Nibelungische Intertextualität: Generationenbeziehungen und genealogische Strukturen in der Heldenepik des Spätmittelalters 9783110221428, 9783110221411

This study explores the very topical subject of intergenerational relationships in four heroic epics ("Kudrun"

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Nibelungische Intertextualität: Generationenbeziehungen und genealogische Strukturen in der Heldenepik des Spätmittelalters
 9783110221428, 9783110221411

Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
1. Einführung
2. Methodische Vorüberlegungen
3. Kudrun
4. Rosengarten zu Worms
5. Biterolf und Dietleib
6. Das Lied vom Hürnen Seyfrid
7. Schlussbetrachtung
Backmatter

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Gunda Lange Nibelungische Intertextualität



Trends in Medieval Philology Edited by Ingrid Kasten · Niklaus Largier Mireille Schnyder

Editorial Board Ingrid Bennewitz · John Greenfield · Christian Kiening Theo Kobusch · Peter von Moos · Uta Störmer-Caysa

Volume 17

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Gunda Lange

Nibelungische Intertextualität Generationenbeziehungen und genealogische Strukturen in der Heldenepik des Spätmittelalters

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Diese Arbeit wurde im Wintersemester 2007/2008 als Dissertation an der Fakultät Geistes- und Kulturwissenschaften der Otto-Friedrich-Universität Bamberg eingereicht und für die Drucklegung geringfügig überarbeitet. Im November 2008 wurde die Arbeit von der Otto-Friedrich-Universität Bamberg mit dem Görres Wissenschaftspreis für hervorragende Promotionsarbeiten ausgezeichnet.

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISSN 1612-443X ISBN 978-3-11-022141-1 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen

Vorwort Die folgenden Zeilen sind eine bescheidene Antwort auf die vielfältige Unterstützung, die ich im Laufe der letzten Jahre während der Arbeit an meiner Dissertation erfahren habe. Mein Dank gilt dabei ganz besonders meiner Betreuerin Prof. Dr. Ingrid Bennewitz, die mit ihrer kritischen Lektüre und ihren wertvollen Anregungen wesentlich zum Gelingen der Arbeit beigetragen hat. Ebenso danke ich Prof. Dr. Christoph Houswitschka für die gute Betreuung und das Engagement als Zweitkorrektor. Auch Prof. Dr. Hartwin Brandt, allen Betreuern und Mitstipendiaten des DFG-Graduiertenkollegs „Generationenbewusstsein und Generationenkonflikte in Antike und Mittelalter“ möchte ich meine Verbundenheit ausdrücken. Sie gaben mir die Möglichkeit, in einem interdisziplinären Rahmen viele wichtige Erfahrungen und Inspirationen für meine Arbeit zu sammeln und an intensiven Diskussionen teilzuhaben. Für die finanzielle Unterstützung durch das damit verbundene zweieinhalbjährige Doktorandenstipendium und einen Druckkostenzuschuss der Deutschen Forschungsgemeinschaft möchte ich mich ebenfalls bedanken. Ebenso fühle ich mich den Kolleginnen und Kollegen des Lehrstuhls für Deutsche Philologie des Mittelalters der Otto-Friedrich-Universität Bamberg verpflichtet, die mich stets mit fachlichem Rat begleitet haben. Für das zeitaufwändige Korrekturlesen möchte ich Tina Morcinek herzlich danken. Ein weiterer Dank gilt Prof. Dr. Ingrid Kasten, Prof. Dr. Niklaus Largier, Prof. Dr. Mireille Schnyder und Prof. Dr. Heiko Hartmann für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Trends in Medieval Philology“. Nicht zuletzt ist es mir ein Bedürfnis, meiner Familie und meinen Freunden, besonders meinen Eltern und Großeltern, die mich in jeglicher Hinsicht unterstützt und ermutigt haben, meine tiefe Verbundenheit auszudrücken. Besonders meinem Vater verdanke ich es, dass er mein Interesse für heldenepische Stoffe und Sagen schon als Kind weckte, indem er die Geschichten von Siegfried und Kriemhild oder Walther und Hildegunde wunderbar lebendig nacherzählte. Widmen möchte ich diese Arbeit meinem Lebensgefährten Peter Böhm. Oldenburg, im September 2009

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Inhalt Vorwort . ...........................................................................................................V 1. Einführung . ................................................................................................. 1 2. Methodische Vorüberlegungen ............................................................. 11 2.1. Die Generationenthematik . ..................................................................... 11 2.1.2. Zur Genealogie von Generationen ............................................. 11 2.1.2. Theoretische Grundlagen ............................................................. 13 2.2. Familie – Verwandtschaft – Genealogie ................................................ 17 2.2.1. ‚Familie‘ und familia ...................................................................... 21 Exkurs: Verwandtschaftsbezeichnungen ................................... 22 2.2.2. Die innerfamiliäre Struktur der Familie .................................... 24 2.2.3. Biologische, geistliche und gesetzliche Verwandtschaft ......... 25 Exkurs: Verwandte, Freunde und Getreue . .............................. 28 2.2.4. Entwicklungstendenzen von Familie und Verwandtschaft 29 . Exkurs: Lebensalter ....................................................................... 35 2.2.5. Genealogie als Denkform ............................................................. 38 2.2.5.1. Ursprung ........................................................................... 41 2.2.5.2. Kontinuität . ..................................................................... 42 2.3. Gender Studies ............................................................................................. 45 2.3.1. Theoretische Grundlagen ............................................................. 45 2.3.2. Körper und Geschlecht in der deutschen Literatur des Mittelalters ...................................................................................... 49 2.3.3. Zur Konstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit in der deutschen Literatur des Mittelalters . ............................. 53 2.3.4. Heldenepik und gender ................................................................. 56 2.3.4.1. gender und genre I ........................................................... 56 2.3.4.2. gender und genre II . ........................................................ 57 3. Kudrun . ...................................................................................................... 62 3.1. Die Kudrun und das Ambraser Heldenbuch ........................................ 69 3.2. Der Hagen-Teil ............................................................................................ 73 3.3. Der Hilde-Teil ............................................................................................. 83 3.4. Der Kudrun-Teil . ........................................................................................ 87 3.4.1. Die ‚heilige‘ Kudrun? ..................................................................... 95

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Inhalt

3.4.2. Kudrun und die „Kriemhild-Diskussion“ . ..............................100 3.5. Die Generationenthematik und gender . ..............................................108 4. Rosengarten zu Worms ........................................................................... 112 4.1. Version A ....................................................................................................114 4.2. Version D ....................................................................................................123 4.2.1. Kriemhild im Rosenhag ..............................................................126 4.2.2. Die ‚missratene‘ Tochter . ............................................................131 4.3. „Kriemhild-Diskussion“ ..........................................................................136 4.4. Das Prinzip der Verwandtschaft und die Generationenthematik . .139 5. Biterolf und Dietleib ............................................................................... 143 5.1. Biterolf und Dietleib ................................................................................148 5.1.1. Vater und Sohn . ............................................................................148 5.2. Das schâch von Wormez . ..........................................................................160 5.2.1. „Kriemhild-Diskussion“ ..............................................................160 5.3. Die Generationenthematik . ...................................................................172 6. Das Lied vom Hürnen Seyfrid .............................................................. 176 6.1. Hürner Seyfrid I: Der ‚missratene‘ Sohn ..............................................179 6.2. Hürner Seyfrid II: Der Sohn als ‚Erlöser‘..............................................183 6.2.1. Der Hort . .......................................................................................192 6.2.2. Der Streit um das Erbe ................................................................197 6.3. „Kriemhild-Diskussion“: Die ‚heilige‘ Kriemhild? ............................199 6.4. Die Generationenthematik . ...................................................................203 7. Schlussbetrachtung ................................................................................ 205 8. Literaturverzeichnis ............................................................................... 211 8.1. Siglen ...........................................................................................................211 8.2. Primärliteratur ...........................................................................................213 8.3. Sekundärliteratur ......................................................................................215 9. Anhang ..................................................................................................... 236 9.1. Personen und Verwandtschaftsverhältnisse in der Kudrun . ............236 9.1.1. Stammbaum zur Kudrun . ...........................................................239 9.2. Personen und Verwandtschaftsverhältnisse im Rosengarten ............240 9.3. Personen und Verwandtschaftsverhältnisse in Biterolf und Dietleib .........................................................................................................243 9.3.1. Gegner und Verbündete beim schâch von Wormez ................245 9.3.2. Stammbaum zu Biterolf und Dietleib . ......................................246

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1. Einführung Die mittelhochdeutsche Heldenepik ist geprägt von „Symbiose und zugleich Konkurrenz von Dietrich- und Nibelungen-Tradition.“1 Michael Curschmann spricht sogar von einer „Rivalität der Sagenkreise“ und von einer „‘instinktive[n]‘ Gegnerschaft“2 zwischen den Protagonisten Dietrich und Kriemhild, welche in der spätmittelalterlichen Heldenbuch-Prosa darin endet, dass Dietrich – und nicht Hildebrand – seine Kontrahentin „in der mitten enczwey“3 schlägt. Beide Sagenbereiche – Dietrich- und Nibelungensage – haben ihren Ursprung in der Völkerwanderungszeit, die erste überlieferte Verschriftlichung und zugleich Verzahnung von Nibelungen- und Dietrichüberlieferung findet jedoch erst um 1200 im Nibelungenlied statt. Diese Verbindung leitet dann die massive Literarisierung der Dietrichsage im 13. Jahrhundert ein. In der opinio communis der germanistischen Mediävistik herrscht Konsens darüber, dass das Nibelungenverständnis im Spätmittelalter wesentlich von der Dietrichsage her gesteuert wird.4 Umgekehrt ist die Dietrichüberlieferung jedoch auch von Nibelungenbezügen gekennzeichnet, zumal das Nibelungenlied als gattungskonstituierender Text verstanden wird, an dessen Rang alle nachfolgenden deutschsprachigen Heldenepen gemessen wurden: „Das Nibelungenlied ist nicht allein die erste zu Pergament gebrachte mhd. Heldendichtung, sondern zugleich bereits die alle folgenden, meist ohne sein Vorbild gar nicht denkbaren Werke dieser Gattung an künstlerischem Rang wie an menschlichem Problemgehalt überragende dichterische Leistung [...].“5

Vor diesem Hintergrund hat sich für die Texte der nachnibelungischen bzw. späten Heldenepik6, die Nibelungenbezüge aufweisen, die Bezeichnung „Nibelungenlied-Diskussion und -Interpretation“ durchsetzen können: Bereits Michael Curschmann bezeichnet Rosengarten, Biterolf und Dietleib so1 2 3 4 5 6

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Curschmann, Michael (1989), S. 389f. Ebd. S. 388f. Zit. nach: Das Deutsche Heldenbuch. Nach dem mutmaßlich ältesten Drucke neu herausgegeben von Adelbert von Keller. Stuttgart 1867. Neudruck Hildesheim 1966. S. 11. Zeile 10. Vgl. Heinzle, Joachim (1999), S. 27; sowie Curschmann, Michael (1989), S. 404. Hoffmann, Werner (1974), S. 69. Unter diesem Terminus werden die Texte der (historischen und aventiurehaften) Dietrichepik (einschließlich Biterolf und Dietleib), der Ortnit/Wolfdietrich-Komplex, die Kudrun sowie die späten Nibelungendichtungen wie der Hürne Seyfrid etc. subsumiert, vgl. Lienert, Elisabeth / Kerth, Sonja (2000) [2000 b], S. 107-122.

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Einführung

wie am Rande Dietrichs Flucht und Rabenschlacht als „Dichtung über Heldendichtung“: Jene Texte spiegelten ein „neue[s] Verhältnis zur heldenepischen Tradition“, das tendenziell als „anti-nibelungisch“ zu bezeichnen sei.7 Elisabeth Lienert erweitert diesen Zusammenhang, indem sie die historischen Dietrichepen Dietrichs Flucht und Rabenschlacht als wichtigen Bestandteil der „‘Nibelungenlied‘-Diskussion und -Interpretation“8 betrachtet und nicht nur für diese Texte, sondern auch für die Kudrun und für die aventiurehafte Dietrichepik formuliert: „[D]ie nachnibelungische Heldenepik [korrigiert] den radikalen Pessimismus des ‚Nibelungenlieds‘.“9 Anhand einer Reihe von Texten der späten Heldenepik, die über die Figur Kriemhilds verbunden sind, könnte man die „Nibelungenlied-Diskussion“ jedoch auch zu einer „Kriemhild-Diskussion“ spezifizieren. Dieser Begriff geht auf Walter Seitter10 zurück, der das Nibelungenlied und seine „Zudichtungen“11 als Diskussion bezeichnet, in deren Mittelpunkt Kriemhild als Hauptfigur stehe: „Übrigens zeigt die Weiterführung in den Um- und Nachdichtungen, daß man im Mittelalter wußte, (und sagte), dass Kriemhild die Hauptfigur ist. Die weiterführende Diskussion präsentiert sich hauptsächlich als Kriemhild-Diskussion.“12

Dabei sei die „Kriemhild-Diskussion“ im 16. Jahrhundert, so Seitter, durch eine „Siegfried-Reduktion“ abgelöst worden.13 Von mediävistischer Seite sind diese Beobachtungen von Ann-Katrin Nolte verifiziert worden, die die „Kriemhild-Diskussion“ anhand von Nibelungenklage, den verschiedenen Versionen des Rosengarten und der Kudrun überprüft hat.14 Auch Ingrid Bennewitz hält es für zutreffend, von einer „‘Kriemhild-Diskussion‘ im 13. und 14. Jahrhundert“15 zu sprechen, betrachtet man die Kriemhild-Rezeption in den verschiedenen Fassungen des Nibelungenliedes, der Klage, den Fassungen des (Großen) Rosengarten, im Hürnen Seyfrid und als „Antityp“ in der Kudrun; möglicherweise auch in Texten wie Sibotes Frauenzucht, in denen die Ehefrau als „übeliu Kriemhilt“ bezeichnet wird. Die neuzeitliche germanistische Forschung habe diese Perspektive, so Bennewitz, „aus den Augen verloren […], wohl nicht zuletzt bedingt durch die Rezeptionsmuster der klassischen Antike […], die eine solche Zentrierung auf eine weibliche Protagonistin nicht vorsahen.“16 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16

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Vgl. Curschmann, Michael (1976) [1976 a], S. 17-21. Zitate S. 21. Lienert, Elisabeth (1999), S. 26. Ebd. S. 46. Seitter, Walter (1990). Gemeint sind Nibelungenklage, Kudrun, Biterolf und Dietleip, Rosengarten. Seitter, Walter (1990), S. 137. Vgl. ebd. S. 140. Vgl. Nolte, Ann-Katrin (2004). Bennewitz, Ingrid (2003), S. 17. Ebd. S. 18.

