur musste ich begreifen, dass ich, wie die Dinge lagen, auf dem Wege der Wissenschaft ein Leben lang nicht über die Hungerleiderei hinauskommen würde, die mich Jahr um Jahr mehr bedrückte, und dass ich als Schriftsteller entweder mir sofort einen Strick kaufen könnte, oder mich aber ständig und dauernd – in der Presse – hätte prostituieren müssen. (Was ich nebenbei gesagt schon tat und tun musste.) So also sah es mit den ‚Lebensidealen‘ aus. Und wenn man nun zurücksah, um sich zu erklären, wie es denn der gute Papa getan hatte, so lernte man eben, als Soziologe der ‚Wissenschaft‘ und als Sohn, dass er der Sohn eines Mannes war, der an seinem Lebensende nicht mehr und nicht weniger als eine Million Goldmark an vier Kinder vererbte … Bist Du so naiv zu glauben, dass mein (oder Dein) Vater ein e i nz ige s Mal in ihrer Jugend darüber nachdenken mussten, ob sie lieber essen wollten, oder sich ein Buch kaufen, das sie dringend brauchten? Dass sie jemals in der Verlegenheit waren, nichts anzuziehen zu haben oder nicht zu wissen, wo sie die nächste Nacht schlafen sollten? Ich versichere Dich, dass das nie der Fall war, ebensosehr wie ich Dir versichern kann, dass ich die Jahre nach dem Krieg, mit wachsendem Bewusstsein in der Atmosphäre dieser mesquinen, niederträchtigen, minderwertigen Sorgen verbracht habe! Doch ich habe nicht klein beigegeben. Ich habe meinen Standard – mein ‚Lebensideal‘ zu erhalten versucht. Ich habe nur wenige Kompromisse zu machen versucht und nach Außen versucht, das Gesicht zu wahren. Doch siehe da: ich habe mich getäuscht. Ich habe - in Frankfurt – lernen müssen, dass man nicht ohne Deformationen solche Sachen durchmacht. Ich habe an mir einen scheußlichen Fehler entdecken müssen: das, was Du meine Parvenueallüren nennst und was andere Freunde meinen Geldkomplex genannt haben. Wie jemand der eine kleine Wunde hat, die er nicht pflegen kann, weil sie an einer Stelle liegt, die er nicht schonen kann, ohne sich außer Aktion zu setzen, hat mich mein dauerndes Leben in der materiellen Misere hyperempfindlich für d i es e n Aspekt der Existenz gemacht. Weniger der Mangel selbst, als das bewusste Missverhältnis dieses Mangels

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zu meinen bescheidensten und legitimsten Erfordernissen. Vor allem aber eines, und das war die Krönung meiner Einsicht in die Wahrheit meiner Deklassiertheit und Pauperisierung: ich habe lernen müssen, dass ich nicht unabhängig bin. Dass ich nicht Nein sagen kann, wo ich möchte, und dass ich ein Leben vor mir habe, in dem ich tun muss, was anderen, mächtigeren, passt. Ich muss entweder betteln (Stipendien) oder mich verkaufen (Fischer und Zeitungen). Das alles zu wissen macht mich, wenn ich es mir klar mache, völlig wahnsinnig. Es nimmt mir jeden Mut und jede Hoffnung. Und ich sehe mit Entsetzen (genau wie Du!), wie sich seltsame, pathologische Kompensationsmechanismen einstellen, wie ich Reaktionen unterworfen werde, die ich nicht mehr kontrollieren kann, und die meine Person faktisch deformieren. Ich komme mir also vor wie ein Krüppel. Dazu kommt noch eines: dass ich im Laufe der Jahre gelernt habe, was ich mir zumuten kann, und was nicht. Ich weiß, dass ich übernatürlich viel Schlaf brauche und täglich nicht mehr als vier, fünf Stunden konzentriert arbeiten (d. h. schreiben oder intensiv lesen) kann. Das sind aber nicht die Voraussetzungen, um parforce eine Karriere zu machen. Andererseits aber weiß ich, dass ich rezeptive Qualitäten habe, die völlig verkümmern müssen, wenn ich sie nicht pflegen kann (reisen, sammeln etc.), wozu ich indessen niemals in der Lage sein werde. So leide ich auch unter der Atrophie dieses anderen Teiles meines Wesens. (Wie ich Dir scherzhaft hier in Paris einmal sagte, muss ich mich ja um die Bezahlung meines Mittagessens sorgen, statt mir Gedanken über ein schönes Bild, das ich sah, oder ein Gedicht machen zu können.) Ziehen wir also Bilanz: ich lebe mit geschenktem und erbetteltem Geld in Paris. Ich habe so viel, dass ich gerade nicht hungern muss. Schon aber eine Freundschaft zu pflegen, wie ich es möchte (Blumen schicken, einmal ein Geschenk machen) ist ausgeschlossen. Ich bin auf die Wohltätigkeit von Menschen angewiesen, mit denen ich unter ‚normalen‘ Verhältnissen überhaupt nicht verkehren würde. Mir den Kreis, die Beziehungen zu schaffen, die ich als angemessen betrachte, ist so gut wie ausgeschlossen, weil ich überhaupt keine ‚Verpflichtungen‘ akzeptieren kann. Gut, ich kann arbeiten und der Zukunft diese Dinge überlassen. Aber was kann ich mit meiner Arbeit opt ima l erreichen: ich kann in einem Jahr (!) Assistent sein, irgendwo – das heißt das g l e iche Leben irgendwo anders führen. Dann kann ich – immer den Idealfall genommen – irgendwo außerordentlicher Professor werden: großes Ereignis! Ich werde 600 DM - im Monat verdienen! Nun wird man mir erlauben, in der Zwischenzeit geheiratet zu haben und vielleicht ein Kind mein eigen zu nennen. Das würde bedeuten, dass ich mit einer Familie auch dann noch genau soweit wäre, wie heute, d. h. jedes Mittagessen überlegen müsste und wie ein Prolet mein Dasein fristen. Die bescheidene Vorstellung, vielleicht einmal eine Wohnung von drei Zimmern für mich und meine Frau zu haben, ein Dienstmädchen, die sie davor bewahrt, zur Köchin zu werden, ein paar Bücher sorglos zu kaufen, vielleicht einmal ein paar Freunde zu einem Glase Wein einzuladen, erweist sich als völlig phantastisches Hirngespinst, als utopische Wahnidee. Jeder Anzug würde mich in finanzielle Katastrophen, jeder kleine Ausflug in jahrelange Schuldnerschaft stürzen … (Von den Kleidern meiner Kinder ganz zu schwei-

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gen. Ich könnte sie nicht einmal auf die Höhere Schule schicken.) Daran ändert auch die Möglichkeit nichts, dass ich ausgezeichnete (!) Bücher schreibe. Sie bringen Trinkgelder ein! Es sei denn, ich verfasste durch Zufall einmal einen Bestseller – das aber wäre das berühmte Wunder, von dem ich anfangs sprach. (Ebenso gut kann ich eine Millionärstochter heiraten oder das große Los ziehn!) Mit einem Wort, die Misere hat kein Ende, ich muss sie als meine Condition akzeptieren, – und dazu bin ich nicht im Stande, freiwillig. Doch nützt mir mein Protest nichts! Er ist eine, (d. h. d i e andere) Form, in der mich die gleiche Tatsache korrumpiert, deformiert und seelisch ruiniert. Jetzt kommst Du daher und sagst mir, ich sollte mich nicht ‚zersplittern‘. Als ob das meine größte Sorge wäre! Warum sagst Du mir nicht, ich sollte mich nicht verkaufen, indem Du mir allerdings das Rezept gibst, was ich stattdessen tun soll, um auch nur das Nötigste zur Verfügung zu haben. […] Du kannst Dir die Demütigung wohl nicht vorstellen, die ich empfinde, wenn ich hier an der Maschine irgendeinen Dreck für Zeitungen tippe (in dem man dann doch gute Gedanken von sich verhökert) und bekomme als Honorar DM 46,70 !!!! überwiesen … Ich schriebe auch lieber an dem Ballanchebuch, – aber dafür bekomme ich keinen Pfennig, (wobei ich keinen Moment vergesse, dass ich es ja schon aufesse, womit ich mich auf andere Weise versklave.) Und das ‚Paris‘buch? Ein Witz, ein Buch über Paris zu schreiben! Ich würde jeden Menschen auslachen, der es tun wollte!! Aber ich werde 40 000 frc dafür bekommen, womit ich das Defizit auszugleichen hoffe, das natürlich schon längst in meinem Pariser Konto (NOG10 -Geld) besteht – (weil ich es eben nicht aushalten kann, täglich in der Mensa zu essen!) Außerdem kann man bei einer solchen Arbeit hoffen, dass sie auch später noch etwas (Rundfunk etc.) einbringt. Ich habe mich also verkauft – gegen besseres Wissen, um die Hoffnung haben zu können, dass ich vielleicht einmal meine Gläubiger los sein werde. Voilà, was ich zum Thema ‚Zersplitterung‘ zu sagen habe … Entschuldige vielmals, ich sehe, das ich etwas verbittert gesprochen habe. Diese Verbitterung ist nun auch nicht zu verheimlichen, aber sie richtet sich nicht gegen Dich! Im Gegenteil!! Ich weiß, dass Du ja im Grunde das gleiche Schicksal teilst, und ich kann Dir verraten, dass ich hier Nächte lang (was nie in meinem Leben der Fall war) vor Wut und Trotz wachgelegen habe, weil ich gesehen habe, wie sehr auch Du von der Misere gezeichnet und gedemütigt bist. Zu meinen Sorgen gehörst Du in erster Linie, denn ich weiß, dass ich Dir helfen müsste, Dein Alter angemessen und würdig zu verbringen, und weil ich einfach keinen Weg sehe, das zu tun. Die Armut Deiner Kleidung weniger, als Deine Sorgen und die seelischen Beeinträchtigungen, denen Du ausgeliefert bist, machen mich geradezu krank, und wenn ich hier in Paris vielleicht etwas kalt und zurückgezogen war, so lag das daran, dass ich das alles, was ich vorher nie so klar wahrgenommen hatte,

10 Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft.

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nicht s ehe n konnte. Und ich fühlte auch nicht die Kraft, Dich zu trösten oder zu belügen. Mein einziger Trost ist der, dass ich mir sage, Du hast wenigstens Dein Leben gehabt und kannst Dich mit Erinnerungen trösten. Was Du jetzt erlebst ist ein hässlicher letzter Akt, den Du, vor der Ewigkeit, wirst streichen können. Für mich habe ich aber einen solchen Trost noch nicht gefunden. […] Ich habe bisher mein Bestes getan, mehr als jeder andere mit meinen Voraussetzungen. Dazu gehört es, dass ich mit wenigen Ausnahmen den ‚lächelnden Jüngling‘ markiert habe, den ‚Optimisten‘, den ‚Glückspilz, dem schon alles gelingen wird‘. Das kann man aber nicht ewig tun. Ich werde diese Maske bald fallen lassen müssen, und ich erschrecke vor dem Gedanken, welches Gesicht dahinter erkennbar sein wird! Ich war nie in meinem Leben so verzweifelt. Und es ist gut, dass Du weit weg bist, denn wenn Du hier wärest, hätte ich es Dir nicht sagen können. Ich hätte mich vor mir selbst geekelt. [...]11

Nicolaus Sombart liefert mit seinem Brief an die Mutter einen Schlüssel für das Verständnis seiner Persönlichkeit. Es werden Themen berührt, die ihn auch in seinem weiteren Leben beschäftigen. Da ist zunächst die Situation der Deklassierung und Verarmung seiner Familie, die ihm in aller Schärfe in Paris bewusst wird. In Heidelberg und Neapel hatte er diese Situation noch einigermaßen verdrängen oder überspielen können. Da ist ferner die Erschütterung seines Lebensideals: ein geistig freies Leben als Großbürger im Stile seines Großvaters und Vaters führen zu können, ein Lebensideal, das ihn seit seiner Jugend begleitet. Wie Goethes literarische Figur Wilhelm Meister widerstrebt dem jungen Sombart die bürgerliche Tugend materieller Daseinsfürsorge. Er verschreibt sich geistigen Idealen, seien es die Wissenschaften oder die Künste. Bald wird ihm jedoch klar, dass selbst die Position eines Universitätsprofessors ihm nicht erlauben wird, jemals den repräsentativen Lebensstil seines Vaters zu erreichen. Dieser hatte von seinem Vater ein stattliches Erbe erhalten, während Nicolaus Sombart nach 1945 materiell vor dem Nichts stand. Was ihm blieb, war der Name, das Kapital seiner Herkunft. Sombart hat davon in Heidelberg und Neapel profitieren können. Zudem hatte er sich den Habitus des „lächelnden Jünglings“ angewöhnt, dem alles im Leben gelingt, ein Spiel mit der Maske, das sich auf Dauer nicht aufrechterhalten ließ. Sombart sieht die Gefahr einer charakterlichen Deformation, ein Problem, das offenbar auch Corina Sombart an ihrem Sohn wahrnimmt. Es sind die Parvenüallüren, von denen er sich nicht freispricht. Als Spross einer angesehenen Gelehrtenfamilie hätte er es eigentlich nicht nötig, als Emporkömmling aufzutreten. Gemeint ist wohl die Neigung, über seine Verhältnisse zu leben und über seine wirkliche materielle Lage 11 Nicolaus Sombart an Corina Sombart, Brief vom 24.1.1952. NL N. Sombart 405, 1737. Unterstreichungen und Hervorhebungen stammen von N. Sombart. Kürzungen wurden durch drei Punkte in eckigen Klammern gekennzeichnet. Der Brief wird auch von Tielke abgedruckt. Vgl. Tielke, Schmitt und Sombart, S. 219–224.

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hinwegzutäuschen. Man hielt ihn für einen vielversprechenden Journalisten und ein aufstrebendes Talent, dem der Erfolg in die Wiege gelegt war. Der junge Sombart verfügte über ein unerschütterliches Selbstbewusstsein. Zumindest verstand er es, in seinem Umfeld diesen Eindruck zu erwecken. Demjenigen, der ihn fragte, ob es nicht schwer sei, Sohn eines berühmten Vaters zu sein, pflegte er zu antworten, dass er es sehr viel schwerer fände, einen nicht-berühmten Vater zu haben.12 Er war der festen Überzeugung, dass ihm ein gehobenes Lebensniveau im Einklang mit seinen Lebensidealen zustand. In seinem Brief spricht er von „legitimsten Erfordernissen“, ohne sich die Frage zu stellen, was ihn eigentlich dazu berechtigte, im Unterschied zu seinen Kommilitonen ein Leben auf großem Fuße zu führen. Spätestens in Paris wird ihm das Missverhältnis zu seinen wahren Bedingungen bewusst. Da er es für unter seiner Würde hält, um Stipendien zu betteln oder sich an einen Verlag oder ein Zeitungsunternehmen zu „verkaufen“, empfindet er es als Verkrüppelung, wenn die Not ihn zu derartigen Kompromissen zwingt. So sehr er auch darunter leidet, in Paris das Leben eines armen Studenten zu führen, der gezwungen ist, mit seinem Geld zu haushalten, möchte er auf einen gewissen Luxus nicht verzichten. So leistet er sich eine Sekretärin, eine deutsche Studentin, der er zweimal in der Woche seine Texte diktiert. Nicolaus Sombart gesteht offen ein, dass ihm ein konzentriertes Arbeiten über längere Zeit, eine für eine erfolgreiche wissenschaftliche Karriere unerlässliche Tugend, schwerfällt. Seine rezeptiven Fähigkeiten empfehlen ihn – so sieht er es – eher für eine künstlerische Laufbahn. Auffallend ist, dass Sombart seiner Mutter gegenüber bemüht ist, die Professorenlaufbahn als eine wenig lukrative Perspektive erscheinen zu lassen, die ihm nur ein „Proletendasein“ beschere. Sombart ist Realist genug zu erkennen, dass, gemessen an seinen Ansprüchen, eine Universitätskarriere im Nachkriegsdeutschland ihm ein nur bescheidenes Leben ermöglicht. So findet er auch mit diesem Hinweis eine Entschuldigung für seine Unlust, kontinuierlich wissenschaftlich zu arbeiten. Denn wozu das alles? Es führe doch zu nichts. Jedenfalls nicht zur Verwirklichung seiner Lebensideale. Vor dem Hintergrund dieser Betrachtungen und angesichts so hochgestochener Ansprüche ist zu fragen, ob die Übernahme eines Beamtenpostens beim Europarat zwei Jahre später nicht einen Absturz ins bürgerliche Mittelmaß darstellt. Sombart hat sich – in seinen eigenen Worten – „verkauft“ und seine geistigen Lebensideale der Sekurität geopfert. Über diese Entscheidung sollte er freilich im Rückblick wohlwollender urteilen, denn es galt schließlich, einer noblen, generösen Sache zu dienen.

12 Vgl. Sombart, Rumänische Reise, S. 21.

Rastignac redivivus

Rastignac redivivus In der französischen Hauptstadt kommt Nicolaus Sombart in einem kleinen Hotel an der Place Dauphine auf der Ĭle de la Cité im Zentrum der Stadt unter. Er sieht sich in einer Schicksalsgemeinschaft mit Schriftstellern und Künstlern aus aller Welt, die ihr Leben mit nur geringen Mitteln, unbehaust und ohne Familie, in kleinen Hotels zubringen. Familienlos ist Sombart freilich nicht, vertraut er doch ganz auf den Nimbus seiner Herkunft, der ihm die Tore zum akademischen Establishment und zur eleganten Welt öffnen wird. Sein charmantes petit hôtel hindert ihn nicht daran, in großen Häusern zu verkehren. Er begnügt sich nicht mit der Rolle des Bohemiens, der das Bürgertum verachtet. Wie Balzacs Held Eugène de Rastignac in „Père Goriot“ will er hoch hinaus. Er sucht Anschluss an die „große Welt“. Als Nichtadliger sieht sich Sombart im Unterschied zu Rastignac in der Rolle des Helden eines bürgerlichen Erziehungsromans. Seine Reise nach Italien war demnach nicht wie für englische Adlige im 19. Jahrhundert der Auftakt zu einer Grand Tour. Dazu fehlten allein schon die finanziellen Voraussetzungen. Dennoch fand er in Italien eine Bestätigung für das, was er für seinen zukünftigen Lebensweg ersehnte. In Florenz besuchte er die Villa des rumänischen Botschafters und zum ersten Mal ahnte er, „welches die äußeren Bedingungen für ein Leben sein könnten, in dem sich Geist, Geld und Geschmack zu einer höchsten menschlichen Daseinsform verbinden, der einzigen, die ich ganz spontan und selbstverständlich als die mir angemessene empfand, auch wenn ich mich, wie in diesem Falle, fragen mußte, wo der Luxus herkam.“13 Mochten die Quellen des Luxus auch fragwürdig erscheinen, der Luxus selbst sprach seine eigene Sprache, zumal Geist, Geld und Geschmack eine Einheit bildeten. Wenn Sombart diesen Lebensstil als ihm angemessen betrachtet, so kommt hier wieder ein Bewertungsmuster zum Tragen, das ihm – wie schon in dem zitierten Brief an die Mutter – als gültiger Maßstab für ein gelungenes Leben dienen sollte. Es ist für Sombart ein unumstößliches Axiom, dass eine Gesellschaft nur von ihrer Spitze aus begriffen werden kann. Menschen der obersten Kategorie allein sind zu einem reich erfüllten Leben in der Lage. Für die wahre Selbstverwirklichung reicht es nicht, ein Bildungsbürger zu sein, sondern ein großer Herr, ein Aristokrat. Solche Männer wollen nicht etwas werden. Sie sind durch ihre Geburt bereits etwas. „Für mich lagen die Dinge anders. Mein Lebensweg war nicht seit meiner Geburt festgelegt, und wenn er das einmal war, so hatte Hitler dem ein Ende gesetzt. Ich war nichts und hatte nichts. Ich fand keinen festen Platz in der Gesellschaft vor, ich mußte mir einen Platz erst suchen.“14

13 Sombart, Pariser Lehrjahre, S. 27. 14 Ebd., S. 28.

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In der Tat war Sombarts materielle Ausgangslage schwierig. Die Situation des verarmten Bildungsbürgers unterschied sich indes kaum von der eines preußischen Landadligen, der seinen Besitz nach dem Krieg verloren hatte. Auch dieser musste sich seinen Platz in der Gesellschaft erst suchen. Er besaß wie der Professorensohn Sombart ein Herkunftskapital, das vielleicht mehr wog, denn die Familienbande des Adels waren enger geknüpft als die des Bildungsbürgertums. Im wissenschaftlich-akademischen Milieu stellte es sich jedoch anders dar. Hier bedeutete der Name Sombart zweifellos ein nützliches Startkapital. So war es in Heidelberg bei Alfred Weber und auch in Neapel bei Benedetto Croce. Und auch in Paris war der Name Sombart ein Pfund, mit dem sich in akademischen Kreisen wuchern ließ. Der Habilitand besaß zwar keine Kreditbriefe, aber Empfehlungsschreiben mit guten Adressen. Nicolaus Sombart versuchte, seiner ungesicherten sozialen Lage etwas Positives abzugewinnen. Er betrachtete – wie er in den „Pariser Lehrjahren“ schreibt – sein Leben als ein Experiment. Das bedeutete für den jungen Soziologen, die Gesellschaft in allen ihren Facetten, in ihren oberen und unteren sozialen Segmenten, zu studieren. Das Paris der einfachen Leute sollte er jedoch nicht in seine Studien einbeziehen. Mit Angehörigen dieser Schicht hatte er erstmals in seiner Militärzeit Bekanntschaft gemacht. Diese „Typen“ waren damals seine Schicksals- und Leidensgenossen. Die Begegnung mit ihnen war für den Sohn aus gutem Haus ein Schock. „Ich fand mich unversehens unfreiwillig auf der Seite derer, die im Dunkeln stehen. Ich lernte die Welt von ‚unten‘ sehen und verstehen.“15 Die Erfahrung des Obergefreiten mit Angehörigen der Unterschicht verbindet ihn mit Mitgliedern der Gruppe 47. Dennoch bleibt ihm der kulturelle Hintergrund, den Menschen kleinbürgerlich-proletarischer Herkunft und Erziehung in sich tragen, fremd. Für die Gruppe 47 findet er im Rückblick denn auch kritische Worte. Durch sie sei eine vom Kleinbürgertum getragene Literatur zu Ehren gekommen, während bürgerlich-mittelständische ästhetische Ideale und Lebensformen verdrängt worden seien. In dieser Einschätzung sieht sich Sombart durch ein deutsch-französisches Schriftstellertreffen, das 1953 in Paris stattfand, und über das er für die Wochenzeitung „Die Zeit“ berichtete, bestätigt. Der Unterschied im Habitus von französischen und deutschen Kulturrepräsentanten sei frappierend. „(…) da waren sie, die ‚jungen Schriftsteller‘ der Gruppe 47, in ihren ungepflegten, ärmlichen Klamotten, ich sah das alles mit den spöttisch mitleidig misstrauischen Blicken der Pariser Herrschaften, des Clan, da waren sie, die Barbaren aus der Steppe!“16 Sombart suchte Abstand zu einem Milieu, das der jungen deutschen Literatur seinen Stempel aufdrückte.

15 Ebd., S. 260. 16 Ebd., S. 264.

Rastignac redivivus

Das Leben der einfachen Leute hatte dem Bildungsbürger kulturell nichts zu bieten und war nicht Teil seiner soziologischen Explorationen. Diese Leute bildeten nur die Staffage für das Leben der Erfolgreichen. Für Angehörige der literarischen Armutsboheme, die keinerlei Verbindung zur „großen Welt“ besitzen, hat er nur Spott und Geringschätzung übrig. So wie Sombart mit einem gewissen Recht registriert, der soziologische Blick von unten auf die Oberschicht sei vom Ressentiment durchtränkt, so ist es der Blick des weniger erfolgreichen Schriftstellers auf diejenigen, die es zu Erfolg gebracht haben. So stellt er nicht ohne Ranküne fest, der berühmteste deutsche Roman der Nachkriegszeit, die „Blechtrommel“ von Günter Grass, sei nicht in einem petit hotêl, sondern in „einem Souterrain, einem Kellerloch“, in der Gegend der Métro-Station Maison Blanche, einem Viertel, „in dem man gar nicht wohnen kann (…)“17 , entstanden. Für die Bewohner dieses Viertels lag die Welt der vornehmen Stadtbezirke, die ihre Welt – le monde – als die einzig wahre betrachtet –, allerdings in weiter Ferne. Die Perspektive des Kellerlochs – so Sombart – ist für einen Soziologen die allerschlechteste, um die Gesellschaft zu verstehen.18 Da der junge Wissenschaftler allerdings selbst an seiner Verarmung und Deklassierung litt, wenn er auch nicht zu den Kellerlochbewohnern zählte, musste es sein Bestreben sein, sich vom Ressentiment zu befreien und alles zu unternehmen, um Zugang zu den oberen Schichten zu erlangen. Was lag näher, als sich mit Balzacs Helden Rastignac, einem typischen Emporkömmling, zu identifizieren? Dessen Erfolgsrezept schien im Paris der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts immer noch vielversprechend. Sombarts nächster Schritt führte ihn folgerichtig in die Welt der Frauen und der Salons. Diese Welt war zwar stark dezimiert und nicht mehr so exklusiv wie zu Balzacs und Prousts Zeiten, aber immer noch von großer Anziehungskraft. Es gab sie noch, die großen Damen, zumindest einige ältere Exemplare dieser Spezies, die ihres Amtes als Schiedsrichterinnen des guten Geschmacks walteten. Sombart kam zur rechten Zeit, um sie noch kennenzulernen und sich von ihnen Hilfe und Protektion beim sozialen Aufstieg zu versprechen. Was Nicolaus Sombart in seinem Rechtfertigungsversuch gegenüber der Mutter vom Januar 1952 selbstkritisch als Allüren eines Parvenüs bezeichnet, wird von ihm durchaus positiv mit der Figur des Snobs verknüpft. Snobismus als unersetzliches Aufstiegsrezept. Man muss sich den Regeln der guten Gesellschaft anschmiegen, mit ihnen virtuoser umgehen können als jene, die immer schon dazu gehören. Nun war Sombart zwar davon überzeugt, durch familiäre Herkunft zur guten Gesellschaft zu gehören. Das Einzige, was ihm in Paris fehlte, war eine gefüllte Brieftasche. 17 Ebd., S. 259. 18 Dostojewskis Erzählung „Aufzeichnungen aus einem Kellerloch“ (1864) belegt dagegen, dass die Perspektive des gesellschaftlichen Außenseiters mehr über die seelische Befindlichkeit des modernen Menschen ans Licht zu bringen vermag als die Oberschichtenperspektive des Soziologen.

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Alles andere stand ihm in hohem Maße zur Verfügung: das Selbstbewusstsein, ein Anrecht darauf zu haben, dazuzugehören und die vollständige Identifikation mit den Werten der „guten Gesellschaft“. Diese waren, so schien es, in Paris noch intakt. Was lag näher, als Distanz zu seinem Herkunftsland zu suchen, wo dieses Wertesystem nach dem Krieg in Trümmern lag? Bevor die erotischen Erfahrungen des Paris-Besuchers und ihre erkenntnisfördernden Folgen erörtert werden, soll zuvor die Sphäre der männlichen Wissenschaft gestreift werden, die ihre eigenen Geheimnisse dem neugierigen Blick nicht verschließt.

Begegnung mit bedeutenden Männern Der Eintritt Nicolaus Sombarts in die Pariser Gesellschaft wird ihm durch ein Diner ermöglicht, das der Germanist Pierre Bertaux, ein Freund „Tutti“ Fischers, der damals das Amt eines Pariser Polizeipräfekten bekleidete, für ihn ausrichten lässt. Auf Wunsch Sombarts wurden „bedeutende Männer“ und „schöne Frauen“ eingeladen. In die Freude des Wiedererkennens eines Rituals, das er „als eine Art kulturellen Atavismus“ in sich trage, mische sich die Genugtuung, „nach so vielen Jahren der Entbehrung, des Ausgeschlossenseins, wieder in die Welt einzutreten, wie sie meinen Vorstellungen entsprach (…).“19 Gastgeberin ist die Dame des Hauses, Denise Bertaux, eine Tochter des Schriftstellers Jules Supervielle, eines vornehmen Herrn alter Schule, für den die Poesie einen seigneurialen Zeitvertreib darstellt. Zu den Anwesenden zählen prominente Figuren der literarischen Welt, unter ihnen der Philosoph Émile Cioran, ein Landsmann der Mutter Sombarts. Wenn Bertaux den jungen Deutschen „von oben“ in die Pariser Gesellschaft einführt, so ist dies ein Zeichen von Dankbarkeit für die ihm selbst in der Vergangenheit von Berliner Freunden zuteil gewordene Unterstützung. Er war in den zwanziger Jahren zu Studienzwecken in der Reichshauptstadt gewesen. Pierre Bertaux gehört für Sombart zu jener Kategorie von Männern, in denen der Wissenschaftler und der große Herr in vorbildlicher Weise miteinander verschmelzen. „Für mich war er ein Vorbild. Ein Mann des Geistes und ein Mann von Welt, der höchsten Ernst mit der Leichtigkeit des Spiels zu verbinden verstand, désinvolture und die Treue zu seinen Idealen.“20 Dieser Typus gehört zweifellos zur guten Gesellschaft. Er steht aber auch über ihr. Er bewahrt sich seine geistige Unabhängigkeit und lässt sich von ihr nicht seinen Verhaltenskodex und sein Wertesystem diktieren.

19 Pariser Lehrjahre, S. 76. 20 Ebd., S. 100.

Begegnung mit bedeutenden Männern

Das nächste Diner für Sombart richtet eine junge Dame der Gesellschaft aus, die er bei Bertaux kennenlernt. Die liebenswürdige Gastgeberin spielt ihre Rolle „mit der vollkommenen Grazie einer femme du monde.“21 Sie führt ihn in ein mondänes Restaurant aus, wo man sie kennt, und ihr mit dem Respekt begegnet, der ihr als Dame der Gesellschaft gebührt. Mit ihr beschreitet Sombart den „Königsweg zum Zentrum exklusiver Kernbereiche des Pariser Lebens.“22 Mit ihr sieht er die Stadt nicht nur von außen. Er erlebt sie von innen. Dieses Innere bildet das Leben der Pariser Oberschicht, während alles jenseits dieser Sphäre den jungen Soziologen wenig verlockend erscheint. Dem Philosophen Émile Cioran widmet Nicolaus Sombart in seinem ParisBuch ein eigenes Kapitel. Im Salon Bertaux‘ war er ihm durch seine abgerissene Kleidung und seine provozierenden Bemerkungen aufgefallen. Durch sein Buch „Précis de décomposition“ (deutsch: Lehre vom Zerfall) wurde er in den Kreisen der Pariser Intelligenz zu einer prominenten Erscheinung. In seiner Korrespondenz mit Carl Schmitt schildert Sombart den Eindruck, den Cioran auf ihn gemacht hat. „Seine unsagbar unsympathische ‚mine‘, mit abgeknabberten Fingernägeln und verdrucksten Fragen – sein Genie ist nie sentimental (...).“23 Schmitt zieht aus dem Bericht seines Schützlings den Schluss, Cioran entspreche dem Bild des echten Kynikers. Sombart lässt sich trotz des abstoßenden Äußeren des Philosophen gleichwohl von dessen Geist faszinieren. Cioran sei ein Beispiel, wie man durch ein gutes Französisch und einen geistreichen Essay in der Tradition der französischen Moralisten des 17. und 18. Jahrhunderts Karriere machen könne. Sein sich ausbreitender Ruhm öffnete ihm die Salons der beau monde. Sombart erkennt im Denken Ciorans eine gewisse Nähe zu Carl Schmitt. „Meine Abwendung von Carl Schmitt begann mit dem Schauder, den mir Ciorans Traktat einflößte.“24 Gemeint ist Ciorans Werk „Geschichte und Utopie“, in dessen negativer Anthropologie und nihilistischer Theorie des Politischen Sombart auf die Spitze getriebene Gedanken des Staatsrechtlers wiedererkennt. Für Sombart ist Cioran, der in einem miserablen Hotel im Quartier Latin haust, der typische Kellerloch-Bewohner. „Er wappnet sich gegen die Verlockungen der großen Welt, die ihm unzugänglich ist, indem er sie herabwürdigt und schmäht. Ohne sie wäre er jenes Nichts, das er ständig gegen sie als letzte Wahrheit ins Treffen führt.“25 Dabei war der um zwölf Jahre ältere Cioran längst zum Star avanciert, und die Pariser Salonwelt drängte sich, ihn zu empfangen.

21 22 23 24 25

Ebd., S. 84. Ebd., S. 99. Nicolaus Sombart an Carl Schmitt. Brief vom 17.1.1951. In: Tielke, Schmitt und Sombart, S. 37f. Pariser Lehrjahre, S. 105. Ebd.

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Sombart erkennt einen Zusammenhang zwischen dem Erfolg der „nihilistischen Sirene“ und seiner „maghrebinischen Schlitzohrigkeit“. Diese Qualität habe er mit anderen Schriftstellern aus Südosteuropa gemeinsam: Paul Celan und Gregor von Rezzori. Während Cioran aus Hermannstadt stammt, kommen Celan und Rezzori aus Czernowitz. Für Sombart sind diese Orte Provinznester an der äußersten Peripherie Europas. Sie alle wollten heraus aus dieser Ödnis, nach Bukarest, dann nach Wien oder Berlin. Ihr Traumziel sei jedoch Paris, wo sie ihr kulturelles Kapital, die Erfahrungen aus den multikulturellen Milieus ihrer Herkunft und ihre besondere Sprachbegabung, zu nutzen wissen. Dabei verstünden sie sich auf alle Tricks und führten ihr Publikum an der Nase herum. „Im Geunke Ciorans, in der Celanschen Litote, in Rezzoris Geflunker finden wir dasselbe Grundmuster. Der eine erschreckt uns mit seinen Selbstmordtheorien, lebt aber vergnügt bis ins hohe Alter. Der andere foppt uns mit hermetischen Versen, friß, Vogel, oder stirb. Der dritte entzückt uns mit Lügengeschichten, in denen er seinen ‚Familienroman‘ inszeniert.“26 Das „merkwürdige Trio“ aus dem letzten Winkel Rumäniens sei zu Weltruhm gelangt, ihr Erfolgsrezept, ihre Methode der Bluff. Sombarts Deutung der Karrieren der Autoren, mit denen er durch seine rumänische Mutter landsmannschaftlich verbunden ist, forderte einen von ihnen, Gregor von Rezzori, zu einer scharfen Erwiderung heraus. In seinen Lebenserinnerungen „Mir auf der Spur“ rechnet er mit seinem einstigen Freund Nicolaus Sombart unnachsichtig ab. Rezzori erkennt in Sombarts Polemik das Ressentiment eines Schreibenden, der es nicht verwinden könne, dass seine rumänisch-stämmigen Kollegen zu Weltruhm gelangt sind. Die Abqualifizierung der drei Autoren zu Abkömmlingen aus tiefster europäischer Provinz führt Rezzori auf ein völkisches Motiv zurück, dem Sombart verpflichtet geblieben sei. „Eine Hälfte Deutschtum genügt, um ihn zum Sprachrohr einer nationalen Kategorie zu machen. Er, der es im Gegensatz zu uns südosteuropäischen Trickstern in Paris nicht zum Weltruhm gebracht hat, trägt fleißig publizierend bei zum Weltruhm des tückischen deutschen Bildungsspießers.“27 Am Ende des europäischen Bürgerkriegs, so resümiert Rezzori, sei es der Kleinbürger, und nichts anderes stellt Sombart für ihn dar, in dessen Händen die Gestaltung der Welt fortan liege. Die scharfe Replik Rezzoris richtet sich gegen die Attitüde Sombarts, sein eigenes Schreiben als Divertissement eines hochgebildeten Dilettanten und Mannes von Welt auszugeben, während professionelle Schriftsteller wie Rezzori auf Erfolg auf dem Markt versessen seien. Die Ironie der Kontroverse der beiden älteren Herren erweist sich darin, dass Rezzori und Sombart Brüder im Geiste sind, wobei es der eine als Grandseigneur und Autor weitergebracht hat als der andere. Rezzori errang

26 Ebd., S. 107. 27 Gregor von Rezzori, Mir auf der Spur, München 1997, S. 84.

Begegnung mit bedeutenden Männern

mit seinen Büchern hohe Auflagen. Er war nicht nur ein gelegentlicher Gast der „großen Welt“ wie Sombart. Zusammen mit seiner Frau, der renommierten Mailänder Kunstgaleristin Beatrice Monti della Corte, gehörte er zur internationalen Society. Er reüssierte als Filmschauspieler an der Seite von Weltstars wie Brigitte Bardot. Die Abqualifizierung durch den Freund als Autor von Lügengeschichten und den Hinweis auf eine angeblich provinzielle Herkunft muss Rezzori als illoyal empfunden haben. An diesem Punkt hörte für ihn die Freundschaft auf. Sombart betrachtete die Karriere seines Nebenbuhlers mit Missgunst, da sie beide dasselbe hedonistische Lebensmodell teilten.28 Wenn Sombart in seinen Auslassungen über Cioran und Rezzori auch manchen wahren Punkt berühren mag, so zeugt sein Versuch, den Dichter Celan der Kategorie maghrebinischer Schlitzohrigkeit zuzurechnen, doch von erstaunlicher Blindheit und komplettem Unverständnis für die Eigenarten hermetischer Verskunst. Es schmerzte ihn offenbar zu sehr, den Ruhm, der seinen Kollegen zuteilwurde, nicht für sich selbst in Anspruch nehmen zu können. Nicolaus Sombart lernte in Paris berühmte Gelehrte kennen. Er besaß das Privileg, als junger Mann, der wissenschaftlich noch nicht viel vorzuweisen hatte, mit geistigen Koryphäen wie dem Erkenntnistheoretiker Gaston Bachelard, dem Sozialhistoriker Maxime Leroy und dem Soziologen Raymond Aron in persönlichen Kontakt zu treten. Auf diese Weise war es ihm vergönnt, aus der Tradition einer erzählten, von Generation zu Generation mündlich weiter getragenen Geschichte schöpfen zu können. An Carl Schmitt schreibt er: „Es gibt eben hier in Frankreich eine geistesgeschichtliche Tradition, die sich außerhalb der Bücher als eine Art von Familienklatsch, als chronique scandaleuse einer Kleinen Gruppe erhält.“29 Die meisten Gelehrten, die Sombart aufsucht, gehören dem liberalen und rechtskonservativen Spektrum an. Die Kreise der Existentialisten um Sartre meidet er. Dieses radikal antibürgerliche Milieu entspricht weder habituell noch intellektuell seiner geistigen Orientierung. „Wenn meine Sympathien zu Aron neigten, so war das keine politische Option, sondern entsprach einer Präferenz für den Typus. Auch als sich alle Welt für ihn begeisterte, mochte ich Sartre nie so recht leiden. Keine Frage der Ideologien und Philosopheme, sondern der Lebensart und der politi-

28 Über den Frauenliebhaber Rezzori schreibt Gabriele Henkel: „Frauen? Sie spielten eine große Rolle in seinem Leben, er blickte auf mehrere Ehen und Amouren zurück, aber ich hatte immer den Eindruck, dass das weibliche Geschlecht für ihn bloß schmückendes Beiwerk war, Quelle der Fantasie, Vorlage für Novellen. Stets waren es die Männer in einer Tafelrunde, an die er das erste Wort richtete … Er liebte ihre Schönheit, ihre Eleganz, und er beschrieb gern ihre Erscheinung. So richtig ernst nahm er sie nicht.“ (Gabriele Henkel, Die Zeit ist ein Augenblick. Erinnerungen, München 2017, S. 57.) 29 Nicolaus Sombart an Carl Schmitt. Brief vom 27.12.1951. In: Tielke, Schmitt und Sombart, S. 50.

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schen Kultur.“30 Durch seine Gespräche mit Gelehrten, die sich von gewöhnlichen Universitätsprofessoren durch ihren distinguierten Habitus unterscheiden, fühlt Sombart sich in seiner Distanz zum Typus des bürgerlichen Intellektuellen bestätigt. Es ist nicht nur die Beschäftigung mit Saint-Simon und Comte, es sind Begegnungen dieser Art, durch die sich sein Ideal von geistiger Unabhängigkeit und stilvoller Lebensführung formte. In diesen Jahren sollte sich bei Sombart eine Einstellung zur Wissenschaft herausbilden, die sich mit Carl Schmitts bellizistischem Denken nur schwer vereinbaren ließ. „Das war eine andere politische Philosophie als die misanthropisch-dezisionistische Rechthaberei der Freund-Feind-Unterscheidung. Eine menschenfreundliche politische Philosophie der Vermittlung, der KonsensusSuche, des Kompromisses, der Versöhnung.“31 Bei Gaston Bachelard macht Sombart sich mit dem schon bei Auguste Comte entdeckten Gedanken vertraut, dass die begrifflich-logische Erkenntnisweise nur eine Spielart des menschlichen Erkenntnisvermögens bildet. Neben die begriffliche Weltwahrnehmung tritt gleichberechtigt die Wahrnehmung der Welt durch Bilder, wobei das Wissenschaftliche dem männlichen, die Poesie dem weiblichen Pol zugeschlagen wird. Sombart entlehnt Bachelard die Vorstellung, dass die Zweipoligkeit des Erkenntnisvermögens auf der bisexuellen Struktur der menschlichen Natur basiert. Von Maxime Leroy wiederum konnte Sombart lernen, dass wahres Wissen immer „Geheimwissen“ ist. Die sozialen Ideen sind untrennbar von den Einzelschicksalen ihrer Schöpfer und dem unterirdischen Geflecht der sozialen Vernetzungen.

Der Kult der Frau im Werk von Auguste Comte Sombarts Vorbild, so betont er immer wieder, ist der Philosoph und Gesellschaftsvisionär Graf Henri de Saint-Simon. Die Geschichtsphilosophie des Franzosen hatte es ihm angetan. Ihr hatte er seine Doktorarbeit gewidmet. Es war aber nicht allein der Denker, der ihn anzog, sondern der Mann von Welt. Saint-Simon veranstaltete erlesene Diners, um sich von seinen Gästen aus der École Polytechnique über Neuestes aus der Welt der Wissenschaft informieren zu lassen. Wissenschaft bedeutete für diesen Gelehrten nicht nur, sich tagtäglich über Bücher zu beugen, sondern mit dem, was das Leben an Möglichkeiten bot, zu experimentieren. Er hatte etwas von einem Glücksritter, einem Cagliostro, einem Casanova. Der Utopist Saint-Simon wollte nicht nur die politischen Strukturen verändern, sondern

30 Pariser Lehrjahre, S. 214. Dies erklärt auch seine Abneigung gegen Walter Benjamin. Die Lebensart des Bücherwurms und Denkbürgers ist ihm fremd. 31 Ebd., S. 146.

Der Kult der Frau im Werk von Auguste Comte

auch die Verkehrsformen der Liebe. Ein zweiter Gewährsmann war für Sombart der Begründer der Soziologie Auguste Comte, ein Schüler Saint-Simons. Der Kult der Frau prägt das Werk des späten Comte. Ihm verdankt Sombart entscheidende Impulse für sein eigenes Frauenbild. Comte gewinnt seiner platonischen Beziehung zu Clotilde de Vaux die Erkenntnis ab, dass das Weibliche für die von Männern betriebene Wissenschaft einen unentbehrlichen Bestandteil darstellt. Damit entfällt die Vorstellung von einer „reinen Wissenschaft“. Das emotionale Element, die Liebe, tritt gleichberechtigt neben die Ratio. „Der Rationalist entdeckte das Gefühl, der Wissenschaftler die künstlerische Intuition, der selbstverständlich in den traditionellen Bahnen maskuliner Geistigkeit denkende Mann das Weibliche.“32 Der strenge Wissenschaftler und Positivist Auguste Comte integriert das Weibliche in seine universale Gesellschaftslehre, „die damit aufhörte, ein Konstrukt der reinen Wissenschaft zu sein, das heißt männlicher Weltinterpretation und Daseinsbewältigung, und zum Vehikel einer Heilsbotschaft wurde, daß die Beendigung der großen Krise nur dann gelingen könnte, wenn sie von beiden Hälften der Menschheit angestrebt und geleistet würde, den Männern und den Frauen.“33 Die Sympathie für die Frau, die bisher aus Comtes wissenschaftlichem Denken verbannt blieb, soll – so die Meinung Sombarts – nicht nur die Wissenschaft revolutionieren, sondern auch die „große Krise“ beenden. Mit der „großen Krise“ ist der Weltbürgerkrieg gemeint, der seit der Französischen Revolution die Gesellschaft entzweit und die sozialen Klassen in einen erbitterten Kampf um Vorherrschaft führt. Dieser Krieg der Klassen kann erst beendet werden, wenn auch der Krieg der Geschlechter zu einem Ende kommt. Mit dieser Diagnose wird die Lösung des Problems freilich nicht einfacher, vielmehr tritt zum Klassenkampf nun noch der Geschlechterkampf hinzu. Sombart sieht im Kult der Frau des späten Comte gleichwohl eine Chance, auf dem Weg zur Beendigung der Krise einen Schritt voran zu kommen. Comte huldigt nicht nur der Frau, er billigt ihr auch gleiche Rechte zu. Er erkennt Clotilde de Vaux als Schriftstellerin an. Er entwickelt eine Religion der Humanität. Es ist vor allem die Liebe, die der Frau als besondere Qualität zugeschrieben wird, und die der Gesellschaft den Weg aus der Krise aufweist. Damit verbleibt dieses Denken den herkömmlichen Spaltungen verhaftet: der Mann verkörpert den Geist, die Frau die Liebe. Durch die Huldigung des Mannes wird die Frau zur Göttin, durch einen Akt der Sakralisierung der Sphäre der gesellschaftlichen Realität enthoben. Zugleich verbindet sich dieses Frauenbild mit einer prononcierten Vorstellung von Elite. Comtes gesellschaftliches Ordnungsmodell ist hierarchisch: „(...) an seiner Spitze

32 Ebd., S. 55. 33 Ebd., S. 56.

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steht als höchste moralische und geistige Instanz kein Mann, keine Vaterfigur, sondern das Hohe Paar, Priester und Priesterin, Animus und Anima, Shiva und Shakti.“34 In seiner Dissertationsschrift und in seinem Beitrag zur „Einführung in die Soziologie“, in dem er sich mit Saint-Simon und Comte befasst, war Sombart die Bedeutung des Geschlechterverhältnisses für die Soziologie noch nicht klargeworden. Die Einsicht, dass die Neubegründung der gesellschaftlichen Rolle von Mann und Frau „eine totale Umwälzung aller gesellschaftlichen Verhältnisse zur Folge haben würde“35 , fiel ihm erst in späteren Jahren zu. Für Sombart ist das, was Comte mit Clotilde de Vaux widerfährt, für die Entwicklung der Soziologie von kaum zu überschätzender Bedeutung. Comtes Liebe, die von seiner Briefpartnerin zwar nicht erwidert, aber mit Distanz zur Kenntnis genommen wird, transzendiere alle Konventionen und gesellschaftlich vorgegebenen Erlebnisstrukturen. Sombart stilisiert dieses Erlebnis eines epochemachenden Soziologen zu einem Jahrhundertereignis, ja mehr noch: „Es war die Epiphanie des Weiblichen im Horizont des seit zwei Jahrtausenden durch den männlichen Logos geprägten menschlichen Selbstverständnisses.“36 Zu bedenken wäre freilich, dass die Erfahrungen des Begründers der Soziologie mit dem Weiblichen in der Geschichte der von Männern betriebenen Wissenschaften keineswegs ein Novum darstellen. Worauf es Sombart – wie der in den achtziger Jahren in Mode gekommenen Philosophie der Postmoderne – ankommt, ist die Verabschiedung des „männlichen Logos“. Er plädiert nicht dafür, dass Frauen ebenso wie Männer am Logos teilhaben, sondern es geht ihm um die Ergänzung des Logos durch ein „weibliches“ Denken. Das logische Denken wird weiterhin den Männern reserviert, nur erhalten die Frauen nunmehr die Chance, durch Gefühl und Liebe auf die Wissenschaft und den Wissenschaftler einzuwirken. Durch die „Epiphanie“ des Weiblichen überwinde der Wissenschaftler die „reine Wissenschaft“ und wende sich der Arbeit am neuen Menschen zu, der sich seiner Zweigeschlechtlichkeit bewusst werde. Sombart, dem offenbar ein ähnliches Erweckungserlebnis zuteilwurde wie dem von ihm verehrten Auguste Comte, kehrt mit diesem Bekenntnis einer als männlich verstandenen, durch Rationalität geprägten Geistes- und Sozialwissenschaft den Rücken. Sein Plädoyer gilt der Abkehr vom Logozentrismus, dem rationalen „männlichen“ Systemdenken.

34 Ebd. 35 Ebd., S. 57. 36 Ebd., S. 55.

Germaine de Staël und Juliette Récamier

Germaine de Staël und Juliette Récamier Am Beispiel der bedeutenden Schriftstellerin und einflussreichen politischen Agitatorin Germaine de Staël und der nicht weniger angesehenen Salondame Juliette Récamier entwickelt Sombart sein Verständnis von der Rolle des Weiblichen in der Geschichte. Es handelt sich bei ihnen um Ausnahmepersönlichkeiten. Die eine brilliert durch ihre politische Intelligenz, die andere verführt durch ihre Schönheit. Der Frau – so die kühne These – fällt die Vermittlerrolle zu, um die Menschheitskrise – den durch die Französische Revolution ausgelösten europäischen Bürgerkrieg – zu beenden. In Germaine de Staël erkennt Sombart „die Verkünderin der liberalen Utopie, der Vision einer auf Erziehung und Aufklärung, friedlichen Wettstreit und Meinungsfreiheit, der Emanzipation der Männer und der Frauen, Rationalität und Sinnlichkeit, Kommunikation und Konsensus beruhenden, gewaltlosen, herrschaftsfreien, offenen Gesellschaftsordnung mündiger Individuen und Staatsbürger.“37 Sie und Saint-Simon sind die Präfiguration des Hohen Paares, wie die Saint-Simonisten es erträumten. Eine fast noch größere Bedeutung im Programm der Menschheitsbefreiung kommt für Sombart der Salonnière Juliette Récamier zu, einer engen Freundin Madame de Staëls. Sie war mit Pierre Simon Ballanche freundschaftlich verbunden, so dass die Beschäftigung mit diesem Schüler Saint-Simons Sombart Zugang zu den Geheimnissen der Großen Revolution zu verschaffen versprach. Unversehens gerät Juliette Récamier zum zentralen Forschungsgegenstand seines ideengeschichtlichen Projekts. In ihrem weiblichen Herrschaftsraum habe Ballanche die entscheidenden Anregungen für seine sozialen Ideen gewinnen können. Es sind zwei Qualitäten, die Juliette Récamier auszeichnen: ihre außergewöhnliche Schönheit und ihre bestimmende Rolle als Salondame. Als attraktive Frau zog sie die bedeutendsten Männer in ihren Bann. Nicht, dass sie wie Madame de Staël selbst geistigen Einfluss erlangen wollte, sie betörte ihre männlichen Bewunderer durch ihre „keusche Verführungsstrategie“. Sie verstand es, erhaben und frivol zugleich zu sein. Sombart stilisiert Juliette Récamier zu einer geradezu mythischen Idealfigur des Weiblichen. „Jeder, der in ihren Bannkreis trat, machte die transzendentale Erfahrung einer geheimnisvollen Verwandlung und Steigerung seiner Lebensenergien.“38 Sie ist nicht nur ein irdisches Wesen, sondern „Emanation, Inkarnation und Repräsentation von etwas Göttlichem“.39 37 Ebd., S. 120. 38 Ebd., S. 131. 39 Ebd. Alexis de Tocqueville berichtet: „Frau Récamier war das Entzücken von Paris, doch sprach sie kaum ein Wort; sie hörte zu und lächelte intelligent, und manchmal warf sie eine Frage oder Bemerkung ein, nur um zu zeigen, daß man verstanden wurde.“ (Correspondence and Conversations

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Ihr Salon war keine gewöhnliche Begegnungsstätte, wo sich Männer um eine Frau versammelten, um miteinander zu disputieren, sondern ein Ort, an dem dank der außerordentlichen Ausstrahlung der Gastgeberin die politischen und sozialen Gegensätze aufgehoben wurden. Für Sombart ist der Salon Juliette Récamiers die Geburtsstätte einer neuen Gesellschaft, in der ein neues Verständnis von der Bestimmung des Menschen sich Artikulation verschaffte. Freilich handelte es sich ausschließlich um einen Kreis von Angehörigen der gehobenen Gesellschaftskreise, die im friedlichen Wettstreit um die Gunst einer Frau zu Werten wie Solidarität und Altruismus fanden. „(…) die segensreiche, heilbringende Rolle der Frau in der neuen Phase der Menschheitsentwicklung – hier wurde es Ereignis.“40 Für Sombarts Forschungen über die Entstehung der Geschichtssoziologie und die Rolle des Saint-Simonisten Ballanche zeichnet sich ein erstes Ergebnis ab. Die Pazifizierung und Kultivierung der Männer durch die Frauen erweist sich als die Aufgabe der Zukunft. Ein solches Projekt kann nur durch eine Elite verwirklicht werden. Es sind Ausnahmemenschen, auf die das ehrgeizige Unternehmen in seiner Anfangsphase angewiesen ist.

Besuch bei den großen Damen Die großen Damen der Pariser Gesellschaft, die Sombart kennenlernte, konnten der in den Personen Germaine de Staëls und Juliette Récamiers aufscheinenden Utopie verständlicherweise nur in Grenzen genügen. Es existierte zwar noch eine von vornehmen Gastgeberinnen am Leben gehaltene Salonkultur. Doch deren Tage waren bereits gezählt. Der Tod der Diplomatengattin Jenny de Margerie und ihrer Freundin, der Herzogin Edmée de la Rochefoucauld – sie starben in den 1990er Jahren – markierte das Ende dieser Ära. Einen letzten Schimmer ihres erlöschenden Glanzes sollte Nicolaus Sombart jedoch noch wahrnehmen. So lernte er Marie-Laure de Noailles kennen, einen der Fixsterne der Pariser Gesellschaft und Förderin der künstlerischen Avantgarde der Vorkriegszeit. Zu ihren Schützlingen zählten der Filmregisseur Luis Bunuel und der Schriftsteller Jean Cocteau. „Sie war, wie ich erfahren sollte, die interessanteste Frau von Paris.“41 In engem freundschaftlichen Kontakt stand Sombart zur Familie von Pauline de Pange, einer geborenen Prinzessin de Broglie, verheiratet mit dem Grafen Jean

of Alexis de Tocqueville with Nassau William Senior from 1844 to 1859. Hg. von M.C.M. Simpson, London 1872, S. 137. Hier zitiert nach: Luis Díez del Corral, Chateaubriand und der soziologische Ästhetizismus Tocquevilles. In: Epirrhosis. Festgabe für Carl Schmitt. Hg. von Hans Barion et al., Berlin 1968, S. 123.) 40 Pariser Lehrjahre, S. 133. 41 Ebd., S. 171.

Sexuelle Erfahrungen und Experimente als soziologischer Erkenntnisgewinn

de Pange. Ihr Sohn Victor trat mit Sombart 1954 in das Generalsekretariat des fünf Jahre zuvor gegründeten Europarats ein.42 In der Gräfin de Pange sieht er die legitime Statthalterin Madame de Staëls, deren Ur-Enkelin sie war. Sie führte freilich kein mondänes Leben wie andere große Damen und unterhielt auch keinen Salon. Sie umgab sich mit Wissenschaftlern und war selbst schriftstellerisch tätig. Für den aufstrebenden „Parisologen“ Sombart stellte die Verbindung zur Familie de Pange eine besondere Genugtuung dar. „In der gesellschaftlichen Hierarchie waren sie unbestritten das Vornehmste, was es gab.“43 An den Mitgliedern der Familie de Pange lasse sich idealtypisch ablesen, was Adel im Wesentlichen darstelle. „Eine soziale Spitzengruppe; ein kompliziertes biologisches Züchtungsergebnis, dem Geist, Macht und Reichtum die Richtung vorgezeichnet haben; eine Haltung, ein ganz bestimmtes, an biologische und soziale Voraussetzungen gebundenes Verhalten des Menschen zum Leben.“44 Im Kern gehe es dabei um ein Stil- und Anstandsgefühl und um einen Habitus, der in der Geschlechterfolge vererbt und in Traditionen gefestigt werde. In dem den „Pariser Lehrjahren“ angefügten soziologischen Traktat wird uns dieser Typus, ein absolutes Spitzenprodukt der Gesellschaft, wieder begegnen.

Sexuelle Erfahrungen und Experimente als soziologischer Erkenntnisgewinn Steht der Umgang mit großen Damen, Repräsentanten des Pariser Hochadels und berühmten Gelehrten auch ganz oben auf Sombarts Erkundungsliste, so sind seine sexuellen Erlebnisse von nicht minderem Erfahrungswert. Sie sind für ihn weniger der Anlass zu narzisstischer Selbstbespiegelung als zu einer soziologisch begründeten und spekulativ ausphantasierten Metaphysik der Liebe. Seine Begegnungen mit Frauen verschiedenen Typs führen ihn zu Erkenntnissen, deren wahre Bedeutung er erst eigentlich im Rückblick zu entziffern vermag. Am Beispiel einer Geliebten aus der wohlhabenden Mittelschicht, die sich ihn als Liebhaber erkoren hat, entwickelt Sombart eine Theorie des Erotischen, die sich von anderen Lesarten wie etwa der Kristallisationstheorie Stendhals oder der semiotischen Entschlüsselung der Sprache der Liebe von Roland Barthes durch die absolute Dominanz des Sexuellen unterscheidet. Wie schon in seinem Verständnis des Adels als Repräsentanten eines vollkommenen Menschentums begreift Sombart die vollkommene Frau als ein exquisites Züchtungsprodukt.

42 Vgl. Christian de Pange, Quelques mots pour dire Au Revoir à Nicolaus. In: Hommage à Nicolaus Sombart (1923–2008). Hg. von Alexander Sombart, Anvers 2008, S. 9, Anm. 4. 43 Pariser Lehrjahre, S. 271. 44 Ebd., S. 273.

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Eine solche Ausnahmeerscheinung ist „Papou“. „Sie war das, was man une superbe créature nennt. Ein Klasseweib (…) Ein makelloses Exemplar der ‚schönen Frau‘, das Traumbild aller männlichen Wunschphantasien.“45 Papou offenbart ihm durch die Hingabe ihres Körpers „das göttliche Geheimnis der fleischlichen (physischen) Liebe“.46 Bisher – so gesteht Sombart – lebte er noch in der Tradition der höfischen Liebe, in der das Objekt der Begierde poetisch verklärt wird und die Annäherung nur im Einklang mit bestimmten Gefühlen gestattet ist. Gegenstand der Verehrung der Liebeshöfe sei nicht die Große Göttin der Mysterienkulte, sondern eine aller Sexualität entkleidete vornehme Dame. Mit Papou lernt Sombart die amour plaisir, die Liebe aus Lust am Vergnügen, kennen, ein Umgang, der auf spontaner gegenseitiger Anziehung und der problemlosen gegenseitigen Befriedigung sexueller Wünsche beruht. Es ist dies für ihn eine neue Tiefenschicht der erotischen Erfahrung. Der gegenseitig genossene Sexualakt eröffnet ihm die philosophische Erkenntnis, „daß wir Sterblichen den höchstmöglichen Intensitätsgrad weltimmanenter Seins-Erfahrung in der physischen Vereinigung der Geschlechter erleben, wenn Schiva und Schakti sich in unseren Körpern durchdringen.“47 Dem Mann begegnet in diesem Augenblick die „Göttin“. Das Göttliche der Frau nimmt verschiedene Formen an. Es kann in der Gestalt des jungen Mädchens erscheinen, dessen Körper noch rein, unbefleckt ist, denn „der nackte Körper der Jungfrau ist das Prärequisit der Kommunion mit dem Mysterium des Seins.“48 Es kann auch in der Mischung von Keuschheit und Frivolität auftauchen wie bei Juliette Récamier. Selbst in der Begegnung mit einer Prostituierten enthüllt sich das Göttliche, wie Sombart in seinem späteren Werk „Journal intime“ bekennt. In der Souveränität, in der Papou mit ihrem sexuellen Verlangen umgeht, begegnet dem in Liebesdingen noch Unkundigen etwas bisher so nicht Erfahrenes. Sie ist „der Typus der selbstbewußten, vollemanzipierten Frau.“49 Die Freiheit, mit der Papou über ihren Körper verfügt, ist für Sombart eine Offenbarung, eine wahre Revolution. Wenn die sexuelle Freiheit der Frau der Indikator des Entwicklungsstandes einer Gesellschaft sei, dann seien Frau wie sie die eigentliche revolutionäre Kraft, die Avantgarde der Menschheit. Die sexuelle Emanzipation der Frau sei der letzte Sinn aller Veränderungen der Übergangsepoche, die durch die Französische Revolution eingeleitet worden sei. Sie sei wichtiger noch als die Veränderung der Arbeitsbedingungen und Produktionsverhältnisse.

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Ebd., S. 185. Ebd., S. 186. Ebd., S. 188. Ebd., S. 176. Ebd., S. 188.

Sexuelle Erfahrungen und Experimente als soziologischer Erkenntnisgewinn

Papou gehört der oberen Mittelschicht an und ist mit einem erfolgreichen Geschäftsmann verheiratet. In ihrem Lebensstil, ihrer Kleidung, ihrem Geschmack folgt sie den Normen dieser Schicht. Sie führt ein bis in die letzte Minute durchorganisiertes, geplantes Leben, in dem für Muße kein Platz ist. Sie lebt – so schildert sie uns Sombart – intensiv, immer perfekt und für jede Gelegenheit richtig gekleidet, vollkommen körperbezogen, vollkommen im Hier und Jetzt der Gegenwart. Sie repräsentiert die moderne Frau. „Ich habe im Laufe der Jahre noch viele Frauen wie Papou kennenlernen können. Papou war ein Luxusexemplar des Typus und noch zu jung, um ihn zu voller Entfaltung gebracht zu haben, eine Frühform. Sicher keine Ausnahme. Zu voller Blüte kommt er Ende dreißig, Anfang vierzig. Das soziale Profil ist grosso modo das gleiche. ‚Nouvelle Bourgeoisie‘. Heute gehört Berufstätigkeit unbedingt dazu, auch das Verheiratetsein.“50 Papou ist der Idealtypus der Pariserin. Sie ist elegant, besitzt Stil, sieht verführerisch aus, schätzt erlesenen Konsum und hat einen Liebhaber, den sie regelmäßig trifft, an den sie Ansprüche stellt und dem sie in ihrem durchorganisierten Leben einen festen Platz einräumt. Voll emanzipiert sein heißt für Sombart, über sein Liebesleben souverän verfügen zu können. Andere Aspekte weiblicher Emanzipation wie materielle Unabhängigkeit von einem männlichen Ernährer, freie Entwicklungschancen im Beruf, das Recht über sein Leben selbst zu entscheiden, treten dahinter zurück. Dieser Typus der selbstbewussten, emanzipierten Frau ist vor allem in der oberen Mittelklasse zu finden. Papou ist auch deshalb eine „Klassefrau“. Sombart beschreibt das Leben dieser zu Wohlstand gelangten Erfolgsmenschen als ein vollkommen von außen geleitetes Funktionieren. Papou befindet sich in einem Dauerstress. Doch ist sie eine Virtuosin in der Bewältigung dieser Situation. Die vitalen Kräfte solcher Frauen „laden sich offenbar in dem Maße wieder auf, in dem sie die Möglichkeiten und Bedürfnisse ihrer Sexualität voll ausleben können.“51 Sombart räumt ein, dass es diese Möglichkeit weiblicher Selbstverwirklichung schon in früheren Jahrhunderten gegeben habe. Sie habe in der Gegenwart nur eine sozial breitere Basis gefunden. Sie sei zu einem Mittelstandsphänomen geworden. De Sade zitierend, schreibt er: „Wenn wir verlangen, daß alle Frauen sich unserer Lust hingeben müssen, so müssen wir ihnen auch erlauben, ihre Gelüste reichlich zu befriedigen.“52 Dies ist die Kernaussage der Sombartschen Liebesphilosophie. Die sexuell voll emanzipierte Frau ist jederzeit bereit zur Hingabe, so wie der Mann ihr jederzeit für die Befriedigung ihrer sexuellen Bedürfnisse zur Verfügung steht.

50 Ebd., S. 193. 51 Ebd., S. 195. 52 Ebd., S. 196.

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Dieser Triumph des Lustprinzips ist das „absolute Gegenteil von Arbeit und Leistung. Das Gegenteil von Askese und Mangel. Der Inbegriff der Fülle.“53 Die Fülle, die Sombart meint, ist die Fülle der Lust, der Lust, die sich im Sexualakt erfüllt. In der körperlichen Vereinigung finden die Geschlechter zum Göttlichen, sie nehmen teil an einem sakralen Akt. Da die Befriedigung indes nicht lange anhält, sucht die Lust nach Formen der Steigerung. Konsequentes Ergebnis dieses Verlangens ist die Orgie, auf Französisch partouze genannt. So wie das Geltungsbedürfnis der Pariser Society außeralltägliche Höhepunkte braucht, brauchen Frauen wie Papou Zusatzreize, die ihnen kein Liebhaber bietet. Der Gruppensex offeriert diese Möglichkeit, von der die moderne Frau à la Papou ungeniert Gebrauch zu machen versteht. Die Orgie ist eine neue Dimension, am Göttlichen teilzuhaben, die der sexuelle Austausch bietet. Die Orgie nimmt in Sombarts Programm eines experimentellen Lebens einen prominenten Platz ein. Sie gehört zu den sozialen Ideen des Marquis de Sade, Charles Fouriers und Georges Batailles. Bei Bataille steht sie im Mittelpunkt seiner Soziologie des Sakralen. Sombart fragt nach dem Mehrwert der Partouze im Vergleich zu den Erlebnisqualitäten der Sexualität, die normale Zweierbeziehungen gewähren. Durch ein Luxus-Callgirl lässt er sich in die Welt des Gruppensex einführen. „Die Partouze ist die kleine Schwester der Orgie, eine Spielform, sie gehört in den Alltagsbereich, ein im Grunde harmloses Gesellschaftsspiel im heterosexuellen Register.“54 Entbehrt sie auch nicht einer gewissen Banalität, bietet die Partouze doch die Vorstellung des Außeralltäglichen. Ort des Experiments, von dem Sombart berichtet, ist eine exklusive Einrichtung, die vornehmlich von Besuchern der gehobenen Mittelschicht aufgesucht wird. Die Teilnehmer gelangen durch ihre Praktiken zu Höhenbereichen erotischer Erfahrung. Aus der Sicht des Soziologen führt der Gruppensex nicht nur zu einer Steigerung der sinnlichen Eindrücke, sondern zu einem echten Erkenntnisgewinn. Es sind vor allem folgende Faktoren, die die Intensität des erotischen Erlebens in der Orgie steigern: der Exhibitionismus und Voyeurismus der Beteiligten, die Lust am Wechsel und am Experimentieren, die beliebige, uneingeschränkte Dauer. Und schließlich: „Die Möglichkeit, die eigene homosexuelle Komponente ins Spiel zu bringen. Das Geheimnis der Partouze ist die Bisexualität, auf einer noch tieferen Ebene: die polymorph-perverse Grunddisposition.“55 Jede Form ritualisierter Sexualität sei ein Fest und habe eine sakrale Dimension. Aus soziologischer Perspektive ist freilich nicht unwichtig, in welchem Ambiente, mit welchen Personen sich diese Transzendenzerfahrung gewinnen lässt.

53 Ebd., S. 186. 54 Ebd., S. 330. 55 Ebd., S. 341.

Sexuelle Erfahrungen und Experimente als soziologischer Erkenntnisgewinn

In Sombarts Paris sind es vornehmlich luxuriöse Einrichtungen der gehobenen gesellschaftlichen Kreise, in denen sich Männer und Frauen exklusiv zu sexuellem Austausch zusammenfinden. Andernorts – so zum Beispiel in einem Berliner Etablissement, von dem Sombart in seinem „Journal intime“ berichtet – ist es ein gemischter, weniger betuchter, nahezu proletarischer Besucherkreis, der sich von dem Angebot zu sexueller Entgrenzung anlocken lässt. Das Ambiente ist bescheiden, geradezu lieblos nüchtern. Die Erwartungen der Besucher beiderlei Geschlechts werden nicht selten enttäuscht, denn der Gruppensex entpuppt sich als ein unästhetisches, mechanisches Kopulieren einer Gattung von Menschen, denen der gepflegte Gast normalerweise aus dem Wege geht. Sombart ist dennoch überzeugt: „Auch wenn sie [die erotischen Rituale, G.E.] banalisiert, kommerzialisiert und zur Routine werden, bleibt dieser Mehrwert als Möglichkeit immer erhalten und verleiht ihnen die Aura des Außeralltäglichen. Sie sind immer ein Fest.“56 Festcharakter besitzen sie für den Sexhungrigen offenbar auch dann noch, wenn sie zu ermäßigten Bedingungen ablaufen und nicht in einem kultivierten, exklusiven Rahmen, wo sie sich mit den Vorstellungen von ästhetischem Raffinement, Lebenskunst und Ekstase verbinden. Für den soziologischen Feldforscher ergibt sich folgendes Zwischenergebnis seiner erotischen Explorationen: „Auf dem Lustlager ihrer erotischen Exzesse ist die Soziologie zu sich selbst gekommen, die Genese der Soziologie als Wissen der Wahrheit aus der Vereinigung des weiblichen und des männlichen Erkenntnisvermögens.“57 Wieso, fragt sich der Leser verblüfft, kommt die Soziologie auf dem „Lustlager der erotischen Exzesse“ zu sich selbst? Die Antwort Sombarts lautet: Soziologische Erkenntnis ist in ihrer Quintessenz erotisch. Das sexuelle Begehren ist der wesentliche Antrieb für gesellschaftlicher Erfahrung. Promiskuität und Libertinage führen zu einer fundamentalen Erkenntniserweiterung. Eine andere Figur, das Spektrum sexueller Erfahrungsmöglichkeiten zu vervollständigen, bietet der Typus des Androgyns. Er begegnet dem Parisbesucher in Gestalt der Mannequins. Sie erscheinen durch ihre fragile Körperlichkeit als unsinnliche, asexuelle, ätherische Wesen, von denen gleichwohl ein verführerischer Reiz ausgeht: das Versprechen eines sublimeren Lustgewinns. „Angesichts der Mannequins schwante mir, daß es noch etwas anderes geben mußte als das heterosexuelle Rollenspiel, andere Formen des Lustgewinns als die Kopulation, andere Ekstasen.“58 In diesen Frauen, seltsamen Zwitterwesen, finde die fundamentale

56 Ebd., S. 328. 57 Ebd., S. 314. 58 Ebd., S. 198. In Sombarts „Journal intime“ findet sich dagegen die kritische Bemerkung: „Die homosexuelle Geschmacksdiktatur wirkt sich über die Haute Couture und die Modefotografie aus, die der modernen Kulturmenschheit das Ideal des androgynen Mannequins oktroyiert hat, dem sich auch die Frauen unterwerfen müssen. Der Häßlichkeitskult der Emanzen richtet sich im Grunde gar

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Bisexualität des Menschen ihren Ausdruck. Mehr noch: die auf dem Laufsteg ihren Körper in Phantasmagorien des schönen Scheins verhüllenden Mannequins verweisen auf das Zukunftsprojekt, wie es sich nach Beendigung des langen Bürgerkrieges abzeichne. Es stelle sich heraus, dass es zwei verschiedene Modelle menschlicher Emanzipation gibt: Die Vereinigung der beiden Geschlechter in einer Gesellschaft der Gleichheit von Mann und Frau oder die Aufhebung der Geschlechter in einer Gesellschaft, in der es Männer und Frauen nicht mehr gibt, sondern nur noch Menschen. Mit dieser These nimmt Sombart einen zentralen Gedanken des heutigen Gender-Diskurses vorweg. Als extreme Steigerungsform seiner Liebesphilosophie erscheint Sombart der Erotizismus Georges Batailles. Dieser hat in seiner Schrift „Der heilige Eros“ drei Formen von Erotik unterschieden: die Erotik der Körper, die Erotik der Herzen und die heilige Erotik. Die heilige Erotik steht in Verbindung mit dem Opfer, wobei der weibliche Partner als das Opfer, der männliche als der Opfernde erscheint.59 Bataille assoziiert Liebe und Tod, Wollust und religiöse Ekstase. Souveränität im sexuellen Akt erreicht derjenige, der bereit ist, sich zu opfern. „Die unaufhebbare Spannung, die die Begriffe Tabu und Tabuverletzung trennt, wird bei Bataille zur Voraussetzung der erotischen Ekstase, der Transgression, der Entgrenzung des Ich. Um aber dorthin zu kommen, muß der Mensch ‚etwas aufs Spiel setzen‘, möglicherweise das eigene Leben.“60 An der entgrenzenden Gewalt haben alle Beteiligten teil. Bataille lässt keinen von ihnen der Versuchung unterliegen, das sexuelle Erlebnis als Machtausübung zu missbrauchen. Im Hinblick auf die Orgie in Gestalt des Gruppensexes erscheint Sombarts Deutung solcher Vorgänge unter Zuhilfenahme Bataille‘scher Begriffe von Opfer und heiligem Eros allerdings reichlich überhöht, fehlt derartigen Lustbarkeiten doch jedes katastrophische Element.61 In Sombarts Experimentierfeld fehlt noch eine andere Variante: Die sexuelle Beziehung zwischen Männern. Nicht wenige berühmte Männer, mit denen er in Paris Umgang hat, sind von anderer psycho-sexueller Disposition als die von ihm beargwöhnten, die Bisexualität des Menschen negierenden deutschen Männer der Vätergeneration. Sie sind homosexuell. Sie zeigen an dem jungen gutaussehenden Deutschen ein reges Interesse. Sombart entzieht sich – so ist zu lesen – solchen Verführungen, wiewohl er sich damit der Möglichkeit begibt, seine Erfahrungen

nicht gegen einen Versuch der Männer, sie zu Luxusweibchen und ‚Objekten‘ zu machen, sondern gegen die Diktatur der Homosexuellen, sie zu Knaben umzufunktionieren.“ (Sombart, Journal intime, S. 41.) 59 Vgl. Georges Bataille, Der heilige Eros, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1974, S. 17. 60 Marion Luckow, Nachwort zu Georges Bataille, Das obszöne Werk, Reinbek 1972, S. 340. 61 Vgl. die Rezension der Schriftstellerin Undine Gruenter: Kleiner Gigolo am Venusberg. Nicolaus Sombart erinnert sich an das Paris der fünfziger Jahre. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. März 1994, S. L 2.

Auf der Suche nach der Ausnahmefrau

auf sexuellem Gebiet zu erweitern. Erst im „Journal intime“ berichtet er von einem solchen Experiment, freilich geschieht dies in einer Dreierkonstellation, einem Format, das seinerseits Anlass gibt zur Vertiefung seiner Liebestheorie, andererseits aber die Frage aufwirft, warum er dem Ausleben seiner homosexuellen Komponente nicht breiteren Raum in seinen sexuellen Explorationen widmet. Oder zieht er es vor, darüber den Mantel des Schweigens auszubreiten? In den „Pariser Lehrjahren“ kommt das Milieu homosexueller Männer, sofern es sich um Angehörige der gehobenen gesellschaftlichen Sphäre handelt, ausführlich zur Darstellung. Sombart weiß diesen Männern Dank, da sie ihm Einblicke in die Mechanismen des gesellschaftlichen Lebens verschaffen. Es sind Männer von höchster Kultur, die ihn einerseits faszinieren, zugleich aber durch ihre sexuellen Neigungen abstoßen. Ein prominenter Fall ist der Graf Anne de Biéville, der in seinem gepflegten Appartement mit Strichjungen Umgang pflegt. Sombart empfindet den Kontrast zwischen raffiniertester Kultur und sexueller Neigung zu Männern aus der Unterschicht als anstößig. „Nicht ohne eine gewisse Melancholie bewegte mich der Gedanke, daß sein mit Kunstschätzen angefülltes Kabinett (…) im Grunde nichts anderes als eine perfide Falle war, eine Sexfalle.“62 Homosexualität in Verbindung mit Sadomasochismus transzendiert die libertären Liebesvorstellungen des ParisBesuchers. Dieser Sorte sexueller Verbindung wohnt nichts Göttliches, Sakrales inne. Der körperlich intime Umgang eines Angehörigen der „großen Welt“ mit von der Straße aufgelesenen Männern der Unterschicht passt nicht in Sombarts Bild von einer „ekstatischen Erfahrung der Ganzheit, der inneren Einheit der Welt.“63

Auf der Suche nach der Ausnahmefrau Paris ist für den jungen Sombart nicht nur der Ort für erotische Abenteuer. Das Leben eines bindungslosen Bohemiens mag reizvoll sein, um das erotische Erfahrungsspektrum zu erweitern. Der Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung und dem Erwerb eines soliden sozialen Status bleibt davon unberührt. Die Frauen dienen nicht nur der Erfüllung der Lust, sie befördern auch das gesellschaftliche Vorwärtskommen. Unter allen Frauen, denen Sombart in Paris begegnet, nimmt Laure N. - sie wird in den „Pariser Lehrjahren“ nur mit ihrem Vornamen genannt – eine Sonderrolle ein. Nicht weil sie der Oberschicht oder dem gehobenen Mittelstand angehört – dieses Gütesiegel teilt sie mit der reichen Amerikanerin Dana, seiner ersten Eroberung, und Anne-Marie, die der wohlhabenden Supervielle-Familie

62 Pariser Lehrjahre, S. 230. 63 Ebd., S. 188.

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angehört – , sondern weil sie einem exklusiven Spitzensegment dieser Oberschicht zuzurechnen ist. Ihre Eltern, aus Genf kommend wie die Familie Necker, der Germaine de Staël entstammt, gehören zur protestantischen Hochfinanz. „Das Feinste vom Feinen, wenigstens hielten sie sich dafür. Die Vermögen waren alt und der Lebenszuschnitt hatte sich seit hundertfünfzig Jahren nicht geändert. Man wohnte in einem Stadtpalais im VIII. oder XVI. Arrondissement, hatte ein Schloss auf dem Lande, in der näheren Umgebung von Paris, und ein Chalet in St. Moritz oder ein Mas [Bauernhaus, G. E.] in Grasse.“64 Die junge Frau, die Nicolaus Sombart im Mai 1952 auf einer MittelmeerKreuzfahrt kennenlernt, verliebt sich in den deutschen Studenten. Allein da ist die Sozialschranke, die eine dauerhafte Bindung ausschließt. Aus der Sicht von Laures Eltern ist Sombart ein Bohemien ohne Vermögen und ohne Berufsaussichten. Laure ist für ihn unerreichbar, was ihren Besitz umso kostbarer erscheinen lässt. Sie zu gewinnen ist für ihn eine Ehrensache. Es geht schließlich um seinen sozialen Status. „Paradoxerweise reizte mich ihr Körper gar nicht. Ich war nicht scharf auf sie. Ich wollte sie haben.“65 Gleichwohl ist er bei der ersten Begegnung von ihrer Erscheinung fasziniert, ihrer eleganten Silhouette und dem Oberschichtenakzent. Es ist ihm gleich klar: Sie ist kein gewöhnliches Mädchen, sondern ein „außerordentliches Geschöpf. Etwas Kostbares, im Grunde Unnahbares, Irreales.“66 Sombart gibt in den „Pariser Lehrjahren“ der Liebesgeschichte eine verblüffende Wendung. Laure will sich von ihrem Milieu befreien und erwartet von ihrem jungen Freund, dass er sich mit ihr davonmacht, statt von ihr in ihre Kreise aufgenommen zu werden und sie zu heiraten. Während sie die bürgerlichen Konventionen ihrer Familie verachtet und den Bruch riskieren will, trifft sie in Sombart auf einen von bürgerlichen Konventionen geprägten Liebhaber, dem nichts fernerliegt, als sie ihrem Milieu zu entreißen und an seinem Leben als mittelloser Bohemien teilhaben zu lassen. In seinen Briefen an die Mutter Corina berichtet Nicolaus Sombart über seine verzweifelte Lage. Er sei in das Mädchen leidenschaftlich verliebt, habe ihr aber nichts zu bieten. Es habe keinen Sinn, sie aufzufordern, Haus und Eltern zu verlassen. Andererseits – Sombart ist fast dreißig Jahre alt – sei die Zeit gekommen, sich zu binden. Über die Schwierigkeiten einer Zukunft mit Laure macht er sich keine Illusionen: „Mit Laure bin ich inzwischen ernsthaft dabei, über Heirat zu sprechen! Mir schwindelt dabei etwas, und in der Tat ist nichts unwahrscheinlicher: es wäre leichter, die Tochter des Grafen von Paris oder Philippe Rothschilds zu ehelichen. Doch liegt die eigentliche Schwierigkeit darin, dass sie selber innerlich für diesen

64 Ebd., S. 297. 65 Ebd., S. 299. 66 Ebd., S. 294f.

Auf der Suche nach der Ausnahmefrau

Schritt noch nicht reif ist. Sie ist über beide Ohren verliebt, aber davor, sich zu binden, hat sie Angst. Nichts verstehe ich besser, denn mir ging es ja bisher auch immer so!“67 Sie sei ein wunderbarer Mensch, wenn auch verwöhnt, egozentrisch und berechnend. „Sehr französisch also, doch wird das alles aufgewogen, durch ihre unbeschränkte Genußfähigkeit und eine überdurchschnittliche künstlerische Intuition.“68 Nicolaus Sombart schlägt seiner Mutter vor, seine Schwester Ninetta, die mit Ehemann und Kindern in den USA lebt, herüberzuholen, auch wenn dies mit Kosten verbunden sei. „Wir müssen eben abwarten, bis ich meine gute Partie gemacht habe (…).“69 Anne-Marie Supervielle, ebenfalls aus reichem Hause, betrachtet er als eine Art „eiserne Reserve“. Wenn mit Laure alles schieflaufe, könne er sie immer noch holen. „Das Schlechteste wäre es nicht.“70 Nach dem ersten Besuch im Haus der Eltern von Laure schreibt er der Mutter: „Ich war zum ersten Mal bei ihr. Alles vertraut – gar nicht sehr anders als bei uns, in Berlin, und gottseidank weniger großartig, als ich befürchtet hatte. Es stellte sich auch heraus, dass die ‚Intransigenz‘ der Eltern eigentlich ihre Erfindung war (….).“71 Die Heiratspläne mit Laure sollten sich dennoch nicht realisieren lassen. Er war zu früh in ihr Leben getreten. Die Trennung ging von ihr aus. Laure hatte den Wunsch, ein freies Leben zu führen, während Nicolaus sie in das Joch der Ehe spannen wollte. Das Dilemma wirft einen Schatten auf sein libertäres Liebesideal, das freilich erst den reiferen Sombart charakterisiert. In den frühen fünfziger Jahren spielte sich sein Leben noch vorwiegend in konventionellen Bahnen ab, zwischen dem Verlangen nach flüchtigen Liebesabenteuern und der Suche nach fester Bindung in einer nach traditionellen Mustern gestalteten Ehe. Im Frühjahr 1953 lernt Nicolaus Sombart seine spätere Ehefrau Tamara Khoundadzé, eine begabte Pianistin, Tochter eines Georgiers und einer Schottin, kennen. Ihr Vater Michael Khoundadzé war ein Schüler Werner Sombarts. Eine geplante Heirat wird zunächst verschoben, da Nicolaus sich nicht in der Lage sieht, seine zukünftige Frau anständig zu ernähren.72 Es gilt, zuvor die berufliche Situation zu klären. In einem Brief an die Mutter fasst er seine Lage zusammen: Wie stehen die Dinge? Ich bin mit einem Stipendium in Paris, um eine Habilitationsschrift zu verfassen. Ich habe noch nicht zwei Jahre daran gearbeitet. Hast Du schon einmal davon gehört, dass man Habilitationsschriften in so kurzer Zeit macht? Ich nicht. Auch

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Nicolaus Sombart an Corina Sombart. Brief vom 8. 7.1952. NL N. Sombart, 405, 1737. Ebd. Ebd. Ebd. Nicolaus Sombart an Corina Sombart. Brief vom 15.7.1952. NL N. Sombart 405, 1737. Die Heirat findet im Juli 1954 statt.