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Einführung

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Auf eine Fokussierung der weiblichen Protagonistin verweist die mittelalterliche Überlieferung im Falle des Nibelungenliedes selbst, lässt sich das Werk als „Buoch Chreimhilden“ lesen: Dafür spricht zum einen, dass besonders die Überschriften der Handschriften D, d und a17 Kriemhild die entscheidende und handlungstragende Rolle zuordnen, worauf bereits Günther Schweikle verwiesen hat.18 Darüber hinaus werden nicht nur die beiden Teile des Werkes inhaltlich über ihre Figur verbunden, sondern das Nibelungenlied beginnt und endet in allen Handschriften – mit Ausnahme der Handschriften A, C, D, d19 – mit Kriemhild:20 „Auffällig an der ersten Aventiure ist ja, daß auf besondere Weise eine durch Traditionen geprägte Frauengestalt zur Leitfigur des nachfolgenden Werkes gemacht wird. Das ist nicht nur in Hinblick auf das literarische Umfeld ungewöhnlich, sondern nicht minder im Zusammenhang mit den Frauenbildern der Nibelungentraditionen.“21

Zum anderen beziehen sich auch die wesentlichen Abweichungen der drei Haupthandschriften A, B, C fast ausschließlich auf ihre Rolle. Hinzu kommt die überlieferungsgeschichtliche und inhaltlich-strukturelle Nähe zur Kudrun22, die ebenfalls eine weibliche Protagonistin in den Vordergrund stellt. Besonders die Reihenfolge der Werke im heldenepischen Teil des Ambraser Heldenbuches, die Aufschluss über Rezeption und Geltung der Heldenepik im späten Mittelalter gibt, rückt Nibelungenlied, Klage und Kudrun – die von Dietrichs Flucht, Rabenschlacht sowie Biterolf und Dietleib, Ortnit und Wolfdietrich A eingerahmt werden – in das Zentrum der Darstellung.23 Aufgrund dieses literarhistorischen Befundes wurden für die vorliegende Untersuchung vier Texte des 13. Jahrhunderts ausgewählt, die über die Figur der Kriemhild bzw. über Nibelungenlied-Bezüge miteinander verbunden sind und sich daher zu einer vergleichenden Analyse anbieten. Es handelt sich um die 17 Vgl. die folgenden Überschriften: „Daz ist das Buoch Chreimhilden“ (Hs D [Münchner Handschrift]; 1. Viertel 14. Jh.). „Ditz Puech heysset Chrimhilt“ (Hs d [Ambraser Heldenbuch]; 1504-1516). „die auennteur dez pueches vonn denn rekchenn vnd vonn kreymhilldenn“ (Hs a; zweite Hälfte 15. Jh.). Die Überschriften werden zitiert nach: Das Nibelungenlied. Paralleldruck der Handschriften A, B und C nebst Lesarten der übrigen Handschriften. Hrsg. von Michael S. Batts. Tübingen 1971, S. 3; Curschmann, Michael (1989), S. 405, Anm. 54, betont: „Der Titel Von den rekchen und von Kreimhilden [sic!] bezieht sich höchstwahrscheinlich, wie im Fall der Handschrift D, auf das ganze Buch.“ 18 Vgl. Schweikle, Günther (1981), S. 59f. 19 „Uns ist in alten mæren wunders vil geseit / von helden lobebæren, von grôzer arebeit“ (NL 1,12). Das Nibelungenlied wird hier und im Folgenden zitiert nach: Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch. Hrsg. von Helmut de Boor. (= Deutsche Klassiker des Mittelalters). Wiesbaden 1996. 20 „Ez wuohs in Burgonden ein vil edel magedîn, / daz in allen landen niht schœners mohte sîn, / Kriemhilt geheizen“ (NL 2,1-3). 21 Wolf, Alois (1995), S. 285. 22 In Hs d wird die Kudrun unter der Überschrift „Ditz puech ist von Chautrun“ überliefert. 23 Vgl. Bennewitz, Ingrid (2003), S. 17.

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Einführung

Kudrun, die verschiedenen Fassungen des (Großen) Rosengarten, Biterolf und Dietleib sowie Das Lied vom Hürnen Seyfrid, welche der äußerst heterogenen Gattung der späten Heldenepik zugeordnet werden, deren Spezifik im Folgenden kurz skizziert werden soll. Lange Zeit stand die späte bzw. nachnibelungische Heldenepik in der mediävistischen Forschung im Schatten des Nibelungenliedes, das – wie in der älteren Forschungsliteratur üblich – wie ein übermächtiges Relikt einer vergangenen (literarischen) ‚Blütezeit‘ gehandelt wurde: „Keine von ihnen [gemeint sind die Dietrichepen; G.L.] erreicht die dichterischkünstlerische Höhe wie die menschliche Problemtiefe des Nibelungenliedes: der Dietrichstoff hat keine Gestaltung gefunden, die es an Rang und Gültigkeit mit der des Nibelungenliedes aufnehmen könnte.“24

Mit Ausnahme der Kudrun blieb die übrige Heldenepik „Stiefkind“25: Besonders die aventiurehafte Dietrichepik subsumierte man als „Unterhaltungsliteratur“, in Einzelfällen auch als „Trivialliteratur“26; ähnlich wurden der Ortnit/Wolfdietrich-Komplex von Helmut de Boor als „Wildwestfilm des Mittelalters“27, von Max Wehrli als ‚degeneriert‘28 bezeichnet. Dieses Diktum stand jedoch von Anfang an in einem Missverhältnis zu der außerordentlichen Beliebtheit jener Texte im Mittelalter, wovon besonders die Vielzahl der Handschriften, Heldenbücher29 und Drucke Zeugnis ablegt. Die späte Heldenepik wurde vermutlich von allen Gesellschaftsschichten rezipiert, die am Literaturbetrieb teilhatten; vor allem fanden sich ihre Interessenten in kunstverständigen, gebildeten Kreisen, beim Adel und Klerus sowie 24 25 26 27 28

Hoffmann, Werner (1974), S. 159. Heinzle, Joachim (1978), S. 5. Hoffmann, Werner (1997), S. 243. Boor, Helmut de (101979), S. 199. Max Wehrli formulierte: „Auch die Merkmale des Zersingens […] bleiben bezeichnend für Degeneration [!] und Trivialisierung.“ (Wehrli, Max, 21984, S. 519). Vgl. auch die Zusammenfassung älterer Forschungsmeinungen bei Kern, Manfred (2000), S. 89, Anm. 2. 29 Die vier wichtigsten Heldenbücher (handschriftliche oder gedruckte Sammelüberlieferungen mit ausschließlich oder überwiegend heldenepischen Inhalt): 1. Dresdner Heldenbuch, Nürnberg (1472 von Kaspar von der Rhön u.a. für Herzog Balthasar von Mecklenburg geschrieben; enthält Ortnit/Wolfdietrich, Eckenlied, Rosengarten, Sigenot, Wunderer, Laurin, Virginal, Jüngeres Hildebrandslied, Meerwunder, Herzog Ernst) 2. Linhart Scheubels Heldenbuch oder Piaristenhandschrift, Nürnberg (1480/90; enthält Virginal, Antelan, Ortnit und Wolfdietrich, Nibelungenlied, Lorengel) 3. Straßburger Heldenbuch (um 1480 vom Goldschmied Diebolt von Hanowe geschrieben; enthält Heldenbuch-Prosa, Ortnit/Wolfdietrich, Rosengarten, Laurin, Sigenot; eine weitere Handschrift von 1476 enthält Ortnit/Wolfdietrich, Rosengarten, Salman und Morolf; ein weiterer reich illustrierter Druck, der 1479 vermutlich in der Offizin von Johann Prüß dem Älteren hergestellt wurde, enthält Ortnit/Wolfdietrich, Rosengarten, Laurin, Heldenbuch-Prosa. Dem Straßburger Druck sind fünf weitere Druckausgaben gefolgt: Augsburg 1491, Hagenau 1509, Augsburg 1545, Frankfurt am Main 1560 und 1590) 4. Ambraser Heldenbuch (1504-1515/16 von Hans Ried für Kaiser Maximilian I. geschrieben; enthält allein im heldenepischen Teil Dietrichs Flucht, Rabenschlacht, Nibelungenlied, Klage, Kudrun, Biterolf und Dietleib, Ortnit, Wolfdietrich), vgl. Heinzle, Joachim (1999), S. 43ff.

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Einführung

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– zumindest seit dem 15. Jahrhundert – im Stadtbürgertum. Dieser Befund wird von den kostbaren Ausstattungen der Codices oder von den überlieferten Nachrichten über Auftraggeber, Nutzer und Mäzene bestätigt. Besonders der Adel hatte ein großes Interesse an dieser Gattung, denn für seine Vertreter galten heldenepische Texte als Medium der Diskussion und Demonstration adeligen Selbstverständnisses sowie als Träger von Vorzeitkunde, die zur Legitimation der eigenen Herrschaft dienen konnte.30 Seit den 1970er Jahren wurde innerhalb kürzester Zeit der mediävistische Forschungsstrom in eine neue Richtung gelenkt – beginnend mit den bahnbrechenden Veröffentlichungen von Michael Curschmann (1976, 1978), Joachim Heinzle (1978) und Kurt Ruh (1979): An die Stelle der diachronen Erfassung von Textschichten trat der Vergleich von Textfassungen und Versionen, die gleichberechtigt nebeneinander stehen und erst gemeinsam ein umfassendes Bild vermitteln. Als einer der ersten hat sich Joachim Heinzle mit der mittelhochdeutschen Heldenepik in diesem Sinne auseinandergesetzt, wobei sich sein Ansatz primär auf die Überlieferung der Texte richtet. Charakteristisch für die späte Heldenepik ist nach Heinzle vor allem die Zyklusbildung: Ursprünglich nicht aufeinander bezogene Geschichten werden miteinander verbunden, gattungsmäßig verwandte Stoffkreise werden verknüpft.31 Speziell für die historische Dietrichepik und den Ortnit/Wolfdietrich-Komplex verweist er auf eine biographische (d.h. auf Dietrich von Bern bezogene) Zyklusbildung; für die aventiurehafte Dietrichepik konstatiert er dagegen „keine biographisch oder genealogisch konstruktive Reihenbildung [...], sondern Ausbildung einer Vielfalt gleichartiger und austauschbarer Geschichten, die in wechselnden Überlieferungsverbänden selbständig nebeneinander stehen.“32 Der Zusammenhang bleibe durch die Identität der Akteure und Schauplätze sowie durch ein synkretistisches Prinzip erhalten, d.h. Helden und Schauplätze fremder Stoffkreise werden in die Handlung einbezogen.33 Speziell für die aventiurehafte Dietrichepik benennt Heinzle drei konstitutive Faktoren: 1. Die „strukturelle Offenheit der Texte“, nach der die verschiedenen Versionen der Werke verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten darstellen. Die „strukturelle Offenheit“ hänge 2. mit der „Schablonenhaftigkeit der Texte“ zusammen, die Beweglichkeit und Kollision einzelner Erzählelemente bewirken und von dem jeweiligen Verfasser als variierende Erzählmöglichkeiten, als 3. „Freiheit des Tradierenden“ genutzt werden:

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Vgl. ebd. S. 30f. Vgl. Heinzle, Joachim (1978), S. 223. Ebd. S. 226f. Vgl. ebd. S. 227.

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Einführung

„Die strukturelle Offenheit der Texte schafft ein Betätigungsfeld für die Freiheit des Tradierenden und mithin für die Nutzung der erzählerischen Möglichkeiten, die sich aus der Beweglichkeit der Schablonen ergeben.“34

Obwohl er die Fassungsdivergenzen als „Niederschlag produktiver Auseinandersetzung mit den literarischen Traditionen“35 beschreibt, bleibt Heinzle letztlich bei seiner Feststellung der „strukturellen Offenheit“ bzw. „Mehrdeutigkeit der Textstruktur“36 stehen und warnt vor der Interpretation der Texte.37 Schon Peter K. Stein hat die „positivistische Hypothesenfeindlichkeit“38 Heinzles bei gleichzeitiger Anerkennung seiner textphilologischen Arbeit kritisch hinterfragt. Er fordert dagegen eine umfassende Betrachtung der Dietrichepik, die nicht nur den literarischen, sondern auch historischen und soziologischen Faktoren der Werke gerecht werden soll und charakterisiert die Dietrichepik folgendermaßen: „Das Prinzip dieser Literatur besteht darin, Geschichten zu erzählen, die den Hörern mehr oder weniger genau bekannt sind, sei es durch Namen von Figuren, durch Motive, durch Erzählfolgen – oder auch nur durch den sprachlichen Duktus. Dies geschieht mit ebenfalls dem Publikum vertrauten Mitteln. Sinnkonstitution erfolgt [...] durch gezielte Manipulation, Veränderung oder auch nur Addition und Repetition des Bekannten. Von diesen prinzipiellen technischen Gegebenheiten her ist auch verständlich, daß Erzähllogik nicht vorrangiges Gestaltungskriterium sein muß. Die Technik besteht darin, durch Verwendung und Abänderung von Bekanntem über dieses Thema bzw. über Themen zu reden, die dort in der gleichen Weise besprochen wurden. Es ist eine ‚Literatur des Gesprächs‘.“39

Gegen die Hypothesen- bzw. Interpretationsfeindlichkeit Heinzles richtet sich auch die Position von Jan-Dirk Müller: „Heinzles Warnung vor Interpretation richtet sich [...] vornehmlich gegen ein antiquiertes Interpretationskonzept, dessen Korrelat das gebildehaft geschlossene Kunstwerk ist und das sich auf eine totalisierende Bedeutungszuweisung mit Ausschließlichkeitsanspruch richtet [...]. Die berechtigte Kritik an diesem Typus der Interpretation trifft jedoch nicht die hermeneutisch-interpretatorische Anstrengung überhaupt.“40

Im Gegensatz zu Heinzle, der die „strukturelle Offenheit“ als ein a priori der Gattung versteht, interpretiert Manfred Kern die aventiurehafte Dietrichepik als Resultat einer Kreuzung verschiedener Erzählmodelle, die die Textvarianten bzw. die Mehrdeutigkeit des Stoffes erst evoziert: „Die eigentliche und eigentümliche Fragilität der Dietrichaventiuren resultiert nicht aus der narrativen Variabilität des Sujets ‚Heldensage‘, sondern aus der Kreuzung ver34 35 36 37 38 39 40

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Ebd. S. 231. Ebd. S. 232. Ebd. S. 231. Vgl. ebd. S. 6ff. Stein, Peter K. (1981), S. 44. Ebd. S. 76. Müller, Jan-Dirk (1998), S. 16.