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die Leute, die mich finanzieren, sind keineswegs ungeduldig. Im Gegenteil: sie wollen mein Stipendium verlängern, um mir die Möglichkeit zu geben, meine Arbeit so gut wie möglich abzuschließen. Das bedeutet, dass ich noch fünf bis sechs Monate in Paris sein werde (Ende 1953 also). Inzwischen habe ich aber nicht etwa geschlafen, sondern mir Gedanken gemacht, was ich danach tun werde. Ich habe zu diesem Zweck eine Reise unternommen, wie Du weißt. Diese Reise hatte sehr positive Ergebnisse. 1.) Erhielt ich die Gewissheit, dass ich mich in Bonn habilitieren könnte; 2.) nahm ich Verbindung mit dem Institut für Sozialforschung in Dortmund auf. Ich lege Dir den letzten Brief von Popitz (Sohn)73 bei, der dort leitender Assistent ist. Du entnimmst ihm, wie weit die Verhandlungen gediehen sind. Ich bin dabei, das Exposé auszuarbeiten, in dem ich eine wissenschaftliche Analyse des Ruhrgebiets unter bestimmten Gesichtspunkten vorschlage. Nach meinen historischen Arbeiten wird mir eine solche Beschäftigung mit Gegenwartsproblemen und den Methoden der angewandten Soziologie nicht nur sehr gut tun, sondern auch meine Wissensbasis erweitern. Ich ziele also auf einen Forschungsauftrag für zwei Jahre hin, den ich unter dem Protektorat dieses (Universitäts)-institutes erfüllen will. Gleichzeitig werden sich die Dinge in aller Ruhe in Bonn entwickeln können. Ich hoffe, dass ich, wie Scheibert74 , einen kleinen Lehrauftrag haben werde – er würde mich einen Nachmittag in Anspruch nehmen – mehr ist zunächst kaum zu erwarten: denke nur an Scheibert, der seit fünf Jahren in Bonn sitzt, alle Leute bestens kennt, 39 Jahre alt ist, und auch noch nicht weiter ist.“75

Hatte Nicolaus Sombart achtzehn Monate früher seiner Mutter eine Universitätskarriere als miserable Perspektive vor Augen geführt, die ihm lediglich ein Leben auf bescheidenem Niveau ermöglichen werde, und seine geistigen Ideale verteidigt, so hat nun der Realist in ihm den Sieg davongetragen. Eine Universitätskarriere stellt sich ihm als durchaus erstrebenswert dar. Offenbar meint er sogar, die für eine Ehe notwendige materielle Existenzgrundlage auf diesem Wege sicherstellen zu können. Doch bevor er sich als Lehrbeauftragter, Assistent oder Forscher an einem Universitätsinstitut in Dortmund oder Bonn verdingen sollte, bot sich Sombart eine attraktive Alternative an: ein gut dotierter Posten in einer internationalen Organisation, dem Europarat in Straßburg.

73 Heinrich Popitz (1925–2002), Soziologe, Sohn des preußischen Ministers, Carl-Schmitt-Freundes und späteren Widerstandskämpfers Johannes Popitz, war ein Heidelberger Kommilitone von Nicolaus Sombart. 74 Peter Scheibert (1915–1995), von 1961 bis 1981 Professor für Osteuropäische Geschichte in Marburg, war Gast im Hause Werner und Corina Sombarts. Vgl. Nicolaus Sombart, Jugend in Berlin, erw. u. überarb. Ausgabe, Frankfurt am Main 1991, S. 119ff. Später verkehrte er im Salon Nicolaus Sombarts in Berlin-Wilmersdorf. (Freundliche Auskunft von Dagmar Scheibert). 75 Nicolaus Sombart an Corina Sombart. Brief vom 21.6.1953. NL N. Sombart 405, 1737.

Elitetheorie und neue Geschlechterordnung

Elitetheorie und neue Geschlechterordnung Welche Erkenntnisse brachten dem Soziologen Nicolaus Sombart seine Pariser Explorationen? In einem Ludwig Wittgenstein nachempfundenen „Tractatus sociologicus“ fasst er die Ergebnisse seiner Erkundungen zusammen.76 Es handele sich dabei um einen höheren Grad soziologischer Erkenntnis, die Wahrheit hinter den vielen Teilwahrheiten, eine Art Metasoziologie. Sombart verdankt seine Erkenntnisse dem Zutritt, den er sich zur exklusiven Pariser Gesellschaft verschaffen konnte. Seine Beobachtungen in dieser Welt haben ihn gelehrt, dass die Gesellschaft ein hierarchisches soziales Gebilde darstellt, das ein Oben und ein Unten kennt. Es sei dies gleichsam ein gesellschaftliches Naturgesetz, das alle politischen Umwälzungen überdauere. Er zitiert Honoré de Balzac mit dem Satz, der Unterschied zwischen Reichen und Armen sei eine Grundtatsache der sozialen Ordnung, die man hinnehmen müsse, und dekretiert: „Der Satz von Balzac hat die Gültigkeit eines Axioms.“77 So sehr – wie an anderer Stelle insinuiert – seine Sympathie auch den Erniedrigten und Beleidigten gilt, so sehr sieht er sich genötigt, diesem unverrückbaren Axiom Rechnung zu tragen. Dies hat zur Folge, dass er sein Interesse vor allem der Spitzengruppe der Gesellschaft zuwendet. Die Analyse dieser Schicht allein verspricht Einsichten in den vor unseren Augen sich abspielenden Geschichtsprozess. Der Gipfelbereich ist auch die eigentliche Sphäre der Kultur, Kultur verstanden als ein Kodex von Normen und ein System symbolischer Formen. Hier werden die für die Gesellschaft gültigen Wertmaßstäbe und Qualitätskriterien entwickelt und verankert. Der Gipfelbereich – die in dieser Sphäre angesiedelten Individuen bilden die „gute Gesellschaft“ oder die „große Welt“ – ist der Bereich gesellschaftlicher Superlative. Er liefert die Indikatoren für die „jeweils optimalen menschenmöglichen Daseinsbedingungen.“78 Die Menschen dieses Milieus zeichnen sich durch einen „superioren Lebensstil“ aus. Das soziologische Axiom: „Der einzelne ist nichts ohne die Gesellschaft“ sei so zu deuten, dass der einzelne nichts außerhalb dieser Gesellschaft im engeren Sinne darstelle. Er gelte nur in dem Maße etwas, wie er dazugehöre.

76 In einem Brief an den Carl-Schmitt-Forscher Piet Tommissen schreibt Sombart über das Buch „Pariser Lehrjahre“: „Es enthält gewissermaßen den wissenschaftlichen Extrakt meiner nie fertiggestellten Habilitationsschrift, deren soziologische Substanz ich 40 Jahre später als den Erfahrungsgewinn einer ‚Feldstudie‘ mit dem methodischen Instrumentarium der ‚teilnehmenden Beobachtung‘ nachgeliefert habe. Der Untertitel ‚Leçons de Sociologie‘ kündigt an, worum es in dem Buch geht.“ (Nicolaus Sombart an Piet Tommissen. Brief vom 15.12.1995. NL N. Sombart 405, 1765.) 77 Pariser Lehrjahre, S. 366. 78 Ebd., S. 362.

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Sombarts Soziologie mündet in das snobistische Credo, nur die Zugehörigkeit zum oberen Segment der Gesellschaft verleihe dem Leben einen Sinn. „Man wird sich mit dem Gedanken abfinden müssen, daß das Leben der meisten Menschen keinen Sinn hat.“79 Es sei sinnlos, da es keinen Zugang zum Luxus, zur höheren Kultur, zu einem superioren Lebensstil, mit einem Wort: zu einem höheren Menschentum gewähre. Während sich Sombarts soziologische Feldforschung zu einer Elitetheorie verdichtet, haben seine erotischen Abenteuer ihn von dem visionären Gehalt der saint-simonistischen Lehre überzeugt: der absoluten Notwendigkeit der sexuellen Emanzipation der Frau. Beides, die Theorie der Elite und die Bekräftigung der These von einer durch die Frau geprägten Gesellschaftsordnung der Zukunft, stellt sich als das für ihn wegweisende Ergebnis seiner soziologischen Forschungen dar. Nicht nur kluge Männer, mit denen er lange Gespräche führt, sondern auch Frauen, die ihn in die Sphäre des Sinnlichen einführten, haben sein Wissen entscheidend geprägt. Die Frage, wie die seit der Französischen Revolution durch den europäischen Bürgerkrieg in einem dauerhaften Krisenzustand gehaltene Übergangszeit beendet werden könne, erfordere eine fortschrittliche geschlechterpolitische Antwort, ein radikales Zukunftsprojekt: „Die Heraufkunft einer auf der Komplementarität des männlichen und des weiblichen Prinzips basierenden Gesellschaftsordnung.“80 Die „Männerphilosophie“ der Geschichte von Hegel, Marx und ihren Schülern habe abgedankt. Eine Soziologie der Versöhnung der ganzen Menschheit unter Einschluss der Frauen sei im Entstehen begriffen. Sombart stellt eine Reihe von Postulaten auf, die für die neue Soziologie verbindlich sein sollen. Diese Wissenschaft wird zu einem universalen „Interpretationszusammenhang, in dem sich das neue Selbstverständnis des Menschen als zweigeschlechtliches Gattungswesen entfaltet.“81 Doch damit nicht genug: „Die Überwindung des Männerzeitalters kulminiert in der Sakralisierung des Geschlechtlichen/Weiblichen als gnostischer Lebensmacht.“82 War in der dialektischen „Männerphilosophie“ der Klassenkampf das Schlüsselthema, so wird für die von ihrer Negativität befreite Soziologie die Geschlechterproblematik zum zentralen Anliegen der Menschheitsentwicklung. Eine solche Soziologie muss gelebt und als Experiment begriffen werden. Für Sombart ist SaintSimon dafür ein überzeugendes Beispiel. Dessen Theorie der „vie éxperimentale“ bildet den Kompass und das Vorbild für ein soziologisch reflektiertes Leben. „Bis

79 80 81 82

Ebd., S. 367. Ebd., S. 372. Ebd. Ebd.

Die Zukunft gehört dem Snob

heute“, schreibt der Siebzigjährige, „bin ich der Idee der vie éxperimentale treu geblieben.“83 Zeugnis dieser Lebensphilosophie sind die „Pariser Lehrjahre“. Es ist dies die Philosophie eines erotisch inspirierten Soziologen, der der Gesellschaft der deutschen Männer den Rücken kehren musste, um seinen eigenen Weg zu finden. Erst in den achtziger Jahren wird sich Sombart wieder in Deutschland niederlassen.

Die Zukunft gehört dem Snob Sombarts „Pariser Lehrjahre“ ist ein im eminenten Sinne soziologisches Buch. Sein Zugang zu Repräsentanten der „großen Welt“, die in Paris immer noch den Ton angeben, eröffnet ihm die Chance, diese Gesellschaftsschicht in ihrer inneren Struktur genauer kennenzulernen und ihre Geheimnisse zu enthüllen. Dies unterscheidet seine Aufzeichnungen von den Paris-Büchern anderer deutscher Autoren, seien es Schriftsteller, Journalisten oder Historiker. Es bedarf – wie Balzac und Proust lehren – einer gewissen Portion Snobismus, um sich Zugang zu den mondänen Kreisen zu verschaffen. Das Oben, das Sombart interessiert, findet er als kohärente soziale Größe in der französischen Metropole. Hier kann er als teilnehmender Beobachter Feldforschung betreiben. Er zählt zwar nicht dazu, ist aber immer dabei. Die Gelehrten, die Sombart in Paris aufsucht, sind Spezialisten auf dem Gebiet der Pariser Stadtsoziologie. Auch der Schriftsteller Joseph Breitbach, eine Art graue Eminenz der Literatur, der seit Ende der zwanziger Jahre in Paris lebt, gehört zu ihnen. Sombart lernt Breitbach auf Empfehlung von Ernst Jünger kennen. Breitbach erteilt Sombart ein Privatissimum über die Struktur der Pariser Gesellschaft und ihr Verhältnis zum Tout Paris. Danach bildet die oberste Schicht der sozialen Hierarchie – Adel und Hochfinanz – eine Formation mit einer Vielzahl von Familienverbänden und Genealogien, die weit in die Geschichte zurückreichen. Sie ist exklusiv und endogam, durch Handel, Geschäftsverkehr und Konnubium verbunden. Gemeinsam ist ihr ein exquisiter Lebensstil und das Bewusstsein ihres gesellschaftlichen Ranges. Die Angehörigen dieser Kaste haben die gleichen Vorstellungen und Wertmaßstäbe. Staat und Wirtschaft kontrollieren sie über ein intaktes System persönlicher Beziehungen. In dieser Gesellschaft im engeren Sinne sind der Name der Familie, die Herkunft und das Vermögen ausschlaggebend. Dagegen ist es in der Gesellschaft im weiteren Sinne von entscheidender Bedeutung, sich einen Namen zu machen und Prominenz zu erringen. Hier findet das

83 Ebd., S. 29.

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Phänomen des Tout Paris seinen Ausdruck. Es ist der Tummelplatz der Tagesprominenz, mit der sich Angehörige der eigentlichen Gesellschaft mischen und zu ihrem Glanz beitragen. Was Sombart durch Joseph Breitbach und andere Kenner des Milieus erfährt, finde man so in keinem Lehrbuch der Soziologie. „Als Grundregel gilt: Wer dazugehört, schweigt, ist zum Schweigen verpflichtet, wer nicht dazugehört, weiß nichts. Er ist auf Gerüchte, Legenden, Vermutungen, Beobachtungen angewiesen (…). So kommt es dazu, daß die ‚Wissenschaft von der Gesellschaft‘ von Leuten gemacht wird, die die Gesellschaft nicht kennen. Das ist das Schicksal der Soziologie.“84 Sombart ist wie Breitbach von der Kontinuität der soziologischen Konstellation in Frankreich von der Revolution bis zur Gegenwart überzeugt. Die alten namhaften Familien halten seit hundertfünfzig Jahren ihren Rang, auch wenn die großen Damen und die von ihnen repräsentierte Salonkultur allmählich an Einfluss verlieren. Auch der Typus des großen Herrn gehört noch nicht vollends der Vergangenheit an. Männer wie der ultrakonservative Graf Jacques de Ricaumont, der Philosoph Jean Paul Aron, ein Neffe des Soziologen Raymond Aron, und der Privatgelehrte Bernard Minoret vermitteln Sombart einen Eindruck davon, was es heißt, ein homme de lettres und homme du monde zu sein. Die Mischung aus unprofessoraler Gelehrsamkeit und Weltläufigkeit macht diesen Typus aus. Allein diese Synthese erscheint dem aufstrebenden Wissenschaftler Sombart erstrebenswert. Sie stellt das Gegenteil von Spezialistentum dar und entspricht der Vorstellung eines gehobenen, spielerischen Dilettantismus. „Das, sagte ich mir, ist ‚Soziologie‘, Gesellschaftskunde, die immer nur ein Wissen, aber niemals eine Wissenschaft sein kann.“85 Dieses Wissen wird mündlich weitergegeben und durch das Studium von Memoiren und Biographien vertieft. In dem Philosophen Alexandre Kojève86 , Fachmann für auswärtige ökonomische Beziehungen im französischen Staatsdienst, begegnet Sombart einem Gelehrten, für den sich profunde Hegel-Kenntnisse mit der Leichtigkeit des Seins verbinden. Kojève wirkte an führender Stelle am wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas mit. Das Ziel der Geschichte war für ihn der universelle und homogene Weltstaat. Die Herstellung der planetarischen Einheit betrachtete er als ein wissenschaftlichtechnologisches Problem. War er zunächst von der Zukunft der amerikanischen Lebensweise überzeugt, so entdeckte er nach einem Japanbesuch die Bedeutung einer Lebenskultur des Zeremoniellen, die Kultur eines demokratischen Snobismus.

84 Ebd., S. 211. 85 Ebd., S. 238. 86 Der in Moskau als Alexander Koschewnikow geborene Alexandre Kojève (1902–1968), ein Neffe des Malers Kandinsky, studierte in Berlin und Heidelberg Philosophie und wurde in den dreißiger Jahren durch seine Hegel-Vorlesungen an der Pariser École pratique des hautes études berühmt. Nach dem Krieg wurde er Berater der französischen Regierung in europapolitischen Fragen.

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In der Zukunft werde alles eine Frage des Lebensstils sein, das Höchste sei die Inszenierung spielerischer Ekstasen. Sombart fühlt sich vom Hedonismus und Snobismus Kojèves in seinen eigenen Beobachtungen bestätigt. Die Utopie des Snobs sei das Programm der post-histoire, der Gesellschaft am Ende der Geschichte, in der es keinen grundsätzlichen Wandel mehr gibt, sondern nur noch wissenschaftlich-technische Neuerungen. Sombart, stets an Fragen der Zukunft interessiert, nimmt beifällig Kojèves These auf, dass die Zukunft dem Snob gehöre. Dieser Typus weist auf das 18. Jahrhundert zurück. Er ist der Nachfahr des Aristokraten. „Der Snob (in der Pose des Dandys) ist der letzte Triumph des immer wieder totgesagten Ancien régime, der Suprematie der aristokratischen Lebensform und aristokratischer Werte wie Eleganz, Verschwendung (Prodigalität), Kult der Schönheit, Courtoisie über die bürgerliche Moral. Er ist das Programm der bürgerlichen Selbst-Nobilitierung durch Imitation und Osmose. Veredelung durch Anpassung. Sozialisierung durch Zivilisierung.“87 Der Snob ist auch das Programm Nicolaus Sombarts, nicht in der vulgären Spielart dessen, der dabei sein will, wenn die Herrschaften zu Tisch bitten, sondern in der Rolle des Dandys, der neben den Herrschaften, ja über ihnen zu stehen meint. Erst recht, wenn die Oberschicht aus sich heraus nicht mehr traditionsbildend zu wirken vermag. Sombart sieht die Demokratisierung des Snobismus in der Lifestyle-Werbung der kapitalistischen Konsumgesellschaft verwirklicht. Dieses Muster eines alltäglich gewordenen Snobismus ist allerdings nicht nach seinem Geschmack. Er hält an einem ästhetisierenden Snobismus höheren Grades fest, der nicht demokratisierbar ist. Nicolaus Sombart nimmt – genau betrachtet – eine Zwischenstellung zwischen Snob und Dandy ein. Für den Snob spricht sein Bemühen, unbedingt zur feinen Gesellschaft gehören zu wollen. Dabei leitet ihn das stolze Bewusstsein, selbst aus gutem Hause zu stammen und ein Anrecht auf einen Platz in den besseren Kreisen zu besitzen. Er schaut also nicht wie der Snob von unten auf die da oben, die er um ihre gesellschaftliche Stellung beneidet. Er gehört durch Herkunft und Namen selbstverständlich dazu. Sein Dilemma ist nur, dass er verarmt ist und sich als deklassiert empfindet. Insofern muss er dem Programm der bürgerlichen SelbstNobilitierung folgen. „Veredelung durch Anpassung“ an die Konventionen und den Lebensstil der Oberschicht fällt Sombart nicht schwer. Er trägt das gewisse Etwas in sich. Er hat es von Haus aus in sich aufgesogen. Mit instinktiver Sicherheit weiß er sich in der Welt der Pariser grand monde zurechtzufinden. Seine Suche nach einer guten Partie, die ihn aus seiner wirtschaftlichen Notlage befreit, ist zweifellos von snobistischen Motiven gesteuert. Er erträgt es nicht, sich als Nachwuchsakademiker auf den steinigen Weg einer Universitätskarriere zu begeben, die ihm am Ende

87 Pariser Lehrjahre, S. 350.

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keinen höheren Lebensstandard einbringen wird als den eines mittleren Beamten. Er will höher hinaus. Franz Werfel hat den Snobismus als eine Atonalität des Geltungstriebs bezeichnet. Eine seiner Spielarten sei der terminologische Snobismus, der darauf ausgehe, das Lesen wissenschaftlicher Bücher zu erschweren. Er entspringe der ExklusivitätsEitelkeit und bestehe „in scharadenhafter Erfindungskunst von Fachwörtern, die sich aus einer unzweifelhaften Kenntnis des Griechischen und Lateinischen herleiten.“88 Auf diesem Gebiet ist Sombart ein Meister. Zur Vollkommenheit entwickelt er diese Kunst in den „Pariser Lehrjahren“, ein Werk, das selbst der gebildete Leser nicht ohne Hinzuziehung eines Fremdwörter-Lexikons zu entziffern vermag. Werfel spricht vom „Snobismus der Unverständlichkeit“. „Das ist die Sucht, eine Banalität durch orthopädische Künste so zu verdrehen, daß sie, ohne von ihrer Gedankenarmut zu verlieren, magischen Tiefklang bekommt.“89 Von Gedankenarmut kann in Sombarts Paris-Buch freilich nicht die Rede sein. Im Gegenteil. Sombart ist ein glänzender Skizzierer. Der Leser wird auf anschauliche Weise mit den unterschiedlichsten Facetten des Pariser Lebens bekannt gemacht, die er so weder in Reiseführern noch in Romanen findet. Sombart verfügt über einen scharfen Blick hinter die Kulissen des mondänen gesellschaftlichen Treibens. Eine snobistische Haltung scheint in seinen Berichten auch dann auf, wenn die erotische Sphäre berührt wird und Heiratsinteressen im Spiel sind. Sombart ist zwar kein Kostverächter und sucht seine Gespielinnen nicht ausschließlich in der Oberschicht. Dennoch ist die Bevorzugung von „Klasse-Frauen“, von denen sich der Jungakademiker ausführen und verführen lässt, unverkennbar. „Seine Geschlechtsdrüsen werden nicht von Boccaccio, sondern vom Gothaer Almanach angeregt“90 , schreibt Arthur Koestler über den Snob. Dass für den Bürger eine Herzogin immer eine schöne Frau ist, wusste schon Stendhal zu berichten. Für den Soziologen Sombart sind die genealogischen Nachschlagewerke des Adels eine unverzichtbare Lektüre. Snob und Schürzenjäger, Weltmann in spe und Abenteurer durchdringen sich auf unmerkliche Weise. Sombarts gesellschaftliche Ambitionen finden in der Figur des Schweizer Diplomaten und Historikers Carl Jacob Burckhardt exemplarisch Gestalt. Burckhardt residiert in der Nähe von Paris in einem kleinen Schloss und empfängt den deutschen Besucher mit abgemessener Höflichkeit. Für Burckhardt war es selbstverständlich, dass jemand, den er zu sich einlud, einen Namen besaß. Der Diplomat war ein alter Bekannter. Er hatte vor dem Krieg in Berlin im Hause Sombart verkehrt. In der Historikerzunft betrachtete man Burckhardt als einen Amateur und 88 Franz Werfel, Der Snobismus als geistige Weltmacht (1928). In: Über den Snob, München 1962, S. 38. 89 Ebd. 90 Arthur Koestler, Anatomie des Snobismus, ebd., S. 79.

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Dilettanten. Dilettantismus entsprach allerdings – so Sombart – vollkommen dem Selbstverständnis dieses Weltmannes, der die Wissenschaft stets etwas kavaliersmäßig betrieb. Das Schreiben betrachtete er als ein Vergnügen. „Seit seiner Jugend bewegte er sich selbstverständlich auf dem Parkett der großen Welt. Ein vorbildlicher Repräsentant der alten Oberschicht, deren Kulturbegriff unlöslich verbunden ist mit einem senioralen [sic!]91 Lebensstil. Ein guter Europäer, kosmopolitischer als alle Franzosen, die ich kannte.“92 Durch Burckhardt sieht sich Sombart in seinen Vorstellungen von einer neuen Elite und einem neuen Konservatismus bestätigt. Es gehe darum, die Leerstelle auszufüllen, die seit dem Ausscheiden des europäischen Adels als Führungsschicht unbesetzt geblieben sei. Von dem Schweizer Botschafter entlehnt Sombart das Ideal des honnête homme, ein französisches Kulturprodukt, das sich vom Bildungsideal des deutschen Humanismus durch seine höfische Prägung unterscheidet. Dem englischen Ideal des Gentleman fügt es das Spielerische, die Grazie hinzu. Seine Quintessenz findet dieses Ideal in den Worten von Prinz Eugen an seine adligen Offiziere: „Meine Herren, Sie haben nur eine Lebensberechtigung, wenn Sie beständig auch in der größten Gefahr als Beispiel wirken, aber in so leichter und heiterer Weise, daß es Ihnen niemand zum Vorwurf machen kann.“93 Den Besuch bei Carl Jacob Burckhardt betrachtet Sombart als den Höhepunkt seiner Pariser Lehrjahre, als eine Art Ritterschlag. „Honnête homme sein! Das war also die Burckhardtsche Botschaft an den jungen Deutschen. Nicht Professor, Schriftsteller, Diplomat, Künstler – nicht ein Berufsmensch, kein ‚Spezialist‘ - sondern einem Ideal dienen und darin Vorbild sein, mit Grazie und Leichtigkeit.“94 Nicolaus Sombart sieht es als ein Privileg seiner Herkunft an, dass er über diese Leichtigkeit verfügt. Hinzu kommt eine Freiheit im Umgang mit den Konventionen.95 Was bedeutet es aber, in der Gegenwart die Lebenshaltung des honnête homme als verpflichtende Maxime zu befolgen? Das Ideal, dem Sombart nach Abschluss seiner Pariser Forschungen dienen will, ist das Vereinigte Europa, die nobelste Sache für seine Generation. Hier sieht er sich in der Nachfolge seines Vorbildes Saint-Simon, der als erster das Projekt einer Union der europäischen Staaten entworfen hatte, um den durch die Französische Revolution ausgelösten Bürgerkrieg zu beenden. „So

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Gemeint ist „seigneurial“ im Sinne von herrschaftlich. Pariser Lehrjahre, S. 354. Zitiert nach Burckhardt, Der Honnête Homme, S. 367. Pariser Lehrjahre, S. 356. Im „Journal intime“ findet sich die Tagebucheintragung: „Dienstag, den 24. Mai 1983: (...) Ich sage Wapnewski, daß ich mich auch für einen Nonkonformisten halte. Er sagt: ‚Du bist ein freier Mensch, einer der ganz wenigen, die ich kenne.‘“ (Sombart, Journal intime, S. 157.)

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ging ich zum Europarat. Es war die Option von Kojève. Von Hegel zur Europäischen Gemeinschaft. Ich befand mich in bester Gesellschaft.“96

96 Pariser Lehrjahre, S. 370.

V.

Kultursekretär im Europarat. Publizistische Vorhaben

„Es war Saint-Simon, der mich zum Europäer gemacht hat, von dem der Imperativ stammt: ‚Il faut absolument être Européen!‘“1

Ende der Lehr- und Wanderjahre Nicolaus Sombart stellt seine Lehr- und Wanderjahre als einen Erziehungs- und Bildungsprozess dar, der seinen konsequenten Abschluss mit seinem Eintritt in den Europarat in Straßburg gefunden habe. Dabei gestaltete sich der Weg nach Straßburg keineswegs so geradlinig, wie in seiner Erinnerung heraufbeschworen. Und auch die Einsichten in das „Sacrum sexuale“ waren Anfang der fünfziger Jahre bei dem Lernenden bestenfalls embryonal vorhanden. Von einem Versuch, seine erotischen Erlebnisse theoretisch zu verarbeiten und ihnen die Weihe eines höheren Wissens zu verleihen, ist in den verfügbaren Quellen nicht die Rede. Briefe aus jener Zeit künden nicht von einer Sakralisierung des Eros, sondern von Liebesnot und Schwierigkeiten, die wissenschaftliche Karriere voranzubringen. Zwar verbrachte Sombart viele Stunden in der Pariser Nationalbibliothek mit Recherchen für seine Habilitation, doch das Bedürfnis, sich zu amüsieren, nahm mehr Raum ein, als der Arbeit guttat. Damit, sich seinen Lehrer Carl Schmitt zum Vorbild zu nehmen – Schmitts Foto zierte seinen Schreibtisch im Hotel Henri IV. – , war er schlecht beraten. In zahlreichen Briefen an seinen Mentor versuchte er den Eindruck zu erwecken, seine Habilitationsschrift mache gute Fortschritte. In anspruchsvoller Diktion heißt es: „Es wird eine moderne Mythologie: es wird mir gelingen zu zeigen, wie Begriffe aus Erfahrungen destilliert werden – und inwiefern ‚Begriffe‘ (die Begriffe der politischen Wissenschaften) mythologische Charaktere sind.“2 Sombart verweist dabei auf Roger Callois und Georges Bataille, die die Ergebnisse der ethnologisch orientierten Soziologie auswerteten. „Ich komme auf meine Weise ihren Thesen sehr nahe – denn die archaische Struktur der sog. Modernen (postrevolutionären) Gesellschaft ist zweifellos besser mit den Kategorien

1 Nicolaus Sombart: Interview mit Eryck de Rubercy. In: Revue des Deux Mondes. Sondernummer Deutschland/Frankreich, Mai 2005. 2 Nicolaus Sombart an Carl Schmitt. Brief vom 14.1.1953. In: Tielke, Schmitt und Sombart, S. 57.

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des ‚Totemismus‘ zu fassen, als mit den Rationalisierungen des Staatsrechts und der Sozialwissenschaften des 19. Jahrhunderts.“3 In Wahrheit hatte Nicolaus Sombart jedoch die Messlatte zu hoch gehängt und verzettelte sich in einer Vielzahl von Lektüren und Exzerpten, ohne diese in einen kohärenten Zusammenhang bringen zu können. Eine Abrechnung mit der Welt der deutschen Männer lag noch in weiter Ferne, wusste er sich doch einem ihrer wichtigsten Repräsentanten, Carl Schmitt, zutiefst verpflichtet. Schmitts Denkansätze sollten seine wissenschaftlichen Forschungen in Paris anregen und ihnen Relief verleihen. Über Henri de Saint-Simon und Pierre Simon Ballanche tauschte er sich mit Schmitt kontinuierlich aus und versuchte, seine Deutung der Entstehung der Geschichtssoziologie in Einklang mit dem Denken Schmitts zu bringen. Insofern muten spätere Abgrenzungsbemühungen im Kontext seiner Pariser Erlebnisse anachronistisch an. Der „Meister“ war in Paris allgegenwärtig. Auch hier war es die Welt der Männer, in der der junge Wissenschaftler verkehrte, um seine Kenntnisse zu vermehren. Die Welt der Frauen existierte jenseits des intellektuellen Kosmos.4 Seine Briefpartner Peter Scheibert, Hanno Kesting und Reinhart Koselleck erkannten bald, dass Sombart seine Habilitationsarbeit niemals beenden würde. Corina Sombart wendet sich im Juli 1953 besorgt an Carl Schmitt, während sich der Sohn in Spanien aufhält. „Sein Aufenthalt in Paris hat nach meiner Ansicht keinen Sinn mehr. Das Material, das er braucht, ist da, das Leben in Paris ist nur ablenkend und in der Hinsicht gefährlich; wie macht man, um ihn irgendwo zu placieren, um ihn in Deutschland zu fesseln? Geben Sie mir einen Rat, wenn Sie in der Lage sind, es zu tun.“5 Corina Sombart schreibt diesen Brief in einer Situation, in der sich Nicolaus gerade mit Tamara Khoundadzé verlobt hatte und Ausschau nach einer festen Anstellung an einer Universität in Deutschland suchte. Sie traut seinen Zusicherungen offenbar nicht, er habe beste Aussichten, in Bonn oder Dortmund eine die Karriere fördernde Stelle zu erhalten. Kurz vor Ablauf seines Stipendiums und der Annahme des Postens beim Europarat schreibt Peter Scheibert an ihn: „Nun hat C. S. [Carl Schmitt] doch mit seiner Prophezeiung recht behalten, dass Du das Buch nie schreiben würdest. Ich hoffe

3 Ebd., S. 58. 4 Darauf macht Undine Gruenter in ihrer Rezension der „Pariser Lehrjahre“ aufmerksam. „Das Gegenüber von Sombarts so gerühmten Geselligkeiten scheint auf im Gespräch, das im ganzen Buch nur zwischen Männern stattfindet (…) Die Frauen werden vom Höfling verehrt; er erweitert das allein dem Genuß verpflichtete Spiel der Mentorinnen, die ihn in die Liebe einführten.“ (Gruenter, Kleiner Gigolo am Venusberg, S. L 2.) 5 Corina Sombart an Carl Schmitt. Brief vom 22.7.1953. In: Tielke, Schmitt und Sombart, S. 156.

Einer noblen Sache dienen

sehr, dass Straßburg oder Luxemburg klappt.“6 Scheibert, durch seine Tätigkeit bei der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft 1949/50 mit den dortigen strengen Gepflogenheiten vertraut, drängt seinen Freund, wenigstens ein Teilkapitel seiner Habilitation oder einen längeren Aufsatz zu veröffentlichen, „um auf diese Weise der Menschheit zu zeigen und auch der Forschungsgemeinschaft, dass die Zeit und das investierte Geld doch nicht ganz verloren ist.“7 Scheibert erteilt Sombart den Rat, seinen persönlichen Kredit bei allen wesentlichen Leuten nicht zu verscherzen. Sei der vertan, hole er ihn nie wieder auf.

Einer noblen Sache dienen Am 17. November 1953 hatte sich Nicolaus Sombart an die Personalabteilung des Auswärtigen Amtes in Bonn gewandt. Er hatte dort persönlich vorgesprochen und sich nun auch schriftlich für die Verwendung im Dienst supranationaler Organisationen beworben. Sombart weist in seinem Bewerbungsschreiben darauf hin, dass seine Habilitationsschrift kurz vor dem Abschluss stehe und er vorhabe, sich in Bonn im Fachgebiet Politische Wissenschaften zu habilitieren. Er sei augenblicklich Pariser Berichterstatter der „Zeit“ und ständiger Mitarbeiter der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen. Auch habe er immer wieder für den Rundfunk gearbeitet. Für die Verwendung im Dienst einer internationalen Organisation bringe er durch sein Elternhaus besondere persönliche Voraussetzungen mit. „Die gesellschaftlichen Formen des diplomatischen Lebens sind mir durch den Salon meiner Mutter in Berlin vertraut.“8 Obwohl er sich auf eine Universitätslaufbahn vorbereite, wünsche er sich für die nächsten Jahre eine praktische Tätigkeit in einer großen politischen Organisation. „Zu über-nationalen Organisationen neige ich deswegen, weil ich der Überzeugung bin, dass sich in ihrem Rahmen die Aufgaben der Zukunft stellen. An ihrer Lösung tätig mitzuwirken, gehört indessen zu meinen Lebenszielen.“9 Er sei ab dem 1. März 1954 disponibel, gegebenenfalls aber auch früher verwendbar. Als Referenzen nennt er Alfred Weber, Ludwig Curtius, Marion Gräfin Dönhoff und Joseph Breitbach. Unterstützung erhält er durch Hans-Heinrich Herwarth von Bittenfeld vom Auswärtigen Amt. Die Bewerbung ist erfolgreich. Peter Scheibert empfiehlt Sombart, den Posten beim Europarat anzunehmen, denn „(…) das liegt Dir sicher besser als die Univer-

6 Peter Scheibert an Nicolaus Sombart. Brief vom 22.3.1954. NL N. Sombart 405, 1122. 7 Ebd. 8 Nicolaus Sombart. Brief an die Personalabteilung des Auswärtigen Amtes in Bonn. 3 Seiten mschr. Siehe: NL N. Sombart 405, 1870 (Bewerbung und amtliche Dokumente für die Tätigkeit beim Europarat). 9 Ebd.

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sität mit ihren leicht kleinbürgerlichen Zügen. Es ist eben in Westdeutschland alles Provinz.“10 Am 1. Mai 1954 nimmt Nicolaus Sombart seine Tätigkeit als Sekretär im Generalsekretariat des Europarats in Straßburg auf. Seine Aufgabe besteht darin, die Arbeit der Kulturkommission der Beratenden Versammlung zu organisieren. Er erhält eine unbefristete Anstellung und durchläuft mehrere Besoldungsstufen. Sein Zuständigkeitsbereich umfasst internationale Kultur-, Bildungs-, Wissenschaftspolitik und Raumordnung. Am 26. November 1978 wird Sombart zum Leiter der Kulturabteilung („Chef de la Division des Affaires culturelles“) des Generaldirektorats für Bildung, Kultur, Kulturelles Erbe, Jugend und Sport ernannt.11 Der 1949 gegründete Europarat widmet sich der Umsetzung der Werte der Demokratie, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit. Ihm gehören heute 45 Staaten an. Hauptorgane des Rates sind das Ministerkomitee und die Parlamentarische Versammlung. Letztere hat gegenüber dem Ministerkomitee beratende Funktion. Das Sekretariat unter Führung eines Generalsekretärs unterstützt die beiden Hauptorgane bei ihren Aktivitäten. Es umfasst ca. 1800 Beamte, die aus den Beiträgen der Mitgliedsstaaten zum Haushalt des Europarats bezahlt werden.12 Nicolaus Sombart sollte für das Generalsekretariat des Europarats dreißig Jahre lang Dienst tun. Die Entscheidung für Straßburg war ihm nicht leichtgefallen. So attraktiv der Posten auch erscheinen mochte, war er sich doch bewusst, dass damit – zumindest vorläufig – der Abschied von der Wissenschaft besiegelt war. Peter Scheibert spricht ihm in dieser Lage Mut zu: „Warum solltest Du Dich wegen des Verzichts auf die Wissenschaft entschuldigen? Ich meine nach wie vor, Du solltest zwei oder drei Aufsätze schreiben mit Andeutung von Epochalem, das kommt, und nicht lautlos das Feld räumen (…) Ich bin sehr einverstanden mit dem Conseil, wenn Du Dir in diesem hektischen Betrieb voller versteckter Rivalitäten, so stelle ich mir dieses internationale Gremium vor, eine umgrenzte Position schaffen kannst.“13 Scheibert tadelt seinen Freund in seinen Ausflüchten und Rechtfertigungsversuchen. Er redet ihm ins Gewissen und mahnt: „Bei aller Liebe – ich kann Dir den Schlussbericht an die DFG nicht ersparen. Du musst unbedingt eingehend

10 Peter Scheibert an Nicolaus Sombart. Brief aus dem Jahr 1954, ohne präzises Datum. NL N. Sombart 405, 1122. 11 Vgl. NL N. Sombart 405, 1872. Einem der Ankündigung eines Lehrauftrags an der Gesamthochschule Wuppertal im Wintersemester 1980/1981 angehängten Lebenslauf sind folgende Funktionszuschreibungen Sombarts im Generalsekretariat des Europarats zu entnehmen: 1969 Leiter der Abteilung für Grundsatzfragen und langfristige Planung; 1971 Leiter der Abteilung Raumordnung und Denkmalschutz; 1975 Leiter der Planungsabteilung: Rat für kulturelle Zusammenarbeit (C.C.C.). Seit 1977 Leiter der Kulturabteilung. Vgl. NL N. Sombart 405, 1874. 12 Vgl. Klaus Brummer, Der Europarat. Eine Einführung, Wiesbaden 2008, S. 130. 13 Peter Scheibert an Nicolaus Sombart. Brief vom 1.10.1954. NL N. Sombart 405, 1122.

Einer noblen Sache dienen

schreiben, keine Apologie, nur sagen, dass etwas kommen wird, dass Du derzeit auf die Wissenschaft verzichtest etc. Du solltest etwas tun, denn Du weißt nie, wann Du die deutsche Zunft in weitestem Sinne nicht einmal brauchst (…) Nun aber den Stachel in dem Fleische, das nicht geschriebene Buch, mit Ausfällen überkleistern zu wollen, mit dem Tenor, da gehöre ich nicht hin und da komme ich nie zu etwas etc. etc., das kann ich Dir nicht abnehmen und durchlassen. Ein Aufsatz für das Mainzer Archiv [gemeint ist das Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, G. E.]; mit Versprechen auf Kommendes, 50 Sonderdrucken, von Adorno bis Wiese herumgeschickt, ebenso an Treue, Hocker und Zierold, salviert fürs erste alles. So aber werden Dich einen schönen Tages alle Leute für einen Hochstapler halten.“14 In einem Brief an Carl Schmitt gesteht Nicolaus Sombart sein Dilemma ein. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft habe ihn ermahnt, man werde ihm noch nach vielen Jahren vorhalten, er habe das in ihn gesetzte Vertrauen nicht gerechtfertigt, wenn er nicht abschließend über seinen Forschungsaufenthalt berichte. Sombart erkennt die Schwierigkeit, über etwas zu berichten, was bisher keine Form angenommen hat. „Das BUCH ist ein Unternehmen, das viele Jahre in Anspruch nehmen kann. Soll ich darstellen, inwiefern es ein Fehler war, dass ich mir eine so ungeheure Arbeit zugemutet habe? Oder soll ich einen Essay über ein Buch schreiben das ich gerne schreiben würde? Es kann doch nicht genügen, wenn ich eine Liste der von mir in zwei Jahren in der Bibliothèque Nationale gelesenen Bücher einreiche (…).“15 Sombart quält es, dass er die in ihn gesetzten Erwartungen enttäuscht hat. Dabei, schreibt er an Schmitt, könnte es ihm so gut gehen. Er sei endlich von der Misere befreit. Er habe einen Job, der es ihm erlaube, in Ruhe mit sich zu Rate zu gehen, „ohne ständig daran denken zu müssen, meine Gedanken an den Mann zu bringen.“16 Der frischgebackene Sekretär des Europarats beklagt die Lage des geistig tätigen Menschen der Gegenwart, von seiner Arbeit leben zu müssen. Eigentlich nur hier sei es angebracht, von Selbstentfremdung zu sprechen. Über seine ersten Eindrücke nach halbjähriger Tätigkeit teilt er Schmitt im Stil eines gelehrigen Schülers mit: „Der ‚Conseil‘ ist ein ganz sonderbares Gebilde. Das etwa muss es sein, was man einen lebenden Leichnam nennt. Ich habe mich darauf angesiedelt, wie

14 Peter Scheibert an Nicolaus Sombart. Brief vom 1.11.1954. NL N. Sombart 405, 1122. Leopold von Wiese (1876–1964), Soziologe, von 1946 bis 1955 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie; Alexander Hocker (1913–1996) Wissenschaftsmanager, seit 1949 bei der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft tätig; Wilhelm Treue (1909–1992), Wirtschafts- und Sozialhistoriker; Kurt Zierold (1899–1989), Verwaltungsjurist und Ministerialbeamter, ab 1949 geschäftsführender Vizepräsident der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, 1952–1964 Generalsekretär der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 15 Nicolaus Sombart an Carl Schmitt. Brief vom 19.12.1954. In: Tielke, Schmitt und Sombart, S. 69. 16 Ebd., S. 70.

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eine Muschel auf dem Kiel eines Wracks und fühle mich recht wohl so. Ich frage mich, ob diese Form des Parasitentums nicht dem an einer Universität – für einige Jahre wenigstens – gleichkommt. Wenn ich meinen Nachrichten von deutschen Universitäten glauben kann, gewiss.“17 Schmitt beglückwünscht Sombart zu seiner Tätigkeit beim Europarat. „Sei froh, dass Du nicht auf die heutige Universität angewiesen bist. Einen so großartigen Brief, wie Du ihn mir jetzt geschrieben hast, könnte ich mir aus keiner deutschen Universitätsstadt kommend vorstellen. Gut, dass Du in Straßburg bist.“18 Doch offenbar sind die hochgestochenen Erwartungen, als honnête homme einer noblen Sache, der Vereinigung Europas, zu dienen, die Sombart mit seiner Arbeit in Straßburg verbindet, schon bald einer gewissen Ernüchterung gewichen. Er tut Dienst in einem bürokratischen Apparat, der ihm ebenso parasitär erscheint wie ein akademisches Amt an einer Universität. Der hochfahrend-distanzierende Ton seiner Mitteilung an Schmitt lässt erkennen, dass er sein Amt in Straßburg weniger als eine geistige Herausforderung versteht, denn als eine Sinekure, die ihm ein Auskommen sichert und genügend Zeit lässt, sich nach Lust und Laune anderen Tätigkeiten zuzuwenden.19 Sombart schmeichelt mit solchen Formulierungen dem Privatgelehrten Schmitt, dem eine erneute Tätigkeit als Professor im Nachkriegsdeutschland versagt blieb. Trost findet Sombart im Europarat bei einem Kreis junger Akademiker aus verschiedenen Ländern, mit denen er geistreiche Gespräche führen kann. In der Folge seiner Tätigkeit werden 1959 ein Kulturfonds und 1962 der Conseil de la Coopération Culturelle (CCC) geschaffen. In den folgenden Jahren ist Sombart für die Reorganisation des Rats für kulturelle Zusammenarbeit zuständig und für die Planung und Durchführung von Konferenzen der europäischen Kulturminister. Er stellt Kontakt zu den in den europäischen Hauptstädten mit Kultur befassten Institutionen und Experten her. Schwerpunkte seiner Tätigkeit sind der Naturschutz, der Kampf gegen die Wasserverschmutzung und der Schutz kultureller Denkmäler. Ferner betätigt er sich im Bereich der Wissenschaftspolitik.

17 Nicolaus Sombart an Carl Schmitt. Brief vom 6.12.1954, ebd., S. 66. 18 Carl Schmitt an Nicolaus Sombart. Brief vom 16.12.1954, ebd., S. 68. 19 „Ich hatte dort bei völliger materieller Sicherheit einen bewundernswerten Beobachtungsposten gefunden, der es mir erlaubte, die zeithistorischen Geschehnisse aus der Vogelperspektive zu verfolgen, während ich vollständig frei über meine Zeit verfügen und meinen Ideen nachhängen konnte.“ (Sombart, Rumänische Reise, S. 19.) In einem Brief an den Ministerialdirektor im Auswärtigen Amt Dieter Sattler, den er um Unterstützung für eine Bewerbung um einen besser dotierten Posten in der Kulturdirektion des Europarats bittet, heißt es dagegen: „Meine Tätigkeit habe ich nie als eine Sinecure, sondern als die Möglichkeit aufgefasst, an wenn auch bescheidener Stelle, so doch unmittelbar an dem großen europäischen Aufbauwerk mitzuarbeiten.“ (Entwurf eines Antwortschreibens auf einen Brief Sattlers vom 20.1.1962, demzufolge es noch nicht klar sei, „wie weit wir Sie wegen anderer Bewerber unterstützen können.“ (NL N  Sombart 405, 1871.)

Einer noblen Sache dienen

Eines seiner Hauptanliegen ist die Zukunftsforschung. Unter der Schirmherrschaft der Parlamentarischen Versammlung des Europarats lädt er Experten wie Bertrand de Jouvenel, Robert Jungk und Johan Galtung nach Straßburg ein. Auch zur Schaffung einer Kulturcharta als einem Zukunftsprojekt auf der Ebene der europäischen Kulturminister leistet er seinen Beitrag. Zwischen 1961 und 1981 legt er dem Generalsekretär eine Vielzahl von Memoranden vor, die u. a. Vorschläge für eine Reorganisation des Europarats enthalten. Sein letztes Projekt vor seinem Ausscheiden aus dem Amt ist ein europäisches Jahr der Musik, das für 1985 geplant war. Dass die „umgrenzte Position“, die sich Sombart im Europarat geschaffen hatte, nicht seinen intellektuellen Ansprüchen gerecht wurde, geht aus einem als streng vertraulich deklarierten Memorandum hervor, das er am 28. November 1969 dem damaligen Generalsekretär Lujo Tončić-Sorinj und fünf Jahre später dessen Nachfolger Georg Kahn-Ackermann zuleitete. Beanstandet wird die mangelnde fachliche Qualifikation der Mitarbeiter der einzelnen Abteilungen. Die gegenwärtige Personalpolitik sei darauf ausgerichtet, qualifizierte Personen auszuschließen. „Ein Vollakademiker gilt bereits als kaum tragbar (mit der sehr richtigen Begründung, so ein Mann würde sich ja hier nur einsam und unglücklich fühlen).“20 Sombart registriert, dass im Europarat zahlreiche Leute „eine unerhört gut bezahlte Lebensstellung“ gefunden haben. Ihnen sei es völlig gleichgültig, was diese Organisation leiste, unter der einen Voraussetzung, dass sie weiterbestehe und ihre Bezüge gesichert seien. „Man muss sich dann natürlich fragen, inwieweit der Europarat nicht schon längst eine Sozialeinrichtung geworden ist, deren Hauptaufgabe darin besteht, anderwärtig kaum unterzubringende Leute zu beschäftigen.“21 Sombart selbst hält sich zugute, dass er die Anliegen des Kultursekretariats durch eine Vielzahl von organisatorischen Vorschlägen, Redebeiträgen auf internationalen Konferenzen und publizistischen Initiativen vorangetrieben hat. Dazu gehört sein Eintreten für den Erhalt des kulturellen Erbes, was sich in dem Hilferuf für die Rettung Venedigs konkretisierte.22 Die Kampagne ging einher mit einer für ganz Europa verbindlichen neuen Konzeption „der Stadtentwicklungsplanung, des Denkmalschutzes, der Erhaltung der historischen Bausubstanz, der Lebensqualität des menschlichen Habitats, einer umweltfreundlichen Raumordnung“.23

20 NL N. Sombart 405, 462,1. Von den 14 Sekretären der Ausschüsse der Beratenden Versammlung des Europarats, die im Juni 1962 Westberlin einen Besuch abstatteten, war Sombart der einzige promovierte Teilnehmer. Vgl. NL N. Sombart 405, 1928a (Europaratszeit. Kulturpolitik). 21 Ebd. 22 Vgl. den im Anhang abgedruckten Bericht Sombarts „Mission nach Venedig“. 23 Nicolaus Sombart, Rettet Venedig. Das Projekt Europa – kulturelle Identität – Erinnerung. Perspektiven einer europäischen Kulturpolitik. In: H. Glaser/M. Goldmann/N. Sievers (Hg.), Zukunft Kulturpolitik. Festschrift für Olaf Schwencke, Hagen 1996, S. 97–100, hier S. 100.

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In Notizen zu einem Interview mit der Zeitschrift „Revue des Deux Mondes“ erklärt er rückblickend: „Ich habe versucht, mit dem ‚CCC‘, dem Komitee für kulturelle Zusammenarbeit, ein Instrument zu schaffen, das die zunächst noch völlig abstrakten Vorstellungen einer europäischen Zusammenarbeit mit konkreten Projekten zur Verwirklichung führen sollte, was neben die hergebrachte Diplomatie treten mußte. Die durchaus zukunftsträchtigen Leitideen waren Multilateralismus gegen Unilateralismus, Friedens- und Kulturpolitik statt Macht- und Wirtschaftspolitik.“24 Als Erklärung fügt Sombart hinzu: „Diese europäischen Überzeugungen wurzeln in meinen beiden Familiengeschichten.“25 Sombarts kulturpolitisches Engagement findet in dem Aufsatz „Internationale Kulturpolitik statt Außenpolitik“ seinen prägnanten Niederschlag. Im Umgang des Westens mit den ehemals kolonisierten Völkern gelte es, das Prinzip kultureller Vielfalt zu beachten. Der abendländischen Konzeption der „Einen Welt“ eines technisch unifizierten Planeten stehe der Anspruch auf die Bewahrung der kulturellen Eigenart gegenüber. Nunmehr gelte es zwischen der „Einen Welt“ und einer „Einheitswelt“ zu unterscheiden. „Der Unterschied besiegelt das Ende der geistigen Vorherrschaft des weißen Mannes, der die imperiale überdauert hatte. Die neue Welt der globalen Ära, wenn sie auch ‚unifiziert‘ ist, wird nicht uniform sein.“26 Mehr als jede Außenpolitik sei Kulturpolitik ihrem Wesen nach international. Sie sei der ausgezeichnete Modus der Weltpolitik im planetarischen Zeitalter. Kulturpolitik wird zur Raumplanung im globalen Maßstab. Nicolaus Sombart litt darunter, dass seine Arbeit als Leiter der Kulturabteilung des Generalsekretariats des Europarats bei den vorgesetzten Stellen nicht immer die gebührende Anerkennung fand. So wurden Anträge um eine weitere Beförderung mehrfach abgelehnt. Der Leiter des Generaldirektorats Michael Marschall von Bieberstein, ein Freund Sombarts, bemühte sich Anfang 1983 – Sombart war zu dieser Zeit Fellow am Berliner Wissenschaftskolleg – beim damaligen Generalsekretär Franz Karasek um eine Höhereinstufung seines Abteilungsleiters. Dieser erwarte nach seiner Rückkehr nach Straßburg eine befriedigende Lösung seiner beruflichen Situation. In seinem „Journal intime“ berichtet Sombart von einem Traum, in dem sich seine ungeklärte Lage widerspiegelt. „Meine Beförderung zum Vizedirektor nach gewaltigen Prozeduren, bei denen Karasek (der Generalsekretär des Europarats) eine wichtige Rolle spielt. Es geht immer wieder um die Formulierung der

24 Sombart, Notizen zu einem Interview mit der „Revue des Deux Mondes“. Sondernummer Deutschland/Frankreich. Mai 2005. Vgl. NL N. Sombart 405, 461. 25 Ebd. 26 Nicolaus Sombart, Internationale Kulturpolitik statt Außenpolitik? In: Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik, 18. Jg. (1963), H. 11, S. 737–745, hier S. 742.

Einer noblen Sache dienen

Anträge und Schriftsätze, die unsichtbare Instanzen überzeugen sollen. Schließlich Aufatmen. Glückwünsche.“27 Es sollte jedoch nicht zu einer Lösung im Sinne Sombarts kommen. Die Freistellung von seiner Tätigkeit beim Europarat war am 30. Juni 1983 ausgelaufen. Das Fellow-Jahr neigte sich dem Ende zu, und Sombart liebäugelte für das Wintersemester 1983/84 mit einem Lehrauftrag oder einer Honorarprofessur an der Freien Universität Berlin. Der Lehrauftrag wurde schließlich bewilligt. In den folgenden Monaten machte Sombart keinerlei Anstalten, an seinen Arbeitsplatz zurückzukehren. Als er im Februar 1984 immer noch nicht in Straßburg erschienen war, erhielt er einen Brandbrief von seinem Vorgesetzten Marschall von Bieberstein, in dem dieser kein Blatt vor den Mund nimmt. Marschall von Bieberstein stellt dem Leiter der Kulturabteilung ein Ultimatum, entweder seinen Dienst sofort wieder aufzunehmen oder zu kündigen. 28 Am 2. Juli 1984 reicht Nicolaus Sombart beim Generalsekretär seine Kündigung ein. Sein Vertragsverhältnis endet am 30. September 1984. Dem unrühmlichen Ende Sombarts beim Europarat waren eine Reihe von Beanstandungen der Behörde über Disziplinlosigkeiten ihres Mitarbeiters vorangegangen. Es fiel diesem offenbar schwer, die für einen Beamten geltenden strikten Anwesenheitszeiten mit seinem Selbstverständnis als einer Ausnahmepersönlichkeit, für die andere Regeln gelten, zu vereinbaren. Dieser Missklang kann jedoch nicht die Verdienste verdunkeln, die sich Nicolaus Sombart als Kultursekretär erworben hat. Er erklärt aber möglicherweise, warum in seinen autobiographischen Schriften eine breite Lücke klafft. Diese Periode seines Lebens hielt er offenbar für nicht besonders mitteilenswert.29 Die Tätigkeit beim Europarat erschien ihm – so sieht er es ihm Rückblick30  – auf seine Person bezogen als nicht angemessen. Sie war nicht das, was ihm für ein geistig erfülltes Leben vorschwebte. Er war für eine Beamtenexistenz einfach nicht geschaffen. Die Position als Leiter der Kulturabteilung bot zwar die Möglichkeit zu Auftritten auf internationaler Bühne. Verglichen mit der Diplomatentätigkeit eines Carl Jacob Burckhardt, seinem Vorbild, blieben solche Repräsentationspflichten jedoch letztlich unter seinen Ansprüchen. Mit dem

27 Sombart, Journal intime, S. 9. 28 Vgl. Brief von Michael Marschall von Bieberstein an Nicolaus Sombart vom 20.2.1984. NL N. Sombart 405, 1872. 29 Ein für die Zeitschrift „Merkur“ vorgesehener Aufsatz über „Europäische Funktionäre“, zu dem ihn die Herausgeber Paeschke und Schwab-Felisch motivieren wollten, kam nicht zustande. Am 14.1.1981 schreibt Hans Schwab-Felisch: „Sie wollten immer, jedenfalls war das ja mal ins Auge gefasst, etwas schreiben, über die doch wohl eher deprimierenden Erfahrungen, die Sie im Amte gemacht haben mit den europäischen Anstrengungen im Bereich der Kulturpolitik.“ (NL N. Sombart 405, 974.) 30 Vgl. Sombart, Journal intime, S. 14.

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Kultursekretär im Europarat. Publizistische Vorhaben

reizenden Chalet du Château in Kolbsheim, in dem er mit seiner Frau Tamara und den Kindern Diane, Elizabeth, Alexander und Michael über viele Jahre residierte, bevor er sich in Straßburg niederließ, war er seinem Traum vom Wohnen im Schloss aber immerhin ein Stück weit nähergekommen.

Mitarbeit beim Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Nicolaus Sombarts publizistische Ausbeute nach seiner Dissertation blieb bescheiden. Das sollte sich auch in den nächsten Jahren kaum ändern. Nach Beendigung seines Pariser Forschungsaufenthalts und seinem Eintritt in den Europarat war trotz zahlreicher Ankündigungen noch kein wissenschaftlicher Text von ihm veröffentlicht worden. Erst 1955 erschienen Beiträge in Alfred Webers Sammelband „Einführung in die Soziologie“. Sombarts Interesse richtete sich zu dieser Zeit vor allem auf das „Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie“, dessen Redaktionssekretär Roman Schnur geworden war. An dieser Zeitschrift – so die Planung Schnurs – sollten auch andere Wissenschaftler des Carl Schmitt-Freundeskreises wie Peter Scheibert, Hanno Kesting, Reinhart Koselleck und Rüdiger Altmann mitwirken. Nicolaus Sombart stand bei Schnur in hohem Ansehen, und dieser bemühte sich nachhaltig, ihn, der inzwischen Beamter geworden war, aber seine wissenschaftlichen Ambitionen keineswegs aufgegeben hatte, für eine regelmäßige Mitarbeit zu gewinnen. „Hoffentlich erlaubt Ihnen Ihr Dienst, daß Sie uns bald einen Aufsatz einschicken. Ich würde dann einen anderen Aufsatz noch aus der Manuskriptmappe für das nächste Heft herausnehmen, um Ihren Aufsatz zu bringen.“31 Das für Alfred Webers Sammelband „Einführung in die Soziologie“ geschriebene Kapitel über Saint-Simon verwendet Sombart mit nur geringen Änderungen für einen Abdruck im „Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie“, wo es im August 1955 unter dem Titel „Vom Ursprung der Geschichtssoziologie“ erscheint. Beide Texte sind Auszüge bzw. Kurzfassungen seiner unveröffentlicht gebliebenen Dissertation. Zehn Jahre später wird Sombart in seiner ersten Buchpublikation „Krise und Planung“ (1965) dieses Kapitel ein drittes Mal verwenden, wodurch er den Wert dieser Forschungsergebnisse für sein aktuelles Verständnis von Soziologie betont und sich zugleich als ein Virtuose der Mehrfachverwertung wissenschaftlicher Resultate erweist. Schnur, der im „Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie“ dem wissenschaftlichen Nachwuchs eine Chance geben will, erwartet, dass Sombart mit seinem

31 Roman Schnur an Nicolaus Sombart, Brief vom 17.2.1955. NL N. Sombart 405, 1135.

Mitarbeit beim Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

geschichtssoziologischen Beitrag Furore machen wird. Ferner regt er ihn zu Buchrezensionen an. Als weitere Mitarbeiter der Zeitschrift sind die Philosophen Alexandre Kojève, Leo Strauss und Jacob Taubes sowie der Soziologe Helmut Schelsky vorgesehen. „Die Aussichten, demnächst gute Hefte zu bringen, steigen immer mehr (…) Sie, Taubes, Scheibert, Voegelin, Kojève (sehr wahrscheinlich), Winckelmann, Altmann etc. Dazu eine Reihe guter Rezensionen, u. a. von Schelsky, Gehlen, Koselleck etc.“32 Schnur nimmt Anteil an den Habilitationsplänen Sombarts, die dieser auch nach seinem Eintritt in den Europarat nicht völlig aufgegeben hat. „Ich bin sehr froh, daß Sie in Ihrer Tätigkeit beim Europarat nicht den Sinn Ihrer Existenz sehen. Wie‘s jetzt um Voegelin steht, weiß ich nicht. Er wäre gewiß der Mann, bei dem Sie sich habilitieren könnten.“33 Am 3. März 1956 teilt Schnur Sombart mit, dass sein Aufsatz über den Ursprung der Geschichtssoziologie ein lebhaftes Echo gefunden habe. „So loben ihn u. a. die Herrn Kojève, C. S. [Carl Schmitt] und Hugo Marcus34 , der meinte, er habe lange nicht mehr einen so anregenden Aufsatz gelesen. C. S. schreibt, der Aufsatz müßte einen Sturm entfachen, wenn es bei uns noch eine echte Öffentlichkeit gäbe (…) Jetzt müssen Sie nachstoßen! Schicken Sie bitte bald Ihre Rezension, damit die Aufmerksamkeit nicht nachläßt – das ist für Sie wichtig!“35 Als nächster Beitrag für das Archiv ist ein Aufsatz Sombarts über Napoleon I. vorgesehen. Trotz ständigen Drängens Schnurs werden weder dieser Aufsatz noch die geplante Rezension fertig. Dabei versteht es Schnur, Sombart zu schmeicheln, indem er seinen besonderen Rang als Autor hervorhebt. „Das Thema [Napoleon] ist doch so überaus wichtig! Und ich trage Eulen nach Athen, wenn ich Ihnen sage, daß Sie mit Ihrem Aufsatz für das betreffende Heft einen Knüller liefern, der doch so nötig ist. Gewiß, wir brachten in letzter Zeit gute Sachen, aber es fehlt uns doch das, was Sie und Ihresgleichen zu schreiben imstande sind.“36 Doch auch Monate später sollte noch kein Ergebnis vorliegen, was Schnur zu der Mahnung veranlasst: „Es sollte doch eigentlich möglich sein, ein solches Buch [von Salomon] auf 3 MSSeiten innerhalb von fast 2 Jahren zu rezensieren (…) Es ist jammerschade, daß

32 Roman Schnur an Nicolaus Sombart, Brief vom 7.6.1955, ebd. Johannes Winckelmann (1900–1985), Jurist und Soziologe, war Herausgeber der Schriften Max Webers; Rüdiger Altmann (1922–2000) war ein politischer Publizist, der zum Schülerkreis Carl Schmitts gehörte und als Berater Ludwig Erhards den Begriff „formierte Gesellschaft“ prägte. 33 Roman Schnur an Nicolaus Sombart, Brief vom 6.10.1955. NL N. Sombart 405, 1135. 34 Hugo Marcus (1880–1966) war ein deutscher Schriftsteller, der in den 30er Jahren zum Islam konvertierte. 35 Roman Schnur an Nicolaus Sombart, Brief vom 29.3.1956. NL N. Sombart 405, 1135. Mit der Rezension ist das Buch von Ernst von Salomon „Der Fragebogen“ gemeint, das 1951 erschienen war. 36 Roman Schnur an Nicolaus Sombart, Brief vom 24.8.1957, ebd.

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Kultursekretär im Europarat. Publizistische Vorhaben

Ihr Napoleon-Aufsatz einstweilen auf Eis gelegt worden ist. Er hätte bei uns gewiß Furor gemacht, und die Diskussion etwas beleben können.“37 Nicolaus Sombart sollte dem „Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie“ die angekündigten Beiträge und Rezensionen schuldig blieben. Er beließ es bei Ankündigungen, denen keine Resultate folgten. Seine früheren Kommilitonen Hanno Kesting und Reinhart Koselleck waren ihm Ende der fünfziger Jahre akademisch längst enteilt. Die Dissertationen „Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg“ (Kesting) und „Kritik und Krise“ (Koselleck), die 1959 erschienen, verschafften ihren Verfassern Anerkennung in der akademischen Zunft. Kesting bezeichnete seine Arbeit als ein Werk des Heidelberger Kreises, welches er quasi für den Kreis geschrieben habe.38 Rückblickend stellt Nicolaus Sombart seine Textsammlung „Krise und Planung“ auf eine Stufe mit den wissenschaftlichen Untersuchungen von Kesting und Koselleck. In „Rendezvous mit dem Weltgeist“ schreibt er, wenn aus dem Zeitschriftenprojekt „Archiv für Weltbürgerkrieg und Raumforschung“39 auch nichts geworden sei, so seien doch schließlich drei Bücher aus den gemeinsamen Gesprächen hervorgegangen: „Damit war das ganze Programm durchdekliniert. Koselleck machte unsere spekulativ-geschichtsphilosophische Krisentheorie zum Interpretationsschema für die große historische Wende, in der sich Mitte des 18. Jahrhunderts das Gesicht der Erde radikal zu verändern begann: der Wendezeit, der ‚Sattelzeit‘, in der das Weltverständnis der Spezies Mensch eine so entscheidende, bis heute gültige Veränderung erfuhr. Auf diese Weise hat sie dann ihre akademischen Weihen erhalten, während meine und Kestings parallele Ansätze – mein Versuch, sie für eine Genealogie der Soziologie fruchtbar zu machen, der seine, sie philosophiegeschichtlich, ideologiekritisch, hermeneutisch zu vertiefen – ohne irgendwelche direkte Wirkung und Anerkennung geblieben sind.“40 Das Gefühl, unter Wert gehandelt worden zu sein, also nicht den gleichen Rang einzunehmen wie sein Kollege Reinhart Koselleck, der ihm doch eigentlich zustehe, ist ein wiederkehrendes Motiv seiner autobiographischen Spurensuche. In den sechziger Jahren ist der Name Nicolaus Sombart in der fachwissenschaftlichen Publizistik durchaus gegenwärtig – er ist ein gefragter, hochgeschätzter Es-

37 Roman Schnur an Nicolaus Sombart, Brief vom 19.10.1957, ebd. 38 Vgl. Hanno Kesting an Nicolaus Sombart, Brief vom 3.6.1959. NL N. Sombart 405, 856. Im Vorwort zur Buchfassung seiner Dissertation bedankt sich Kesting u. a. ausdrücklich bei Reinhart Koselleck und Nicolaus Sombart. Vgl. Hanno Kesting, Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg. Deutungen der Geschichte von der französischen Revolution bis zum Ost-West-Konflikt, Heidelberg 1959, S. XVIII. 39 Sombart verwendet sowohl den Titel „Archiv für Weltbürgerkrieg und Raumordnung“ wie „Archiv für Weltbürgerkrieg und Raumforschung“. Vgl. Rendezvous mit dem Weltgeist, S. 269 und S. 275. 40 Ebd., S. 274.

Mitarbeit beim Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

sayist des „Merkur“41 und der „Frankfurter Hefte“ – und auch in den folgenden Jahren tritt er immer wieder als streitbarer Autor hervor, wobei vor allem seine Abrechnung mit Ernst Jünger Aufsehen erregt und ihn von Carl Schmitt und dessen Freundeskreis entfremdet.

41 Welche außerordentliche Wertschätzung Nicolaus Sombart als Essayist in den sechziger und siebziger Jahren genoss, belegt der Briefwechsel mit dem Herausgeber des „Merkur“ Hans Paeschke. Vgl. NL N. Sombart 405, 974.

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Abbildungen

Abb. 1 Nicolaus Sombart: Selbstporträt, Zeichnung 1944. Familienarchiv Sombart.

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Abb. 2 Nicolaus Sombart: Immatrikulationsfoto. Paris Anfang der 1950er Jahre. Familienarchiv Sombart.

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Abb. 3 Tamara Sombart in Venedig, 1964. Familienarchiv Sombart.

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Abb. 4 Nicolaus Sombart auf Korfu, 1979. Familienarchiv Sombart.

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Abb. 5 Nicolaus Sombart in Berlin anlässlich seines 60. Geburtstags 1983. Familienarchiv Sombart.

Abbildungen

Abb. 6 Salon Sombart in der Ludwigkirchstraße in Berlin-Wilmersdorf, 1994. © Ute Mahler/ OSTKREUZ, Berlin.

Abb. 7 Nicolaus Sombart, Berlin 1998. Diptychon von Otto Reitsperger. Größe 80 cm x 160 cm, analoge Fotografie. (SW/c-Print). © VG-Bild, Bonn.

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VI.

Rendezvous mit Ernst Jünger

Erste Annäherungen In den „Pariser Lehrjahren“ notiert Sombart: „Ernst Jünger kannte ich schon aus Berlin, wo ich ihn bei Carl Schmitt getroffen hatte, in Uniform, mit Pour le mérite.“1 Entsprechende Angaben finden sich auch in einem Brief Ernst Jüngers an Carl Schmitt vom 31. Juli 1970. Dort ist zu lesen, er sei mit Nicolaus Sombart lange Zeit freundschaftlich verbunden gewesen.2 Es muss in der Zeit des Krieges gewesen sein, im November 1942, vor Sombarts Einzug zur Wehrmacht, als sich Jünger, von Paris kommend, auf der Durchreise in den Kaukasus befand und sich für wenige Tage in Berlin aufhielt. Er wohnte bei Carl Schmitt in Dahlem.3 Der junge Sombart bewunderte den Kriegshelden und Autor. „Eine Respektsperson, der Autor des Abenteuerlichen Herzens, der Afrikanischen Spiele (mehr hatte ich damals nicht von ihm gelesen), umgeben mit einer Aura von Berühmtheit, ein Held, ganz unnahbar, doch auch wieder vertraut, weil zum Umkreis des Meisters gehörend, kein Fremder.“4 Nach Ende des Krieges galt Ernst Jünger Nicolaus Sombart als eine moralische und ästhetische Instanz. Als Jüngers Kriegstagebücher „Strahlungen“ 1949 erschienen, schreibt Nicolaus Sombart an seine Mutter, das Buch biete Einblicke in die Techniken eines „großen Lebensvirtuosen“.5 Faszination und Irritation halten sich bei der Lektüre die Waage. Doch schon – so sieht es Sombart aus der Rückschau – „keimte der Protest gegen die herrische Arroganz, den sublimen Zynismus“ auf, aber „es überwog noch die Bewunderung für Haltung und Form, für den militanten Dandyismus, für ein literarisches Herrentum.“6 Sombarts Erzählung „Capriccio Nr. 1“, die 1947 veröffentlicht wurde und im Titel an die „Figuren und Capriccios“ in Jüngers „Das „Abenteuerliche Herz“ erinnert, zeigt den Autor freilich nicht in den Fußstapfen des Dichters. Rückblickend gibt Sombart zu Protokoll: „Es handelt sich nicht um die Beschreibung der heroischen Erfahrung des Kriegers, sondern um das Gegenteil, die defätistische Erzählung einer Desertion zwischen Tag und Traum. Des Wachsoldaten Irrungen und Untergang

1 Sombart, Pariser Lehrjahre, S. 200. 2 Ernst Jünger an Carl Schmitt. Brief vom 31.7.1970. In: Ernst Jünger – Carl Schmitt. Briefe 1930–1983. Hg. von Helmuth Kiesel. Zweite, ergänzte und überarbeitete Neuausgabe, Stuttgart 2012, S. 373f. 3 Vgl. Jünger, Strahlungen, S. 158. Tagebucheintrag vom 12.11.1942. 4 Sombart, Pariser Lehrjahre, S. 200. 5 Vgl. Brief an Corina Sombart vom 4.9.1949. NL N. Sombart 405, 1737. 6 Sombart, Pariser Lehrjahre, S. 200.

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Rendezvous mit Ernst Jünger

sind ein spleenig-spielerischer Beitrag zur Phänomenologie der Überlebensbedingungen des bürgerlichen Subjekts im Zeitalter seiner Liquidierung“.7 Von einer Phänomenologie der Überlebensbedingungen des bürgerlichen Subjekts war Ernst Jünger weit entfernt. Dieses Subjekt existierte für ihn bereits vor Beginn des ersten Weltkrieges nicht mehr. Er hatte es im Unterschied zu Sombart, der das Bürgerliche zu bewahren suchte, innerlich längst verabschiedet.8 Er bejahte den Krieg und das Kriegshandwerk, um der Sekurität und Langeweile des bürgerlichen Lebens zu entkommen. Der behütet aufgewachsene Sombart hingegen empfand den Krieg nicht als ein heroisches Erlebnis im Kreise von Kameraden, sondern als lästige, sinnlose Angelegenheit, als unangenehme Unterbrechung seiner geistigen Bestrebungen. Ernst Jünger, durch den zweiten Weltkrieg geläutert – aus dem „Nationalisten war ein europäischer Patriot, aus dem Nihilisten ein Suchender geworden, der still für sich den 73. Psalm exzerpierte“9  – , fand aufmunternde Worte für das kleine Werk.10 Sombart besuchte den Dichter, um ihm seinen Dank abzustatten. Ein freundschaftlicher Kontakt war hergestellt. „Ich war ein Jünger-Jünger. Wer meiner Altersgenossen war es damals nicht?“11 In Tagebuchnotizen aus Italien Ende der vierziger Jahre taucht der Name Jüngers ebenfalls auf. Beinahe wäre es zu einer erneuten Begegnung mit dem Dichter in Positano im Beisein des Schriftstellers Armin T. Wegner gekommen. Doch Jünger traf nicht ein.12 1965 veröffentlichte Sombart eine Besprechung der Neuauflage des Jünger-Essays „Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt“. Bei aller Kritik an diesem Werk würdigt

7 Sombart, Rendezvous mit dem Weltgeist, S. 138. 8 „War nicht der Krieger, im Gegensatz zum human verweichlichten Bürger als einem Typus der Schwachheit, das leibhaftige Bild jener Wiedervermännlichung Europas, die schon Nietzsche herbeigesehnt und gefordert hatte?“, fragt der Soziologe Alfred von Martin. (Alfred von Martin, Der heroische Nihilismus und seine Überwindung. Ernst Jüngers Weg durch die Krise, Krefeld 1948, S. 44.) 9 Karl O. Paetel, Ernst Jünger in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1962, S. 133. 10 An Carl Schmitt schrieb Jünger am 1. März 1948: „Haben Sie das ‚Capriccio‘ des jungen Sombart gelesen. - Ich fand es gar nicht übel. Im Allgemeinen ist die junge Generation erstaunlich steril.“ (Ernst Jünger – Carl Schmitt. Briefe 1930–1983, S. 218.) Anders fällt das Urteil Gretha Jüngers, der Ehefrau des Dichters, aus. Am 18. Februar 1948 schreibt sie an Carl Schmitt: „In diesen Tagen traf ein Buch von Nikolaus Sombart ein, das sich Capriccio Nr. I benennt, und sicherlich bereits in Ihrem Besitz ist; Jünger lobt es, ich nahm es skeptischer auf. Der ganze Nikolaus, so wie er sich in meiner Erinnerung darstellt, hat denn überhaupt etwas herausforderndes an sich, zu viel Bewusstheit und tönende Intelligenz; die rote Farbe herrscht bei ihm vor. Ich mag die Jugend weniger, wenn sie dem Hahne gleich sich zu brüsten und zu kolleren beginnt, als wenn sie bereits ganze Hühnerhöfe lahmgelegt, und die Alten mit der Kraft ihrer Stimme verjagt hat.“ (Briefwechsel Gretha Jünger/Carl Schmitt 1934–1953. Hg. von Ingeborg Villinger und Alexander Jaser, Berlin 2007, S. 102.) 11 Sombart, Pariser Lehrjahre, S. 200f. 12 Vgl. NL N. Sombart 405, 455,1. Notizheft Neapel 1948. Notiz vom 21.4.1948.