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schiedener Erzählmodelle, die ein Intertext über Gattungsgrenzen hinweg kommuniziert. [...] Die Mehrdeutigkeit der Texte ist die Folge dieses Prozesses (und nicht der grundsätzlichen Deutbarkeit der Stoffe!). Sie erzeugt ihrerseits die Variante, die Fassung. Dabei ist die ‚strukturelle Offenheit‘ (der Texte, nicht der Stoffe!) als Resultat intertextueller Ambivalenz zu verstehen und kein a priori der Gattung und ihrer Produktionsbedingungen.“41

Gerade die Kreuzung oder Montage verschiedener Erzählmodelle ist auch für einen anderen Text der späten Heldenepik charakteristisch, wie Kerstin Schmitts Arbeit zur Kudrun dokumentiert: „Die ‚Kudrun‘ [...] zeichnet sich durch ihr grundlegendes Bauprinzip der Montage aus, d.h. den Einbau verschiedener narrativer Muster wie dem Brautwerbungsschema oder dem hagiographischen Erzähltypus.“42

Schmitt zufolge bedeute die Technik der Montage eine Variation und Umperspektivierung von Erzählmustern, die ihre Dynamik aus Widersprüchen, Doppelungen oder Überschneidungen erhalte. Zudem mache eine solche Erzählweise nicht nur die Konventionen der narrativen Vorgaben sichtbar, sondern ermögliche auch einen spielerischen oder ironischen Umgang damit.43 Auch Lydia Miklautsch wertet die späte Heldendichtung (besonders die aventiurehafte Dietrichepik und den Ornit-Wolfdietrich-Komplex) als produktiven Versuch, altbekannte heroische Muster mit (nicht-heroischen) Schemata wie Legende, chansons de geste oder Höfischem Roman zu mischen. Dabei erfolge die Vermischung der Gattungen nicht beliebig, sondern um eine jeweils eigene Sichtweise des Heroischen zu präsentieren und dem Zeitgeschmack anzupassen.44 Miklautsch bezeichnet die Verwendung von Erzähl- und Stilelementen unterschiedlichster Herkunft in ihrer Untersuchung als „Technik der Montage“45, die jeweiligen Texte als „Hybridformen“46: 41 42 43 44 45

Kern, Manfred (2000), S. 104. Schmitt, Kerstin (2002), S. 306. Vgl. ebd. S. 93f. Vgl. Miklautsch, Lydia (2005), S. 10. Der Begriff ‚Montage‘ wird in der Literaturwissenschaft zumeist mit der literarischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts in Zusammenhang gebracht: „Die Montage beinhaltet zwei Arbeitsschritte: Fragmentierung und Kombination (bzw. Entformung und Neuformung). Die Elemente der Montage werden ihrem ursprünglichen Gebrauchs- oder Kommunikationszusammenhang entnommen und dabei mehr oder weniger fragmentiert, deformiert oder destruiert. In einem zweiten Schritt werden sie mit anderen Teilen gleicher oder anderer Herkunft neu zusammengesetzt.“ ( Jäger: Art. „Montage“, RDL 2, 32000, S. 631-633). Miklautsch (2005) verwendet den Begriff der Montage allerdings nicht als avantgardistische oder bewusste Dekonstruktion, sondern als literarische Technik, die in modifizierter Form auch auf die Wolfdietriche zutreffe. 46 Der Terminus ‚Hybridität‘ hat als einer der ersten Michail Bachtin für die Sprache des modernen Romans verwendet, vgl. Bachtin, Michail (1979), S. 195. Bachtins Begriff lässt sich allerdings nicht ohne weiteres auf die mittelalterliche Literatur übertragen, obwohl er auch in der Mediävistik seit einiger Zeit Konjunktur hat und vor allem zur Beschreibung des nachklassischen mittelalterlichen Roman herangezogen wird. Lydia Miklautsch (2005), S. 16, orientiert sich deshalb am Hybriditätsbegriff von Elisabeth Bronfen (1997) S. 14, und versteht unter

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„Durch die Technik der Montage entsteht eben jene Hybridität, die für die Wolfdietriche charakteristisch ist. Gemeint ist, dass Handlungselemente und Textbausteine wie Fertigteile aneinandermontiert werden, ohne dass es darauf ankommt, aus welchen ursprünglichen Zusammenhängen sie letztlich stammen, und ohne dass die neue Kombination eine kohärente und in sich stimmige Geschichte mit einer konkreten Verweisstruktur und konkreten Einzeltextreferenzen ergeben muss.“47

Mit jener freien „Verfügbarkeit der Fiktion“48 und der Gattungsmischung gingen „sowohl eine Entideologisierung als auch eine Enthistorisierung des heldenepischen Materials einher.“49 Damit verbunden sei die hybride Konzeption des Helden, der sich aus unterschiedlichen Heldentypen zusammensetze, sowie eine intertextuelle Montagetechnik, die die Wolfdietriche in ein Bezugsverhältnis zu anderen Texten setze, die ebenfalls diese Muster aufweisen.50 Die vorgestellten gattungstheoretischen Überlegungen, besonders die Faktoren der „strukturellen Offenheit“, der Montage und der hybriden Gestaltung des Helden, sollen bei der Analyse der ausgewählten Texte ebenfalls berücksichtigt werden. Vor diesem gattungsspezifischen Hintergrund verfolgt die vorliegende Arbeit das Ziel, die verschiedenen Perspektiven der Generationenthematik anhand der zeitnah entstandenen, nachnibelungischen Werke Kudrun, Rosengarten, Biterolf und Dietleib sowie Hürnen Seyfrid herauszuarbeiten. Meiner These zufolge steht die Interpretation und Bewertung der jeweiligen KriemhildKonfiguration in einem engen Zusammenhang mit der Darstellung ihrer familialen Position und den daraus resultierenden differierenden Generationenbeziehungen, die im jeweiligen Text als „Kriemhild-Diskussion“ verhandelt werden. Das Deutungsmuster der Generation wird darüber hinaus nicht nur zur Analyse weiterer textinterner familialer Generationenbeziehungen herangezogen, sondern es soll außerdem der Versuch unternommen werden, das Verhältnis der vier Werke zum Nibelungenlied duch eine textgenerationale Perspektive genauer zu spezifizieren: Die vorliegende Arbeit geht davon aus, dass die nachnibelungischen Texte ein verändertes Bewusstsein gegenüber der heldenepischen Tradition bzw. einen „Wandel von Geschichtserfahrung in spätmittelalterlicher Heldenepik“51 demonstrieren – der vor allem in der Literarisierung und Produktivität der Gattung seinen Ausdruck findet –, und daher als eine ‚neue‘, dem Nibelungenlied nachfolgende Text-Generation auf-

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„hybrid alles, was auf ein Zusammenströmen der unterschiedlichsten literarischen Traditionen, Gattungen, Motive, Strukturen verweist.“ Miklautsch, Lydia (2005), S. 16. Meyer, Matthias (1994) [1994 b], S. 273f. Miklautsch, Lydia (2005), S. 18. Vgl. ebd. S. 17ff. Müller, Jan-Dirk (1985).

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gefasst werden können. Genauere Erläuterungen zur Anwendung der Generationenthematik werden im Kapitel 2.1.2. vorgestellt. Da der Begriff Generation – besonders in seiner genealogischen Dimension – von den Bereichen Genealogie, Verwandtschaft, Familie und gender determiniert bzw. konstituiert wird, stellt das Kapitel 2. zunächst die theoretischen Grundlagen der verschiedenen Forschungsgebiete vor, die zugleich in den jeweiligen Analysen der ausgewählten Texte in jeweils unterschiedlicher Gewichtung berücksichtigt werden: Im Bereich der Generationenthematik stützt sich die Arbeit besonders auf die Untersuchungen von Sigrid Weigel, die auf den ‚Gedächtnisverlust‘ des modernen Generationenverständnisses bzw. auf den Zusammenhang von Generation und Genealogie aufmerksam gemacht hat. Der Verweis auf die Doppelsemantik des Generationenbegriffs zeigt, dass diesem sowohl eine synchrone Dimension – Generation als systematische Umschreibung für die Einteilung, Abgrenzung und Identifizierung einer Gruppe oder Gattung – als auch eine diachrone Perspektive inhärent ist: Generation als genealogischer Begriff steht für Abfolge, Abstammung und Kontinuität. Bei dem Paradigma Generation handelt es sich, so Weigel, um eine „Münze, die so abgegriffen ist, daß es oft unmöglich ist, ihre Signatur zu entziffern, um den jeweiligen Geltungsbereich zu identifizieren.“52 Im Bereich der Familien- und Verwandtschaftsforschung wird vor allem die – im Vergleich zur Moderne – abweichende und umfassende mittelalterliche Semantik von Familie und Verwandtschaft vorgestellt. Der Begriff familia beispielsweise umfasste weniger die Kernfamilie (bestehend aus Eltern und Kindern), sondern bezog sich primär auf das Haus und alles, was sich unter der Gewalt des Hausherrn befand, wie die Ehefrau, Kinder, Gesinde, Gesellen etc. Zur Entwicklung von Familie und Verwandtschaft wird u.a. auf die Arbeiten von Michael Mitterauer und Ursula Peters rekurriert. Im folgenden Abschnitt soll Bedeutung und Ausmaß genealogischen Denkens im Mittelalter diskutiert werden, wobei sich die vorliegende Arbeit in diesem Bereich vor allem auf die Arbeiten von Howard Bloch und Beate Kellner bezieht. Genealogie wird demzufolge als dominierende „mental structure“53 und „kulturelle[ ] Ordnungsform“54 verstanden, die nicht nur auf die Zusammenhänge und die Bandbreite von Familie und Verwandtschaft verweist, sondern auch auf andere Phänomenfelder, wie z.B. Literatur oder Sprache, übertragen werden kann, in denen es ebenfalls um Herkunft, Ursprung und Abstammung geht. Der letzte Abschnitt des Kapitels stellt die Begrifflichkeiten und theoretischen Grundlagen der Gender Studies vor, die vor dem Hintergrund mittelal52 Weigel, Sigrid (2006), S. 10f. 53 Bloch, Howard (1983); sowie ders. (1986); vgl. auch Kellner, Beate (2004), S. 15. 54 Heck, Kilian / Jahn, Bernhard (2000), S. 1.

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terlicher Literatur auf ihre Anwendungsmöglichkeiten hin überprüft werden. Hier wird vor allem Bezug auf die Positionen von Judith Butler und Thomas Laqueur genommen. Zusätzlich wird die Bedeutung und Verbindung von gender und genre focussiert, in deren Zusammenhang u.a. auch die Arbeiten von Simon Gaunt, Ingrid Bennewitz und Caroline WalkerBynum diskutiert werden. In den Kapiteln 3. bis 6. geht es darum, die methodischen Fragestellungen und Vorgaben der theoretischen Grundlagen auf die ausgewählten Texte der späten Heldenepik zu beziehen und zu funktionalisieren. Auf Basis einer intertextuellen Lektüre werden sowohl die familialen Generationenverhältnisse innerhalb der Kernfamilie und des Verwandtschaftsverbandes als auch die ‚genealogischen‘ Zusammenhänge der Texte analysiert. Damit verbunden soll das intertextuelle Verhältnis von Kudrun, Rosengarten, Biterolf und Dietleib sowie Hürnen Seyfrid zum ihrem Prätext, dem Nibelungenlied, durch eine textgenerationale Perspektive konkretisiert werden.