Ernst Jünger als Visionär der Technik

Sombart die visionäre Kraft des Jüngerschen Denkens über Technik und Planetarisierung. Faszination und Ablehnung wechseln wiederum einander ab. Der Bruch mit dem Dichter trat schließlich 1968 ein, als Sombart ihn – für Schmitt und Jünger unverständlich - scharf angriff und an die Seite Hitlers stellte. Damit war die Verbindung zwischen beiden unwiderruflich zerstört. Erst anlässlich des 100. Geburtstags von Jünger 1995 erschienen zwei Beiträge aus der Feder Sombarts, in denen er dem Dichter erneut Respekt zollte.

Ernst Jünger als Visionär der Technik Wie sind die wechselnden Stellungnahmen Sombarts zu Jünger zu verstehen? Offenbar spiegelt sich in ihnen auch das zunehmend zwiespältige Verhältnis zu seinem geistigen Lehrer Carl Schmitt wider. Den Auftakt zu einer gründlicheren Auseinandersetzung mit Ernst Jünger bildet die Neuauflage des „Arbeiter“. Jünger schreibt diesen umfangreichen Essay, der erstmals 1932 erschien, aus der Perspektive des Frontsoldaten, der die Welt unter militärischem Blickwinkel betrachtet. Die zivile bürgerliche Gesellschaft der Weimarer Republik ist ihm verhasst. Er vermisst die kriegerische Gesinnung, das kämpferische Element, das dem Leben erst einen Sinn verleihe. Jünger will einen Beitrag zur Militarisierung leisten und bläst zum Angriff auf Liberalismus und Demokratie. Sein „Arbeiter“ ist ein begriffliches Konstrukt und hat mit dem realen Industriearbeiter wenig zu tun. Jünger plädiert für eine nationale Revolution, um dem Arbeiter zur Staatsmacht zu verhelfen. Durch sie werde eine neue Führerschaft etabliert und ein Kommandosystem errichtet, denn der Arbeiter sei auf Hierarchie und Führung angewiesen. Er ist Krieger, Soldat und Kämpfer in einem. Der deutschen Jugend spricht Jünger eine besondere Fähigkeit zu, den Arbeiter in sich Gestalt werden zu lassen. Jünger berauscht sich an Vokabeln, die ihre Herkunft aus dem Schützengraben des ersten Weltkriegs verraten. Alles Zivilisatorische ist ihm suspekt. Verlangt wird nach dem Elementaren, dem Ausleben der destruktiven Triebe, wie es nur im Krieg möglich sei. Die einen, die kraftlosen Naturen, zerbrechen am Krieg, die anderen sind „durch die große Nähe des Todes, des Feuers und des Blutes einer bisher nie empfundenen Gesundheit teilhaftig geworden.“13 Der „Arbeiter“ ist weniger eine politisch-historische Analyse als ein Manifest des Kampfes, geschrieben von einem Mann, der schon in seiner Jugend den Kampf und das Abenteuer suchte. Jünger hatte das Glück, den Weltkrieg als hochdekorierter Frontsoldat zu überleben. Er entwickelte aus dieser Erfahrung und Anerkennung sein deutschnationales Weltbild. Die Deutschen, so heißt es, sind ein Kriegervolk.

13 Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Hamburg 2 1932, S. 54.

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Das unterscheide sie von den Nachbarvölkern. Die Mittel, die im Krieg Anwendung fanden, sollen dazu dienen, einen Menschenschlag hervorzubringen, in dem sich neueste Technik und kriegerischer Mut verbinden. Dieser Mensch bricht aus der bürgerlichen Sekurität aus und bekundet seinen Willen zur Macht. Jünger projiziert Nietzsches Phantasma des Übermenschen in die Figur des Arbeiters. Der Krieg schaffe eine Umwertung der Werte. Die Materialschlacht sei nicht aus romantischer Perspektive zu betrachten, sondern nur aus der Perspektive des Willens zur Macht. „Dem Schritt vom romantischen Protest zur Aktion, deren Kennzeichen nun nicht mehr die Flucht, sondern der Angriff ist, entspricht die Verwandlung des romantischen in den elementaren Raum.“14 Diesen Raum hat Jünger in seinem Werk „In Stahlgewittern“ beschrieben. Der Krieg hat ihn gelehrt, dass das Gefährliche zum Dauerzustand des Zeitalters gehört. Im Soldaten und dessen Pflichtbegriff sieht Jünger das Urbild des Arbeiters und einer neuen Führerund Herrenschicht, die es versteht zu befehlen. „Es ist das Geheimnis der echten Befehlssprache, daß sie nicht Versprechungen macht, sondern Forderungen stellt. Das tiefste Glück des Menschen besteht darin, daß er geopfert wird, und die höchste Befehlskunst darin, Ziele zu zeigen, die des Opfers würdig sind.“15 Wenn Jünger verkündet, das Leben eile Zuständen einer stählernen Ordnung entgegen, berührt er sich in dieser Diagnose mit Max Weber, der von der zukünftigen Gesellschaft als einem stählernen Gehäuse spricht. In der ethischen Bewertung dieser Entwicklung könnte ihr Urteil unterschiedlicher jedoch kaum ausfallen. Während es Weber darum geht, im Prozess der unaufhörlichen Rationalisierung den verbliebenen Spielraum des Individuums auszuloten, betrachtet Jünger das stählerne Gehäuse nicht als ein Verhängnis, das die Menschen zu Fellachen degradiert, sondern als Bedingung für die Aufzucht eines soldatischen Typus, der das bürgerliche Individuum überwindet. Den asketischen Zug im Habitus der Person teilt Weber mit Jünger. Freilich ist ihm der militärische Jargon des Kriegsautors fremd, weshalb es problematisch erscheint, Max Weber zum Typus des soldatischen deutschen Mannes der Kaiserzeit zu rechnen, wie Nicolaus Sombart dies in späteren Schriften versucht. Im Unterschied zu Jünger hält Max Weber am Typus des Bürgers fest. Dies verbindet ihn mit Nicolaus Sombart, dessen Neigung zu einem herrischen Dandytum diesen wiederum in die Nähe Jüngers rückt. Jünger erweist sich als ein genauer Beobachter der Zeitverhältnisse mit einem kühlen Blick für die wachsenden sachlichen Zwänge. So gesehen ist der Arbeiter weniger eine heroische Gestalt als vielmehr ein Vollstrecker sachlicher Erfordernisse, die durch die Technik evoziert werden. Jünger gibt seinem Befund eine kämpferi-

14 Ebd. 15 Ebd., S. 71.

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sche Wendung. Die Welt sei ein Schlachtfeld, die Kampfmittel gewönnen totalen Charakter in einem totalen technischen Raum. Der „Arbeiter“ enthält Passagen, die weit über die aktuelle Situation des Jahres 1932 hinausreichen und solche, die einen direkten Zeitbezug aufweisen. Jedenfalls konnten Postulate, wie die zitierten, von den Lesern als Aufforderung zur Machtergreifung durch nationale Kräfte verstanden werden. Wenn die NSPublizistik das Werk auch wegen vermeintlich kollektivistischer Züge kritisierte, so änderte eine solche Kritik doch nichts an der grundsätzlichen Sympathie für die politische Haltung des nationalrevolutionär gesinnten Autors. Nicolaus Sombart betrachtet Jüngers „Arbeiter“ als ein zeitgenössisches Dokument, das wie kein anderes Ziel, Theorie und Vision des Nationalsozialismus enthalte.16 Es berge den ganzen methodischen Wahnsinn des Dritten Reiches wie in einer Nussschale. Sombart rechnet es Jünger hoch an, dass er den Mut gefunden habe, das Werk ohne Änderungen 1964 neu aufzulegen. Er ist überzeugt, dass Jünger nicht einen Augenblick das nationalsozialistische Abenteuer wollte oder bewusst vorbereitete. Er gesteht dem Autor zu, dass er faszinierend und zutreffend „die Heraufkunft der neuen technischen Ära, die progressive Verwirklichung einer planetarischen Weltordnung“17 beschrieben habe, ein Thema, das Sombart als Sekretär des Europarats selbst umtrieb. Jüngers Hypothesen über die Ausweitung der

16 Zur zeitgenössischen und zur Nachkriegsrezeption des „Arbeiter“ vgl. Helmuth Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, München 2 2007, S. 394–397. Vgl. auch die Besprechung des „Arbeiter“ von Sombarts Lehrer Alfred Weber, erschienen unter dem Titel „Pessimismus? Bemerkungen zu Ernst Jünger“. In: Kölnische Zeitung vom 21. März 1937. Abgedruckt in: Alfred Weber, Schriften zur Kultur- und Geschichtssoziologie (1906–1958). Alfred-Weber-Gesamtausgabe. Bd. 8. Hg. von Richard Bräu, Marburg 2000, S. 434–437. Weber betrachtet das Verhältnis Mensch-Maschine durch die heraufziehende Gestalt des Arbeiters im Unterschied zu Jünger als ein konfliktbeladenes. Er wendet sich gegen Jüngers Determinismus und diagnostiziert eine Erlebnismannigfaltigkeit, wo Jünger ein termitenhaftes Gebilde im Entstehen begriffen sieht. Lassen Webers Bemerkungen zu Ernst Jünger 1937 noch hohe Wertschätzung erkennen, so grenzt er sich nach dem zweiten Weltkrieg entschieden von Jünger ab. Durch die Prägung von Begriffen wie „Totale Mobilmachung“ und „Totaler Arbeitscharakter“ sei Jünger „ein wesentlicher Schrittmacher für den Totalitarismus aller Spielarten.“ Der Autor habe sich als Dekorationsstück des Hitlerschen Totalitarismus verwenden lassen. (Alfred Weber, Flucht in die Wildnis. Randbemerkungen zu Ernst Jüngers politischen Schriften. In: Der Monat, 3 (1951), H. 29, S. 542–545. Wieder abgedruckt in: A. Weber, Schriften zur Kultur- und Geschichtssoziologie, S. 558–563, hier S. 559.). Vgl. dazu auch Helmuth Kiesel, Wissenschaftliche Diagnose und dichterische Vision der Moderne. Max Weber und Ernst Jünger, Heidelberg 1994, S. 198–202. 17 Nicolaus Sombart, Ernst Jünger: Der Arbeiter. Zur Neuauflage 1964. In: ders., Nachdenken über Deutschland, S. 144–161, hier S. 149. (Erstveröffentlichung in „Frankfurter Hefte“, Juni 1965, unter dem Titel: Patriotische Betrachtungen über die geisteswissenschaftliche Bedeutung von Ernst Jüngers „Arbeiter“, anlässlich der Neuauflage 1964.)

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Räume, die wachsende Macht der Apparate, die Bedeutung der Planung, die Anonymität der Herrschaft und die Ohnmacht des einzelnen hätten sich weitgehend bestätigt. Der Zusammenhang von technischer Revolution und Totalitarismus sei nicht zu bestreiten. Sombart räumt auch ein, dass der historische Träger der Totalität dieses technisch unaufhaltsamen Prozesses der „totale Staat“ sei. „Der totale Staat ist der durchrationalisierte Superstaat; letztlich und endlich der Weltstaat des technischen Zeitalters, die Weltorganisation als vollendete Technokratie.“18 Träger dieser Totalität sei eine Elite von Auserwählten. So sehr Sombart Jünger auch in der Frage der Herrschaft im Zeitalter der Planetarisierung zu folgen bereit ist, so wenig ist er jedoch bereit, die absolute Unterordnung des einzelnen unter die Erfordernisse des Gesamtplans zu akzeptieren. Er nimmt Anstoß daran, dass Jünger eine solche Entwicklung triumphierend bejaht. Außerdem stört ihn, dass sich bei Jünger der technologische Determinismus mit einer Vorstellung von einer nationalen Erneuerung und welthistorischen Dominanz Deutschlands verbindet, wenn ihm auch die dieser Vorstellung zugrundeliegende Prämisse, der Deutsche sei in besonderer Weise für Technik und Totalitarismus prädestiniert, weil ihm im Innersten jedes Verhältnis zur Freiheit fehle, nicht fremd ist. So hält er Jüngers These, in Deutschland dominiere der soldatische Typus, für durchaus überzeugend. Der Kampf zwischen Bürger und Soldat, zwischen Liberalität und Autoritarismus, zwischen Autonomiebestreben und Staatsfrömmigkeit reiche – so Sombart – weit in die deutsche Geschichte zurück. In der Weimarer Republik habe das liberale Bürgertums einen Sieg über die soldatischen Kräfte errungen. Es sei nur konsequent, wenn in dieser Bürgerkriegssituation der Frontsoldat Jünger die Rehabilitierung des Soldaten und die Liquidierung des Bürgers betreiben wolle. „Mit dem leidenschaftlichen Haß des Besiegten nimmt der Leutnant a. D. mit dem ‚Pour le mérite‘ Ernst Jünger in einem Bürgerkrieg Partei, der sich zum Weltbürgerkrieg ausgeweitet hat.“19 Sombart wirft Jünger vor, dass er den Bürger-Arbeiter-Antagonismus verfälsche und für nationale Zwecke missbrauche. Es gehe ihm ausschließlich um den Gegen-

18 Ebd., S. 150. 19 Ebd., S. 155. Die Verwendung des Terminus „Weltbürgerkrieg“ zeigt, dass Sombart noch 1965 der Denkschule Carl Schmitts verpflichtet geblieben ist. Vg. Lutz Niethammer unter Mitarbeit von Dirk van Laak, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende? Reinbek 1989, S. 79, Anm. 15. Der Jünger-Biograph Helmuth Kiesel meint, die Charakterisierung des zweiten Weltkrieges als eines unvermeidlichen Weltbürgerkrieges diene dazu, die deutsche Schuld an diesem Krieg zu verschleiern. Vgl. Kiesel, Ernst Jünger, S. 523. Der Historiker Ernst Nolte sieht im Nationalsozialismus dagegen eine „Gegen-Bürgerkriegspartei“ im Kampf gegen den Bolschewismus. Vgl. Ernst Nolte, Nietzsche und der Nietzscheanismus. Erw. Aufl., München 2000, S. 305.

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satz zwischen Soldatischem und Zivilem. Das Ergebnis seiner totalitären Phantasie sei der totale Weltstaat deutscher Prägung. „Im Phänomen Hitler kamen die gedanklichen Voraussetzungen von Jüngers Arbeiter und die soziologisch-psychologischen Voraussetzungen von 1933 genau zur Deckung. In ihm und durch ihn verwirklichte sich ‚Herrschaft und Gestalt des Arbeiters‘.“20 Offenbar stellte sich die Lage jedoch komplizierter dar. Der NS-Staat wurde nicht von der Gestalt des Arbeiters repräsentiert, wie Jünger ihn versteht, sondern von einer heterogen zusammengesetzten Herrschaftsclique. Die NS-Elite verfügte über alles andere als die soldatisch-asketischen Tugenden des Jüngerschen Arbeiters. Der neue heroische Menschenschlag, den Jünger forderte, fand in der SS seine karikaturhaft-makabre Ausprägung, so wie das Dritte Reich im Ganzen, wie Jünger bald erfahren musste, lediglich einen üblen Abklatsch des „Arbeitsstaats“ darstellte. Diese Differenz wurde von der NS-Publizistik bei Erscheinen des Buches 1932 sogleich erkannt. Es ändert freilich nichts an der geistigen Mitverantwortung Jüngers für die Demontage der Demokratie und den Weg in die Diktatur.21 Sombart räumt in seiner Jünger-Rezension ein, dass der Enthusiasmus, mit dem die Machtergreifung von 1933 begrüßt wurde, nur zu verständlich sei, „wenn man sich die völlig falschen Erwartungen vor Augen hält, die an diesen Umschwung geknüpft waren.“22 In der Tat hatten große Teile des deutschen Bürgertums – und dazu gehörte auch die Familie Sombart – die Machtergreifung der NSDAP als Chance begriffen. Nicolaus Sombart ignoriert jedoch, dass es Teile der Gesellschaft gab – auch in den Reihen des Bürgertums – , denen die Machtergreifung der Nationalsozialisten von Anbeginn ein Gräuel war und die die Situation realistisch einschätzten. Im Unterschied zu Werner Sombart, der glaubte, er könne als renommierter Nationalökonom die Geschehnisse in seinem Sinne beeinflussen, und auch im Unterschied zu Carl Schmitt, der meinte, den Führer führen zu können, war der Nationalist Ernst Jünger weitaus nüchterner. Den kälteren Blick auf die Ereignisse verdankte er seiner radikalen Antibürgerlichkeit. Sie erlaubte es ihm schon früh,

20 Sombart, Ernst Jünger, S. 160. 21 Besonders aussagekräftig für Jüngers zeitweise Nähe zum Nationalsozialismus ist ein Beitrag in der Zeitschrift „Widerstand“, der 1929 erschien. Dort heißt es u. a.: „Wir wünschen dem Nationalsozialismus von Herzen den Sieg; wir kennen seine besten Kräfte, deren Begeisterung ihn trägt, und deren Willen zum Opfer über jeden Zweifel erhaben ist.“ (Ernst Jünger, Reinheit der Mittel. In: Widerstand 4 [1929], S. 297.) Wenn Jünger nach 1933 auf Distanz zum Regime ging, dann aus den gleichen Motiven, die Sympathisanten der „Bewegung“ aus Adel und Bürgertum verschreckten. Einer der ersten Biographen Jüngers, Karl O. Paetel, bringt es auf den Punkt: „Der pöbelhafte Geist der Bewegung vor allen Dingen war es, der ihn abstieß. Jüngers aristokratischer Instinkt war von überzarter Feinheit.“ (Paetel, Ernst Jünger in Selbstzeugnissen, S. 43.) „Überzarte Feinheit“ löst angesichts der erlebten Gräuel Ekelgefühle aus. So bietet sich als Ausflucht ein blasiertes Dandytum an. Vgl. Kap. X dieser Arbeit. 22 Sombart, Ernst Jünger, S. 161.

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die kleinbürgerlich-muffigen Züge der nationalen Erhebung zu erkennen, während namhafte Repräsentanten des deutschen Bildungs- und Wirtschaftsbürgertums sich von Verheißungen nationaler Größe blenden ließen. Aufgrund des antidemokratischen Ressentiments war die Beseitigung der Weimarer Republik durch nationalistische Kräfte erwünscht. Die „Pöbelherrschaft“ betrachtete man als etwas Vorübergehendes. Sie glaubte man, durch die Bereitschaft zur Teilnahme am politischen Prozess in zivile Fahrwasser lenken zu können. Schließlich befand man sich im „Weltbürgerkrieg“. Es galt um jeden Preis den Sieg des Sozialismus zu verhindern und sei es auch in seiner gemäßigten sozialdemokratischen Ausprägung.23

Planung und Planetarisierung Zeitgleich mit der Jünger-Rezension veröffentlichte Nicolaus Sombart sein Buch „Krise und Planung“ – endlich konnte er ein Buch vorlegen – , dem im Kontext seiner Beschäftigung mit dem „Arbeiter“ besondere Bedeutung zukommt. Das Buch enthält die Aufsätze „Vom Ursprung der Geschichtssoziologie“, „Planung und Planetarisierung“ und „Patriotismus in der globalen Ära“.24 Sie sind vor der JüngerRezension entstanden und umspannen einen Zeitraum von beinahe zehn Jahren. Im Vorwort nimmt Sombart zur Aktualität der diskutierten Probleme ausführlich Stellung. Geistiger Bezugspunkt ist der utopische Denker Saint-Simon. Er habe die „Revolution“ auf die „Krise“ hin transzendiert, die geschichtliche Epoche nach der Französischen Revolution als Übergangsepoche begriffen und die Veränderung

23 Auch Jünger spricht von einem Pöbelaufstand, der sich allerdings ins Universale ausdehne und dem allein höhere Naturen Einhalt gebieten könnten. „Gewiß ist, daß solche Naturen, die den Machtgrund kennen, auf dem die Welt errichtet ist, und die ‚von oben‘ kommen, dem fürchterlichen Pöbelaufstand zu begegnen wissen, der die Welt verheert.“ (Jünger, Strahlungen, S. 97.) Peter de Mendelssohn kritisiert die Verwendung des Begriffs Pöbel. Damit werde „der Großteil des Volkes kurzerhand zum Untermenschentum relegiert.“ (P. de Mendelssohn, Über die Linie des geringsten Widerstandes. Versuch über Ernst Jünger. In: ders., Der Geist in der Despotie. Versuche über die moralischen Möglichkeiten des Intellektuellen in der totalitären Gesellschaft, Frankfurt am Main 1987 (Erstauflage 1953), S. 173–235, hier S. 224.) Vgl. auch Karl Prümm, Vom Nationalisten zum Abendländer. Zur politischen Entwicklung Ernst Jüngers. In: Basis. Jahrbuch für deutsche Gegenwartsliteratur. Bd. 6 (1976). Hg. von Reinhold Grimm und Jost Hermand, Frankfurt am Main 1976, S. 7–29, hier S. 25. 24 Das Kapitel „Planung und Planetarisierung“ war bereits im Juli 1964 in Heft 197 der Zeitschrift „Merkur“ erschienen. Das Kapitel „Patriotismus in der globalen Ära“ ist identisch mit dem Text „Patriotismus im Weltbürgerkrieg“, der 1957 in dem von Gerhard Szczesny herausgegebenen Band „Der Zeitgenosse und sein Vaterland. Eine Vortragsreihe des Bayerischen Rundfunks“ veröffentlicht wurde.

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der Welt, den Übergang der Menschheit aus einer Daseinsverfassung in eine andere, bessere bejaht. Sombart greift diesen Gedanken auf und postuliert in der ihm eigenen Entschiedenheit: „Daß die Selbstverwirklichung des Menschen auch die Lebensverhältnisse auf dem Planeten, ja diesen selbst vollständig umgestalten würden, ist nur selbstverständlich.“25 Der Gedanke, dass die Zukunft geplant werden müsse, sei im Werk Saint-Simons angelegt. „Wir können heute sehen, daß die Fähigkeit zur Planung ebensosehr die Bedingung wie der ausgezeichnete Modus des Übergangs der Menschheit in die Daseinsverfassung der globalen Ära ist.“26 Eine planetarische Planungstheorie müsse in eine Theorie der internationalen Organisationen einmünden.27 Sombarts Überlegungen zur Planung in der globalen Ära führen ihn bis zu dem Punkt, „an dem sich der Übergang von der Geschichtsphilosophie zur Kybernetik“28 vollziehe. Das bedeute, dass das „Ende der Revolution“ mit dem „Ende der Geschichte“ zusammenfalle und mit der Begründung eines neuen „Nomos der Erde“ die Menschheit in das posthistorische Zeitalter eintrete. In diesem Zeitalter habe der „Weltbürgerkrieg“ ein Ende gefunden. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Gedanken herrschte noch der Kalte Krieg zwischen den Supermächten UdSSR und USA und von einer Beseitigung des Konflikts war man noch weit entfernt. Gleichwohl antizipiert Sombart einen Zustand der Beendigung des „Weltbürgerkrieges“, in dem er auf den Vorgang der Globalisierung und auf ein bevorstehendes kybernetisches Zeitalter verweist, in dem die Geschichtsphilosophie ihre Herrschaft an die Technikwissenschaften abtreten werde. In diesem Punkt berührt sich Sombart mit Ernst Jünger, der im „Arbeiter“ ein technisch bestimmtes Zeitalter heraufbeschwört, in dem der totale Arbeitsplan Erdball umspannend die Geschicke der Menschen regelt. Neu gegenüber den Beiträgen der fünfziger Jahre ist in dem Buch „Krise und Planung“ das Kapitel über „Planung und Planetarisierung“. Es geht Sombart dabei um „eine Totalkonzeption der geistigen und sozialen Ordnung der Menschheit in ihrem Endzustand“ und damit um einen „Schritt zur autonomen Daseinsgestaltung der Gattung“.29 „Die Etablierung einer Weltordnung, die jedem Menschen optimale Lebensbedingungen gewährt, ist nicht mehr ein utopisches Postulat, sondern 25 Nicolaus Sombart, Krise und Planung. Studien zur Entwicklungsgeschichte des menschlichen Selbstverständnisses in der globalen Ära, Wien/Frankfurt/Zürich 1965, S. 8. In Deutschland wurde dieses Buch kaum zur Kenntnis genommen. Kurzrezensionen erschienen vor allem in Österreich und der Schweiz. 26 Ebd., S. 9. 27 1957 plante Sombart eine neue Habilitationsschrift mit dem Titel „Prolegomena zu einer Soziologie der internationalen Organisationen“. Vgl. Tielke, Schmitt und Sombart, S. 101f. Zwanzig Jahre später wird er mit diesem Thema bei dem Politologen Wilhelm Hennis in Freiburg erneut einen Habilitationsversuch unternehmen. Vgl. Anm. 47. 28 Sombart, Krise und Planung, S. 9. 29 Ebd., S. 43.

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das eigentliche Politikum, um das alles politische Handeln sich dreht“, schreibt der Kulturbeauftragte des Europarats. Inzwischen sei der Schritt zur effektiven Globalisierung definitiv vollzogen. Geschichte sei weniger als ein zeitliches, denn als ein räumliches Ereignis zu begreifen. Es handele sich um „einen integralen raum-zeitlichen Verwandlungsvorgang, von dem Mensch und Erde gleichermaßen betroffen sind“.30 Teilhard de Chardin – der Name Jünger fällt in diesem Zusammenhang nicht – habe dafür die Bezeichnung „Planetarisierung“ gefunden. „Planetarisierung heißt, daß die Menschheit total über ihren Planeten verfügt, gleichzeitig aber auch, daß sie ihm total anheimgegeben ist.“31 Sombart verweist ferner auf Carl Schmitt und dessen Buch „Der Nomos der Erde“. Schmitt habe die Bedeutung der planetarischen Raumrevolution erkannt und wie keiner vor ihm zum Ausgangspunkt eines vertieften Verständnisses der neuesten Geschichte gemacht.32 Sombarts Überlegungen sind von der optimistischen Vorstellung getragen, dass das neue technologische Zeitalter eine Weltfriedensordnung hervorbringen werde. In der Kybernetik sieht er ein geeignetes Medium für eine Planungsordnung, die der Selbstverwirklichung des Menschen mehr Chancen biete, während die umgekehrte Möglichkeit, dass sich die Menschheit selbst vernichte, gebannt werden könne. Menschliche Selbstverwirklichung sei folglich nicht mehr die Sache eines utopischen geschichtsphilosophischen Entwurfs wie zu Zeiten Saint-Simons und Fouriers, sondern erscheine durch kybernetisch vermittelte Planung möglich. Sombarts Vorstellung von menschlicher Selbstverwirklichung findet in folgenden Zeilen ihren Ausdruck: „Die Welt, die wir uns einrichten, soll nicht nur materiell das Überleben der Gattung gewährleisten, sondern auch ein angenehmes, ein würdiges Leben, ein Leben in Freiheit und Schönheit für jeden einzelnen Menschen“.33 „Effizienz und Annehmlichkeit, Tüchtigkeit und Wohlleben, Nützlichkeit und Schönheit, Einhelligkeit und Vielfalt gehören planungstechnisch zusammen“34 , heißt es unter Verweis auf den Utopisten Charles Fourier. Hinsichtlich der Vorstellung von menschlichem Glück wird die Differenz zu Ernst Jüngers „Arbeiter“ deutlich erkennbar. Während Jünger sich zu einem Leben soldatischer Zucht und Askese bekennt, propagiert Sombart ein hedonistisches Lebensideal. Ingrediens erfolgreicher Planung ist die Friedenspolitik – ein Politikbereich, der in den sechziger Jahren öffentliche Aufwertung erfuhr. Mit seinem engagierten Plädoyer für eine Weltfriedenspolitik setzt sich Sombart zum Unbehagen seines Mentors Carl Schmitt von dessen Freund-Feind-Denken unmissverständlich ab.

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Ebd., S. 45. Ebd., S. 46. Vgl. ebd., S. 96, Anm. 7. Ebd., S. 54. Ebd.

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Wie schon in der Rezension von Jüngers „Arbeiter“ lässt sich in Sombarts politischem Denken eine allmähliche Abkehr von den Positionen Carl Schmitts erkennen, die ihn bisher trotz seiner Verbundenheit mit Alfred Weber maßgeblich geprägt haben. In den Jahren 1965–1967 ist Nicolaus Sombart als Zukunftsforscher ein gefragter Diskussionsteilnehmer auf internationalen Konferenzen. Sein Spezialgebiet ist die Stadt der Zukunft. Es würden Gebäude entstehen, die viele tausend Meter in die Höhe ragen, ja in der Luft schweben, weiß er seinen erstaunten Zuhörern zu berichten.

Abrechnung mit Ernst Jünger War die Rezension des „Arbeiter“ noch von Respekt vor der geistigen Leistung des Autors getragen, so ist davon wenige Jahre später nichts mehr übriggeblieben. Sombart vollzieht einen fundamentalen politischen Kurswechsel und sucht Anschluss an das Gedankengut der Außerparlamentarischen Opposition in der Bundesrepublik. Aus deren Sicht ist Jünger der Inbegriff anti-humanen Denkens, das für die Machtergreifung des Nationalsozialismus Mitverantwortung trägt. Sombart eröffnet sein Pamphlet „Jünger in uns“, das im Herbst 1968 in der von Horst Bingel herausgegebenen „Streit-Zeit-Schrift“ erscheint, mit einem rhetorischen Paukenschlag: „Das Erstaunlichste an Ernst Jünger, wie an Adolf Hitler, ist sein Erfolg“.35 In gleicher polemischer Zuspitzung heißt es, der Ästhetizismus des Autors stehe dem Perfektionismus Adolf Eichmanns näher als dem Perfektionismus einer Jean Cocteau. Wenn die Franzosen dies wüssten, „würden sie ihn meiden, wie einen räudigen Hund.“36 Damit wird dem Dichter, der während der Pariser Besatzungszeit häufig mit Cocteau zusammentraf, eine sprachliche Nähe zum Buchhalter der Endlösung der Judenfrage attestiert, ein in seiner Maßlosigkeit unbegreifliches Verdikt, hatte doch selbst Klaus Mann geurteilt, Jünger gehöre seinen literarischen Gaben nach zu ihnen, den Gegnern des völkischen Nationalismus.37 In seiner Abrechnung mit Jünger wähnt sich der Professorensohn Sombart in der Position großbürgerlicher Überlegenheit. Der einstmals geschätzte Autor ist für ihn nur mehr ein „durch den ‚pour le mérite‘ nobilitierte(r) Kleinbürger“38 , der sich in der Nachfolge Baudelaires und Nietzsches der Giftküche großbürgerlicher

35 Nikolaus [!] Sombart, Jünger in uns. In: Streit-Zeit-Schrift, Heft VI,2 - September 1968. Hg. von Horst Bingel, S. 7–9, hier S. 7. 36 Ebd., S. 8. 37 Vgl. Klaus Mann, Die Jugend und Paneuropa (1930). In: ders., Die neuen Eltern. Aufsätze, Reden, Kritiken 1924–1933. Hg. von Uwe Naumann und Michael Töteberg, Reinbek 1992, S. 269. 38 Sombart, Jünger in uns, S. 7.

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Dekadenz bediene. Als Antithese zu Jünger gilt Sombart Thomas Mann, dessen Bürgerlichkeit im Vergleich mit der dezidierten Antibürgerlichkeit des Kriegsautors keinen Zweifel zulasse. Der 1932 von Thomas Manns an das deutsche Bürgertum gerichtete Appell, sich der Sozialdemokratie anzuschließen, sei wahrlich eine heroische Tat gewesen, während der „heroische Nihilismus“ Jüngers sich dem heutigen Betrachter als „die dumme Pose eines geistig unbedarften Stoßtruppführers“39 darstelle. Der Ton der Auseinandersetzung hat sich, denkt man an Sombarts von Respekt zeugende Besprechung des „Arbeiter“, zu äußerster Verdammung gesteigert. In decouvrierender Absicht weist Sombart darauf hin, dass der Anti-Bourgeois Jünger im Nachkriegsdeutschland von einem typischen Repräsentanten der Bourgeoisie, Konrad Adenauer, das Bundesverdienstkreuz entgegennahm.40 Jünger, der seine Jugendsünden zwar längst eingesehen und für sich auch niemals in Anspruch genommen habe, ein Widerstandskämpfer gegen Hitler gewesen zu sein, habe uns heute nichts mehr zu sagen, lautet das Fazit. „Warum entreißt man ihn seiner wohlverdienten Vergessenheit?“41 Die Frage mutet merkwürdig an, hielt Sombart doch nur wenige Jahre früher eine Auseinandersetzung mit dem Werk Jüngers für durchaus produktiv und erhellend, ja geradezu für notwendig, um die Entstehungsgründe des Dritten Reiches zu verstehen. Doch der Zeitgeist hatte sich gewandelt. Die Studentenrevolte ließ eine abwägende Untersuchung der Werke Jüngers nicht länger zu. Es war die Zeit der unversöhnlichen Abrechnung mit den Vätern. Eindeutige Parteinahme war gefordert und so wurde aus dem Jünger, dem Sombart geniale Einsichten in die zukünftige planetarische Weltordnung bescheinigt hatte, ein „räudiger Hund“ und geistig unbedarfter Poseur. Den eigenen Vater nahm Sombart freilich von dieser Abrechnung aus. Für seine Familie galten andere Maßstäbe. So musste der Vorwurf der 68er, er spreche zu affirmativ von seinem Elternhaus, an ihm abprallen.42

Abkühlung im Verhältnis zu Carl Schmitt Als der Jünger-Beitrag erschien, waren sein väterlicher Freund Carl Schmitt, aber auch Sombarts Mutter Corina tief bestürzt. Am 20. Dezember 1968 schreibt Corina Sombart an Schmitt: „Nicolaus hat eine sehr scharfe Kritik über Ernst Jünger

39 Ebd. 40 Das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland erhielt Jünger 1959 nicht durch Konrad Adenauer, sondern durch den Bundespräsidenten Theodor Heuß. Vgl. Ernst Jünger, Über Kunst und Künstler. Aus den Schriften. Hg. von Gisela Linder, Friedrichshafen 1990, S. 92. 41 Sombart, Jünger in uns, S. 9. 42 Vgl. Sombart, Journal intime, S. 192.

Abkühlung im Verhältnis zu Carl Schmitt

veröffentlicht, zu meinem großen Ärger, weil der Angriff zu stark war.“43 Für Jünger selbst blieb der Angriff gegen ihn ein psychologisches Rätsel, wie er Schmitt in einem Brief anvertraut: „Wie ist es möglich, daß er vor etlicher Zeit und ganz ‚ohne Vorwarnung‘ in übler Gesellschaft zu einem Angriff gegen mich überging, der an denunziatorischem Schmutz nichts zu wünschen übrig ließ? Sollte er sich ganz einfach an eine Maxime von Friedrich Sieburg gehalten haben, der einmal schrieb: ‚Der Fußtritt gegen Ernst Jünger öffnet Türen.‘? Oder hatte er es nötig als Alibi? Wollte er den Namen Sombart in ein zeitgemäßes Licht bringen?“44 In einem folgenden Brief an Schmitt vergleicht Jünger Nicolaus Sombart mit Absalom, dem dritten Sohn des Königs David, mit dessen Namen sich Untugenden wie falscher Ehrgeiz und Treulosigkeit verbinden. In Schmitts Antwortschreiben zeichnet sich deutlich die Entfremdung ab, die inzwischen auch zwischen ihm und Nicolaus Sombart eingetreten war: „Seine skandalöse Invektive ist mir vor etwa einem Jahr in die Hände gefallen. Ich habe ihm nichts dazu geschrieben, weil ich keinen Kontakt mehr zu ihm habe (…). Die Zeitschrift, in der die Äußerung erschien, ist mir in allem und in jeder Hinsicht fremd, sodass ich die sachliche Bedeutung einer so offensichtlich von persönlichen Affekten getragenen Demonstration nicht einschätzen kann. Doch kann Ihre Situation nicht davon berührt werden und Sombarts eigene Situation, was immer er sich dabei gedacht hat, wird dadurch nicht verbessert oder gehoben. Manches erklärt sich heute aus der allgemeinen Unsicherheit, die einen unberechenbaren, von der Wende des Jahres 1945 sehr verschiedenen Umschwung herannahen fühlt, ohne sein Richtung bestimmen zu können.“45 Nicolaus Sombart selbst notiert rückblickend zum Hintergrund seiner JüngerPolemik in dem autobiographischen Band „Pariser Lehrjahre“: „Ich habe Jahre gebraucht, um mich von der Faszination, die Ernst Jünger auf mich ausübte, zu lösen. Es geschah im Zuge meiner inneren Auseinandersetzung mit Carl Schmitt, in der mir die perniziösen Auswirkungen des deutschen Männerbund-Syndroms langsam zu Bewußtsein kamen. Ein schmerzlicher Prozeß. In den stürmischen 60er Jahren ließ ich mich dazu hinreißen, meinem Unmut in einem kleinen Pamphlet Luft zu machen, dessen Inhalt ich nicht zu verleugnen brauche, von dem ich aber heute gerne eingestehe, daß seine Veröffentlichung eine Ungezogenheit war. Ich

43 Tielke, Schmitt und Sombart, S. 175. 44 Ernst Jünger an Carl Schmitt, Brief vom 31. 7. 1970. In: Ernst Jünger – Carl Schmitt. Briefe 1930–1983, S. 374. 45 Carl Schmitt an Ernst Jünger, ebd., S. 176. Der Jünger-Biograph Kiesel spricht von Andeutungen infamer Art und gibt eine Begründung für Sombarts Vorgehen: „Vielleicht wollte Sombart seines Vaters klischeehaftes Händler und Helden-Buch von 1915 übertreffen; vielleicht wollte er auch einen mehrfachen Vatermord begehen und endlich aus dem Bannkreis der Sombart sen., Schmitt und Jünger heraustreten“. (Kiesel, Ernst Jünger, S. 631.)

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Rendezvous mit Ernst Jünger

brauche nicht zu sagen, daß es mir in gewissen Kreisen äußerst verübelt wurde und sich gewisse Türen für immer für mich schlossen. Gut daran war, daß sich auf diese Weise mit großer Schärfe eine politische Frontlinie abgezeichnet hat. Erst als ich Räusche und Drogen las, diese in eine tiefsinnige Kosmologie eingebettete Lebensdeutung, konnte ich meiner Bewunderung für den Autor wieder Raum geben, dem ich meine Achtung für die singuläre Leistung einer trotzig-hartnäckig durchgehaltenen ästhetisch-asketischen Selbststilisierung nie versagen konnte.“46 Wie war Sombarts Situation im Jahre 1968, von der Schmitt meint, sie werde durch die Attacke gegen Jünger weder verbessert noch gehoben? Sein Plan, sich bei dem Politologen Arnold Bergstraesser, mit dem er seit 1957 in Kontakt stand, an der Universität Freiburg zu habilitieren, hatte sich längst zerschlagen. Auch ein späterer Versuch bei Bergstraessers Kollegen Wilhelm Hennis scheiterte.47 Was zur Berufung auf einen Lehrstuhl fehlte, war die Vorlage einer umfangreichen Monographie. Der mit der Familie Sombart seit Vorkriegszeiten befreundete Basler Ordinarius Edgar Salin drückt es unmissverständlich aus. Was ihn bestürze, sei die Tatsache, dass es immer ganz kleine Arbeiten seien, die Sombart veröffentliche. Er würde gern etwas dafür tun, dass er bei der Neuordnung der Universitäten seinen Platz bekomme. Aber wenn nicht eine durchschlagende, neue größere Arbeit vorliege, sei er immer auf die Antwort gestoßen, was denn nun sei und was denn komme.48 Versprach sich Sombart von einer Attacke gegen Jünger Ansehen in akademischen Kreisen? Und welche Kreise konnten dies sein? Carl Schmitt nahestehende Wissenschaftler gingen zu ihm auf Distanz. Doch konnte der Tritt gegen Jünger ihm andere Türen öffnen. Offenbar suchte Sombart Anschluss an das erstarkende linksliberale akademische Establishment. Sein Ziel war die Übernahme einer Honorarprofessur, die allerdings nicht zustande kam. Es blieb bei gelegentlichen Lehraufträgen an verschiedenen deutschen Universitäten. Zwischen 1964 und 1976 kam es zu keinen persönlichen Begegnungen zwischen Carl Schmitt und Nicolaus Sombart. Auch der briefliche Kontakt lag viele Jahre lang brach. Zu einer gewissen Abkühlung in der Beziehung trug sicherlich Sombarts Buch „Krise und Planung“ bei. Sombart hatte die Publikation Schmitt zugesandt

46 Sombart, Pariser Lehrjahre, S. 202. 47 Am 25. Mai 1977 teilte Sombart Hennis mit, er habe ernstlich die Absicht, seine Tätigkeit beim Europarat zu beenden. Irgendwelchen komplizierten Habilitationsprozeduren werde er sich aber kaum mehr unterziehen wollen. „Ob meine Liebe zur Universität heute noch mehr ist als ein fortgeschleppter Atavismus, ist schwer zu sagen. Im Grunde genommen kränkt es mich wohl bloß, ohne den schönen Titel ‚Professor‘ herumzulaufen.“ (Nicolaus Sombart an Wilhelm Hennis. Brief vom 25.5.1977. NL N. Sombart 405, 1520.) Aus dem Versuch, sich als „später Habilitand“ Hennis zu empfehlen, wurde nichts. Zusammen mit dem Historiker John C. G. Röhl nahm Sombart im Wintersemester 1977/78 an der Universität Freiburg eine Lehrstuhlvertretung wahr. 48 Vgl. Edgar Salin an Nicolaus Sombart. Brief vom 28.8.1968. NL N. Sombart 405, 1113.

Abkühlung im Verhältnis zu Carl Schmitt

mit der in eine Frage gekleideten Bemerkung, hiermit liege nun endlich ein Buch von ihm vor. De facto war es ein Ersatz für die geplante Habilitationsschrift. Schmitt nahm – wie schon beim Erscheinen des Sammelbandes „Einführung in die Soziologie“ zehn Jahre früher – Anstoß an Sombarts Würdigung seines Doktorvaters Alfred Weber, auf den er in einer Fußnote ausführlich zu sprechen kommt. Schmitt sah darin wohl einen Akt der Illoyalität ihm gegenüber. Bereits 1955 hatte er sich abfällig über Weber geäußert und ihn als einen „Lemurentyp“ bezeichnet. Nun empörte ihn, dass Sombart Alfred Weber in seiner Bedeutung neben Saint-Simon platzierte, was in seinen Augen ein absolutes Sakrileg darstellte. Im Antwortschreiben Schmitts auf die Zusendung des Buches heißt es: „Im ‚Vorwort‘ vollziehst Du eine Selbst-Einstufung, die Saint-Simon mit einbezieht. Im gleichen Zuge und Vollzuge setzest Du Deinen Lehrer Alfred Weber auf den Altar der globalen Ära. Gut. Ich störe Dich nicht in Deinem Selbst-Verständnis. Du musst es wissen. C‘est ton affaire à toi. Continue comme ça, si tel est ton plaisir. Aber: Weber neben Saint-Simon zu setzen, heißt ein Protokoll verletzen, und das solltest gerade Du nicht tun, wenigstens nicht dieses Protokoll, am wenigsten Du.“49 Des Weiteren verdross es Schmitt, dass Sombart für eine Friedenspolitik plädierte und sich ausdrücklich – freilich ohne Schmitt zu nennen, statt dessen zitiert er den Schmitt-Adepten Julien Freund – gegen ein Freund-Feind-Denken wandte. Damit war ein weiterer Schritt von Schmitt weg vollzogen. Wenn dieser seinem geistigen Ziehsohn erklärt, er sei „näher bei dem längst entmilitarisierten Ernst Jünger als es Dir angenehm sein könnte“50 , übersieht er freilich, dass Sombart seit seinem Eintritt in den Europarat, zu dem Schmitt ihn beglückwünschte, gar nichts anderes übrig blieb, als diesen Schritt zu vollziehen. Umso erstaunlicher und fragwürdiger muss Schmitt die scharfe Abrechnung Sombarts mit dem „entmilitarisierten“ Jünger wenige Jahre später erscheinen. Offenbar hat sein Engagement für die Friedenspolitik dazu beigetragen, seine Waffen gegen die Gegner einer solchen Konzeption von Politik zu schärfen. Allerdings hätte Sombart dann nicht Jünger, sondern Schmitt ins Visier nehmen sollen. Doch er zögerte noch. Der Bruch mit Jünger bot sich gleichsam als Vorspiel zu einem solchen Schritt an. Im Gefolge der 68-Revolte begann Nicolaus Sombart sich intensiv mit der Psychoanalyse Freuds zu beschäftigen. Den Schlüssel für die Entzifferung der deutschen

49 Carl Schmitt an Nicolaus Sombart. Brief vom 12.11.1965. In: Tielke, Schmitt und Sombart, S. 117. 50 Ebd. Bereits 1934 notierte Jünger: „Wohl stellt die Kriegserfahrung ein Kapital dar, von dem sich in friedlichen Zeiten die Vorstellung des Soldaten über den Krieg ernährt, aber der Wert dieses Kapitals nimmt in demselben Maße ab, in dem der Krieg in die Vergangenheit rückt.“ (Ernst Jünger, Blätter und Steine, Hamburg 1934, S. 90.) Je mehr der Krieg in die Ferne rückte, je weniger konnte Jünger auf dieses Kapital zurückgreifen und je ziviler wurde sein Weltbild. Dieser Prozess sollte nach dem zweiten Weltkrieg in eine „Entmilitarisierung“ des Jüngerschen Denkens einmünden, die Carl Schmitt offenbar wenig behagte.

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Rendezvous mit Ernst Jünger

Geschichte als eine fehlgeleitete Geschichte deutscher Männer fand er in Martin Greens Buch über die Richthofen-Schwestern und in dem Werk des Freud-Schülers Otto Gross. Sollte er sich in seiner Rezension dieses Buches zunächst des geistigen Heroen Max Weber entledigen, so war es nur folgerichtig, auch seinen geistigen Ziehvater Carl Schmitt einer Fundamentalkritik zu unterziehen. Dieser Vorgang vollzog sich im Kontext mehrerer autobiographischer Studien, deren Auftakt das Buch „Jugend in Berlin“ (1984) bildete. Zehn Jahre später folgten die „Pariser Lehrjahre“. 1991 erschien Sombarts theoretisches Hauptwerk „Die deutschen Männer und ihre Feinde“, eine Generalabrechnung mit Carl Schmitt, dessen Erscheinen dieser nicht mehr erlebte. Er starb 1985. Ernst Jünger wird in dieser Studie, angeregt wohl auch durch Klaus Theweleits „Männerphantasien“, stets im Zusammenhang mit Carl Schmitt genannt: als der Inbegriff des durch Misogynie und patriarchales Verhalten gekennzeichneten soldatischen preußischen Typus. Max Weber, Carl Schmitt und Ernst Jünger bilden eine unheilige Trias. Sie werden von Sombart für die deutsche Misere – die Verhinderung einer liberalen, demokratischen, der Emanzipation der Frau offenstehenden Gesellschaft – mitverantwortlich gemacht. Indem Sombart sich an einstigen geistigen Leitfiguren abarbeitet, gewinnt er seine eigene Position.

VII.

Max Weber. Der Bismarck der Wissenschaft

Wissenschaft als ein Asyl Nicolaus Sombart hat die direkte Auseinandersetzung mit Werk und Person seines Vaters Werner Sombart gescheut. Stattdessen müssen zwei Repräsentanten der Väter- und Großvätergeneration für seine Abrechnung mit dem Autoritarismus und der Machtfixierung des deutschen Bildungsbürgertums der wilhelminischen und nachwilhelminischen Zeit herhalten: Max Weber und Carl Schmitt. War Schmitt lange Zeit für Nicolaus Sombart eine Art Ersatzvater gewesen, so gehört Max Weber – wie Werner Sombart – einer älteren Generation an. Er wurde 1864 geboren und starb 1920 zu Beginn der Weimarer Republik. Nicolaus Sombart hat sich erstmals 1952 in einer Rezension der ein Jahr zuvor in zweiter Auflage erschienenen Wissenschaftslehre mit Max Weber kritisch auseinandergesetzt.1 Zu dieser Zeit arbeitete er in Paris an seiner Habilitationsschrift über die Entstehung der Soziologie als einem Produkt des europäischen Bürgerkrieges. Die Rezeption des Werks Max Webers hielt sich im Nachkriegsdeutschland in Grenzen. Dagegen entfaltete Weber in den USA in der sich herausbildenden strukturell-funktionalen Schule im Umkreis von Talcott Parsons eine beträchtliche Wirkung. Dass Max Weber – so stellte es sich Anfang der fünfziger Jahre dar – in Deutschland ohne Schule und Nachfolge geblieben war, ist für Nicolaus Sombart nicht nur ein Indiz dafür, dass dieser mit seinem Versuch, die Soziologie als Wissenschaft zu begründen, gescheitert sei, sondern auch mit seinen methodologischen Reflexionen keine Aktualität mehr beanspruchen könne. „Er steht nicht an einem Anfang, wie er vielleicht gegen besseres Wissen gehofft hat, sondern am Ende; sein Scheitern bei dem Versuch, die ‚Soziologie‘ als ‚Wissenschaft‘ zu begründen, fasst in einem großartigen Beispiel jenen Vorgang zusammen, den man als den Zusammenbruch des okzidentalen Scientismus bezeichnen darf. Unabhängig vom Erfolg kommt ihm Symbolwert zu und er wird dadurch noch wirken, wenn kein Mensch mehr die methodologischen Probleme, an denen er sich entzündete, versteht.“2

1 Nicolaus Sombart, Rezension von: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 2 1951. Abgedruckt im Anhang von: Tielke, Schmitt und Sombart, S. 215–217. Die 1952 geschriebene, unveröffentlicht gebliebene Rezension liegt als Typoskript im Nachlass Schmitts und wurde hier erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. In einem Brief an Ernst Forsthoff ist Schmitt noch 1967 davon überzeugt, Sombarts Aufsatz enthalte „glänzende Ansätze“. Siehe Tielke, Schmitt und Sombart, S. 56. 2 Ebd., S. 216.

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Max Weber. Der Bismarck der Wissenschaft

Die kühne Behauptung vom Scheitern Max Webers als Wissenschaftler findet in dem unter der Beteiligung Nicolaus Sombarts 1955 von Alfred Weber herausgegebenen Sammelband „Einführung in die Soziologie“, zu dem Alfred Weber ein Kapitel über seinen Bruder beisteuerte, allerdings keine Bestätigung. Alfred Weber sieht zwar in der Trennung von Werturteilen und Erfahrungswissen ein Gefährdungspotential für eine lebendige Sozialwissenschaft, räumt aber ein, dass Max Webers theoretische, begriffsbildende Leistung bis in die Gegenwart „und wohl für absehbare Zukunft weitgehend grundlegend geblieben ist.“3 Nicolaus Sombart versteht Max Webers Kampf um Wertfreiheit und Objektivität der Wissenschaft zunächst ganz auf der Linie von Auguste Comte als einen Versuch, die Soziologie als eine neutrale Instanz zu konstituieren. In den folgenden Ausführungen gibt Sombart allerdings ein von Verzerrungen nicht freies Bild der Weberschen Soziologie. Er behauptet, die von diesem geforderte Rationalität der Wissenschaft habe sich dahingehend radikalisiert, dass sie Wertideen als solche vollständig negiere. Damit sei der Glaube der Wissenschaft an objektive Normen und deren wissenschaftliche Begründbarkeit zerstört worden. Im Gegensatz zu dieser Deutung bemühte sich Weber zwar, Werturteile aus dem wissenschaftlichen Forschungsprozess herauszuhalten, sie aber jenseits dieses Verfahrens wie auch in den wissenschaftlichen Fragestellungen und der Interpretation der Ergebnisse in vollem Umfang zur Geltung kommen zu lassen. So kommt Webers Diagnose von der Rationalisierung und Entzauberung der modernen Welt und der Entstehung eines stahlharten Gehäuses der Hörigkeit durch fortschreitende Bürokratisierung einem vernichtenden Urteil über den Gang der menschlichen Geschichte gleich. Sombart stellt denn auch zurecht fest: „Was als Kampf um die Wissenschaftlichkeit einer Fachdisziplin begann, verwandelt sich in generelle, durch Zeitgenossenschaft zu Nietzsche charakterisierte Kulturkritik. Was eine Basis der Objektivität sein sollte, wird zu einer Plattform der Negativität.“4 Sombart geht in seiner Analyse des Weberschen Werks freilich noch einen Schritt weiter. Weber habe nicht nur die Übermacht der Rationalisierung aller Lebensbereiche in der Moderne erkannt. Er sei auch – wie Marx – ein Diagnostiker der

3 Alfred Weber, Max Weber. In: Einführung in die Soziologie. Hg. von Alfred Weber in Verbindung mit Herbert von Borch, Nicolaus Sombart, Hanno Kesting u. a., München 1955, S. 164. Carl Schmitt sieht in dem Buch, wie er Koselleck mitteilt, dagegen einen Versuch Alfred Webers, den Rang Max Webers zu schmälern: „An Hanno Kesting schreibe ich auch dieser Tage. Er hat mir Alfred Webers Einführung in die Soziologie geschickt; ein tolles Stück und ein grotesker Anblick, wie an einem alten Lemuren-Schlitten ein paar junge Rennpferde ziehen, während der Alte selbst seine Rivalen Pareto (S. 129), durch Antifa-Denunziation, und Max Weber abzudrehen sucht; im Grunde ein trauriges Bild und irgendwie scabreux.“ (Reinhart Koselleck/Carl Schmitt, Der Briefwechsel 1953–1983 und weitere Materialien. Hg. von Jan Eike Dunkhase, Berlin 2019, S. 116.) 4 Sombart, Rezension von: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 216.

Wissenschaft als ein Asyl

Verkehrung des Zweck-Mittel-Verhältnisses gewesen, da die durch zweckrationales Handeln geschaffenen gesellschaftlichen Verhältnisse gegenüber den gesellschaftlichen Akteuren ein Eigengewicht gewönnen. Im Ergebnis des sozialen Handelns entstünden Verhältnisse, die sich gegen die Handelnden selbst kehrten, sich verselbständigten und nicht mehr als rational zu bezeichnen seien. Weber habe es daher vermocht, durch seine Analyse die gesellschaftlichen Prozesse „in ihrer typischen Irrationalität zu entlarven und dadurch zu entschärfen.“5 Das Prinzip der Rationalität werde folglich von Weber als heuristisches Mittel der „Rettung“ eingesetzt. Es fragt sich, ob Nicolaus Sombart mit dieser Interpretation eines Kernstücks der Weberschen Soziologie nicht über das Ziel hinausgeschossen ist. Kann doch von „Rettung“ des in einem stählernen Gehäuse gefangenen Individuums bei Weber kaum die Rede sein. Allerdings sah er die Chance, dass einzelne mit Macht ausgestattete Persönlichkeiten sich gegen das Verhängnis stemmten und eine weitere Verhärtung des geschichtlichen Ganges aufhalten könnten. Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Jürgen Habermas haben Webers eindimensionalen Begriff der Rationalität kritisiert und in Hegelscher Tradition dagegen einen erweiterten, auf Aufklärung und Überwindung der Selbstentfremdung ausgerichteten dialektischen Vernunftbegriff gesetzt. In der Lesart Sombarts ist das utopische Element indessen bei Max Weber selbst angelegt, wenn er von „Rettung“ spricht, deren Kriterium die Freiheit des Individuums sei. Die Freiheit bleibt dabei allerdings auf den heroisch kämpfenden Einzelnen beschränkt. In diesem Kampf sei die Wissenschaft für den zeitkritischen Soziologen eines der letzten Reservate. Sombarts Fazit lautet: „Das anfängliche Pathos des Kampfes um ‚unbefangene‘, ‚wertfreie‘, ‚objektive‘ Wissenschaftlichkeit degeneriert zu einem Ethos heroischen Ausharrens auf verlorenem Posten, und so wie etwas später (unter verschärften Bedingungen) für einen anderen großen Repräsentanten der gleichen Epoche des Bürgertums, Carl Schmitt, ist schließlich auch für Max Weber die Wissenschaft nichts anderes mehr, als ein – Asyl.“6 Bemerkenswert ist, dass Sombart bereits Anfang der fünfziger Jahre Korrespondenzen zwischen dem wissenschaftlichen Werk Max Webers und Carl Schmitts aufdeckt, noch bevor die Studie Wolfgang J. Mommsens über Max Weber und die deutsche Politik, die 1959 erschien, solche Zusammenhänge nachweist und Schmitt als einen „gelehrigen Schüler“ Webers bezeichnet.7 Sombart verkennt freilich, dass

5 Ebd., S. 217. Siehe dazu auch: Karl Löwith, Max Weber und Karl Marx. In: ders., Gesammelte Abhandlungen. Zur Kritik der geschichtlichen Existenz, Stuttgart 1960, S. 25. 6 Sombart, Rezension, S. 217. 7 Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Tübingen 1974, S. 407. Carl Schmitt bescheinigte Mommsen in seiner Rezension des Buches „eine ganz außerordentliche Leistung“. Vgl. C. Schmitt, Rezension zu: Wolfgang J. Momm-

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Max Weber. Der Bismarck der Wissenschaft

Weber und Schmitt zu ihrer Zeit nicht Zuflucht in einer Art innerer Emigration suchten oder Asyl in der Wissenschaft fanden, sondern am politischen Zeitgeschehen aktiv teilnahmen. Weber war ein engagierter politischer Redner und Publizist. Seine Expertise ging in die Weimarer Verfassung ein. Allerdings eignete er sich weniger für die Rolle des Parteipolitikers, obwohl er Vorstandsmitglied der Deutschen Demokratischen Partei wurde. Ein Reichstagsmandat blieb ihm verwehrt. Carl Schmitts Rolle als Kronjurist des Dritten Reiches ist hinlänglich bekannt und gut dokumentiert. Zu berücksichtigen ist, dass Nicolaus Sombart zum Zeitpunkt der Niederschrift der Weber-Rezension über das Ausmaß der Verwicklung seines geistigen Ziehvaters in die Machenschaften des Dritten Reiches nur unzureichend unterrichtet war. Schmitt stand 1933 keineswegs auf verlorenem Posten. Er zog sich erst nach Verlust seiner nationalsozialistischen Ämter 1936 mehr und mehr in die Wissenschaft als „ein Asyl“ zurück.

Max Weber und Werner Sombart – Bourgeois versus Bohemien Eine zweite ausführlichere Auseinandersetzung mit Werk und Person Max Webers führte Nicolaus Sombart erst 24 Jahre später, als er selbst längst einer wissenschaftlichen Laufbahn entsagt hatte. Er fand „Asyl“ im Europarat in Straßburg, von wo aus er als Publizist das Zeitgeschehen beobachtete und kommentierte. Im Fall Sombarts lässt sich davon sprechen, dass er nicht in die Wissenschaft „auswich“. Vielmehr wich er der Wissenschaft aus, in dem er Kulturbeamter wurde. Sombart war zu dieser Zeit im Begriff, seine Abrechnung mit der Vätergeneration vorzubereiten. Von Ernst Jünger hatte er sich schon abgewandt. Nun galt es, mit Carl Schmitt ins Reine zu kommen. Dabei war die Kritik an Max Weber nur eine Zwischenstation. Sie bildete mehr noch als das Jünger-Pamphlet gleichsam das Vorspiel zu einer großangelegten Auseinandersetzung mit Carl Schmitt. Da Weber der Generation seines Vaters angehörte, zielte die Kritik an ihm gleichsam stellvertretend auf den eigenen Vater, obgleich er diesen immer wieder gegen Vorwürfe, die ihn in Verbindung mit dem Nationalsozialismus brachten, in Schutz nahm und stets hervorhob, dass Werner Sombart im Unterschied zu Weber und

sen, Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920. In: Das Historisch-Politische Buch 8 (1960), H. 6, S. 180–181, hier S. 180. An Sombart schreibt er am 2. März 1960: „Eigentlich müsstest Du zu Mommsens Buch das Wort ergreifen.“ (Tielke, Schmitt und Sombart. S. 110.) Schmitt wiederholt diese Aufforderung mehr als zwei Jahre später: „Ich habe mir Deinen glänzenden Max-Weber-Aufsatz zu der Winckelmann-Ausgabe der Aufsätze 1951 abschreiben lassen: man sollte ihn zu der neuentbrannten Max-Weber-Diskussion (Wolfgang Mommsen, ferner Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1961, Heft 2) neu drucken.“ (Ebd., S. 114.)

Max Weber und Werner Sombart – Bourgeois versus Bohemien

Schmitt kein typischer Vertreter des machtfixierten deutschen Bildungsbürgertums gewesen sei. Nicolaus Sombart sah in seinem Vater eher den Bohemien und genussfreudigen Lebemann, während Max Weber wie kein anderer ihm als der Typus des misogynen Wissenschaftlers erschien, in dem sich alle Antipathien des gescheiterten Wissenschaftlers Nicolaus Sombart bündelten. Seinem Versuch, den eigenen Vater als einen bürgerlichen Nichtbürger einem Typus wie Max Weber, dem stolzen Bourgeois, gegenüberzustellen, haftet dennoch etwas Schematisches an, denn auch Werner Sombart war autoritär und machtfixiert. Selbstverständlich hatte er ähnliche zeittypische Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Er lebte seine erotischen und bohemehaften Neigungen jedoch stärker aus als Weber, wenn man von dessen letzten Lebensjahren absieht. Auch der Weber-Biograph Joachim Radkau hebt hervor, dass kein anderer Gelehrter seiner Zeit in seinem wissenschaftlichen Profil eine solche Ähnlichkeit mit Max Weber aufwies wie Werner Sombart. Dennoch gebe es bemerkenswerte Unterschiede. „Während Weber es von Anfang an verstand, den Eindruck eines durch und durch ernsten Wissenschaftlers zu erwecken, hing Sombart der Ruf des Unseriösen an. Selbst für den Nationalökonomen Lujo Brentano, der auch in der Wissenschaft eine gewisse Leichtigkeit und Eleganz liebte, war Sombart ‚ein ganz frivoles Huhn, das bunte Seifenblasen macht‘.“8 Er gefiel sich darin, im Ruf eines Don Juan zu stehen. Seine Blasiertheit sei sprichwörtlich gewesen. In diesem Sinne meint Nicolaus Sombart in Anspielung auf die Ehe seines Vaters mit einer Rumänin: „Indem er seinem preußischen, protestantischen und professoralen Milieu eine Tochter des Balkans zumutete, hatte er in späteren Jahren sein unwiderstehliches Bedürfnis, den Konformismus und die Scheinheiligkeit seiner Klasse herauszufordern, auf die Spitze getrieben.“9 Nicolaus Sombart trat, was diesen Aspekt betrifft, in die Fußstapfen seines Vaters, indem er die Tochter eines Georgiers heiratete. Über die Einschätzung seines Vaters durch die Akademikerschaft berichtet er: „Auch wenn er rund zwanzig Bücher geschrieben hatte (von denen einige weltbekannt wurden), hat man ihm immer vorgeworfen, ein Bohémien zu sein, was für seine korrekten Kollegen und seine Familie comme il faut, ganz einfach bedeutete: ein Schürzenjäger … Épater les bourgeois war einer seiner Lieblingssprüche.“10 Für Werner Sombart seien kulturelle Werte wie Generosität, Großherzigkeit, Sinn für das Schöne, Noblesse und Verantwortungsbewusstsein, die von der Bourgeoisie verraten worden waren, unverzichtbar gewesen. „Sein Modell war vielmehr eine imaginäre und mythische, 8 Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens. Überarbeitete Ausgabe, München 2013, S. 323. Ludwig Joseph „Lujo“ Brentano (1844–1931) war ein Neffe des Geschwisterpaares Clemens Brentano und Bettina von Arnim. 9 Sombart, Rumänische Reise, S. 147. 10 Ebd., S. 148.

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eher archetypische als historische Aristokratie, in der der ‚Geistesadel‘ den Fürsten ebenbürtig ist.“11 Damit sind die Werte angesprochen, die auch für Nicolaus Sombart zeitlebens verbindlich sein sollten. Es wundert folglich nicht, wenn er in seiner Abrechnung mit der Generation der „deutschen Männer“ seinen Vater ausdrücklich ausnimmt.

War Max Weber misogyn? Den Schlüssel zu einer Entheroisierung Max Webers fand Nicolaus Sombart in dem Buch Martin Greens über die Schwestern Frieda und Else von Richthofen.12 Die eine lebte mit dem Schriftsteller D. H. Lawrence zusammen, die andere war eine Schülerin Max Webers und wurde später dessen Geliebte. Zuvor verband sie eine erotische Beziehung mit Webers Bruder Alfred und dem Psychiater Otto Gross, einem Schüler Freuds. Verheiratet war sie mit dem Nationalökonomen Edgar Jaffé, dem späteren Finanzminister der Münchener Räteregierung. Der englische Literaturwissenschaftler Green stellt in seiner Studie das preußische, patriarchalisch geprägte Berlin der Schwabinger Boheme gegenüber, die von matriarchalischen Werten durchdrungen sei. Otto Gross predigte die sexuelle Befreiung und votierte als Anarchist für eine matriarchalische Revolution. Als sein Gegenspieler – gleichsam als Vorläufer Carl Schmitts – erscheint Max Weber, ein „Brutus des Patriarchats“13 , der – obwohl selbst autoritär-patriarchalisch geformt – die Frauenrechte verteidigte. Gross wandte sich „gegen die Unterdrückung in ihrer elementarsten Form – er kämpft gegen Vater und Patriarchat. Die Revolution der Zukunft ist eine Revolution für das Matriarchat.“14 In München-Schwabing sei der mächtigste und geistig produktivste Widerstand gegen das Deutschland Bismarcks entstanden. Obwohl Weber in Heidelberg lebte, ein Ort, der nach Green für politische und kulturelle Aufklärung stand, galt er ihm als ein typischer Repräsentant des Patriarchats, der freilich – das mildert sein Verdikt – reformerischen Widerstand gegen diese Daseinsform leistete. „Max Weber war sich der Gefahren der Macht voll bewußt – sein ganzes politisches Leben galt dem Widerstand gegen Bismarcks Einfluß – , doch verhinderte dieses Bewußtsein nicht, daß auch ihn die Macht faszinierte.“15 Green gesteht Weber zu, dass seine Persönlichkeit neben dem patriarchalischen Zug noch weitere Eigentümlichkeiten aufweise, ohne diese jedoch näher zu erläutern. 11 12 13 14 15

Ebd., S. 149. Martin Green, Else und Frieda, die Richthofen-Schwestern, München 1980. Ebd., S. 99. Ebd., S. 102. Ebd., S. 169,

War Max Weber misogyn?

Nicolaus Sombart schrieb eine enthusiastische Rezension des Buches, die im Oktober 1976 in der Zeitschrift „Merkur“ erschien.16 Für ihn handelt es sich bei Greens Gruppenbiographie um „Familiengeschichte“, da er einige der handelnden Personen persönlich kannte. So hatte er in den fünfziger Jahren in Heidelberg Umgang mit der hochbetagten Else Jaffé. Ihn fasziniert, dass die Richthofen-Schwestern wie auch die um sie kreisenden Personen – zu ihnen gehörte auch der Kreis der Lebensreformer in Ascona – ein Lebensmodell erprobten, dass seinen eigenen Vorstellungen von persönlicher und gesellschaftlicher Emanzipation entspricht. Er fühlt sich an die Schriften Charles Fouriers erinnert, der eine neue Liebesordnung propagierte. Typisch für die handelnden Akteure sei die Auseinandersetzung mit der Welt der Väter, d. h. dem Prinzip von Männlichkeit, das in ihrer Zeit vorherrschte. Sie folge dem Beziehungsmuster des ödipalen Konflikts. In Max Weber sieht Sombart den typischen Sohn einer von Bismarck gebrochenen Bourgeoisie, die sich um ihren Führungsanspruch betrogen glaubte. Weber ist für ihn ein klinischer Fall, an dem „die pathogene Kraft struktureller Gewalt demonstriert werden kann.“17 Diesem Nachweis gilt vor allem die Rezension des Buches über die RichthofenSchwestern. Sombart interessiert sich nicht für die wissenschaftliche Leistung Webers. Er geht darauf mit keinem Wort ein. Ihn interessiert die Person, die er als liebesund lebensunfähig bezeichnet. Das monumentale Werk Webers sei einer Haltung entsprungen, die der Autor selbst als innerweltliche Askese beschrieben habe. Es sei einer kontinuierlichen Triebunterdrückung abgerungen. Die Triebkontrolle wiederum führe zu einer Strenge und Disziplinierung des Charakters, der sich nahtlos in die politischen Herrschaftsstrukturen einfüge. Der patriarchalische Charakter Webers – dieses „Bismarck der Wissenschaft“18  – sei typisch für eine Generation von Wissenschaftlern, die zwar gelegentlich gegen die Verhältnisse im wilhelminischen Deutschland aufmuckten, aber zu keiner grundlegenden Umgestaltung fähig waren. Es sei ihnen nicht gelungen, den Panzer des Soldatisch-Preußischen in ihrer Persönlichkeit aufzusprengen. So wertet Sombart auch Webers politisches Bemühen als das eines Ohnmächtigen, dessen autoritäre Charakterprägung ihn daran hinderte, wie Otto Gross Fundamentalopposition zu betreiben. In dieser Interpretation des Charakters Webers wird nicht bedacht, dass das wilhelminische Kaiserreich - in der Begrifflichkeit Webers – eine Mischform von traditionaler und legaler Herrschaft darstellte. Auf der einen Seite existierte ein

16 Nicolaus Sombart, Gruppenbild mit zwei Damen. Zum Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Eros im wilhelminischen Zeitalter. In: Merkur, 30 (1976), H. 10, S. 972–990. Wieder abgedruckt unter dem Titel „Max Weber und Otto Gross: Zum Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Eros im Wilhelminischen Zeitalter“. In: Sombart, Nachdenken über Deutschland, S. 22–51. Zitiert wird aus dieser Quelle. 17 Sombart, Max Weber und Otto Gross, S. 27. 18 Ebd., S. 28.

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bürokratischer Beamtenapparat, auf der anderen ein patriarchalisches monarchisches System. Überwog hier zwar eindeutig das letztere Element, so kann mit Blick auf die Familienverhältnisse Webers von einer patriarchalischen Herrschaft des „Muttersohnes“ (Dirk Kaesler)19 Max Weber über seine Frau Marianne indes kaum die Rede sein. Wie schon in seiner Rezension der Wissenschaftslehre wird von Sombart verkannt, dass Weber ein Mann mit politischem Gestaltungswillen war und sich immer wieder in der Öffentlichkeit als leidenschaftlicher Kritiker des Regimes Wilhelms II. hervortat. Er resignierte nicht und suchte nicht sein Asyl in der Wissenschaft, wenngleich er sich in erster Linie als Gelehrter und nicht als Tagespolitiker verstand. Er sah sich zum „Deuter des Politischen berufen, nicht zum aktiven Politiker“20 . Im Unterschied zu Nicolaus Sombart, der Adligen per se ein höheres Menschentum zuzubilligen bereit war, galten für Max Weber andere Währungen der Wertschätzung. „Viel Geld – im besten Fall selbstverdientes – und umfassende klassische Bildung – die immer nur selbst erarbeitet werden kann – , waren die einzige Währung, in der das soziale Gegenüber für einen Weber-Fallenstein-Abkömmling gemessen wurde. Nicht Kaiser, Könige, Fürsten, Grafen, Freiherren – und schon gar nicht, was darunter an aristokratischem Getümmel war – verdienten sonderlichen Respekt eines satisfaktionsfähigen preußischen Bürgers aus Charlottenburg [Max Weber war Reserveoffizier, G. E.]: nicht einmal jener Fürst, der die deutschen Teilstaaten unter die Krone Preußens zusammengezwungen hatte. Diese zutiefst bürgerliche Haltung bewahrte Max Weber sich bis zum Ende seines Lebens.“21 Nicolaus Sombart bezeichnet Max Weber als einen Mann, dessen Verhalten gegenüber Frauen von Misogynie durchdrungen sei. Dabei übersieht er, dass Weber seiner Frau, die sich engagiert für die Rechte der Frauen einsetzte, in dieser Sache zur Seite stand und auch Else Jaffé in ihrer Arbeit als erste Fabrikinspektorin im deutschen Reich unterstützte. Ihm Liebesfähigkeit abzusprechen verkennt, dass in Webers Ehe mit Marianne Weber zwar beiden Partnern sexuelle Erfüllung verwehrt blieb und diese Bindung vor allem von Freundschaft und Kameradschaft geprägt war, dies seiner Liebesfähigkeit aber keinen Abbruch tat, wenn darunter nicht 19 Dirk Kaesler, Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn. Eine Biographie, München 2014. Kaesler bezeichnet Max Weber im Anschluss an Volker Elis Pilgrim als einen entschiedenen Muttersohn. „Helene Weber überfrachtete ihren Erstgeborenen mit Erwartungen, mit überreichlich ‚Soll‘ und ‚Muss‘, aber nicht mit sonderlich viel uneigennütziger Liebe. Der erwachsene Sohn wurde zum zweifachen Ersatz: Er sollte den verstorbenen Ehemann ersetzen, der ja nicht ganz ohne Zutun des Juniors gestorben war. Zum anderen sollte er jene Felder mit Erfolg besetzen, die der Mutter selbst verwehrt geblieben waren. Nicht nur die männerdominierte Gesellschaft zwang Max Weber ein streckenweise übertrieben ‚männliches‘ Verhalten auf, seine eigene Mutter ließ die ‚weiblichen‘ Seiten ihres Erstgeborenen nicht zur Entfaltung kommen.“ (Ebd., S. 690.) 20 Mommsen, Max Weber, S. 40. 21 Kaesler, Max Weber, S. 305.

War Max Weber misogyn?

allein der sexuelle Akt verstanden wird. Webers Verantwortungsgemeinschaft mit seiner Frau Marianne war frei von sexueller Leidenschaft. Sie stellte für beide einen „Wert“ gerade dadurch dar, dass sie dieser Leidenschaft ermangelte. Im Unterschied zu seiner Ehe mit Marianne Weber dominierte in seinen Verbindungen zu Mina Tobler und Else Jaffé dagegen eindeutig das erotisch-sexuelle Moment.22 Zweifellos war Weber kein Erotiker und Hedonist wie Otto Gross, aber im Unterschied zu diesem, der sich – von seiner Kokainsucht ruiniert – um die Kinder, die er mit seinen Geliebten zeugte, wenig kümmerte, war er ein Mann der Verantwortungsethik.23 In seinen späten Schriften hat Weber unter dem Eindruck des Liebeserlebnisses mit Else Jaffé der Sphäre des Erotischen breiten Raum in seinem Denken eingeräumt und ihr einen Wert sui generis zuerkannt. „Dieser Sinn und damit der Wertgehalt der Beziehung selbst aber liegt, von der Erotik aus gesehen, in der Möglichkeit einer Gemeinschaft, welche als volle Einswerdung, als ein Schwinden des ‚Du‘ gefühlt wird und so überwältigend ist, daß sie ‚symbolisch‘: - sakramental – gedeutet wird. Gerade darin … weiß sich der Liebende in den jedem rationalen Bemühen ewig unzugänglichen Kern des wahrhaft Lebendigen eingepflanzt, den kalten Skeletthänden rationaler Ordnungen ebenso völlig entronnen wie der Stumpfheit des Alltags.“24 Weber erkennt der Erotik nun auch einen Wert, nämlich den der Schönheit zu, was er gegenüber der Studentin Else Jaffé noch vehement bestritten hatte.25 Als ein dem sinnlichen Genuss entsagender asketischer Wissenschaftler, der diese Lebensführung zum Prinzip erhob, konnte der Weber der frühen Jahre der Erotik keinen Wert beimessen. Dazu bedurfte es einer tiefen seelischen Krise und eines langen Heilungsprozesses. Für diese Phase seines Lebens ist der von Sombart

22 Vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, Max Weber und die Frauen. In: Christian Geus/Jürgen Kocka, Max Weber. Ein Symposion, München 1988, S. 142–154. 23 Über Gross‘ Beziehung zu der Dichterin Regina Ullmann schreibt Green: „Als Regina Ullmann Otto Groß erzählte, daß sie schwanger von ihm sei, brach er offenbar jede Beziehung zu ihr ab. Er scheint es einfach hingenommen zu haben, daß sich sein Vater weigerte, ihr die finanzielle Unterstützung, die ihr zugestanden hätte, zuteil werden zu lassen (…) Sie ließ sogar durchblicken, daß er sie ermutigte, sich selbst zu töten, da er Gift in ihrer Reichweite zurückließ.“ (Green, Else und Frieda, S. 86.) Für Else Jaffés aus ihrer Liebesbeziehung zu Gross stammenden Sohn Peter übernahm Max Weber auf ihre Bitte hin die Patenschaft. Vgl. Eberhard Demm, Else Jaffé-von Richthofen. Erfülltes Leben zwischen Max und Alfred Weber, Düsseldorf 2014, S. 64. 24 Max Weber, Zwischenbetrachtung: Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung. In: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 8 1988, S. 560f. 25 Während eines Spaziergangs im Jahr 1908 hielt Max Weber seiner Studentin Else Jaffé vor: „‘Sie werden doch nicht behaupten, daß in der Erotik irgendein ‚Wert‘ verkörpert sei?‘ Worauf Else entgegnete: ‚Aber sicher!‘ ‚Welcher denn?‘ fragte Weber. ‚Schönheit!‘ war Elses Antwort.“ (Green, Else und Frieda, S. 234.)

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behauptete Zusammenhang von Autoritätsfixierung und Sexualverdrängung im zwischenmenschlichen Bereich zweifellos gegeben. Der späte Weber dagegen erkennt in der Erotik die Sphäre des wahrhaft Lebendigen. Sie ist im Außeralltäglichen angesiedelt und gehört zum persönlichsten Bereich menschlichen Lebens. Weber erlebt die Beziehung zu Else Jaffé als eine späte Befreiung vom leblosen Alltagsdasein, als das er das Leben des Wissenschaftlers erfuhr. Damit stellt sich ihm die Hingabe an die wissenschaftliche Arbeit – die Hingabe an die „Sache“, wie es im Vortrag „Wissenschaft als Beruf “ heißt – als etwas Lebensfeindliches dar, als habe seine Persönlichkeit – und Persönlichkeit zu besitzen heißt für ihn, sich einer Sache hinzugeben – nur skeletthaft existiert, bevor er die erotische Leidenschaft kennenlernte. Hier wird ein spätes Liebeserlebnis in Gegensatz gestellt zur hingebungsvollen, asketischen Arbeit des Wissenschaftlers, aber auch des Künstlers. Wie groß muss das Gefühl der Entsagung gewesen sein, um einen solchen Hymnus auf die Liebe zu schreiben? Gleichwohl wurde Weber gewiss nicht zum Erotiker. Er blieb zu sehr der intellektualistischen Sphäre und der rationalen Ordnung der Wissenschaft verpflichtet. Mit einem gewissen Recht kann man wie Nicolaus Sombart in Weber einen Repräsentanten des von Bismarck gebrochenen deutschen Bürgertums sehen, dem es nicht gelang, seine politische Selbständigkeit zu erringen. Webers ganzes Bemühen richtete sich freilich darauf, dem liberalen Bürgertum im Bündnis mit der Sozialdemokratie eine Machtposition im deutschen Reich zu verschaffen. Dass dies misslang, ist jedoch nicht Max Weber und seinem politischen Denken oder seiner autoritär-patriarchalischen Persönlichkeit anzulasten. Ein Typus wie der Anarchist Otto Gross oder die linken Revolutionäre von 1918 waren noch weniger als Weber in der Lage, ein realistisches, tragfähiges Konzept für eine demokratische deutsche Republik zu entwickeln. Sie votierten für die politische Revolution mit – je nach ideologischer Ausrichtung – kommunistisch-patriarchalischem oder anarchistischmatriarchalischem Einschlag, Versuche, die der Realität nicht standhielten.

Der Antipode Otto Gross Nicolaus Sombart hoffte, mit seiner Darstellung ein neues Kapitel der WeberRezeption aufschlagen zu können, indem er den großen Gelehrten einer psychoanalytischen Betrachtung unterzog. Der Nestor der Weberforschung, Eduard Baumgarten (1898–1982), ließ diesen Versuch nicht unbeantwortet. In einem Brief in der Zeitschrift „Merkur“ weist er Sombart auf zentrale Punkte hin, die eine Verzeichnung des Bildes von Weber darstellen. So habe sich dieser intensiv mit den Schriften Freuds und auch mit den Publikationen von Otto Gross befasst und dabei „besonders ein Moment, das im Umkreis der Psychoanalyse sich oft genug in den Vordergrund drängt, scharf attackiert: den Aberglauben des Arztes, alle Kultur- und

Der Antipode Otto Gross

Sozialprobleme und -wirrnisse aus einem Punkt bis auf den Grund kurieren zu können – durch Aufhebung der sexual-asketischen Verdrängungen und nachfolgenden Verhaltensverkrampfungen von Menschen in ihren Gruppen.“26 Baumgarten spielt mit diesem Hinweis auf einen Brief Max Webers an Else Jaffé, der Frau des Mitherausgebers des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Edgar Jaffé, an, in dem er zu einem Aufsatz von Otto Gross Stellung nimmt, den dieser 1907 der Zeitschrift zur Veröffentlichung angeboten hatte. Weber hebt in seiner Kritik des Aufsatzes hervor, dass er Gross als Mensch zwar sehr hoch schätze, dem Denker aber die Qualität eines Wissenschaftlers absprechen müsse. Vielmehr predige er eine Weltanschauung. „‚Der ganze Aufsatz platzt förmlich von lauter Werturteilen, und ich habe nun einmal keinerlei Respekt vor angeblich naturwissenschaftlichen Leistungen, welche der Anforderung der Nüchternheit und Sachlichkeit nicht genügen, nicht ‚wertfrei‘ sind ...‘.“27 Weber, der die Schriften Freuds studiert hatte, hält dessen Theorien für eine Interpretationsquelle von großer Bedeutung, speziell für das Gebiet der Kultur- und Religionsgeschichte. Allerdings fehle es seinen Gedankenreihen noch an einer exakten Kasuistik. Bei einem Schüler Freuds wie Otto Gross sei darüber hinaus ein Hang zu metaphysischen Spekulationen und prophetenhafter Gebärde unübersehbar. Das Ideal seiner ethischen Postulate sei „der ganz banale gesunde Nervenprotz“ und „ärztlich kontrollierte Philister der Makrobiotik.“28 Weber hält Gross für einen „Nachtreter“ Nietzsches, der nicht das Dauernde in Nietzsche in sich aufnehme, die „Moral der Vornehmheit“, sondern die schwächsten Partien im Werk des Philosophen, die „biologischen Verbrämungen, die er um den Kern seiner durch und durch moralistischen Lehre häuft.“29 Der Text, auf den sich Webers Kritik bezieht, ist nicht mehr erhalten. Er trägt den Titel „Über psychologistische Herrschaftsordnung. I. Der Psychologismus seit Nietzsche und Freud“. Aus den Schriften von Otto Gross, die nur wenige Jahre später entstanden und in den Zeitschriften „Die Aktion“ und „Sowjet“ erschienen, lassen sich jedoch grundlegende Gedankengänge des Autors, auf die sich die Kritik Webers vermutlich beziehen, rekonstruieren. In einem „Die Einwirkung der

26 Eduard Baumgarten, Über Max Weber. Brief an Nicolaus Sombart. In: Merkur, 31 (1977), H. 3, S. 296–300, hier S. 296. 27 Brief Max Webers an Else Jaffé vom 13. September 1907. Teilweise abgedruckt in: Max Weber. Werk und Person. Dokumente ausgewählt und kommentiert von Eduard Baumgarten, Tübingen 1964, S. 644–648, hier S. 647. 28 Ebd., S. 645, 647. Zur Auseinandersetzung Webers mit Gross und seiner Beurteilung der Werke Freuds vgl. Wolfgang Schwentker, Leidenschaft als Lebensform. Erotik und Moral bei Max Weber und im Kreis um Otto Gross. In: Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schwentker, Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen/Zürich 1988, S. 661–681. 29 Max Weber, Werk und Person, S. 648.

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Allgemeinheit auf das Individuum“ (1913) betitelten Aufsatz beruft sich Gross ausdrücklich auf Nietzsche als den Begründer der biologischen Soziologie. Er habe die krankmachende Einwirkung der Gesellschaft auf das Individuum erkannt, wobei die mit den größten Expansionstendenzen begabten genialen Individuen unter den Repressalien von Seiten der Allgemeinheit am meisten zu leiden hätten. Freud sei darüber hinaus die Entdeckung pathogener Wirkungen zurückgedrängter Affekte zu verdanken. Er stehe damit in der direkten Nachfolge Nietzsches. Im selben Jahr veröffentlichte Gross in der Zeitschrift „Die Aktion“ den Artikel „Zur Überwindung der kulturellen Krise“. Darin wird programmatisch verfügt: „Die Psychologie des Unbewußten ist die Philosophie der Revolution, d. h. sie ist berufen, das zu werden als das Ferment der Revoltierung innerhalb der Psyche, als die Befreiung der vom eigenen Unbewußten gebundenen Individualität.“30 Durch die Psychoanalyse sei eine neue Ethik ins Leben getreten, die auf dem sittlichen Imperativ zum wirklichen Wissen um sich und den Nächsten beruhe. Der Konflikt im Inneren des Menschen sei auf den Konflikt „des Eigenen und Fremden“ zurückzuführen, „des angeborenen Individuellen und des Suggerierten, das ist des Anerzogenen und Aufgezwungenen.“31 Alle bisherigen Revolutionen seien in ihrem Ziel, die Freiheit der Individualität aufzurichten, gescheitert, da die Revolutionäre von gestern die Autorität in sich selbst trugen. „Der Revolutionär von heute, der mit Hilfe der Psychologie des Unbewußten die Beziehungen der Geschlechter in einer freien und glückverheißenden Zukunft sieht, kämpft gegen die Vergewaltigung in ursprünglichster Form, gegen den Vater und gegen das Vaterrecht. Die kommende Revolution ist die Revolution fürs Mutterrecht.“32 Für Gross duldet es keinen Zweifel, dass in der Geschichte des Menschengeschlechts den patriarchalisch verfassten Gesellschaften ursprünglich solche mit einer matriarchalischen Verfassung vorausgingen. Er stützt sich mit dieser Behauptung auf angeblich unstrittige Erkenntnisse der modernen Anthropologie. Da diese und andere Thesen einer wissenschaftlichen Fundierung entbehren, hatte Weber leichtes Spiel, Gross aus der Sphäre der empirischen Wissenschaften zu verbannen. Von größerem Gewicht sind freilich – von Weber nicht thematisiert – seine Arbeiten zur Bedeutung der frühkindlichen Sexualität, insbesondere zur Bi- und Homosexualität, auf die sich Nicolaus Sombart in seinen folgenden Untersuchungen zur Herrschaft der „deutschen Männer“ immer wieder stützen sollte.

30 Otto Gross, Zur Überwindung der kulturellen Krise. In: ders., Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe. Mit einem Textanhang von Franz Jung. Hg. und kommentiert von Kurt Kreiler, Frankfurt am Main 1980, S. 13. (Ursprünglich erschienen in: Die Aktion, hg. von Franz Pfemfert, April 1913.) 31 Ebd., S. 14. 32 Ebd., S. 16.

Der Antipode Otto Gross

In Otto Gross nur einen Gegenspieler zu Max Weber zu sehen, greift allerdings zu kurz, denn in ihrer Diagnose der Zeit finden sich überraschende Parallelen. Hier mag nicht zuletzt der Einfluss Nietzsches, der auch für das Menschenbild Webers prägend sein sollte, und seine Perhorreszierung des „letzten Menschen“ eine Rolle spielen. Auch Gross beklagt die Bürokratisierung und die Herausbildung eines stählernen Gehäuses der Hörigkeit. In dem Aufsatz „Orientierung der Geistigen“ (1919) heißt es: „Das höchste Menschliche ist die Bewahrung dieser liebenden und revolutionären Urkraft im unerhörten Kampf mit dem Milieu, der in der kalten Einsamkeit des Kindes innerhalb der Autoritätsfamilie begonnen, zum Kampf des Seienden und Lebenden mit der entsetzlichen Gewalt des Maschinellen ringsum emporwächst – des Maschinellen als Grundprinzip in aller Ordnung, wie sie jetzt besteht, als Staat, Gesetz und Autorität, als Strafrecht wie als bürgerliches Recht, als Ehe und Prostitution, als Kapital (…).“33 Wie Weber diagnostiziert Gross die Heraufkunft des „letzten Menschen“, eine Entwicklung, vor der allein – aus der Perspektive von Gross – eine „Diktatur des Proletariats“ retten könne. Mit Weber teilt er auch die Vorstellung von der Bedeutung des charismatischen Führers. Für Gross ist die soziale, matriarchalische Revolution zunächst die Sache einer kleinen Elite. Auf parlamentarische Mehrheiten zu hoffen, sei unnütz. Die Revolution bedürfe der Entschlossenheit starker Individuen. „Ideen, für welche man Revolutionen führt, sind an sich selbst stets nur von einzelnen allein aus eigener Initiative und schöpferisch zu erschauen, von einer an Zahl begrenzten Elite durch eigenes Denken lebendig aufzunehmen, den großen entrechteten Massen durch geistige Überwältigung und aus der Kraft des Willens zur Gemeinsamkeit suggestiv übertragbar (…).“34 Was Weber allerdings keineswegs billigen konnte, sind Gross‘ Vorstellungen von einem durch die Psychoanalyse wiedereroberten „reinen Menschentum(s) durch die Befreiung vom verändernden, verbildenden und beschränkenden Einfluß von Suggestion, Verführung und Zwang“.35 Hier gehen die Vorstellungen des Theoretikers der Macht und des Kämpfers gegen jedwede Macht weit auseinander. Für Sombart bieten sich die elitären Aspekte im Denken von Otto Gross als Anknüpfungspunkte für seine eigenen utopischen Entwürfe, ist für ihn die sexuelle Revolution doch vor allem ein Projekt der gehobenen bürgerlichen Schichten, die durch Bildung und sozialen Status in der Lage sind, sich von den Zwängen der herrschenden Sexualnormen zu emanzipieren. Besteht für Max Weber eine deutliche Trennlinie zu Gross, wo dieser an die Stelle exakter wissenschaftlicher Analyse

33 Gross, Orientierung der Geistigen, ebd., S. 32f. 34 Gross, Zum Problem Parlamentarismus, ebd., S. 63. 35 Gross, Zur neuerlichen Vorarbeit: vom Unterricht, ebd., S. 37.

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Spekulationen und utopische Projekte setzt, ist Sombart, dem die Wissenschaftlichkeit Webers durch sein Festhalten am „Gewaltpragma“ suspekt erscheint, bereit, den radikalen Parolen des Propheten der erotischen Bewegung lebenspraktische Anregungen abzugewinnen.

Max Weber – psychoanalytisch betrachtet Als Motiv für Sombarts Versuch einer Entheroisierung Max Webers nennt Eduard Baumgarten das Schockerlebnis, das die Enthüllungen des Buches von Green offenbar bei ihm ausgelöst habe, ein Schock, den schon der alte Karl Jaspers erlitt, als er von den Seitensprüngen Webers erfuhr und sich daraufhin – moralisch indigniert – von dessen Werk und Person abwandte. Hier ist jedoch auf eine Differenz zwischen Jaspers und Sombart im Umgang mit Weber hinzuweisen. Für Jaspers war Max Weber stets ein Heros der Wissenschaft gewesen, für Nicolaus Sombart war dies niemals der Fall. Er sah in Weber vielmehr den Rivalen seines Vaters, der dessen Ruhm verdunkelte. Die Abrechnung mit Weber bedeutete folglich nicht nur eine Abwertung des Gegenspielers von Otto Gross, sie implizierte zugleich eine Rangerhöhung Werner Sombarts, den der Sohn ausdrücklich von seinem Verdikt ausnahm. In seiner Antwort auf den Brief Baumgartens nennt Nicolaus Sombart die Gründe, die ihn dazu motiviert hatten, im Anschluss an Green ein neues Bild von Max Weber zu skizzieren. Die Frage laute: „Inwieweit ist es zulässig, und heuristisch ergiebig, von der Privatsphäre eines Autors her sein Werk zu beurteilen?“36 Man akzeptiere schließlich auch, dass die sexuelle Perversität Marcel Prousts für sein Romanwerk von Bedeutung sei. Hingegen gelte es als extravagant, das Privatleben deutscher Universitätsprofessoren mit ihren Theorien in Verbindung zu bringen. „Vielleicht können wir dazu beitragen, diese methodologische Rückständigkeit etwas aufzuholen. Mir will scheinen, daß die Psychoanalyse sich als Instrument dieser Art von Exegese anbietet und auch schon bewährt hat.“37 Sombart fasst seine Absicht in der Frage zusammen: „Was hat uns Leben und Werk eines Max Weber (z. B.) - nachdem wir auch das darüber erfahren haben, was bisher (aus verständlichen Gründen) verschwiegen wurde, über den Gang der deutschen Geschichte, über die Lebensbedingungen der bürgerlichen Klasse, über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik, von öffentlicher und privater Sphäre,

36 Nicolaus Sombart, Um einen post-freudianischen Max Weber bittend. In: Merkur, 31 (1977), H. 4, S. 405–406, hier S. 405. 37 Ebd.

Max Weber – psychoanalytisch betrachtet

von offiziellem Sittenkodex und bourgeoiser Doppelmoral, von Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit – zu lehren?“38 Einen methodischen Neuansatz, um diese Fragen zu klären, liefere eine zur Soziopsychoanalyse erweiterte Psychoanalyse. Es sei bedauerlich, dass gewisse Kreise des wissenschaftlichen Establishments sich den Luxus leisteten, weiter präfreudianisch zu denken. Sombart betont in seiner Antwort auf Baumgarten, es sei ihm nicht um eine bösartige Demontage Max Webers gegangen. Er wolle dessen Leistung nicht schmälern. Dabei war es doch seine unverkennbare Absicht, die „Wissenschaft“ Webers – das Wort wird in Verbindung mit Weber stets in Anführungsstriche gesetzt – zu diskreditieren, indem er sie als den Kompensationsversuch eines Neurotikers darstellt.39 Ihm sei lediglich an einer Überprüfung des Weber-Mythos gelegen. Eine solche Überprüfung ermögliche es, „Aufschlüsse für nationale Schicksalsfragen zu finden, an denen wir bisher vergeblich herumlaborieren – und zu deren Beantwortung uns das wissenschaftliche Œuvre Webers (und seine Wissenschaftstheorie) vielleicht weniger hilft als eine genaue Kenntnis seiner Lebens-, und wie Sie besser als irgendein anderer wissen, Leidensgeschichte.“40 Damit ist das wissenschaftliche Forschungsinteresse Nicolaus Sombarts präzise umrissen. Er versteht Max Weber als einen Fall, an dem exemplarisch aufgewiesen werden kann, warum sich die deutsche Geschichte in eine Richtung entwickelte, die ihr nicht zum Guten ausschlug. Die Gründe liegen in der Persönlichkeitsstruktur der „deutschen Männer“, die die Geschicke des Landes maßgeblich beeinflussten, auch wenn sie, wie Max Weber, sich zur Ohnmacht verurteilt sahen. Wenn erst einmal erkannt werde, dass es die Triebunterdrückung war, die das Patriarchat hervorbrachte und den soldatisch-preußischen Charakter formte, der in Bismarck

38 Ebd., S.405f. 39 Das geschieht ein Jahr später ausführlich in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.8.1977, in dem Sombart Alfred Webers Buch „Der dritte oder der vierte Mensch“ bespricht. Sombart rechnet die Ignoranz gegenüber dem Werk Alfred Webers einer skeptischen Generation zu, die es gelernt habe, großen Konzeptionen zu misstrauen. „Die Wiederentdeckung Max Webers und das Luxurieren der Frankfurter Schule sind dementsprechend charakteristisch für eine dogmatische Wissenschaftsfrömmigkeit, in der rabulistisch-talmudistische Textinterpretationen das Gefühl vermitteln, im Besitze der Wahrheit zu sein, weil sie von den Risiken des offenen Denkens dispensieren.“ (Nicolaus Sombart, Alfred Weber: Der dritte oder der vierte Mensch. In: ders., Nachdenken über Deutschland, S. 186–195, hier S. 186f.) Der Umwertungsversuch Sombarts mündet in der Feststellung: „Ich könnte mir durchaus vorstellen, daß, sagen wir einmal in 20 Jahren, wenn kaum noch ein Mensch weiß, wer Adorno war, die Stunde gekommen sein wird, in der Alfred Weber in seinen wahren Dimensionen, als weiser Seher, gewürdigt werden wird, der an der Schwelle des neuen Äons als erster das tellurische Kraftfeld der Transformation des Menschen für die Zukunft vermessen hat. Max Weber, wird man fragen, wer war das? Ach ja, der ältere Bruder von Alfred.“ (Ebd., S. 194f.) 40 Sombart, Um einen post-freudianischen Max Weber bittend, S. 406.

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seinen typischen Repräsentanten fand, so lerne man verstehen, warum Deutschland einen Sonderweg einschlug, der es von den westlichen Demokratien unterschied. Als Nicolaus Sombarts Abrechnung mit Max Weber 1976 erschien, war dessen Rang in den historischen Sozial- und Kulturwissenschaften unumstritten. Von einer Heroisierung des Soziologen konnte indes keine Rede sein. Die Weber-Rezeption verlief vielmehr kontrovers und äußerst kritisch. Seit den fünfziger Jahren hat in der Bundesrepublik Deutschland eine breite Auseinandersetzung mit dem Werk Max Webers eingesetzt, die ihren ersten Höhepunkt in der Veröffentlichung des Buches von Wolfgang J. Mommsen „Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920“ fand. Der im Jubiläumsjahr 1964 in Heidelberg stattfindende 15. Deutsche Soziologentag, der Weber-Experten aus aller Welt versammelte, stellt eine weitere wichtige Etappe in der Weber-Rezeption dar. So war das Bild des Soziologen bereits sehr differenziert, als Sombart seine Philippika gegen ihn startete, wenngleich über die intimen Seiten des Lebens Max Webers nicht viel mehr bekannt war als das, was Marianne Weber in ihrem „Lebensbild“ mitgeteilt hatte. Erst Webers Briefe an Else Jaffé, die Martin Green auswertete, haben dazu beigetragen, dieses Bild um wesentliche Facetten zu ergänzen. Sind diese Mitteilungen aber geeignet, Werk und Person in einem völlig neuen Licht erscheinen zu lassen? In der Tat ist seitdem die Weber-Biographik weiter fortgeschritten und hat den seelischen Konflikten Webers, insbesondere der sexuellen Problematik, breiten Raum gewidmet. Und in der Tat trägt die psychoanalytische Herangehensweise zu einem besseren Verständnis Webers bei. Sombart geht es aber um mehr. Er will einen Paradigmenwechsel in den Kulturwissenschaften herbeiführen. Er will Sozial- und Kulturgeschichte in eine Psychohistorie transformieren.41 Ein Beispiel für psychoanalytische Geschichtsbetrachtung bietet das Hitler-Bild, das Sombart aus der Studie Greens ableiten zu können glaubt. Hitler sei der legitime Erbe der erotisch-anarchistischen Bewegung, die Machtergreifung ein Sieg des Matriarchats über Preußen. Hitler sei nicht wie Weber der Nachfolger Bismarcks, sondern wie Wilhelm II. sein absoluter Gegenspieler. Er habe seine historische Mission verraten, als er den sozialrevolutionären Flügel der NSDAP liquidieren ließ und damit in die Zwänge der Vatergesellschaft eintrat. Der anarchistische Grundzug des Regimes und Hitlers selbst sei gleichwohl immer erhalten geblieben. Schließlich sei Deutschland wie Lulu von Jack the Ripper von dem Anarchisten Hitler hingemordet worden. Der Sieg der patriarchalischen Ordnung sei dem Judentum zuzuschreiben, Vaterhass in Judenhass umfunktioniert worden. Die

41 Zur psychoanalytischen Deutung wissenschaftlicher Leistung schreibt der Gross-Biograph Hurwitz: „Von Freud wurde behauptet, er sei ein schwerkranker Mann gewesen und die Psychoanalyse nichts als der Ausdruck oder die krankhafte Ausgeburt seiner eigenen Neurose.“ (Emanuel Hurwitz; Otto Gross. Paradies-Sucher zwischen Freud und Jung, Zürich 1979, S. 298.)

Reinhart Koselleck über Psychohistorie

jüdische Antisemitismusforschung habe längst den ödipalen Charakter in Hitlers Antisemitismus aufgedeckt.42

Reinhart Koselleck über Psychohistorie Was von dieser Art Psychohistorie zu halten ist, hat Sombarts früherer Studienfreund, der Historiker Reinhart Koselleck, in aller Deutlichkeit brieflich zu Protokoll gegeben. Am 3.1.1977 schreibt er an Nicolaus Sombart: „Im ganzen bin ich skeptisch gegenüber allzu kühnen Übertragungen psychologischer Kategorien auf die Geschichte. So lässt sich ex post alles begründen. Nachdem der junge Fritz in Schlesien eingefallen war, fällt es einem Analyten leicht zu beweisen, dass er das tun musste: endlich konnte er sich vor seinem verstorbenen Vater rechtfertigen: wieder einmal ein Beweis mehr für die verinnerlichte Vater-Autorität. Mir scheint das Netz zu grobmaschig, um Hitler aus dem Spannungsfeld Berlin–München abzuleiten. Wo bleibt da der alte Franz-Joseph und Wien? Und wie soll Anarchie mit Matriarchat zusammenhängen? Das eine schließt das andere aus. Und wenn individualpsychologische Kategorien auf gesellschaftliche Größen ausgeweitet werden, so gerinnen diese zu romantischen Organismen und der Diagnostiker rutscht unversehens in die Position des Therapeuten. Bisher hat mich noch keine Theorie überzeugt, die die Psychoanalyse auf die Geschichte überträgt. Allerdings kenne ich nicht Gross.“43 Ausführlicher noch äußert sich Koselleck in einem Brief an Carl Schmitt zu Sombarts psychologischen Erklärungsversuchen historischer Phänomene. „Gewiss ist die Psychologie ein hilfreiches Instrument geschichtlicher Erkenntnis … Nur 42 Sombart, Max Weber und Otto Gross, S. 43–47. In seiner Besprechung des Merkur-Aufsatzes schreibt Armin Mohler (unter dem Pseudonym Anton Madler) in der Zeitung „Die Welt“: „Es stört den Mini-Marcuse Nico Sombart offensichtlich nicht, daß der sozialrevolutionäre Flügel der NSDAP gerade unter eindringlicher Berufung auf Preußen und zusammen mit der Reichswehr den Augiasstall München ausmisten wollte. Werner Sombart, der Vater, stellte auch zuweilen kühne Thesen auf. Aber die waren doch historisch besser abgesichert.“ (Anton Madler, Zeitschriftenkritik: Merkur: „Münchens Mütter wider Preußens Väter“. In: Die Welt, 18.11.1976. Abgedruckt in: Carl Schmitt – Briefwechsel mit einem Schüler. Hg. von Armin Mohler in Zusammenarbeit mit Irmgard Huhn und Piet Tommissen, Berlin 1995, S. 411–413, hier S. 413.) In einem Brief Mohlers an Sombart ist zu lesen: „Aber ich kann mich nicht mit Ihrer Einordnung des NS unters Matriarchat befreunden, da dieser schließlich eine ausgesprochene Macho-Bewegung war, in der die Frauen, auch die Mütter, wirklich nichts zu sagen hatten.“ (Armin Mohler an Nicolaus Sombart. Brief vom 13.2.1987. NL N. Sombart 405, 983.) Vgl. auch Oswalt von Nostitz in: Criticón. Konservative Zeitschrift 38 (Nov./Dez. 1976), S. 274 („Die These, Hitlers Machtergreifung sei ein Triumph des Münchener Matriarchats über Preußen, findet sich bei ihm [Green] nicht einmal andeutungsweise. Sie ist daher allein von Nicolaus Sombart zu verantworten und dessen Argumente halten nicht stand.“). 43 Reinhart Koselleck an Nicolaus Sombart. Brief vom 3.1.1977. NL N. Sombart 405, 889.

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kenne ich keine Theorie, die es bisher geleistet hätte, Geschichte psychologisch lesbar zu machen. Die Übertragung der Freudschen Kategorien auf die Gesellschaft hat bisher nichts anderes erbracht als dass der Deuter sich zum Therapeuten seiner Mitmenschen aufschwingt … Aber die Ausweitung der Privatpsyche auf ein kollektives Subjekt hantiert mit Grössen, die kaum aufweisbar sind. Oder es bedarf der Symbolisierungen wie Sombart sie vollzieht mit ‚Berlin‘, ‚Heidelberg‘ oder ‚München‘. Wo bleibt da ‚Wien‘? Mit derartigen Konstruktionen kann man auch den Nationalsozialismus aus dem Gegensatz der Protestanten und Katholiken ableiten. Schließlich ist mir im speziellen Fall unklar, wieso das Matriarchat Herrschaftslosigkeit signalisieren soll. Was zählen solche intellektuellen Kombinationsspiele, um Hitler daraus ‚abzuleiten‘? Und was hilft die ganze matriarchalische Konstruktion, wenn das Ergebnis ein neuer Supervater war, um in der Terminologie zu bleiben? Es ist eben die utopische Grundstruktur aller geschichtlichen Emanzipationsfiguren und -modelle, dass die Autorität, die zur Vordertür herausgeworfen wird, zur Hintertür sich wieder einschleicht. Wer heute ‚strukturelle Gewalt‘ aufspürt, versteckt seine Ansprüche hinter ‚struktureller Herrschaft‘, indem er sie für überflüssig erklärt.“44 In einem Brief Carl Schmitts an Nicolaus Sombart vom 10. Dezember 1976 spricht jener ausdrücklich von Vatermord. Der Initiierte töte den Initiator. „MaxWeber ist für mich ein politisches Thema: erstens als Politischer Theologe (…) und zweitens als der rabiateste deutsche Revanchist für Versailles 1918 ...“.45 Sombarts Aufsatz über die Richthofen-Schwestern bewirkte nicht nur die Zerrüttung seines Verhältnisses zu Carl Schmitt. Auch der Schmitt-Freundeskreis

44 Reinhart Koselleck an Carl Schmitt. Brief vom 3.1.1977. In: Koselleck/Schmitt. Der Briefwechsel, S. 308f. 45 Carl Schmitt an Nicolaus Sombart. Brief vom 10.12.1976. In: Tielke, Schmitt und Sombart, S. 128. Seinem Briefpartner Hans-Dietrich Sander teilt Schmitt mit: „Der dreifache, von Nicolaus Sombart rite vollzogene Vatermord … gehört zu den schon seit langem nicht mehr schönen Künsten, ignoriert die Kern-Frage (nämlich Politische Theologie und Versailles) und hat den Vorteil, dass drei auf einen Schlag guillotiniert werden: Max Weber, Werner Sombart und – tiefgebeugt und gottergeben – Ihr alter Carl Schmitt.“ (Carl Schmitt an Hans-Dietrich Sander. Brief vom 21.11.1976, in: Schmitt/Sander, Werkstatt-Discorsi. Briefwechsel 1967–1981, S. 401.) In einem Brief Schmitts an Koselleck heißt es: „… ich stöhne unter den Folgewirkungen des Aufsatzes von Nicolaus Sombart, (im Oktober-Heft des ‚Merkur‘) ... Dass und wie er von mir spricht (auch noch als Knall-Bonbon zum Schluss-Effekt) beleidigt mich, weil er verschweigt, dass Max Weber für mich der Inaugurator der Politischen Theologie bleibt.“ (Schmitt an Koselleck, Anfang Dezember 1976. In: Koselleck/ Schmitt, Der Briefwechsel, S. 303.) Von Vatermord Nicolaus Sombarts an Carl Schmitt spricht auch Armin Mohler, nimmt aber den leiblichen Vater davon aus. „Ihrem C.S. [Carl Schmitt, G.E.]-Kapitel in Ihrem Grunewald-Buch muss ich insofern zustimmen, als es wörtlich genau wiedergibt, was C. S. auch mir sagte. Andererseits ist es natürlich ein Vatermord (den Sie am eigenen Vater nicht begangen haben, da der ja schon in Grossvaterdistanz zu Ihnen war.)“ (Armin Mohler an Nicolaus Sombart. Brief vom 13.2.1987. NL N. Sombart 405, 983.)

Grenzen der Patriarchatskritik

rückte von dem durch seine geistigen Extravaganzen bekannten Autor ab. Sombart verlor damit in Wissenschaftskreisen an Reputation. Der langjährige Sekretär Ernst Jüngers und Autor der „Konservativen Revolution“, Armin Mohler, der mit Schmitt eng befreundet war, kommentiert: „Die Exzentrik von ‚Nico‘ war bekannt. Aber die Art, wie er mit einer Vulgär-Psychoanalyse die deutsche und die Weltgeschichte umzuspaten versuchte, ging doch den meisten zu weit und galt als unseriös.“46

Grenzen der Patriarchatskritik Mitte der siebziger Jahre, als Nicolaus Sombart seine Notizen zu Max Weber und Otto Gross zu Papier brachte, war er offensichtlich von esoterischen und elitären Matriarchatsvorstellungen ebenso fasziniert wie von anarchistisch-frühsozialistischen Sozialutopien. Beide Ansätze verbindet er mit einer Elitetheorie, die Vilfredo Pareto nahesteht. Wendet man Sombarts Kritik des Patriarchats auf ihn selbst an, so wird man feststellen, dass er im Unterschied zum herrisch auftretenden Max Weber, der reformerischen Widerstand gegen das Patriarchat leistete, ein Herr ohne patriarchalische Gesinnung sein wollte. Als Sohn aus gutem Hause mit aristokratischen Allüren war er von Anwandlungen herrischen Verhaltens nicht frei. Diese Neigung war eingebettet in die utopische Vision einer zukünftigen Befreiung der Frau, für die er gleichsam als Einzelperson mit seiner Biographie den Beweis antreten wollte, wie eine solche Vision in der Praxis Gestalt annehmen könne. Sombart wird in seinen autobiographischen Aufzeichnungen nicht müde zu betonen, dass die Frauen, mit denen er intimen Umgang pflegte, ihn als Partner wählten und nicht von ihm erobert werden mussten. Daraus folgt allerdings nicht, dass der Frauenliebhaber, dem die Frauen ihre Gunst schenken, sich ihnen hingibt, sondern lediglich, dass er sein Bestes tut, sich für weitere erotische Begegnungen zu empfehlen. In einer solchen Konstellation kann die Gesellschaft, deren radikalen Umbau der sexuelle Revolutionär anstrebt, erst einmal weiterhin patriarchalisch funktionieren, wie am Verhalten Otto Gross‘ seinen Geliebten gegenüber ablesbar ist. Gross übernahm, wie schon erwähnt, keinerlei persönliche Verantwortung für die Folgen der von ihm propagierten Promiskuität, sondern entzog sich, wenn ihm die Last zu groß wurde. Nach Sombarts Lesart waren die Frauen, mit denen Gross sexuell verkehrte, gleichwohl miteinander „herzlich befreundet“.47 Ein Magier und eine Vielzahl verhexter Frauen – so stellt sich der Sozialutopist die neue freie Liebesordnung vor. Der Befreiungsschlag der von Otto Gross maßgeblich geprägten erotischen Bewegung erweist sich bei näherer Betrachtung als Projekt einer jeglicher materiellen

46 Carl Schmitt – Briefwechsel mit einem Schüler, S. 413. Anm. 503. 47 Sombart, Max Weber und Otto Gross, S. 40.

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Sorgen ledigen Schicht des gehobenen Bürgertums und der mit ihr kommunizierenden Boheme. „‚Groß‘ matriarchalische Revolution hätte zu überhaupt keinem Staat geführt, sondern eher dazu, daß jeglicher Zwang, zu arbeiten und die eigenen Energien zu sublimieren, entfallen wäre“48 , heißt es bei Green. Doch die anarchistische Zertrümmerung der herkömmlichen Familienstrukturen führte selbst als Versuchsprojekt zu neuen Abhängigkeiten und Strukturen der Herrschaft. Nach mehr als hundert Jahren sexuelle Revolution lässt sich resümieren, dass durch die Emanzipation der Frauen in der Sphäre des Erotischen die Autoritätsstrukturen zwar gemildert, aber keineswegs beseitigt wurden. Der Abbau patriarchalischer Verhältnisse hat zwar eine Demokratisierung und Vielgestaltigkeit der Geschlechterbeziehungen bewirkt, von einer Befreiung der Sexualität und einer Überwindung der Kleinfamilie als Hort autoritärer Hörigkeit kann jedoch nur in Ansätzen die Rede sein. Sexuelle Libertinage und Experimentierlust gewinnen Warencharakter und gehören längst zu den Rezepturen der Massenkultur selbst in Krisenzeiten. In einer seiner späten Veröffentlichungen – dem „Journal intime“ – kommt Nicolaus Sombart denn auch zu einem melancholisch gestimmten, nüchtern und illusionslos vorgetragenen Resümee: der Omnipotenz der käuflichen Liebe. Es ist das Resümee eines alternden Mannes, der es gewohnt war, wie Casanova in jungen Jahren seine körperliche Erscheinung wirken zu lassen, dann als reifer Mann den Geist zu Hilfe zu nehmen und am Ende – Casanova hatte nicht einmal die vierzig erreicht – , nachdem die alten Währungen nicht mehr wirkten, zum Mittel des Geldes greifen zu müssen.

Max Webers Ideal von Männlichkeit Ein weiterer Aspekt in der Persönlichkeit Max Webers und seinen Vorstellungen von Männlichkeit wird von Nicolaus Sombart merkwürdigerweise gar nicht berührt, obwohl er sich für eine Kritik dieses Repräsentanten deutscher Wissenschaft angeboten hätte: Webers Bild von Adligkeit. Weber sah das deutsche Bürgertum in der Gefahr, die eigenen Ideale zu verleugnen und sich Wertvorstellungen pseudoaristokratischen Charakters anzunähern. Dies betraf zum Beispiel Formen der Geselligkeit wie die Kultur des Salons, wobei der von adligen Damen geführte mondäne Konversationssalon freilich nicht als Vorbild diente. Seit 1908 versammelte sich in der von den Webers bewohnten Fallenstein-Villa in Heidelberg ein sonntäglicher Kreis. Dieser „jour fixe“ wurde bald zu einer festen Einrichtung, einem informellen Typus von Geselligkeit, bei der Max Weber selbst im Mittelpunkt stand, „nach Belieben monologisiert, die für ihn interessanten

48 Green, Else und Frieda, S. 94.

Max Webers Ideal von Männlichkeit

Gesprächsthemen aufgreift und sich, wenn er müde ist, zurückzieht.“49 Marianne Weber bekannte, dass sie und ihr Mann die Kunst der geselligen Unterhaltung nicht beherrschten. Es ging ihnen nicht um zwanglose gesellige Kommunikation, sondern um bedeutsamen geistigen Austausch. Dies wird von Teilnehmern bestätigt, die weltläufige, aristokratische Formen von Geselligkeit schätzten. So berichtet der Kulturhistoriker und Nationalökonom Eberhard Gothein am 16. Januar 1918 seiner Frau Marie Luise Gothein über ein Gespräch mit dem Soziologen Georg Simmel: „Wie wenig die Deutschen zur Grazie geistiger Geselligkeit befähigt sind, dafür dienten uns beiden übereinstimmend die Weberschen Sonntage. Die von Marianne oktroyirte Seßhaftigkeit und ‚der eiserne Bestand gläubig lauschender Frauen ohne jedes eigene Urteil‘.“50 In diesem Kreis bildete sich allmählich eine Jüngerschaft Max Webers heraus, die zu seinem späteren Ruhm beitragen sollte. Max Weber verstand sich als einen Repräsentanten des deutschen Bildungsbürgertums, dass sich von Typen der Männlichkeit wie dem englischen Gentleman, aber auch dem französischen honnête homme oder dem italienischen cortegiano wesentlich unterschied. Der Gentleman und die verwandten romanischen Typen von Männlichkeit waren Mischformen adligen und bürgerlich-humanistischen Charakters. Der Bildungsbürger deutscher Provenienz war eine historische Besonderheit. Er nahm Elemente adliger Lebenskunst nicht in sich auf wie der englische oder französische Bürger, sondern verstand unter Bildung vor allem geistige Bildung und weniger die Durchbildung der Person im Sinne einer allseitigen Entfaltung der Persönlichkeit. „Was uns die romanische Lebensart so liebenswürdig erscheinen läßt, ihre Fähigkeit, sich nicht in ökonomischer Berufsarbeit zu erschöpfen und in hohem Maße echte Muße zu besitzen, ihre so gar nicht am Begriff beruflicher ‚efficiency‘ orientierten Lebensideale, das verabscheute Weber.“ 51 Anders stellte sich für Weber die Lage im konfuzianisch geprägten China dar. Der Konfuzianismus schuf einen Verhaltenskodex für gebildete Weltmänner. Ziel der sittlichen Maximen war die Selbstentwicklung des Einzelnen. „Die Bildungsideale dieser Sittlichkeit waren dabei ‚Schicklichkeit‘, Höflichkeit und Anmut und insbe-

49 Radkau, MaxWeber, S. 435. 50 Michael Maurer/Johanna Sänger/Editha Ulrich (Hg.), Im Schaffen genießen. Der Briefwechsel der Kulturwissenschaftler Eberhard und Marie Luise Gothein (1883–1923), Köln/Weimar/Wien 2006, S. 476. Vgl. auch Gesa von Essen, Max Weber und die Kunst der Geselligkeit. In: Richard Faber/ Christine Holste (Hg.), Kreise – Gruppen – Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziation, Würzburg 2000, S. 239–264, hier S. 254. Dass es im gehobenen Bürgertum auch mondäne Formen von Geselligkeit selbst in Akademikerkreisen gab, zeigt dagegen der Salon von Anna von Helmholtz. Siehe das Kapitel „Bildungsbürgerliche Geselligkeit: Der Salon der Anna von Helmholtz“ in: Günter Erbe, Das vornehme Berlin. Fürstin Marie Radziwill und die großen Damen der Gesellschaft 1871–1918, Köln/Weimar/Wien 2015, S. 145–147. 51 Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, S. 105.

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sondere die Unterdrückung der Leidenschaft als der Störquelle des angestrebten harmonischen Gleichgewichtszustandes.“52 Webers Beschäftigung mit dem Konfuzianismus führte ihn zu der Erkenntnis, dass Bildung mehr bedeutet als humanistische Bildung im bildungsbürgerlichen Sinne. Sie schließt Geschmacksbildung, souveränes Benehmen und Bildung der gesamten Persönlichkeit mit ein, wobei Höflichkeit und Anmut – man könnte noch hinzufügen: Eleganz – zu ihrem Recht kommen müssen – bei Weber nur selten vorzufindende Tugenden.53 Das ständische Vornehmheitsideal des allseitig gebildeten konfuzianischen Weltmanns findet in seinem Bild des Gelehrten keine Berücksichtigung. Weber sah sich nicht in der Lage, dieses Männlichkeitsideal mit seinem bildungsbürgerlichen Selbstbewusstsein zu verbinden. Im wilhelminischen Deutschland gab es für ihn keinen Anlass, die Vorzüge aristokratischer Vorstellungen von vornehmer Lebensführung zu adaptieren. Die von Rationalisierung durchdrungene Welt des modernen Kapitalismus behielt für den Gelehrten nur die Perspektive des Spezialistentums bereit. Der moralisch diskreditierte adlige Dilettant hatte ihm nichts zu bieten. Auch der englische Gentleman schied für Weber als Verhaltensmodell aus. Dazu war für ihn die Herkunft aus dem Wirtschaftsbürgertum zu sehr prägend gewesen. Der Gentleman war zwar kein rein aristokratischer Typus, sondern bürgerlichen Aufsteigern prinzipiell zugänglich, vorausgesetzt, ein gewisser Besitz erlaubte es dem Träger dieses Auszeichnungstitels, einen Lebensstil zu kultivieren, der ihn von innerweltlicher Askese dispensierte. Der britische Gentleman um 1900 war längst in die Sphäre des Business eingetreten.54 Er musste eine Balance zwischen dem Zwang zum Gelderwerb und den Beschäftigungen eines Mannes von Welt herstellen. Für Weber war es um eine solche Balance nie zu tun. Er wollte nicht Gentleman, sondern ein gebildeter Bürger sein. Wenn es ihm auch nicht behagte, für Geld zu arbeiten, so konnte er gar nicht anders, als sich auch ohne den Zwang zum Geldverdienst zu verausgaben. Der Gentleman kann zwar Puritaner sein, doch auch in dieser Gestalt bleibt er an einen bestimmten Lebensstil und die Maxime der Mühelosigkeit allen Tuns gebunden. Webers Arbeitsbesessenheit und seine geringe Wertschätzung einer vornehmlich ästhetisch geprägten Lebensführung hinderten ihn daran, diesem Verhaltensideal zu entsprechen. Für Selbstkultivierung

52 Kaesler, Max Weber, S. 805. 53 Insofern ist Kaeslers Feststellung, das ständische Vornehmheitsideal des allseitig gebildeten konfuzianischen Gentleman sei eine persönliche Wunschvorstellung Webers gewesen, mit Skepsis zu betrachten. 54 „By the early twentieth century, traditional gentlemanly ideals were considered to be in decline: commerce was outweighing culture, business acumen more important than polished manners.“ (Christine Berger, The Image of the English Gentleman in Twentieth-Century Literature. Englishness and Nostalgia, Hampshire 2007, S. 10.)

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blieb in einem gehetzten Arbeitsleben wenig Zeit. Weber deswegen die Qualitäten eines „Herrn“ abzusprechen, ginge freilich zu weit, denn ein „Herr“ war er schon deshalb, weil Offizierslizenz und Satisfaktionsfähigkeit ihm diesen Status in der wilhelminischen Gesellschaft verbürgten.55 Nicolaus Sombarts Weber-Kritik hätte hier ansetzen können. Webers Puritanismus und asketische Arbeitsethik ließen Muße und mondäne Leichtlebigkeit nur mit schlechtem Gewissen zu. Insofern war er in der Tat ein Bürger im protestantischen Sinne. Man könnte auch sagen, er war ein typischer deutscher Bürger. Eine Wahlverwandtschaft mit dem Dichter Thomas Mann ist unverkennbar. Die Figur des Gustav Aschenbach aus der Novelle „Tod in Venedig“, ein Selbstporträt des Autors, „paßt besser als jede andere seiner Figuren in das Universum Max Webers: ein Feind jeden Müßiggangs, geprägt von Dienst und Selbstbeherrschung.“56 Webers Adelskritik verbindet sich mit dem Vorwurf, dieser führe eine pure Rentnerexistenz. Ein wenig überzeugendes Argument aus dem Munde eines Mannes, der ebenfalls von ererbtem bzw. in Wertpapieren angelegtem Vermögen seinen Lebensunterhalt bestritt. Es geht in diesem Zusammenhang um die innere Bereitschaft des Bürgertums, adlige Modelle der Lebensführung zu adaptieren, in denen Repräsentation, Eleganz des Habitus und Muße einen zentralen Platz einnehmen. Dies war in Professorenkreisen nur selten der Fall, eher schon in Kreisen der Hochfinanz. In diesem Sinne konnte Max Weber für Nicolaus Sombart wahrlich kein Vorbild sein. Als Bildungsbürger, der sich als deklassiert empfand, war Sombart bemüht, das Bürgerliche habituell ins Aristokratische zu überführen, indem er an die Salonkultur seiner Mutter anzuknüpfen versuchte. Dort fand er ein Verhaltensmodell, das Muße, Eleganz und einen gehobenen Dilettantismus zuließ und auf akademische Anerkennung und Karrierewege nicht angewiesen war. Der Puritaner Max Weber hatte ihm auf diesem Feld nichts zu bieten. Nicolaus Sombart wollte kein klassenbewusster Bourgeois sein. Er lebte in einer Epoche, in der das Festhalten an bürgerlichen Moralvorstellungen und Standards bürgerlicher Lebensführung längst brüchig geworden war. Die Wohlstandsgesellschaft der Bundesrepublik Deutschland kennt andere Attribute ständischer Unterscheidung als großräumige Wohnungen mit Personal, Bildungsreisen und die

55 Kaesler spricht Weber diese Qualität ab, da er weder über Besitz noch ein Adelsprädikat verfügt habe. Vgl. Kaesler, Max Weber, S. 929. Zur Satisfaktionsfähigkeit eines Bürgerlichen im wilhelminischen Kaiserreich schreibt Elias: „Im großen und ganzen war das nur möglich, wenn ein bürgerlicher Mensch Offizier, je nachdem auch Reserveoffizier, oder Mitglied einer schlagenden Verbindung war.“ (Norbert Elias, Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Michael Schröter, Frankfurt am Main 1989, S. 74.) Beides war bei Max Weber der Fall. 56 Wolf Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, Hamburg 1988, S. 367.

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Kultur des Salons. Auch die hohe Wertschätzung von Leistung, wie sie in der Generation Max Webers und Werner Sombarts in bürgerlichen Kreisen selbstverständlich war, hat als Kriterium der Distinktion an Bedeutung eingebüßt. Wenn Nicolaus Sombart darauf besteht, dass die Berühmtheit seines Vaters zu ihm gehöre wie ein Adelsprädikat, so ist dies für sein Selbstverständnis indes kaum zu überschätzen. Dieser Herkunftsdünkel prägte ihn lebenslang, denn was in der guten Gesellschaft von heute zählt, ist vor allem der Name, die Prominenz, auch die ererbte, von der ein Abglanz auf den Nachgeborenen fällt. Max Weber hingegen, stolz auf seine bürgerliche Herkunft, sah es als seine Aufgabe an, dieses Kapital zu mehren, seinen Vater, den erfolgreichen Berufspolitiker, noch durch eigene Leistung zu übertreffen. Nicht Muße war diesem Bürger das Ziel, noch demonstrativer Konsum, noch repräsentative Verkehrsformen nach dem Muster adliger Selbstdarstellung. Weber sah sich zu emsiger, unaufhörlicher Tätigkeit verdammt, mochten Seele und Körper ihm auch immer wieder ihren Dienst versagen. Ein solches Lebensmodell lag Nicolaus Sombart fern. Es war in der Tat nicht mehr zeitgemäß. Mit ihm galt es abzurechnen, denn sein Preis – das zeigte ihm das abschreckende Beispiel Max Webers – waren Selbstverstümmelung, Leiden und Liebesunfähigkeit.

Macht und Ohnmacht 1987 erschien Nicolaus Sombarts Aufsatzsammlung „Nachdenken über Deutschland. Vom Historismus zur Psychoanalyse“, in der er unter Titeln wie „Ohnmacht des Geistes“, „Mechanismen der Macht“ und „Aspekte des Nachkriegswilhelminismus“ publizistische Beiträge aus den Jahren 1966 bis 1985 versammelte. Im Vorwort setzt er sich erneut mit den deutschen Machttheoretikern Max Weber und Carl Schmitt auseinander. Ihr Verständnis von Macht sei geprägt durch die Perspektive der Ohnmächtigen. Der Auseinandersetzung mit der Macht liege eine narzisstische Kränkung zugrunde, die durch eine Identifikation mit dem Aggressor überwunden werde. Dagegen plädiert Sombart für eine Identifikation mit den Opfern, welche dank der subversiven Entlarvung der gesellschaftlich-kulturellen Gewaltstrukturen mit Hilfe der Psychoanalyse möglich geworden sei. „Die Theorie der ‚Macht‘ eines Max Weber weiß nichts davon, weil sie nichts von den Leiden der ‚Ohnmächtigen‘ weiß, obwohl sie selbst ein Produkt der Ohnmacht ist. Die Psychoanalyse hingegen thematisiert diese Ohnmacht – ihr originellster Beitrag zum Instrumentarium der Aufklärung ist die ‚Empathie‘. Nur mit ihrer Hilfe wird die eigene Ohnmacht er-

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träglich, weil transparent – aber es kommt auch etwas anderes in den Blick, was Weber auch nicht kennt: die ‚Ohnmacht der Mächtigen‘.“57 Bedauerlicherweise habe sich der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, wie Max Weber in das Asyl der Wissenschaft zurückgezogen, statt aus seinen revolutionären Einsichten die notwendigen gesellschaftlichen Konsequenzen zu ziehen. „Er ist davor zurückgeschreckt, die ‚Mächte des Abgrundes‘ wirklich gegen die ‚Superos‘ - die Herrschenden, die ihn ‚kastrierten‘ - zu mobilisieren, und hat letzten Endes für die Erhaltung der Vatergesellschaft optiert, nachdem er gezeigt hatte, wie sie aus den Angeln zu heben gewesen wäre.“58 Dagegen stellt sich für Sombart – Otto Gross, Wilhelm Reich und Herbert Marcuse bezeugten es – die Psychoanalyse in Gestalt der Soziopsychoanalyse als „die eigentliche ‚Philosophie der Revolution‘“ dar – dem Marxismus darin weit überlegen. Sie sei die letzte Chance, die spätbürgerliche Gesellschaft vor der Katastrophe zu retten und den „Weltbürgerkrieg“ zu beenden. Diese Philosophie sei dem Marxismus deshalb überlegen, weil sie das Übel, die Herrschaft des Patriarchats, bei der Wurzel anpacke und nicht – wie der Marxismus – die eine autoritäre Struktur durch die andere ersetze. Es geht Sombart nicht wie dem Kommunisten Gross um eine Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft durch Abschaffung des Patriarchats und eine Zerschlagung der sozialökonomischen Besitz- und Produktionsstruktur, sondern um ihre „Rettung“ durch Überwindung der patriarchalischen Strukturen und die Schaffung eines von sexueller Repression freien Gemeinwesens. Eine letzte Stellungnahme Nicolaus Sombarts zu Max Weber findet sich in dem im Jahr 2000 erschienenen Erinnerungsband „Rendezvous mit dem Weltgeist. Heidelberger Reminiszenzen 1945–1951.“ Inzwischen hatte Sombart den Bruch mit Carl Schmitt durch seine Studie „Die deutschen Männer und ihre Feinde“, die 1991 erschien, definitiv vollzogen, wobei Max Weber im Hintergrund als Bezugsfigur eine unübersehbare Rolle spielt. Die Haltung zu Weber hat sich bei Sombart auch in späteren Jahren nicht mehr geändert. Er bleibt für ihn der Zeuge schlechthin für das verhängnisvolle Verhältnis der deutschen Geistes- und Sozialwissenschaften zur Macht und für Sexualverdrängung eines Wissenschaftlers in extremster Potenz. In Heidelberg war Max Weber in den fünfziger Jahren, als Nicolaus Sombart dort studierte, allseits präsent. „Wie kein anderer Gelehrter der wilhelminischen Ära beherrschte seine überragende Gestalt lange über seinen Tod hinaus die geistige Szene in Deutschland. Nach dem Krieg zirkulierten das hagiographische Porträt, das Karl Jaspers in den Zwanzigerjahren entworfen hatte, und die 1926 erschienene Biographie aus der Feder seiner Frau Marianne, eine Art Pflichtlektüre für uns.“59

57 Sombart, Nachdenken über Deutschland, S. 12. 58 Sombart, Freuds Vienna, ebd., S. 59. Der Text erschien im Februar 1977 in der Zeitschrift „Merkur“. 59 Sombart, Rendezvous mit dem Weltgeist, S. 37.

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Dagegen habe man von der Tragik „dieses grandiosen und verfehlten Lebens“ nichts gewusst und nichts wissen wollen. Erst die Enthüllungen Martin Greens boten die methodologischen Voraussetzungen, zu einer höheren Stufe der Einsicht zu gelangen. Bei dieser Positionsbestimmung blieb es. Die neueren Forschungen zu Max Weber fochten Sombart nicht an. Der wissenschaftliche Ertrag der Schriften Webers, seiner sexuellen und emotionalen Überreiztheit abgerungen, findet keinerlei Beachtung, lässt dieser sich doch nicht mit dem Hinweis auf die seelischen Verkrüppelungen des Autors aus der Welt schaffen.

VIII. Carl Schmitt. Zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos

„Ich glaube, dass es niemanden gibt, der Sie tiefer und liebevoller versteht.“1

Bisexualität als Schicksalsfrage Das Werk Carl Schmitts ist für Nicolaus Sombart exemplarisch für das Geschichtsund Politikverständnis deutscher Wissenschaftler in der wilhelminischen und nach-wilhelminischen Zeit. Schmitt ist in den Augen Sombarts nicht nur ein Mann der Wissenschaft, des begrifflichen, systematischen Denkens. Er ist zugleich ein Esoteriker. Neben wissenschaftliche Erkenntnisse treten mystische Gewissheiten, Gedankengebilde der christlichen Theologie und der Gnosis. Zum Schlüsselerlebnis werden für Sombart die von Schmitt hochgeschätzten nachgelassenen Fragmente und Vorträge des Mystagogen Alfred Schuler. Schmitt teile die dort vertretene These von einem elementaren Gegensatz von Patriarchat und Matriarchat, von einem Ur-Dualismus zwischen männlichem und weiblichem Prinzip. „Männlich, weiblich, mit anderen Worten das anthropologische Problem der Bisexualität des Menschen, das war die Lebens- und Schicksalsfrage dieser Generation deutscher Männer. Es war auch die Lebens- und Schicksalsfrage für Carl Schmitt; darum zu wissen war sein arcanum.“2 Schmitt wird von Sombart folglich nicht einfach dem deutschen Männerstaat und seiner Wissenschaft zugeschlagen. Die Lage ist diffiziler. Schmitt besitze im Unterschied zu Wissenschaftlern wie Max Weber und Werner Sombart ein „Geheimwissen“ dank seiner Fähigkeit, in Bildern und mythischen Zusammenhängen zu denken. „Das Mythologem vom Matriarchat, das wir bei Klages und Schuler in seiner extremsten Ausformung finden, muß verstanden werden als die Projektion einer Art von Gegenutopie, deren Produktion und Rezeption nur verständlich ist, wenn man den Leidensdruck dieser zur Nur-Männlichkeit gezwungenen Männer in Anschlag bringt.“3 Es gebe bei Schmitt das Erbe der Schwabinger Subkultur, das anarchische Element. Obwohl er sich als preußischer Professor von dieser Tradition

1 Nicolaus Sombart an Carl Schmitt. Brief vom 23.8.1979. In: Tielke, Schmitt und Sombart, S. 140. 2 Sombart, Jugend in Berlin, S. 276f. 3 Ebd., S. 277.

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losgesagt habe, sei er dem Werk Theodor Däublers4 , in dem die Bisexualität des Menschen dichterischen Ausdruck fand, und der Münchner Boheme insgeheim treu geblieben. Er habe sich schließlich von seiner dezisionistischen Freund-FeindBegrifflichkeit gelöst und zu einer gnostischen Ikonographie zurückgefunden. So stellt sich für Nicolaus Sombart die geistige Entwicklung Schmitts in seiner zweiten, „nach-diktatorischen“ Phase dar. Seine geostrategische Wendung vom „Land“ zum „Meer“ entspreche einer Abwendung vom männlichen und einer Hinwendung zum weiblichen Prinzip. Sombart verdankt diese Erkenntnis seiner Beschäftigung mit der Psychoanalyse. Er glaubt hier einen Erkenntnisansatz gefunden zu haben, um zum einen das neurotische Herrschaftsdenken deutscher Wissenschaftler und Politiker dechiffrieren, zum anderen aber sein eigenes Experimentieren auf dem Feld der Erotik begründen zu können. 1991 erschien Nicolaus Sombarts grundlegende Auseinandersetzung mit seinem geistigen Mentor unter dem Titel „Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt – ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos“, ein Buch, das der Verfasser als sein wissenschaftliches Hauptwerk betrachtet. Es ist Würdigung und Abrechnung zugleich, denn Sombart geht nicht nur zu Schmitt auf Distanz. Er zeigt vielmehr die verschiedenen Facetten auf, die das Denken Schmitts charakterisieren. Es gebe mehrere Gesichter Schmitts, die nur der erkenne, der aufs Intimste mit ihm vertraut sei. Nicolaus Sombart beansprucht, das Geheimnis Schmitts, das allein ihm zugänglich sei, zu enthüllen und damit die Gemeinde der Schmitt-Anhänger über den Meister aufzuklären. Die der Öffentlichkeit weitgehend unbekannten Seiten des Theoretikers des Machtstaates gelte es offenzulegen und damit den Boden für eine neue, unorthodoxe Schmitt-Rezeption zu bereiten. Carl Schmitt wusste um das Bemühen seines Schülers, ihn davon zu überzeugen, dass es eine verdrängte Seite in seiner geistigen Vita gibt, einen anderen Schmitt, von dem die Schmitt-Anhänger nichts wissen und er selbst, Schmitt, ebenfalls nichts mehr wissen will. In Briefen an seinen Lehrmeister kündigte Sombart sein Unternehmen „Schmitt gegen Schmitt“ immer wieder an, ohne auf viel Gegenliebe dabei zu stoßen. Als Nicolaus Sombart Carl Schmitt im Februar 1976 nach vielen Jahren das erste Mal wieder besucht, kreist ihr Gespräch um Otto Gross, den Schmitt in seinem Werk „Politische Theologie“ in Zusammenhang mit den Anarchisten Babeuf, Bakunin und Kropotkin zitiert. Sombart schickt Schmitt den Text eines Rundfunkbeitrags, in dem er sich mit Greens Buch über die Richthofen-Schwestern auseinandersetzt. Offenbar unter dem Eindruck der Lektüre schreibt er an Schmitt: „Merkwürdigerweise stehe ich ja bis heute (d. h. bis über die Fünfzig) unter dem

4 Theodor Däublers (1876–1934) Versepos „Das Nordlicht“ fand in Carl Schmitt einen enthusiastischen Leser.

Bisexualität als Schicksalsfrage

Eindruck, dass mein Leben noch gar nicht richtig begonnen hat, dass ich mich in Vorbereitung und Erwartung meiner ‚Stunde‘ befinde.“5 Sombarts Stunde sollte bald kommen. Es war die Entdeckung eines neuen, aufregenden Themas: die Bisexualität. In den folgenden Jahren beschäftigte er sich intensiv mit Theodor Däubler, Johann Jakob Bachofen und der Matriarchats-Problematik. In einem langen Brief an Schmitt wird das Themenfeld umrissen. Sombart muss feststellen, dass Schmitt sich in der entsprechenden Literatur gut auskennt. Ganz im Sinne Schmitts erklärt er Däublers „Nordlicht“ zu dem repräsentativen literarischen Opus der wilhelminischen Epoche. „George und was es sonst noch gäbe, verzwergt daneben vollkommen.“6 Sombart konfrontiert Schmitt mit der Frage, ob seine Theorie des Politischen nicht eine Form der Verarbeitung oder besser: Nichtverarbeitung des Zentralproblems der Epoche, der Bisexualität, sei. Spätestens seit seinem 1938 erschienenen Buch über Hobbes und den Leviathan habe er sich doch vom hegelschen Staatsverständnis ab- und der staatstheoretisch folgenreichen Land-Meer-Polarität zugewandt. Ergebnis dieses Neuansatzes sei das Buch „Land und Meer“ (1942). „Das ganz Neue ist nun die Entdeckung des Meeres als des Elementes des Weiblichen und die Identifikation des männlich/staatlichen Prinzips mit dem Lande. Darin würde ich Ihren großen Beitrag zur Diskussion des Zentralthemas sehen (…).“7 Sombart glaubt den späten bzw. mittleren Carl Schmitt, also den Schmitt, der von den Nationalsozialisten kaltgestellt worden war, in die Reihe jener Denker stellen zu können, die dem Weiblichen in ihrem politischen Denken breiteren Platz einräumen. Zwar sehe Schmitt in dem Anarchisten und Revolutionär Otto Gross einen Antagonisten, doch sei er sich dabei voll und ganz der Problematik bewusst, die von der Münchener Boheme um Gross mit der Entdeckung des Erotischen gegen das preußische Berlin in die politische Arena eingeführt worden sei. Schmitts Entgegnung lässt nicht lange auf sich warten. Sombart habe sich mit der Verortung Däublers in München und den Kreisen um Schuler, Klages und George auf eine falsche Fährte begeben. Sein Versuch, München und Berlin als symbolische Orte einander gegenüberzustellen, in denen das Matriarchalische und das Patriarchalische seine jeweiligen Exponenten gefunden habe, sei konstruiert und wenig überzeugend. „Das alles irritiert mich, ohne mich durch neue Einsichten zu stärken.“8

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N. Sombart an C. Schmitt. Brief vom 24.2.1976. In: Tielke, Schmitt und Sombart, S. 120. N. Sombart an C. Schmitt. Brief vom 28.7.1978, ebd., S. 131. Ebd., S. 132. C. Schmitt an N. Sombart. Brief vom 2.8.1978, ebd., S. 135.

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Das Carl-Schmitt-Syndrom Sombarts Versuch, seinen Lehrer über sich selbst aufzuklären, liegt ein bestimmtes Verständnis der deutschen Geschichte seit der Reichsgründung zugrunde. In mehreren Aufsätzen zum wilhelminischen Kaiserreich, erschienen in der Süddeutschen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen, der „Zeit“ und dem „Merkur“, legt Sombart seine Sicht auf diese Epoche dar, die immer mehr in den Mittelpunkt seines historischen Interesses rückt. In Schmitt erblickt Sombart den letzten Bismarckianer. Er sei der Erbe der Männer, die das Zweite Reich errichtet haben. Die Beschäftigung mit Schmitt verschaffe den Zugang „zu den verborgensten Grundproblemen der deutschen Geschichte.“9 Schmitt sei vielleicht nur der prominenteste Exponent einer ganzen Generation deutscher Männer, denen eine Mentalität eigen ist, „die für die politische Kultur und damit für die Geschichte Deutschlands ebenso charakteristisch wie verhängnisvoll war.“10 Das Denken dieser Männer – Sombart zählt zu ihnen Geisteswissenschaftler, Philosophen und Dichter wie Ernst Robert Curtius, Alfred Bäumler, Oswald Spengler, Ernst Jünger, Hans Blüher, Martin Heidegger und Gottfried Benn – sei von martialischer, heroischer, harter Maskulinität. „Die Herren sind auch Antifeministen, Antidemokraten, antisozial und – Antisemiten.“11 In ihrem Denkstil seien sie sich ähnlich, ihre psychische Struktur die gleiche. Sombart diagnostiziert Anzeichen eines Krankheitssymptoms und spricht von einer „symptomatologischen Gruppe“. Ihr Denken sei charakteristisch für eine psychopathologische Deformation. „Eine möglichst präzise Erfassung des Krankheitsbildes ist die Voraussetzung für die Erforschung des Leidens, das ihm zugrunde liegt und alle, die davon betroffen sind, verbindet. Insofern Carl Schmitt für diese ‚Krankheit‘ repräsentativ ist, sprechen wir vom ‚Carl-Schmitt-Syndrom‘.“12 Mit seinem Anspruch, die vielfältigen, einander widersprechenden Aspekte im Denken Carl Schmitts offenzulegen, dementiert Sombart freilich seine These, diese verschiedenen Denkansätze stellten einen einheitlichen Zusammenhang, ein „Syndrom“, dar. Zur Sammelkategorie „deutsche Männer“ gehören jene Repräsentanten des deutschen Bürgertums, die bei Kriegsausbruch 1914 dem Obrigkeitsstaat huldigten. Zu ihnen zählen auch Thomas Mann und Werner Sombart, denen Nicolaus Sombart indes keinen repräsentativen Status einräumt, dem einen nicht, weil er sich später zu Republik und Demokratie bekennt, dem anderen nicht, weil er ihm einen antibürgerlichen Habitus zuspricht, wodurch er als Prototyp des „deutschen 9 Nicolaus Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt - ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos, München/Wien 1991, S. 14. 10 Ebd., S. 15. 11 Ebd., S. 16. 12 Ebd., S. 17.

Sehnsucht nach dem Reich der Mütter

Mannes“ ausscheidet. Sombart berücksichtigt bei seiner Typenbildung allerdings nicht die Fraktion der liberalen Kräfte des Bürgertums und ihren Kampf, im wilhelminischen Deutschland politischen Einfluss zu gewinnen. Ihr Scheitern wird nicht analysiert. So schlägt er – wie wir sahen – auch Max Weber umstandslos dem Lager der „deutschen Männer“ und ihrem Denkstil zu.

Sehnsucht nach dem Reich der Mütter Verläuft Anfang der zwanziger Jahre die Frontlinie zwischen Schmitt und den Gegnern staatlicher Ordnungsmacht, so erweist sich à la longue, dass dies für Schmitt nur eine Durchgangsphase war. „Die Periode von der ‚Politischen Romantik‘ bis zum ‚Leviathan‘ (1919–1938) – die Phase der Staatsfixiertheit – ist in diesem langen Leben nur eine große Parenthese, eine Art von Kriegs- und Dienstzeit, eine Periode der Selbstentfremdung.“13 In Wirklichkeit stehe Schmitt unter dem Einfluss von Däubler und Bachofen. Es sei die Sehnsucht nach dem Reich der Mütter. Sombart beruft sich auf Gedanken, die er im Schmittschen Œuvre entdeckt hat und für sich selbst als revolutionär begreift. Er attackiert den „falschen“ Schmitt, der vom richtigen Weg abgewichen sei, im Namen des „wahren“ Schmitt. So betrachtet, kommt das Ergebnis dieser Bemühungen einer Ehrenrettung des Staatsrechtlers gleich. Sombart schlägt einen Bogen von Däubler zu Charles Fourier, der auch für Schmitt kein Unbekannter ist. Die Schriften des Utopisten Fourier hatte Sombart in seiner Pariser Studienzeit kennengelernt, als er an seiner Habilitation über Ballanche arbeitete. Was ihn an Fourier faszinierte, findet er nun auch bei Däubler und in radikalisierter Form bei Otto Gross. „Das Fouriersche Konzept einer glücklichen Endzeit – Zeitalter der ‚Harmonie‘ genannt – hat die soziale und sexuelle Befreiung der Frau zur Voraussetzung, die Hand in Hand geht mit der Abschaffung der Herrschaft des Menschen über Menschen und des Menschen über die Natur (…) Von Fourier stammt jener erstaunliche Satz, daß das Kulturniveau einer geschichtlichen Epoche gemessen werden kann an dem Grade der Freiheit, die die Frau genießt. Er weiß bereits, was dann Bachofen herausgefunden und – zum Entsetzen seiner Zeitgenossen – verkündet hat: daß es keine politische Emanzipation geben kann ohne sexuelle. Sexuelle Emanzipation heißt zunächst immer Emanzipation der Frau, ihre höchste Stufe ist nicht eine formale Gleichberechtigung, sondern die Entfaltung einer fundamentalen Superiorität des Weiblichen, eine Wiederkehr des ‚Matriarchats‘.“14

13 Ebd., S. 128. 14 Ebd., S. 149.

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Die Lektüre der drei Autoren liefert ihm den Schlüssel, um Carl Schmitt besser zu verstehen, in einer Weise, die es ihm erlaubt, über eine Abrechnung mit dem Staatstheoretiker hinaus, bestimmten Topoi des Schmittschen Werks die Treue zu halten. Sombart entschlüsselt das Werk Schmitts, indem er es der Mann-FrauProblematik zuordnet. Wenn Schmitt vom Freund-Feind-Verhältnis spreche, einem zentralen Axiom seiner politischen Theorie, so sei mit dem Feind stets die Frau gemeint.15

Die Macht des Weiblichen Sombart illustriert das Syndrom der deutschen Männer mit Bismarcks Aversion gegen den Einfluss von Frauen im Vorhof der Macht. So warnte der Reichskanzler ausdrücklich vor dem Einflussstreben der Kaiserin Augusta und der Kronprinzessin Victoria. Sombart sieht darin ein typisches Beispiel für Misogynie auf allerhöchster Ebene in der Politik des deutschen Kaiserreichs. Er übersieht dabei freilich, dass auch in Ländern wie Frankreich, in denen Frauen als politische Beraterinnen eine nicht unwesentliche Rolle spielten, diese ähnlichen misogynen Attacken ausgesetzt waren. Wenn in Deutschland Frauen in der Politik Einfluss gewannen wie etwa die Baronin Spitzemberg, eine engagierte Bismarck-Anhängerin, so seien diese eigentlich keine richtigen Frauen, sondern verkappte Männer. „Diese mannhaften Damen sind in ihren Familien das Pendant der homosexuellen Männer. Man könnte soweit gehen, zu sagen: Weil diese Frauen so männlich sind, sind ihre Männer so schwul.“16 Aus Sombarts Einschätzung der Rolle von Frauen in der deutschen Politik lassen sich Rückschlüsse auf sein Frauenbild ziehen. Frauen müssen „weiblich“ sein. Sind sie dies, so vertreten sie eine politische Position, die mit derjenigen der deutschen Männer, z. B. Bismarcks, unvereinbar ist. Sind sie wie Baronin Spitzemberg aber auf der Seite Bismarcks oder äußern sich kritisch zu Wilhelm II., so werden ihnen weibliche Qualitäten abgesprochen. Der Verweis auf Frankreich, wo angeblich 15 Vgl. ebd., S. 174ff. Diese These müsste nicht zuletzt durch das Privatleben Carl Schmitts verifiziert werden, wie Nicolaus Sombart es im Fall Max Webers versucht hat. Schmitt pflegte ein traditionelles Frauenbild, wonach die geliebte Ehefrau für die Familie und die seelische Harmonie und die körperlich begehrte Geliebte für die Sexualität zuständig war. Schmitt führte wie Sombart ein exzessives Liebesleben. (Vgl. Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, S. 235–238.) Das geistige Gespräch fand vorwiegend unter Männern statt. Zur „Frauenfrage“ findet sich in Schmitts Tagebuch der Sombarts Emanzipationstheorie gleichsam vorwegnehmende Eintrag: „Die Gleichheit von Mann und Frau kann sich natürlich nur auf dem Niveau der Frau erlösen.“ (Carl Schmitt, Tagebücher 1925 bis 1929. Hg. von Martin Tielke und Gerd Giesler, Berlin 2018, hier 1. Paralleltagebuch. Eintragung vom 23. September 1926, S. 366.) 16 Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde, S. 213.

Das Arcanum des Theoretikers des Machtstaates

„weibliche“ Frauen im Vorhof der Macht über Einfluss verfügten, oder England, wo eine Königin die Macht innehatte, krankt an der fragwürdigen Annahme, diese Frauen seien „echte“ Frauen im Unterschied zu denen im Umfeld Bismarcks und anderer deutscher Machtträger. Tatsächlich traten die Herzogin von Dino, die Beraterin Talleyrands in Paris und London, und die Fürstin Lieven, die Egeria konservativer englischer und französischer Politiker, für eine rigorose Machtpolitik ein, die sich von der männlicher Machthaber, in deren Schule sie gegangen waren, in nichts unterschied.17 Sombart ist fasziniert von der Macht des Weiblichen. Er erkennt bei Carl Schmitt einen ähnlichen Zug, den dieser freilich hinter der Maske forcierter Männlichkeit verberge. Hinter diesem Prototyp der „deutschen Männer“ mit seinem patriarchalen Habitus und seiner misogynen Denkweise stehe in Wirklichkeit ein Mann mit weiblichen Zügen. Dies zeige sich an Schmitts Interesse an dem englischen Politiker Benjamin Disraeli. Dieser sei als Jude frei von dem Zwang, stets seine Männlichkeit beweisen zu müssen. Sombart leitet diese Freiheit aus dem physiologischen Umstand ab, dass ein Jude beschnitten ist. Er sei deshalb im sexuellen Umgang mit Frauen souveräner als ein unbeschnittener Mann. Sombart widmet diesem anatomischen Detail ein ganzes Kapitel seines Buches mit weitreichenden Konsequenzen, die den Kern des Antisemitismus betreffen.18 Sombarts tiefenpsychologische Analyse des deutschen Antisemitismus kommt zu dem Ergebnis: „Die bedingungslose, wenn auch neiderfüllte Anerkennung seiner [des Juden, G.E.] Superiorität, seines ‚Know-how‘, seiner Fähigkeiten, mit der Politik und den Frauen umzugehen, erzeugt den Vernichtungswunsch als letztes verzweifeltes Eingeständnis der eigenen Insuffizienz.“19

Das Arcanum des Theoretikers des Machtstaates Nicolaus Sombart, so lässt sich resümieren, unterscheidet in der Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Carl Schmitt zwischen dem jungen Rechtswissenschaftler, der vor dem ersten Weltkrieg dem Epiker der Bisexualität Theodor Däubler nahestand; dem Theoretiker des Machtstaates, der in den zwanziger und dreißiger Jahre seinen Beitrag zur Bekämpfung der Demokratie leistete und zum Kronjuristen des Dritten Reiches avancierte, und dem späten, der Macht entfremdeten Schmitt.

17 Vgl. mein Buch „Dorothea Herzogin von Sagan (1793–1862). Eine deutsch-französische Karriere“, Köln/Weimar/Wien 2009. 18 „Die ‚Beschneidung‘ wird (von den Nichtbeschnittenen) als Bedrohung von Identität und Integrität empfunden. Das fatale Geräusch des ‚Wetzens der Beschneidungsmesser‘ macht den Juden für den deutschen Mann zum absoluten Feind.“ (Sombart, Die deutschen Männer und ihre Feinde, S. 276.) 19 Ebd., S. 285.

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Carl Schmitt. Zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos

Als sich 1942 abzeichnete, dass der Krieg verloren war, rückte Schmitt – so Sombart – von seiner Position als Anwalt entschiedener Männlichkeit und autoritärer Staatsfixierung ab und bewegte sich Schritt für Schritt in Richtung einer Position, die dem politischen Projekt westlicher Zivilisierung und Humanisierung nicht mehr ausschließlich negativ gegenüberstand. Bei Schmitt finde sich dieser Wandel in der positiven Besetzung des Bildes vom Meer bzw. der maritimen Existenz, wie sie England exemplarisch führt, im Gegensatz zu einer auf das Land bezogenen Existenzform, für die das Deutsche Reich Zeugnis ablegt. Sombart konstatiert einen Paradigmenwechsel bei Schmitt, der ihn das Weibliche neu entdecken ließ. Damit sei mitten im Krieg ein Abrücken vom nationalsozialistischen Staatsverständnis vollzogen worden, das er, Schmitt, selbst maßgeblich mitgeprägt hatte. Nach 1945 – so heißt es weiter – habe Schmitt den weiblich konnotierten Politikbezug weiter ausgebaut und der Metapher des Meeres in zahlreichen Beiträgen weiten Raum gewidmet. Auf diese Weise sei er zu seinem ursprünglichen Interesse am Matriarchatsmythos zurückgekehrt. Der späte Schmitt – dieser sollte freilich eine Zeitspanne von mehr als vierzig Jahren umspannen – habe sich somit einerseits seinem Antagonisten, dem Anarchisten und Propagandisten einer weiblichen Politik, Otto Gross, angenähert, andererseits sei er durch seine Bewunderung für den Juden Disraeli zum Panegyriker Englands geworden. „Aus der Perspektive des wilhelminischen Männerstaates ist England vor allem das ‚Reich‘, an dessen Spitze kein ‚Soldat‘, kein Mann, kein König steht, sondern eine Frau, die Queen, eine ‚Königin‘.“20 So erklärt Sombart auch die Nähe Wilhelms II. zu seiner Großmutter und seinen Willen, die deutsche Landmacht zu einer Seemacht zu entwickeln. Für Schmitt bestehe die neue Weltordnung des planetarischen Zeitalters in der Dominanz der maritimen Existenz gegenüber der Herrschaft des Landes. Der Schmitt der dritten Phase bediene sich nicht mehr der Sprache des diskursiven begrifflichen, sondern des intuitiven Denkens. Er denke in Raumkategorien, in Vorstellungen von Großräumen. Das neue Zauberwort sei „Nomos“, ein parallel zu Raum und Meer gebrauchter Terminus. Das große Ereignis der Welt- und Menschheitsgeschichte sei die Wendung vom Land zum Meer, die England vollzogen habe. So entstand das Machtgebilde eines ozeanischen Weltreichs. Die Wendung zum Meer ist – in der Sprache des Mythos – die Wendung zum Weiblichen. „Überinterpretieren wir, wenn wir sagen, der ‚Großraum‘, den Carl Schmitt da entdeckt, ist der ‚Raum des Otto Gross‘? Steht er in einem Sinnzusammenhang mit der Heraufkunft des ‚Matriarchats‘?“21 Der kühne Versuch Sombarts, die Problematik der „deutschen Männer“ und insbesondere die ihres Protagonisten Carl Schmitt zu entschlüsseln, wurde von

20 Ebd., S. 297. 21 Ebd., S. 303.

Das Arcanum des Theoretikers des Machtstaates

Schmitt und dem – vorwiegend von Männern gebildeten – Freundeskreis des Gelehrten mit Kopfschütteln und Missbilligung zur Kenntnis genommen. Es handelt sich um den ehrgeizigen Versuch des einstigen Lieblingsschülers („Niemand weiß mehr darüber als Sie … Niemand aber ist diesem Wissen so nah, wie ich, meine ich andererseits, in schöner Bescheidenheit ...“),22 dem Meister sein Geheimnis zu entreißen. Schmitt konnte in diesem Quidproquo nur den Versuch eines Vatermords erblicken. Die psychoanalytische Dechiffrierung seines Denkens als Zwangsneurose eines deutschen Mannes der nachwilhelminischen Zeit in Form einer umfangreichen Monographie musste der Theoretiker des Machtstaates allerdings nicht mehr erleben.23

22 Nicolaus Sombart an Carl Schmitt. 28.7.1978. In: Tielke, Schmitt und Sombart, S. 134. 23 Die Mehrzahl der Rezensenten hebt trotz mancher Einwände die Originalität der Sombartschen Interpretation der Werke des Staatsrechtlers hervor. Dass sein Hauptwerk mangelnde Anerkennung gefunden habe, wie Sombart stets beklagte, lässt sich angesichts der Fülle der positiven Stellungnahmen nicht bestätigen.

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IX.

Wilhelm II. Ausnahmemensch und wagnerisches Gesamtkunstwerk

Ein sinnbildlicher Mensch In seinem letzten Brief an Carl Schmitt vom 23. August 1979 kommt Nicolaus Sombart auf die Begräbnisfeier Werner Sombarts im Juni 1941 in Berlin-Dahlem zu sprechen. Die Trauerarbeit für seinen Vater sei bis heute nicht abgeschlossen, schreibt der Sechsundfünfzigjährige. Jeden Tag frage er sich, was sein Vater ihm wohl zu diesem oder jenem zu sagen hätte. Das betreffe auch die Themen, mit denen er sich seit einigen Jahren intensiv beschäftige. „Mir ist auch durchaus bewusst, dass mein obstinates Eindringen in die Wilhelminische Zeit zu dieser permanenten Auseinandersetzung mit meinem Vater gehört. Und das muss ich auch von meiner, davon nicht zu trennenden, Beschäftigung mit Ihnen und Ihrem Œuvre sagen. So bewältigt jeder seine Vergangenheit, mit der entsprechenden Dosis von Nostalgie.“1 Zu dieser Vergangenheitsbewältigung gehört auch die Auseinandersetzung mit Wilhelm II., der auf Sombart eine eigentümliche Faszination ausübt. Sein 1996 erschienener Essay „Wilhelm II. Sündenbock und Herr der Mitte“ ist eine großangelegte Polemik gegen die Zunft der Historiker. Sombart präsentiert sich als „Dramaturg einer Neuinszenierung des Wilhelminismus.“2 Das mit vornehmlich negativen Wertungen verbundene Bild des Kaisers in der Öffentlichkeit reizt ihn zum Widerspruch. In Briefen an Carl Schmitt ist schon Mitte der siebziger Jahre von Recherchen über den Kaiser die Rede. Dabei weist ein 1919 erschienener Text Walther Rathenaus über den Monarchen Sombart die Richtung. „Alles Gescheite über ihn ist leider von Rathenau gesagt worden. Dem ist nichts hinzuzufügen – man kann aus den 60 nur 600 Seiten machen (was sich lohnen würde)“, schreibt er an Schmitt.3 Sombarts erster Versuch, das Bild Wilhelms II. zu revidieren, ist der Artikel „Der letzte Kaiser war so, wie die Deutschen waren“, der am 27. Januar 1979 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien und in dem Rathenaus verständnisvolles 1 Nicolaus Sombart an Carl Schmitt. Brief vom 23.8.1979. In: Tielke, Schmitt und Sombart S. 139f. In einer späteren Tagebuchnotiz wird dieser Tatbestand bestätigt. „Ritter [der Journalist Henning Ritter, G. E.] findet (spöttisch), daß ich in meiner Beschäftigung mit W. II. zu ungeschützt eigene Lebensprobleme aufarbeite. Es ginge mir um die Rehabilitation meines Vaters, den Wunsch, ihn aus dem Schatten Max Webers herauszuholen. Daher mein Bismarck-Haß, die leidenschaftliche Ablehnung Max Webers. Da ist etwas dran.“ (Sombart, Journal intime, S. 176.) 2 Gert Mattenklott, Grüne Nelke, heiliger Sündenbock. In: Handelsblatt, 2./3. Oktober 1996. 3 Nicolaus Sombart an Carl Schmitt. Brief vom 2.9.1976. In: Tielke, Schmitt und Sombart, S. 125.