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2. Methodische Vorüberlegungen 2.1. Die Generationenthematik Der Begriff der Generation hat Konjunktur. Nicht nur im Alltag und in den Medien, wo generationelle Zuschreibungen wie die ‚Generation Golf ‘ oder die ‚Generation @‘ inzwischen inflationär gebraucht werden – auch in den Wissenschaften spielt das Paradigma der Generation (wieder) eine große Rolle: Sowohl genealogische als auch soziologische Generationenansätze bieten heuristische Anknüpfungspunkte für kultur-, mentalitäts- und sozialgeschichtliche Fragestellungen, wobei das Konzept der Generationen alles andere als eindeutig ist. Für die Generationenforschung, die sich in den verschiedenen Wissenschaften wie der Soziologie, der Geschichts-, Literatur- und Kulturwissenschaft wie auch in der Pädagogik und Psychologie seit einiger Zeit etabliert hat, ist die Heterogenität der Untersuchungsansätze, Definitionen und Abgrenzungen bemerkenswert: „Die Folge dieses vielfältigen und eben auch oft methodisch unreflektierten Gebrauchs ist eine begriffliche Unübersichtlichkeit, die nur noch durch die Heterogenität der bearbeiteten Themen übertroffen wird.“1

Daher ist es notwendig, die sprachgeschichtliche, historische und wissenschaftliche Semantik des Komplexes Generation genauer zu definieren und für die eigene Arbeit abzugrenzen. 2.1.2. Zur Genealogie von Generationen Erst im 18. Jahrhundert erhielt der Begriff ‚Generation‘ Einzug in die Register enzyklopädischen Wissens, obwohl die Verwendung von lat. generationes (Zeugung, Erzeugung, Schöpfung) bereits seit der Antike im genealogischen Diskurs üblich war – ohne jedoch als eigener Eintrag in ein Lexikon aufgenommen worden zu sein2: Schon bei Hesiod3 bezeichneten generationes zum 1 2 3

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Jureit, Ulrike / Wildt, Michael (2005), S. 8. Der erste Beleg für die Verwendung des Begriffes ‚Generation‘ stammt aus dem Jahre 1684: „in ihren Kindern gleich in der ersten Generation.“ (Schulz, Hans, 1913, S. 242) „So z.B. in Hesiods Werke und Tage, wo der Satz ‚das dem Gleichen entstammen die Götter und sterblichen Menschen‘ [Hesiod: „Werke und Tage“, Vers 109 (um 700 v. Chr.); G.L.] die Erzählung von fünf Geschlechtern einleitet, die als Menschenalter oder auch als Menschengattungen verstanden werden können.“ (Weigel, Sigrid, 1999, S. 161)

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einem die Geschlechtsfolge, zum anderen eine Maßeinheit von 30 Jahren bzw. drei Generationen, die einander in einem Jahrhundert ablösen.4 In dieser Verwendung zeigt sich die auch heute noch dem Begriff Generation inhärente doppelte Semantik von genesis/generatio (Zeugung, Schöpfung) und genos/ genus (Gattung, Geschlecht), wie Sigrid Weigel formuliert: „[D]er Begriff der Generation [zeichnet sich] gerade dadurch aus, daß er sowohl – in diachroner Perspektive – Konstellationen der Herkunft, Generierung oder Erbschaft, also der Genealogie, als auch – in synchroner Perspektive – Operationen der Einteilung, Abgrenzung und Identifizierung, also der Klassifizierung, beschreibt.“5

Mit der zweifachen Bedeutung von Generation als Zeitmaß (Genealogie) und als Einheit einer Gattung oder Gruppe (Kohorte) wird ebenfalls seit der Antike häufig ein naturalisierendes oder organisches Moment in die Historiographie eingeschrieben – wie die Vorstellung einer naturgeschichtlichen Periodisierung der Menschheitsgeschichte bei Herodot, der ein Jahrhundert als Periode von drei Menschenaltern misst –, das sich bis weit in die Neuzeit erhalten hat.6 Erst seit Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts7 geriet die Idee der Einheit einer Generation in den Vordergrund, rückte der genealogische Aspekt in den Hintergrund:8 „[S]eit dem 19. Jahrhundert [hat sich] zunehmend ein moderner Generationsbegriff etabliert [...], in dem die traditionelle genealogische Bedeutung in den Hintergrund tritt und ersetzt wird durch eine Aufspaltung in ein naturwissenschaftliches Konzept von Fortpflanzung/Vererbung einerseits und in kulturelle Konzepte andererseits, die vom familial konnotierten Gegensatz zwischen älterer und jüngerer Generation bis zum Kohortenkonzept der Generationsgemeinschaft reichen.“9

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Vgl. Weigel, Sigrid (2005) [2005 c], S. 116. Weigel, Sigrid / Parnes, Ohad (2005) [2005 b], S. 7. Vgl. Weigel, Sigrid (1999), S. 161. Heinz Bude begründet diese Entwicklung mit der allgemeinen historischen Beschleunigung zu dieser Zeit; wichtige Faktoren seien u.a. die Französische Revolution, die Definition der Ehe als privatrechtliches Vertragsverhältnis im Allgemeinen Preußischen Landrecht (1794) und die Einführung neuer Erbschaftsregeln durch den Code Napoléon (1804), nach denen Geschwister erblich gleichgestellt und Enterbungen verboten wurden, vgl. Bude, Heinz (2005), S. 38. Vgl. Weigel, Sigrid (1999), S. 161f. Weigel, Sigrid (2002), S. 189; vgl. auch Bude, Heinz (2005), S. 38: „Mit der Umstellung von Genealogie auf Gleichzeitigkeit wird der Gedanke organischer Weitergabe durch den des historischen Einschnitts ersetzt. Generationen sind dann nicht mehr Aneinanderreihungen derselben Wesen, sondern Neuansätze anderer Art. Die Jungen kappen immer wieder das Band zu den Alten, weshalb sie sich in erster Linie selbst und der ‚jungen Generation‘ und erst in zweiter Linie ihren Vorfahren und der ‚Generation der Alten‘ verpflichtet fühlen.“

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2.1.2. Theoretische Grundlagen In Deutschland fasste erstmals der Philosoph und Soziologe Karl Mannheim (1893-1947) das „Problem der Generationen“ (1928)10 systematisch zusammen, welches bereits Ende des 19. Jahrhunderts aus verschiedenen Perspektiven u.a. von Gustav von Rümelin, Wilhelm Dilthey oder Sigmund Freud11 diskutiert worden war. In seiner Analyse, die in den Sozial- und Geschichtswissenschaften seitdem als kanonischer Referenztext gilt, beruft er sich vor allem auf den Literaturwissenschaftler Julius Petersen (1926)12, den Kunsthistoriker Wilhelm Pinder (1926)13 und den Philosophen Martin Heidegger (1927)14. Mannheim zufolge kann das Deutungsmuster bzw. der Faktor Generation den sozialen bzw. historischen Wandel in der Geschichte erklären helfen. Zentral für sein Verständnis der Generationen ist die Bedeutung der Begriffs-Trias von „Generationslagerung, Generationszusammenhang, Generationseinheit.“15 „Generationslagerung“ bedeutet die Zugehörigkeit von Menschen „zur selben historischen Lebensgemeinschaft“16, d.h. diese Lagerung, die dem Einzelnen sowohl besondere Möglichkeiten eröffnet als auch gewisse Einschränkungen auferlegt, sei unumstößlich, ob man nun „davon weiß oder nicht, ob man sich ihr zurechnet oder diese Zurechenbarkeit vor sich verhüllt.“17 Erst wenn die Individuen einer „Generationslagerung“ auch „an denselben Ereignissen, Lebensgehalten usw. partizipieren und noch mehr, von derselben Art der Bewußtseinsschichtung aus dies [...] tun“18, könne man von einem „Generationszusammenhang“ sprechen. Wenn die Individuen eines „Generationszusammenhangs“ sich darüber hinaus durch einheitliches Reagieren auf bestimmte Ereignisse oder Lebensbedingungen auszeichneten und sich damit von anderen „Generationszusammenhängen“ absetzten, seien die Voraussetzungen einer „Generationseinheit“ erfüllt: „Dieselbe Jugend, die an derselben historisch-aktuellen Problematik orientiert ist, lebt in einem ‚Generationszusammenhang‘, diejenigen Gruppen, die innerhalb desselben Generationszusammenhangs in jeweils verschiedener Weise diese Erlebnisse verarbeiten, bilden jeweils verschiedene ‚Generationseinheiten‘ im Rahmen desselben Generationszusammenhangs.“19

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Vgl. Mannheim, Karl (21970), S. 509-565. Vgl. dazu Daniel, Ute (2001), S. 334. Vgl. Petersen, Julius (1926). Vgl. Pinder, Wilhelm (1926). Vgl. Heidegger, Martin (1927). Mannheim, Karl (21970 ), S. 541ff. Ebd. S. 542. Ebd. S. 526. Ebd. S. 536. Ebd. S. 544.

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Erst die Verschiedenartigkeit der Bewältigung desselben Schicksals innerhalb der „Generationseinheiten“ stellt nach Mannheim das Charakteristikum einer Generation dar: Demzufolge stehen die „Generationseinheiten“ in einem „dynamische[n] Spannungsverhältnis, das als solches in dieser seiner Eigenart erfaßt werden kann, aber keineswegs substantialisiert werden darf.“20 Die „Generationseinheiten“ konstituierten wiederum Generationsentelechien, also Formungsprinzipien, welche die herrschende „Strömung“ bzw. den Zeitgeist der Epoche transformierten. Mannheim betont, dass „Generationseinheiten“ keine konstruierten Gebilde seien, sondern „daß man die geistigen Generationen, die Generationseinheiten, gar nicht überhaupt fixieren und zählen kann, sondern nur innerhalb bestimmter Strömungen.“21 Mannheims Systematisierung weist allerdings mehrere Leerstellen auf, da er u.a. eine deutliche Abgrenzung zu Begriffen wie Genealogie oder Generativität sowie geschlechtertheoretische, soziale und nationale Unterscheidungen außer Acht lässt.22 Sigrid Weigel betont zudem, dass Mannheim kein neues Konzept des Generationenbegriffs begründet, sondern den um 1800 eingeführten Begriff radikal umformuliert habe: „An die Stelle einer genealogischen Bedeutung des Begriffs, wie er durch die Aufwertung der ‚jungen Generation‘ im Umfeld der Entwicklung biologischer Vererbungstheorien und der Französischen Revolution zustande kam und als Formel ‚von Generation zu Generation‘ Karriere machte, tritt in Mannheims soziologischer Umdeutung eine synchrone Dimension. Diese übernimmt sozialklassifikatorische oder auch identitätsstiftende Funktionen.“23

Auch die gegenwärtige Forschungsdiskussion spiegelt die Dominanz der synchronen Perspektive wider, mit der gleichzeitig die begriffliche Komplexität des Generationenbegriffs verloren geht.24 Angesichts dieser Forschungslücke sind in jüngster Zeit jedoch Arbeiten25 entstanden, die die vielfältigen Verschränkungen zwischen Generation und Genealogie in der Neuzeit thematisieren, für die germanistische Mediävistik bildet dieser Bereich jedoch 20 Ebd. S. 558. 21 Ebd. S. 558f. 22 Zur Kritik an Mannheims Konzept vgl. z.B. Zinnecker, Jürgen (2003), S. 33-57; sowie Daniel, Ute (2001), S. 336f.: „So einleuchtend der Mannheimsche Entwurf einer Generationstheorie auch zunächst ist [...], so sehr verführt er zur Vorstellung quasi objektiv gegebener Verhältnisse und damit auch zur unreflektierten Übernahme der bereits mit dem Klassenbegriff verbundenen Aporien [...]. Erst recht suggeriert Mannheim die Existenz von so etwas wie einer objektiven Tiefendimension, des Generationsgefüges, wenn er von ‚einer jeden Lagerung inhärierenden Tendenz‘ spricht, einer ‚Generationsentelechie‘.“ Zur Beobachtung, dass Mannheim ‚Generation‘ mit männlichen Kohorten gleichsetzt und Frauen damit innerhalb des Generationendiskurses eine ‚Leerstelle‘ darstellen, vgl. Benninghaus, Christina (2005), S. 138: „Mannheims Darstellung des ‚Problems der Generationen‘ basierte damit auf einem Geschichts- und Subjektentwurf, der seinerseits von dichotomen Geschlechtsvorstellungen geprägt war.“ 23 Weigel, Sigrid (2005) [2005 a], S. 120. 24 Vgl. ebd. S. 117ff. 25 Vgl. den Sammelband von Weigel, Sigrid / Parnes, Ohad (2005) [2005 b].

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noch ein Desiderat. Einer der Gründe dafür ist, dass Hand in Hand mit der Marginalisierung bzw. dem Vergessen der genealogischen Dimension in der neuzeitlichen Forschung die opinio communis gilt, dass die „Konstruktion von ‚Generationen‘ eng mit der Entstehung der europäischen Moderne verbunden [ist], mit der Differenzierung der einstigen Großfamilie und der Entdeckung von ‚Jugend‘ als Entwicklungsbegriff “26 und ergo nicht ohne Weiteres auf den Bereich des Mittelalters bezogen werden könnte.27 Die nachfolgenden Untersuchungen sollen demonstrieren, dass die Generationenthematik unter Berücksichtigung einer speziell mittelalterlichen Perspektive – welche vor allem durch das Forschungsfeld der Genealogie sowie die Bereiche Familie, Verwandtschaft und gender konstituiert wird – auch anhand von mittelalterlicher Literatur Anwendung finden kann. Die vorliegende Arbeit versucht, sowohl die diachrone als auch die synchrone Dimension der Generationenthematik für die Texte Kudrun, Rosengarten, Biterolf und Dietleib sowie für den Hürnen Seyfrid aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven herauszuarbeiten: Auf intratextueller Ebene werden zunächst die familialen Generationenverhältnisse analysiert, welche sowohl die unterschiedlichen Beziehungen zwischen der Eltern-Kind-Generation innerhalb der Kernfamilie als auch die Einbindung der Protagonisten in den jeweiligen Verwandtschaftsverband berücksichtigen. Die analysierten Konstellationen sollen darüber hinaus auch in Bezug zum Heldenbild gesetzt werden, d.h. es wird überprüft, inwiefern sich die einander ablösenden, z.T. aber auch koexistierenden Repräsentanten einer ‚neuen‘ bzw. ‚alten‘ Helden-Generation unterscheiden bzw. ähneln und wie diese sowohl textuell als auch gattungsdeterminierend funktionalisiert werden. Jene intratextuellen Beobachtungen stehen zugleich in einem größeren bzw. intertextuellen Zusammenhang, der sich primär auf die ‚genealogischen‘ Beziehungen der Texte untereinander konzentriert und daher als „genealogische Intertextualität“28 bezeichnet werden kann: Genealogie gilt im Mittelal26 Jureit, Ulrike / Wildt, Michael (2005), S. 7. 27 Vgl. jedoch die jüngst (nach Fertigstellung der vorliegenden Arbeit) erschienene Wissenschaftsund Kulturgeschichte zum „Konzept der Generation“ von Parnes, Ohad / Vedder, Ulrike / Willer, Stefan (2008), die ein Kapitel zur Vormoderne enthält, S. 40-63. Die Ergebnisse der Untersuchung bestätigen die Überlegungen der vorliegenden Arbeit. 28 Dieser Terminus wird von Beate Kellner (2004), S. 32, Anm. 54, verwendet; zum Komplex der Genealogie vgl. Kap. 2.2.5. In Anlehnung an den Terminus der „genealogischen Intertextualität“ wurde der Titel der vorliegenden Arbeit „nibelungische Intertextualität“ gewählt. Intertextuelle Theorien lassen sich nur schwer auf mittelalterliche bzw. heldenepische (d.h. anonym verfasste) Texte übertragen, Elisabeth Lienert (1998), S. 295, zufolge ist „mittelalterliche Intertextualität, auch die höfischen Romane, [...] kaum exaktes Zitieren, sondern lockere Bezugnahme auf Texte, Texttraditionen, Gattungen, literarisches Hintergrundwissen.“ Nach Lienert lassen sich vor allem die folgenden intertextuellen Verweistypen unterscheiden: Das wörtliche Zitat begegnet selten, dafür finden sich viele Responsionen, die meistens aber keinen direkten Textbezug in-