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Porträt des Monarchen als vorbildlich gerühmt wird.4 Carl Schmitt findet den Verweis auf Rathenau genial. Sombart erwidert: „Der arme Kaiser! Er wird mir immer sympathischer. Im September machen wir ein Kaiser-Kolloquium in Korfu mit jungen englischen und amerikanischen Historikern!“5 Für Walther Rathenau, den späteren Außenminister der Weimarer Republik, war Wilhelm II. ein „sinnbildlicher Mensch“, in dem sich eine ganze Epoche spiegelte. Rathenau hat den Monarchen mehrfach persönlich getroffen und schildert einen Mann, der von dem Bild des großspurig auftretenden Souveräns deutlich abweicht. „Da saß ein jugendlicher Mann in bunter Uniform, mit seltsamen Würdenzeichen, die weißen Hände voll farbiger Ringe, Armbänder an den Handgelenken; zarte Haut, weiches Haar, kleine weiße Zähne. Ein rechter Prinz; auf den Eindruck bedacht, dauernd mit sich selbst kämpfend, seine Natur bezwingend, um ihr Haltung, Kraft, Beherrschung abzugewinnen. Kaum ein unbewußter Moment; unbewußt nur – und hier beginnt das menschlich rührende – der Kampf mit sich selbst; eine ahnungslos gegen sich gerichtete Natur.“6 Die Beschreibung des jungen Kaisers erinnert an den jungen Benjamin Disraeli, der als politischer Debütant im Kostüm eines butterfly dandy Aufsehen erregte. Als Premierminister unter Königin Victoria legte er diese affektierte Pose ab. Sein Erscheinungsbild nahm moderatere Formen an.7 Rathenau sieht in dem Kaiser einen Bezauberer und einen Gezeichneten. „Eine zerrissene Natur, die den Riß nicht spürt; er geht dem Verhängnis entgegen.“8 Er attestiert dem Monarchen Optimismus und Güte und einen unbekümmerten guten Willen. „Nichts aber ist ungerechter, als diesem Monarchen Grausamkeit des Herzens vorzuwerfen; sein Herz war weicher, als seine Güte es verlangte.“9 Was fehle, sei ein Korrektiv, um seinem sprunghaften Handeln eine Richtung zu weisen.

4 Ein Jahr später publizierte Sombart eine Fortsetzung, ebenfalls in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.2.1980). (Wieder abgedruckt in: ders., Nachdenken über Deutschland, S. 77–95.) Beide Texte gehen in den Essay über Wilhelm II. ein. 5 Nicolaus Sombart an Carl Schmitt. Brief vom 24.5.1979, in: Tielke, Schmitt und Sombart, S. 138. Die Ergebnisse des Korfu-Kolloquiums von 1979 erschienen unter dem Titel „Kaiser Wilhelm II. New interpretations; the Corfu papers“. Ed. by John C. G. Röhl and Nicolaus Sombart, Cambridge u. a. 1982. 6 Walther Rathenau, Der Kaiser (1919). In: ders., Schriften und Reden. Auswahl und Nachwort von Hans Werner Richter, Frankfurt am Main 1964, S. 249. 7 Vgl. Günter Erbe, Dandys. Virtuosen der Lebenskunst. Eine Geschichte des mondänen Lebens, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 71–77. 8 Rathenau, Der Kaiser, S. 249. 9 Ebd., S. 255.

Ein genialer Exzentriker

Ein genialer Exzentriker Die von Rathenau registrierten Persönlichkeitsmerkmale Wilhelms II. werden von Nicolaus Sombart in seiner Studie in einen Kontext gerückt, der von der traditionellen Geschichtswissenschaft bisher vernachlässigt wurde: einen sexualwissenschaftlichen. Der Kaiser sei seiner Natur nach weiblich und nur durch Erziehung und Funktionszuweisung in eine Rolle gedrängt worden, die dieser Natur widerstrebte: Repräsentant eines Machtstaates zu sein. Sombart setzt sich in seinem Essay demonstrativ vom herkömmlichen Kaiser-Bild der Historiker ab. Einem ihrer Vertreter, John C. G. Röhl, hält er vor, er liebe den Kaiser nicht, denn ohne Zuneigung zum Objekt der Forschung sei eine angemessene Darstellung nicht möglich. Dem Kaiser sei Unrecht geschehen. Sombart will durch sein Buch Wiedergutmachung leisten. Er sieht in der Regierungszeit Wilhelms II. „einen unbestrittenen Höhepunkt in der deutschen Nationalgeschichte.“10 Am Zusammenbruch des Zweiten Reiches trage der Kaiser keine Schuld, denn dieser sei schon im Gewaltakt seiner Gründung angelegt. Wilhelms erste große Tat war die Ausschaltung des Reichsgründers Bismarck. „Sofort wird sichtbar, daß es sich um eine ganz außergewöhnliche, vielseitige, schillernde, impulsive Persönlichkeit handelt, die auch ganz klare Vorstellungen von ihrer Mission hat: ein Ausnahmemensch, mit charismatischen Zügen.“11 Der Begriff „Ausnahmemensch“ gehört zu den sozialen Kategorien, die Sombart ausschließlich Angehörigen des Hochadels und prominenten Repräsentanten der Hochkultur vorbehält. So heißt es zum Beispiel über Rodin, Rilke, Hofmannsthal und Graf Kessler, mit denen Helene von Nostitz, eine große Dame der Belle Époque, Umgang pflegte: „Alles Ausnahmemenschen, die wie sie zutiefst einem aristokratischen europäischen Kulturideal verpflichtet waren.“12 Sombarts Persönlichkeitsideal gipfelt in solchen Ausnahmemenschen, die höchste Maßstäbe setzen und einem demokratischen, diese Maßstäbe außer Kraft setzenden Politik- und Kulturverständnis mit Skepsis oder Distanz gegenüberstehen, würde eine solche Kultur ihnen doch den Boden entziehen. Die genannten künstlerisch veranlagten Männer tragen alle etwas Weibliches in sich, das den Kern ihres Aristokratismus ausmacht. Sie weichen deshalb vom maskulinen, autoritären Habitus der typischen deutschen Männer ab. Freilich lässt sich nicht übersehen, dass nicht alle Angehörigen des deutschen Hochadels und der Hochkultur diesen Maßstäben genügen und der soldatisch männliche Typus unter ihnen nicht

10 Nicolaus Sombart, Wilhelm II. Sündenbock und Herr der Mitte, Berlin 2 1997, S. 14 (Erstauflage 1996). 11 Ebd., S. 19. 12 Sombart, Die Frau ist die Zukunft des Mannes, S. 44.

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selten vertreten ist. Schließlich lässt sich wohl kaum bestreiten, dass auch Otto von Bismarck ein „Ausnahmemensch“ mit charismatischen Zügen war. Sombart zählt zur Kategorie außergewöhnlicher Persönlichkeiten, die über ähnliche Wesenszüge verfügen wie der Kaiser, auch den Dichter Gabriele d‘Annunzio, die Schauspielerin Sarah Bernhardt, den Choreographen und Impresario Sergei Diaghilew und die Exzentrikerin Marchesa Casati. Um den Monarchen zu verstehen, reichten die normalen Maßstäbe nicht aus. Dies nicht begriffen zu haben, hält Sombart den zeitgenössischen Kritikern des Kaisers vor. „Die prätentiöse Besserwisserei eines Maximilian Harden, der professoral-arrogante Unmut eines Max Weber, der stocksteif-junkerliche Zorn eines Ernst von Reventlow, die Süffisanz eines Bernhard von Bülow – hat man je gefragt, woher diese Herren eigentlich ihre Maßstäbe nahmen?“13 Während in der Presseöffentlichkeit der wilhelminischen Ära die negativen Aspekte des ambivalenten Phänomens „Kaiser“ überwogen, sei er vom Volk geliebt worden. Für Sombart ist die Beurteilung des Kaisers durch das Volk ein verlässlicher Maßstab, denn auf symbolischer Ebene stünden sich die transzendentale, sakrale Figur des Königs und das Volk, als der reale Körper des Königs, gegenüber. Auf dieser Ebene verdichte sich das historische Geschehen zum Mythos. Sombart entrückt den Kaiser der Sphäre der Alltagswirklichkeit und stellt ihn in einen mythologischen Erzählzusammenhang. „Man kann das Rätsel Wilhelm II. nur lösen, wenn man diesen Ausnahmemenschen in den Kontext seiner Zeit stellt, ihn nicht lediglich als historische Figur behandelt, sondern in ihm den Exponenten einer Epoche, den Repräsentanten eines Volkes, den ‚sinnbildlichen Menschen‘ sieht. Seine schillernde Erscheinung hat eine archaisch-mythische Dimension und kommt als Ganzes nur in den Blick, wenn man sie als kulturhistorisches Phänomen wahrnimmt.“14 Wilhelm II. ist vor allem ein Fürst. Er besteigt den Thron in einem Augenblick, „in dem die Kaste, der er angehörte – in der europäisches Menschentum in der höchstmöglichen Form der Selbstverwirklichung zur Entfaltung gekommen war, in der das Sakrale seinen soziologischen Ort hatte – , bereits von dem dunklen Gefühl durchdrungen war, daß ihre Stunde geschlagen hatte.“15 In seinem Tractatus socio-logicus hat Sombart den Gipfelbereich der Gesellschaft, in dem Macht, Reichtum und Geist konvergieren, als einen Ort ausgewiesen, in dem das „Sakrale“ aufscheint. Unterhalb dieser Sphäre ist höheres Menschentum und volle menschliche Selbstverwirklichung nicht möglich. Der Fürst ist der Inbegriff des vollentwickelten, nicht-entfremdeten Menschen.

13 Sombart, Wilhelm II., S. 20. 14 Ebd., S. 25. 15 Ebd., S. 30.

Ein genialer Exzentriker

Wenn der Sozialutopist Sombart von einer in der Zukunft zu erreichenden Selbstverwirklichung des Menschen spricht, ist dieses soziologische Axiom stets mit zu bedenken. Ein Angehöriger des Bürgertums kann sich als Mensch nur in dem Maße selbst verwirklichen, als er Fähigkeiten und Möglichkeiten erwirbt, die denen des Fürsten gleichkommen. Es ist deshalb nur konsequent, dass immer dann, wenn Sombart in seinen emanzipatorischen Entwürfen konkret wird, von „Ausnahmemenschen“ die Rede ist, welche die höchstmögliche Form einer freien Entfaltung der Persönlichkeit zu erreichen vermögen. Die Durchschnittsmenschen sind nicht fähig, diese Stufe der Emanzipation zu erklimmen. Sombart erkennt in Wilhelm II. eine der markantesten Figuren des Fin de siècle. Er gehöre zur Kategorie der genialen Exzentriker und als ein Künstler seiner selbst sei er bestrebt, sein Leben wie ein Kunstwerk zu gestalten. „Als Kaiser hatte er allen anderen natürlich besonders exquisite Möglichkeiten der Selbstverwirklichung voraus.“16 Damit wird neben dem Fürsten ein anderer Typus ästhetischer Selbstvervollkommnung ins Spiel gebracht: der Dandy. Zu den Ausnahmemenschen mit dandyhaft-exzentrischen Zügen im Umfeld des Kaisers gehören sein Onkel, Eduard VII., als auch Angehörige der eleganten Welt, die einen kultivierten Müßiggang pflegen. In Deutschland ist zuvörderst Harry Graf Kessler zu nennen. Mit einem gewissen Recht lässt sich Wilhelm II. in diese Phalanx internationaler Inszenierungskünstler seiner Zeit einreihen. Es gibt in der Geschichte des Dandytums in der Tat den exzeptionellen Fall des arbiter elegantiarum auf dem Herrscherthron.17 Für Sombart stellt sich Wilhelm II. als ein solcher regierender Ästhet und Exzentriker dar. „Verglichen mit den Durchschnittsmonarchen seiner Zeit, hatte er einen ausgesprochen künstlerischen Sinn für die ästhetische Dimension der ihm schicksalsmäßig oktroyierten ‚allerhöchsten‘ Daseinsform – ausgenommen Ludwig II. von Bayern und der österreichischen Kaiserin Elisabeth, die er beide bewunderte.“18 Ein anderes Exemplar dieser Gattung – eine Generation später – ist der Enkel Eduards VII., Eduard VIII., Herzog von Windsor. Er entsagte dem Thron, um ein uneingeschränktes, von monarchischen Pflichten freies Leben als Dandy und

16 Ebd., S. 33. 17 Über den Unterschied zwischen Dandy und Fürst schreibt Rainer Gruenter: „Doch der Dandy als ästhetische Existenz und der Fürst als ästhetische Existenz sind zwar in ihren ästhetischen, nicht aber in ihren existentiellen Strukturen verwandt. Was der eine, der Fürst, legitim, de naissance, besitzt, muß der andere, der Dandy, prätendieren, vortäuschen, artifiziell durch die Disziplin seines Geschmacks konstruieren: das souveräne Subjekt, die gelebte Unabhängigkeit in Urteil und Handlung.“ (Rainer Gruenter, Der reisende Fürst. Fürst Hermann Pückler-Muskau in England. In: ders., Vom Elend des Schönen. Studien zur Literatur und Kunst. Hg. von Heinke Wunderlich, München/Wien 1988, S. 100.) Scheitert der Fürst als Dandy, bleibt immer noch der Fürst übrig. 18 Sombart, Wilhelm II., S. 33.

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Müßiggänger führen zu können. Auch Wilhelm II. – so sieht es Sombart – hätte es vorgezogen, „die Existenz eines englischen Country-squires zu führen, der seinen Hobbys nachgeht.“19 Erst im Exil sei es ihm vergönnt gewesen, seinen geheimen Lebenstraum zu verwirklichen. Auch hätte er es angesichts seiner geistigen Fähigkeiten leicht als homme de lettres zu Ansehen bringen können. Die Inszenierungskünste des Kaisers vermochten freilich nicht jeden seiner Untertanen zu überzeugen. Man kritisierte ihn wegen seines schlechten Geschmacks. Zu denken gibt, dass dieser Vorwurf auch von Harry Graf Kessler erhoben wird. Sombart weist den Vorwurf zurück, denn ein Kriterium wie „guter Geschmack“ sei für die Beurteilung eines Monarchen wie Wilhelm II. fehl am Platze. Schließlich setze er selbst die Geschmacksmaßstäbe. Anders sieht es unter dem Aspekt des Dandytums aus. Wilhelms Geschmack am schlechten Geschmack weist ihn als den Repräsentanten einer Verfallsstufe dieses männlichen Verhaltensmodells aus. Sein „schlechter“ Geschmack erfüllt wie bei Ludwig II. alle Voraussetzungen des „Camp“, einer Stilrichtung, die sich durch die Lust am Theatralischen, Aufgedonnerten, Übertriebenen auszeichnet und den Dandy im Zeitalter der Dekadenz und der Massenkultur charakterisiert.20 Dieser Stil ist bei den Dandys des Fin de siècle nicht selten anzutreffen. So lassen sich Elemente des Camp-Geschmacks bei D‘Annunzio und dem Herzog von Windsor nachweisen. Graf Kessler war von solcherart Übertreibungen weniger affiziert. Er gehörte eher dem klassischen Typus des Dandys an, der gegen das Kokettieren mit Elementen des Kitsches gefeit war. Kessler berichtet in seinem Tagebuch süffisant über Plünderungen im Berliner Schloss im Zuge der revolutionären Unruhen 1918: „Die Privaträume, Möbel, Gebrauchsgegenstände, übriggebliebenen Andenken und Kunstobjekte der Kaiserin und des Kaisers sind aber so spießbürgerlich nüchtern und geschmacklos, daß man keine große Entrüstung gegen die Plünderer aufbringt, nur Staunen, daß die armen, verschreckten, phantasielosen Wesen, die diesen Plunder bevorzugten, im kostbaren Gehäuse des Schlosses zwischen Lakaien und schemenhaften Schranzen nichtig dahinlebend weltgeschichtlich wirken konnten.“21

19 Ebd., S. 44. 20 Vgl. Günter Erbe, Anmerkungen zum modernen Dandy. In: Sinn und Form 72 (2020), H. 2, S. 186–193. 21 Harry Graf Kessler, Tagebücher 1918–1937. Hg. von Wolfgang Pfeiffer-Belli, Frankfurt am Main 1961, S. 86. Eintragung vom 28. Dezember 1918.

Ein typischer Décadent

Ein typischer Décadent Für eine Ehrenrettung des Kaisers bemüht Sombart den Kulturhistoriker Egon Friedell, der in dem Monarchen einen typischen Décadent erblickt. Das Wesen der Décadence sei Übertreibung, Disproportion und Nicht-Harmonie. Mochte das Etikett „Décadent“ Wilhelm II. auch wohl anstehen, so scheut Sombart doch davor zurück, einen Regenten, der der sakralen Sphäre zugehört, mit einem mondänen Modehelden wie dem dekadenten Dandy in Verbindung zu bringen und ihn dieser Kategorie zuzuschlagen. Wilhelm II. sei „ein äußerst sensitiver, differenzierter, geistreicher, eleganter, vielseitig interessierter, den Umgang mit bedeutenden Persönlichkeiten aus allen Lebenssphären suchender Grandseigneur.“22 Begriffe wie Décadent oder Dandy eigneten sich nicht als Maßstab zur Beurteilung dieses Phänomens. „Der einzig adäquate Maßstab, mit dem die Herrschaft Wilhelms II. gemessen werden kann, ist das Modell des ‚sakralen Königtums‘. Der methodologisch richtige Umgang mit dem ‚Sakralen‘ fordert eine eigene Semantik. Es findet seinen Ausdruck nicht in Rechtsnormen, in Institutionen, in rationalen Handlungsabläufen, sondern in Zeremonien, Ritualen, sinnstiftenden Akten und Aktionen, in Bildern.“23 Nun ist der Dandy eine Art säkularisierter Heiliger, der sein Leben strengen Ritualen unterwirft. Diese gehören allerdings der profanen Sphäre an und haben am Sakralen, wie Sombart es versteht, keinen Anteil. Der Monarch entzieht sich durch sein Gottesgnadentum dem Bereich alltäglichen Handelns. Er entzieht sich damit auch jedweder politisch-soziologischen Beurteilung, da der Bereich praktischer Politik ihn in seiner transzendentalen Position nicht wirklich tangiert und nicht seiner Verantwortung unterliegt. Er kann folglich auch nicht für politische Fehler haftbar gemacht werden. Der einzige Zugang zu ihm führt über die Vermessung der Sphäre des Ästhetischen. „Deshalb der Vorschlag, diese zeitlich-räumliche, symbolisch-funktionale, phantastisch-reale Großkomposition ein Gesamtkunstwerk zu nennen, um das Phänomen, um dessen Verständnis es geht, zu erfassen: die Epiphanie des sakralen Königtums im Wilhelminischen Reich.“24 Das Modell des sakralen Königtums sei ein metahistorisches, metapsychologisches Strukturmodell. „Er ist der ‚Mittler‘ - geistig, politisch, sozial zwischen unten und oben, Ost und West, Nord und Süd, männlich und weiblich, Land und Meer. Er ist damit der Garant des sozialen Ausgleichs und der sozialen Gerechtigkeit.“25 Der Kaiser stehe in der Mitte zwischen Land und Meer – Heer und Flotte. Er sehe sich in der Rolle des Vermittlers. „Das war die Weise, in der er Politik mach22 23 24 25

Sombart, Wilhelm II., S. 39. Ebd., S. 92. Ebd., S. 93. Ebd., S. 95.

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te: in punktuellen, symbolischen, sinnstiftenden Einzelaktionen, die sich, freilich über die Jahre verteilt, zu einem kohärenten Ganzen, zu seinem Konzept einer kontinentaleuropäischen Friedensordnung zusammenfügen sollten.“26 Mit diesem schmeichelhaften Urteil setzt sich Sombart in Gegensatz zu zahlreichen Zeitgenossen und der Mehrzahl der Historiker. Sie bemängeln gerade die mangelnde Kohärenz seiner Politik. Der Intention nach mochte der Kaiser ein Friedensfürst sein. Durch seine unbedachten, prahlerischen Reden und Deklarationen habe er – so seine Kritiker – erheblich dazu beigetragen, den Krieg unausweichlich zu machen.

Ein effeminierter Monarch Was Sombart dem Kaiser erspart – das Anlegen einer tiefenpsychologischen Sonde – , handhabt er mit detektivischer Akribie im Umgang mit dessen Kritikern. Ein Teil ihres Aggressionspotentials fließe in das monarchische Über-Ich ein. „Man ist zwar Monarchist – aber man leidet unter den Verhältnissen dieser Monarchie und fixiert seinen Unmut auf ihren höchsten Repräsentanten (...) Man will ihn anders, als er ist, sieht ihn anders, als er ist. Man nörgelt, sieht schwarz, weiß es besser als er, man karikiert ihn. Man phantasiert. Kurz: Man beurteilt ihn ungünstig, weil man unglücklich ist.“27 Die meisten Kritiker – so Sombart – schöpften aus obskuren Quellen. Viele dieser Stimmen messen den Kaiser an Bismarck. Dabei würden sie verkennen, dass das von Bismarck gegründete Reich nicht von Dauer sein konnte und seit seiner Gründung zum Untergang bestimmt gewesen sei, ein reiner Machtstaat mit aggressiven Zügen nach und innen und außen, während Wilhelm II. das Unmögliche versucht habe, nämlich den Frieden zu stiften und zu erhalten. Aus seiner negativen Beurteilung des durch Bismarcks Politik geschaffenen Deutschen Reiches als eines monströsen Machtstaates leiten sich alle weiteren politischen Folgerungen und Werturteile Sombarts ab. Die Kritik an Wilhelm II. sei der Perspektive des Machtstaates und der Machtpolitik verhaftet. Dabei war dieser Kaiser kein Politiker, kein Staatsmann im Bismarckschen Sinne. „Was war er aber dann? Das Schlimmste, was man sein kann an der Stelle, wo ein Politiker hingehört: Er war ein Idealist, oder, was noch schlimmer ist, ein Romantiker.“28 Es sei die Assoziation des Romantischen mit dem Weiblichen, die das negative Urteil über Wilhelm II. begründe, ein Urteil, das schon über seinen Großonkel

26 Ebd., S. 127. 27 Ebd., S. 134. 28 Ebd., S. 139.

Ein effeminierter Monarch

Friedrich IV. ergangen sei. „Hinter dem Romantiker zeichnet sich nun, für die Kaiserkritiker ausschlaggebend, eine weitere Abweichung von der Idealvorstellung des ‚richtigen Politikers‘ ab: Der Kaiser war kein Mann, das heißt, kein richtiger Mann nach preußisch-deutschen Vorstellungen (…). Mit anderen Worten: Er war zu weich, zu weibisch.“29 Die Ressentiments seiner Kritiker, die Wilhelm II. zu große Weichheit und Mangel an Willenskraft vorwerfen, da er es von Natur aus an Männlichkeit fehlen lasse, werden von Sombart in aller Ausführlichkeit dargelegt. In der Beurteilung der Angriffe des Journalisten Maximilian Harden auf den Kaiser und den ihn umgebenden Liebenberger Freundeskreis kommt Sombart zu dem Schluss, Harden, ein assimilierter Jude und Monarchist, liebe insgeheim den Kaiser und neide Fürst Philipp Eulenburg dessen Einfluss. Harden ist für Sombart die exemplarische Verkörperung und das Sprachrohr der „deutschen Männer“, die sich gegen die vermeintliche oder tatsächliche Homosexualität ihrer politischen Gegner wenden. Die investigative sexualwissenschaftliche Beweisführung Sombarts gerät freilich in Kalamitäten, wo es gilt, die politischen Ansichten der Betroffenen aus ihrer sexuellen Orientierung abzuleiten. Mal liebt Harden den Kaiser, mal steht er auf der Seite Bismarcks. Für beide Neigungen liefert die Analyse seiner sexuellen Orientierung Anhaltspunkte. Ein Zusammenhang zwischen sexuellen Vorlieben und politischen Werturteilen wird nicht überzeugend nachgewiesen. Es bleibt bei Konstruktionen und Mutmaßungen. Für Harden und seinesgleichen stehe fest, dass Politik eine Sache ganzer Männer sein müsse. Effeminierte Männer taugten nicht für dieses Geschäft. „Die Frage nach der richtigen Politik des Deutschen Reiches wurde gestellt als Frage nach den richtigen Männern. Ein fatales Quidproquo, weil das Unterscheidungskriterium für richtig und falsch nicht auf eine kritische Abwägung gegensätzlicher politischer Strategien bezogen war, sondern auf die Klärung des Sexualverhaltens der Protagonisten nach § 175 des Strafgesetzbuches.“30 Sombart bemüht sich freilich ebenso wenig um eine „kritische Abwägung gegensätzlicher Strategien“, sondern operiert mit der gleichen Methode des Sexualverdachts wie Harden, nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Der weiche, feminine Kaiser wird zum Friedenskaiser verklärt, alles „Männliche“ dagegen ist der Tendenz nach bellizistisch. Sombart spricht vom Mythos eines nationalen Missgeschicks, der das Geschichtsbewusstsein der Deutschen beherrsche. Dieser Mythos „entlastet Bismarck – und seine Handlungsgehilfen – von den Folgen der historischen Tat der Reichsgründung und lastet die gesamte Verantwortung für das Scheitern dem Kaiser an.“ 31 Die

29 Ebd., S. 140. 30 Ebd., S. 193. 31 Ebd., S. 224.

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Reichsgründung sei „ein den wahren Beruf der Deutschen“ verratender Gewaltakt. Mit dieser These steht und fällt Sombarts Deutung der Rolle des Kaisers. Zielscheibe seiner Kritik ist das sogenannte „Gewaltpragma“, als dessen prominentester Vertreter Max Weber gilt. Dabei wird verkannt, dass auch andere Nationalstaaten – so die meisten westlichen Demokratien – durch Gewaltakte und Bürgerkriege und nicht durch friedliches Verhalten der beteiligten Kräfte entstanden sind.32

Man muss den Kaiser lieben Nicolaus Sombarts Essay über Wilhelm II. liest sich stellenweise wie ein Wunschporträt. Der Persönlichkeit des Monarchen werden Attribute zugeordnet, die Sombart selbst gern für sich in Anspruch nimmt und die sich in der Beurteilung seiner Person durch kritische Stimmen immer wieder finden. Wenn es bei ihm heißt, das öffentliche Geschichtsbewusstsein sehe im Kaiser einen leichtsinnigen, großsprecherischen, vergnügungssüchtigen Dilettanten, so lässt sich nicht übersehen, dass er selbst sich häufig mit solchen Verdikten konfrontiert sah. Wenn er über den Kaiser schreibt: „Kein Zweifel, der Mann hatte etwas Provokantes, Unberechenbares, Unbequemes. Er ging den Leuten auf die Nerven“,33 so wird damit ein Urteil ausgesprochen, dass sich in nicht wenigen Rezensionen der Bücher Sombarts wiederfindet. Sombarts Wiedergutmachungsversuch führt zu dem Resultat, Wilhelm II. sei ein wesentlich unpolitischer Mensch, ein Idealist und Romantiker. Der Kaiser, das wenigstens sei ihm zu gönnen, solle in den Genuss kommen, „was ich den ‚Benjamin-Bonus‘ nennen möchte.“34 Gemeint ist, was Walter Benjamin in seiner Studie „Ursprung des deutschen Trauerspiels“ über die Tragik allen Herrschertums ausgeführt hat. Könnte mit dem „Benjamin-Bonus“ aber nicht noch etwas anderes gemeint sein? Wilhelm war neunundzwanzig Jahre alt, als er die Kaiserwürde annahm. Auf ihn richtete sich die Erwartung, das Amt so auszufüllen wie seine Vorgänger. Sah sich der junge Nicolaus Sombart nicht in einer ähnlichen Situation? 32 Sombart hat seine Sicht der deutschen Geschichte in einem Beitrag für die „Zeit“ ausführlich dargelegt. Eine Alternative zum Bismarckschen Gewaltstaat wäre eine pluralistisch-föderale Ordnung gewesen, „wie sie in der mitteleuropäischen Reichstradition, zuletzt im Deutschen Bund (1815–1866) historisch vorgeformt war – einem großdeutschen Bund, der sich mühelos in eine europäische Föderation hätte einfügen können“. (Nicolaus Sombart, „Kein Nationalstaat“, in: Die Zeit vom 12. Oktober 1984. Wieder abgedruckt in: ders., Nachdenken über Deutschland, S. 74–76, hier S. 76.) Der Text war als Redebeitrag für eine Tagung der „Historischen Kommission“ bestimmt, die am 16./17. Juni 1983 in Berlin stattfand, wurde aber dort nicht vorgetragen. Vgl. Sombart, Journal intime, S. 173–175. 33 Ebd., S. 20. 34 Ebd.

Man muss den Kaiser lieben

Will er nicht sagen, auch ihm, Sohn eines berühmten Wissenschaftlers, möge man Gerechtigkeit widerfahren lassen und einen „Benjamin-Bonus“ einräumen?35 Nicolaus Sombart hatte es schwer, aus dem Schatten seines Vaters heraus zu treten. Er musste es sich gefallen lassen, stets an diesem gemessen zu werden. Oft wurde er dabei als Wissenschaftler für zu leicht befunden. Das Buch über den Kaiser sollte Nicolaus Sombart die Sympathien der Hohenzollern einbringen.36 Eine Anekdote seines einstigen Freundes und Kollegen John C. G. Röhl, des Biographen Wilhelms II., wirft darauf ein Schlaglicht. „Nicolaus Sombart, mit dem ich anfangs gut befreundet war, war ein glühender Verehrer des Kaisers und warf mir mehrfach (auch öffentlich) vor, ‚den Kaiser nicht zu lieben‘ (…) Im Laufe der Zeit wurde die Kluft zwischen uns in der Einschätzung Wilhelms II. immer größer – bis 1983 der unausbleibliche Bruch in aller Öffentlichkeit (…) eintrat.“37 Röhl verdankte den Zugang zum Archiv der Hohenzollern offensichtlich der Fürsprache Sombarts. „Nach einem Besuch bei Prinz Louis Ferdinand im Wümmehof bei Bremen erklärte mir Nicolaus Sombart in seiner Traumwohnung in Paris begeistert: ‚Denk dir, John, letzte Woche habe ich meinen Kaiser in meinen Armen gehalten.‘ Während ich ihn anstarrte (verwirrt, bis ich begriff, dass er Louis Ferdinand für seinen Kaiser hielt), teilte er mir noch die erfreuliche Nachricht mit, er habe bei der Gelegenheit für mich auch die Erlaubnis zur Benutzung des Hohenzollern-Archivs in Hechingen erwirkt. Bald darauf erhielt ich in der

35 In einem Porträt Nicolaus Sombarts spricht Dirk van Laak von seinem Dasein „als ‚Kronprinz‘ und potentieller Schwiegersohn inmitten der Berliner ‚society‘“ vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges. Vgl. Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens, S. 266. 36 Im Nachlass Nicolaus Sombarts befinden sich mehrere Briefe Wilhelm Karl von Preußens (1922–2007), des Enkels Wilhelms II., in denen dieser sich für Sombarts Bemühen bedankt, den Kaiser in einem helleren Licht erstrahlen zu lassen. Gleichwohl spart der Prinz von Preußen nicht mit Kritik an Sombarts Bismarckbild und der Charakterisierung des Zweiten Reiches als einer Fehlkonstruktion. Vgl. NL N. Sombart 405, 1054 a. Das Echo in der Historikerzunft auf das „Kaiserbuch“ war überwiegend kritisch. Sombart ignoriere den neueren Forschungsstand, lautete der Vorwurf. Den männerbündlerischen Hintergrund des Handelns des Monarchen genauer beleuchtet zu haben, wurde ihm dagegen als Verdienst angerechnet. 37 John Röhl, Showdown im Turmzimmer. Wie der Historiker John Röhl erst Zugang zum Hohenzollern-Archiv erhielt – und dann nicht mehr. In: Berliner Zeitung vom 29. August 2019, S. 21. Die Differenzen traten anlässlich eines Vortrags Sombarts im Berliner Wissenschaftskolleg im April 1983 offen zutage. Sombart schreibt über den Anwesenden John Röhl: „Ein Kapitel für sich: John Röhl, der uns seinen Kaiser vorführte, das grausame Monstrum. Das Schlimme war, daß er insistierte und überall herumging, um die ‚Haltlosigkeit‘ meiner Theorien zu beweisen und die seinen zu ‚verkaufen‘, er, der Historiker, der aus den ‚Quellen‘ arbeitet. Das Benehmen eines kleinkarierten Karrieristen mit einem mir immer unbegreiflichen Kaiserhaß (…) auf jeden Fall ist die Röhl‘sche Methode der Beweis für die Insuffizienz der historischen Methode vor so einem Phänomen (...)“. (Sombart, Journal intime, S. 117.)

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Wilhelm II. Ausnahmemensch und wagnerisches Gesamtkunstwerk

Tat das Schreiben des ‚vormals regierenden preußischen Königshauses‘ mit der Benutzungsgenehmigung.“38 Als Röhl nach Durchsicht der Archivakten beschloss, einen Dokumentarfilm über den Kaiser für die BBC zu drehen, wurde ihm der erneute Zugang zu den Akten verwehrt. Inzwischen war sein kritisches Bild des Kaisers bekannt geworden. Er war in Ungnade gefallen. „Ich denke, die Beziehungen Nicolaus Sombarts zum ehemals regierenden preußischen Königshaus werden im Hintergrund eine Rolle gespielt haben.“39 Röhls dreibändiger Kaiser-Biographie tat dies keinen Abbruch. Ein vierter Band sollte jedoch nicht mehr zustande kommen.

38 Berliner Zeitung, ebd. 39 Ebd.

X.

Wiederentdeckung Ernst Jüngers

Ein Herr als-ob Als der Dichter am 29. März 1995 seinen 100. Geburtstag beging, sah sich Sombart zu einem erneuten Versuch veranlasst, das Phänomen Ernst Jünger zu erfassen. Im Berliner „Tagesspiegel“ würdigte er den Autor in einer Weise, die alle jene Argumente, die er 1968 gegen ihn angeführt hatte, rigoros umstieß, als hätte es sie nie gegeben.1 In Wahrheit – so zeigte sich jetzt – fühlte sich Sombart zutiefst von Jünger angezogen. Das betraf nicht nur den „entmilitarisierten“ Jünger, in dessen Nachbarschaft Carl Schmitt ihn rückte, sondern auch den soldatischen, asketischen Typus, den Herrenmenschen. Die Verwandtschaft zwischen Jünger und Sombart lässt sich mit dem Begriff Dandyismus umschreiben. Der Sozialtypus des Dandys ist das Bindeglied zwischen dem Hedonisten und Erotiker Nicolaus Sombart und dem Kriegshelden und Liebhaber der Dekadenz Ernst Jünger. Sieht Sombart in Max Weber und Carl Schmitt eher Männer mit deutschnationaler Verwurzelung in der Provinz, so erkennt er in Jünger den Weltmann, der – wie er selbst – sich mehr der französischen als der deutschen Kultur verbunden fühlt. Offenbar stellt der Dandy für Sombart keine bloße Männerphantasie dar, die sich durch obstinate Geringschätzung des Weiblichen auszeichnet, sondern eine Figur, in der sich Feminines und Maskulines in einem eigentümlichen Mischungsverhältnis befinden. Traten im Gefolge der 68er-Bewegung die libertären Züge Sombarts in den Vordergrund und entpuppte er sich zusehends als Anwalt der Frauen und Propagandist der sexuellen Revolution, so lässt sein neues Jünger-Porträt einen anderen Sombart zu Tage treten: den von sprachlicher Artistik und herrenhaftem Auftreten beeindruckten Ästheten. Es sind die gelungene sprachliche Formulierung, die geistreiche Anekdote, der Sinn für Stil, die ihn für Jünger einnehmen, ein Wesenszug, den Carl Schmitt seinerseits an Nicolaus Sombart schätzte. „Er findet immer überra-

1 Vgl. dazu das „Zeitmosaik“ in der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 21.4.1995, in dem Passagen aus beiden Texten einander gegenüber gestellt werden. Ein Gegenstück zu seiner Neubewertung des Dichters im „Tagesspiegel“ bildet Sombarts Besprechung der Ernst-Jünger-Performance des Choreographen Johann Kresnik in der Berliner Volksbühne. Sie schreibt die Genealogie SchmittJünger fort. „Die Selbstvergötterung des Mannes, der Männlichkeitswahn auf Kosten der Frauen – das ist Kresniks Thema“. Man könne es auch das „Ernst-Jünger-Syndrom“ nennen. Vgl. Nicolaus Sombart, Im Blechgeschepper. Johann Kresniks „Ernst Jünger“, ein Stück über die deutschen Männer und ihre Feinde. In: Die Tageszeitung vom 2. Januar 1995, S. 16.

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Wiederentdeckung Ernst Jüngers

schende Aperçus, wofür ich eine Schwäche habe“2 , schreibt er an den französischen Politikwissenschaftler Julien Freund, den Sombart heftig angegriffen hatte. Jünger ist für Sombart schlechthin der Zeuge des Jahrhunderts, wobei sich in Werk und Person des Autors die Befindlichkeiten der Deutschen wie bei niemand sonst widerspiegeln. Nach 1945 habe Jünger eine Entwicklung vollzogen – die Versöhnung mit der in der Bundesrepublik entstandenen Demokratie – , die ihn anders als Carl Schmitt, der im Ressentiment verharrte, zum Zeitzeugen prädestiniere. „Mehr als jeder andere kann er für sich in Anspruch nehmen, der Chronist eines Jahrhunderts zu sein – seines Jahrhunderts. Wenn er nicht das sittliche Gewissen der Nation war, so war er ihr ‚stilistisches Gewissen‘.“3 Das hatte früher anders geklungen, als Sombart den Ästhetizismus Jüngers mit dem Perfektionismus Adolf Eichmanns verglich und von einer harmlosen Form rechtsrheinischen Kitsches die Rede war. Sombart ist davon angetan, dass Jünger „seine höchstpersönlichen Ansichten über die Zeitläufe immer in souveräner Mißachtung des MainstreamDiskurses“ formulierte, ein „Partisan des Weltgeistes“, ein „Einzelgänger, der auf Distanz hält, als Outsider, der auf Distanz gehalten wird.“ Sombart findet Worte der Würdigung des Autors, die deutlich die Verbundenheit, ja Identifikation mit ihm verraten. Es seien vier verschiedene deutsche Traditionen, die Jünger in seiner Person verkörpere. Da ist erstens der preußische Offizier „mit dem aristokratischen Ethos des Herrschens und Dienens, der Selbstzucht und Ritterlichkeit, Militarismus als geistige Haltung, Heroismus als männlicher Härtetest.“ Es muss erstaunen, dass Sombart dem von ihm doch verabscheuten soldatischen Typus plötzlich Respekt bezeugt. In Jünger sieht er nun nicht mehr wie 1968 den Kleinbürger, sondern den durch den Orden Pour le mérite nobilitierten Bürgersohn, so wie er selbst sich durch die Berühmtheit seines Vaters geadelt fühlte. Mit Jünger verbindet ihn zweifellos die aristokratische Grundhaltung, die Haltung des Herrn. Was bei dem einen die Anlehnung an den Adelskanon des deutschen Offiziers ist, ist bei dem anderen die Orientierung am Verhaltenskodex der „großen Welt“.4 Zweitens entdeckt Sombart bei Jünger eine männerbündische Sprachmagie, wie sie im George-Kreis zelebriert wurde. Jünger herrsche durch sprachliche Meis-

2 Carl Schmitt an Julien Freund (1921–1993). Brief vom 24.2.1976. In: Tielke, Schmitt und Sombart, S. 112. 3 Nicolaus Sombart, Der Dandy im Forsthaus. In: Der Tagesspiegel vom 29.3.1995, S. 25. Die folgenden Zitate sind diesem Artikel entnommen. 4 Norbert Elias sieht in Jüngers Roman „In Stahlgewittern“ eine Verherrlichung des bürgerlichen deutschen Offiziers. „Im Brennpunkt steht der Leutnant und Kompanieführer bürgerlicher Herkunft, der völlig an den Adelskanon des deutschen Offiziers assimiliert ist, der sich selbst mit Stolz als Mitglied der deutschen Offizierskaste mit ihrem sehr prononcierten und distinguierten Verhaltensritual empfindet.“ (Elias, Studien über die Deutschen, S. 278f.)

Ein Herr als-ob

terschaft. Doch da sei drittens noch ein anderer Jünger: der zurückgezogen, fern vom Treiben der Großstadt lebende „Stille im Lande“. „Forsthaus gegen Kaffeehaus und Salon. Das ‚einfache Leben‘ als ‚Mutterboden der deutschen Kultur‘“, der weltfremde Eigenbrötler und „Anarch“. Hier wird allerdings eine Differenz zum geschätzten Dichter offensichtlich. Sombart ist ein Salonmensch und fühlt sich in der Großstadt zuhause. Er sieht sich als Teil einer mondänen Boheme und hält Abstand zur ländlichen Idylle. Er fühlt sich wohl in der Rolle des von den Deutschnationalen einst verfemten „Zivilisationsliteraten“ und aufgehoben in einer urbanen Lebenswelt. Schließlich stellt Sombart einen weiteren Zug Jüngers heraus: den des Spezialisten und Sammlers, der seinen Forschungstrieb auf ein einziges Gebiet konzentriert: die Entomologie. Sombart erkennt in den beschriebenen Wesenszügen des Dichters etwas zutiefst Deutsches. Sie seien Ausdruck des deutschen Sonderweges, der sich in der Person Jüngers exemplarisch manifestiere. „All das ist deutsch, schrecklich deutsch und hat zu tun mit ‚Eigentlichkeit‘, ‚Innerlichkeit‘ und ‚Gewissen‘, ist preußisch, protestantisch, professoral, provinziell – weltfremd, weltfeindlich, fundamentalistisch und entspricht haargenau einer bestimmten Vorstellung von deutscher ‚Kultur‘ und deutschem ‚Sonderweg‘, läßt sich ideologiekritisch mühelos mit den ‚Ideen von 1914‘ in Zusammenhang bringen.“ Jünger verkörpert mithin Eigenschaften, die dem weltläufigen Sombart zutiefst suspekt sind, ja er erscheint als Inbegriff alles dessen, was Sombart für seine Person entschieden ablehnt. Bei näherer Betrachtung ist jedoch Vorsicht geboten. Weltfremdheit und Weltfeindlichkeit lassen sich dem vielgereisten Jünger wohl kaum nachsagen. Jünger war wie Sombart ein Liebhaber der Stadt Paris, wo er als Besatzungsoffizier das Salonleben schätzte. Es existiert auch eine mondäne Seite Jüngers, doch im Nachkriegsdeutschland bevorzugte er das zurückgezogene Leben in der Provinz. Er wohnte in der einstigen Oberförsterei des Schlosses der Stauffenbergs in Wilflingen, einem großzügiger Barockbau mit dreizehn Zimmern und Garten, um den ihn der Schlossliebhaber Sombart gewiss beneidete.5 Jünger hatte erreicht, was Sombart erträumte: das Leben eines homme de lettres in einer angemessenen wohnlichen Umgebung. Es musste nicht ein Schloss sein. Es genügte auch ein repräsentatives

5 Über Jüngers Wohnstätte in Wilflingen schreibt Franz Schwarzbauer: „Hier fand Jünger jenes ‚Gewand eines großen Herren‘ (um den Vergleich aus ‚Heliopolis‘ aufzunehmen), das ihm von Jahr zu Jahre ‚bequemer‘ wurde. In ihren 13 Zimmern war ausreichend Platz für die Sammlungen, hier konnten sie ihre Aura entfalten, die das Haus zu einem ‚fürstlichen Naturalienkabinett der frühen Neuzeit‘ machte. Hier konnte Jünger jene Lebensform kultivieren, die nicht mehr einen Stand, nicht Macht oder Tradition repräsentierte, sondern den homme des [!] lettres., der von sich wusste: ‚[I]ch bin nicht elitär, ich bin solitär.‘“ (Franz Schwarzbauer, Ernst Jünger in Ravensburg. In: Spuren 91, Marbach am Neckar 2010, S. 16.)

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Wiederentdeckung Ernst Jüngers

Forsthaus. Das Elitäre wird zum Solitären sublimiert. Der „Waldgänger“ ist ein Einsamer in Gesellschaft. Er eckt an, er bleibt ein Außenseiter, er widerstreitet dem Zeitgeist. Diesem großen Unzeitgemäßen werden gleichwohl Ehrungen zuteil. In Jünger spiegelt sich Sombarts Lebenstraum wider. Als Schriftsteller geehrt zu werden, und sich dabei von den gewöhnlichen Geehrten abzuheben. Sombart imaginiert sich in die Reihe der Großschriftsteller, der Ausnahmemenschen, in Distanz zu den durchschnittlichen Literaten, weniger durch literarische Könnerschaft als durch den Habitus des großen Herrn. Dieser ist freilich ein „Herr als-ob“, wie ihn Jünger in „Eumeswil“ dargestellt hat.6 Auch Innerlichkeit ist eine Eigenschaft, die man dem stets als präziser Beobachter der Außenwelt auftretenden Tagebuchschreiber kaum wird zuschreiben können. Sombart liebt es, um der Pointe willen, den Gegenstand seiner Analyse auf ein bestimmtes Maß zurechtzustutzen. Die Pointe lautet, „daß diese vier Komponenten deutschen Wesens, die zur Substanz der geistigen Gestalt Ernst Jüngers gehören, zusammengehalten werden durch ein dominierendes Prinzip, das überhaupt nicht deutsch ist, im deutschen Kulturraum keine Heimat hat, vielmehr der feindlichen, westlichen Kultursphäre entstammt: Das Ideal des Dandyismus.“ Ein überraschender Befund. Der durch typisch deutsche Neigungen und Eigenarten gekennzeichnete Dichter trägt in sich einen diesen Eigenschaften diametral entgegen gesetzten Wesenszug, der mit dem Wort „Dandyismus“ umschrieben wird. Demnach kann Jünger doch nicht der typische Deutsche sein. „Der Dandyismus“ - schreibt Sombart – „ist weltläufig, weltmännisch, mondän, snobistisch und hat in den Weltstädten Paris und London seine sozialtypische Ausprägung gefunden.“ Der Provinzler, Käfersammler, Waldgänger Jünger ein Dandy? Vielleicht eine besondere deutsche Spielart desselben? Die Attribute, die Sombart mit dem Dandytum verbindet, sind solche, die seinem eigenen Verhaltensideal entsprechen: das Weltläufige, Weltmännische, Mondäne und Snobistische. Das Letztere auch, denn für Sombart ist der Snobismus ein Hang zur Selbstveredelung und nicht eine Geste der Subalternität, die einem jeden Dandy fremd ist. Mit der Einvernahme Jüngers in den Bezugskreis des Dandyismus rückt Sombart den Dichter näher an sich heran. In früheren Auseinandersetzungen mit Jünger war dieser Aspekt nicht berücksichtigt worden. Offenbar hatte Sombart in der

6 Lutz Niethammer schreibt über Jüngers Roman „Eumeswil“: „Das Ideal des ebenfalls hochindividualistischen (die Literatur nennt ihn ‚Dandy‘ oder ‚Abenteurer‘) und Heidegger verbundenen Rechts-Hegelianers ist die Herstellung einer inwendigen Freiheit als Kompensation für eine verlorene gesellschaftliche. Dieses Ideal wird von einem ‚Herrn als-ob‘ realisiert, einem soldatischen Mann, der im Zivilberuf Kellner und Historiker in den Diensten eines kleinen Militärdiktators in einer nach-katastrophalen Zukunft ist, in der aber alles gleichgeblieben ist.“ (Niethammer, Posthistoire, S. 84.)

Désinvolture im Schützengraben

internationalen Café Society Bekanntschaft mit dieser zentralen Figur des europäischen Ästhetizismus gemacht. Erst in den neunziger Jahren finden sich Belege, dass er diesem Typus auch literarisch stärkeres Interesse entgegenbringt. In seinen Auseinandersetzungen mit den „deutschen Männern“ kommt der Dandy indes gar nicht vor, denn Männer der Wissenschaft wie Max Weber und Carl Schmitt oder auch sein Vater Werner Sombart boten dazu keinen Anlass. Seine Pariser Lehrjahre mochten Sombart in dieser Hinsicht Anschauungsunterricht erteilt haben, da unter französischen Gelehrten die Attitüde des Dandys nicht selten anzutreffen war. Mit Hilfe der Kategorie „Dandy“ hat Sombart einen Schlüssel gefunden, die Gesellschaft der deutschen Männer differenzierter zu betrachten, denn das Dandytum war keineswegs nur eine Sache des angelsächsischen oder romanischen Kulturkreises. Es war europaweit verbreitet. Auch im Berlin der wilhelminischen Ära gab es exklusive Klubs, in denen elegante Männer mit den Allüren des Dandys sich ein Stelldichein gaben. Von der Generation des Fürsten Pückler bis zu der des Grafen Kessler und des Barons von Eelking, dem Herausgeber des „Herrenjournal“, finden sich in Preußen eine ganze Reihe von meist adligen hommes du monde, die sich mit Fug und Recht als Dandys bezeichnen lassen. Dazu gehören auch Vertreter des Militäradels. Wie in England und Frankreich war der Dandy in Gestalt des Offiziers in Deutschland keine Seltenheit. Zweifellos fand die soldatische Ausprägung des Dandys in preußischen Offizierskreisen besonders günstige Entwicklungsbedingungen vor. In diese Tradition gehört der Leutnant und spätere Hauptmann Ernst Jünger.

Désinvolture im Schützengraben7 Bei der Abfassung seines ersten Kriegstagebuchs „In Stahlgewittern“ (1920) ist sich der 25-jährige Jünger bewusst, dass er in nationalen Kreisen als Kriegsheld hohes Ansehen genießt. Er sieht die Zeit gekommen, die Früchte seines Heldentums zu ernten. So lässt er im Text keine Gelegenheit aus, um seinen außerordentlichen Mut und sein Draufgängertum zu bezeugen. Von seinen Kameraden und Untergebenen wird der junge Leutnant bewundert. Er ist ein Vorbild, ein unangefochtener Führer, der sich den Respekt der Mannschaft verdient hat. Die vier Jahre Krieg stellen sich für ihn gleichsam als eine Art olympischer Wettkampf dar, wobei Jünger zahlreiche Medaillen und Ehrungen davonträgt. Außerdem kann der junge Mann im Krieg

7 Alfred von Martin hat noch vor Rainer Gruenter („Formen des Dandysmus. Eine problemgeschichtliche Studie über Ernst Jünger“. In: Euphorion 46 [1952], S. 170–201) das Maskenhafte und Blasierte in der Person Jüngers herausgestellt: „Blasiertheit ist das Sichweiseglauben des Nihilismus, das seine Tragik verbirgt unter der Maske der ‚Frivolität‘ eines ‚Dandy‘tums, das vom Tode ‚in Cynismen‘ zu reden liebt – aus purem Dégout an allen ‚großen Worten‘.“ (Martin, Der heroische Nihilismus, S. 167.)

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seine Herrschaftsphantasien uneingeschränkt ausleben. Er ist nicht mehr der Soldat bürgerlicher Herkunft. Er ist ein Herr, der über einen Burschen verfügt. Sein Diener Vinke ist ihm in „Lehnstreue“ verbunden. „Er besaß nicht, wie etwa Haller, den Sinn für das Abenteuer, aber er folgte mir im Gefecht wie einer der alten Lehnsleute nach, und er sah sein Amt in der Sorge für meine Person.“8 Jünger genießt die vollkommene Anarchie, die der Krieg gewährt. Er kann nach Gutdünken schalten und walten, fremden Besitz beschlagnahmen und feudale Allüren pflegen. Als Besatzer besitzt er weitgehende Entscheidungsgewalt gegenüber den Einheimischen. „Ich bewohnte ein prachtvoll eingerichtetes Zimmer im Hause eines Industriebarons in der Rue de Lille. Mit großem Behagen genoß ich den ersten Abend in einem Klubsessel vorm Feuer des unvermeidlichen Marmorkamins.“9 Stets betont Jünger bei allem Erschrecken vor dem Grauen seine Gelassenheit und Heiterkeit bei der Betrachtung des Kriegsgeschehens. Er beobachtet kühl die schrecklichsten Gräuel, macht emsig Notizen und erbaut sich im Graben hockend an der Lektüre klassischer Schriften der Weltliteratur. Stilistisches Mittel der Darstellung ist die Désinvolture, die betonte Gleichgültigkeit und Distanziertheit, mit der er die Geschehnisse auf sich wirken lässt. Als Personifikation dandyhafter Blasiertheit und heiterer Gelassenheit gilt ihm der mit ihm befreundete Leutnant Tebbe. „Er ging, seine Zigarre rauchend, mit großer Kaltblütigkeit den ganzen Abschnitt ab, um seine Gruppen einzuteilen.“10 Selbst „in dieser wüsten Umgebung“ behielt er „etwas vom Dandy“.11 Tebbe ist im Zivilleben Maler und alles andere als ein gewöhnlicher Landsknecht, ein Typus, dem Jünger sonst gern Tribut zollt. Jünger hat ein bestimmtes Bild von Männlichkeit. Die Rede ist von der großen männlichen Heiterkeit des Kampfes, der Bewährung in der Schlacht. Die „geraden Kerle“, die Jünger schätzt, sind Männer, die derbe Scherze lieben, die zechen, hemmungslos ihren Sexualtrieb befriedigen und sich ausgelassen ins Kampfgetümmel stürzen. Ausnahmen findet man unter den Offizieren. Sie sind Vorbilder an Mut und Unerschrockenheit, aber von einer verfeinerten, seltenen Art. Sie betreiben das Kriegshandwerk nicht wie Landsknechte, sondern wie Ritter alten Stils, die das Ritual lieben. Immer wieder schildert der Autor den Krieg als ein Ereignis, das den Kampf Mann gegen Mann inmitten der Materialschlacht als ein ritterliches Duell erscheinen lässt. „Der Handgranatenwechsel erinnert an das Florettfechten; man muß dabei Sprünge machen wie beim Ballett. Er ist der tödlichste der Zweikämpfe“.12

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Ernst Jünger, In Stahlgewittern. Ein Kriegstagebuch, Berlin 24 1942, S. 272. Ebd., S. 217. Ebd., S. 213. Ebd., S. 220. Ebd., S. 229. In der Originalfassung des Kriegstagebuchs heißt es: „Ich hatte mir den Stahlhelm ins Gesicht gezogen, sog an meiner Pfeife und philosophierte mir Courage an, was mir auch ganz gut

Désinvolture im Schützengraben

Der Soldat Jünger fühlt sich zur Luftwaffe hingezogen, denn dort sind nicht nur harte Männer im Einsatz, sondern auch solche mit Stil. Sie sind von anderem Schlage als die Männer der Infanterie. „Die Partie auf Leben und Tod ist ihnen ein eleganter Sport, und die Ruhe der Maßstab, nach dem der Spieler gewertet wird. Der Kampf ist ihnen nicht nur Pflicht, sondern Mittelpunkt einer besonderen Kultur, die sie, vorbereitet durch die Erziehung in feudalen, nationalen und militärischen Verbänden, in ihren letzten Formen zu verkörpern streben. Der unausbleibliche Höhepunkt ist eine Dekadenz, oder besser ein Dandytum, das in seltsamem Gegensatz steht zu der furchtbaren Kraft, die es maskiert (…) so sprechen sie über Leben und Sterben mit derselben Frivolität, mit der der Kavalier des ancien régime über die Liebe sprach. Diese Achtlosigkeit, die sich solange am Wort berauscht hat, daß nur der einfachste Ausdruck ihr nicht lächerlich erscheint, die sich zu Paradoxen schleift und in Cynismen zerspritzt, ist das Resultat jeder großen und lang genossenen Passion.“13 Als Jünger „In Stahlgewittern“ im Selbstverlag erscheinen ließ, fügte er ein Foto bei. Es zeigt ihn in einem über der Uniform geöffneten pelzgefütterten Mantel, sämtliche Orden zur Schau stellend. Das Ostentative im Gestus spricht für die Unreife seines soldatischen Dandytums. Die Gleichgültigkeit und Gelassenheit sind inszeniert, noch nicht zu einer Art zweiter Natur gediehen.14 Ende der zwanziger Jahre erhält Jünger Besuch von dem Nationalbolschewisten Ernst Niekisch, dessen Porträt des Freundes enthüllt, dass Jünger Fortschritte in seiner Entwicklung zum Dandy gemacht hat: „Man kennt Jünger, hat man doch oft genug seine äußerliche Erscheinung beschrieben: ein nicht großer Mann, schlank, straffe Haltung, schmales, scharf geschnittenes Gesicht, gemessenes Benehmen, sehr überlegte Sprechweise, schnarrende, offiziersmäßige Stimme. Er macht den Eindruck äußerster Gepflegtheit und Selbstzügelung. Seine Sätze tragen etwas von geschliffenen Aphorismen an sich.“15 Das Bild des Offiziers-Dandys und „technokratischen Samurais“ (Gerd-Klaus Kaltenbrunner) ergänzt ein Bericht seines Vorgesetzten im Pariser Generalstab, Oberst Hans Speidel, den Jünger im Hotel Ritz aufsucht. „Verhalten, dienstlich tritt er ein. Ein eigenes Fluidum spannt sich: es ist nicht nur der für alte Soldaten

gelang.“ (Zitiert nach Heimo Schwilk, Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben. Die Biographie, München 2007, S. 160.) 13 Ernst Jünger, Das Wäldchen 125, Berlin 2 1926, S. 79. 14 Ein Foto aus dem Jahre 1917 zeigt Jünger im Kreise seiner feiernden Offizierskameraden. Schwilk kommentiert: „Ein Foto, auf dem er im Kreis seiner Kameraden zu sehen ist, zeigt einen blasiert wirkenden Dandy, die feingliedrige Hand mit Zigarre wie in einem Abwehrgestus vor den Körper gezogen“. (Schwilk, Ernst Jünger, S. 245.) 15 Ernst Niekisch, Gewagtes Leben. Begegnungen und Begebnisse, Köln/Berlin 1958. Hier zitiert nach Schwilk, Ernst Jünger, S. 318.

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verständliche Nimbus des Pour le mérite-Ritters, der ihn umgibt, sondern eine geistige, achtungsgebietende elastische Erscheinung, sein Blick, in dem stählerne Härte und männliche Anmut sich merkwürdig zu verschwistern scheinen.“16 Stählerne Härte und männliche Anmut sind die Attribute, die Jünger unter Offizieren Anerkennung und Bewunderung verschaffen. Es ist ein Bild von Männlichkeit, das den soldatischen Dandy vom Dandy in Zivil unterscheidet, denn stählerne Härte ist nicht dessen Sache, wohl aber Anmut und eine elastische Erscheinung, in Verbindung mit Witz, Ironie und spielerischer Nonchalance. Es könnte scheinen, dass Jünger für einen vollkommenen Dandy noch eine Spur zu ernst und steif war. Seiner Wirkung im preußischen Milieu tat dies freilich keinen Abbruch. Im zweiten Weltkrieg blieb Jünger die Erkenntnis nicht erspart, dass sich das alte heldische, ritterliche Ideal des Kriegers durch die Vervollkommnung der Zerstörungsmittel überlebt hatte und nur noch die gegenseitige Ausrottung der Gegner möglich erschien. Von einem soldatischen Dandy an der Front, der sein Kriegshandwerk gleichsam sportlich nahm, konnte keine Rede mehr sein. Wenn es noch ein ritterliches Denken geben mochte, dann – so Jünger – im Pariser Generalstab um Speidel, ein Kreis, in dem man den Blick und das Herz für die Schwachen und Schutzlosen zu wahren suchte.17 Was als Eigenschaft soldatischer Härte dem Habitus des Dandys zugute zu kommen scheint, wird von Jünger in seinem Essay „Über den Schmerz“ kritisch betrachtet. Dem um sich greifenden Sport schreibt er eine Härtung, Schärfung und Galvanisierung des menschlichen Umrisses zu. Ziel solcher Bestrebungen sei die Erreichung des Stadiums der Schmerzlosigkeit. „Am Maßstab des Schmerzes betrachtet, stellt sich diese Verwandlung als eine Operation dar, durch welche die Zone der Empfindsamkeit aus dem Leben herausgeschnitten wird.“18 Dieser wie

16 Hans Speidel, Briefe aus Paris und aus dem Kaukasus. In: Freundschaftliche Begegnungen. Hg. von Armin Mohler, Frankfurt am Main 1955. Hier zitiert nach Schwilk, Ernst Jünger, S. 383. 17 Vgl. Jünger, Strahlungen, S. 57. Der Publizist Peter de Mendelssohn nimmt Anstoß an den von Jünger verwendeten Begriffen „ritterliches Leben“ und „Waffenehre“. Sie seien im Zeitalter des Arbeiters anachronistisch. Um moralisch ins rechte Gleis zu kommen, müsse man nicht erst eine Ritterschaft gründen. (Mendelssohn, Über die Linie des geringsten Widerstandes, S. 222.) Hannah Arendt meint hingegen mit Bezug auf Jünger, „daß der etwas altmodische Begriff von Ehre, wie er einst im preußischen Militärkorps geläufig war, für individuellen Widerstand völlig ausreichend war.“ (Hannah Arendt, Besuch in Deutschland, Berlin 1993. Hier zitiert nach: Antonio Gnoli/Franco Volpi mit Ernst Jünger, Die kommenden Titanen. Gespräche, Wien 2002, S. 27.) Vgl. auch Joseph Wulf an Ernst Jünger: „Der Scheideweg lag damals nicht zwischen rechts und links, war keine Frage von radikal oder konservativ, sondern lediglich ein Problem von Charakter und menschlicher Haltung.“ (Anja Keith/Detlev Schröttker (Hg.), Ernst Jünger – Joseph Wulf. Der Briefwechsel 1962–1974, Frankfurt am Main 2019, S. 15. Brief vom 15. 1. 1963.) 18 Ernst Jünger, Über den Schmerz. In: ders., Blätter und Steine, S. 178.

Soldatische Disziplin und urbane Zivilisiertheit

ein Automat funktionierende neue Typus werde zu einem geschlechtlichen Neutrum. Er gehöre einem dritten Geschlecht an. Jünger sieht in dieser Entwicklung freilich kein emanzipatorisches Element, demzufolge dem Androgyn die Zukunft gehöre. Derartige Überlegungen sind Teil des utopisch-erotischen Kosmos‘ Nicolaus Sombarts. Jünger registriert vielmehr kühl die absolute Versachlichung und Neutralisierung der Geschlechtscharaktere.

Soldatische Disziplin und urbane Zivilisiertheit Was Sombart in seiner Jünger-Würdigung über den Dandy des Weiteren ausführt, scheint freilich mehr auf ihn selbst als auf Jünger gemünzt. So fährt er in seiner Betrachtung fort: „Der Dandy steht an der Grenze der aristokratischen und bürgerlichen Lebenswelt, übernimmt die Werte der einen unter den gesellschaftlichen Bedingungen der anderen, um das Ideal eines extremen, artistischen, klassenlosen, weil über den Klassen stehenden, überlegenen Individuums zu verwirklichen. Soziologisch gesprochen ist der Dandyismus eine Aufsteiger-Strategie.“19 Mit dieser Diagnose des Phänomens „Dandy“ bringt Sombart seine eigenen aristokratischen Ambitionen zum Ausdruck. Der Bürger strebt über sich hinaus. Er will den Adel gleichsam übertrumpfen. Der Snobismus ist das Lebenselixier dieser Sorte arrivierter Dandys. Einmal oben angekommen, brauchen sie die snobistische Antriebsenergie nicht mehr. Es gilt nun, die erworbene Machtstellung im highlife auszubauen und ein System der Verhüllung, Täuschung und Verblüffung zu entwickeln. „Der Dandy verachtet die Masse und jede Mittelmäßigkeit, aber er ist fasziniert von der Macht. Seine Überlegenheit den Mächtigen gegenüber liegt darin, daß er sich mit ihnen nicht auf einen Machtkampf einläßt, sondern sie zu einem Machtspiel provoziert. Sein Traum: eine Elite von Ausnahmemenschen zu stiften.“ Ein bevorzugtes Machtmittel des Dandys ist die demonstrative Eleganz, die sich nicht allein in der untadeligen äußeren Erscheinung, sondern auch in einem erlesenen Bonmot, einer raffinierten Geste Ausdruck verschaffen kann. Machtausübung setzt geistige und materielle Unabhängigkeit voraus, mögen die zur Verfügung stehenden Mittel auch bescheiden ausfallen.

19 Sombart, Der Dandy im Forsthaus, S. 25. Auch dem Kunsthistoriker Matthias Eberle gegenüber vertritt Sombart die Auffassung, der Dandy sei ein Parvenü. „Ich vertrete den Standpunkt, daß es einen Dandyismus nur gäbe als usurpatorischen, bürgerlichen Habitus einer bestehenden und ‚gesellschaftlich‘ herrschenden Aristokratie gegenüber.“ (Sombart, Journal intime, S. 95.) Vgl. auch Hausers These, der Dandy sei „der nach oben deklassierte bürgerliche Intellektuelle“. (Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1978, S. 966.)

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Sombarts Sympathie mit den Charakterzügen des Dandys kennt freilich auch ihre Grenzen. „Kein Hedonismus oder Eudämonismus, keine Erotik, wohl aber eine subtile Lust an Askese.“ Der Hedonist und Erotiker kann dem asketischen Ideal des Dandys, das auf Sublimierung der Triebe beruht, wenig abgewinnen. Sombart will verführen und sich verführen lassen. Er will genießen und Genuss bereiten. Er sucht das erotische Abenteuer, nicht wie der eiskalte Verführer Valmont in „Die gefährlichen Liebschaften“, der die Frauen bezwingt, sondern wie ein Casanova, der sie in seinen Bann zieht. Dagegen kommt dem Offizier Jünger die asketische Komponente des Dandytums durchaus entgegen. Diesem Dandy eignet etwas angelsächsisch Puritanisches, Lymphatisches. Das Erotische wird zwar geduldet, aber domestiziert. Es darf nicht in Leidenschaft und Hingabe umschlagen. In Sombarts Bemühen, in Jünger den Dandy zu entdecken, kommt der „entmilitarisierte“ Jünger des „Waldgangs“ nicht vor. Der „Waldgänger“ ist ein Mensch, der in einer Welt, die vom Arbeiter, dem Exponenten einer geschichtslos gewordenen „Werkstättenlandschaft“, beherrscht wird, seine Freiheit zu bewahren sucht.20 Für Jünger fällt das Soldatische damit in den zweiten Rang zurück. Sein Dandytum nimmt zivile Formen an. Am Ende seiner Würdigung spricht Sombart ein Problem an, das er mit dem Wort „Familienroman“ umschreibt und das ihn persönlich betrifft. Man werde – so heißt es – im Werk Jüngers auch etwas von dem tiefsitzenden bürgerlichen Unterlegenheitsgefühl angesichts der aristokratischen Existenz finden, das Goethe schon im „Wilhelm Meister“ beschäftigt habe. Wie löst Jünger dieses Problem? „Das latente dandyistische Potential des preußischen Offiziers (…) mag zwischen den deutschen und den fremdländischen Lebensidealen die Brücke geschlagen haben.“ Der preußische Offizier, Inbegriff des soldatischen, asketischen Männertyps, den Sombart nicht müde wird, für die Fehlentwicklung der deutschen Geschichte verantwortlich zu machen, gewinnt plötzlich eine andere Dimension. Als Dandy ist dieser Typus offenbar in der Lage, den spezifisch deutschen Habitus und geistigen Horizont zu überschreiten und sich englischen und französischen Verhaltensidealen anzunähern. Es kommt zu einer Fusion von soldatischer Disziplin und urbaner Zivilisiertheit. Mit dieser Deutung geht Sombart weit über das hinaus, was er in seiner Studie über die deutschen Männer und ihre Feinde als deutsche Misere herausarbeitet und über seine Auseinandersetzung mit Max Weber schließlich in eine Demontage Carl Schmitts mündet. In der Person Jüngers gewinnt er dem Herrenhaften in Gestalt des 20 „Doch je mehr die posthistorische Welt die Züge des Letzten Menschen zeigte, hat sich Jünger dem ‚Waldgang‘ verschrieben und die Spielräume ‚asketischer Eliten‘ ausgelotet, die dem Posthistoire trotzen.“ (Norbert Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, München 1989, S. 169.)

Literarisches Herrentum contra Literatur aus der Wohnküche

Soldatischen völlig neue Qualitäten ab. „Indem Jünger in die deutsche Literatur ein Element gebracht hat, durch das das typisch deutsche atypisch verfremdet wurde, hat er ihr Spektrum um eine kostbare Variante bereichert.“ Jünger erscheint als ein exotischer Solitär. In dieser Rolle kann er der Sympathie Sombarts sicher sein. Die Pointe seiner Würdigung ist die Kurzschließung der Figur Jüngers mit der des letzten deutschen Kaisers. „Kulturhistorisch gesehen ist Ernst Jünger eine für Deutschland ebenso repräsentative, typische, gleichzeitig atypische, exzentrische Figur wie Kaiser Wilhelm II.“ Beide kennzeichne der Wille zur Macht, zum Militaristischen. Doch beide liebten auch das Zeremonielle, die ästhetische Selbstinszenierung. Dem hundert Jahre alt gewordenen Ernst Jünger konzediert Sombart, er sei zwar etwas milder geworden, aber nicht weniger unnachgiebig. „Das Ideal der Selbststilisierung, dessen höchster Ausdruck die Disziplinierung der Sprache ist, ist seine bleibende Botschaft an die, die sie vernehmen wollen. Respekt!“ War es die Botschaft Carl Jacob Burckhardts an den jungen Mann, ein honnête homme zu werden, so lautet die Botschaft Jüngers an den 71-jährigen Autor, das Ideal der Selbststilisierung in der Disziplinierung der Sprache zu suchen, ein Anspruch, dem zu genügen Sombart nicht immer leicht gefallen ist. Sie hätte ihn früher erreichen sollen.

Literarisches Herrentum contra Literatur aus der Wohnküche Sombarts Lob des Dandy-Schriftstellers Jünger korrespondiert mit einer Geringschätzung der deutschen Gegenwartsliteratur. Schon bei seinem frühen Auftritt in der Gruppe 47 musste er die Erfahrung machen, dass er eigentlich nicht dazugehörte. Die meisten Teilnehmer waren Kriegsheimkehrer wie er selbst. Was sie von ihm unterschied, war ihre Herkunft. Sie waren nicht in einem Salon groß geworden und von der „großen Welt“ hatten sie nicht die geringste Ahnung. Diese Welt war allenfalls ein Lektüreprodukt, doch Proust war nach dem Krieg nur den wenigsten bekannt. Der Großbürgersohn Sombart fühlte sich in diesem Kreis als Exot und Außenseiter und trotz des Erfolgs seiner Lesung nicht hinreichend verstanden. Das Gefühl der Nichtzugehörigkeit und der mangelnden Wertschätzung durch literarische Kreise in Deutschland sollte sich jahrzehntelang als Ressentiment in ihm erhalten. Dieses Ressentiment spielt auch in Sombarts später Würdigung Ernst Jüngers eine zentrale Rolle. Jünger war immerhin ein Respekt erheischender Herr. Wie steht es nun aber um die deutsche Gegenwartsliteratur im Ganzen? Wir

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erfahren: „Das, was die herrschende deutsche Literatur, in ihren prominentesten Vertretern, so unerträglich macht, ist ihre hoffnungslose Kleinbürgerlichkeit.“21 Mit dieser Diagnose leitet Nicolaus Sombart seinen zweiten Gedenkartikel zum Jubiläumsjahr Ernst Jüngers im Wochenmagazin „Focus“ ein. Sombart legt den Finger in die von ihm identifizierte Wunde, denn die schreibenden Kleinbürger, spürten ihre miserable Lage selbst, seitdem sie „toscanakundig“ geworden seien. Dieser Schriftstellertypus leide unter einem Gefühl des Ungenügens. Das treffe in erhöhtem Maße auf die ostdeutschen Autoren zu. „Kein Code von Polical correctness beseitigt den miefigen Geruch von Mutters Wohnküche. Dabei möchten sie es doch anders. Sie träumen von der großen Welt, von Schönheit und Souveränität – kurz, sie träumen davon, ‚Herren zu sein‘.“22 Virtuos hat Sombart mit einem Federstrich das vermeintliche Dilemma der deutschen Schriftsteller der neunziger Jahre offengelegt. Sie sind auf der Suche nach Vorbildern und entdecken schließlich in Ernst Jünger die ersehnte Weltläufigkeit. Sombart, so stellt sich heraus, hat offenbar noch eine Rechnung offen. Mit seinen autobiographischen Schriften – „Jugend in Berlin“ und „Pariser Lehrjahre“ lagen inzwischen vor – hat er sich als Autor zurückgemeldet, nicht als kleinbürgerlicher Literat, sondern als ein Mann von Welt, der beansprucht, sich an Thomas Mann, Marcel Proust und Robert Musil messen zu lassen oder eben auch an Ernst Jünger, an Autoren, deren Werken kein Wohnküchengeruch anhaftet und die von der Aura des Kleinbürgerlichen frei sind. Im Jahr des Jünger-Jubiläums 1995 ist Sombart im Begriff, endlich die Früchte zu ernten, die ihm durch seine lange Tätigkeit beim Europarat vorenthalten worden sind. Die Jünger-Würdigung wird zu einem Selbstverständigungsversuch und dient der Abrechnung mit dem deutschen Literaturbetrieb. Für Sombart ist Jünger kein Vorbild, er ist ein Maßstab, vermittelt durch die Lebenshaltung des Dandyismus. Er braucht ihn nicht als Vorbild, denn das Weltläufige, Urbane ist ihm selbst in die Wiege gelegt. Was ihm fehlt, ist literarische Disziplinierung. Anders steht es mit Schriftstellern wie Botho Strauss und Heiner Müller. Ihnen haftet noch etwas vom kleinbürgerlichen Ambiente an, dem sie zu entkommen

21 Nicolaus Sombart, Das Ideal des Dandys. In: Focus 15/1995, S. 156–157, hier S. 156. Der Beitrag ist bis auf die Eröffnungs- und Schlusspassagen mit dem Artikel im „Tagesspiegel“ im Wortlaut identisch. Eine leicht überarbeitete Fassung des Textes findet sich unter dem Titel „Dandy sein“ in: Sombart, Die Frau ist die Zukunft des Mannes, S. 306–311. Mit dem Verdikt „kleinbürgerlich“ steht Sombart nicht allein. Auch Wolf Jobst Siedler, wie Sombart ein herkunftsbewusster Bildungsbürger, kann mit dieser Sorte Literatur wenig anfangen. Vgl. Frank A. Meyer (Hg.), Der lange Abschied vom Bürgertum. Joachim Fest und Wolf Jobst Siedler im Gespräch mit Frank A. Meyer, Berlin 2005, S. 114. 22 Sombart, Das Ideal des Dandys, S. 156.

Literarisches Herrentum contra Literatur aus der Wohnküche

bestrebt sind. Sombart vermutet, dass es die Züge des Dandyismus sind, die ihnen Jünger attraktiv erscheinen lassen. „So wollen sie sein! Damit sagen sie sich los von deutscher Enge und deutschem Mief, von den Idealen basisdemokratischer Subkulturen und volksdemokratischer Politstrukturen und finden Anschluß an Wertmaßstäbe, die zum Erbe der westlich-weltmännischen, europäischen Hochkultur gehören.“23 Allein, es ist noch etwas anderes als die hochmütige Distanz kleinbürgerlicher Mediokrität gegenüber, was Sombart mit dem Dandyismus verbindet. Es ist der erlittene Schmerz, die bittere Erfahrung nach dem zweiten Weltkrieg ohne materielle Ressourcen dazustehen, das Gefühl der Deklassierung, des sozialen Abstiegs. Insofern ist sein Zugang zum Dandytum nicht allein mit einer Aufstiegsstrategie des Bürgers zu erklären. Im Gegenteil. Ähnlich wie bei dem Dichter Baudelaire, der sein väterliches Erbe in kurzer Zeit verprasste und bemüht war, den erlittenen Verlust durch die arrogante Geste des Dandys zu kompensieren, füllt das Dandytum im Leben Sombarts eine Leerstelle aus. Es war ja nicht nur der soziale Abstieg nach dem Kriege, sondern auch das Gefühl, akademisch hinter seinen Ansprüchen zurückzubleiben, das ihn Zeit seines Lebens plagte. Was blieb, war allein ein kulturelles Kapital, das Bewusstsein, der letzte Zeuge einer einst existierenden eleganten Welt zu sein. Dies erlaubte ihm, die Attitüde habitueller Überlegenheit zu pflegen, fernab vom akademischen Mittelmaß. Die etablierten Professoren verfügten über keinerlei Geschmack und die erfolgreichen Schriftsteller der Bundesrepublik kamen über einen kleinbürgerlichen Lebensstil nicht hinaus. Im Dandy fand Sombart ebenso wie im honnête homme ein Lebensideal, das ihn seit seiner Jugend begleitete, mochten die realen Lebensumstände noch so widrig sein. Bei Jünger war es der Hass auf die bürgerliche Gesellschaft, das Abenteurertum und schließlich die Erfahrung des Schmerzes und des geschichtlichen Leids, die Dandytum und Autorenexistenz miteinander verbinden.24 1956 publizierte Jünger eine Studie über den französischen Autor Antoine de Rivarol (1753–1801), von dem Maximen in der Tradition der französischen Moralisten überliefert sind. Jünger übersetzte diese Texte und äußert sich im Vorwort zu der Frage, ob man Rivarol als einen Dandy bezeichnen könne. „Der Dandy bleibt eine Puppe; man kann das Wort sowohl im Sinne des Larvenstadiums als auch des Spielzeugs auf ihn

23 Ebd., S. 157. In seinem Porträt des Schriftstellers Alfred Andersch, mit dem er 1946/47 bei der Zeitschrift „Der Ruf “ zusammenarbeitete, verfährt Sombart nach der gleichen Methode, Weltläufigkeit als geheimen Wunsch eines Autors niederer sozialer Herkunft zu unterstellen: „Er war ein Ästhet, und das hieß in meiner Wahrnehmung – bei seiner kleinbürgerlichen Herkunft – unweigerlich ein Snob. So erkläre ich mir das mit Neugier durchsetzte, wohlwollende Interesse, das er für mich an den Tag legte. Er fühlte, dass ich etwas darstellte, das er liebte, aber nicht war.“ (Sombart, Rendezvous mit dem Weltgeist, S. 130.) 24 Vgl. Kiesel, Ernst Jünger. Die Biographie, S. 505.