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ter als universales Prinzip der Wissensorganisation und kann daher auch als Ordnungsprinzip von Texten bzw. Textgruppen fungieren.29 Die genealogischen Bezüge zwischen den Texten werden durch den Zusammenhang von Figuren, Namen, Dingen, Stoffkreisen oder sprachlichen Formeln garantiert. Teilweise genügen bereits Andeutungen, um einen quasi verwandtschaftlichen Zusammenhang der Texte herzustellen. Als Beispiel sei hier auf die kurze Erwähnung von Ortnits Brünne im Hürnen Seyfrid (HS 70) verwiesen: Die Brünne taucht sowohl im Ortnit/Wolfdietrich-Komplex auf, wo sie von Ortnit auf Wolfdietrich (Wd D 1680ff.) übergeht, als auch im Eckenlied (E 21-24; 77), wo sie über den Riesen Ecke zu Dietrich, dem Nachfahren Wolfdietrichs, gelangt. Der genealogische Kreis schließt sich wiederum in Dietrichs Flucht, in der Siegfried zum Neffen Ortnits (DF 2029ff.) avanciert. Das intertextuelle Verhältnis von Kudrun, Rosengarten, Biterolf und Dietleib sowie Hürnen Seyfrid zu ihrem Prätext30 Nibelungenlied soll durch eine textgenerationale Perspektive präzisiert werden: Die Entstehung der vier Texte wird auf die Zeit zwischen Mitte bis Ende des 13. Jahrhunderts geschätzt31; die schriftliche Überlieferung dagegen setzt bei den verschiedenen Fassungen des Rosengarten erst Ende des 13. bzw. Anfang des 14. Jahrhunderts ein, die unikale Überlieferung von Kudrun und Biterolf und Dietleib findet sich lediglich im Ambraser Heldenbuch zu Beginn des 16. Jahrhunderts und der älteste Druck des Hürnen Seyfrid wird auf ca. 1530 datiert. Gerade weil für die Texte auch eine gleichzeitige mündliche Verbreitung angenommen wird32, kann man sie auch als heterogene Zeugnisse einer ‚neuen‘ Text-Generation

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dizieren. Häufigster Verweistyp ist der auf fremde Figuren; diese werden als Vergleichsfiguren zitiert oder als außerhalb des Textes liegender Teil der eigenen Geschichte – z.B. über verwandtschaftliche Bindungen – erinnert. Die Figurennamen sind meist mit Handlungszitaten bzw. -ergänzungen durch Fortsetzung, Vorgeschichte, Genealogie, Geschichten von Nebenfiguren und Verwandten verknüpft. Hinzu kommen Motiv-, Szenen- und Strukturzitate: Darunter sind alle motivischen und strukturellen Responsionen auf konkrete Szenen oder Handlungsschemata anderer Texte bis hin zu einzeltext- oder gattungsübergreifenden Strukturmustern wie z.B. dem Brautwerbungsschema zu rechnen. Zur Intertextualitätsforschung in der Mediävistik vgl. z.B. auch Wolfzettel, Friedrich (1990), S. 1-17; sowie Pfister, Manfred (1985), S. 1-13. Grundsätzlich zur Theoriebildung der Intertextualität vgl. z.B. Stierle, Karlheinz (1996), 349-359; sowie Martinez, Matias (1996). S. 430-445. „Genealogie funktioniert als Intertextualitätsmodell.“ Kellner, Beate (2004), S. 32. Die Vorstellungen von einer „Genealogie der Texte“ korrespondieren mit denen der „Genealogie der Dinge“ (wie Rüstungen, Schwerter, Schmuck etc.) in Texten. Diese basieren wiederum auf einer „Genealogie der Wörter und Sprachen“ (vgl. dies., S. 32ff.). Besonders Howard Bloch hat auf den Zusammenhang zwischen Etymologie und Genealogie im Mittelalter aufmerksam gemacht; demzufolge erscheint Genealogie als Modell der Sprache und vice versa, vgl. Bloch, Howard (1983), S. 30-63. Unter dem Terminus ‚Prätext‘ wird – wie in der Intertextualitätsforschung üblich – ein vorgängiger Text verstanden, auf den in irgendeiner Weise Bezug genommen wird. Kudrun (um 1240); Rosengarten (vor 1250), Biterolf und Dietleib (1350-1360), Das Lied vom hürnen Seyfrid (13. Jh.). Vgl. Heinzle, Joachim (1999), S. 29.

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Familie – Verwandtschaft – Genealogie

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definieren, die durch den zeitlichen Abstand zur ‚vorhergehenden‘ Generation bzw. dem Nibelungenlied und durch den übergreifenden Bezug zur „Nibelungenlied- bzw. Kriemhild-Diskussion“ konstituiert wird. Damit avanciert die späte Heldenepik quasi zu einer „Generationseinheit“, die – im übertragenen Mannheim‘schen Sinn – sich dadurch auszeichnet, dass sie im Rahmen desselben „Generationszusammenhangs“ dasselbe „Schicksal“ bzw. Thema auf jeweils unterschiedliche Art und Weise bewältigt und damit ein „dynamische[s] Spannungsverhältnis“33 erzeugt, das den „Wandel von Geschichtserfahrung in spätmittelalterlicher Heldenepik“34 erklären könnte. Mit Hilfe der textgenerationalen Perspektive, die damit über intertextuelle Ansätze hinausgeht, sollen die von der opinio communis geforderten „Verbindungslinien innerhalb der Textgruppen“35 stärker forciert und die literarischen Eigenheiten der späten Heldenepik genauer untersucht werden.

2.2. Familie – Verwandtschaft – Genealogie Das Konzept der Generation gilt als „Voraussetzung, Fluchtpunkt und Schnittpunkt“36 des genealogischen Diskurses. Genealogie lässt sich – im Blick auf das Mittelalter – als dominante mentale Struktur und als universales, interdiskursiv verwendetes Ordnungsmuster beschreiben; den semantischen Kern der Genealogie bilden wiederum die personalen Beziehungen von Familie und Verwandtschaft.37 Anders ausgedrückt: Der Begriff Generation wird in seiner genealogischen Dimension vor allem von den Bereichen Familie, Verwandtschaft und Genealogie konstituiert, die im Folgenden spezifiziert werden sollen. Diese drei (im weitesten Sinne) anthropologischen Kategorien sind in den letzten Jahren – im Kontext einer kulturwissenschaftlichen Neuorientierung oder „anthropologischen Wende“38 – ebenfalls in das Interesse der germanistischen Mediävistik gerückt. Das gesamte Umfeld von Familie und Verwandtschaft ist in den letzten 40 Jahren innerhalb der historischen Familienforschung, einem Spezialgebiet der Geschichtswissenschaft, unter den verschiedensten methodischen Prämissen analysiert worden, welche sich grob in drei Forschungsbereiche aufteilen lassen: 1. Die vor allem im angloamerikanischen Bereich verbreitete Household-Forschung, deren zentrales Thema das Zusammenwohnen in 33 34 35 36

Mannheim, Karl (21970 ), S. 558. Müller, Jan-Dirk (1985). Lienert, Elisabeth / Kerth, Sonja (2000) [2000 b], S. 108. Weigel, Sigrid (2006), S. 10. Ähnlich Parnes, Ohad / Vedder, Ulrike / Willer, Stefan (2008), S. 40f.: „Das Konzept der Generation ist eine historisch spezifische Variante genealogischen Denkens.“ 37 Vgl. Kellner, Beate (2004), S. 15. 38 Müller, Jan-Dirk (1995), S. 452.

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Haushaltsverbänden ist, wobei die Haushaltsfamilie als Reproduktions- und Arbeitseinheit betrachtet wird, der auch nicht verwandte Personen angehören können.39 2. Demgegenüber wird in Frankreich und Deutschland der Akzent auf die Familie als Verwandtschaftsverband40 und Abstammungsgemeinschaft gelegt. Man konzentriert sich auf genealogische Strukturen, kognatische und agnatische Linienbildungen, die Bedeutung von Konsanguinität, Allianz oder spiritueller Verwandtschaft.41 3. Daneben hat sich eine weitere Forschungsrichtung ausgeprägt, die sich im Anschluss an die mentalitätsgeschichtlichen Studien von Philip Ariès zur Kindheit in der Vormoderne42 auf die ElternKind-Beziehungen bzw. auf die psychischen Konstellationen innerhalb der Kernfamilie konzentriert.43 Aus dem hier nur kurz angedeuteten Spektrum familiengeschichtlicher Forschungen sind für die mediävistische Literaturwissenschaft vor allem jene Untersuchungen wichtig, die von Familie und Verwandtschaft als Abstammungsgemeinschaft ausgehen.44 In diesem Zusammenhang ist besonders auf die Untersuchungen von Karl Schmid hinzuweisen, der von einem grundlegenden Umstrukturierungsprozess des Adels seit dem 10. Jahrhundert ausging, demzufolge sich ein Wandel vom horizontalen zum vertikalen Verwandtschaftssystem vollzogen habe, welcher u.a. mit einem Bedeutungsrückgang der kognatischen Verwandten bei gleichzeitig zunehmender Dominanz der väterlichen Linie sowie mit Änderungen im Erbschaftsrecht (z.B. Primogeniturrecht) Hand in Hand gegangen sei.45 Diese Befunde wurden besonders von Georges Duby46 begrüßt, der seine eigenen, ebenfalls seit den 1950er Jahren betriebenen Studien zur mittelalterlichen Adelsgesellschaft in Frankreich durch die Thesen Schmids bestätigt sah. Die von Schmid und Duby beschriebene Entwicklung der Adelsgesellschaft vom Früh- zum Hochmittelalter geriet bald zur opinio communis der Geschichtswissenschaft, wobei neuerdings eher von einer räumlichen und zeitlichen Überlagerung und nicht mehr von einer linearen Entwicklung ausgegangen wird.47 Gerade die Lignage-Thematik wurde jedoch im literaturwissenschaftlichen Bereich 39 Vgl. z.B. Laslett, Peter (1972). Eine umfassende bibliographische Dokumentation der Forschung bietet Peters, Ursula (1999), S. 8-14. 40 Zur Differenzierung zwischen Haushalts- und Verwandtschaftsfamilie vgl. Goetz, H.-W.: Art. „Familie“, LMA 4 (1989), Sp. 256f. 41 Vgl. z.B. Aghassian, Michel / Augé, Marc (1975); Ségalen, Martine (1986). 42 Vgl. Ariès, Philippe (1975) [1960]. 43 Vgl. dazu Peters, Ursula (1999), S. 10, Anm. 13, mit weiterführender Literatur. 44 Vgl. Kellner, Beate (2004), S. 70. 45 Vgl. u.a. folgende grundlegende Arbeiten: Schmid, Karl (1983) [1957], S. 183-244; ders. (1983), S. 245-267; ders. (1961). 46 Vgl. u.a. Duby, Georges (1973) [1967], S. 267-285; sowie Duby, Georges / Le Goff, Jacques (1977). 47 Vgl. Kellner, Beate (2004), S. 70-77; vgl. außerdem die Kritik bei Althoff, Gerd (1990), S. 35ff.; sowie Mitterauer, Michael (2003) [2003 a]. S. 160-363.

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zum dominierenden Diskurs und zum übergreifenden Rahmen des Textverständnisses besonders innerhalb der Textgattung der chansons de geste48, „die in ausladenden Zyklen die wechselvolle Geschichte bedeutender agnatischer Familien [...] umkreisen und dabei in geradezu seriellen Abfolgen ein farbiges Panorama dramatischer familialer Konstellationen bieten.“49 Daneben ist auf eine Reihe von strukturanthropologischen Arbeiten hinzuweisen, die durch die ethnologischen Untersuchungen von Claude Lévi-Strauss50 angeregt wurden: Für diesen Bereich stehen insbesondere die Arbeiten von Karl Bertau, Werner Busse, Elisabeth Schmid oder Werner Delaber51 zu Wolframs Parzival. Zentrum dieser Analysen sind die literarisch entworfenen Verwandtschaftsmuster, die unter einer strukturanthropologischen Perspektive auf ihre unterschiedlichen Funktionen hin betrachtet werden: „[E]twa das Nebeneinander mütterlicher und väterlicher Verwandtschaftslinien, die unterschiedlich affektbesetzten Konstellationen von Mutterbruder-Schwestersohn, Vater-Sohn oder Bruder-Schwester, das Verhältnis von endogamen und exogamen Eheschließungen.“52 Einen weiteren Bereich des literarhistorischen Familieninteresses bildet die durch Philippe Ariès‘ Geschichte der Kindheit initiierte mentalitätshistorische Erforschung der vormodernen Kindheit. In Auseinandersetzung bzw. in Abgrenzung mit Ariés‘ Thesen werden hier die spezifischen Ausdrucksformen und Wirkungsgsmöglichkeiten affektiver Eltern-Kind-Beziehungen innerhalb der mittelalterlichen Kernfamilie untersucht.53 Im deutlichen Zusammenhang mit den Kindheitsbildern entstanden außerdem literaturwissenschaftliche Untersuchungen zu Rollenmustern im Rahmen der Kernfamilie, wie die Konstellation von Vater und Sohn (Ursula Storp), die Inszenierung von Mutterschaft (Lydia Miklautsch, Claudia Brinker-von der Heyde) oder das Verhältnis von Müttern und Töchtern (Ann Marie Rasmussen).54 Im Bereich genealogischer Forschungen ist vor allem auf die folgenden Arbeiten hinzuweisen: Zum einen ist die Untersuchung von Peter Czerwinski zu nennen, der sich mit den Zeitstrukturen beschäftigt hat, die 48 Zu den Familienkonstellationen der chansons de geste vgl. Heintze, Michael (1992); vgl. hierzu auch den ausführlichen Forschungsüberblick bei Peters, Ursula (1999), S. 63ff. 49 Peters, Ursula (1994), S. 147. 50 Vgl. Lévi-Strauss, Claude (1981) [1947]. 51 Vgl. Bertau, Karl (1983) [1978], S. 190-240; Busse, Werner (1979), S. 116-134; Schmid, Elisabeth (1986); Delaber, Walther (1990). 52 Peters, Ursula (1994), S. 141. 53 Vgl. z.B. die Arbeiten von Schultz, James A. (1991), S. 519-539; Wenzel, Horst (1991) [1991 a], S. 141-163. Auf weitere Untersuchungen verweist Peters, Ursula (1999), S. 10, Anm. 13. 54 Vgl. Storp, Ursula (1994); Miklautsch, Lydia (1991); Brinker-von der Heyde, Claudia (1996); Rasmussen, Ann Marie (1997); vgl. weitere Literaturangaben bes. zur Vater-Sohn-Thematik bei Mecklenburg, Michael (2006), S. 9-38; sowie Bennewitz, Ingrid 2000 [2000 a], S. 16ff.

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Genealogien zugrunde liegen. Besonders seine These, „dass genealogisches Denken, jedenfalls solange es noch unmittelbar gesellschaftliche Synthesis bewirkt, grundsätzlich auf einem ‚circuitus temporum‘, einer nicht-sukzessiven, nicht-linearen Logik beruht, also gerade keine ‚Geschichte‘ erzeugt“55, wurde kritisch hinterfragt.56 Genealogische Fragestellungen wurden vor allem auch in den Arbeiten von Haiko Wandhoff, Peter Strohschneider oder Martin Przybilski diskutiert.57 Innerhalb dieser auf Vollständigkeit verzichtenden Übersicht58 zur Forschungssituation über neuere germanistisch-mediävistische Forschungen zur Thematik von Familie, Verwandtschaft und Genealogie soll ein besonderes Augenmerk auf die Arbeiten von Ursula Peters (1999) und Beate Kellner (2004) gerichtet werden. Peters fragt nach den historischen Konturen literarischer Familiendarstellung bzw. nach der „Bedeutung historischer Adelsfamilien für die Entstehung und Verbreitung der volkssprachigen Literatur des Mittelalters.“59 Innerhalb ihrer mentalitätsgeschichtlich situierten Untersuchung kommt sie zu dem Schluss, dass literarische Konstruktionen von Familie und Verwandtschaft sich weit weniger an den historischen Gegebenheiten von Familie und Verwandtschaft orientieren, sondern mehr durch literarische und genreabhängige Traditionen und Erzählmuster sowie ideologische Programme gesteuert werden. Die Verwandtschaftsmotive der höfischen Dichtung seien damit, so Peters, „höchst unzuverläßliche Zeugnisse[n] für die Bedeutung familienpolitischer Strukturentwicklungen und ihrer vermuteten mentalitätsgeschichtlichen Auswirkungen und Bewältigungsstrategien“:60 „Zwar entwirft die höfische Literatur eine Fülle problemorientierter, in historische Verlaufsmodelle eingebundene bzw. auf historisch bezeugte Regelungen und Situationen ausgreifender Familienszenarien und Verwandtschaftsbilder, in denen die verschiedensten, historisch möglichen Konstellationen von Familie und Verwandtschaft durchgespielt werden, zugleich verzichtet sie jedoch auf ein direktes Abrufen bestimmter historisch relevanter Problembereiche der Adelsfamilie.“61

Kellners62 Studien zielen auf das Genealogische als zentrale Wissens- und Denkform des Mittelalters und der Frühen Neuzeit ab. Durch die Analyse von genealogischen Strukturen verschiedener Text- und Wissensfelder versucht sie, eine „Grammatik“ des Genealogischen im Mittelalter zu erarbeiten und 55 Czerwinski, Peter (1993), S. 260. 56 Zur grundsätzlichen Kritik am Ansatz Czerwinskis vgl. z.B. Strohschneider, Peter (1995), S. 173-191. 57 Vgl. Wandhoff, Haiko (1997), S. 127-153; Przybilski, Martin (2000); vgl. dazu auch den Forschungsüberblick bei Kellner, Beate (2004), S. 79-82. 58 Vgl. den ausführlichen Forschungsüberblick bei Peters, Ursula (1999), S. 7-74; sowie Kellner, Beate (2004), S. 68-83. 59 Peters, Ursula, (1999), S. 3. 60 Ebd. S. 337. 61 Ebd. S. 336. 62 Vgl. Kellner, Beate (2004).

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ähnlich wie Ursula Peters unvoreingenommen auf benachbarte Disziplinen zurückzugreifen. Michael Mecklenburg zufolge stellen diese Arbeiten eine transparente und systematische Grundlagenarbeit zur Verfügung: „Beide Forscherinnen versuchen, die hinter den Begriffen ‚Genealogie‘ beziehungsweise ‚Verwandtschaft‘ stehenden Denk- und Sozialformen des Mittelalters in ihren alltäglichen Erscheinungsformen und in deren Reflexion im literarischen Diskurs zu erfassen. Damit setzen sie [...] auf einem abstrakteren Niveau an und stellen so Ergebnisse einer Grundlagenforschung bereit, mit deren Hilfe man sich nun wieder den konkreten Personenbeziehungen (und einzelnen literarischen Texten) zuwenden sollte, wenn man mehr zu erfahren sucht, als sozialanthropologische Strukturmuster.“63

Vor diesem Hintergrund sollen im nächsten Abschnitt einige geschichtliche Daten, Positionen und Ergebnisse zum Bereich Familie, Verwandtschaft und Genealogie aufgeführt werden, um die historische Dimension nicht aus den Augen zu verlieren. Die in dieser Arbeit vorgestellten Texte werden dabei weder als Abbild historischer Realität noch als ausschließlich isolierte literarisch-fiktive Welt verstanden, sondern vielmehr als „textuelle Welt zweiter Ordnung“64, die ihre eigenen Spielregeln diskutiert. Literatur wird demnach „als Probehandeln [anerkannt], das je zeitgenössische anthropologische Phänomene nicht nur reproduziert, sondern im Wortsinne die Spielräume bereitstellt für die Auslotung neuer anthropologischer Konstruktionen oder auch umgekehrt für die Revitalisierung bereits obsolet gewordenen anthropologischen Wissens. Gerade weil die Literatur [...] von einer direkten Wirklichkeitsreferenz entlastet ist, vermag sie anthropologische Themen neu zu entwerfen oder auch zu rekonfigurieren und vermag sie utopisches Potential auch in der Charakterisierung anthropologischer Dispositionen zu entfalten. Literatur greift die in anderen Diskursen entwickelten Wissensformen, Normen und Leitbilder auf, doch sie wiederholt diese nicht nur in ihrer Sprache, sondern modifiziert und transzendiert, ja codiert sie in ihrer eigenen Weise im Rahmen ihrer eingespielten Sprechmuster, ihres Gattungssytems, ihrer Bau- und Kommunikationsformen.“65

2.2.1. ‚Familie‘ und familia Im Mittelalter existiert statt des Begriffs der ‚Familie‘ lediglich der Terminus der familia, welcher auf römisch-antike Vorlagen zurückgeht und sich weniger auf die Verwandtschaft, sondern in erster Linie auf das Haus und alles, was sich unter der Gewalt des Hausherren befindet, bezieht (wie die Ehefrau, (Pflege-) Kinder, Hausgenossen, Gesinde, Gesellen etc.). Der Begriff ‚Familie‘ kommt sowohl in der mittelhochdeutschen Sprache und Literatur als auch in mittelalterlichen Kirchenrechtsquellen nicht vor, erst seit dem 16. Jahrhundert ist er 63 Mecklenburg, Michael (2006), S. 31. 64 Kellner, Beate (2004), S. 90. 65 Ebd. S. 90.

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belegt und seit dem 18. Jahrhundert allgemein verbreitet. Dennoch kennt das Alt- und Mittelhochdeutsche Kollektivbegriffe, die zum Bedeutungsfeld von ‚Familie‘ gehören wie sippe, gesleht, haus oder weib und kind.66 Grundsätzlich muss im Mittelalter zwischen zwei Familientypen unterschieden werden, die sich überlagern, aber nicht identisch sind: 1. die Haushaltsfamilie als Wohngemeinschaft aller im Hause lebenden Personen (einschließlich Dienerschaft, Gesellen usw.), die familia, und 2. die Verwandtschaftsfamilie. Die Verwandtschaftsfamilie wird unterschieden a) in die Kernfamilie (auch Kleinfamilie) und b) in den Verwandtschaftsverband, die Großfamilie oder Sippe. Die Kernfamilie beschreibt die vorrangig auf der Ehe beruhende Eltern-Kind-Gruppe als Lebens- oder Wohngemeinschaft evtl. unter Einschluss weiterer Familienmitglieder wie Geschwister, Elternteile usw. (sog. ‚erweiterte Familie‘). Der aus vielen Kernfamilien zusammengesetzte „Verwandtschaftsverband (Großfamilie, Sippe) entweder der Blutsverwandten – in agnatischer Folge (Abstammungs-Familie, Geschlecht) oder unter Einschluss der Seitenlinien – oder als kognatischer Verband der Blutsverwandten und Verschwägerten (in der jüngeren Forschung auch als Sippe bezeichnet)“67 ist wie die Kernfamilie und die familia in ihrer genauen Bedeutung allerdings umstritten. Im Mittelalter hat man die verschiedenen Formen nur unvollkommen geschieden.68 Bereits die Definition von Familie und familia zeigt, wie umfangreich und vielschichtig mittelalterliche Verwandtschaftstermini im Vergleich zum modernen Sprachgebrauch verwendet werden. Da auch in den zu untersuchenden Texten der vorliegenden Arbeit weitere Begriffe wie sippe, geslehte etc. von Bedeutung sind, wird im Folgenden die Semantik dieser Verwandtschaftsbezeichnungen kurz skizziert. Exkurs: Verwandtschaftsbezeichnungen

Das Lexem sippe beschreibt „ziemlich allgemein“ die „Blutsverwandtschaft, [den] Verwandtschaftsgrad.“69 Dieser weit gefasste Begriff für das Verwandtenkollektiv bezeichnet die Blutsverwandten väterlicher- und mütterlicherseits sowie die angeheirateten Verwandten:70 „Sippen oder allgemeiner Verwandtengruppen waren im Mittelalter keine rechtlich fixierten, statischen Größen, sondern flexible Gebilde, deren Struktur sich nachhaltig veränderte.“71 66 Vgl. Goetz, H.-W.: Art. „Familie“, LMA 4 (1989), Sp. 257; sowie Schulz, K.: Art. „familia“, LMA 4 (1989), Sp. 254f.; sowie Schwab, D.: Art. „Familie“, HRG 1 (1971), Sp. 1067f. 67 Goetz, H.W. (1989), Sp. 257. 68 Vgl. ebd. Sp. 257. 69 Lexer: Art. „sippe“, Bd. 2, Sp. 938. 70 Vgl. Stevens, Sylvia (1997), S. 11f; sowie Przybilski, Martin (2000), S. 83. 71 Althoff, Gerd (1990), S. 34.

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Unter der Bezeichnung geslehte sind im mittelhochdeutschen Wörterbuch die Bedeutungen: „Geschlecht, Stamm, Familie allgemein [...], von hoher Abkunft, [...], natürliche Eigenschaft, [...] etymologische Verwandtschaft“72 aufgeführt. Demnach findet sich kein Anhaltspunkt für die noch in der neueren Forschung vertretene These, dass geslehte nur die in der direkten Linie Verwandten der Vaterseite bezeichnet.73 Der Terminus künne wird mit „Geschlecht, Familie, Verwandtschaft allgemein“74 übersetzt. Ähnlich wie geslehte trägt der Begriff künne zwar einen „genealogischen Aspekt“, wird aber eher zur Bezeichnung für größere, durch gemeinsame Abstammung verbundene Gruppen verwendet.75 Im Mittelhochdeutschen beginnt künne allmählich zu veralten, seit dem Ende des 12. Jahrhunderts wird es von Autoren oder Schreibern im Vergleich zu mâc oder geslehte weniger häufig benutzt.76 Dem Lexem mâc entspricht die Übersetzung „Blutsverwandter, Blutsverwandte in der Seitenlinie“77 und bezeichnet sowohl die väterlichen als auch die mütterlichen Verwandten. Ähnlich wie sippe ist mâc demnach ein weit gefasstes Verwandtenlexem, welches zur genaueren Erklärung des Verwandtschaftsgrads mit anderen Begriffen kombiniert werden kann wie z.B. konemâc.78 Der Begriff vriunt wird mit „Freund allgemein [...], Geliebter, Freundin, Geliebte [...], Verwandter [...], Kriegs-, Bundesverwandter“79 übersetzt und kann neben der Hauptbedeutung ‚Freund‘ auch eine nicht näher definierte verwandtschaftliche Beziehung beschreiben.80 Die Lexeme niftel („Schwestertochter, Nichte, nahe Verwandte überhaupt [Mutterschwester, Geschwisterkinder]“81) bzw. nefe („Neffe, meistens der Schwestersohn, Mutterbruder, Oheim, im weiteren Sinne: Verwandter, Vetter“82) werden im Mittelhochdeutschen in erster Linie zur Bezeichnung von Schwestertochter und Mutterschwestertochter bzw. Schwestersohn bzw. Mutterschwestersohn eingesetzt. Beide Begriffe können ebenfalls zur Bezeichnung nicht näher definierter Blutsverwandter (mütterlicher- und väterlicherseits) verwendet werden.83 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83