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anwenden. Um ihn aus diesem Stadium zu erlösen, muß Schmerz hinzutreten; er ritzt die Lebensrune ein. Das Zuchthaus hat Wilde zum Dichter des ‚De Profundis‘ gemacht.“25 Den Autor Rivarol auf die Rolle des Dandys zu reduzieren, greife mithin zu kurz. Das Dandytum erweist sich als eine Schmerzvermeidungsstrategie, die solange Erfolg hat, wie es gelingt, sich dem Leiden zu entziehen. Ritzt der Schmerz die Lebensrune ein und die stoische Haltung der Unerschütterlichkeit gerät ins Wanken, zerfällt das Konstrukt „Dandy“. Der Dandy versucht, den erlittenen Schmerz literarisch zu verarbeiten. Jünger vergisst freilich zu erwähnen, dass Oscar Wildes literarische Produktivität als Bühnenautor geradezu von seinem Dandytum stimuliert wurde. Gleiches gilt für andere Dandy-Schriftsteller, denen die Haltung des kaltblütigen Zuschauers jene Beobachterposition verschafft, die es ihnen ermöglicht, einen literarischen Stil von eisiger Eleganz zu entwickeln. Der Kriegsautor Jünger hat selbst von diesem dandyistischen Stilmittel Gebrauch gemacht. Die Schmerzerfahrung des Krieges wird in einer glasklaren Prosa destilliert, der Schrecken ästhetisch sublimiert. Die Erfahrung des Schmerzes mochte vielmehr der Initialfaktor für die dandyhafte Existenzform sein, galt es doch fortan, Mittel der Abhärtung zu ersinnen, um ihn zu vermeiden. Im Falle des Ur-Dandys George Brummell war es das bittere Gefühl gesellschaftlicher Benachteiligung durch seine bürgerliche Herkunft. Er empfand dies als Schmach. Dabei war er sich wohl bewusst, dass er über ein ästhetisches Formempfinden verfügte, das den Geschmackssinn vieler Vertreter des Adels weit überragte. Er war sich bewusst, stets Vabanque spielen und höchstes Risiko eingehen zu müssen, um seine Stellung bei Hofe zu behaupten. Der eigentliche Schmerz setzte erst mit seiner Entthronung als arbiter elegantiarum ein, die ihn freilich nicht zum Schriftsteller werden ließ. Memoiren zu schreiben und andere bloßzustellen, war unter seinem Niveau.

Ein Dandy im Ruhestand Will man Nicolaus Sombart und sein Werk heute im Rückblick charakterisieren, tritt der Dandyismus als ein bestimmender, wenn auch nicht als der vorherrschende Wesenszug hervor. Seine Prosa besitzt nicht den kühlen, sachlich-nüchternen Duktus eines Ernst Jünger. Sie ist auch nicht geprägt von der Verarbeitung extremer Ausnahmesituationen. Der dandyistische Zug liegt vielmehr in provozierenden Einsprengseln, die den Leser irritieren. Dabei dominiert stets ein nur wenig gemilderter

25 Ernst Jünger, Rivarol. Cotta‘s Bibliothek der Moderne, Stuttgart 1989, S. 19.

Ein Dandy im Ruhestand

herrischer Ton, gepaart mit spöttisch-herablassenden Urteilen über kleinbürgerliches Mittelmaß, ein Hang zu spielerischer Frivolität ohne Scheu, sich zwischen alle Stühle zu setzen. Eine gewisse Nonchalance im Stil ist nicht zu übersehen. Auch Faktengenauigkeit ist nicht garantiert. Das mühsame Überprüfen der Richtigkeit von einmal in die Welt gesetzten Behauptungen ist nicht die Sache eines homme du monde. Das verblüffende Bonmot, die sarkastische Invektive, die Lust selbst am Auftischen von Trivialitäten, der einkalkulierte Verriss seiner Bücher – das alles kann den Mann von Welt, der es liebt, sich die Zeit mit gelegentlichem Schreiben zu vertreiben und die Wissenschaft kavaliersmäßig zu behandeln, nicht eigentlich tangieren. Will man Sombart einen Dandy nennen, so stellen sich andere Fragen als im Falle Ernst Jüngers. Normalerweise macht der Dandy bereits in jungen Jahren von sich reden, aber in Deutschland war dieser Typus außerhalb des militärischen Bereichs nahezu unbekannt. Das Grunewalder Elternhaus bot zwar Kontakt zu Repräsentanten der großen Welt, und diese Eindrücke sollten sich tief in das Gedächtnis des jungen Sombart eingraben, doch sie stifteten ihn nicht dazu an, sich als Luxusgeschöpf zu inszenieren. In seinen Studienjahren lebte Sombart nicht auf großem Fuß. Er übte sich in Bescheidenheit. In Paris warf er einen Blick in die Kreise der mondänen Welt. Er war dort zu Gast und nährte seine Ambitionen. Liest man seine Erinnerungen an die Heidelberger und Pariser Studienzeit, so wird deutlich, dass der junge Mann auf Frauen durch sein gutes Aussehen Eindruck machte und Züge von Exzentrik und Narzissmus ihm nicht fremd waren. Doch die Welt, in der der junge Sombart zuhause war, war vor allem das akademische Milieu. Dieses hatte ihn von Haus aus geprägt und in diesem Milieu wollte er seine ersten Sporen verdienen. Aber musste er unbedingt Professor werden wie sein Vater? Die Briefe an die Mutter lassen erkennen, dass er zwischen Schriftstellerei und Wissenschaft seinen Weg suchte. Als der literarische Erfolg ausblieb, warf er sich ganz auf die Wissenschaft, doch auch auf diesem Feld blieb der Erfolg spärlich. Sombart musste schmerzvoll einsehen, dass sein Mentor Carl Schmitt ihn als Wissenschaftler verlorengab, ja in ihm eine parasitär-luxuriöse Existenz erblickte.26 So entschied er sich angesichts der kargen Chancen auf eine akademische Karriere für die bürgerliche Sekurität, die ihm die Stelle als Abteilungsleiter im Europarat einbrachte. Dort sah er sich geistig unterfordert und für ein kostspieliges mondänes Leben reichte das Beamtengehalt kaum aus, erst recht nicht, wenn eine Familie zu versorgen war. Dandyhafte Ambitionen ließen sich unter diesen widrigen Umständen kaum verwirklichen. Sie mussten ins Innere verdrängt oder aufgeschoben werden. Es reichte nur zu Andeutungen eines Dandytums, zu einer ermäßigten Form. Im

26 Vgl. Tielke, Schmitt und Sombart. S. 240.

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Ruhestand, frei von den Verpflichtungen einer bürgerlichen Existenz, konnte Sombart einen neuen Anlauf unternehmen, seinem Ideal vom Leben eines eleganten Herrn näherzukommen. Er wurde freier Schriftsteller und verstand es, als Literat und Feuilletonist durch lustvolles Ausstreuen von Frivolitäten und Indiskretionen einen Hauch von Skandal um sich zu verbreiten. Dies alles vorgetragen in einem seigneurialen Plauderton, um wissenschaftliche Pointen nie verlegen, die Zunft der Soziologen und Historiker durch verblüffende Thesen provozierend, gänzlich frei von lästigen Karriererücksichten, denn diese lagen längst hinter ihm. Der Dandy im Ruhestand nimmt sich Freiheiten, die sich ein Dandy im Amt nicht hätte erlauben können. Seine Verehrer findet er in der jungen Generation, denen er als ein Fossil aus längst vergangener Zeit erscheint: hochgebildet, kultiviert und spielerisch im Verhältnis zur Wissenschaft und seinem Metier, der Literatur. So wollen sie sein, seine jungen Zuhörer. Alles, was ihren Professoren fehlt, besitzt Sombart in Fülle: Lebensart und Savoir-vivre, Großzügigkeit, Stil und geschmackliches Raffinement. So wird er in der Öffentlichkeit als ein Dandy wahrgenommen, gibt es doch keine andere Kategorie, unter die man einen solchen Solitär hätte subsumieren können.27 Aus dieser Position des Unzeitgemäßen wachsen ihm eine besondere Schärfe des Blicks und eine souveräne Gelassenheit und innere Freiheit zu, ein Potential, das dem Mann der Mitte nicht zur Verfügung steht. Ihn gehen die alltäglichen Irrungen und Wirrungen nichts mehr an. Er leistet es sich, die Welt als Schauspiel zu betrachten. Ein Eingreifen in die historischen Vorgänge ist nicht möglich, der Held hat den Rückzug angetreten. Der späte Sombart ist bestrebt, nicht nur Wilhelm II., sondern auch Ernst Jünger Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Er subsumiert ihn nicht mehr unter das antagonistische Schema Soldat-Bürger, sondern sieht in ihm eine ihm verwandte Persönlichkeit, die im Habitus zwischen Aristokratischem und Bildungsbürgerlichem oszilliert. Es ist der Anspruch Sombarts, ein Herr, ein Mann von Welt zu sein. Er ist es in den Grenzen, die seiner Lebensführung gesetzt sind. Am Ende seines Lebens verbindet ihn mehr mit dem Dandy-Schriftsteller Ernst Jünger als mit dem bürgerlichen Außenseiter Carl Schmitt. Plettenberg, das sauerländische Asyl Schmitts, war nicht Wilflingen, wo nicht nur Gesinnungsfreunde sich versammelten, sondern die Welt ein- und ausging.

27 Entgegen eigener Einsichten in die historisch-soziologische Substanz des Dandytums, die den JüngerEssay kennzeichnen, weist Sombart es in einem später geführten, unveröffentlichten Interview von sich, als Dandy angesprochen zu werden, als käme dies dem Eingeständnis eines Makels gleich. Vgl. Interview mit Thomas Grimm vom 7. Juni 2001 anlässlich des Erscheinens von „Rendezvous mit dem Weltgeist“ (NL N. Sombart 405, Mp. 461, Bl. 150.)

XI.

Soziologie des mondänen Lebens

„Ich habe immer über meine Verhältnisse gelebt und unterhalb meiner Ansprüche. Eine traurige Bilanz.“1

Nicolaus Sombart hat sich nicht nur in seinen autobiographischen Schriften als ein Kenner der gesellschaftlichen Oberschichten Frankreichs und Deutschlands erwiesen, sondern auch in zahlreichen journalistischen Beiträgen diese Kenntnisse öffentlich gemacht. Damit rückt er in die Nachbarschaft seines Freundes und Kollegen Gregor von Rezzori, der sich ebenfalls immer wieder als Society-Experte zu Wort meldete, aber auch von Schriftstellern und Journalisten wie Hermann von Eelking, Friedrich Sieburg, Hans Georg von Studnitz und Fritz J. Raddatz, von denen zahlreiche Zeugnisse über die Welt der Upper Class vorliegen. Es sind meist Autoren bürgerlicher Herkunft oder des niederen Adels, die – von der Welt der oberen Zehntausend angezogen und von dem Drang getrieben, zu ihr Zutritt zu finden – mit geschärftem Blick für ihre innere Mechanismen über sie berichten, während sich das Material, das diejenigen ausstreuen, welche den Kreisen des Hochadels von Geburt an angehören, sich meist auf autobiographische Mitteilungen ohne direktes soziologisches Interesse beschränkt.2 In „Jugend in Berlin“ hat Sombart im Rückblick das soziale Feld, dem sein soziologischer Forscherblick gilt, in allen Details ausgebreitet. Seine Liebe gehört der großen Welt, den Angehörigen des Adels und den vornehmen Repräsentanten des Großbürgertums. Was sich außerhalb dieser Kreise ereignet, wird von dem Gesellschaftsdiagnostiker und Sozialutopisten in der Nachfolge Saint-Simons und Fouriers als Faktum zwar zur Kenntnis genommen, es erweckt aber nicht sein wirkliches Interesse, denn Gesellschaft ist für ihn vor allem die Gesellschaft im engeren Sinne, die „gute Gesellschaft“. Männer wie Frauen erscheinen ihm erst dann wert, porträtiert zu werden, wenn es sich um Ausnahmemenschen handelt, sieht man von einigen besonders liebenswerten Angehörigen des Dienstpersonals einmal ab. Sie allein liefern den Maßstab für ein sinnvolles, erfülltes Leben. Die Lebenshaltung eines Mannes von Welt verraten denn auch die Antworten Sombarts auf den Proustschen Fragebogen, die in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckt wurden.3 Wohnen möchte er am liebsten in einem Schloss.

1 Nicolaus Sombart, Berliner Sudelbücher 2. Notiz vom 21.8.1987. NL N. Sombart 405, 455,7. 2 Eine Ausnahme bildet der einer jüngeren Generation angehörende Journalist Alexander Graf von Schönburg, der aus intimer Kenntnis regelmäßig über Vorkommnisse aus der Welt des Adels berichtet. 3 Vgl. Fragebogen: Nicolaus Sombart. Schriftsteller. In: FAZ-Magazin vom 15. Juli 1994.

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Seine Lieblingsheldinnen in der Geschichte sind Juliette Récamier und Madame de Staël. Seine Lieblingsbeschäftigung ist es, einer großen Sache zu dienen, ein Anspruch, den er mit seinem Wirken im Europarat eingelöst zu haben glaubt. Sein Vorbild ist Graf Henri de Saint-Simon. Was er im Leben anstrebt, ist Souveränität. Am meisten verabscheut Sombart jede Gewalt und die „Herrschaft der Zwerge“. Damit ist jener Menschenschlag gemeint, der sich wie Nietzsches letzter Mensch mit dem kleinen Glück zufriedengibt.

Adel und Schickeria Wie nur wenige deutsche Nachkriegssoziologen hat sich Sombart immer wieder mit der gesellschaftlichen Stellung des Adels befasst, seitdem dieser mit seinem ostelbischen Anteil nach 1945 voll in die bürgerlich-kapitalistische Wirtschaft Westdeutschlands integriert worden war. Er verfüge über große Vermögen, die den Reichtum der Bundesrepublik Deutschland ausmachten. Soziologisch betrachtet sei er „die kohärenteste, wohlhabendste, kultivierteste soziale Gruppe der Bundesrepublik“,4 eine kühne, empirisch kaum haltbare These, die Sombarts besondere Wertschätzung dieser Klasse verrät. Einer von ihnen ist Christoph Graf von Schwerin, dessen Lebenserinnerungen Sombart zum Anlass nimmt, die Physiognomie des Adels zu durchleuchten und nach dem Verbleib der aristokratischen Substanz und des aristokratischen Erbes im deutschen Kultur- und Geistesleben zu fragen. Graf Schwerin, ein depossedierter ostelbischer Junkersohn, habe das Standes- und Kulturbewusstsein seiner Klasse in eine „autonome geistige Existenz“ eingebracht und so eine Möglichkeit gefunden, „die deutsche Tradition eines universalistisch-kosmopolitischen Kulturbegriffes, wie er nach Hofmannsthal und Thomas Mann völlig verloren gegangen zu sein schien, frei von nationalen und politischen Vorgaben, fortzuschreiben.“5 Die alte bildungsbürgerliche Oberschicht hatte nach 1945 ihren Führungsanspruch verloren. Schwerin wurde Journalist und war als Übersetzer und Herausgeber tätig. Dank seiner Herkunft und seines aristokratischen Bewusstseins sei dem Grafen freilich ein höheres Verantwortungsgefühl in seiner Lebensführung abverlangt worden. Er setzte mit seiner Vorstellung von menschlicher Würde auf der Basis eines universell-humanen Wertekodex und seinem kosmopolitischen Kulturbewusstsein Standards. Ihm und seinesgleichen sei es zu danken, dass diese Standards „und damit gewisse Vorstellungen von ‚Kultur‘ nicht völlig verloren 4 Nicolaus Sombart, Ach, Herr Baron, das gehört doch alles Ihnen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Magazin vom 23. September 1994, S. 34–43, hier S. 43. 5 Nicolaus Sombart, Eine autonome geistige Existenz. Rezension zu: Christoph Graf von Schwerin, Als sei nichts gewesen. Erinnerungen, Berlin 1997. In: Der Tagesspiegel vom 16. Juni 1997, S. 5.

Adel und Schickeria

gegangen sind.“6 Zu diesen Standards gehören eine natürliche, unaffektierte Bescheidenheit, Großmut, Großzügigkeit, Sinn für Eleganz und ein Abscheu vor allem Vulgären, Proletarischen, schlecht Erzogenen und Protzigen. „Nie ist er zudringlich, intimistisch, psychologisch.“7 Mit der Unbestechlichkeit eines französischen Moralisten verteile Schwerin Noten nach einem Kodex moralischer Zuverlässigkeit, gesellschaftlicher Wohlanständigkeit, Gesittung und intellektueller Redlichkeit. Er kenne keine ideologischen Scheuklappen. Sombart skizziert am Beispiel Schwerins den Idealtypus des hochstehenden Menschen. „Er ist kein Kleinbürger, kein Bourgeois und kein Revolutionär, sondern ein Herr. Auch wenn er, als jüngster und seiner beruflichen Position nach tiefer stehend, nur der aufmerksame Zuhörer in einer Gruppe war, wurde ihm im stillen Einverständnis die Superiorität des jungen Adligen zugebilligt.“8 Sombart projiziert seine eigene Wertschätzung des Adels in die Person des Grafen Schwerin, der qua Herkunft allen bürgerlichen Intellektuellen, Künstlern, Schriftstellern und Journalisten überlegen sei. Das adlige Bewusstsein, die adlige Herkunft umhüllen dessen Träger mit einer besonderen Aura, so will es jedenfalls die Wahrnehmung des niedriger Gestellten. Für Sombart ist der Fortbestand dieser Überlegenheit weniger ein Ausdruck bürgerlichen Insuffizienzgefühls als vielmehr ein unbestreitbares, durch Erziehung vermitteltes geschichtliches Faktum, das auch durch Bürgerstolz nicht auszulöschen sei. Gleichwohl eigne dem Grafen ein demokratischer Gestus. Es sei dies der Habitus der jüngeren Söhne, während „Väter und älteste Brüder zu den tragenden Kräften der gesellschaftlichen Hierarchie gehörten und deshalb notgedrungen konservativ sein mußten.“9 Dieser Befund trifft auch auf Nicolaus Sombart zu, obwohl er der einzige Sohn der Familie war. Doch unabhängig von der politischen Einstellung bleibt der Tatbestand, dass auch der Großbürgersohn die Eigenschaften des Herrn verinnerlicht hat. Diese galt es gegen den herrschenden Zeitgeist zu bewahren. Sie bildeten den Maßstab, an dem die Kultur zu messen war, seien es die Hervorbringungen der Literatur, sei es das zwischenmenschliche Verhalten oder der Wertekodex. Dazu gehört ein kosmopolitischer Kulturbegriff, den Nicolaus Sombart seinem eigenen literarischen Schaffen zugrunde legt. In Deutschland ist nach dem Kriege trotz Fortbestand des Adels von einer guten Gesellschaft nicht mehr viel zu entdecken. Die Rede ist stattdessen von einer „Schickeria“. Gemeint ist ein Surrogat der eleganten Welt früherer Epochen. „Die ‚Schickeria‘ ist eine Anzahl von Menschen verschiedenster Herkunft, die ‚Gesell-

6 7 8 9

Ebd. Ebd. Ebd. Sombart, Eine autonome geistige Existenz, S. 5.

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schaft‘ simulieren … [eine] zeitgenössische Pseudomorphose von ‚Gesellschaft‘.“10 Die Kriterien, die über die Zugehörigkeit zur Schickeria bestimmen, sind Prominenz, eine gehobene Einkommensstufe, künstlerischer Erfolg, Höchstleistung in ihrem Berufszweig, Schönheit und die Disponibilität, „dabei zu sein“. Die Schickeria ist ein buntscheckiger Haufen. „Prädestiniert dafür sind Vertreter der Restbestände der alten Gesellschaft, d. h. des Adels und des städtischen Patriziertums, der Künste, besonders ihrer jüngsten Erscheinungsformen, des Films, der Fotografie und ihrer Agenten und Manager, die Neureichen, die Herren der Medien und der Public Relations.“11 Dies wurde von Sombart diagnostiziert, als das Internet noch in den Anfängen steckte. Inzwischen sind durch die neuen sozialen Medien zeitgemäße Formen des „Dabeiseins“ hinzugekommen, mit allen Schwankungen und Flüchtigkeiten des Status der Prominenz. Der Augenblicksprominente figuriert neben dem Dauerprominenten durch Herkunft und vererbten sozialen Status. Sombart weist auf den Tatbestand hin, dass im Unterschied zu alten Modellen von „guter Gesellschaft“ die Schickeria sich durch neue Personenkreise zusammensetzt, die man früher zum Personal rechnete. Dazu gehören nicht nur diejenigen, „die sich selbst repräsentieren können (aufgrund ihres Reichtums, ihrer Stellung, ihrer Leistung), sondern auch diejenigen, die als Hilfspersonal notwendig sind, um die Bedingungen zu schaffen, unter denen diese Repräsentation möglich wird: nicht nur diejenigen, die Kleider tragen, sondern auch die Modeschöpfer und Mannequins; nicht nur die, die Kunst machen und kaufen, sondern die, die sie verkaufen; nicht nur die, die die Feste feiern, sondern auch die, die sie arrangieren, ausstatten und darüber berichten.“12 Die Schickeria stellt wie die Prominenz eine demokratische Elite dar.

Simulation höfischer Rituale Sombart ist der Auffassung, dass bei den Versuchen, heute Gesellschaft zu imaginieren, der Hof der feudalen Epoche den Idealtypus bilde. Wo die Schickeria herrsche, fehle freilich die höchste Instanz. „Nichts ist echt und definitiv, alles vorläufig und

10 Nicolaus Sombart, Lieber Affentheater als gar kein Theater. In: Der Tagesspiegel vom 12. Februar 1995, S.W 2. 11 Ebd. Anders als Sombart unterscheidet Gregor von Rezzori in seinem drei Jahrzehnte früher erschienenen „Idiotenführer durch die Deutsche Gesellschaft“ Schickeria und Prominenz. Während die Schickeria sich aus den Angehörigen der Restbestände derjenigen Gesellschaftsklassen zusammensetze, die ihren Anspruch auf höheren Lebensgenuss nie aufgegeben haben und Exklusivität zu wahren suchen, trete die Prominenz ins volle Rampenlicht. Vgl. Gregor von Rezzori, Idiotenführer durch die Deutsche Gesellschaft. Band 3: Schickeria, Reinbek bei Hamburg 1963. 12 Sombart, Lieber Affentheater als gar kein Theater.

Simulation höfischer Rituale

Simulation – orientiert auf ein Eigentliches hin, das es aber nicht gibt.“13 Zwar existiere in Deutschland kein Hof wie z. B. in England, aber es existierten Fürstenhäuser mit ihren Ritualen und Stilformen, die der Schickeria als Orientierungen dienen. Die sich aus Adel, Patriziat, den Abkömmlingen der „großen Familien“ und Neureichen zusammensetzende Oberschicht sei stil- und geschmacksprägend. Hinzu komme die Schickeria der Prominenten. Sie finde in den Medienjournalisten ihre Multiplikatoren und Verstärker. Deren Funktion bestehe darin, die höchste Sphäre sichtbar zu machen. Sombart weist immer wieder darauf hin, es sei das Dilemma der Soziologie, dass diejenigen, die diese Wissenschaft betreiben, keinen Zugang zu den oberen Schichten der Gesellschaft haben. Die Medien und der investigative Journalismus sind demnach eine unentbehrliche Informationsquelle über das Leben der Oberschicht, soweit diese bereit ist, Informationen nach außen dringen zu lassen. „So sind tatsächlich die Medien der Ort, an dem sich – weil es einen anderen nicht gibt – die Möglichkeit der Synthese eines Wissens um die Gesellschaft als Ganzes herauskristallisiert.“14 Die Aufgabe der Medien ist nicht die Simulation, sondern die Repräsentation, so wie der Hofmarschall die Gäste ankündigt, die in den Saal des Fürsten treten. Sombart beklagt, dass in den Medien kein wirkliches Bild des Adels vermittelt werde. Dabei seien offensichtlich die Geschmackstradition, die Lebenskultur und der Stil dieser Klasse trotz aller Designer, Demokratisierungsprozesse und moralischen und ästhetischen Erosionen der geheime Standard aller „Lifestyle“Aspirationen. Er plädiert dafür, dass die Medien dem Aufstiegswilligen verdeutlichen, wie es gelinge, in die Elite aufzusteigen. Sie sollten dazu beitragen, ein neues Bewusstsein zu schaffen, „indem sie die Existenzbedingungen, die Beherrschung der Spielregeln, die Formulierung der Lebenschancen und Lebensziele, den Aufstieg und Abstieg in allen Bereichen der Gesellschaft (allen Subsystemen) transparent und berechenbar macht.“15 Die Medienelite präge einen neuen Habitus. Dieser Habitus ermögliche es, dass der Einzelne seine persönlichen Chancen in der Gesellschaft besser wahrnehmen und nutzen könne. „Das ergäbe dann als Typus den ‚neuen Realisten‘: den aufstiegswilligen Opportunisten, der, wo er reüssiert, sich als Zugehöriger einer ‚Elite‘ qualifizieren kann.“16 Die Internet-Generation, die sich Facebook und Instagram souverän bedient, hat Sombarts Botschaft verstanden. Sie verfügt längst über das Bewusstsein und

13 Ebd. 14 Nicolaus Sombart, Die Medien als Hofmarschall am Gespensterhof. In: Der Tagesspiegel vom 8. August 1995. 15 Ebd. 16 Ebd.

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den Realitätssinn, die erforderlich sind, um sich einen Namen zu machen und als neue Elite mit Verfallsdatum in ihrem Bereich zu konstituieren.

Ein Freund und Gönner – Der Medienfürst Hubert Burda Hubert Burda und Nicolaus Sombart lernten sich 1979 kennen. Burda beteiligte sich an einer Konferenz über Wilhelm II., die von dem Historiker John C. G. Röhl und Sombart angeregt worden war. Sie wurde im Achilleion auf Korfu ausgerichtet, wo Wilhelm II. seine Sommerurlaube verbrachte. Der Verleger kam für die Kosten der Konferenz auf. Hubert Burda hatte 1976 die Chefredaktion der Zeitschrift „Bunte“ übernommen. Er war zu dieser Zeit vollauf damit beschäftigt, sich nicht nur wirtschaftlich, sondern auch gesellschaftlich zu etablieren. Dabei kam Sombart neben dem Fluxus-Künstler und Ästhetik-Professor Bazon Brock offenbar die Rolle eines Beraters und Mentors zu. „Nicolaus Sombart öffnete mir eine Welt, die ich bis dahin nicht kannte. Er erzählte mir von Simmel und der Straßburger Universität um 1900, von seinem Vater Werner Sombart und dem Berlin der 30er Jahre. Ich hörte ihm zu, wenn er von Alfred Weber und dem Neubeginn der Soziologie in Heidelberg nach 1945 berichtete.“17 Hubert Burda entstammt einer mittelständischen Unternehmerfamilie, die nach dem Krieg zu Wohlstand gekommen war und sich in der Medien- und Modebranche einen Namen gemacht hatte. Burda studierte Kunstgeschichte und promovierte bei dem angesehenen Kunsthistoriker Hans Sedlmayr in München mit einer Arbeit über den französischen Landschaftsmaler Hubert Robert. Statt einer akademischen Karriere entschied er sich nach einigem Zögern, in das florierende Unternehmen seines Vaters Franz Burda einzutreten. Zur Zeit seiner Bekanntschaft mit Nicolaus Sombart war der damals 39-Jährige – er war 17 Jahre jünger als Sombart – im Begriff, einen beachtlichen Karrieresprung zu machen. Es war vor allem der Habitus, die Attitüde der Überlegenheit, die Sombart von Burda unterschied. Sombart vermittelte den Eindruck von Weltläufigkeit und Savoir-vivre, von Eleganz und Kennerschaft, von gediegener Lebensart und hoher Kultur. Burda hatte zwar mit Bazon Brock einen Mann an seiner Seite, der etwas von Inszenierungskunst und Selbstdarstellung verstand, aber mit Sombart kam das Flair der großen Welt, ein Stück mondäner Lebenskunst und breitgefächerter Bildung hinzu. Sombart besaß ein Insider-Wissen über die Oberschicht, das ihn von anderen bundesdeutschen Soziologen unterschied.

17 Hubert Burda. Kunst und Medien. Festschrift zum 9. Februar 2000. Hg. von Judith Betzler, München 2000, S. 203.

Ein Freund und Gönner – Der Medienfürst Hubert Burda

Sombart suchte, für Burda höfische Maßstäbe zu setzen und empfahl ihm Baldassare Castigliones „Hofmann“, ein Brevier des guten Benehmens, zur Lektüre.18 Burda solle sich nicht nur als „Fürst der Medien“ im metaphorischen Sinne inszenieren, sondern habituell im Lebensalltag des Unternehmers. Wie wird man Fürst in der massendemokratischen Gesellschaft? Selbst die geborenen Fürsten, von denen es in Deutschland noch eine stattliche Anzahl gibt, sind nur noch dem Namen nach Fürsten, ihr wirklicher Status ist bürgerlich. Sie umgibt freilich die Aura der Adligkeit und damit ein Flair von Größe und Glamour. Glamour ist das, was dem Wirtschafts- und Bildungsbürger fehlt, was er von Prominenz und Adel lernen kann. Erst dadurch erhebt er sich über den Durchschnitt von seinesgleichen. In Deutschland sind die Großunternehmer selten glamourös. Die Sehnsucht nach Glamour teilt Burda mit Nicolaus Sombart, der weiß, dass man als Großbürger nur Anschluss an die höchste Sphäre der Gesellschaft findet, wenn man Surrogate des Höfischen, des Festlichen und Glänzenden in Gestalt des Glamourösen erzeugt. Beide – Burda und Sombart – lieben das Fest, um sich selbst zu repräsentieren. Burda hat sich in seinem Buch „Mediale Wunderkammern“ mit der Übertragbarkeit des Modells des Hofes auf die Medien ausführlich beschäftigt. Die Inszenierungskunst des absolutistischen Hofes sei heute auf die Medienwelt übergegangen. Stars wie Madonna verstünden sich zu inszenieren wie einst ein Fürst. Früher sei mit Triumphbögen Macht inszeniert worden. „Heute aber wird der ‚Lifestyle‘ nicht mehr in Triumphbögen und Bildertoren, sondern über das Fernsehen dargestellt. Das Fernsehen ist die Kathedralenplastik von heute.“19 Was früher einmal die höfische Gesellschaft darstellte, seien jetzt die „Celebrities“. Deren Inszenierung geschehe auf höfische Weise. Dem ist hinzuzufügen, dass die heutigen Celebrities Stars von Gnaden der Medien sind. Der Fürst dagegen verfügte souverän über die Medien, die ihm huldigten. Eine heutige Berühmtheit verdankt ihren Ruhm nicht der Geburt, sondern ausschließlich der Promotion durch die mediale Öffentlichkeit. Allerdings haben die Celebrities von der Inszenierungskunst der höfischen Gesellschaft gelernt. Feste, Zeremonien, Bälle usw. sind Kopien höfischer Rituale. Die Publikumszeitschriften verhalten sich parasitär zu diesem Vorgang, die Leser voyeurhaft. Burda ist davon überzeugt, in Zukunft werde die Selbstdarstellung des Einzelnen durch die Medien noch zunehmen. „Und eventuell gelangen dadurch auch ganz andere Gesellschaftsschichten nach oben. Statt eines Aufstiegs durch berufliche Qualifikation kann man nun durch geschickte, originelle Formen der Inszenierung erfolgreich sein, ja das meiste Geld verdienen.“20

18 Vgl. Gisela Freisinger, Hubert Burda. Der Medienfürst, Frankfurt/New York 2005, S. 186. 19 Hubert Burda, Mediale Wunderkammern. Hg. von Wolfgang Ullrich, München 2009, S. 111. 20 Ebd., S. 124.

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Als Medienunternehmer beherrscht Burda virtuos die Kunst der Selbstinszenierung, dient sie doch dazu, das geschäftlich Erworbene und den sozialen Status öffentlich sichtbar zu machen. Er hat erkannt, dass Rituale in einer Zeit fortschreitender Individualisierung unverzichtbar sind, umso mehr, als der Zusammenhalt durch Institutionen verloren geht. Auf die Formlosigkeit im Umgang miteinander, die Unkenntnis von Manieren ist die Wiederherstellung von Regeln der Höflichkeit die notwendige Reaktion. Höflichkeit verbindet, nimmt ein. Sie verschafft dem, der die Regeln souverän beherrscht, eine Überlegenheit über andere. In diesem Punkte denkt Burda weiter als die meisten erfolgreichen Unternehmer. Es kommt in der Tat mehr denn je darauf an, die Gesellschaft, auch die Kleingruppe, medial zu inszenieren, den Menschen wieder einen Rahmen zu geben. In der Zeitschrift „Bunte“ findet eine Rahmung des täglichen Lebens der Erfolgreichen statt. Die Zeitschrift vertritt eine höfische Inszenierungsstrategie für eine nachhöfische Gesellschaft von Celebrities. Sie findet dafür das angemessene Instrumentarium von Inszenierungen, Ritualen und Zeremonien. Am deutlichsten tritt der höfische Charakter im Mode-Business hervor, in dem sich die Designer wie Fürsten oder neue Medici gebärden. In diesem Kontext ist auch die Rolle Hubert Burdas zu lokalisieren. Neben den Fürsten der Mode tritt der Fürst der Medien mit allen Surrogaten höfischer Strategien und Techniken der Lebensstilisierung. Zwischen dem innovativen Verleger und dem feinsinnigen Kultursoziologen entwickelte sich eine Freundschaft. Hubert Burda hatte ein Faible für Existenzen wie Nicolaus Sombart, die ihm habituell zwar nicht entsprachen, aber dennoch Respekt und Bewunderung einflößten. Es gab auch im internationalen Unternehmertum Männer, die Geist, Witz und Eleganz miteinander verbanden. So zum Beispiel den Fiat-Chef Gianni Agnelli oder den englischen Verleger Lord Weidenfeld. Es ging um den Erwerb von Geschmackssicherheit und der Fähigkeit zur Selbstrepräsentation. War Sombart zu Beginn der Freundschaft mit Burda der Ideenspender, so kehrte sich das Verhältnis bald um. Sombart wurde zusehends zum Protégé Burdas, der auch dann noch zu ihm hielt, wenn manche kostspieligen Eskapaden des in die Jahre gekommenen Élegant die Generosität des Jüngeren ernsthaft auf die Probe stellten. Burda war längst in einer gesellschaftlichen Sphäre angekommen, von der Sombart nur träumen konnte. Während Sombart aufwändig seinen 60. Geburtstag feierte, interviewte Burda im Weißen Haus den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan. Sombart konnte zwar mit seiner Berufung ans Wissenschaftskolleg Berlin den Höhepunkt seiner intellektuell-akademischen Karriere verbuchen, doch verkehrte Burda zu diesem Zeitpunkt längst in jener glamourösen internationalen Society, der der Kultursoziologe Sombart attestierte, ein Surrogat der großen Welt von einst zu sein. Burda wurde mit Auszeichnungen überschüttet und war im Begriff, das zu werden, was der Freund ihm später ins Stammbuch schrieb: der Idealtypus eines Repräsentanten der bürgerlichen Elite der Bundesrepublik

Gregor von Rezzori über die „highest society“

Deutschland. Hier komme alles zusammen: Geld, Macht und Prestige. In der Person des Verlegers vereinigten sich alle Qualitäten, die einer Machtelite ihre kulturelle und soziale Legitimation verleihen. Mit seinen vielfältigen Aktivitäten als Stifter und Gönner knüpfe Burda an das aristokratische Erbe der Großherzigkeit an. In der Festschrift zum 60. Geburtstag Burdas ist Sombart mit einem Beitrag zur Aktualität des utopischen Denkens vertreten.21 In diesem Text präsentiert sich der Verfasser nicht mehr als Elite-Denker, sondern als ein in der Tradition des europäischen Humanismus tief verwurzelter Geist. Hier findet sich nichts von einer Herrschaftssoziologie oder einem Menschenbild, das dem homo sapiens mit Skepsis begegnet. Die Zukunft erscheint vielmehr als Glücksversprechen – Jeremy Benthams größtes Glück der größten Zahl – , das dritte Jahrtausend als eine Chance, die Menschheit in einen Zustand perennierender Harmonie zu versetzen. Sombart geht von der Prämisse der „one world“ aus, der Konstitution der Menschheit als Erlebnis-, Kommunikations- und Aktionsgemeinschaft, die zugleich den Weg für die Verwirklichung von Benthams Postulat vom guten Leben der vielen zu ermöglichen scheint. Global sei ein Zustand erreicht, in dem es die Richtschnur eines jeden politischen Handelns sei, dass der Einzelne sein Leben frei von äußeren Zwängen seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten gemäß gestalten solle. Als wichtigste Komponente utopischen Denkens erscheint Sombart neben der Bewahrung des Planeten als Lebensbasis ein grundlegend verändertes Verhältnis der Geschlechter, wobei die Figur des Androgyns eine richtungweisende Rolle spielt. Was heute unter dem Schlagwort Diversität sexualpolitisch in Umlauf gebracht wird, findet in Sombart seinen leidenschaftlichen Fürsprecher. Letztlich besteht kein Widerspruch zwischen Sombarts utopischem Projekt und seiner Elitetheorie. Das Glück der größtmöglichen Zahl bleibt auf jene begrenzt, die durch Herkunft, Bildung und Besitz von der geschilderten Entwicklung profitieren. Die Frauenemanzipation erstreckt sich vor diesem Hintergrund vor allem auf die Frauen der höheren Bildungsschicht, während der Großteil an den globalen Entwicklungschancen nicht teilhat.

Gregor von Rezzori über die „highest society“ Als Nicolaus Sombart 1994 sein Lebensmodell in der FAZ zu Protokoll gab, entwarf Gregor von Rezzori für die deutsche Ausgabe der „Vogue“ ein Bild der „guten Gesellschaft“ der Gegenwart. Als intimer Kenner dieser Kreise, als „Insider“ gewissermaßen, plauderte er einige Geheimnisse der High Society und einer Gesellschaft

21 Vgl. Nicolaus Sombart, Mut zur Mega-Utopie. Aktualität des utopischen Denkens. In: Hubert Burda. Kunst und Medien, S. 202–203.

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aus, die noch über dieser steht. Die sogenannten „Spitzen der Gesellschaft“ bildeten eine eigene, übergeordnete Gesellschaft, die nur zu besonderen Anlässen zusammenkomme. Dabei sind es die Frauen, die diese Gesellschaft zusammenhalten. Das gelte für die „beste“ Gesellschaft, ebenso wie für die weniger gute, den Jet-set. Wenn ein berühmter Modeschöpfer die Spitzen der internationalen Gesellschaft zu einem Abendessen einlädt, so sei dies keineswegs als ein Akt der Demokratisierung zu verstehen. „Denn in der Verbindung von Geld, das in der Mode steckt, und der Macht, die Leute wie Monsieur Yves Saint Laurent und Herr Karl Lagerfeld auf die Frauen des Erdballs ausüben, ist eben das enthalten, was die feudale Gesellschaft in einer Krone versinnbildlicht hatte: Gottesgnadentum – wenngleich ein säkularisiertes.“22 Die heutige Gesellschaft der oberen Zehntausend sei dem Charakter nach immer noch ein Fürstenhof mit seinen Rangordnungen und Spielregeln. Jedes Mitglied dieser großen Welt habe die Verpflichtung, sich zum Mythos zu machen, zu einer Traumfigur, die dem Durchschnittsbürger als Wunschbild vorschweben kann. Dabei spielten äußerste Indiskretion nach innen und vorbildliche Diskretion nach außen eine wichtige Rolle, denn nirgends werde so viel geklatscht wie im Adel. Rezzori zeichnet ein anschauliches Bild des Snobs. Dieser sei der perfekte Höfling an den Höfen der Tagesprominenz. „Die Aufgabe des Höfling-Snobs ist dreierlei: Nach außen hin die des Hirtenhundes, der die Herde zusammenhält und dafür sorgt, daß kein Nichtdazugehöriger sich einschleiche; nach innen, über die Einhaltung der Hierarchie zu wachen; das Feuer des snobistischen Strebens nach dem Dabeisein gibt dafür den Gradmesser ab; drittens - last, but not least – den Tratsch in der Gruppe hin und her zu tragen. Mit diesen Tätigkeiten sorgt der Snob entscheidend für die Mythisierung der einzelnen Figuren der Gesellschaft.“23 So sei es einem gewissen Mr. Jerry Zipkin in den USA gelungen, sogar Mrs. Nancy Reagan mit dem Nimbus der „hohen Frau“ auszustatten. Rezzori warnt davor zu glauben, die Medien seien heute die Schöpfer einer neuen guten Gesellschaft. Mit Publizität allein sei es nicht getan. So hätten die publizistischen Aktivitäten Andy Warhols die New Yorker Gesellschaft um kein neues Element bereichert. „Aufmerksamen Lesern gegenwärtiger Gesellschaftsrubriken entgeht es nicht, daß die eigentliche, die sogenannte ‚beste‘ Gesellschaft sich mehr und mehr in eine Bastion zurückzieht, in der ihr niemand etwas anhaben kann – nämlich in die Diskretion der Lebensführung.“24 Wenn eine wirklich große Dame der Gesellschaft wie die Signora Marella Agnelli, die der alten neapolitanischen Fürstenfamilie Caracciola entstammt,

22 Gregor von Rezzori, Ganz hoch oben. In: Vogue. Deutsche Ausgabe. Nr. 1/1994, S. 197. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 211.

Die Berliner Gesellschaft

beim Gastmahl eines Couturiers neben einem berühmten Filmstar oder der Fürstin von Thurn und Taxis erscheine, „so tut sie das in der Unantastbarkeit einer hoheitsvollen Zurückhaltung, die vorbildgebend ist für das, was die ‚beste‘ Gesellschaft von der etwas weniger guten des Jet-set unterscheidet.“25 Auch für die Fürstin von Thurn und Taxis komme es auf die Differenz zwischen Sein und Tun an, wobei die pflichtbewusste Erzieherin ihrer Kinder überzeugender wirke als die Hofnärrin ihres verstorbenen Ehemannes. Rezzori macht deutlich, dass weniger als der Titel die Lebensführung zählt. Wer zur besten Gesellschaft gerechnet werden will, lebt diskret und scheut das Rampenlicht der Öffentlichkeit.

Die Berliner Gesellschaft Ein wiederkehrendes Thema von Nicolaus Sombarts soziologischen Explorationen ist die Berliner Gesellschaft, in der er seit der Rückkehr in seine Heimatstadt 1982 Fuß zu fassen suchte. Damals war die Stadt noch geteilt und Westberlin bildete ein Biotop, das einem vergnügungssüchtigen Großstädter eine Vielzahl von Zerstreuungen bot. Nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wurde Berlin die Hauptstadt der Republik. Es etablierte sich allmählich eine Berliner Gesellschaft, eine polymorphe Formation, die dem entsprach, was Sombart als Simulation von Gesellschaft bezeichnet. Der erste Befund lautet: „Sie ist weder eine Elite noch eine Oberschicht im Sinne der ‚upper ten‘. Sie zeichnet sich nicht aus durch Homogenität der Dazugehörigkeit, sondern durch deren Diversität (…) Was fehlt, ist die Kontinuität, die gegeben ist durch das Vorhandensein eines harten sozialen Kerns, der durch mehrere Generationen in einer Stadt unangefochtenermaßen die gesellschaftliche Spitze besetzt – Aristokratie oder Großbürgertum.“26 Einen solchen sozialen Kern gab es in Berlin bis zu Beginn des zweiten Weltkrieges. Es existierten tonangebende Häuser, die sich in ihren Salons und auf ihren Soireen repräsentierten. Nach dem Krieg war diese Welt erloschen. Das Problem des Auseinanderfallens bis hin zur völligen Konturlosigkeit der Berliner Gesellschaft entstand erst nach 1945 durch die Teilung der Stadt, die Zerschlagung von Adel und Bürgertum in der DDR und die Abwanderung des Wirtschaftsbürgertums in die westdeutsche Bundesrepublik. Westberlin besaß allenfalls Reste einer Gesellschaft im engeren Sinne. Es entstand etwas völlig Neues, das mit dem Begriff Schickeria

25 Ebd. 26 Nicolaus Sombart, Wer gehört dazu? Das ist in der Berliner Gesellschaft, wie Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar zeigen, nicht leicht zu beantworten. In: Die Welt vom 1. April 2000. Rezension des Buches „Die Berliner Gesellschaft. Ein Sittenbild – gestern, heute, morgen“. Hg. von Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar, Berlin 1999/2000.

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nur vage erfasst wird. Nachdem Berlin Hauptstadt geworden ist, sind es neue Eliten aus Politik, Wirtschaft und Kultur, die bestrebt sind, mit vielerlei organisatorischem Aufwand eine Berliner Gesellschaft aus dem Boden zu stampfen. Dem kritischen Beobachter entgeht nicht, dass das, was man als Berliner Gesellschaft bezeichnen könnte, „etwas Ephemeres, Fragmentarisches, bunt Zusammengewürfeltes“ hat, „den Charakter einer Improvisation, die sich in Stilfragen nicht ganz sicher ist.“27 Dadurch habe die „Berliner Gesellschaft“ etwas Unkonventionelleres als die „gute Gesellschaft“ anderer Städte wie Hamburg, Mailand oder Basel. Adel und Großbürgertum haben eine Genealogie verinnerlicht, von deren Wert sie überzeugt sind. Sombart widerspricht energisch der Behauptung, dass jede Familie eine Geschichte habe. „Eine Geschichte haben nur Familien, die mit der Geschichte zu tun haben. Und zwar proportional zu ihrer sozialen Stellung. An der Spitze (Dynastien, Aristokratie) ist Familiengeschichte und Geschichte identisch. ‚At the bottom‘ existiert weder das eine, noch das andere.“28 Wenn es noch eine „Gesellschaft“ in Berlin gebe, so werde sie von Personen repräsentiert, deren Familie hier über mehrere Generationen ansässig ist.29 Sombart ignoriert in seinem Verständnis von Familie souverän die Bestrebungen der jüngeren Sozialgeschichtsschreibung, auch den Unterschichten eine Geschichte zuzubilligen. Offenbar sind aus Sombarts Sicht selbst namhafte Repräsentanten einer Arbeiterpartei oder einer Gewerkschaft ohne Familie, denn sie haben nur als Einzelne Geschichte geschrieben, aber nicht als Teil einer weit in die Vergangenheit zurück verfolgbaren sozialen Einheit. Die These von der Geschichtslosigkeit der Unterschichten verrät, dass Sombart soziale Umwälzungen nur als Produkt von Führern anzuerkennen bereit ist, die selbst nicht diesen Schichten angehören. Die Physiognomie eines Menschen reiche oft aus, um seinen familiären Hintergrund zu erahnen. Einer jungen Frau, die einer berühmten Professorenfamilie entstammt, sieht Sombart gleich an, dass sie aus guter Familie stammt. „Spricht von ihrem ‚berühmten Vater‘. Ich bin vollkommen hingerissen. Achtzehn, Pagenkopf. Schöne gerade, starke Nase, Katzenaugen. Sinnlicher Mund mit leicht hängender, lustvoller,

27 Ebd. 28 Sombart, Journal intime, S. 91. 29 Dass selbst Gelehrte über einen Familiennamen verfügen, ist ein Indiz für den Prestigegewinn des Bildungsbürgertums. Um 1792 konnte der Philosoph Christian Garve noch feststellen, ein erfolgreicher Kaufmann oder zu Ruhm gelangter Gelehrter könne sich in der Regel nicht auf den Namen seiner Familie berufen. Dieser sei den wenigsten bekannt. Vgl. Garve, Über die Maxime Rochefoucaulds: das bürgerliche Air verliehrt sich zuweilen bey der Armee, niemahls am Hofe, S. 355.

Die Berliner Gesellschaft

immer spielender Unterlippe. Mein Idealtyp. Das Knabenmädchen (…) Ich: Man sieht dir an, daß du gute Eltern hast.“30 Sombart hebt den demokratischen Charakter der Berliner Gesellschaft hervor. Da die großen Familien in dieser Stadt kaum eine Rolle spielen, habe ein jeder die Chance, von den Medien zur Berliner Gesellschaft gerechnet zu werden. Er registriert ein nahtloses Ineinander-Übergehen von Welt, Halbwelt und Unterwelt. „Man könnte sagen, da es in Berlin eine Gesellschaft nicht gibt, sei alles, was sich gesellschaftlich gibt, demi-monde. Das gilt besonders für die Frauen, wo es die alten bürgerlichen Grenzen und Distinktionen nicht mehr gibt. So genießen hier, wie mir scheint, die Frauen eine größere Freiheit und Autonomie als irgendwo sonst.“31 Der Hedonist und Schürzenjäger weiß dies zu schätzen. Sombart besitzt genug Realitätssinn, um zu erkennen, dass er selbst bestimmte Strategien des Verhaltens entwickeln muss, um von der Aufmerksamkeitsbranche wahrgenommen zu werden und den Status eines Prominenten zu erlangen. In seinem Fall ist es die Rolle des umtriebigen Salonlöwen. Sombart versteht es, sich einen Platz in der Berliner Gesellschaft zu erringen, indem er ganz im Unterschied zu seinem Kollegen Christoph Graf von Schwerin durch „intimistische“ Mitteilungen Schlagzeilen macht. So bringt er es zu einiger Prominenz und die Berliner Medien bieten ihm immer wieder die Möglichkeit, sich darzustellen. Sombart weiß, dass diese Gesellschaft nicht das ist, von dem er in seiner Jugend träumte. Sie ist lediglich ein Surrogat. Er zieht sich aber nicht resigniert in ein Refugium zurück, sondern spielt mit sichtlichem Vergnügen die Rolle eines „enfant terrible“, eines Fossils einer längst verflossenen Kultur, wodurch ihm ein Platz in der Berliner Schickeria sicher ist. Es zeigt sich, dass die meisten, die dieser Gesellschaft im engeren Sinne angehören, auf eine bürgerliche Herkunft verweisen können oder zumindest den Eindruck erwecken, nicht von ganz unten zu kommen. Im Unterschied zu den meisten Repräsentanten der Berliner Gesellschaft hat Sombart den Vorteil, auf eine großbürgerliche Vergangenheit verweisen zu können, die Geschmack, Stil und Lebensart verbürgt. Er füllt damit in Berlin gewissermaßen eine Leerstelle aus. In München oder Hamburg, wo noch Familientraditionen das gesellschaftliche Leben der Oberschicht bestimmen, hätte er dieses Kapital weniger gut nutzen können.

30 Sombart, Journal intime, S. 69. 31 Ebd., S. 181.

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XII.

Intime Bekenntnisse

„Es kommt schließlich nur darauf an, daß man überhaupt über die Probleme des erotischen Lebens nachdenkt. Widersprüche, die man zwischen seinen eigenen Resultaten finden mag, beweisen nur, daß man in jedem Falle recht hat.“ Karl Kraus, Sprüche und Widersprüche

Nicolaus Sombarts Berufung an das Berliner Wissenschaftskolleg im Grunewald im Herbst 1982 stellt den Höhepunkt seiner intellektuellen Karriere dar. Er gehört zum zweiten Jahrgang des ein Jahr zuvor gegründeten Kollegs, das unter der Leitung Peter Wapnewskis steht. Im Kolleg sind nicht nur renommierte Wissenschaftler versammelt, sondern auch Künstler, Komponisten und Schriftsteller. Zu den prominentesten Fellows des Akademischen Jahres 1982/83 gehören der Philologe Jean Bollack, der Friedensforscher Johan Galtung, ein alter Bekannter Sombarts aus seiner Europaratszeit, die Schriftsteller György Konrád und Stanislaw Lem und der Philosoph Odo Marquardt. Sombart hat als Forschungsprojekt eine Monographie über Wilhelm II. aus kultursoziologischer Sicht vorgeschlagen. Daneben will er sich einer Studie über Carl Schmitt und einer weiteren über Charles Fourier widmen. Am Ende des Studienjahres wird er einen Bericht über seine Jugend in Berlin vorlegen, der 1984 als Buch erscheint. Während der Monate, die er am Wissenschaftskolleg verbringt, führt Nicolaus Sombart ein Tagebuch, das mehrere Ordner umfasst – das meiste diktiert er in die Schreibmaschine – und 2003 unter dem Titel „Journal intime 1982/83“ auf den Markt kommt. Es wirbelt viel Staub auf, denn zahlreiche Passagen des Buches enthalten intime Details, in der ursprünglichen Fassung des Manuskripts unter direkter Namensnennung der betreffenden Personen, in der Druckfassung dann durch Abkürzung mancher Namen gemildert. Das Buch erzählt vom Leben im Kolleg, von Vorträgen und Konferenzen, von Begegnungen mit interessanten Menschen aus Wissenschaft, Kultur und Politik und entwirft ein Panorama des geistigen Westberlin aus der Perspektive eines kontaktfreudigen, umtriebigen Privatgelehrten und Gesellschaftsmenschen. Ergänzt werden diese Berichte durch Einblicke in das Intimleben des Lebemannes Sombart, dessen Amouren ebenso viel Platz in seiner Tagesgestaltung einnehmen wie die geistige Arbeit und der Austausch mit Kollegen und Freunden. Erst im Alter von achtzig Jahren entscheidet sich Sombart, das Tagebuchkonvolut, das den Titel „Fellows & Frauen“ trägt, als Zeitdokument zu veröffentlichen. Im Vorwort spricht der Autor mit Genugtuung von „Ein(em) Jahr im Paradies“.

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Intime Bekenntnisse

Im Oktober 1982 bezieht Sombart eine Wohnung in der Seyfriedschen Villa in der Hagenstraße, nicht weit entfernt vom Wissenschaftskolleg. Es ist eine als „angemessen“ betrachtete Unterkunft, schließlich ist er nicht nur ein hochqualifizierter Wissenschaftler, das waren auch seine Kollegen am Kolleg, sondern der Sohn des berühmten Soziologen Werner Sombart und ein hoher Funktionär des Europarats. Sombart hat engen Kontakt zu Persönlichkeiten aus Großbürgertum und Adel, soweit diese noch in Berlin vorzufinden sind. Mit Axel von dem Bussche, einem Grandseigneur aus altem Hannoveranischem Adel, der ebenfalls als Fellow am Kolleg eingeschrieben ist, verbindet ihn bald ein freundschaftliches Verhältnis. Es ist das Thema des letzten Kaisers, das Sombart Kontakt zu Menschen suchen lässt, deren Familien der Monarchie nahestanden. Bald fühlt er sich wie ein Fisch im Wasser. „Hier gehöre ich hin, so muß mein Leben sein! Straßburg liegt in unvorstellbarer Ferne. Eine Schatten-Scheinexistenz. Vollkommen unangemessen und unwürdig. Das hier ist viel mehr. Der Höhepunkt, auf den ich zehn Jahre mindestens gewartet habe. Mir wird hier ein Freiraum zur Verfügung gestellt, um endlich meinen Arbeiten nachgehen zu können. Zum Arbeiten? Zum Leben! Geschenkte Zeit!“1 Von der großen Sache, der er beim Europarat dienen wollte, ist keine Rede mehr. Die erste Ernüchterung war zwar schon wenige Monate nach seinem Eintritt in den „Conseil“ eingetreten, als er Carl Schmitt mitteilte, er habe sich auf „einem lebenden Leichnam“ angesiedelt, doch die folgenden fast dreißig Jahre muss er als Zumutung empfunden haben.

Der Honnête Homme im Petit Chalet Sombart weiß, dass man ihn unter den Fellows als eine Art Paradiesvogel betrachtet, aber unter der Regie des weltläufigen Wapnewski ist für Leute seines Schlages in diesem erlauchten Institut durchaus Platz. Als ein besonderer Glücksfall erweist es sich, dass nicht weit vom Wissenschaftskolleg und der bezogenen Wohnung ein Bordell der gehobenen Klasse seine Dienste für eine betuchte Herrenwelt anbietet. Die Preise entsprechen dem, was man mindestens „ausgeben muß, um ein ‚anständiges‘ Mädchen, mit dem man ins Bett will, auszuführen.“2 Eine gut gefüllte Brieftasche erlaubt es dem Fellow, von dem Angebot großzügig Gebrauch zu machen. Hier sind die Männer noch Herren und die Frauen, die den Herren

1 Nicolaus Sombart, Journal intime 1982/83, Rückkehr nach Berlin, Berlin 2003, S. 14. 2 Ebd.

Der Honnête Homme im Petit Chalet

Freude bereiten, sind Mädchen. Diese sind „teilweise wirklich auffallend hübsch und ‚distinguiert‘. Man könnte sich mit ihnen überall zeigen.“3 Sombart führt sie in die Paris Bar aus, nimmt sie mit zu Vorträgen und geht mit ihnen ins Theater. Einige von ihnen engagiert er als „Blumenmädchen“ für die Ausstattung seines 60. Geburtstags. Sombart hat keine Vorurteile und keine Scheu, Frauen der höheren Kreise wie zum Beispiel eine Senatorengattin darauf hin zu taxieren, ob sie durch ihren Sex-Appeal nicht auch in das Luxusbordell nebenan passen würde. Selbst eine Gräfin, die ihm beim Déjeuner begegnet, und die er sich als Ehefrau eines seiner Söhne wünscht, sei nicht mehr wert als die „besseren Mädchen“ aus dem besagten Etablissement. Der Niveauunterschied zeige sich nur in der Sprache. Damit relativiert Sombart sein bisheriges Frauenbild. Die Herkunft aus der Oberschicht verbürgt zwar Stil und eine differenzierte Ausdrucksweise, doch diese Qualitäten verblassen, wenn die körperliche Attraktivität fehlt. Die „Blumenmädchen“ aus dem Grunewalder Freudenhaus sind dem Connaisseur für Liebesfreuden allemal willkommener als Frauen aus dem Großbürgertum ohne vergleichbare körperliche Vorzüge. Dies gilt abgeschwächt auch für weibliche Angehörige des preußischen Hochadels, die freilich über ganz andere Verführungskräfte verfügen. Eine besondere Auszeichnung für den Adelsliebhaber ist die Bekanntschaft mit der Prinzessin Kira von Preußen, der jüngsten Tochter von Prinz Louis Ferdinand, dem Chef des Hauses Hohenzollern. Auf dem Kurmärker Adelsball versucht er, mit der Prinzessin zu flirten. „Eine sich ganz natürlich gebende Frau von Vierzig. Eher mädchenhaft. Sicher keine Schönheit, eher schlecht gekleidet (nur schönen Schmuck), ein Blitzen (nicht Leuchten) in den schmalen, wasserblauen Katzenaugen. Aber für mich, in meinem Kopf, die Urenkelin Kaiser Wilhelms, eine Hohenzollernprinzessin. Ich kann da nicht unbefangen sein, je regrette, ça me fait quelque chose. Sie beim Tanzen im Arm zu halten, versetzte mich in einen Zustand gelinder, keineswegs erotischer Erregung, als ob ich etwas sehr Kostbares hielte, das ich nicht fallen lassen dürfte. Die Berührung mit dem sacré.“4 Sombart muss erkennen, dass er mit fast sechzig Jahren zwar immer noch eine attraktive Erscheinung ist, die Herzen jüngerer Frauen ihm aber nicht mehr ohne weiteres zufliegen. So erlebt er manche Enttäuschung, die er zu kompensieren versteht, indem er sich sehr junge Frauen, die seine Enkelinnen sein könnten, aus dem Luxusbordell oder per Anruf auf Zeitungsannoncen kommen lässt. So verzeichnet der Chronist bei sich ein Kommen und Gehen. Wenn ihm reizvoll erscheinende Frauen, die er außerhalb des Bordells kennenlernt und begehrt, sexuell

3 Ebd., S. 22. 4 Ebd., S. 44.

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nicht gleich zu Willen sind, bricht er die Beziehung ab und bescheidet ihnen: „Ich bin kein Sublimierer, sondern ein Erotiker.“5 Der Erotiker sucht den unmittelbaren Genuss und meidet langwierige Annäherungen. Die Frauen aus dem Bordell verstehen ihr Geschäft. Sie sind anschmiegsame Geliebte, verwöhnen den Freier und bereiten ihm keine Schwierigkeiten. „Ich habe den schönen, jungen, kieselglatten, goldbraunen Körper genossen, wie eine kulinarische Delikatesse. Sie hat mitgespielt, und auch herzlich dem Baumkuchen und Schampus zugesprochen. Ein kleines Fest! Eigentlich wollte D … da sein, aber die hat wieder irgendwelche ‚Komplikationen‘, und das beginnt mich zu nerven. Da lobe ich mir klare Verhältnisse wie diese.“6 Als eines der Blumenmädchen, die sein Geburtstagsfest verschönern – eine Studentin, die in einem Lokal arbeitet, sich verliebt hat und sich ihm sexuell entzieht – nur an Freundschaft interessiert ist, fragt er sich: „Ich stehe vor einer ähnlichen Situation wie mit D … Interessiert mich eine solche Beziehung überhaupt ohne Sex? Was für eine absurde Lage – auf der einen Seite Therese, Bonny, Margarete, etc. - ganz auf ‚das‘ reduzierte Partialbeziehungen, die, im Falle Bonny ganz klar, eine Ausweitung ins Persönlich-Emotionale ablehnen; auf der anderen Seite D …, Tamara, die eine ‚Freundschaft‘ wollen, aber das Sexuelle ablehnen. Die alte Dichotomie ‚anständige‘ Frau gegen ‚Hure‘ mit entsprechenden, tief in die Mentalitäten eingeschliffenen Verhaltensmustern?“7 Könnte es sein, dass die Dichotomie in diesem Fall gar nicht existiert? Die Frauen, die er bezahlt und die Ja sagen, sind gewiss Huren, aber sagen die anderen Nein, weil es ihnen der Anstand gebietet? Liegt es nicht nahe, dass diese Kategorie Frauen, die sehr jung sind, an einem sechzigjährigen Mann kein oder kein dauerhaftes sexuelles Interesse haben? Wäre es nicht eher die Ausnahme, wenn sie dem Körper des alternden Mannes etwas abgewinnen können? Diese Frage stellt sich der Erotiker nicht. Er ist charmant, klug, großzügig und an Welterfahrung jungen Männern weit überlegen, aber woher nimmt er die Überzeugung, er sei als Liebhaber unwiderstehlich? Zu diesem Narzissmus gehört die Einbildung, die Frauen, die er bezahlt, müssten beim Sex mit ihm etwas empfinden. Ist dies offensichtlich nicht der Fall, so tröstet es ihn zu hören, dass es mit ihrem Freund nicht besser gehe. Der Liebhaber zeigt sich indes Wiederbegegnungen mit Frauen, die sich ihm verweigern, nicht ganz abgeneigt, solange noch die Hoffnung besteht, er könne zum Ziel gelangen. Es spricht für seine Generosität, dass er sich den jungen Prostituierten gegenüber wie ein Kavalier verhält. So lässt er sich über ihr Leben erzählen,

5 Ebd., S. 31. 6 Ebd., S. 92. 7 Ebd., S. 179.

Der Honnête Homme im Petit Chalet

erteilt ihnen Ratschläge, behandelt sie wie zärtliche Geliebte und gibt sich wie ein väterlicher Freund. Sombart verbindet den Bericht über sein Liebesleben mit theoretischen Kommentaren, um diese Abenteuer mit der neuen Liebesordnung des großen Utopisten Charles Fourier verknüpfen zu können. Den Höhepunkt seiner erotischen „vie expérimentale“ bildet eine mit einem jungen Mann und einer jungen Frau verbrachte Nacht auf einem Liebeslager, die ihn in ganz neue Erfahrungsdimensionen führen sollte. Er gewinnt sie für einen „threesome“, wie er es nennt. „Daraus wurde eines der schönsten Erlebnisse meines Lebens: mein Urphantasmus wurde, wie nie, in vollkommener Schönheit und Harmonie, in sich zur Leidenschaft steigender Verspieltheit, zur Wirklichkeit.“8 Ob dieses Abenteuer wirklich stattgefunden hat oder Sombarts Phantasie entsprungen ist, ist nebensächlich. Entscheidend ist der theoretische Ertrag, den er ihm zumisst. In seinen der Erotik gewidmeten Texten – und Überlegungen dazu finden sich in allen seinen autobiographischen Schriften – ist die Überwindung der Zweierbeziehung das zentrale Thema. Dabei spielt der sexuelle Akt eine entscheidende Rolle. Für Sombart war es immer ein Ziel, seine homosexuelle Komponente ungehemmt ausleben zu können. Hat er mit dem schönen jungen Mann zuvor die Präsenz des Göttlichen erlebt, so findet dieses Erlebnis durch die Beteiligung einer Frau eine weitere Steigerung. „Ich fand alle meine ‚Theorien‘ bestätigt, wie der Flux des Begehrens durch die Dreiersituation eine Art von Akkumulation erfährt, bis zu dem Augenblick, in dem die Leiber entgrenzt sind und alles sich auflöst in ein Bad von Zärtlichkeit.“9 Dieser Entgrenzung der Sinne war wenige Tage zuvor ein ähnliches Abenteuer unter Beteiligung eines Callgirls vorangegangen, eine profane Ouvertüre zu dem endlich erlebten göttlichen Akt. Die Liebeserlebnisse mit Prostituierten sind für Sombart eine Bestätigung seiner Theorie des Erotischen. Nicht nur der Begegnung mit einer Prinzessin des Hauses Hohenzollern wohnt etwas Sakrales inne, auch den erfüllten Sexualakt – gleichviel mit wem – ordnet er der gleichen Kategorie zu. Jede geschlechtliche Vereinigung besitze einen sakramentalen Charakter. „‚Heilige‘ Prostitution. Meine kleinen Huren: Priesterinnen! Zelebrieren den Mythos. Darum ist Prostitution unausrottbar, hat nichts mit Ökonomie zu tun. ‚Anthropologische‘ Konstante.“10 Beides, der Tanz mit einer Hohenzollernprinzessin und der Beischlaf mit einer Prostituierten, streift die Sphäre des Göttlichen, ermöglicht die Teilhabe am großen Mythos. Während der mythische Charakter des Königlichen nur in Ausnahmesituationen erlebbar ist und exklusiven Charakter hat, ist der Sexualakt ein alltägliches,

8 Ebd., S. 49. 9 Ebd., S. 50. 10 Ebd., S. 170.

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jedermann zugängliches Ritual. Die jungen Frauen, die dem Freier im Bordell zur Verfügung stehen, bieten alle das Gleiche. „Ich würde es mit jeder anderen genauso tun. Es wäre nicht ganz genau dasselbe, aber beinahe. ‚Austauschbar‘. Aber es ist, wie ich jetzt weiß, ein Ritual. Der Nachvollzug des Urmythos. Das Sakrament des ‚Lebens‘. Sacré. Das Mädchen ist Altar und Hostie, Ministrant und Priesterin zugleich. Immer ist sie Epiphanie, die Göttin. Merkwürdig, in der ‚Schwarzen Messe‘ wird genau das in Szene gesetzt. Ist das ‚Satanskult‘?“11 Im Umfeld des Wissenschaftskollegs lernt Sombart eine Reihe von Intellektuellen kennen, die der 68er-Generation angehören. Sie teilen sein Interesse an Carl Schmitt und profitieren von seinen intimen Kenntnissen des Gelehrten. „Es ist erstaunlich, wie viel diese Burschen wissen (sie sind fast alle Taubes-Schüler).“12 An der Freien Universität nimmt er Kontakt zu Professoren auf, die ihm helfen sollen, einen Lehrauftrag zu erlangen. Er wird ihm am Ende des Fellow-Jahres schließlich erteilt, während die erhoffte Honorarprofessur ausbleibt.13 Der akademische Zeitgeist der achtziger Jahre steht ganz im Zeichen des Posthistoire und der Postmoderne, des Abschieds vom Projekt einer zu vollendenden Moderne und der Vorstellung eines möglichen Menschheitsfortschritts auf dem Wege aufklärerischen Denkens und der Überwindung bestehender Herrschaftsund Ausbeutungsverhältnisse. Sombart lernt Vertreter eines wilden Denkens kennen, wie es damals im Schwange war. Diese Denkrichtung kommt seinen eigenen Neigungen entgegen: dem Interesse am Mythos und der Distanz zu linken Theorien. Am Wissenschaftskolleg hört er einen Vortrag über die Kritische Theorie der Frankfurter Schule und registriert mit Erstaunen: „Man fragt sich danach, wie dieses seltsame Konstrukt eine derartige Wirkung haben konnte.“14 In Berlin finden immer wieder Konferenzen und Tagungen statt. An Einladungen zu Abendessen in illustrer Runde mangelt es nicht. Sombart ist emsig bemüht, bekannte Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft kennenzulernen. Er beklagt sich, dass er nicht immer dabei ist. „Warum wurde ich nicht eingeladen?“, lautet ein immer wiederkehrender Refrain. Dabei kann er sich über Mangel an Begegnungen mit einflussreichen Leuten nicht beklagen.

11 Ebd., S. 182. 12 Ebd., S. 34. 13 Die zuständige Senatsverwaltung für Kultur nannte als Grund für die Ablehnung, Sombart könnte noch nicht die erforderliche fünfjährige Lehrtätigkeit an einer Hochschule nachweisen. Vgl. NL N. Sombart 405, 1874, Bl. 75 und 89. 14 Sombart, Journal intime, S. 65.

Lust am Skandal

Lust am Skandal Auf breite Resonanz bei den Fellows stoßen Sombarts Berichte über seine Jugend, das Leben im Haus seiner Eltern in der Humboldtstraße im Grunewald, unweit vom Sitz des Wissenschaftskollegs. Dieses Kapitel deutscher Geschichte – das allmähliche Verlöschen des Berliner Großbürgertums – ist kaum bekannt, und Sombart kann darüber wie nur wenige Auskunft geben. Die Teile des Manuskripts, die er während seines Jahres am Kolleg niederschreiben wird, münden schließlich in die Fertigstellung seines ersten Buches, sieht man von dem schmalen Werk über Krise und Planung aus den sechziger Jahren einmal ab. Sombart kommen Zweifel, ob sein Bericht die heutigen Leser ansprechen wird und sein Name genug Anziehungskraft besitzt. „Entweder ‚man‘ ist berühmt, dann kann man erzählen, was man will, oder man ist es nicht, dann muß man ‚Literatur‘ machen. Ich liege genau dazwischen.“15 Diese Zwischenlage sollte sich allerdings als Vorteil erweisen. Gewiss, Sombart ist kein berühmter Autor, der auf eine breite Leserschaft hoffen kann, und er ist auch kein professioneller Literat, der seine Lebensgeschichte in fiktionaler Form als Roman präsentiert. Er ist zuallererst Soziologe, ausgestattet mit der Gabe des Journalisten, gesellschaftliche Erfahrungen anschaulich darzustellen. „‚Ihre Stärke liegt in der Sichtbarmachung des Zeittypischen, im Kommentar‘“16 , lautet das Urteil eines Fellows. Mit seinem „Journal intime“ verhält es sich ähnlich. Er fragt sich, für wen er denn eigentlich diese Notizen verfasse. Es sei zwar reizvoll, einen Band „Fellows und Frauen“ herauszubringen, aber wäre es nicht einfach ungehörig und undankbar? Diese Skrupel befallen den Autor auch deshalb, weil er an der literarischen Qualität seiner Aufzeichnungen zweifelt. Dabei sind solche Qualitäten für den Markterfolg eher von geringem Belang. Der Klartext der Mitteilung ist interessant genug, bereitet er doch – wie das Presseecho bestätigt – zumindest dem Berliner Leser ein voyeurhaftes Vergnügen. Sombart entschließt sich nicht zuletzt deshalb zu der Veröffentlichung, da er glaubt, er habe keinen guten Ruf mehr zu verlieren, ist er doch längst als bunter Vogel, notorischer Partygänger und Provokateur in der Stadtöffentlichkeit bekannt. Das Tagebuch bestätigt dieses zweifelhafte Renommee. Sombart spekuliert auf einen Skandalerfolg. Im Unterschied zu seinem Freund Graf Schwerin, der in seinen Erinnerungen alles allzu Intime meidet und damit eine Haltung des Adels bestätigt, dass man zwar intern Klatschgeschichten verbreitet, aber nach außen nichts davon verlauten lassen darf, setzt Sombart auf den Aufmerksamkeitswert intimer Details. Er will ein Höchstmaß an Umsatz erzielen.

15 Ebd., S. 86. 16 Ebd., S. 105.

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Intime Bekenntnisse

Sombarts Tagebuch gehört zum Genre der erotischen Enthüllungsliteratur. In Frankreich hat die Kunstjournalistin Catherine Millet mit ihrem Buch „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ einen Bestseller lancieren können. Mit reportagehafter Direktheit hat sie die adäquate Form dafür gefunden. Doch welcher Sprache bedient sich Sombart, um über sein Leben als Erotiker zu berichten? Welches sind seine literarischen Vorbilder? Manche Schlüpfrigkeiten erinnern an den frühen Henry Miller, manches an das Genre pseudonym verfasster Pornoromane. Die Darstellung schwankt zwischen der genüsslichen Aufzählung stets gleicher sexueller Details ohne jeden Anspruch auf literarische Gestaltung und einer stilistischen Überhöhung intensiv erlebter Kopulationsvorgänge, die das Alltägliche transzendieren und den Bereich des Spirituellen tangieren. Der Weltmann und Hedonist ist auf der Suche nach einer Steigerung des sinnlichen Genusses, der Mythologe und Metaphysiker der Liebe wird von dem Bedürfnis nach Erkenntnisgewinn angetrieben und verleiht dem sexuellen Geschehen einen tieferen Sinn. Ist die sexuelle Befreiung der Frau die Zukunft des Mannes, so ist ihre erkaufte Hingabe seine Gegenwart – lautet das ernüchternde Fazit dieses experimentellen Lebens. Nicolaus Sombart mangelt es nicht an Selbstbewusstsein. Das macht einen Teil seiner Anziehungskraft auf andere aus, führt aber auch zu grotesker Selbstverkennung seines Ranges. So hat er keine Scheu, seine Erinnerungen in die Tradition literarischer Werke zu stellen, für die Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ das Modell abgibt. Und er hat auch keine Bedenken, sein intimes Tagebuch – literarisch betrachtet ein mediokres Werk – mit Chateaubriands Erinnerungen „Mémoires d‘outre-tombe“ zu vergleichen, eine Messlatte, die für ihn zu hoch ist. Der Selbstverkennung seines literarischen Ranges entspricht ein Kokettieren mit seinem unausgeschöpften geistigen Potential. So ist der Kenner der literarischen Welt des Mittelalters Peter Wapnewski für ihn ein Mann, der es versteht, aus einer geringen Begabung das Bestmögliche herauszuholen: „Er gehört sicher auch zu jener Kategorie Menschen wie Thomas Mann, die aus einer ganz kleinen Begabung ein Optimum herausgewirtschaftet haben. Er hat mit seinem Pfunde gewuchert. Während ich genau am anderen Pole stehe, der ich, mit einer verschwenderischen Vielfalt von Talenten ausgestattet, es zu nichts gebracht habe.“17 Solche Formulierungen sind keine Ausrutscher, sondern müssen ernst genommen werden. Sombart hält sich in der Tat für einen mit einer Vielzahl von Talenten ausgestatteten Mann, der es nur nicht verstand, ein Optimum aus diesen Talenten „herauszuwirtschaften“, während sein Studienkollege Koselleck und sein Kamerad beim Arbeitsdienst Wapnewski gerade dies vermocht haben. Der hochfahrende

17 Ebd., S. 96.

Ein Fest für Charles Fourier

Ton verrät ein tiefsitzendes Ressentiment und eine Larmoyanz, die Sombart eigentlich gar nicht nötig hat, denn seine Talente sind doch in seinen Büchern für jedermann ersichtlich. Er ist ein glänzender Schilderer gesellschaftlicher Milieus, ein blendender Chronist der mondänen Berliner Boheme und ein Freigeist, der sich nicht scheut, sich zwischen alle Stühle zu setzen. Dieser Mut, sich zu blamieren, ist nicht jedem gegeben.

Ein Fest für Charles Fourier Im Zentrum aller Aktivitäten Sombarts während des Jahres am Wissenschaftskolleg steht die Begehung seines 60. Geburtstags. Es wird ein aufwändiges Fest, veranstaltet im Schlosshotel Gehrhus im Grunewald. Hier erweist Sombart sich als ein wahrer Schüler Charles Fouriers, denn eine „Gesellschaft, in der das Fest nicht mehr vorbereitet wird, ist dem Untergang geweiht.“18 Für Fourier wird die künftige neue Gesellschaft wie ein permanentes Fest organisiert sein. Vorbild ist die Lebensart der Aristokratie, die es virtuos verstand, sich zu amüsieren. Sombart hat sein Geburtstagsfest sorgfältig inszeniert und ihm einen opulenten theatralischen Rahmen gegeben. Die Hauptakteure neben dem Jubilar sind die von Schauspielern verkörperten Figuren Wilhelms II. und Charles Fouriers. Der eine symbolisiert die monarchistischen Phantasien Sombarts, der andere die erotischen Utopien. In einer nicht gehaltenen Rede kommt Sombart auf die drei großen Passionen seines Lebens zu sprechen: die Freundschaft, die Frauen und die Familie. Besonderes Gewicht legt der Jubilar auf die Familie. Wenn er sich für das wilhelminische Deutschland so sehr passioniere, dann deshalb, weil er damit seinen Familienroman aufarbeite. „Die Familie ist nicht die Sache der Männer, sondern das Reich der Herrschaft der Mütter! Wir, die Väter und Söhne, sind Brüder, Spielgefährten, Vasallen. – Die Patriarchen sind ohnmächtige Gewalthaber! Der wahre Mittelpunkt, das Zentrum der Macht jeder Familie ist immer eine Königin.“19 Der Dank gilt vor allem seiner Frau, deren Schönheit, Güte, Klugheit und Langmut gepriesen wird. Sein Lob gilt der Ehe: „Das Geheimnis der Ehe ist die Dauer: das Reifen in der Zeit, das hat sie mit der Freundschaft gemeinsam – das unterscheidet sie von der Liebe, die in der Zeit immer ihre Grenze findet. Die Ehe ist mehr als die Freundschaft und die Liebe – sie ist ein wunderbares und mysteriöses Bündnis, das uns erlaubt, die große Leidenschaft des ‚Familisme‘ zu erfüllen.“20

18 Nicolaus Sombart, Rumänische Reise. Ins Land meiner Mutter, Berlin 2006, S. 122. 19 Sombart, Journal intime, S. 145. 20 Ebd., S. 146.

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Der Lebemann und Dandy ist zweifellos kein idealer Ehemann. Er braucht aber den familiären Rückhalt, den ihm diese Institution bietet. Die Ehe basiert für den Erotiker nicht auf sexueller Treue, sondern lässt den Partnern jegliche Freiheit auf diesem Gebiet. Die Erfüllung sinnlicher Lust erscheint als etwas Sakrales, das den Kern der Ehe, die auf einem weltlichen Bündnis beruht, nicht gefährdet. Dagegen ist Sombarts ganzes der Erotik gewidmete Schrifttum eine fulminante Absage an die Zweierbeziehung. Die Sexualität ist ein anarchischer Trieb und kennt keinerlei Treue, wie sie die Ehe verlangt. Insofern würde es für die Zuhörer seltsam geklungen haben, wenn gerade ein erotischer Freigeist wie Sombart das hohe Lied der Ehe angestimmt hätte.