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Lexer: Art. „geslehte“, Bd. 1, Sp. 917. Vgl. Stevens, Sylvia (1997), S. 12f; sowie Przybilski, Martin (2000), S. 83. Lexer: Art. „künne“, Bd. 1, Sp. 1777. Vgl. Przybilski, Martin (2000), S. 69f. Vgl. Müller-Römheld, Walter (1958), S. 128f. Lexer: Art. „mâc“, Bd. 1, Sp. 2001. konemâc wird mit „Verwandter von Weibes Seite, Schwager“ übersetzt, vgl. Lexer: Art. „konemâc“, Bd. 1, Sp. 2001; vgl. auch Przybilski, Martin (2000), S. 71f; sowie Jones, William Jarvis (1990), S. 105f. u. 199ff. Lexer: Art. „vriunt“, Bd. 3, Sp. 526. Vgl. Przybilski, Martin (2000), S. 84; sowie Jones, William Jarvis (1990), S. 105f. Lexer: Art. „niftel“, Bd. 2, Sp. 81. Lexer: Art. „neve“, Bd. 2, Sp. 61. Vgl. Przybilski, Martin (2000), S. 84; sowie Jones, William Jarvis (1990), S. 106-131; sowie

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Das Nebeneinander von expliziten und nicht näher definierten Verwandtschaftsbezeichnungen väterlicher- und mütterlicherseits gilt auch für die folgenden Verwandtschaftstermini84: ôheim („Mutterbruder, Oheim [...], Schwestersohn, Neffe, [...] Verwandter überhaupt“85) und muome („Mutterschwester, [...] weibliche Verwandte überhaupt, Schwägerin, weibliches Geschwisterkind“86), sowie veter („Vatersbruder, Vetter [...]; Bruderssohn“87) und base („Schwester des Vaters, später [...] Mutterschwester“88).89 Die Bedeutungsvielfalt der einzelnen Verwandtschaftsbezeichnungen veranschaulicht, dass eine eindeutige Übersetzung innerhalb der Texte nicht zulässig ist, sondern der Kontext stets mitbedacht werden sollte. 2.2.2. Die innerfamiliäre Struktur der Familie Die innerfamiliäre Struktur der mittelalterlichen Familie stützt sich im Wesentlichen auf folgende Punkte: 1. Verwandten- und Haushalts-Familien sind zum Schutz der eigenen Angehörigen verpflichtet. Von Seiten der Kirche erblickt man die Primärfunktion der Kernfamilie in der Zeugung ehelicher Nachkommen.90 2. Die Familie ist in allen Schichten patriarchal strukturiert, wobei der Ehemann bzw. der Vater die Muntgewalt über alle Hausbewohner ausübt und der Besitz (Erbrecht) meist der männlichen Linie folgt. Seit dem 9. Jahrhundert wird der kirchliche Einfluss auf die Familie immer wichtiger, der sich besonders durch das christliche Personenverständnis und die kirchliche Eheauffassung konstituiert und so zu einer Schwächung der patriarchalischen Struktur führt:91 An die Stelle der einseitigen Herrschaft des Mannes setzt sich ab dem 11. Jahrhundert besonders das Konsensprinzip92 bei der Ruipérez, Germán (1987), S. 53ff. u. 69ff. 84 Vgl. die Synopse zu niftel, neve, muome, base, ôheim, veter bei Jones, William Jarvis (1990), S. 174-180. 85 Lexer: Art. „ôheim“, Bd. 1, Sp. 148. 86 Lexer: Art. „muome“, Bd. 1, Sp. 2239. 87 Lexer: Art. „veter“, Bd. 3, Sp. 331. 88 Lexer: Art. „base“, Bd. 1, Sp. 133. 89 Die Neutralisierung der väterlichen und mütterlichen Verwandtschaftsbezeichnungen umfasst nach Germán Ruipérez die Zeit von ca. 1550 bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, vgl. Ruipérez, Germán (1987), S. 136. Michael Mitterauer (2000), S. 15, zufolge beginnt der Prozess der Parallelisierung der Verwandtschaftsterminologie bereits im Mittelalter. Die entscheidende Phase für die Neutralisierung der begrifflichen Oppositionen zwischen Geschwistern des Vaters und der Mutter sieht er ebenfalls in der Frühen Neuzeit. Allerdings werden die Begriffe in einer „Übergangsphase relativ undifferenziert mit einem breiten Bedeutungsfeld für Verwandte väterlicher- und mütterlicherseits angewandt.“ 90 Vgl. Goetz, H.-W.: Art. „Familie“, LMA 4 (1989), Sp. 273. 91 Vgl. R. Schulze: Art. „Familie“: „Germanisches u. Deutsches Recht“, LMA 4 (1989), Sp. 266. 92 Im Jahr 866 setzte die Kirche unter Papst Nikolaus I. den freien Konsens der Eheleute an die Stelle der elterlichen Zustimmung, vgl. Suttner, E. Ch.: Art. „Ehe in der Gesellschaft des Mittelalters“, LMA 3 (1986), Sp. 1635. Erst nach der Jahrtausendwende konnte sich das Konsensprin-

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Eheschließung und damit das genossenschaftliche Verhältnis der Ehegatten durch, das – bei aller fortbestehenden Ungleichheit der Geschlechter – formal von der grundsätzlichen Gleichwertigkeit der Ehepartner ausgeht.93 Dadurch gewinnt die Familie an institutioneller Eigenständigkeit gegenüber der Hausgenossenschaft, das Ehegatten-Vermögen wird zu echter Gütergemeinschaft vereinigt, das Vorrecht des Mannes (z.B. bei Ehebruch) wandelt sich zugunsten beiderseitiger Verpflichtungen, „dem Ehemann standen aber weiterhin die gerichtliche und geschäftliche Vertretung, die Vermögensverwaltung sowie Weisungsbefugnisse zu.“94 Der kirchliche Einfluss auf die Familie prägt daher auch das Verhältnis von Kindern und Eltern: Es wird nicht nur der Umfang der familienrechtlichen Gewalt eingeschränkt (z.B. bei der Kindesaussetzung oder der Verheiratung von Töchtern), sondern die väterliche Gewalt entwickelt sich zur elterlichen (allerdings nicht gleichheitlichen) Gewalt: „Im Hoch- und spätmittelalterlichen deutschen Recht hatten sich damit bereits Elemente der neuzeitlichen Familienstruktur ausgebildet.“95 3. Verbunden mit dieser Entwicklung sind auf die Ehe- bzw. Inzestverbote und das daraus resultierende exogame Heiratsverhalten hinzuweisen: Ende des 11. Jahrhunderts wird das Eheverbot bzw. die Ausdehnung von Blutsverwandtschaft bis zur 7. Generation allgemein festgelegt, allerdings auf dem 4. Laterankonzil von 1215 wieder bis auf den 4. Grad zurückgenommen.96 Hierbei ist vor allem in Abgrenzung zum Islam oder Judentum (wo endogame Heiratsmuster verbreitet sind) die besondere Haltung des Christentums zu bemerken: „Für das Christentum hat [...] das Moment der Abstammung ‚dem Fleische nach‘ keinerlei religiöse Bedeutung. Und so kann es auch keine religiös begründete Empfehlung einer Partnerwahl unter Blutsverwandten geben.“97 2.2.3. Biologische, geistliche und gesetzliche Verwandtschaft Unter Verwandtschaft versteht man „ein begriffliches Ordnungssystem zur Definition sozialer Beziehungen, das seine Terminologie aus dem Wortfeld der biologischen Reproduktion bezieht. Der Bezug zu Zeugung und biologischer Reproduktion ist aber keine notwendige und auch keine zureichende Bedingung für Verwandtschaft im sozialwissenschaftlichen Sinn.“98

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zip durchsetzen und so die nach germanischem Recht praktizierten Eheformen (Friedel-Ehe, Munt-Ehe, Kebs-Ehe) verdrängen, vgl. Schott, C.: Art. „Ehe“: Germanisches und Deutsches Recht“, LMA 3 (1986), Sp. 1629f. Vgl. Weigand, R.: Art. „Familie“: „Kanonisches Recht“, LMA 4 (1989), Sp. 259; sowie Schwab, D.: Art. „Familie“, HRG 1 (1971), Sp. 1069. Schulze, R.: Art. „Familie“: „Germanisches u. Deutsches Recht“, LMA 4 (1989), Sp. 266. Ebd. Sp. 266. Vgl. Kellner, Beate (2004), S. 18; sowie Mitterauer, Michael (2003 ) [2003 a], S. 225. Mitterauer, Michael (2003) [2003 a], S. 225. Jussen, B.: Art. „Verwandtschaft“, LMA 8 (1997), Sp. 1596.

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Gerade im Mittelalter war nur ein Teil der verwandtschaftlichen Organisation an der biologischen Reproduktion orientiert, Verwandtschaft galt vielmehr als übergeordnetes „Ordnungsmuster für die Konstituierung familialer Gruppen (Allianz, Deszendenz, Adoption), religiöser Vereinigungen (Kloster, Bruderschaft) oder ritueller Freundschaftsbündnisse (z.b. Patenschaft, Schwurbrüderschaft), für die Definition der Hierarchien in anstaltlichen Organisationsformen (der Bischof als pater der Diözesanen und frater der Bischöfe), schließlich für die Gemeinschaft der Christen als Ganze (Brüder und Schwestern in der Taufe, Kinder Gottes).“99

Innerhalb der mediävistischen Verwandtschaftsforschung ist neuerdings die biologische Verwandtschaft sowie eine Unterteilung in ‚richtige‘ (Deszendenz und Allianz) und ‚künstliche/fiktive‘ (z.B. Patenschaft) in den Hintergrund gerückt, stattdessen wird Verwandtschaft inzwischen als universal einsetzbares Strukturierungssystem sozialer Beziehungen, als umfassendes Ordnungssystem neu diskutiert. Immer mehr Arbeiten betonen die analog zum christlich zweigeteilten Bild des Menschen ex anima et corpore entstandene Entfaltung zweier Denksysteme von Verwandtschaft im Mittelalter: einer fleischlichen Verwandtschaft (cognatio carnalis, trennt in Verwandte und Nichtverwandte, konstituiert durch Heirat und Geburt) und einer geistlichen Verwandtschaft100 (cognatio spiritualis, konstituiert durch die Taufe, durch die prinzipiell alle Menschen bzw. Christen miteinander verwandt sind).101 Die geistliche bzw. spirituelle Verwandtschaft, ursprünglich durch die Patenschaft bei der Taufe konstituiert, wird auch auf andere, auf religiöser Grundlage zustande gekommene Bindungen übertragen. Das belegen vor allem die Begriffe der Blutsverwandtschaft, die nicht nur in der Terminologie der Schwäger- bzw. Heiratsverwandtschaft (affinitas), sondern auch der geistlichen Verwandtschaft parallelisiert werden.102 Bezieht man darüber hinaus auch gesetzliche Verbindungen durch Adoption mit ein, erhält 99 Ebd. Sp. 1596. 100 „Die christliche Konzeption der geistlichen Verwandtschaft [konzipiert] ein Verwandtschaftskonzept, in dem prinzipiell alle miteinander verwandt sind, konstitutiv ist die Initiation ins Leben. Spezifische Formen dieser geistlichen Verwandtschaften (durch Patenschaft, Profeß, Weihe usw.) bedeuten dann nur eine Statusmodifikation. [...] In der geistlichen Verwandtschaft war der Zentralbegriff verwandtschaftlicher Moral, caritas, als gesamtgesellschaftliches Prinzip formuliert. Diese Handlungsnormierung war auf vielerlei Weise rituell formalisiert, sei es im Verbund mit der fleischlichen Verwandtschaft, sei es in konkurrierenden (Kl.) oder parallelen (Bruderschaft) familial definierten Sozialformen.“ ( Jussen, B: Art. „Verwandtschaft“, LMA 8, 1997, Sp. 1597ff.) 101 Vgl. ebd. Sp. 1597. 102 Neben die lateinischen Begriffe pater und mater als leibliche Eltern treten der patrinus und die matrina als Taufpaten. Die englischsprachigen Bezeichnungen godfather, godmother, godparents, zu denen es Analogien im Deutschen gibt, betonen dies ebenfalls, vgl. Mitterauer, Michael (2003) [2003 b], S. 82f; zur geistlichen Verwandtschaft vgl. auch Lynch, Joseph H. (1986), S. 333; sowie Goody, Jack (1986). S. 21ff.