Reise ins Land der Mutter Im September 1972 findet in Bukarest der Dritte Internationale Kongress für Zukunftsforschung statt. Zu den prominenten Teilnehmern gehören Robert Jungk und Bertrand de Jouvenel. Nicolaus Sombart referiert als offizieller Abgesandter des Europarats über den Utopisten Charles Fourier. In seinem Buch „Rumänische Reise“ berichtet er über seine Erlebnisse im Land seiner Mutter. Die als Tagebuch angelegten Notizen werden bis 1979 nach und nach auf Französisch in Manuskriptform gebracht und erscheinen 2006 in deutscher Sprache als Buch. Es ist die letzte seiner autobiographischen Schriften. Im Mittelpunkt des Berichts steht der Besuch der Orte, an denen Nicolaus Sombart als Kind zu Gast war und die Begegnung mit in Rumänien verbliebenen Verwandten und Zeugen seiner Kindheit. Ein Teil der älteren Verwandten wurde nach 1945 Opfer des stalinistischen Regimes, das die alte Oberschicht ausrottete. Eingerahmt werden die Besuche durch eine Liebesgeschichte, die als ein Experiment angelegt ist, denn als Fourier-Adept ist Sombart bestrebt, im Sinne des Meisters seine erotischen Erfahrungen auf ein bisher unbekanntes Terrain auszudehnen. Für das Verständnis der Persönlichkeit des Autors ist sein rumänischer Familienhintergrund, über den ausführlich berichtet wird, von großem Gewicht. Es ist der – wie er selbst immer wieder betont – orientalische Einfluss, der ihn entscheidend mitgeprägt hat. Seine Theorie der Erotik findet nicht nur im Werk Fouriers ihren Bezugspunkt, sondern auch in der erotischen Kultur des Orients. Die Mutter, Corina Sombart, entstammt einer alten, weitverzweigten Bojarenfamilie. Ihr Vater ist ein berühmter Professor für Biologie, ihr Schwager ein steinreicher Unternehmer, der über großen Landbesitz und prächtige Villen verfügt. Sombart enthüllt ein Familiengeheimnis. Corina, die als junge Studentin den nahezu sechzigjährigen Werner Sombart heiratete, liebte den Mann ihrer Schwester und musste, um einen Skandal zu vermeiden, Rumänien verlassen. Sie habe – so ihr Sohn – ihr ganzes Leben unter diesem Verzicht gelitten und ihn, Nicolaus, dazu

Reise ins Land der Mutter

inspiriert, sie zu rächen, indem er das Modell der monogamen Ehe aufsprengte und ein freies Liebesleben zu führen versuchte. Corina Sombart stirbt 1970. Sie hat nach dem Ende des zweiten Weltkriegs das Land ihrer Geburt nie wieder besucht. Auch Nicolaus Sombart ist seit seiner Kindheit nicht wieder in Rumänien gewesen. Erst nach dem Tod der Mutter gibt er dem Wunsch nach, das Land sehnsüchtiger Erinnerungen zu bereisen. Das Interesse an Fourier und dessen Theorie einer entfesselten Erotik erhält nach dem Tod der Mutter neue Nahrung. Solange sie lebte, fühlte er sich offenbar gehemmt, seinen geheimen Triebwünschen offen nachzugeben oder gar darüber zu berichten. Auf der Reise nach Rumänien begleitet ihn eine junge Geliebte. Sie ist dazu ausersehen, mit ihm die Grenzen der exklusiven Paarbeziehung zu überwinden. Ihre Einwilligung, eine zweite Liebespartnerin zu akzeptieren, ist die Voraussetzung dafür, die Fouriersche Utopie einer neuen Liebesordnung experimentell zu erproben. Die Versuchsanordnung lautet in den Worten ihres Konstrukteurs: „Die Obsession, Isabelle durch einen anderen (oder eine andere) besessen zu sehen, muß verstanden werden als Suche nach Ausdrucksformen sexueller Energie, die reicher, komplexer, nachhaltiger wären als der konventionelle Vollzug des sublimen Aktes, dessen Finalität nicht die banale Kopulation, euphemistisch Beischlaf genannt, sondern die sexuelle Ekstase ist, die den Durchbruch in den Bereich des Sakralen eröffnet.“21 Das wissenschaftliche Experiment à trois wird vollzogen, allerdings nicht mit dem gewünschten Erfolg. Die Ekstase bleibt aus, der Durchbruch in den Bereich des Sakralen will nicht gelingen oder ist nicht messbar. Die entnervte Geliebte löst sich nach Ende der Reise von ihrem Liebhaber. Dessen obstinates Insistieren auf einer Dreierbeziehung wird als banale Sexbesessenheit entlarvt. Der Erzähler – die satirische Schilderung des Vorgangs lässt es erahnen – führt Fouriers Theorie, die er glaubt mit seiner Partnerin verifizieren zu können, ad absurdum und gesteht sein Scheitern ein. Statt einer Komplizenschaft der Gespielinnen im Verhältnis zum Gebieter nach feudaler orientalischer Sitte erlebt dieser eine peinliche Szene, die die Vorstellung von einer ausschweifenden partouze Lügen straft. Die beiden Frauen erweisen sich den ihnen zugedachten Rollen, wie sie in anonymen Swinger-Clubs oder Bordellen nichts Ungewöhnliches sind, nicht gewachsen. Sombart knüpft das Gelingen des Experiments an Voraussetzungen, die nicht erfüllt sind. Es fehlt – so sieht er es – bei seinen Partnerinnen offenbar an dem nötigen Reifegrad. Seinerseits ist die Befähigung, den höchsten Grad der Lust zu erklimmen, zweifellos vorhanden, eine Qualifikation, die „den sogenannten ‚normalen Männern‘ unerreichbar bleibt.“22 Die zweite Gespielin entpuppt sich

21 Sombart, Rumänische Reise, S. 41. 22 Ebd., S. 115.

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zudem als schlechte Wahl. Sie besitzt nicht den vollendeten Körper, der sie befähigt hätte, zum Erfolg dieses Eliteprojekts beizutragen. Das Phantasma in Realität umzusetzen, ist idealiter nur Menschen höheren Ranges vorbehalten. Die im Foyer des Athenée-Palace-Hotels in Bukarest aufgetriebene junge Frau erweist sich als behaart an Armen und Beinen und agiert „mit der unerträglich kleinbürgerlichen Prüderie der Billignutte“.23 Unbeschadet des Scheiterns seines Experiments bleibt Sombart dem Denken Fouriers treu, obwohl er einräumt: „Nein, wenn ich ehrlich war, konnte ich nicht ihm die Verantwortung für meine Phantasmen zuschreiben. Er erlaubte mir, das ist wahr, sie zu rationalisieren und meine seltsamen Gelüste mit literarischen Referenzen zu schmücken, sie beinahe wissenschaftlich zu rechtfertigen und besser zu verstehen.“24 Mit diesem Eingeständnis tut Sombart freilich einen wesentlichen Teil seiner erotischen Utopie und seines futorologischen Denkens als eine persönliche Obsession ab. Zukunftsforschung – so muss man ihn gleichwohl verstehen - ist im Kern eine sexuelle Exploration des noch nicht Erprobten: die Befreiung der Frau durch Freisetzung ihrer Sinnlichkeit, wobei die Männer notfalls die Antreiber sind und Regie führen. Die auf dem Kongress anwesenden Zukunftsforscher sind freilich von anderem Zuschnitt als der erotische Projektemacher. Bertrand de Jouvenel zum Beispiel ist ein mondäner Herr, dessen generöser, vom 18. Jahrhundert geprägter, Geist am Leitbild des großen, von weitläufigen Parkanlagen umgebenen Schlosses orientiert ist, in dem kultivierte Menschen harmonisch zusammenleben. Sombart dagegen zählt sich zur Gruppe der freischwebenden Intellektuellen, die sich als Avantgarde der europäischen Ideengeschichte verstehen.25 Begleitet vom letzten Doktoranden seines Vaters, der schon im Hause der Eltern in Berlin verkehrt hatte, wird Nicolaus in rumänischen akademischen Kreisen als Erbe und Nachlassverwalter Werner Sombarts wahrgenommen. Man trägt ihn in Bukarest auf Händen und reicht ihn ehrfürchtig herum. Sombart genießt diese Verehrung. Sie scheint ihm angemessen. „Ich brauche nicht zu sagen, daß ich dieses Verwöhntwerden, wenn ich es auch keineswegs für normal hielt, unendlich angenehm fand. Ich fügte mich trotz aller demokratischen Vorbehalte mühelos in die gleiche feudale Struktur ein wie dieser Bauernsohn [der Schüler seines Vaters, G.E.], der mich und sich an die beiden äußersten Enden jener hierarchischen Ordnung stellte, die vielen immer noch als unveränderlich, archetypisch und ewig gilt: am einen Ende die ‚Herren‘, am anderen die ‚Knechte‘, eine vom Vater auf den Sohn tradierte Grundstruktur, die den in der Rangordnung Höherstehenden jede

23 Ebd., S. 227. 24 Ebd., S. 126. 25 Vgl. ebd., S. 102–104.

Reise ins Land der Mutter

Laune, jede Extravaganz, jede Willkür gestattet, von den Tieferstehenden Gehorsam, Respekt und Dienstbarkeit verlangt.“26 Sombart fühlt sich, wie er gesteht, dank der Bemühungen des Schülers seines Vaters in Bukarest vollkommen zu Hause. Dabei fällt das Urteil seines Cicerone über die Herrschenden in Rumänien vernichtend aus. „‚Das sind doch alles nur unbedeutende Leute, Nicolaus, nur du bist wirklich jemand.‘“27 Die kommunistische Machtelite hat es nicht vermocht, das Klassenbewusstsein der Menschen zu verändern. Sie denken noch so wie in vorkommunistischer Zeit. Treffen sie auf einen Abkömmling der alten Herrenschicht, nehmen sie die ererbte subalterne Einstellung wieder ein und verhalten sich ehrerbietig und folgsam. Wie paradiesisch diese Zustände einmal waren, gesteht sich Sombart ein, wenn er seinen Aufenthalt als Kind bei seinem unermesslich reichen Onkel Virgile heraufbeschwört, der in Crevedia nordwestlich von Bukarest ein herrschaftliches Anwesen besaß. „Wenn ich jemals in meinem Leben glücklich gewesen bin, so war es wohl in diesem Haus, wo ich den Luxus ohne Opfer, Freundschaft ohne Leiden, das süße Leben ohne Verpflichtungen in weitaus größerem Maße fand als im Haus meines Vaters, dessen Lebensstil unendlich bescheidener war – es gab dort nicht zwanzig, sondern zwei Bedienstete – , und wo ich letzten Endes in einer Atmosphäre wohlwollender Gleichgültigkeit mir selbst überlassen blieb. In Crevedia wurde ich umhegt, verhätschelt, verwöhnt und bewundert.“28 Es war ein Leben im Schloss, so wie es ihn als Erwachsenen immer wieder als Wunschphantasie begleitete. Die große Welt, hier fand sie in orientalischer Fülle Gestalt. In der obsessiven Fixierung auf die von Luxus umgebene Welt seiner Kindheit enthüllt sich freilich auch ein Dilemma des Schriftstellers Nicolaus Sombart, der wie gebannt auf diese Traumwelt zurückblickt. Es gelingt ihm nicht wie zum Beispiel Eduard von Keyserling, diese Welt erzählerisch zu durchdringen. Sie taucht nur als Sehnsuchtsort auf, verklärt und der Realität entrückt. Von „Jugend in Berlin“ bis „Rumänische Reise“ begleitet Nicolaus Sombart das Phantasma von einem Leben als Herrn in einer feudalen Umgebung, der einzig ihm angemessen erscheinenden Daseinsform. Wenn die Gegenwart ihn auch zu Abstrichen von diesem Wunschbild zwingt, so motiviert ihn der soziologische Blick doch immer wieder, sich Herrschaftsformen zuzuwenden, die solche Existenzbedingungen eines höheren Menschentums ermöglichten. Die „Aristokratomanie“ – um ein auf Balzac gemünztes Wort von Stefan Zweig zu verwenden – ist ihm existentiell eingeschrieben.

26 Ebd., S. 113. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 161.

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Nicht nur als Gesellschaftsmensch, auch als Frauenliebhaber will Sombart auf Höheres hinaus. Je weniger die gesellschaftlichen Verhältnisse die mondänen Aspirationen des Weltmannes zur Erfüllung kommen lassen, umso mehr bietet das Feld der Erotik einen Ersatz dafür an, denn auch hier ist das Außeralltägliche, Exzeptionelle erlebbar. Nicolaus Sombart hat stets in großen Projekten gedacht. Seine Wunschphantasien waren sein Lebenselixier. Aus diesem Fundus konnte er immer wieder schöpfen. Auch seine literarische Begabung konnte sich auf diesem Nährboden entfalten. Wie bei allen Doppelbegabungen ist die Gefahr der Vermischung verschiedener Genres dabei nicht ganz auszuschalten. So steht dem Schriftsteller Sombart zuweilen der Soziologe im Wege, und der Soziologe läuft nicht selten Gefahr, sich in poetischen Verklärungen zu verlieren. Das große Vorbild für Nicolaus Sombart ist der Dichter Balzac, ein unverbesserlicher Snob und unvergleichlicher Gesellschaftsschilderer, der sich selbst nobilitierte und mit unerschöpflicher Energie den Zugang zur großen Welt suchte, die er mit unbestechlichem Blick für Glanz und Elend ihrer Protagonisten beschrieb. Auch in den Werken Nicolaus Sombarts ist trotz aller Selbsterhöhungen des Autors ein eminenter soziologischer Fundus zu entdecken. Für die Kultursoziologie halten seine Schriften Schätze bereit, die erst noch gehoben werden müssen.

XIII. Der Herr bittet zum Tee

Nicolaus Sombarts Salon ist neben seinen literarischen und wissenschaftlichen Arbeiten als seine wohl größte „Leistung“ zu betrachten. Eine solche Einrichtung mit ihren Formen der Präsentation und Selbstrepräsentation aus der Taufe gehoben und über Jahrzehnte am Leben erhalten zu haben, kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Dass es ein „Herr“ war und nicht eine „Dame“, der diesen Salon betrieb, stellt freilich ein Kuriosum dar. Es spricht für die Originalität dieser Einrichtung, dass der Salonherr, ein Schriftsteller, Gelehrter und Mann von Welt, sich die Kaprice leistete, in die Fußstapfen seiner Mutter zu treten. Ein Salon ihrer Art – Sombart hat ihm in „Jugend in Berlin“ ein Denkmal gesetzt – lässt sich nicht wiederbeleben, dazu fehlen alle gesellschaftlichen Voraussetzungen. Aber die Idee, diese Form von Geselligkeit wieder aufzugreifen und zu einer Dauereinrichtung zu machen, zeigt, wie sehr Sombart – fern aller Nostalgie – sein Leben als ein Experiment verstand. Nachdem er sein Domizil in der Grunewalder Hagenstraße, nahe dem Wissenschaftskolleg, aufgegeben hatte, bezog Sombart eine geräumige Altbauwohnung in der Ludwigkirchstraße in Berlin-Wilmersdorf. Seit Mitte der 1980er Jahre empfing er dort regelmäßig Gäste. Er hatte während des Jahres, das er am Kolleg verbrachte, im Berliner Kulturleben Fuß gefasst und zahlreiche Bekanntschaften geschlossen. Sein „Journal intime“ legt beredt Zeugnis davon ab. Das häusliche Treffen mit Freunden aus Wissenschaft und Kultur entwickelte sich zu einer festen Gewohnheit. So entstand der sonntägliche jour fixe. Ab 17 Uhr versammelten sich die Besucher zum Tee. Gewöhnlich endete die Runde nach zwei Stunden. Ein Programm gab es nicht. Man plauderte zwanglos miteinander. Durch das Übergewicht von Wissenschaftlern dominierte zunächst das akademische Gespräch. Je gemischter der Kreis im Laufe der Jahre wurde, desto reichhaltiger gestaltete sich auch die Themenpalette. Es entstand eine Art Salon, in dem die Konversation, die Kunst des Gesprächs, gepflegt wurde, die der Hausherr perfekt beherrschte, während die jüngeren Teilnehmer die Möglichkeit hatten, sich darin zu üben. Sombart ließ es sich nicht nehmen, seine Gäste miteinander bekannt zu machen und sorgte dafür, dass solche mit ähnlichen Interessen zueinander fanden. Je nach Anzahl der Anwesenden – die Zahl schwankte zwischen zehn und zwanzig Personen, es konnten aber auch bis zu fünfzig sein – bildeten sich kleinere Gruppen, die sich auf den großen Raum – ein Berliner Durchgangszimmer – verteilten. Sombart selbst saß in einem Fauteuil, leger mit einer Strickjacke bekleidet, die Pfeife im Mund, und umgab sich mit seinen Besuchern, die in zwei gegenüberliegenden roten Plüschsofas oder auf einem mit einem Kelim bedeckten weichen großen Diwan Platz nahmen. „Mit der Hand-

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bewegung eines segnenden Kardinals pflegt er Besucher, mit denen er sprechen möchte, zu sich heranzuwinken oder einen seiner Gäste in eine für ihn günstigere Gesprächskonstellation zu dirigieren.“1 Zu seinen Füßen befand sich ein kleines Tabouret, auf dem in der Regel eine junge Frau saß, die das Privileg genoss, mit dem Hausherrn ein Einzelgespräch führen zu dürfen und zu ihm hochschaute. Diesen schien das nicht zu irritieren, denn bewundert zu werden, zumal von weiblicher Seite, gehörte zu den Selbstverständlichkeiten im Leben dieses homme à femmes. Die Gäste aus dem Wissenschaftskolleg und Wissenschaftler verschiedener Profession garantierten ein gewisses geistiges Niveau. Doch auch der eine oder andere Künstler, die eine oder andere Schauspielerin oder Schriftstellerin oder auch der eine oder andere Politiker oder Journalist verfügten über Esprit und Renommee, die dem Salon seinen Rang sicherten. So traf man bei Sombart zum Beispiel die französische Schriftstellerin Nathalie Sarraute, den englischen Bestsellerautor Robert Elegant, den PDSBundestagsabgeordneten Heinrich Graf von Einsiedel, den Direktor der Europaabteilung der UNESCO Hans-Heinz Krill de Capello, ein Muster an Höflichkeit, die Journalisten und Publizisten Tilman Krause, Stephan Sattler und Christoph Graf von Schwerin, den Philosophen Wolfgang Harich, den ehemaligen Kultursenator und Museumsleiter Christoph Stölzl, den deutsch-russischen Künstler Genia Chef, die Schauspielerin Marianne Hoppe – als Star und Ehrengast vorher angekündigt, die Schriftstellerin Kyra Stromberg, die Schauspielerin und Übersetzerin Anita Lochner, die Multi-Media-Künstlerin Moon Suk, die Galeristin Isabelle Du Moulin, den polnischen Theaterwissenschaftler und Salonnier Andrzej Wirth, den Dichter Johannes Rüber, ein alter Freund Sombarts aus Lektoratszeiten beim Fischer Verlag, den Schriftsteller Stephan Reimertz, den Mediävisten und Gründungsrektor des Berliner Wissenschaftskollegs Peter Wapnewski, den Religionsphilosophen Jacob Taubes, den Philosophie- und Literaturhistoriker Rüdiger Safranski, die Philosophin Simone Mahrenholz, den Literaturwissenschaftler Florian Wolfrum, die Romanistin Carolin Fischer, die selbst einen Salon unterhielt, die Malerinnen Sarah Haffner, Hortense von Heppe und Kathrin Rank, den Kunstsammler Heinz Berggruen, die Historiker Heinz Dieter Kittsteiner und Karl Schlögel, die Sozialmedizinerin Cornelia Thiels, den Literatur- und Kulturwissenschaftler Bernd Weyergraf, die Soziologen M. Rainer Lepsius und Reinhard Blomert, die Kulturwissenschaftlerin und Publizistin Claudia Schmölders, die Politologin Eva-Maria Ziege, die Literaturagentinnen Petra Eggers und Karin Graf, die Performance-Künstlerin Annika von Trier, den früheren Herausgeber des „Monat“ Melvin J. Lasky, die Unternehmerin und Buchautorin Marie-Luise

1 Stephan Reimertz, Vom Genuß des Tees. Eine heitere Reise durch alte Landschaften, ehrwürdige Traditionen und moderne Verhältnisse, inklusive einer kleinen Teeschule, Leipzig 1998, S. 178.

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Schwarz-Schilling, die Philosophiehistorikerin Peggy Cosmann Nathanail, den Schriftsteller und Weltmann Gregor von Rezzori, den italienischen Professor und Carl-Schmitt-Kenner Pierangelo Schiera, den Mahler Max Mahlow, den Fotografen Otto Reitsperger, die Schauspielerin Johanna Wech, den Wissenschaftsmoderator und Journalisten Eike Gebhardt, Angehörige des deutschen und österreichischen Hochadels – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Dazu eine Vielzahl hier nicht namentlich genannter attraktiver Frauen und ambitionierter Männer, oft noch am Anfang ihrer Karriere, überhaupt viel akademischer Nachwuchs, der auf Förderung und Protektion hoffen durfte. Die Zusammensetzung des Kreises sollte sich in den beiden Jahrzehnten seines Bestehens verändern. Prominente Namen wechselten, ältere Stammgäste wurden durch jüngere ersetzt. Im Laufe der Zeit bildete sich eine kleine Runde von Getreuen heraus, die Sombart auch im persönlichen Bereich bis zu seinem Tod – er starb am 4. Juli 2008 – freundschaftlich zugetan war. Der Salonbetreiber Nicolaus Sombart war ein Pensionär. So konnte er über seine Zeit völlig frei verfügen, im Unterschied zu den vielbeschäftigten, von Stress geplagten Geistesarbeitern, die bei ihm ein- und ausgingen. Sombart besaß zwar einen Terminkalender, aber im Grunde war er jederzeit bereit, einen Gast auch außerhalb des jour fixe in seiner Wohnung zu empfangen, wenn er ein spontanes Interesse an ihm zeigte. „Kommen Sie doch zu einem Glas Champagner“, pflegte er zu sagen, und wenige Stunden später stand der Gast vor der Tür. Nicolaus Sombart nahm einen Lehrauftrag an der Freien Universität wahr, doch in Wahrheit war er kein Dozent, sondern einer, der Wissenschaft im Plauderton betrieb. So hatte er es selbst erlebt, im Hause seiner Eltern wie auch später in Paris, als er berühmten Wissenschaftlern einen Privatbesuch abstattete und im Gespräch mit ihnen sein Wissen vermehrte und vertiefte. Dass man in einem Salon nicht doziert und belehrt, sondern komplizierte geistige Sachverhalte gleichsam spielerisch präsentiert, war für viele Teilnehmer eine Kunst, die sie erst erlernen mussten. Pedantische Gelehrsamkeit ist Gift für Zuhörer, die sich amüsieren und entspannen wollen. Sie wenden sich gelangweilt ab. Man will nicht wissen, wie belesen der andere ist, sondern wie geistreich, liebenswürdig und unterhaltsam er sich darbietet. Wenn Sombart etwa einem wissenschaftlichen Kolloquium beiwohnte, stach er mit seinem Redebeitrag deutlich von seinen Vorrednern ab. Während die ins Joch ihres Amtes eingespannten Professoren ihre theoretischen Beiträge in gedrechselter Sprache zur Diskussion stellten, hörte man plötzlich die Stimme eines älteren Herrn im hellen Cordanzug mit um den Hals geschlungenen Seidenschal, der auf eine Weise sprach, die vollkommen aus dem Rahmen fiel. Wer war dieser merkwürdige Mensch, mit einem ständigen „Nicht wahr?“ seine Rede unterbrechend? Offenbar ein Fossil aus vergangener Zeit, ein humanistisch gebildeter Privatgelehrter, der sich in einen Seminarraum verirrt hatte und dem wissenschaftlichen Fachjargon

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seine eigene Diktion entgegensetzte. Sombarts ruhige, gelassene Art sich zu äußern, war das Gegenteil von akademischer Steifheit und Indoktrination. Als Sombart seinen Salon gründete, war er sich bewusst, dass diese Kultureinrichtung in einer demokratisierten und nivellierten Gesellschaft einen Anachronismus darstellte. Dies galt vor allem für eine Stadt wie Westberlin, die zwar eine breite Künstlerboheme kannte, aber kein alteingesessenes kultiviertes Bürgertum, das den Ton angab. Es gab zwar in Berlin – auch im Ostteil der Stadt – einige wenige Privatwohnungen, in denen sich Gäste in einem bestimmten zeitlichen Rhythmus versammelten und gesprächsweise miteinander austauschten. Genannt seien die Salons des Kunstprofessors Hermann Wiesler im Tiergarten-Viertel und der Schauspielerin Blanche Kommerell in Lichtenberg. Meist waren solche Einrichtungen mit einem Programm verbunden. Entweder wurde ein literarischer Text verlesen oder musiziert oder ein wissenschaftlicher Vortrag gehalten. In Sombarts Salon wurde alles der Spontaneität und dem Zufall überlassen. Eine Etikette gab es nicht. So auch nicht die Pflicht, pünktlich zu erscheinen. Dies war allerdings für viele eine Selbstverständlichkeit, wollte man doch nichts versäumen. Im Übrigen herrschte ein Kommen und Gehen. Einzig auf die Auswahl seiner Gäste hatte Sombart ein waches Auge. Es war nicht ohne weiteres möglich, jemanden mitzubringen, ohne dass der Hausherr vorab seine Zustimmung erteilte. Hatte der Gast die Prüfung bestanden, wurde ihm huldvoll beschieden: „Kommen Sie doch wieder!“ Nicolaus Sombart legte Wert auf ein gepflegtes Äußeres. So erwartete er, dass seine Gäste nicht nachlässig gekleidet waren, sondern sich geschmackvoll, wenn nicht gar stilvoll herausputzten, besonders die Frauen. Ein Kleidercode existierte nicht. Der Salon spiegelte die Pluralität der Kleidungsstile wider, die heute für die Gesellschaft insgesamt typisch ist. Die Männer trugen meist ein Sakko, eine Krawatte hatten die wenigsten um den Hals gebunden. Jeans schienen den einen erlaubt, bei anderen waren sie verpönt. Kurze Ärmel waren selbst im heißen Sommer nicht gestattet. Wenn ein Dandy wie der Theaterwissenschaftler Andrzej Wirth auftrat, stach er durch seine raffiniert komponierte Kleidung deutlich von den anderen Männern ab. Sombart selbst war meist häuslich gekleidet. Die schwarzen Lackschuhe bildeten zu seiner Strickjacke einen gewissen Kontrast und verrieten den Grandseigneur alter Schule. Die Frauen kleideten sich ebenso individuell wie die Männer. Neben einer hocheleganten älteren Dame saß eine junge sportlich gekleidete Studentin. Modisches Bewusstsein und traditionsverbundene Konvention hielten sich die Waage. Der Sombartsche Salon, den der Hausherr bescheiden als Teerunde bezeichnete („Mein Salon ist kein Salon, sondern eine Teegesellschaft mit

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Aldi-Kuchen“2 ), war in puncto Manieren und Kleiderästhetik nicht unbedingt eine Schule höherer Kultur. Wie sollte es auch anders sein? Im Winter waren die Räume immer überheizt, so dass es vorkommen konnte, dass der galante Hausherr einer jungen Dame, die ihm einen Privatbesuch abstattete, mit entwaffnender Offenheit vorschlug: „Wollen Sie sich nicht freimachen?“ Mit der Zeit brachte es Sombarts sonntäglicher jour fixe zu einer gewissen Berühmtheit, auch über die Grenzen Berlins hinaus. Er wurde zu einer Institution. „Können Sie mich nicht bei Sombart einführen?“, lautete die Bitte einer bekannten Zeitungsjournalistin an den Chronisten. Außenstehenden erschien es ein besonderes Privileg, zu dieser Teerunde zu gehören. Man versprach sich geistige Anregungen und Kontakt zu Leuten mit wichtigen Verbindungen. Für Journalisten des Feuilletons war der Wunsch, dabei zu sein, eine Frage des Prestiges. Schließlich galt der Sombartsche Salon als eine exklusive Einrichtung. Wer zugelassen war, war in ihren Augen Teil eines weit tragenden Netzwerks. „Tut mir leid, wenn Sie dazu gehörten, wäre er nicht mehr exklusiv“, würde ein hochmütiger Dandy die Zeitungsschreiberin wissen lassen. Doch der Hausherr, von Dandy-Allüren selbst nicht frei, hatte eine Schwäche für Referendare des Alltags. „Sein Begriff von Gesellschaft ist der der ‚Gesellschaft‘, einer emphatisch begriffenen Lebensform, die sich in einem permanenten Fest schöner Frauen und bedeutender Männer, in glanzvollen Diners und geistreichen Gesprächen vollendet“3 , schreibt Ruth Fühner und gibt damit eine Vorstellung von Sombarts Gesellschaftsutopie. Sie trifft den Grandseigneur in einem Salon in Brenners Parkhotel in Baden-Baden. Der Satz klingt anspruchsvoll und gemessen an der Wirklichkeit seines eigenen Salons scheint er einer Traumvorstellung entsprungen. Der Sozialutopist stellt sich die Zukunft als ein permanentes Fest vor, in der die Geschlechterfrage sich zu beiderseitigem Wohl auflöst. Die geistreichen Gespräche in einer idealen Runde sind an die Voraussetzung geknüpft, dass die anwesenden Frauen schön und die Männer bedeutend sind. Das Umgekehrte, nämlich schöne Männer und bedeutende Frauen, ist eher eine Seltenheit, ja eigentlich gar nicht in dieser Utopie vorgesehen. Wenn es jemanden gab, der ohne Zweifel bedeutend war, so war es der von seinem Ausnahmerang überzeugte Gastgeber, der zudem trotz fortgeschrittenen Alters eine gute Figur machte und den Frauen gefiel. Der siebzigjährige Salonnier Nicolaus Sombart konnte sich des Wohlwollens der öffentlichen Meinung sicher sein. Er galt als ein Meister der Causerie. „Es ist die einzige Berliner Veranstaltung dieser Art, ein funkelnder Solitär, ein Ereignis

2 Dirk Krampitz, Ein Friseur als Teil der Gesellschaft – irgendwie komisch. In: Welt am Sonntag vom 9. Januar 2005, S. 91. 3 Ruth Fühner, Das hat er in Paris gelernt. In: Die Zeit vom 13. Mai 1994, S. 83.

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wie aus einer fernen Epoche, wunderbar unzeitgemäß und brennend jetztzeitig zugleich.“4 Aus diesen Worten spricht die hohe Wertschätzung, die der sonntäglichen Teerunde in der Hauptstadtpresse entgegengebracht wurde. Das wunderbar Unzeitgemäße empfand man als brennend aktuell. Sombart, „eine irreguläre Erscheinung“ (Wapnewski), sich jeder Kategorisierung entziehend und nur der eigenen Kategorie zugehörig, wollte mit seinem Berliner Salon „eine Insel großbürgerlicher Anständigkeit“ zurückgewinnen. In seinen Räumlichkeiten versammelte sich alles, „was Berlin noch aufzubieten hatte an Geist und Schönheit. Von nun an verstand sich der charismatische Bonvivant als maître de plaisir“.5 Es sind solche Elogen in der Presse, die zeigen, dass der Sombartsche Salon sich zur Legende, zu einem Ondit ausgewachsen hatte. Man sah in dieser Einrichtung ein Aushängeschild der Stadt, während die Bücher des Bonvivants eher heftige, wenn nicht gar giftige Reaktionen auslösten. Manch ein Besucher gewann überdies den Eindruck, vieles an Sombart und seiner Wohnung verströme einen dekadenten alteuropäischen Charme, „ein wenig sentimentalisch, in grün, mit allerlei Plüsch und lebenden Bildern nicht nur der Plauderei, sondern der Libertinage.“6 Solche phantasievoll ausgeschmückten Schilderungen verraten, dass die Salonatmosphäre und das Interieur als „weiblich“ empfunden wurden. Man dachte dabei wohl an den einladenden Diwan, ein zum Sitzen wenig geeignetes Möbelstück, weshalb der Besucher bald in eine Schräglage geriet, wenn er sich darauf niederließ. Er symbolisierte Sombarts mütterliches, rumänisches Erbe. Ein echter Salon wird nun einmal von einer Dame geführt und nicht von einem Herrn, würde der Hausherr darauf antworten. Wenn er als Salonnier quasi in die Rolle seiner Mutter schlüpfte, dann musste sich das auch im Ambiente niederschlagen. Dies geschah in geradezu provozierender Weise durch den Diwan, der zur Lässigkeit und Bequemlichkeit verführte und sich den plüschigen Samtsofas lückenlos anfügte. Gelehrtem Monologisieren und hitzigem Meinungsstreit waren so schlichtweg schon durch die äußeren Bedingungen Grenzen gesetzt. Als Soziologe legt Sombart Wert auf die Feststellung, dass der Salon ein Oberschichtenphänomen darstellt. Insofern bildet er als Modell den absoluten Gegenpol zu den gesellschaftspolitischen Idealen, die Berlin fünfzig Jahre nach dem Ende des Krieges beherrschten. In der Stadt existierten egalitäre Subkulturen auf einem – aus

4 Kai Ritzmann/Immo von Fallois, Sombarts Berliner Glasperlenspiel. In: Berliner Morgenpost vom 19. September 1993, S. 16. 5 Gregor Eisenhauer, Berliner Lehrjahre. Salonlöwe mit Biss: Nicolaus Sombart zum 80. Geburtstag. In: Der Tagesspiegel vom 10. Mai 2003, S. 26. 6 Lothar Müller, Das Verschwinden der Dienstboten. Zum 80. Geburtstag von Nicolaus Sombart. In: Süddeutsche Zeitung vom 10./11. Mai 2003, S. 14.

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bürgerlicher Sicht – ästhetisch und intellektuell niedrigem geschmacklichen Niveau.7 Der Salon entspricht einer anderen historisch-sozialen Konstellation. Er ist ein elitäres Projekt, das auf die höfisch-aristokratische, großbürgerliche Lebenswelt bezogen ist. Die Sehnsucht der Berliner nach dem Salon ist „wie eine Obsession, wie ein Phantomschmerz an der Stelle, an der es keine Oberschicht mehr gibt in dieser Stadt“8 , zitiert Cornelia Saxe Sombart. Der Salon erinnere an etwas Kostbares, dessen Verlust als schmerzhaft empfunden werde. Hier spricht der Bildungsbürger, der selbst noch das Leben im Salon in seiner Jugend in Berlin kennenlernte und auf diese Zeit, die unwiederbringlich vergangen ist, mit Wehmut zurückblickt. Wenn Sombart von einem Phantomschmerz spricht, so denkt er dabei an Menschen seiner Herkunftsschicht, denen die Verkleinbürgerlichung der Lebensformen als Absturz in die Niveaulosigkeit erscheint. Alle Versuche, die alte Salonkultur wiederzubeleben, stellen ein mühsames Unterfangen dar. Jedes Unternehmen dieser Art muss sich daran messen lassen, ob es den Ansprüchen gehobener Bürgerlichkeit mit einem gewissen mondänen Flair gerecht zu werden vermag. Damit ist ein Kernproblem des Sombartschen Salons angesprochen. Bringen seine Gäste jene Kultiviertheit mit, die unerlässlich ist, um von einem Salon sprechen zu können? Besitzen sie jene Konversationsgabe, jenen Esprit, jene Spur von Eleganz und Désinvolture, die die Gäste des Salons im elterlichen Haus einst auszeichneten? Nicolaus Sombart war sich dieses Dilemmas wohl bewusst. Er wollte nicht etwas reanimieren, das es so nicht mehr geben konnte. Er sah sich in der Rolle des Vorbildes, dessen, der diese Kultur noch gekannt hatte und seine Aufgabe darin erblickte, eine noble Tradition an eine jüngere Generation weiterzugeben. Er verstand sich als einen Kulturvermittler, der ein Stück Großbürgerlichkeit noch in sich trug und vorzuleben versuchte. In dieser Rolle war er ein Solitär, der wusste, dass nach ihm niemand mehr kommen würde, der diese Kultur repräsentieren könnte: eine Kultur der Muße, des geistigen Gesprächs fernab von Karriere- und Geschäftsinteressen. Der Salon war stets ein Freiraum gewesen, vor allem für die Frauen der gehobenen Schichten, und in der Gegenwart – so könnte man Sombart verstehen – stellt er erneut ein Refugium dar, ein Medium des zwanglosen Gesprächs zwischen den Generationen und den Geschlechtern. Dass Sombart mit dem Gefühl des Verlusts nicht allein dastand, zeigte sich in dem lebhaften Interesse, das im wiedervereinigten Berlin dem Thema Salon in der Öffentlichkeit entgegengebracht wurde. Eine Generation war herangewachsen, fern

7 Vgl. Nicolaus Sombart, Gedanken über eine Enklave des Matriarchats. In: ders., Die Frau ist die Zukunft des Mannes, S. 285. 8 Cornelia Saxe, Das gesellige Canapé. Die Renaissance der Berliner Salons, Berlin 1999, S. 233.

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jeder sozialrevolutionären Gesinnung, die eine neue Bürgerlichkeit zu schätzen wusste. Für sie war Sombart ein Leuchtturm, der ihr den Weg wies. Dabei leitete diese Generation nicht ein snobistischer Impetus. Es ging ihr nicht darum, sich partout von anderen durch eine bestimmte Form von Geselligkeit als Zeichen bürgerlicher Distinktion abzuheben. Es ging um die Suche nach Formen der Kommunikation unter Gleichen, mit denen man ähnliche geistig-kulturelle Interessen und Vorlieben teilte. Der Sombartsche Salon war ein gemischter Kreis, in dem es vorkommen konnte, dass eine promovierte Sozialhilfeempfängerin neben einer gutsituierten adligen Dame saß, ein akademischer Nobody neben einem hochdekorierten Diplomaten, ein namenloser Zeitungsschreiber neben einem Großschriftsteller. Er trug somit dem Umstand Rechnung, dass es keine homogene Oberschicht mit ihren entsprechenden Verkehrsformen mehr gibt oder dass sie sich zumindest in diesem Salon nicht abbildet. Entgegen seinem eigenen Herkunftsdünkel unternahm Sombart nichts gegen eine soziale Durchmischung seiner Gäste. So klingt es mehr kokett als resignativ, wenn er einräumt, seine Mutter hätte achtzig Prozent seiner Gäste nicht bei sich empfangen.9 Sombarts Salon war gemessen an den historischen Vorbildern kein Treffpunkt des „vornehmen“ Berlin. Er konnte es auch gar nicht sein. Was ist überhaupt ein Salon? Er ist in einer von Männern dominierten Welt eine Enklave des Matriarchats, lautet Sombarts These.10 Im Mittelpunkt steht stets eine Frau. Sie führt den Salon. Hier übt sie ihre Herrschaft aus, während auf anderen gesellschaftlichen Feldern der Mann den Ton angibt. Hier bringt sie ihre kulturelle Überlegenheit zur Entfaltung. Wer einen Salon betritt, betritt weibliches Territorium. Der Salon ist eine Gemeinschaft von Individualitäten, die sich in ihrer Verschiedenheit anerkennen und ein Schutzraum vor jeder Form von Gewalt und Primitivität, ein Ort der Zivilisiertheit. Sombart hat vor Augen, was ihm im Salon seiner Mutter begegnete: eine überlegene Geschmackskultur, eine bestimmte Formgewandtheit, die sich auf die Art des Sprechens wie des Umgangs miteinander bezieht. Der Salon setzt Standards für Niveau und Qualität. Die Dame des Hauses bürgt dafür. Man denke an den Salon einer Henriette Herz oder einer Rahel Varnhagen oder auch den Salon einer Madame de Staël oder einer Marie von Schleinitz, um zu verstehen, was gemeint ist. Solche Ausnahmepersönlichkeiten bilden für Sombart den Maßstab. Nur wenige Salondamen späterer Zeiten konnten da mithalten. Für die Gegenwart bedeutet dies, dass der Salon „sich in einer privaten Sphäre gegen das

9 „Auf die Frage nach dem größten Unterschied zwischen den Tees in der Grunewalder Villa und seinen Gesprächsrunden im Wilmersdorfer Altbau, antwortet Sombart ohne Zögern: ‚80 Prozent der Leute, die bei mir am Sonntag im Wohnzimmer sitzen, hätte meine Mutter nie ins Haus gelassen.‘“ (Katja Hertin, Dünner Tee und Käsekuchen. In: Der Tagesspiegel vom 30. Oktober 1994, S. W 2.) 10 Vgl. Sombart, Gedanken über eine Enklave des Matriarchats, S. 289.

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Diktat der herrschenden Meinung abgrenzt, gegen die tendenzielle Niveaulosigkeit der Massenmedien und die Mainstream-Konformisten, denen eine atomisierte, egalisierte Öffentlichkeit ausgeliefert ist.“11 Ein weiterer Gesichtspunkt erscheint Sombart besonders wichtig: Der Salon dient der Pflege der Sprache, der Ausbildung eines verfeinerten Sprachbewusstseins. Hier setzt der Gastgeber durch seine Konversationsgabe selbst Maßstäbe, die man seinen Schriften nicht immer entnehmen kann. Dort traktiert er den Leser zuweilen mit antiquiert erscheinenden Fremdwörtern und prunkt mit latinisierten Redewendungen und Floskeln. Gänzlich unprätentiös dagegen ist seine Art des Parlierens im Salon und unter vier Augen, von gleich zu gleich. Der Salon ist nichts Alltägliches. Er gehört zur Kategorie des Festes. Es handelt sich um ein Gesellschaftsspiel, das sich im Umgang der Geschlechter miteinander beweist. So schlüpfen die Männer in die Rolle von Kavalieren und die Frauen werden zu Damen, wenn sie es nicht ohnehin schon sind. Für den Fourier-Schüler Sombart ist der Salon ein Stück verwirklichte Utopie. In seiner Grundstimmung ist er hedonistisch und erotisch. „Es ist kein Ort für Melancholiker, Eigenbrötler, Misogyne und Anarchisten. Es ist ein Ort der Vermittlung, der Versöhnung, der Verständigung, der Kommunikation. Kein Ort des Streites, des Kampfes (...)“.12 Heute sehnten sich diejenigen, die vom Salon träumen, nach Möglichkeiten einer anderen Politik. Sie wollten die Gesellschaft nicht revolutionär verändern, sondern Freiräume schaffen, in denen sich ihr Ideal eines besseren Lebens verwirklichen lässt. Sombart erteilt damit Sozialrevolutionären wie dem von ihm als Antipode der „deutschen Männer“ geschätzten Freud-Schüler Otto Gross, der noch an eine kommunistische Umwälzung glaubte, eine klare Absage. Nicolaus Sombart ist davon überzeugt, es sei eine Aufgabe der Frauen, die Salonkultur neu zu beleben. Diese Aussage überrascht, ist er doch selber trotz eifriger Dementis der Beweis dafür, dass auch Männer in der Lage sind, einen Salon zu führen. Es erscheint vielmehr die Aufgabe beider Geschlechter, diese Institution wieder mit Leben zu erfüllen. Salons sind nicht mehr Enklaven des Matriarchats in einer patriarchalischen Gesellschaft. Die Frauen sind nicht länger auf diese Einrichtung angewiesen, um sich kulturell zu entfalten. Nichts hindert Männer daran, die Rolle des Salonniers zu übernehmen. Sombart könnte ein Vorbild sein. Der Sohn eines preußischen Geheimrats und einer rumänischen femme du monde ist zwar ein Herr, aber ein Herr mit weiblichen Zügen. Er hat sein Werk dem Thema der Bisexualität gewidmet und ist in seinen sexuellen Erkundungen stets auf der Suche nach seinem weiblichen Anteil. Die Unterscheidung von weiblichen und männ-

11 Ebd., S. 287. 12 Ebd., S. 289.

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lichen Verhaltensqualitäten ist längst ins Wanken geraten. Dieser Kulturwandel färbt auch auf die Salonfrage ab. Anders steht es mit der Führungsgarnitur eines Salons. Nach Sombart sind die Salons Einrichtungen einer sozialen Elite. Zu dieser gehören Personen, die einen gehobenen sozialen und kulturellen Status besitzen. Vorausgesetzt ist ein bestimmtes Bildungsniveau, gepaart mit einem soliden wirtschaftlichen Auskommen und reichlicher Verfügung über freie Zeit. Der Faktor Zeit macht die Hauptschwierigkeit aus, denn die heutige Bildungselite ist voll und ganz mit ihrer Arbeit und ihrem Fortkommen beschäftigt und die wirtschaftliche Elite verfügt nur in seltenen Fällen über Kultur und Muße, den unabdingbaren Voraussetzungen für jede Salonnière und jeden Salonnier. Vor der allgemeinen Vereinheitlichung der Lebensstile und kulturellen Standards macht auch die Salonkultur nicht Halt. Auch die Tendenz allseitiger Kommerzialisierung ist ihr abträglich. Zum Glück gibt es jedoch immer wieder einzelne, Männer wie Frauen, oft schon im Nacherwerbsalter, die sich den Luxus leisten, anderen ihr Haus zu öffnen und das Kunstwerk Salon zu inszenieren. Sie brauchen dafür nicht immer Bedienstete, die den Gästen die Tür öffnen, ihnen die Mäntel abnehmen und die Getränke servieren. Bedienen Sie sich selbst, heißt es nun. Heutige Salonbetreiber kommen mit einem Minimum an Komfort aus. Entscheidend ist die Freude am geistigen Austausch, die Lust am Gespräch, das Vergnügen am Spiel mit Worten, auch am Flirt. Der Salon ist eine zeitlose Erscheinung, mögen sich seine Formen auch ändern. Ihm eine glanzvolle Zukunft vorauszusagen, mag zu euphorisch klingen, dass man ihm aber immer wieder Leben einhauchen kann, hat Nicolaus Sombart mit seinem Experiment wie kaum ein anderer auf eindrucksvolle Weise bewiesen.

Resümee

Der Soziologe und Schriftsteller Nicolaus Sombart litt – so hat es den Anschein – an einem Selbstmissverständnis. Zu sehr blieb er den Maßstäben des akademischen und literarischen Milieus verhaftet, als dass er in der Lage gewesen wäre, den Mangel an Anerkennung auf dem Gebiet der Wissenschaft und der Literatur zu verschmerzen und den Prestigegewinn auf dem Feld der Lebenskunst für sich als singulären Erfolg zu verbuchen. So füllen in seinem Leben ständig wiederkehrende Klagen über mangelnde Wertschätzung durch das wissenschaftliche und literarische Establishment ein langes Register. Er war, auch wenn er es nicht wahrhaben wollte, ein Nachzügler des Dandys in einer Zeit, die für einen homo ludens dieser Art keine Verwendung mehr vorsieht. Unsere Zeit hat keinen Zugang mehr zu geistreichen Müßiggängern seines Schlages. Nicolaus Sombart war ein Salon- und Gesellschaftsmensch, ein Mann von Welt und Frauenliebhaber, ein vielseitiger, hochgebildeter Dilettant, das Wort im ursprünglichen Sinne verstanden, ein Jongleur mit vielen Bällen. Er verkehrte in den Kulissen der eleganten Welt und war ein begnadeter Causeur. Wie wenige beherrschte er die Kunst der Kultivierung der Persönlichkeit jenseits der Nützlichkeitserwägungen des Erwerbsbürgers. Der junge Sombart kann für sich in Anspruch nehmen, was Boni de Castellane, ein Dandy der Belle Époque, über den vielseitig begabten Charles Haas, dem Vorbild für Prousts Romanfigur Charles Swann, bemerkte : „Wenn ihm Beschäftigungslosigkeit nicht Grundsatz gewesen wäre, hätte ihn seine Intelligenz zu den ehrgeizigsten Wünschen berechtigt.“1 Man hat Sombart das Zeug zu einem bedeutenden Diplomaten oder Wissenschaftler zugetraut. Auch ein Künstler scheint an ihm verloren gegangen zu sein. Doch im Grunde wollte Sombart weder Wissenschaftler, Diplomat noch Künstler sein. Er sah sich vielmehr dazu berufen, der deutschen Mittelstandsgesellschaft eine Vorstellung davon zu geben, was es heißt, ein eleganter Herr zu sein. Freilich besaß er nicht die Chuzpe des Dandys, sein angebliches „Scheitern“ auf literarischwissenschaftlichem Gebiet in einen Erfolg und seinen Sinn für Geschmack und Stil in eine höhere Lebenskunst umzudeuten, die jede akademische Leistung und ihre Träger verblassen lässt. Es ist an der Zeit, die Maßstäbe wieder zurechtzurücken und dem Lebenskünstler gegenüber dem Wissenschaftler und Literaten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

1 Boni de Castellane, De l‘art d‘être pauvre précédé de Comment j‘ai découvert l‘Amérique. Mémoires (1867–1932), Paris 2009, S. 68.

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Resümee

Die Biographie Nicolaus Sombarts steht exemplarisch für den Versuch, das Programm bürgerlicher Selbstnobilitierung und Veredelung durch Imitation und Osmose zu realisieren. Da Bildung in der Gegenwart nicht mehr mit einem festgefügten Geschmacks- und Verhaltenskanon verknüpft ist, verschwindet auch der damit verbundene Lebensstil. Der Bildungsbürger alten Typs ist zum Anachronismus geworden. Dem aus großbürgerlichem Hause stammenden Nicolaus Sombart war es nicht darum zu tun, sich gegen den Gang der Zeit zu sperren und an Formen der Lebensführung festzuhalten, denen längst die Existenzgrundlage entzogen war. Sombarts Programm war unzeitgemäß und zeitgemäß zugleich. Es zielte auf Selbststilisierung durch eine Synthese von bildungsbürgerlichem Habitus, dandyhafter Exzentrik und herrenhafter Attitüde, die ihre Wirkung auch und gerade in der heutigen medial geprägten Welt nicht verfehlte. Eine aus verschiedenen kulturellen Traditionsbeständen schöpfende Persönlichkeit wie Nicolaus Sombart, die das Sich-zur-Marke-Machen ebenso virtuos beherrschte wie die Gebärde hochmütiger Distanzierung, verfügte über die innere Freiheit, die von Mode und Zeitgeist gesetzten Trends souverän zu ignorieren. Sombarts Reservoir an Bildung und Geschmack statteten ihn mit einem Überlegenheitsgefühl aus, das ihn gegen die billige Genugtuung, zur Tagesprominenz zu zählen, immunisierte. Aus „guter Familie“ zu stammen, war für den Bildungsbürger Sombart zwar ein Vorzug, doch erwies sich diese Erbschaft auch als Bürde und Verpflichtung. In der Tat stellten der berühmte Vater und die elegante Mutter ein Pfund dar, mit dem sich wuchern ließ. Allein, Sombart sah sich unversehens vor ein Legitimationsproblem gestellt, als der Nimbus der Herkunft zu bröckeln begann. In der mondänen Welt, in der der junge Sombart seinen Platz suchte, war ein anderer Menschentypus gefragt als der des puritanisch-asketischen Wissenschaftlers. Das Programm bürgerlicher Selbstnobilitierung nahm – durch den Frankreich-Aufenthalt befördert – konkrete Gestalt an. Leitfigur war der aristokratische Müßiggänger und Mann von Welt, der in den Salons ein und ausgeht, der Lebemann, der die Gunst der Frauen sucht und ihnen zu Gefallen ist. Nicolaus Sombart sollte der Versuch, die bürgerliche Lebensform zu überbieten, indes nicht ganz gelingen. Er wurde europäischer Beamter und blieb den Wertvorstellungen und Erfolgsmaßstäben der akademischen Welt verbunden. Sombart war von seinem Ausnahmerang im deutschen Kulturbetrieb überzeugt, mochten dies seine Kritiker auch anders sehen. Nicht allein, weil er glaubte, als Schriftsteller und Wissenschaftler Außerordentliches geleistet zu haben, sondern weil er meinte, durch Habitus, Lebensart und ein Werk, in dem die große Welt von einst ingeniös gestaltet wird, einen besonderen Platz im deutschen literarischen juste milieu beanspruchen zu können. Die Repräsentanten des deutschen Wissenschafts- und Literaturbetriebs konnten – anders als in Frankreich – diesem europäischen Grandseigneur alter Schule

Resümee

nicht gerecht werden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, verstanden sie ihn einfach nicht. Er entsprach nicht ihren Maßstäben. Sie verfügten – so sah es Sombart – weder über Geschmack, Feinsinn, Distinguiertheit und Sinn für Raffinement, um seine Publikationen angemessen zu würdigen. Während er in Frankreich anlässlich seines 80. Geburtstags zum Kommandeur der französischen Ehrenlegion ernannt wurde, wartete er auf eine entsprechende Ehrung in Deutschland vergeblich. Der Gestus spielerischer Überlegenheit und selbstherrlichen Außenseitertums, der von den älteren Zeitgenossen als arrogant und unseriös empfunden wurde, machte freilich Sombarts nicht geringe Attraktivität in Kreisen der jüngeren Generation aus, die das Großbürgerlich-Dandyhafte nur vom Hörensagen kannte und der sich nun die Möglichkeit bot, dieses Faszinosum in direkten Augenschein zu nehmen. Mühten sich die älteren Kritiker ab, diesem Paradiesvogel die Flügel zu stutzen, so ergötzen sich die jüngeren an seinem glänzenden Gefieder. Offenbar barg dieser schillernde Typus etwas Kostbares und Bewahrenswertes, das man nicht als gestrig abtun mochte. Wenn der Soziologe Arnold Hauser den Dandy als den nach oben deklassierten bürgerlichen Intellektuellen bezeichnet, so hat er mit dieser paradoxen Formulierung das Phänomen Nicolaus Sombart präzise umrissen. Deklassierung muss nicht ein Absinken unter das Niveau der Bürgerlichkeit bedeuten, sondern kann den Aufstieg in eine höhere Daseinsform bezwecken. Dieses Aufstiegsbemühen begleitete Sombarts Lebensweg von Anbeginn, hatte er doch im Elternhaus einen elitären Menschenschlag kennengelernt, dem er sich von Natur aus zugehörig fühlte. Die Erfahrung des Verlusts materieller Sicherheit nach dem Krieg drückte ihn nicht nieder, sondern entfachte seinen Ehrgeiz, wieder dorthin zu gelangen, von wo ihn widrige Umstände vertrieben hatten. Begriffe wie Parvenütum und Snobismus besitzen für Sombart keinen negativen Klang. Es sind vielmehr unverzichtbare Verhaltensstrategien und Antriebsenergien, nach Höherem zu streben und sich nicht wehrlos dem sozialen Nivellement zu ergeben. Nicolaus Sombart ist geistig in einem rechtskonservativen Milieu groß geworden. Werner Sombart, Carl Schmitt und Ernst Jünger bildeten, abgemildert durch die Einflüsse von Alfred Weber und Karl Jaspers, sein politisches Bezugsfeld. Erst in den sechziger Jahren gewann sein Denken neue Konturen. Psychoanalyse und Poststrukturalismus veranlassten ihn zu einer Überprüfung seiner Positionen. Die Loslösung von der akademischen Vätergeneration – den eigenen Vater ausgenommen – gab ihm einen neuen geistigen Schub und führte ihn zur Besinnung auf die utopischen Denker seiner Pariser Lehrjahre: Henri de Saint-Simon und Charles Fourier. Durch sie fand er sein großes Thema: die befreiende Kraft des Eros. Die deutsche Sozial- und Kulturgeschichte interpretierte er als eine „chronique scandaleuse“ der Geschlechterverhältnisse. Soziologie und Geschichtswissenschaft, monierte er, fehle das sexualwissenschaftliche Fundament. In zahlreichen Beiträgen zu Kultur, Gesellschaft und Politik

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in Deutschland versuchte Sombart, Bausteine zu diesem Fundament zusammenzutragen – mit teils verblüffenden Ergebnissen. Durch Anlegen der psychoanalytischen Sonde wurden die autoritären Verhärtungen im Denken maßgeblicher deutscher Geistesrepräsentanten wie Max Weber und Carl Schmitt offengelegt. Es fällt nicht schwer, über die Einseitigkeit des Sombartschen Denkansatzes den Stab zu brechen. Die Fragestellung, die er in die Geistes- und Sozialwissenschaften einbrachte, ist damit aber keineswegs obsolet. Sie bleibt produktiv und anregend. Der utopische Elan, der seine Projekte begleitete, ist indes weithin verflogen. So scheint Fouriers Postulat, die Emanzipation der Frau sei die Zukunft des Mannes, ein Kernsatz des Sombartschen Denkens, auf eine Weise in Erfüllung zu gehen, die dem Bonvivant, Dandy und homme à femmes kaum in den Sinn gekommen wäre. Was bleibt, ist die Erinnerung an Sombarts unerschöpfliches Interesse an neuen Fragen und die Fähigkeit, die Leser seiner Schriften für ungewohnte Gedankengänge zu gewinnen. Und nicht zuletzt bleibt die Erinnerung an den Privatgelehrten und Lehrer, den liebenswürdigen Causeur, der sein Wissen großzügig abseits des akademischen Rahmens an eine jüngere Zuhörerschaft weiterreichte.

Anhang

Mission nach Venedig [Ein Bericht aus dem Nachlass Nicolaus Sombarts]

„Wer Venedig nicht kennen gelernt hat, weiß nicht, was Kultur ist.“1

00.24 Abfahrt in Straßburg. Marie-Claire erwartet mich auf dem Bahnsteig mit dem Dienstgepäck, fünf Koffer, die uns ein Vermögen kosten werden. Marie-Claire wie immer guter Laune, lächelnd, allen Schwierigkeiten gegenüber gleichgültig. Mit zwei Stunden Verspätung Ankunft in Mailand. Statt um 09.45 können wir erst um 12.04 weiterfahren. Die Zeit vergeht mit dem Hin- und Herschleppen des Gepäcks, dem Erfragen von Auskünften, dem Telefonieren (um unsere Verspätung in Venedig zu melden). Der Zug nach Venedig schließlich überfüllt. Ich überliste meine Ungeduld, indem ich, wie immer auf langen Bahnfahrten, mein Zeitgefühl in einen dösigen Halbschlaf suspendiere [?]. So schrecke ich in Mestre auf. Das Wetter ist strahlend. Wir rollen über die Lagune im Vorgefühl des Wunderbaren. (Es hat immer etwas Seltsames, auf einem Damm über das Wasser zu fahren, selbst in Sylt). Faccino, Hotelportier, Motorboot, Hotel Europa & Britannia. Dort sofort Besprechung mit dem stets ungeduldigen Präsidenten2 (er hasst es zu warten, wie ich), dem Pressemann, Pirzio Biroli, und dem reizenden Doktor Saggioro von der Fondazione Cini3 , mit dem ich seit einem Monat korrespondiere und telefoniere, um diesen Aufenthalt in Venedig vorzubereiten. Er gesteht mir, ich sähe genau so

1 Zitat N. Sombart. Vgl. NL N. Sombart 405, 358, Bl. 21. Im Nachlass Nicolaus Sombarts in der Handschriftenabteilung der Berliner Staatsbibliothek findet sich unter der Ziffer 405, 358 ein umfangreiches Konvolut, das mit dem Titel „Mission nach Venedig. Buchprojekt“ überschrieben ist. Die Aufzeichnungen, von denen hier ein Auszug wiedergegeben wird, sind teils handschriftlich, teils maschinenschriftlich verfasst. Es handelt sich um einen Besuch von Vertretern der Beratenden Versammlung des Europarats in der Lagunenstadt. Nicolaus Sombart gehörte der Delegation an, die sich vom 1. bis 10. September 1961 in Venedig aufhielt. In die maschinenschriftlichen Aufzeichnungen hat Sombart 1973 von Hand Korrekturen eingefügt, die – soweit entzifferbar – übernommen wurden. Orthographische Eigenwilligkeiten wurden beibehalten, die Zeichensetzung weitgehend den heutigen Regeln angepasst, Schreibfehler und offensichtliche Irrtümer stillschweigend korrigiert. Anmerkungen des Herausgebers stehen in eckigen Klammern. Wörter, die nicht eindeutig entziffert werden konnten, wurden mit einem Fragezeichen versehen. Vom Herausgeber vorgenommene Auslassungen wurden durch drei Punkte gekennzeichnet. Der Text wurde durch Fußnoten ergänzt. 2 Gemeint ist der Präsident der Beratenden Versammlung des Europarats, die 1974 in Parlamentarische Versammlung umbenannt wurde. 3 Die Fondazione Giorgio Cini ist eine von Graf Vittorio Cini 1951 gegründete Stiftung auf der Insel San Giorgio Maggiore. Sie fördert u. a. Studien zur Kulturgeschichte Venedigs.

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Mission nach Venedig [Ein Bericht aus dem Nachlass Nicolaus Sombarts]

aus, wie er sich vorgestellt hatte, dass ich aussähe. Ich habe ihn mir kleiner, hagerer, schwarzer, krummnasiger, älter vorgestellt. Er ist ein schöner, großer Mann, fast blond, mit gerader, einer zu kurzen Nase, leichtem Doppelkinn – als er mir sagt, er sei Fascist gewesen („Untergauleiter“), kann ich ihn mir sehr gut mit dem schwarzen Käppi und der Bommel vorstellen, die über die hohe offene Stirn fällt. Er hatte gedacht, ich sei Franzose. Als ich ihm sage, ich sei Deutscher, teilt er mir begeistert mit, er sei in deutscher Kriegsgefangenschaft gewesen. Wie in so vielen Fällen stammt seine Sympathie für Deutschland aus dieser Zeit. Er will gleich über Berlin diskutieren, die Mauer. Doch haben wir (Gott sei dank) anderes zu tun. Für den Abend haben wir ein Essen bei Cipriani arrangiert, zu dem mein Präsident die Herren der Fondazione einlädt. Das ganze Unternehmen wird verdorben dadurch, dass in letzter Minute Monsieur und Madame Liquard dazu gebeten werden müssen. L., Vizepräsident der Assemblée Nationale („Moi et le Géneral ...“), einer der Nutznießer der V. Republik, hat sich in Straßburg als Vizepräsident der Beratenden Versammlung den Ruf eines Patentekels geschaffen, der sich ungebührlich in die Verwaltung einmischt, und das Schwierige dadurch noch kompliziert, dass er seine Nase hineinsteckt. Auf ihn geht die Initiative zurück, den Generalsekretär abzulösen. Unser Greffier4 , der natürlich auch in Venedig ist, zittert dermaßen vor ihm, dass er, wenn er in Reichweite ist, nur von dem einzigen Gedanken besessen ist, wie er ihn gnädig stimmen könnte … Dabei gehört er zu der übelsten Kategorie von Zeitgenossen, bornierter Banausen, die dreckige Witze reißen, beim Vorübergehen eines hübschen Mädchens wenn nicht mit der Zunge schnalzen, so doch ihrem Nachbarn vieldeutig zuzwinkern, sich darüber empören, dass nicht alle Welt ihre Muttersprache beherrscht (denn die Sorte gibt es in allen Nationen), den Italienern vorwerfen, dass sie Maccheroni essen, wie sie den Dänen ihr Smörrebröd übelnehmen, von der Politik nur wissen, dass ihre eigene Rücksichtslosigkeit sich bezahlt gemacht hat, und im übrigen nur die dümmsten Gemeinplätze ihres Lokalstammtisches zu wiederholen vermögen. Leider wird die Politik zu gut fünfzig Prozent von solchen Burschen ‚gemacht‘. Kurz und gut, er musste zu dem Essen … das Ergebnis war, dass wir dreizehn Leute zu setzen hatten. Ich hatte das gar nicht gemerkt – doch machte mich der Maître d‘hôtel darauf aufmerksam. Dreizehn zu Tisch ist in Italien unmöglich. Was tun? Wir machten einen Katzentisch auf, an der der Greffier, Saggioro und ich mit der Tochter des Professors Pirzio, Präsident der Stiftung, höchst vergnüglich bande à part machten, während die Hauptgesellschaft, streng nach dem Protokoll gesetzt, sich anödete. Nicht nur konnten sie nicht miteinander sprechen, weil sie sprachenunkundig sind, sondern sie wissen sich auch nichts zu sagen.

4 Kanzler, Verwaltungsjurist.

Mission nach Venedig [Ein Bericht aus dem Nachlass Nicolaus Sombarts]

Das Menü war gut, doch nicht so, dass man das Gefühl hatte, im besten Restaurant von Venedig zu speisen. Der Rahmen nett, die üppig bewachsene Terrasse nett, doch war ich enttäuscht, San Giorgio nicht zu sehen, das indessen nur hundert Meter entfernt im unmittelbaren Blickfeld der Terrasse liegt. Ich gab an der table basse (an der man sich ja stets am besten unterhält) meine Theorie zum besten, dass es in der Zukunft ganz normal sei, dass jeder Mensch in seinem Leben mehrere Berufe ausübe, nacheinander versteht sich, einen zwischen zwanzig und vierzig, einen zwischen vierzig und sechzig, und einen Altersberuf, was u. a. zur Folge hätte, dass es eine Absurdität wie zwanzigjährige Priester nicht mehr geben würde. Ein vierzigjähriger Medizinstudent wäre dagegen etwas ganz normales, wodurch sich das Leben an den Hochschulen natürlich verändern würde. Als ich durchblicken ließ, die auf der bisherigen Kurzlebigkeit der menschlichen Spezies basierende Monogamie würde natürlich ebenfalls abgelöst werden durch eine Sukzession von Lebensgemeinschaften, die je nach der Lebensphase einen ganz verschiedenen Charakter haben könnten, machte Signorina Pirzio, die verträumte Augen und einen schlechten Teint hatte (im übrigen war sie auch etwas zu groß), nicht mehr mit, sodass wir das Thema wechselten. Zum dem Essen waren geladen außer dem Präsidenten der Stiftung (mit Tochter) der Generalsekretär Professore Branca, ein hochintelligenter, feinnerviger Akademiker, der in der Managerrolle des Leiters einer der reichdotiertesten Kulturinstitute Europas eine Möglichkeit gefunden hat, seinen Ehrgeiz zu entfalten, mit einer hohen Stimme und Mundbewegungen von jemanden, der, um sich Schwerhörigen verständlich zu machen, überartikuliert, was ihm eine gewisse Affektation gibt und Senator Ponti, langjähriger Bürgermeister Venedigs, mir aus Straßburg als Mitglied der Kulturkommission wohl bekannt. Hinter dunklen Gläsern etwas mysteriös, dabei rutscht die Brille auf der zu kurzen Nase immer herunter. Ich hatte ihm auf gut Glück geschrieben, die Kommission käme nach Venedig, ob er nicht an ihren Sitzungen teilnehmen wolle? Keine Antwort. Doch da erschien er bei Cipriani und kümmerte sich von diesem Augenblick an auf das Liebenswürdigste und mit einer Engelsgeduld um uns und hat entscheidend zu dem Erfolg des Unternehmens beigetragen. Er trägt zu allen Tages- und Nachtzeiten einen weißen Leinenanzug, der zu verkrumpelt ist, um elegant zu sein, der ihm aber doch einen gewissen Chic gibt. Er spielte uns gegenüber die Rolle des ‚Spielleiters‘ moderner Theaterstücke, Mystagoge und maître de plaisir, der zwischen den Personen und Szenen vermittelt, auch hin und wieder aushelfend oder gar ausschlaggebend in das Stück eingreift, ohne ihm aber, nach Zeit und Kostüm, anzugehören. So führte er uns in seinem weißen Phantasiekostüm durch Venedig – die Türen öffneten sich vor ihm, die Carabinieri salutierten, die Motorboote gehorchten seinem Wink. Er hätte gar nicht anders gekleidet sein dürfen. Fragt mich, ob ich einen Smoking mitgebracht hätte. Ich hatte, wegen des Galadiners am Sonntagabend. Dann würde er mich Montag Abend auf einen Ball in

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der Casa Volpi mitnehmen. Keine Ahnung, was das ist. Aber ein Ball in Venedig wäre sicher interessant. Ich hatte um 23.00 Rendez-vous auf dem Markusplatz mit der sanften Madame Sjövall aus Göteborg, Präsidentin des Unterausschusses für Wissenschaftsfragen. Wie aus einem Film von Ingmar Bergmann, flache Absätze, Dutt, randlos Brille – die behutsame Art einer Irrenärztin, doch auch die stille Insistenz einer von ihrer fixen Idee besessenen Anstaltsinsassin. Sie ist im schwedischen Parlament Präsidentin der Vereinigung, in der Wissenschaftler und Parlamentarier sich nach Beispiel des britischen Parlamentary and Scientific Committee zusammenfinden. Nun tastet sie sich als Präsidentin unseres Unterausschusses in den Dschungel der multilateralen Bemühungen um Wissenschaftsförderung im Rahmen europäischer Organisationen vor. Dabei ist sie ehrlich genug, ihre Verzagtheit vor der Ungeheuerlichkeit der Aufgabe zu bekennen. Was auch immer sie sagt, wirkt langweilig und im hohen Grade demoralisierend; das wäre verhängnisvoll, hätte sie nicht Humor und Selbstironie. Da sitzen wir nun, zwischen zwei Musikkapellen, und sprechen das Protokoll der letzten Ausschusssitzung durch, beide nicht ganz in der Lage, den Ernst unserer dienstlichen Bemühungen mit der karnevalesken Ballsaalatmosphäre der Piazza in Einklang zu bringen. Doch zwingt sie mich mit sanftem Druck, meine Rolle als europäischer Beamter mit genau demselben Ernst zu spielen, mit dem sie die ihre als Präsidentin unseres Ausschusses zu spielen beschlossen und offenbar repetiert hat. So kann ich mich nicht so ungestört umschauen, wie ich es gerne möchte. Ihr entgeht mein Mangel an Aufmerksamkeit nicht. Madame Sjövall ist in Begleitung ihrer Tochter, von der ich mir einiges versprochen hatte. Um so auszusehen, braucht man nicht Schwedin zu sein. Obendrein ist sie verheiratet. Nach bewährtem Rezept … habe ich das billigste Zimmer, wenn nicht im teuersten, so immerhin doch in einem guten Hotel: Hotel Europa e Britannia.5 Der Korrespondenz zufolge unerschwinglich, ich hatte nur unsere Herren Präsidenten dort untergebracht – mich selber in einem Albergo avisiert, das ich indessen nie gesehen habe. Die Rezeption hatte Verständnis dafür, dass ich in der Nähe meiner Sorgenkinder und Schützlinge bleiben musste und mir Sonderbedingungen bewilligt. So habe ich die Nacht in einem sehr geräumigen und obendrein stillen

5 Das Hotel Europa e Britannia war ein Ende des 19. Jahrhunderts aus mehreren Palazzi geschaffenes Grandhotel. In der Belle Époque beherbergte es bekannte Künstler und Salonlöwen. Zu den berühmtesten Gästen zählte der Maler Claude Monet. Das Hotel, das zwischenzeitlich den Namen Hotel Europa & Regina trug, wurde 2017 geschlossen und nach zweijähriger Renovierung in neuem Design unter dem Namen St. Regis Hotel Venice im Oktober 2019 wiedereröffnet. Es ist nicht zu verwechseln mit dem seit den 1820er Jahren im Palazzo Giustinian untergebrachten Hôtel de l‘Europe, in dem u. a. J. M. W. Turner, Richard Wagner und Marcel Proust logierten.

Mission nach Venedig [Ein Bericht aus dem Nachlass Nicolaus Sombarts]

Zimmer ‚nach hinten heraus‘ verbracht. Air-conditioned, doch habe ich den Apparat ausgeschaltet und die laue Spätsommernacht genossen. Einschlafen konnte ich sobald nicht. Da war ich nun also wirklich in Venedig! Ich war hier, um, als deren Sekretär, eine Sitzung des Kulturausschusses der Beratenden Versammlung des Europarates zu betreuen. Eine Sitzung, die ich erfunden, arrangiert und vorbereitet hatte, um die Verbindung zwischen dem Europarat und der Fondazione Cini herzustellen, mit der vagen Idee, der kulturellen Mission des Europarates in den wichtigsten Kulturzentren Europas, Stützpunkte, Relais zu schaffen. Ich soll dann auch gleich auf einer der kulturellen Veranstaltungen der Stiftung als offizieller Beobachter und Vertreter des Generalsekretärs teilnehmen, was meinen Aufenthalt auf runde 10 Tage verlängert. Bin in Venedig also in dienstlichem Auftrag und doch nur scheinbar, denn in Wirklichkeit war ich gekommen, um Venedig endlich nach so langen Jahren wiederzusehen – mein Venedig.6 Doch auch das war noch nicht alles – wenn auch weiß Gott genug, um mich in einen außergewöhnlichen Zustand gespannter Erwartung zu versetzen – ich führte mit mir einen Brief von Sforzino7 an Theresa Foscari, und mit ihm verbunden war ein, wenn nicht geheimer, so doch vertraulicher Auftrag.8 (Anderer Natur, aber ich versprach mir auch einiges von ihm, war der Brief Victors für seine Tante Daisy Fellowes).9 Ich hatte den Hotelportier beiläufig gebeten, mir die Telephonnummer der Gräfin [Teresa Foscari] herauszusuchen. Zu meinem Staunen wusste er sie auswendig. Seitdem wurde ich trotz ‚kleinem Zimmer hinten heraus‘ behandelt, als stiege ich seit Jahren in der teuersten Suite dieser Luxusherberge ab. Am Morgen in der Halle – Frische, Blick über die Oleanderpflanzen der Terrasse auf den Grand Canal – mit Marie-Claire und Porzio Biroli – ein gealteter Playboy und Herrenreiter, der seiner Ehe mit einer deutschen Gräfin oder Prinzessin seinen

6 Nicolaus Sombart war das erste Mal 1948 auf seiner Rückreise von Neapel für drei Tage in Venedig. 7 Graf Sforzino Galeazzo Sforza (1916–1977) war ein hoher Beamter des Europarats. Von 1968 bis 1977 bekleidete er das Amt des Stellvertretenden Generalsekretärs. 8 Gräfin Teresa Foscari Foscolo war eine Repräsentantin der internationalen High Society. Sie glänzte 1951 auf dem von Carlos de Beistegui in seinem venezianischen Palazzo Labia veranstalteten „Bal Oriental“, dem ersten großen europäischen Ballereignis nach dem zweiten Weltkrieg. 9 Victor de Pange, der den Kontakt zu Daisy Fellowes vermittelte, war ebenso wie Graf Sforza ein Kollege und Freund Nicolaus Sombarts beim Europarat. (Vgl. N. Sombart, Pariser Lehrjahre, S. 271–274.) Die in Paris geborene Daisy Fellowes, Tochter des mit einer amerikanischen Milliardärin verheirateten Herzogs von Decazes, war in erster Ehe mit dem Prinzen Jean de Broglie, in zweiter Ehe mit dem Honourable Reginald Fellowes verheiratet. Als stilprägende Gesellschafts- und Modeikone, Schriftstellerin und Kunstmäzenin ging sie in die Annalen der High Society ein. Vgl. Jean-Louis de Faucigny-Lucinge, Legendary Parties, New York/Paris 1987, S. 62f. Der Brief von Victor de Pange an Daisy Fellowes sei – so Sombart – sein Eintrittsbillet in die venezianische Gesellschaft gewesen.

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Job als Presseagent des Europarates in Italien verdankt – am Bericht der Madame Sjövall und unserem Pressekommuniqué, das nie irgendeine Zeitung drucken würde, gearbeitet. Dann mit dem Präsidenten die kommende Sitzung vorbereitet. Zu diesem Zweck arbeite ich ein Szenario aus, das den genauen Ablauf der Sitzung beschreibt und die Worte festlegt, die der Präsident zu sagen hat. Mögliche Interventionen sind vorweggenommen und Antworten bereitgestellt. Ich bin in der Situation eines Regisseurs, der einem alten, erfahrenen, aber nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte befindlichen Charakterschauspieler seine Rolle im Drehbuch erklärt – mit dem Rotstift die wichtigen Passagen unterstreicht und durch Ausrufungszeichen, Sterne und Wellenlinien zusätzliche Regieanweisungen anbringt. Die Kunst liegt darin, die Rolle genau auf den Akteur zuzuschneiden. Je besser sie ihm sitzt, um so leichter ist er zu führen, um so besser wird es sein. Am Nachmittag die traditionelle Regatta auf dem Canal Grande. Brütende Hitze. Für den des Weges Unkundigen ist es schwer, „von hinten“ an die Tribünen vor dem Palazzo Foscari heranzukommen, trotz Ehrenkarte und Ehrenplatz auf der „Ehrentribüne“ … Ich selber, zu Tode erschöpft, kann mich kaum freuen an dem Defilee der geschmückten und mit bunten Figuren besetzten Gondeln. Aber eben doch überwältigt von dem fantastischen Anblick der Palazzi, an deren Fenstern und Balkonen sich die jubelnden Menschen drängen, überwältigt von dem Gefühl, hier in Venedig zu sein, an einem ganz großen Tage, und dann fortgerissen von dem Strom der Reminiszenzen, des hundertfach Gelesenen und Gehörten, als das Prachtschiff, der goldfunkelnde Bucintoro, vorübergleitet, die Prunkgalere der zur symbolischen Vermählung mit dem Meere in die Lagune hineinfahrenden Dogen. Eine Initiation, aber kann man dem, was sie vorstellt, widerstehen? … Abends auf dem Lido, das große Galabankett des Filmfestivals. Im Excelsior, unter freiem Himmel. 2000 Gedecke. … Das hatte der gute Saggioro für mich arrangiert. Es kam ja tatsächlich auf ein oder zwei Gedecke mehr oder weniger nicht an. Ich hatte Marie-Claire mitgenommen, die sich schön gemacht hatte und wirklich aussah wie eine kleine Prinzessin – oder sagen wir, wie ein richtiges Filmsternchen. Saggioro zwinkerte mir zu. Aber er irrte sich. Sie war nicht meine Freundin, doch sollte er ruhig bei dem Glauben bleiben. Auf dem Umschlag des gedruckten Menüs war ein Stich aus dem 18. Jahrhundert reproduziert, der die festliche Ausfahrt des Bucintoro am Himmelfahrtstag, begleitet von hundert Gondeln, darstellt, die Gondel des Nuntius, die Gondel des französischen Botschafters, alle goldstrotzend. Ein Widerschein des Nachmittags, der schon weit zurückzuliegen schien. Das Ereignis der Mostra war die Verleihung des Goldenen Löwen an den Film Alain Resnais‘ „L’année dernière à Marienbad“, aber darüber wurde an meinem

Mission nach Venedig [Ein Bericht aus dem Nachlass Nicolaus Sombarts]

Tisch – irgendeiner, an dem ich mit mir unbekannten französischen und italienischen Cineasten saß – nicht gesprochen. Wohl aber, dass Paola in Venedig sei.10 Ich genoss den Abend in vollen Zügen. Es war ein Fest – und ich war in Venedig, meinem Venedig! Um 11 Uhr erscheint der Zauberer [Senator Ponti], um uns nach San Giorgio zu geleiten. … Palladios Vision eines antiken Tempels, wie ein Vexierbild in die dreigeteilte Fassade einer christlichen Basilika eingelassen – die Auferstehung des wiedergefundenen Ideals der Architektur, der einzigen, wahren – , Archetyp der Perfektion, der Vollkommenheit – Gegenbild zur orientalischen Gotik des Dogenpalastes, zum pompös barbarischen Greuel, zur Wucherung und Schwellung, zur quasi mineralisch-geologischen Formation, zur Un-Architektur von San Marco. Heute die Vision ewiger Schönheit und Grazie, ein dem Ruin abgetrotztes Kunstprodukt denkmalpflegerischer Meisterschaft und großzügigen Mäzenatentums. Was einmal die Kreuzgänge eines Klosters, sein Refektorium, seine Bibliothek, die Prunkgemächer der Äbte waren, dann Kaserne, Waffenlager, Pulvermagazin, dann verfallenes Gemäuer, in dem Bettler, Ratten und Fledermäuse Obdach suchten – ist nun der luxuriös ausgestattete Sitz eines Kulturinstitutes, Hort stiller Gelehrsamkeit, aber auch geistiger Geselligkeit – ein Rahmen für internationale Seminare und Kongresse, von den ca. 20 im Jahr hier veranstaltet werden. Alles ist funkelnagelneu und schöner, als es je gewesen sein kann. Der Rasen in den Höfen ist dicht, saftig und kurz getrimmt, die gewachsten Marmorfußböden blinken und blitzen, die hohen Gewölbe leuchten frisch getüncht. In einem Saal mit prächtigen Deckengemälden und einem großen Fenster, das sich zur Giudecca hin öffnet – auf die Fassade des Redentore mit seiner vollendeten Kuppel, Palladios schönste Kirche vielleicht, auch ganz geprägt von der antiken Tempelidee – , wird meine Kommission morgen ihre Sitzung abhalten. Hier begrüßen sie heute die Würdenträger des Instituts; sein Begründer, der Stifter, dem dieses Wunderwerk zu verdanken ist, ist Graf Cini. Wir wurden feierlich empfangen, wie eine Gesandtschaft des Europarates – was das immer auch sei – , Repräsentanten des europäischen Gedankens und – als Kulturkommission – , was das auch immer sei – , als Sachwalter, Exponenten, Verteidiger der europäischen Kultur. Das ging nicht ohne Zeremoniell und Reden ab. ... Was aber ist die Aufgabe einer europäischen Kulturkommission? Ich hatte das immer noch nicht begriffen, obwohl ich nun seit sieben Jahren auf diese Frage eine zufriedenstellende Antwort suchte. Dass irgend ein Zusammenhang bestehen

10 Paola von Belgien, Ehefrau des belgischen Königs Albert II., gebürtige Prinzessin Paola Ruffo di Calabria.

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musste zwischen jenem Wunsche – der offenbar als einzig positives Ergebnis aus dem zweiten Weltkrieg hervorgegangen war – , ‚Europa zu einigen‘ und der europäischen Kultur – , das lag auf der Hand, und darüber gab es auch eine Menge Bücher; dass also die europäische Einigungsbewegung auch etwas mit Kultur zu tun haben musste, war auch irgendwie klar. Dass also eine Organisation wie der Europarat eine kulturelle Mission haben müsste, und dass ein europäisches Parlament einen Kulturausschuss brauchte, war darum einerseits selbstverständlich, doch wusste niemand sehr genau, worin diese Mission eigentlich bestehen sollte, und was eine solche Kommission zu tun hätte. … Die „Beratende Versammlung“ hatte zwar eine Kulturkommission – die war aber seit ihrer konstituierenden Sitzung 1949 bis zu dem Tage, an dem ich zu ihrem Sekretär bestellt wurde, 1954, nicht mehr zusammengetreten. Was ist der Zuständigkeitsbereich einer solchen Kommission? Das, was nicht Politik und Wirtschaft ist. Ein Randbereich, eine Residualzone. Für Parlamentarier völlig uninteressant; an letzter Stelle: wenn kein Platz mehr in den anderen Kommissionen zu vergeben war, blieb der Kulturausschuss, als Trost, als Ausweichmöglichkeit, Abstellgleis. Das Programm blieb zu erfinden. Ex nihilo. Und das war meine Aufgabe. Seit sechs Jahren. „Kultur“ war das, was „übrig“ blieb. Von dieser negativen Bestimmung abgesehen, gab es das uferlose Kulturgeschwafel – die Ideologie der Nachkriegsrestauration, des kalten Krieges, der Democratia Christiana, von der Einheit in der Vielfalt, von der Vergangenheit, in der die Zukunft lag, oder umgekehrt, das mehr oder weniger gebildete oder blöde Gerede von der „europäischen Kultur“ - ohne jeden Bezug auf die historische Situation, auf das eigentliche Geschehen. Na, und jetzt waren die Herrschaften von der „Kulturkommission“ in Venedig. Gar nicht auszudenken, was für ein Stoff für Begrüßungsreden und Beteuerungen, dass man gemeinsam das große Erbe hüten und mehren und gegen alle Feinde verteidigen werde, usw., usw. Gott sei dank dauern solche Rituale nicht ewig, und es gab ein famoses kaltes Buffet mit Champagner. Frage Saggioro, mit dem ich alles Praktische diskret regle, ob er was von einem Ball Volpi gehört habe. Er wird buchstäblich bleich und reißt die Augen auf, als hätte ich mich in der Sekunde vor ihm in einen Kakadu oder Kardinal verwandelt … Fassungslos, ungläubig … Du wirst dort hingehen? Welche Ehre, welche Auszeichnung, welches Glück! Das größte und exklusivste Ereignis Venedigs! Welches Glück … er konnte es gar nicht fassen und ergriff meine Hand mit beiden Händen, um sie zu schütteln. Erst später konnte ich die Reaktion verstehen.

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Wie im Märchen: von einem herrlichen Palast in einen noch schöneren. Steigerung. Stufen der Initiation. Das Fest auf dem Lido, das so herrlich schien, plötzlich zur vulgären Massenveranstaltung degradiert, verblasst. Ball Volpi „Ciprianos“ Motorboot setzt uns von San Giorgio zur Riva degli Schiavoni über, und der Zauberer geleitet uns durch die summende, in Mondlicht getauchte Menge, die überall zurückweicht, wie vor einem Hochzeitszug; sein weißer Anzug wirkt noch mehr als Kostüm, und wir fühlen uns im Abendanzug nur angemessen verkleidet. Die Verschiedenheit der Aufzüge, denen wir begegnen, von der großen Balltoilette bis zu den Bluejeans schwarz bebrillter Teenager, unterstreicht die Atmosphäre eines Maskentreibens. Hinter den Fenstern … bewegen sich scherenschnitthaft Silhouetten – ein Regieeinfall mehr, von denen die Nacht verzaubert wird. Des Weges unkundig, folgen wir erstaunt in immer engere und dunklere Gassen, unter kleinen Brücken und an Toren vorbei, aus denen nur ab und zu ein Gondoliere hervortritt, um seine Dienste anzubieten – bis wir, nun von einem unerwarteten Durchblick zum Grand Canal überwältigt, vor einem hoch verschlossenen Tore halten, an das der Zauberer mit dem Bronzering klopft. Ein Lakai in Livree öffnet und wir stehen in der Halle des Palazzo Volpi, in dem von der Loggia der Reigen der Gäste in bunten Gruppen zur hundertstufigen Treppe hinauf in die zum Fest geschmückten Säle strömt. Lampions erhellen den Anlegesteg. Im Dämmer stehen, hängen traubenweise die Schaulustigen, das Volk, und applaudiert den unwahrscheinlichen Toiletten der alten Duchessen und den zauberhaften Auftritten der kleinen Prinzessinnen, von ihren in nachtblauen und silbernen Smokings gekleideten Kavalieren umschwärmt. Wir selber, bevor wir uns in das große Gästebuch eintragen, vor dem jeder Gast einen Augenblick verweilt, stehen gebannt vor diesem Schauspiel. Und der Applaus, der Jubel, der aufrauscht, wenn eine neue Gaze umhüllte Robe, ein Smaragd-Collier und Diadem, ein stolzes männliches Profil, einer Gondel entsteigt, teilt sich uns mit, so dass wir selber in die Hände klatschen mögen, vor Bewunderung und Jubel. Es sind Menschen, von denen ein großer Teil von Paris, von Rom, von New York und London herbeigeflogen ist, um an diesem einen Abend teilzunehmen, um dieses Fest zu begehen. Sie haben den Tag verbracht, um sich zu schminken – die Haute Couture der Welt, die größten Coiffeure haben ihr Bestes getan, um einen Höhepunkt an Eleganz, an Schönheit, an Glanz zu erwirken. Die Edelsteine gesammelt würden den Schatzkammern von Ali Baba gleichen – unzählige Millionen. Dann reihen wir uns ein in diesen Reigen und schweben mehr, als dass wir schreiten, die große Treppe hinauf, die von Lakaien mit großen silbernen Leuchtern flankiert ist.

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Der Piano nobile empfängt uns, mit nie gesehener Pracht. Zehntausende von weißen Lilien stehen in riesigen Arrangements, schmücken die Fenster und strömen ihren betörenden, atembeklemmenden, sinneberückenden Duft aus. Post-Volpi 11 Und in diesem Palast würde ich wohnen! Unvorhersehbares Geschenk des Lebens. Theresa [Gräfin Teresa Foscari Foscolo] hatte es arrangiert. Mir, der so viel für Venedig getan hatte, nun auch etwas Gutes zu tun, und Lilly12 hatte akzeptiert, den Unbekannten, den sie auf ihrem Ball so unwirsch behandelt hatte, in ihrem Haus aufzunehmen. Ich dachte an ein Gästezimmer (eines der zwanzig Gästezimmer, jedes mit einem Bad) und einen Hausschlüssel. Aber nein: Sie hatte einen Stab von zehn Personen zurückgelassen, um ihren Gast zu betreuen: einen Sekretär, den Majordomus, einen mir zugeteilten Kammerdiener, eine Zofe für Thamara, einen Küchenchef und eine Hilfe, sowie den alten „Autista“, den Kapitän des Motoscafo des Hauses, der zu jeder Tages- und Nachtzeit am Anlegesteg auf meine Befehle wartete. Auch hatte sie uns ihr eigenes Appartement im Mezzanino zur Verfügung gestellt, das Schlafgemach – ein Prunksaal mit einem an zwei der zu Nischen sich ausweitenden Seitenwänden, prächtigen, spitzenüberwucherten Bett; das Badezimmer mit einem kleinen Schwimmbassin und die riesige Garderobe, deren lange Schränke teilweise für uns geleert waren, und in denen nun, recht armselig, recht verloren, zwei Anzüge neben meinem Smoking hingen. Dieselbe Prozession eröffnete jeden Tag: der Majordomus öffnete die Flügeltüren – er hatte die Zeitungen in der Hand, die er mir überreichte – gefolgt von dem Kammerdiener mit meinem Frühstückstablett und der Zofe, mit dem Frühstückstablett meiner Frau. Der Majordomus öffnete die Fenstertüren auf den Grand Canal und kündigte das Wetter an, während mit Sorgfalt die beiden Tabletts auf unseren Spitzendecken niedergesetzt wurden und aus Vermeil-Kannen mit langen feinen Schnäbeln das gewünschte Morgengetränk eingegossen und die gewünschte Zahl an Zucker in die Meißen-Tassen gegeben wurde. Dann stellte sich der Majordomus in der Mitte des Saales auf, der Kammerdiener in etwas größerer Nähe zu meinem Bett, die Zofe zur Seite meiner Frau, und

11 Es handelt sich um eine in den Text eingeschobene Erinnerung an eine spätere Venedig-Reise. 12 Die Gastgeberin war Gräfin Nathalie (Lily) Volpi (1899–1989), die Frau des Grafen Giuseppe Volpi di Misurata (1877–1947), eines geadelten Unternehmers; Gründer des 1932 erstmals ausgetragenen Filmfestivals von Venedig. N. Sombart hatte sich zwischen 1961 und 1973 in seiner Funktion als Sekretär des Europarats um den Erhalt der bauhistorischen Substanz der Stadt Venedig verdient gemacht.

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warteten. Mir war zu Anfang nicht ganz klar, worauf sie warteten, doch half der Majordomus nach einer geraumen Weile – ich hatte bereits einen Toast verzehrt, den Orangensaft getrunken und an meinem Kaffee genippt – mit diskretem Hüsteln nach: „Quels sont les ordres de Monsieur pour la journée?“ Befehle? Was für Befehle, um Gotteswillen. Ich würde in einer Stunde auf meinen Kongress gehen und dann, irgendwann, abends nach Hause kommen. Ich lernte schnell, dass ich anzuordnen hatte: - in welcher Temperatur ich mein Bad wünschte, - welchen Anzug ich jeweils Mittags, Nachmittags und Abends zu tragen gedächte – mit welchem Hemd (dazu auch die Wetteransage), - um wieviel Uhr ich wünschte, dass das Motorboot bereitstünde und mich wann, wo wieder abholte (um viertel vor zehn nach San Giorgio, dort bitte um 12.30 abholen – nachmittags nach Torcello – abends, bitte, ins Theater … wenn wir nicht doch zu Fuß gehen.) - Kammerdiener und Zofe verschwanden dann in der Garderobe und begannen die Bäder einzulassen, etc. … Der Majordomus meldete darauf den Sekretär. „Bonjour, Monsieur! Je viens prendre les ordres de Monsieur!“ Was für Befehle, um Gotteswillen. Aber natürlich: Theaterbillets, Telefonanrufe, Blumen schicken an die Contessa Foscari, ein Buch bestellen, den „Monde“ und die „Times“ besorgen, Schlafwagenplatz reservieren, etc., etc. … Es stellte sich heraus, dass Kammerdiener und Zofe den ganzen Tag beschäftigt waren mit Ausbürsten, Bügeln, Schuhe putzen. Am Abend lag der Pyjama, frisch gewaschen, gebügelt, ausgelegt auf dem – natürlich neu überzogenen – Spitzenbett; wie ich zur angegebenen Tageszeit meine Hosen mit frischen Bügelfalten ausgelegt fand, und das Hemd, mit den Manschettenknöpfen und zwei Krawattenvorschlägen. Der Kammerdiener bestand darauf, mir in die Hosen zu helfen. Als letztes gab er mir die Pochette, die mit einer Stecknadel unauffällig befestigt wurde (wegen der Taschendiebe, ja, schrecklich!) Man gewöhnt sich im Handumdrehen an diesen Stil! Gar keine Verlegenheit mehr im Erteilen der Tagesbefehle, ja, man wird sehr pingelig, was die Temperatur des Badewassers betrifft! Ach, und was können diese Dienstboten nett sein. Die Zofe … scheint ganz verliebt in meine Frau, und gibt sich mit ihren drei Kleidern eine unsinnige Mühe. Ja, sie würde sehr gerne mit ihr kommen. Was ist eigentlich mit dem Küchenchef und seinem Küchenjungen? Sind die überhaupt richtig beschäftigt? Die paar Toasts morgens, das ist doch ein bisschen dürftig. Leider war das Programm der Woche derart, dass wir ihn gar nicht richtig

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ansetzen konnten – außer einmal einem Tee und einmal Diätnudeln, weil Thamara eine Magenverstimmung hatte. Ist man nun ein „Snob“, wenn man so leben mag? Nur so ist das Leben lebenswert, – nur so! Das berühmte „volle Leben“! … Immer schon von der Elite gelebt ... Die exakte Beschreibung des Tagesablaufes eines preußischen Junkers – eines Grafen Dohna, oder Lehndorff, oder … Dann bin ich eben ein Snob. Sitzung des Kulturausschusses im „Sala del Soffitto“ in der Stiftung San Giorgio Maggiore. Ein strahlender Morgen. Ein kurioses Häuflein, so eine Kommission, das muss man schon sagen. Parlamentarier! … Manch einer hat dort eine Gastrolle gegeben, von dem später die Rede sein sollte. Männer wie Fritz Erler oder Kühn.13 Doch in der Mehrzahl handelte es sich um „back-bencher“, um die dritte Garnitur, um das Fußvolk – schon damals kamen nach Straßburg nicht die Tenöre; und dann gar in den Kulturausschuss, also das Letzte … Sie hatten auf jeden Fall mit Kultur – wie ich sie verstehe – nichts zu tun, sondern waren allenfalls repräsentativ für ein politisches System, das, nach den Worten des Herrn Gerstenmaier14 , nicht eine Elite, sondern einen Querschnitt des Volkes an die Spitze bringt. Eine Ausnahme: die Engländer. Für sie bedeutet das Parlament etwas. Commoners oder Lords, waren sie Träger eines politischen Stils … Fabelhafte Figuren, elegant, rücksichtslos, selbstbewusst, allen anderen haushoch überlegen. Sie waren für mich der tröstliche Nachweis, dass die politische Elite nicht der Abhub zu sein braucht. Sie spielten das Spiel „Europarat“ wie eine Cricketparty, fair, oder was Engländer „fair“ nennen, unter strikter Beachtung der Regeln, aber rücksichtsloser Ausnutzung ihrer Chancen. Mit kaum verhohlener Arroganz zwangen sie die anderen in die Rolle der „Mitspieler“.

13 Fritz Erler (1913–1967), Fraktionsvorsitzender der SPD im Deutschen Bundestag 1964–1966. Heinz Kühn (1912–1992), Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 1966–1978. 14 Eugen Gerstenmaier (1906–1986), Präsident des Deutschen Bundestages 1954–1969.

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Die rote Dame Premiere in der Fenice, der Miniaturscala, gold und rot. Der Theatersaal umgeben von eleganten Salons. Die Truppe vom Old Vic-Theater spielt Zeffirellis „Romeo et Julia“. Tempo und Poesie – Jugend. Mit Donna Migliori, der Frau des Präfekten, und ihrer Schwester. Das Fest war nicht nur auf der Bühne; in den Salons, der Eingangshalle, auf den Treppen, der Piazzetta. Auf einem der üppigen Kanapees – venezianisches Roccoco – eine Erscheinung: in einem scharlachroten Schal aus schwerem Seidentafetta, der sich in gotischen Knicken brach, über den Schultern, goldenem Haar und blauen, etwas verschleierten Augen – offenbar allein. Ich konnte den Blick nicht von ihr wenden, obwohl ich im Gefolge der Präfektin war, ein Champagnerglas in der Hand. Dann erhob sie sich – königlich – ich verlor sie aus den Augen, versuchte sie im Labyrinth der Treppen und Gänge wiederzufinden, wie weggezaubert. Dann sah ich sie, in einer Loge, von hinten, der glitzernde Saal wie eine Aura um ihr Goldhaar, die Türen waren noch nicht geschlossen. Ich wollte zu ihr gehen – aber ich wagte es nicht. Den letzten Akt sah ich unaufmerksam. Die Tochter des Leiters der Mostra war in unsere Loge gekommen, frech, zu allem bereit – aber ich war nicht interessiert. Im Hotel wartet das Mädchen Ursula auf mich. Ich musste sie nach dem Theater abholen. Was tun? In der Bar neben dem Fenice – schlechte Show, dann über den Markusplatz gebummelt … im Winkel hinter der Uhr zu einem Kaffee hingesetzt. Und da saß, keine zwei Tische weiter, die rote Dame, in ihrem fabelhaften Cape – etwas verlassen. Was macht sie da? Ganz allein. Wie mit ihr in Verbindung treten, trotz meiner lästigen Gesellschaft? Unter dem Vorwand, dem Kellner etwas zu sagen, dränge ich ins Innere des Cafés, ziehe eine Visitenkarte heraus und kritzle darauf etwas wie - „Vous êtes si belle, comment puis-je vous parler, vous voir? Je suis à l’Hôtel Europa. Ciao.“ Sage dem Kellner, er solle die Karte der roten Dame überbringen und kehre an meinen Tisch zurück. Der Idiot kommt an meinen Tisch, um die Karte meiner Begleitung zu übergeben. Ich verhindere das und dirigiere ihn um – ich weiß nicht, wie mein Mädchen das alles hat „übersehen“ können. Alles läuft in Sekundenschnelle ab. Endlich ist mein Kärtchen in den Händen der Schönen. Ich betrachte sie aus den Augenwinkeln. Sie zahlt, erhebt sich und rauscht majestätisch an mir vorbei, um in die Dunkelheit des nächtlichen Markusplatzes einzutauchen. Ich bilde mir ein, sie hätte mir ganz unmerklich zugenickt.

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Die Nacht verbringe ich von Müdigkeit überwältigt mit dem Mädchen – die meinen völlig erschöpften Körper, den ich ihr willenlos und mit einem gewissen Ekel überlasse – wie eine Rasende in sich hineinschlingt. Am nächsten Vormittag muss ich auf meinen Kongress. Als ich Mittags ins Hotel zurückkehre, finde ich zwei Nachrichten vor: Von Daisy Fellowes – die mich für Freitag einlädt und von einer Signora im Hotel Luna, die bittet, dass ich dort anrufe. Nein, das ist nicht möglich. Das Wunder ist geschehen. Zwei Stunden später sitze ich neben Nelly Kaplan15 , in einer Gondel. Die Sonne strahlt über den Grand Canal. Große Sonnenbrille, um nicht geblendet zu sein. Wir haben ganz wenig Zeit, denn sie wird heute Abend abfahren – sie muss zurück nach Paris, wo sie erwartet wird. Nein, sie kann auf keinen Fall bleiben. Warum ich sie nicht angesprochen hätte? Ich hätte in die Loge kommen und sie begrüßen sollen. Kann man das einfach so? Ja, es gibt Situationen, wo man es tun muss. Das „Ciao“ auf meiner Karte hatte sie irritiert. Sie hatte sich überlegt, ob sie trotzdem reagieren sollte – burschikos, zu vertraulich. Sie macht Filme – hat zwei Streifen auf der Mostra gezeigt. Ich erzähle von meinen Filmideen. Ein Film über Venedig – in Venedig, noch einer? Warum nicht Hemingways „Across the River and into the Trees“16 verfilmen? Sie kennt es nicht. Ich erzähle. Sie hört mir zu. Eigentlich streng. Gar keine erotische Atmosphäre. „Sie sind ein Kind“. Warum machen Sie nicht diesen Film? Bei Licht besehen ist sie älter, als sie gestern erschien; am Hals, an den Händen vor allem, ist es zu sehen. Ich habe ihr dann das Buch nach Paris geschickt, mit einem langen Brief. Nie wiedergesehen, die rote Dame. Strandgespräch am Lido Die Gräfin Foscari empfängt in ihrer Kabine auf dem Lido. Der Schriftsteller Giorgio Bassani17 , der sich mit einigen, etwas verquälten Romanen die Anerkennung einer engen Gemeinde, durch die Entdeckung von Lampedusas Gattopardo aber unsterbliche Verdienste um die Literatur erworben hat, den ich schon am Vortage bei ihr getroffen habe und eine der Damen Gallimard mit einem der Hausintellektuellen von Gallimard – Herausgeber irgendeiner der unzähligen Reihen und 15 Nelly Kaplan (1931–2020) war eine argentinisch-französische Filmregisseurin und Schriftstellerin. 16 Der Roman „Across the River and into the Trees“ (Über den Fluß und in die Wälder) erschien 1950. 17 Giorgio Bassani (1916–2000), italienischer Schriftsteller, wurde durch sein Hauptwerk „Die Gärten der Finzi-Contini“ (1962) berühmt.

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Mitmischer der großen Vertragsgeschäfte; merkwürdig verkleidet in einem übergroßen Wollpullover und Halstuch, doch ostentatorisch strandgemäß. Sie sahen von ihrer „Express“-, „Monde“-, „Nouvelles littéraires“- Lektüre gar nicht auf, während ich – auch umgezogen, im Sand kauernd, mit Bassani ein Gespräch anzettelte. Er sitzt auf einem Klappstuhl, ein großes Ringheft auf den Knien und schreibt. Neben ihm steht eine große Mappe, die unsichtbar an ihn gekettet scheint wie die schwarzen Kursivmappen Ihrer Majestät an den Emissären von Downing Street. Darin das bisher Geschriebene. Was für ein merkwürdiges Geschäft doch, diese Schriftstellerei. Liegt da am Strand und sekretiert Prosa. Ich sage ihm das, und es beginnt vor einem sich langsam verdunkelnden Himmel – eine leichte Brise setzt stoßweise ein – ein Gespräch, wie es in Filmen von Antonioni vorkommt, Gespräche, die um so tiefgründiger, offenherziger und rückhaltloser sind, als die Partner sich fremd sind und auch gewiss sind, Fremde zu bleiben. Das sind schöne Momente, wie Ballgespräche es sein können, wo man mit einer Frau, die man nie wiedersehen wird, so sprechen könnte, wie man es nie mit einer langjährigen Geliebten wagen würde. „Er ist einer von uns“, sagte er schließlich der Contessa, die scheinbar unbeteiligt, einige Meter von uns entfernt, in grünem Sonnenanzug auf einer Luftmatratze ausgestreckt, ganz Entspannung ist, der aber kein Wort entgeht, was etwa soviel heißen soll wie: dieser Mensch ist gar nicht der stupide, alberne, langweilige und konventionelle Diplomat (denn in nicht eingeweihten Kreisen glaubte man noch, dass die Arbeit in internationalen Organisationen von Diplomaten wahrgenommen wird), mit dem man „Konversation“ machen muss, sondern jemand, der denkt, d. h. in erster Linie Proust und Joyce kennt, allerhand weiß und natürlich auch schreibt. Das Schreiben als eine höhere, vergeistigte Form des Daseins – das Aufs-Schreibenhin-Leben als ausgezeichnete Erlebnisform. Die Contessa fragt, warum ich nicht schreibe, und was ich schreiben wollte. Ich sage, ich wüsste nicht zu sagen, was ich schreiben wolle, doch was ich gern lesen würde. Das Buch, das sich heutzutage dieselbe Aufgabe stellen würde wie der Don Quichotte: tiefsinnige und erheiternde Persiflage. Und dass ich mir denken könnte, dass sie sehr gut die Heldin dieses Buches abgeben könnte, in dem heroischen Kampf um die Rettung Venedigs. Die Erhaltung des unrettbar Verlorenen – wobei der Konterpart des Sancho Pansa von den Vertretern jener Kräfte übernommen werden könnte, die in der festen Überzeugung, das Beste zu wollen, sich daran machen, im Herzen der Serenissima einen Wolkenkratzer mit der herrlichen Bezeichnung „Centro administrativo“ erstehen zu lassen. Bassani ist ganz begeistert von dieser Idee eines modernen Epos – und sogar die beiden Gallimard schauen, für einen Augenblick, wie neugierige Stelzvögel, die Schnäbel hebend, von ihren Zeitungen auf.

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Wir sprechen auch über Hemingways Buch, das mir seit der Gondelfahrt mit der roten Dame wieder so gegenwärtig ist und der Möglichkeit, es zu verfilmen. Es ist nie auf italienisch erschienen. Die Familie der kleinen Comtesse wusste es zu verhindern. Diese vor wenigen Jahren noch so unglaubhafte Figur erscheint heute längst als Präfiguration aller jener Achtzehnjährigen, die ohne Scheu mit Männern leben, die ihre Väter sein könnten, und langsam das Bewusstsein dafür erzwingen, dass die idealen Formen des Zusammenlebens der Geschlechter nicht Sache von Gleichaltrigen sind, sondern nur in der Überschneidung der Generationen gelingen. Dann verstärkten sich die Windstöße, man sah über dem Meer in gelber, düsterer Gewitterbeleuchtung Regenböen niedergehen. Man zog sich um, die Klappstühle, Gummimatratzen wurden aufgelesen und in der Kabine verstaut und gleich anderen Gruppen zog auch die Party der Kabine 21 – ganz Episode aus einem AntonioniFilm – Zeitungen, Bademäntel über dem Arm und natürlich mit der schwarzen Ledertasche – in die Halle des Excelsior, um, inzwischen schmetterte der Regen, in der gläsernen Kabine des Motorbootes vom Hotel nach Venedig hinüberzusetzen. Noch einen Abschieds-Whisky in Harry’s Bar.18 Nachtrag19 Venedig, 21./23. August 1978 Daraus ergibt sich für meine Darstellung: Auch hier, am Modell ‚Rettet Venedig‘, derselbe Trend wie beim Modell ‚Rettet Europa‘ (Europarat). Weg von den enthusiastischen Amateuren, die die Vergangenheit (ihre Vergangenheit) fortschreiben wollen, zur Bürokratisierung, Verkleinbürgerlichung, Entpersonalisierung. Nach einer propagandistisch-publizitären Phase, die getragen wird von profilierten Persönlichkeiten der alten europäischen Gesellschaft (und ihr dadurch auch eine gesellschaftlich-mondäne Note geben), kommt eine politische, in der sich die echten politischen Kräfte messen (Parteien, Regierungsinstitutionen, Kommunalverwaltungen etc.), in der die ‚Forderungen‘ in akzeptable Kompromisse umgesetzt werden, was einen weitgehenden Verzicht auf die ursprünglichen Zielsetzungen, eine Verfälschung der anfänglichen Intentionen zur Folge hat. Dann die dritte Phase: business as usual. Das Unternehmen wird in die Alltagspraxis der bestehenden Administrationen integriert, von eventuell neu entstandenen Institutionen bürokratisiert und übernommen. Das nunmehr zuständige Personal profitiert vielleicht – wenn auch sicher nur minimal – von einem ‚Lernprozess‘ und 18 Es folgen mehrseitige handschriftlich verfasste Notizen über einen Besuch bei Daisy Fellowes. 19 Nicolaus Sombart berichtet von einem Gespräch über die Zukunft Venedigs. Man sei den alten Kulturdiskurs der nostalgischen Bildungsbürger und Kunsthistoriker über die Rettung der Stadt leid und in die Phase der Fachleute eingetreten.

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einer Bewusstseinserweiterung, verglichen zum status quo ante, weiß aber schon gar nicht mehr, wie ‚alles angefangen hatte‘. Das Außergewöhnliche ist zum Alltag geworden. Das Leben geht weiter. Venedig verfällt weiter, als wäre nichts geschehen. Europa wird nicht geeinigt, als hätte so ein Projekt überhaupt nie bestanden. Es gibt lediglich einige Kommissionen und Bürokratien, also auch mehr Posten und Jobs, die zu vergeben sind und von deren Selbstverständnis (und Selbstdarstellungsbedürfnis) vielleicht einige schwache Abkömmlinge der alten Impulse fortwirken.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

I.

Archivalische Quellen

Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Nachlass Nicolaus Sombart (Unveröffentlichte Manuskripte, Schriftstücke, Dokumente, Briefe) Capriccio Nr. 2 1950–1962 Typoskript NL 405, 313 Canadische Irrfahrt (Manuskripttitel) 1948–2001 Nl 405, 352 Karibische Kreuzfahrt oder The air-conditioned nightmare (1973) 43-seitiges Manuskript als Privatdruck erschienen NL 405, 363 Mission nach Venedig (1961) Buchprojekt NL 405, 358 Begegnung in Rom – Kurzgeschichte (1948) NL 405, 305 Tagebuchaufzeichnungen 1948–1988 NL 405, 1868 Notizbücher mit Aufzeichnungen zu verschiedenen Themen 1948–1989 NL 405, 450; 455,1–6 Berliner Sudelbücher 1ff. 1984–2000 NL 405, 455,6ff. Frühe Arbeiten, Artikel u. a. 1942–1952 NL 405, 364 Ursprung und Struktur des geschichtsphilosophischen Denkens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Materialien zum Habilitationsprojekt) NL 405, 458,1 Staatensystem, Weltbürgerkrieg und internationale Organisationen März 1977 NL 405, 125 Theorie der internationalen Organisationen NL 405, 1945,1 und 1945, 2 Bewerbung und amtliche Dokumente für die Tätigkeit beim Europarat NL 405, 1870 Schriftstücke, Memoranden, den Europarat betreffend NL 405, 1871 Rechenschaftsberichte, Memoranden, Lebensläufe etc. NL 405, 1872 Einlassungen und Beiträge zur Europapolitik NL 405, 462,1 und 462, 2 Europaratszeit. Kulturpolitik NL 405, 1928a Lehraufträge in Freiburg, Wuppertal und an der FU Berlin NL 405, 1874 Nicolaus Sombart: „Werner Sombart – Zur Typologie des deutschen Professors“ NL 405, 390 Brief aus Korfu (Manuskripttitel) NL 405, 408 Interviews und Gespräche 1955–2005 NL 405, 461 Salon. Aufzeichnungen und Materialsammlung NL 405, 447 Berlin-Texte NL 405,365 Eliten, Medien, Medienelite NL 405, 219 Reisen NL 405, 363 Reise-Feuilletons 1948–1954 NL 405, 121 „Politik und Sexualität“. Manuskripttitel NL 405, 361 Sammlung von Texten zu Alfred Weber NL 405, 452

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Artikel über Nicolaus Sombart NL 405, 1906 Sammlung von amtlichen Papieren der Familie Sombart NL 405, 1902 Briefe von Nicolaus Sombart an Corina Sombart NL 405, 1737 Briefe von Corina Sombart an Nicolaus Sombart NL 405, 1177 Briefe von Cläre Creutzfeldt an Nicolaus Sombart NL 405, 612a Briefe von Nicolaus Sombart an Cläre Creutzfeldt NL 405, 1407 Briefe von Hanno Kesting an Nicolaus Sombart NL 405, 856 Briefe von Nicolaus Sombart an Piet Tommissen NL 405, 1765 Briefe von Piet Tommissen an Nicolaus Sombart NL 405, 1238 Briefe von Peter Scheibert an Nicolaus Sombart NL 405, 1122 Brief von Michael Marschall von Bieberstein an Nicolaus Sombart NL 405, 1872 Brief von Hans Schwab-Felisch an Nicolaus Sombart NL 405, 974 Briefe von Roman Schnur an Nicolaus Sombart NL 405, 1135 Briefwechsel mit Hans Paeschke NL 405, 974 Briefe von Armin Mohler an Nicolaus Sombart NL 405, 983 Briefe von Nicolaus Sombart an Armin Mohler NL 405, 1623 Briefe von Nicolaus Sombart an Wilhelm Hennis NL 405, 1520 Briefe von Edgar Salin an Nicolaus Sombart NL 405, 1113 Briefe von Reinhart Koselleck an Nicolaus Sombart NL 405, 889 Briefwechsel mit Wilhelm Karl von Peußen NL 405, 1054a Briefe von Nicolaus Sombart an Hans Werner Richter NL 405, 1686 Briefe von Hans Werner Richter an Nicolaus Sombart NL 405, 1086 Briefe von Michael Klett an Nicolaus Sombart NL 405, 868 Briefe von Klaus Piper an Nicolaus Sombart NL 405, 1037 Briefe der Zeitschrift „Merkur“ an Nicolaus Sombart NL 405, 974 Briefe von Wolf Jobst Siedler an Nicolaus Sombart NL 405, 1163 Briefe von Ruth Ludwig an Nicolaus Sombart NL 405, 946 Briefe von Nicolaus Sombart an Wilhelm Hennis NL 405, 1520

II.

Publikationen von Nicolaus Sombart

Bücher Capriccio Nr. 1. Des Wachsoldaten Irrungen und Untergang, Frankfurt am Main 1947. (Neuauflage Baden-Baden/Zürich 1995) Die geistesgeschichtliche Bedeutung des Grafen Henri de Saint-Simon. Ein Beitrag zu einer Monographie des Krisenbegriffs. Diss. Heidelberg 1950. Typoskript Krise und Planung. Studien zur Entwicklungsgeschichte des menschlichen Selbstverständnisses in der globalen Ära, Wien/Frankfurt/Zürich 1965

Publikationen von Nicolaus Sombart

Kaiser Wilhelm II. New interpretations; the Corfu papers. Ed. by John C. G. Röhl and Nicolaus Sombart, Cambridge u. a. 1982 Jugend in Berlin 1933–1943. Ein Bericht, München/Wien 1984. (Erweiterte und überarbeitete Ausgabe 1991) Nachdenken über Deutschland. Vom Historismus zur Psychoanalyse, München/Zürich 1987 Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt – ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Patriarchatsmythos, München/Wien 1991 Pariser Lehrjahre 1951–1954. Leçons de Sociologie, Hamburg 1994 Die schöne Frau. Der männliche Blick auf den weiblichen Körper. Zwei Essays, Baden-Baden/ Zürich 1995 Wilhelm II. Sündenbock und Herr der Mitte, Berlin 1996 Rendezvous mit dem Weltgeist. Heidelberger Reminiszenzen 1945–1951, Frankfurt am Main 2000 Die Frau ist die Zukunft des Mannes. Aufklärung ist immer erotisch. Hg. von Frithjof Hager, Frankfurt am Main 2003 Journal intime 1982/83. Rückkehr nach Berlin, Berlin 2003 Rumänische Reise. Ins Land meiner Mutter, Berlin 2006

Aufsätze, Artikel, Vorworte, Rezensionen (Auswahl nach Erscheinungsdatum) Studenten in der Entscheidung. In: Der Ruf, H. 7, 15. November 1946. (Wieder abgedruckt in: Der Ruf. Eine deutsche Nachkriegszeitschrift. Hg. von Hans Schwab-Felisch, München 1962, S. 88–93) Der Mann in der Zelle. In: Neue Zeitung vom 12. Februar 1949. (Wieder abgedruckt in: Wilfried F. Schoeller (Hg.), Diese merkwürdige Zeit. Leben nach der Stunde Null. Ein Textbuch aus der „Neuen Zeitung“, Frankfurt am Main/Wien/Zürich 2005, S. 335–337) Tage in Neapel. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. Juli 1951 Rezension zu: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 2 1951. (Aus dem Nachlass zugänglich gemacht von M. Tielke in: Schmitt und Sombart, S. 215–217) Berliner Mythologie. In: Süddeutsche Zeitung vom 9. Januar 1952 Benito Cereno – ein Mythos? Ein erdachtes Gespräch. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Oktober 1954 Vom Ursprung der Geschichtssoziologie. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 1955, H. 4, S. 469–510 Henri Saint-Simon und Auguste Comte. In: Alfred Weber, Einführung in die Soziologie in Verbindung mit Herbert von Borch, Nicolaus Sombart, Hanno Kesting u. a., München 1955, S. 81–102 Karl Marx (zusammen mit Alfred Weber). In: A. Weber (1955) S. 103–112 Herbert Spencer. In: A. Weber (1955), S. 113–119 Vorwort zu: Werner Sombart, Noo-Soziologie, Berlin 1956, S. V–VI

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Patriotismus und Weltbürgerkrieg. In: Der Zeitgenosse und sein Vaterland. Eine Vortragsreihe des Bayerischen Rundfunks. Hg. von Gerhard Szczesny, München 1957, S. 31–51 Internationale Kulturpolitik statt Außenpolitik? In: Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik 18 (1963), H. 11, S. 737–745 Planung und Planetarisierung. Planetarisierung und Plan. In: Merkur 18 (1964), H. 7, S. 601–614 Ernst Jünger: Der Arbeiter. Zur Neuauflage 1964. In: Nachdenken über Deutschland, S. 144–161 (Erstveröffentlichung in „Frankfurter Hefte“, Juni 1965, unter dem Titel „Patriotische Betrachtungen über die geisteswissenschaftliche Bedeutung von Ernst Jüngers ‚Arbeiter‘, anlässlich der Neuauflage 1964“) Kennzeichen der modernen Hochzivilisation. Versuch einer Deutung. (Vortrag bei den Hochschulwochen für staatswissenschaftliche Fortbildung in Bad Wildungen am 18. April 1966). Sonderdruck: Bad Homburg/Berlin/Zürich 1966 Stadtstrukturen von morgen. In: Zukunft im Zeitraffer. Prognosen. Hg. von Ernst Schmacke, Düsseldorf 1968, S. 298–318 Die Friedensforschung. In: Frankfurter Hefte. Zeitschrift für Kultur und Politik 23 (1968), H. 12, S. 821–828 Vorwort zu: Werner Sombart, Sozialismus und soziale Bewegung im 19. Jahrhundert, Wien 1966 Jünger in uns. In: Streit-Zeit-Schrift, H. VI, 2, September 1968. Hg. von Horst Bingel, S. 7–9 Gruppenbild mit zwei Damen. Zum Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Eros im wilhelminischen Zeitalter. In: Merkur 30 (1976), H. 10, S. 972–990. (Wieder abgedruckt in: Nachdenken über Deutschland, S. 22–51) Freuds Vienna. In: Merkur 31 (1977), H. 2. (Wieder abgedruckt in: Nachdenken über Deutschland, S. 52–61) Um einen post-freudianischen Max Weber bittend. In: Merkur 31 (1977), H. 4, S. 405–406 Alfred Weber: Der dritte oder der vierte Mensch. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. August 1977. (Wieder abgedruckt in: Nachdenken über Deutschland, S. 186–195) Der letzte Kaiser war so, wie die Deutschen waren. Wilhelm II. - Vergangenheitsbewältigung und Wiedergutmachung (I und II). In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. Januar 1979 und 17. Februar 1980. (Wieder abgedruckt unter dem Titel „Kaiser Wilhelm II. in neuer Sicht (I) und (II)“ in: Nachdenken über Deutschland, S. 77–95) „Kein Nationalstaat“. In: Die Zeit vom 12. Oktober 1984. (Wieder abgedruckt in: Nachdenken über Deutschland, S. 74–76) Männerbund und Politische Kultur in Deutschland. In: Typisch deutsch: Die Jugendbewegung. Beiträge zu einer Phänomengeschichte. Hg. von Joachim H. Knoll/ Julius H. Schoeps, Opladen 1988, S. 155–176 Ein Invalide des Untergangs. Carl Schmitts Aufzeichnungen aus den Nachkriegsjahren. In: Die Zeit vom 17. Januar 1992

Publikationen von Nicolaus Sombart

Nachrichten aus Ascona. Auf dem Wege zu einer kulturwissenschaftlichen Hermeneutik. In: Städtische Intellektuelle. Urbane Milieus im 20. Jahrhundert. Hg. von Walter Prigge, Frankfurt am Main 1992, S. 107–117 Die Aktualität des Charles Fourier. In: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 1993, H. 6, S. 557–562 Fragebogen Nicolaus Sombart. Schriftsteller. In: Frankfurter Allgemeine Magazin vom 15. Juli 1994 Ein Blick ins Paradies. Der Berliner Soziologe Nicolaus Sombart über Salons, Orgien und die Emanzipation von Mann und Frau. In: Der Spiegel vom 18. Juli 1994, S. 94–96 Wider das Rohe in uns. Über die Aktualität des guten Benehmens. In: Focus 43/1994, S. 164 Ach, Herr Baron, das gehört doch alles Ihnen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Magazin vom 23. September 1994, S. 34–43 Die Wiederkehr des Verdrängten. Paris-Berlin-Moskau: Eine mitteleuropäische Synthese? In: Die Welt vom 5. Oktober 1994 Im Blechgeschepper. Johann Kresniks „Ernst Jünger“, ein Stück über die deutschen Männer und ihre Feinde. In: Die Tageszeitung vom 2. Januar 1995 Lieber Affentheater als gar kein Theater. In: Der Tagesspiegel vom 12. Februar 1995 Lauter Statisten. Rezension zu: Wolfgang Schivelbusch, Vor dem Vorhang. Das geistige Berlin 1945 bis 1948, München 1995. In: Der Tagesspiegel vom 5. März 1995 Der Dandy im Forsthaus. In: Der Tagesspiegel vom 29. März 1995 Das Ideal des Dandys. In: Focus Nr. 15/1995, S. 156–157 Die Medien als Hofmarschall am Gespensterhof. In: Der Tagesspiegel vom 8. August 1995 Karl Jaspers und Alfred Weber. In: Zwischen Nationalökonomie und Universalgeschichte. Alfred Webers Entwurf einer umfassenden Sozialwissenschaft in heutiger Sicht. Hg. von Hans G. Nutzinger, Marburg 1995, S. 49–55 Wissenschaft-Gnosis-Körperdenken. In: Körperdenken. Aufgaben der Historischen Anthropologie. Hg. von Frithjof Hager, Berlin 1996, S. 13–18 Rettet Venedig. Das Projekt Europa – kulturelle Identität – Erinnerung. Perspektiven einer europäischen Kulturpolitik. In: H. Glaser/M. Goldmann/N. Sievers (Hg.), Zukunft Kulturpolitik. Festschrift für Olaf Schwencke, Hagen 1996, S. 97–100 Heidelberger Lehrjahre. Erinnerungen an das „Archiv für Weltbürgerkrieg und Raumordnung“ und die Reibekuchenkatakombe. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. April 1997 Eine autonome geistige Existenz. Rezension zu: Christoph Graf Schwerin, Als sei nichts gewesen. Erinnerungen, Berlin 1997. In: Der Tagesspiegel vom 16. Juni 1997 Ein Cavaliere des Geistes. Pilgerfahrt und Sternstunde: Neapel im Jahre 1947 und Benedetto Croces Reich der Geschichte. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. August 1997 Mut zur Mega-Utopie. Aktualität des utopischen Denkens. In: Judith Betzler (Hg.), Hubert Burda. Kunst und Medien. Festschrift zum 9. Februar 2000, München 2000, S. 202–203

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Wer gehört dazu? Rezension zu „Die Berliner Gesellschaft. Ein Sittenbild – gestern, heute, morgen“. Hg. von Hermann Haarmann und Klaus Siebenhaar, Berlin 1999/2000. In: Die Welt vom 1. April 2000 Deutschlands Wandlung beschleunigen. Dolf Sternberger und seine Nachkriegskulturzeitschrift – Auszug aus den Erinnerungen von Nicolaus Sombart. In: Die Welt vom 29. Juli 2000 „Les cinq Berlin: mythologie berlinoise“. In: Les Temps Moderne, August–November 2003

Briefwechsel Schmitt und Sombart. Der Briefwechsel von Carl Schmitt mit Nicolaus, Corina und Werner Sombart. Hg. von Martin Tielke in Zusammenarbeit mit Gerd Giesler, Berlin 2015

Interviews, Gespräche Von der Urbanisierung zur Planetarisierung. Interview mit Nicolaus Sombart. In: bba Informationen März 1967 „Umkehr der Prioritäten“. Der Europarat als „Club of Culture“. Interview mit Nicolaus Sombart, Leiter der Kulturabteilung des Europarats. In: Kulturpolitische Mitteilungen. Hg. von Olaf Schwencke. Nr. 12/13, 1981 Gespräch mit Nicolaus Sombart über sein Buch „Jugend in Berlin“ von Lutz Bormann, SFB, September 1984 Interview mit Anja Seiffert vom 14. September 1993. Unveröffentlicht. NL 405, Mp. 461 „Das Leben? Ein Roman!“ Gespräch mit Nicolaus Sombart über Eros und Kultur. In: Lutherische Monatshefte 32 (1993), H. 1, S. 15–19 „Retten die Frauen das Feuilleton, Herr Sombart?“ Nicolaus Sombart im Gespräch mit Tilman Krause. In: Der Tagesspiegel vom 27. Januar 1995 Interview mit „Junge Freiheit“ vom 7. April 1995 Altern ist ein schmerzhafter Prozess. In: Varda Hasselmann/Ellinor Jensen, Lebenszeit und Ewigkeit. Gespräche über Alter und Sterben, Bern/München/Wien 2000, S. 227–234 Interview mit Eryck de Rubercy. In: Revue des Deux Mondes. Sondernummer Deutschland/ Frankreich, Mai 2005

Rundfunksendungen Benito Cereno oder Der Mythos Europa. Hessischer Rundfunk 27. Juli 1954 Eine Reise mit der transsibirischen Eisenbahn. SFB 10. Oktober 1996

Rezeption

Film Nicolaus Sombart. Regie: Thomas Grimm für Zeitzeugen TV Film- und Fernsehproduktion, 7. Juni 2001, 73 Minuten

III.

Rezeption

a) Monographien, Aufsätze, Beiträge in Sammelbänden Chen, Linhua: Autobiographie als Lebenserfahrung und Fiktion. Untersuchungen zu den Erinnerungen an die Kindheit im Faschismus von Christa Wolf, Nicolaus Sombart und Eva Zeller, Frankfurt am Main 1991 Gürtler, Philipp: Nicolaus Sombart: Un Chemin Européen. In: Documents. Revue des Questions Allemandes, 4/1998, S. 122–125 Kovács, Adorjan: Nicolaus Sombart: Erotik der Verführung. In: Cuncti, 8. Oktober 2012 Mrozek, Bodo: „Ein sonderbarer Haufen!“ Jugendbewegte Prägung als autobiographische Erzählstrategie in Nicolaus Sombarts „Jugend in Berlin 1933–1943“. In: Barbara Stambolis (Hg.), Jugendbewegt geprägt. Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013, S. 668–682 Tielke, Martin: Nachwort zu: Schmitt und Sombart. Der Briefwechsel von Carl Schmitt mit Nicolaus, Corina und Werner Sombart. Hg. von Martin Tielke in Zusammenarbeit mit Gerd Giesler, Berlin 2015, S. 231–255 Chlada, Marvin: Utopie als Topos der Immanenz. Begriff und Funktion des Utopischen in der Kultursoziologie Nicolaus Sombarts. In: ders., Der Poet als Lumpensammler. Reportagen und Interviews, Duisburg/Istanbul 2016, S. 58–76 Potsch, Lukas: Die Moderne als Weltbürgerkrieg. Zeit- und Geschichtskritik bei Roman Schnur, Reinhart Koselleck, Hanno Kesting und Nicolaus Sombart. In: Leviathan 47 (2019), H. 2, S. 244–265

b) Rezensionen, Feuilletons, Nachrufe (Auswahl) Madler, Anton (d. i. Armin Mohler): Zeitschriftenkritik: Merkur: „Münchens Mütter wider Preußens Väter“. In: Die Welt vom 18. November 1976 Nostitz, Oswalt von: München und die Mütter. In: Criticón. Konservative Zeitschrift 6 (1976), H. 38, November/Dezember Ritter, Henning: Lust an lauter Untergängen. Nicolaus Sombart zum siebzigsten Geburtstag. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Mai 1993 Ritzmann, Kai/Immo von Fallois: Sombarts Berliner Glasperlenspiel. In: Berliner Morgenpost vom 19. September 1993

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Willms, Johannes: Spracharme Obsession eines Chronisten. Schwulst und Verklärung – Nicolaus Sombarts goldene (Lehr-)Jahre in Paris. In: Süddeutsche Zeitung vom 11. März 1994 Gruenter, Undine: Kleiner Gigolo am Venusberg. Nicolaus Sombart erinnert sich an das Paris der fünfziger Jahre. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. März 1994 Fühner, Ruth: Das hat er in Paris gelernt. In: Die Zeit vom 13. Mai 1994 Krause, Tilman: Beischlaf als Wiedergutmachung. Nicolaus Sombart nimmt in seinem Leben und also auch in seinen „Pariser Lehrjahren“ alles symbolisch. In: Der Tagesspiegel vom 11. Dezember 1994 Hertin, Katja: Dünner Tee und Käsekuchen. In: Der Tagesspiegel vom 30. Oktober 1994 Kreyssig, Jenny: Nicht lesen, sondern leben. Zu Besuch bei dem Schriftsteller Nicolaus Sombart. In: Süddeutsche Zeitung vom 3./4./5. Juni 1995 Kohler, Georg: Vom Sinn und Hintersinn der Entscheidung. Über Carl Schmitt und Nicolaus Sombarts Psychographie. In: Neue Zürcher Zeitung vom 6./7. Juli 1996 Mattenklott, Gert: Grüne Nelke, heiliger Sündenbock. In: Handelsblatt vom 2./3. Oktober 1996 Bollmann, Ralph: Ein Dandy der Soziologie. In: Die Tageszeitung vom 11. Mai 1998 Wapnewski, Peter: Weltgeist mit Seidenschal. Wollte stets ein Anachronismus sein: Zum achtzigsten Geburtstag von Nicolaus Sombart. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Mai 2003 Weidermann, Volker: Irene am Nachmittag. Geist ist geil: Nicolaus Sombart weiß alles über den Berliner Wissenschafts- und Erotikbetrieb. Und schreibt alles auf. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 11. Mai 2003 Eisenhauer, Gregor: Berliner Lehrjahre. Salonlöwe mit Biss: Nicolaus Sombart zum 80. Geburtstag. In: Der Tagesspiegel vom 10. Mai 2003 Müller, Lothar: Das Verschwinden der Dienstboten. Zum 80. Geburtstag von Nicolaus Sombart. In: Süddeutsche Zeitung vom 10./11. Mai 2003 Krause, Tilman: Warum Sombart Kult war. In: Die Literarische Welt vom 10. Mai 2003 Krampnitz, Dirk: Ein Friseur als Teil der Gesellschaft – irgendwie komisch. In: Welt am Sonntag vom 9. Januar 2005 Schlak, Stephan: Vatermord als nicht mehr schöne Kunst. Die Briefwechsel Carl Schmitts mit Ernst Rudolf Huber und Nicolaus Sombart. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. Oktober 2015 Schlak, Stephan: Die Freudenbücher der freien Liebe. Zukunft und Paarung: Nicolaus Sombart emanzipiert sich in seinem rumänischen Mutterland von seinem Vater. In: Süddeutsche Zeitung vom 12. Juni 2006 Bisky, Jens: Der Geist der Verschwendung. Zum Tod des Dandys, Soziologen und Erotikers Nicolaus Sombart. In: Süddeutsche Zeitung vom 5./6. Juli 2008 Berendt, Eva: Albtraum aller Kellner. Zum Tode des großen Kosmopoliten und Freigeists Nicolaus Sombart. In: Die Tageszeitung vom 7. Juli 2008

Darstellungen

Jäger, Lorenz: Gesellschaft mit allen Sinnen verstehen. Kultursoziologen sind den Frauen näher: Zum Tode von Nicolaus Sombart. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. Juli 2008 Cammann, Alexander: Heimkehr auf die Insel außer der Zeit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. September 2008 Cammann, Alexander: Der horizontale Dichter. Schöngeist, Paradiesvogel, Erotiker. Zum Tode des Berliner Schriftstellers Nicolaus Sombart. In. Der Tagesspiegel vom 6. Juli 2008 Krause, Tilman: Der letzte Bewohner des alten Europa. In: Die Welt vom 5. Juli 2008 Pange, Christian de: Quelques mots pour dire Au Revoir à Nicolaus. In: Hommage à Nicolaus Sombart (1923–2008). Hg. von Alexander Sombart, Anvers 2008, S. 7–9 Sombart, Alexander (Hg.): Hommage à Nicolaus Sombart (1923–2008), Anvers 2008

IV.

Darstellungen

Arendt, Hannah: Besuch in Deutschland, Berlin 1993 Bataille, Georges: Der heilige Eros, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1974 Baumgarten, Eduard: Über Max Weber. Brief an Nicolaus Sombart. In: Merkur 31 (1977), H. 3, S. 296–300 Berger, Christine: The Image of the English Gentleman in Twentieth-Century Literature. Englishness and Nostalgia, Hampshire 2007 Betzler, Judith (Hg.): Hubert Burda. Kunst und Medien. Festschrift zum 9. Februar 2000, München 2000 Blomert, Reinhard: Intellektuelle im Aufbruch. Karl Mannheim, Alfred Weber, Norbert Elias und die Heidelberger Sozialwissenschaften der Zwischenkriegszeit, München/Wien 1999 Boden, Petra/Rüdiger Zill (Hg.): Poetik und Hermeneutik im Rückblick. Interviews mit den Beteiligten, Paderborn 2017 Bollenbeck, Georg: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt am Main/Leipzig 1994 Bolz, Norbert: Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, München 1989 Brentano, Margherita von: Das Politische und das Persönliche. Eine Collage. Hg. von Iris Nachum und Susan Neiman, Göttingen 2010 Breysig, Gertrud: Kurt Breysig. Ein Bild des Menschen, Heidelberg 1967 Brocke, Bernhard vom: Werner Sombart 1863–1941. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung. In: Sombarts „Moderner Kapitalismus“. Materialien zur Kritik und Rezeption. Hg. von Bernhard vom Brocke, München 1987 Brummer, Klaus: Der Europarat. Eine Einführung, Wiesbaden 2008 Budde, Gunilla: Bürgertum und Konsum: Von der repräsentativen Bescheidenheit zu den „feinen Unterschieden“. In: Heinz-Gerhard Haupt/Claudius Topp (Hg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990, Frankfurt am Main/New York 2009

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Bude, Heinz: Deutsche Karrieren. Lebenskonstruktionen sozialer Aufsteiger aus der Flakhelfer-Generation, Frankfurt am Main 1987 Burckhardt, Carl Jacob: Der Honnête Homme. Das Eliteproblem im 17. Jahrhundert. In: ders., Gestalten und Mächte, Zürich 1984 Burda, Hubert: Mediale Wunderkammern. Hg. von Wolfgang Ullrich, München 2009 Castellane, Boni de: De l‘art d‘être pauvre précédé de Comment j‘ai découvert l‘Amérique. Mémoires (1867–1932), Paris 2009 Corral, Luis Díez del: Chateaubriand und der soziologische Ästhetizismus Tocquevilles. In: Epirrhosis. Festgabe für Carl Schmitt. Hg. von Hans Barion et al., Berlin 1968 Dahrendorf, Ralf: Über Grenzen. Lebenserinnerungen, München 2002 Demm, Eberhard: Von der Weimarer Republik zur Bundesrepublik. Der politische Weg Alfred Webers 1920–1958, Düsseldorf 1999 Demm, Eberhard: Else Jaffé-von Richthofen. Erfülltes Leben zwischen Max und Alfred Weber, Düsseldorf 2014 Eckert, Roland: Kultur, Zivilisation und Gesellschaft. Die Geschichtstheorie Alfred Webers, eine Studie zur Geschichte der deutschen Soziologie, Tübingen 1970 Eckert, Roland: Die Kulturtheorie Alfred Webers. Überlegungen zur Wissenssoziologie des Bildungsbürgertums. In: Eberhard Demm (Hg.), Alfred Weber als Politiker und Gelehrter. Die Referate des Ersten Alfred-Weber-Kongresses in Heidelberg (28.–29. Oktober 1984), Stuttgart 1986 Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Mit einer Einführung herausgegeben von Ernst Beutler, München 1976 Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Erster Band: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt am Main 1976 Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Zweiter Band: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt am Main 1976 Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt am Main 1983 Elias, Norbert: Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von Michael Schröter, Frankfurt am Main 1989 Erbe, Günter: Dandys. Virtuosen der Lebenskunst. Eine Geschichte des mondänen Lebens, Köln/Weimar/Wien 2002 Erbe, Günter: Dorothea Herzogin von Sagan (1793–1862). Eine deutsch-französische Karriere, Köln/Weimar/Wien 2009 Erbe, Günter: Das vornehme Berlin. Fürstin Marie Radziwill und die großen Damen der Gesellschaft 1871–1918, Köln/Weimar/Wien 2015 Erbe, Günter: Der moderne Dandy, Köln/Weimar/Wien 2017 Erbe, Günter: Anmerkungen zum modernen Dandy. In: Sinn und Form, 72 (2020), H. 2, S. 186–193

Darstellungen

Essen, Gesa von: Max Weber und die Kunst der Geselligkeit. In: Richard Faber/Christine Holste (Hg.), Kreise – Gruppen – Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziation, Würzburg 2000, S. 239–264 Faucigny-Lucinge, Jean-Louis de: Legendary Parties, New York/Paris 1987 Fischer-Dieskau, Dietrich: Zeit eines Lebens. Auf Fährtensuche, Berlin 2000 Frackowiak, Ute: Der gute Geschmack. Studien zur Entwicklung des Geschmacksbegriffs, München 1994 Freisinger, Gisela: Hubert Burda. Der Medienfürst, Frankfurt am Main/New York 2005 Garve, Christian: Über die Maxime Rochefoucaulds: das bürgerliche Air verliert sich zuweilen bey der Armee, niemahls am Hofe. In: ders.: Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Literatur und dem gesellschaftlichen Leben. Teil 1 und 2, Hildesheim/ Zürich/New York 1985 Geer, Nadja: Sophistication. Zwischen Denkstil und Pose, Göttingen 2012 Gehlen, Arnold: Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Hamburg 1957 Gilcher-Holtey, Ingrid: Max Weber und die Frauen. In: Christian Geus/Jürgen Kocka, Max Weber. Ein Symposion, München 1988 Gnoli, Antonio/Franco Volpi mit Ernst Jünger: Die kommenden Titanen. Gespräche, Wien 2002 Gracián, Baltasar: Handorakel und Kunst der Weltklugheit. Deutsch von Arthur Schopenhauer. Mit einer Einleitung von Karl Voßler, Stuttgart 1967 Green, Martin: Else und Frieda, die Richthofen-Schwestern, München 1980 Gross, Otto: Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe. Mit einem Textanhang von Franz Jung. Hg. und kommentiert von Kurt Kreiler, Frankfurt am Main 1980 Gruenter, Rainer: Formen des Dandysmus. Eine problemgeschichtliche Studie über Ernst Jünger. In: Euphorion 46 (1952), S. 170–201 Gruenter, Rainer: Der reisende Fürst. Fürst Hermann Pückler-Muskau in England. In: ders., Vom Elend des Schönen. Studien zur Literatur und Kunst. Hg. von Heinke Wunderlich, München/Wien 1988 Habermas, Jürgen: Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der Bundesrepublik. In: ders., Die Normalität einer Berliner Republik. Kleine Politische Schriften VIII, Frankfurt am Main 1995 Harlan, Volker: Ninetta Sombart: Leben und Werk, Stuttgart 2004 Hauser, Arnold: Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1978 Henkel, Gabriele: Die Zeit ist ein Augenblick. Erinnerungen, München 2017 Hettling, Manfred: Bürgerlichkeit im Nachkriegsdeutschland. In: Manfred Hettling/Bernd Ulrich (Hg.), Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005 Hettling, Manfred/Ulrich, Bernd: Formen der Bürgerlichkeit. Ein Gespräch mit Reinhart Koselleck. In: Manfred Hettling/Bernd Ulrich, Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005 Hurwitz, Emanuel: Otto Gross. Paradies-Sucher zwischen Freud und Jung, Zürich 1979 Jünger, Ernst: Das Wäldchen 125, Berlin 2 1926

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Jünger, Ernst: Reinheit der Mittel. In: Widerstand 4 (1929) Jünger, Ernst: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Hamburg 2 1932 Jünger, Ernst: Blätter und Steine, Hamburg 1934 Jünger, Ernst: In Stahlgewittern. Ein Kriegstagebuch, Berlin 24 1942 Jünger, Ernst: Strahlungen, Tübingen 4 1955 Jünger, Ernst: Das Abenteuerliche Herz. Erste Fassung. Aufzeichnungen bei Tag und Nacht, Stuttgart 1987 Jünger, Ernst: Rivarol. Cotta‘s Bibliothek der Moderne, Stuttgart 1989 Jünger, Ernst: Über Kunst und Künstler. Aus den Schriften. Hg. von Gisela Linder, Friedrichshafen 1990 Jünger, Gretha: Briefwechsel mit Carl Schmitt (1934–1953). Hg. von Ingeborg Villinger und Alexander Jaser, Berlin 2007 Kaesler, Dirk: Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn. Eine Biographie, München 2014 Kaschuba, Wolfgang: Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800. Kultur als symbolische Praxis. In: J. Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich. Bd. 3, München 1988, S. 9–44 Keith, Anja/Detlev Schröttker (Hg.): Ernst Jünger – Joseph Wulf. Der Briefwechsel 1962–1974, Frankfurt am Main 2019 Kessler, Harry Graf: Tagebücher 1918–1937. Hg. von Wolfgang Pfeiffer-Belli, Frankfurt am Main 1961 Kesting, Hanno: Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg. Deutungen der Geschichte von der französischen Revolution bis zum Ost-West-Konflikt, Heidelberg 1959 Kiesel, Helmuth: Wissenschaftliche Diagnose und dichterische Vision der Moderne. Max Weber und Ernst Jünger, Heidelberg 1964 Kiesel, Helmuth: Ernst Jünger. Die Biographie, München 2 2007 Kiesel, Helmuth (Hg.): Ernst Jünger – Carl Schmitt. Briefe 1930–1983. Zweite, ergänzte und überarbeitete Neuausgabe, Stuttgart 2012 Kocka, Jürgen (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987 König, René: Rezension zu „Einführung in die Soziologie“. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 8 (1956), H. 1, S. 151–156 König, René: Soziologie in Berlin um 1930. In: Soziologie in Deutschland und Österreich 1918–1945. Materialien zur Entwicklung, Emigration und Wirkungsgeschichte. Hg. von M. Rainer Lepsius (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 23/1981) Koestler, Arthur: Anatomie des Snobismus. In: Über den Snob, München 1962 Koselleck, Reinhart/Carl Schmitt: Der Briefwechsel 1953–1983 und weitere Materialien. Hg. von Jan Eike Dunkhase, Berlin 2019 Krause, Tilman: Mit Frankreich gegen das deutsche Sonderbewußtsein. Friedrich Sieburgs Wege und Wandlungen in diesem Jahrhundert, Berlin 1993 Laak, Dirk van: Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993

Darstellungen

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307

308

Quellen- und Literaturverzeichnis

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Darstellungen

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Quellen- und Literaturverzeichnis

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Darstellungen

Ziegler, Dieter (Hg.): Großbürger und Unternehmer. Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert, Göttingen 2000 Zimmer, Robert: Arthur Schopenhauer. Ein philosophischer Weltbürger, München 2010

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Personenregister

A Adenauer, Konrad 164 Adorno, Theodor W. 28, 91, 92, 137, 171 Agnelli, Gianni 240 Agnelli, Marella 242 Altmann, Rüdiger 142, 143 Andersch, Alfred 73 Andres, Stefan 74 Aron, Jean Paul 128 Aron, Raymond 38, 109, 128 Augusta, Königin von Preußen, deutsche Kaiserin 200 B Babeuf, François Noël 196 Bachelard, Gaston 109, 110 Bachofen, Johann Jakob 197, 199 Bakunin, Michael 196 Ballanche, Pierre Simon 94, 113, 114, 134, 199 Balzac, Honoré de 103, 105, 125, 127, 259, 260 Bardot, Brigitte 109 Barthes, Roland 115 Bataille, Georges 14, 118, 120, 133 Baudelaire, Charles 163, 229 Bäumler, Alfred 198, 199 Baumgarten, Eduard 178, 179, 182, 183 Benn, Gottfried 198 Benjamin, Walter 214 Bentham, Jeremy 241 Berggruen, Heinz 262 Bergson, Henri 96 Bergstraesser, Arnold 166 Bernhardt, Sarah 208 Bertaux, Denise 106

Bertaux, Pierre 106, 107 Biéville-Noyant, Anne Henri de 121 Bingel, Horst 163 Bismarck, Otto Fürst von 174, 175, 178, 183, 184, 200, 201, 207, 208, 212, 213 Blomert, Reinhard 262 Blüher, Hans 45, 51, 52, 198 Boccaccio, Giacomo 130 Bollack, Jean 247 Breitbach, Joseph 127, 135 Brentano, Lujo 173 Brock, Bazon 238 Brummell, George 23, 230 Bülow, Bernhard Fürst von 208 Bunuel, Luis 114 Burckhardt, Carl Jacob 16, 35, 71, 130, 131, 141, 227 Burckhardt, Jacob 72 Burda, Franz 238 Burda, Hubert 13, 55, 238–241 Bussche, Axel von dem 248 C Cagliostro, Graf Alessandro 110 Callois, Roger 133 Casanova, Giacomo 14, 110, 188, 226 Casati, Marchesa Luisa 208 Castellane, Boni de 271 Castiglione, Baldassare 16, 17, 22, 239 Celan, Paul 108, 109 Celibidache, Sergiu 33 Chamfort, Nicolas 19 Chateaubriand, François René de 254 Chef, Genia 262 Chesterfield, Lord 16 Cioran, Émil 106–109

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Personenregister

Cocteau, Jean 114, 163 Comte, Auguste 81, 84, 110–112, 170 Cosmann Nathanail, Peggy 263 Creuzfeldt, Cläre 94 Croce, Benedetto 38, 74, 104 Curtius, Ernst Robert 198 Curtius, Ludwig 135 D Däubler, Theodor 196, 197, 199, 201 Dahrendorf, Ralf 46, 48, 49 D‘Annunzio, Gabriele 208, 210 Diaghilev, Sergei 208 Dino, Dorothea Herzogin von 201 Disraeli, Benjamin, Lord Beaconsfield 61, 201, 202, 206 Dönhoff, Marion Gräfin 135 Du Moulin, Isabelle 262

Fourier, Charles 14, 35, 57, 118, 162, 175, 199, 233, 247, 251, 255–258, 269, 273 François-Poncet, André 45 Freud, Sigmund 167, 174, 179, 180, 186, 193, 269 Freund, Julien 167, 218 Freyer, Hans 38 Friedell, Egon 211 Friedrich IV., König von Preußen 213 Fromm, Erich 80 Fühner, Ruth 265

E Eckermann, Johann Peter 20, 21 Eduard VII., König von Großbritannien und Irland 209 Eelking, Hermann von 11, 221, 233 Eggers, Petra 262 Eichmann, Adolf 163, 218 Einsiedel, Heinrich Graf von 262 Elegant, Robert 262 Elias, Norbert 24 Elisabeth, Kaiserin von Österreich 209 Eulenburg, Philipp Fürst zu 213

G Galtung, Johan 139, 247 Garve, Christian 17, 25, 29 Gebhardt, Eike 263 Gehlen, Arnold 15, 38, 143 George, Stefan 197, 218 Göring, Hermann 34, 59, 62 Goethe, Johann Wolfgang von 19–21, 23, 101, 226 Goetz, Bruno 53 Gothein, Eberhard 189 Gothein, Marie Luise 189 Gracián, Baltasar 16–19, 21 Graf, Karin 262 Grass, Günter 105 Green, Martin 168, 174, 175, 182, 184, 188, 194, 196 Gross, Otto 168, 174, 175, 177–182, 185, 187, 188, 193, 196, 197, 199, 202, 269

F Faret, Nicolas 16 Fest, Joachim 45, 46, 48, 49, 70 Fischer, Brigitte („Tutti“) 90, 91, 93, 106 Fischer, Carolin 262 Fischer, Gottfried Bermann 90, 93 Fischer-Dieskau, Dietrich 46, 48 Fontane, Theodor 49

H Haas, Charles 271 Habermas, Jürgen 171 Haeckel, Ernst 45 Haffner, Sarah 262 Harden, Maximilian 208, 213 Harich, Wolfgang 262 Hauser, Arnold 273

Personenregister

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 88, 91, 126, 128, 132 Heidegger, Martin 38, 198 Henkel, Gabriele 13 Hennis, Wilhelm 166 Heppe, Hortense von 262 Herrhausen, Alfred 28 Herwarth von Bittenfeld, Hans-Heinrich 135 Herz, Henriette 268 Hindenburg, Paul von 56 Hippolyte, Jean 96 Hitler, Adolf 44, 49, 60, 103, 155, 159, 163, 164, 184, 185 Hobbes, Thomas 197 Hocker, Alexander 137 Hofmannsthal, Hugo von 207, 234 Hoppe, Marianne 262 Horkheimer, Max 91 Humboldt, Alexander von 20

Kesting, Hanno 47, 74, 85, 89, 90, 134, 142, 144 Keyserling, Eduard von 259 Keyserling, Hermann Graf von 34, 55, 56 Khoundadzé, Michael 123 Khoundadzé, Tamara s. Sombart, Tamara Kittsteiner, Heinz Dieter 262 Klages, Helmut 195, 197 Knigge, Adolph Freiherr 21, 25 König, René 38, 39, 84, 85 Koestler, Arthur 76, 130 Kojève, Alexandre 128, 129, 132, 143 Kommerell, Blanche 264 Konrád, György 247 Koselleck, Reinhart 15, 46–49, 74, 85, 134, 142–144, 185, 186, 254 Kraus, Karl 247 Krause, Tilman 262 Krill de Capello, Hans-Heinz 262 Kropotkin, Fürst Pjotr Alexejewitsch 196

J Jaffé, Edgar 174, 179 Jaffé, Else 73, 174–179, 184 Jaspers, Karl 73, 182, 193, 273 Jouvenel, Bertrand de 90, 139, 256, 258 Jünger, Ernst 32, 59, 63, 67, 127, 145, 153–168, 172, 187, 198, 217–232, 273 Jungk, Robert 139, 256

L La Bruyère, Jean de 17 Lagerfeld, Karl 242 La Rochefoucauld, Edmée de 114 La Rochefoucauld, François de 19, 21 Lasky, Melvin J. 262 Lawrence, David Herbert 174 Lem, Stanislaw 247 Lenin, Wladimir Iljitsch 90 Leon, Nicolas 54 Lepsius, M. Rainer 15, 46, 48, 50, 58, 70, 71, 262 Leroy, Maxime 38, 90, 109, 110 Lieven, Dorothea Fürstin von 201 Lochner, Anita 262 Ludwig II., König von Bayern 209, 210

K Kaesler, Dirk 176 Kafka, Franz 76 Kahn-Ackermann, Georg 139 Kaiser, Joachim 46, 48 Kaltenbrunner, Gerd-Klaus 223 Kant, Immanuel 16 Karasek, Franz 140 Kempner, Robert 76 Kessler, Harry Graf 207, 209, 210, 221

M Mahlow, Max 263 Mahrenholz, Simone

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Personenregister

Mann, Golo 70 Mann, Klaus 163 Mann, Thomas 9, 11, 89, 164, 191, 198, 228, 234, 254 Mannheim, Karl 80 Marcus, Hugo 143 Marcuse, Herbert 171, 193 Margerie, Jenny de 114 Marquard, Odo 247 Marschall von Bieberstein, Michael 140, 141 Martin, Alfred von 38, 39, 71, 72 Marx, Karl 81, 83, 85, 89, 91, 126, 170 Mattenklott, Gert 15 Melville, Herman 61, 62 Méré, Chevalier de 17, 23 Miller, Henry 254 Millet, Catherine 254 Minoret, Bernard 128 Mohler, Armin 187 Mommsen, Wolfgang J. 171, 184 Monti della Corte, Beatrice 109 Müller, Heiner 228 Münster, Georg Herbert Fürst zu 56 Musil, Robert 9, 228 Mussolini, Benito 37, 41 N Napoleon I., Kaiser von Frankreich 143, 144 Niekisch, Ernst 223 Nietzsche, Friedrich 86, 156, 163, 179–181 Nipperdey, Thomas 15 Nizon, Paul 95 Noailles, Marie-Laure de 114 Nostitz, Helene von 34, 56, 207 Novalis 93 P Pange, Jean de 114 Pange, Pauline de 114, 115

Pange, Victor de 115 Papen, Franz von 60 Pareto, Vilfredo 187 Parsons, Talcott 169 Plenge, Johannes 43 Plessner, Hellmuth 28 Poschardt, Ulf 29 Preußen, Kira Prinzessin von 249 Preußen, Louis Ferdinand Prinz von 215, 249 Proust, Marcel 9, 25, 56, 57, 105, 127, 182, 228, 233, 254, 271 Pückler-Muskau, Hermann Fürst von 221 R Raddatz, Fritz J. 233 Radkau, Joachim 173 Rank, Kathrin 262 Rathenau, Walther 205–207 Reagan, Nancy 242 Reagan, Ronald 240 Récamier, Juliette 113, 114, 116 Reich, Wilhelm 193 Reimertz, Stephan 262 Reitsperger, Otto 263 Reventlow, Ernst zu 208 Rezzori, Gregor von 11, 108, 109, 233, 241–243, 263 Ricaumont, Jacques Graf de 128 Richter, Hans Werner 73 Richthofen, Else von s. Jaffé, Else Richthofen, Frieda von 174 Rilke, Rainer Maria 207 Ritter, Henning 31 Rivarol, Antoine de 229, 230 Robakidse, Grigol 44 Robert, Hubert 238 Rodin, Auguste 207 Röhl, John C. G. 207, 215, 216, 238 Rommel, Erwin 61 Rüber, Johannes 262

Personenregister

S Sade, Marquis de 14, 117, 118 Safranski, Rüdiger 262 Saint-Laurent, Yves 242 Saint-Simon, Graf Henri de 57, 74, 81, 84–89, 94, 110, 112, 113, 126, 131, 133, 134, 142, 160–162, 167, 233, 234, 273 Saint-Simon, Louis de Rouvroy, Herzog von 25 Salin, Edgar 166 Salomon, Ernst von 143 Sarraute, Nathalie 262 Sartre, Jean-Paul 109 Sattler, Stephan 262 Saxe, Cornelia 267 Scheibert, Peter 44, 124, 134–136, 142, 143 Schelsky, Helmut 143 Schiera, Pierangelo 263 Schleinitz, Marie Gräfin von 268 Schlögel, Karl 262 Schmid, Alfred 51, 53 Schmitt, Carl 9, 11, 14, 31, 32, 34, 35, 37–39, 41, 43–45, 51, 52, 58–63, 65, 67–69, 76, 77, 79, 80, 85–93, 96, 107, 109, 110, 133, 134, 137, 138, 142, 143, 145, 153, 155, 159, 162–169, 171–174, 185–187, 192, 193, 195–203, 205, 206, 217, 218, 221, 226, 231, 232, 247, 248, 273, 274 Schmölders, Claudia 262 Schneider-Lengyel, Ilse 93 Schnitzler, Arthur 49 Schnur, Roman 90, 91, 142, 143 Schopenhauer, Arthur 19, 20, 22, 23, 47 Schuler, Alfred 195, 197 Schwarz-Schilling, Marie-Luise 263 Schwerin, Christian Graf von 234, 235, 245, 253, 262 Sedlmayr, Hans 238 Sieburg, Friedrich 11–13, 30, 165, 233

Siedler, Wolf Jobst 37, 45, 46, 48–50, 69–71 Siedler, Elisabeth 37 Simmel, Georg 38, 189, 238 Sombart, Alexander 142 Sombart, Corina 32–34, 37, 44, 47, 54–56, 59, 65, 77–79, 94, 96, 101, 122, 134, 164, 256, 257 Sombart, Diane 142 Sombart, Elizabeth 142 Sombart, Michael 142 Sombart, Ninetta 33, 34, 123 Sombart, Tamara 123, 134, 142, 148 Sombart, Werner 28, 32–45, 52, 54, 59, 60, 66, 83, 87, 123, 159, 169, 172–174, 192, 195, 198, 205, 221, 238, 248, 256, 258, 273 Speer, Albert 70 Speidel, Hans 223, 224 Spencer, Herbert 84, 85 Spengler, Oswald 198 Spielhagen, Friedrich 49 Spitzemberg, Hildegard Freifrau von 200 Staël, Germaine de 24, 25, 113–115, 122, 268 Stein, Lorenz von 81 Stendhal (Henri Beyle) 115, 130 Sternberger, Dolf 71 Stölzl, Christoph 262 Strasser, Georg 39 Strauß, Botho 228 Strauss, Leo 143 Stromberg, Kyra 262 Studnitz, Hans Georg von 11, 233 Suk, Moon 262 Supervielle, Anne-Marie 121, 123 Supervielle, Jules 106 T Taubes, Jacob 143, 252, 262 Teilhard de Chardin, Pierre 162 Theweleit, Klaus 168

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Personenregister

Thiels, Cornelia 262 Thurn und Taxis, Gloria Fürstin von 243 Tielke, Martin 32 Tobler, Mina 177 Tončić-Sorinj, Lujo 139 Tönnies, Ferdinand 33, 38 Treue, Wilhelm 137 Trier, Annika von 262 V Varnhagen, Rahel 268 Vaux, Clotilde de 111, 112 Victoria, Königin von Großbritannien und Irland 202, 206 Victoria, Kronprinzessin (spätere Kaiserin Friedrich) 200 Viehweg, Theodor 91 Vierkandt, Alfred 33 Voegelin, Eric 90, 143 Vogüé, Comtesse de 96 W Wapnewski, Peter 15, 46, 48, 66, 71, 78, 247, 248, 254, 262, 266 Warhol, Andy 242 Wassermann, Jakob 49 Weber, Alfred 31, 38, 43, 73, 74, 79–86, 88, 90, 91, 96, 104, 135, 142, 167, 170, 174, 238, 273

Weber, Marianne 176, 177, 184, 189, 193 Weber, Max 11, 31, 38, 51, 52, 80, 86, 87, 91, 156, 168–184, 186, 188–195, 208, 214, 217, 221, 226, 274 Wech, Johanna 263 Wegner, Armin T. 74, 75, 154 Weidenfeld, Lord George 240 Weisenborn, Günther 76 Werfel, Franz 130 Weyergraf, Bernd 262 Wiese, Leopold von 137 Wiesler, Hermann 264 Wilde, Oscar 230 Wilhelm II., preußischer König, deutscher Kaiser 35, 56, 176, 184, 200, 202, 205–216, 227, 232, 238, 247, 249, 254 Winckelmann, Johannes 143 Windsor, Eduard Herzog von 209, 210 Wirth, Andrzej 262, 264 Wittgenstein, Ludwig 125 Wolfrum, Florian 262 Wolzogen, Caroline von 22 Z Ziege, Eva-Maria 262 Zierold, Kurt 137 Zimmer, Robert 19 Zipkin, Jerry 242 Zweig, Stefan 259

Danksagung

Dank gebührt allen, die diese Studie durch tatkräftige Hilfe, Ermunterung und Anregung ermöglicht haben. Dieser Dank gilt insbesondere Reinhard Blomert, Peggy Cosmann Nathanail, Stephan Sattler, Claudia Schmölders, Marie-Luise SchwarzSchilling, Florian Wolfrum und Eva-Maria Ziege. Ihnen verdanke ich eine Vielzahl von Hinweisen zu Person und Werk Nicolaus Sombarts. Weitere sachdienliche Hinweise erhielt ich von Rita Engelhardt, Otto Reitsperger, Martin Tielke, Ingeborg Villinger und Johanna Wech. Ihnen sei herzlich gedankt. Alexander Sombart danke ich für sein Vertrauen und seine freundliche Erlaubnis, die in der Berliner Staatsbibliothek aufbewahrten Schriftstücke seines Vaters unbeschränkt verwenden zu können. Zu Dank verpflichtet bin ich der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek, die mir bei der Beschaffung dieser Dokumente behilflich war. Ulf Mohler, Bettina Rickert, Friederike Scheibert-Böhm und HansLudwig Schnur danke ich für die Genehmigung zum Abdruck von Briefen Armin Mohlers, Reinhart Kosellecks, Peter Scheiberts und Roman Schnurs an Nicolaus Sombart. Die Archivarbeit wurde von Hubert Burda und Marie-Luise Schwarz-Schilling finanziell großzügig unterstützt. Hubert Burda möchte ich außerdem für einen Zuschuss zu den Druckkosten meinen Dank aussprechen.