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man ein weitreichendes Spektrum von Verwandtschaftsbeziehungen und -bezeichnungen mit je unterschiedlichen Legitimierungsprinzipien und -zielen. Gerade die sich teilweise überlagernden Institute Adoption und Pfleg(kind)schaft103 sowie die Patenschaft104 – mit denen man ‚neue‘ Verwandte akquiriert und zusätzliche personale Bündnisse schafft – verdeutlichen, dass Verwandtschaft nach mittelalterlichem Verständnis nicht nur auf biologischen Konstanten beruht, sondern vielmehr eine kulturell variable Konstruktion darstellt und sich häufig als Sache des politischen Kalküls erweist. Bezieht man zudem noch die verschiedenen bzw. sich überschneidenden Definitionen der unterschiedlichen Rechtstraditionen mit in die Überlegungen ein, verbietet es sich geradezu, von der Verwandtschaft (das gleiche gilt selbstverständlich auch für die Familie) im Mittelalter zu sprechen.105

103 Die Adoption führt zur Herstellung eines fingierten Vater-(Mutter)-Kind-Verhältnisses. Nur die adoptio plena lässt die vollen Wirkungen der Blutsverwandtschaft eintreten, bei der adoptio minus plena entsteht lediglich ein Erbrecht des Adoptierten nach dem Adoptierenden. Diese Formen übernimmt das kanonische Recht. Dem germanisch-deutschen Recht dagegen sind allein im Zweck beschränkte Adoptionsverhältnisse bekannt (z.B. die Affatomie der Lex Salica und Lex Ribuaria zur Begründung einer Erbenstellung). Familienrechtlichen Zwecken dient das eigene Institut der Pfleg(kind)schaft, das adoptionsähnlichen Charakter hat, vgl. Brauneder, W.: Art. „Adoption“, LMA 1 (1980), Sp. 163. Nach mittelalterlichem Sprachgebrauch umfasste Pflegschaft erst spät die Vormundschaft, deshalb ist Pflegschaft für eine Person zumeist allgemein auf Fürsorge, Obhut und Verpflegung gerichtet, vgl. Buck, H.: Art. „Pflegschaft“, LMA 6 (1993), Sp. 2047f.; sowie Wackernagel, W.D.: Art. „Adoption“. In: HRG 1 (1971), Sp. 56f. In der Praxis sind die Grenzen zwischen adoptio und Pflegkindschaft oder Ziehvaterschaft jedoch fließend: „Es war keine Frage der Rechtslogik, sondern eine Frage des diplomatischen Kalküls wie man das Verhältnis beschrieb.“ ( Jussen, Bernhard, 1991, S. 101 u. 243ff.). Goody zufolge enthält die Pflegkindschaft, die innerhalb der Verwandtschaft häufig wechselseitig praktiziert wird, eine Dienstleistungskomponente, da es darum geht, Kinder im Haushalt mitzuversorgen, sie auszubilden und ihre Dienste in Anspruch zu nehmen. Häufig wird die Versorgung des Kindes durch eine Pflegschaftszahlung geregelt. Im Gegensatz zur Adoption, die durch die christliche Kirche in Europa seit dem 5. bis ins 18. Jahrhundert unterdrückt worden ist, bleibt die Pflegkindschaft als Bestandteil der Verwandtschaft bestehen. Zudem verschiebt sich Goody zufolge der Begriff der Adoption auf eine spirituelle Ebene und wird in gewissem Umfang durch die Patenelternschaft ersetzt, vgl. Goody, Jack (1986), S. 81ff. u. 208. 104 Obwohl die Patenschaft oft adoptio genannt wurde, ging es hierbei nicht um die Übertragung eines Verwandtschaftsstatus (obwohl mit familialem Vokabular belegt), sondern um rituelle Etablierung und Stabilisierung einer „Qualität des Verhaltens, um eine Form der mittelalterlichen amicitia. Patenschaft war Verwandtschaft im Sinne der Übertragung mancher, nie genau bestimmter, verwandtschaftlicher Verhaltenspflichten und -rechte auf die Beteiligten.“ ( Jussen, B.: Art. „Patenschaft“, LMA 6, 1993, Sp. 1780) 105 Vgl. Kellner, Beate (2004). S. 28f.

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Exkurs: Verwandte, Freunde und Getreue Aus den o.g. Ausführungen wurde ersichtlich, dass nach mittelalterlichem Verständnis jegliche Art von gesellschaftlicher Bindung am Modell von Familie und Verwandtschaft orientiert ist.106 Für den mittelalterlichen Menschen zählen die verwandtschaftlichen, die freundschaftlich-genossenschaftlichen und die herrschaftlichen Bindungen zu den relevantesten Beziehungen. Diese sind für das persönliche, gesellschaftliche und politische Leben (das viel stärker als in der Neuzeit als zusammengehörig bzw. vernetzt gedacht werden muss) konstitutiv und tragen, da sie sich teilweise überlagern können, sowohl stabilisierendes als auch konfliktuöses Potential in sich.107 Genossenschaftliche Bindungen108 sowie freundschaftliche Bindungen sind einander sehr ähnlich; in mittelalterlichen Quellen werden beide, ebenso wie verwandtschaftliche Bindungen, in bestimmten Zusammenhängen mit dem Wort amicitia charakterisiert. Freundschaft bzw. vriuntschaft109 gilt daher nicht als Ausdruck eines subjektiven Gefühls, sondern „hatte Vertragscharakter und verpflichtete zu gegenseitiger Hilfe und Unterstützung in allen Lebenslagen. Sie war auf Dauer angelegt und wurde sogar vererbt.“110 Freundschaftsbünde werden (ähnlich wie genossenschaftliche Vereinigungen) durch rituelle Handlungen, Eide, Formeln etc. bekräftigt, man verpflichtet sich zu Gleichheit und Gleichberechtigung der Vertragspartner. Im Unterschied zur genossenschaftlichen Verbindung ist die Freundschaft häufig (aber nicht immer) als Zweierbündnis angelegt und besitzt keinen institutionellen Charakter; sie kann sowohl zwischenstaatliche (politische) als auch persönliche Beziehungsformen regeln.111 Eine Hierarchie zwischen verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Bindungen lässt sich nicht ausmachen, vielfach werden verwandtschaftliche durch freundschaftliche Verbindungen zur Stabilisierung und Friedenssicherung ergänzt und umgekehrt freundschaftliche Bindungen durch Verwandtschaft, z.B. durch ein Ehebündnis, gefestigt. Häufig werden auch herrschaftliche Verhältnisse dadurch zu stabilisieren versucht, dass man ihnen freundschaftliche oder verwandtschaftliche hinzufügt. Grundlage der Herrschaftsbindung (zwischen Freien) ist die wechselseitige Treue von Lehensherr und Lehensmann, die in erster Linie eine Zweierbeziehung darstellt. Die Summe vieler 106 „Bindung orientierte sich im Mittelalter in aller Regel am Modell der Verwandtschaft.“ (Althoff, Gerd, 1990, S. 212) 107 Vgl. Althoff, Gerd 1997 [1997 b], S. 185f.; sowie ders. (1990). S. 1-5 u. 31-84. 108 Genossenschaft wird definiert als „Personenverband zur Erfüllung der von seinen Mitgliedern angestrebten religiösen, kulturellen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, rechtlichen und politischen Zwecken.“ (Stradal, H.: Art. „Genossenschaft“, HRG 1, 1971, Sp. 1522-1527) 109 vriuntschaft bedeutet sowohl „Freundschaft“ als auch „Verwandtschaft [...] affinitas, consanguinitas“ (Lexer: Art. „vriuntschaft“, Bd. 3, Sp. 527). 110 Althoff, Gerd (1990), S. 86f. 111 Vgl. ebd. S. 87f.

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solcher Zweierbeziehungen sind herrschaftlich strukturierte Verbände. Ihr Gruppencharakter ist allerdings ein anderer als der der Verwandtschaft oder Freundschaft/Genossenschaft: „Die ausgeprägte Verpflichtung zur Hilfe und Unterstützung in allen Lebensbereichen ist bei ihnen nicht vorhanden.“112 Insgesamt kann man auch hier nicht von einer eindeutig anerkannten hierarchischen Ordnung der verschiedenen Bindungen sprechen: „Die Entscheidung, ob im Konfliktfall dem Verwandten, dem Freund oder dem Herrn geholfen wurde, fiel auf Grund der Beurteilung des Einzelfalles.“113 2.2.4. Entwicklungstendenzen von Familie und Verwandtschaft Im Kontext der Bereiche Familie und Verwandtschaft ist darauf hinzuweisen, dass einige ehemals feste Annahmen inzwischen als überholt gelten: Zum einen betrifft dies die Vorstellung der mittelalterlichen Familie als Großfamilie, zum anderen die Theorie einer „ständigen Schrumpfung von weitesten zu immer engeren Familienformen.“114 Heute geht man grundsätzlich von der Existenz verschiedener Familienformen aus und betrachtet mittelalterliche Familienorganisation als „ein offenes und flexibles System.“115 So existiert zwar auch die in einem Haushalt zusammenwohnende Großfamilie, weitaus verbreiteter ist jedoch die (manchmal erweiterte) Kernfamilie, die sich durchschnittlich aus ca. 4-5 Personen (Eltern mit 2-3 Kindern infolge der hohen Kindersterblichkeit116) zusammensetzt.117 Pointiert formuliert bedeutet dies aber auch, „daß die Eltern-Kind-Gruppe, also die eheliche Kleinfamilie, den Vorrang gegenüber allen anderen Gruppen hatte.“118 Parallel dazu geht man von der „Tendenz zur Individualisierung in der Familie“119 aus: „[Z]wischen dem 11. und 13. Jahrhundert [vollzog sich] eine irreversible Entwicklung [...], in der sich die Kernfamilie, die Gattenfamilie, der Haushalt innerhalb eines Klans, der Sippe oder der Verwandtschaft als individuelle Einheit herausbildeten.“120 Trotz der Tendenz zur individuellen Kernfamilie behielt demgegenüber die Großfamilie ihre grundsätzliche Bedeutung als Verwandtschafts-, Rechtsund Schutzverband.121 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121

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Ebd. S. 213. Ebd. S. 215. Goetz, H.W.: Art. „Familie“, LMA 4 (1989), Sp. 270. Mitterauer, Michael (2003) [2003 a], S. 358. Mehr als jedes zweite Kind starb vor dem Erreichen des vierzehnten Lebensjahres, die Gefahr des Todes bedrohte außerdem Mutter und Kind im Kindbett, vgl. Arnold, K.: Art. „Kind“, LMA 5 (1991), Sp. 1143f. Vgl. Goetz, H.-W.: Art. „Familie“, LMA 4 (1989), Sp. 270. Fossier, Robert (1997), S. 128. Mitterauer, Michael (2003) [2003 a], S. 358. Fossier, Robert (1997), S. 125. Vgl. Goetz, H.-W.: Art. „Familie“, LMA 4 (1989), Sp. 271.

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Neueren Untersuchungen zufolge liegen die Gründe für diese Entwicklung in den verschiedenen Merkmalen des „europäischen Sonderwegs“122 von Familien- und Verwandtschaftsstrukturen. Peter Laslett nennt einige Charakteristika, die für das europäische Mittelalter gelten: 1. Das Gattenpaar bildet das Kernstück der Familie, der Typus einer Zweigenerationenfamilie dominiert deutlich gegenüber der Dreigenerationenfamilie. 2. Das Heiratsalter ist im europäischen Vergleich sehr hoch, um heiraten zu können, muss der Mann einen Hof selbstständig führen, umgekehrt ist die Heirat die Voraussetzung dafür, einen Hof übernehmen zu können. 3. So lange man nicht heiraten kann, verdient man seinen Lebensunterhalt als Magd oder Knecht auf einem fremden Hof. Nach dem Tod des Ehepartners ist es üblich, wieder zu heiraten, besonders für Frauen. 4. Nicht mit dem Ehepaar verwandte, zum Gesinde gezählte Personen, die auf dem Hof leben, gelten als voll anerkannte Mitglieder der Hausgemeinschaft.123 Michael Mitterauer ergänzt, dass die „Western family“ damit nicht durch Abstammung konstituiert wird, sondern durch die Einbeziehung von Knechten und Mägden, Ziehkindern oder Altenteilern eine Haushaltsgemeinschaft darstellt, die weitgehend unabhängig von Verwandtschaftsbindungen ist.124 Außerdem entwickelt sich das bäuerliche Erbrecht bezüglich der Hoffolge – bei dem der Hof nicht nur an männliche Erben, sondern auch an weibliche Erben übergeben werden kann125 – zum gesamtgesellschaftlich prägenden Typus der Besitzfolge: „Eine Sonderstellung kam diesbezüglich nur den Fürsten- und Adelshäusern zu.“126 Mittelpunkt dieses „domozentrischen“ Familiensystems ist das Ehepaar, das im Rahmen des Hofes bzw. Haushaltes das gemeinsame Leben organisiert.127 Die dabei zu konstatierende geringe Rolle der Abstammungsprinzipien lässt sich nach Mitterauer besonders an den Veränderungen der Verwandtschaftsbezeichnungen in folgenden Fällen ablesen: Erstens lässt sich eine Tendenz zur Parallelisierung der Bezeichnungen für mütterliche und väterliche Verwandte ausmachen; in fast allen europäischen Sprachen ist es im Laufe ihrer Entwicklung zu einer Neutralisierung der vorher unterschiedlich bezeichneten Verwandtschaftsbeziehungen gekommen. Im Deutschen erfolgte dieser (Sprach-)Wandel der begrifflichen Oppo122 123 124 125

Mitterauer, Michael (2003) [2003 b], S. 11. Vgl. Laslett, Peter (1977), S. 13. Vgl. Mitterauer, Michael (2003) [2003 b], S. 78. „Nicht Verwandtschafts- sondern Leistungskriterien standen für sie [die Hufenbauern; G.L.] im Vordergrund. Der tüchtigste Nachfolger konnte genauso der älteste wie der jüngste oder ein anderer Sohn sein, ebenso ein Schwiegersohn oder ein bisher nicht zur Familie Gehöriger, mit dem die Witwe in zweiter Ehe verheiratet wurde.“ (Ebd. S. 78) 126 Ebd. S. 78. Für die Lehensfolge spielten adelige Töchter dagegen in der Regel keine Rolle, der Besitz wurde zumeist über das Primogeniturrecht an den ältesten Sohn vererbt; vgl. auch Mitterauer, Michael (2003) [2003 a], S. 198. 127 Vgl. Mitterauer, Michael (2003) [2003 b], S. 79.

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sitionen im Wesentlichen in der Frühen Neuzeit.128 Zweitens lässt sich auch eine Parallelisierung der Verwandtschaftsterminologie von Blutsverwandten (consanguinitas) und Heiratsverwandten (affinitas) feststellen, die einen Bedeutungsverlust von patrilinearen Abstammungsverbänden und damit einen tendenziellen Rückgang des Abstammungs- und Geblütsdenkens signalisiert: „An Ahnherren orientierte Verwandtschaftskonzepte treten zugunsten egofokussierter zurück [...]. Verwandtschaftsbeziehungen werden vielfältiger, stärker funktional differenziert, damit aber auch weniger verpflichtend.“129 Der dritte Bereich im Transformationsprozess der europäischen Verwandtschaftsterminologie ist die Parallelisierung von Blutsverwandten und ‚geistlichen Verwandten‘. „Die Verwendung von Begriffen der Verwandtschaftsterminologie ist ein guter Indikator für solche Vorstellungen bzw. die ihnen entsprechenden Verhaltensweisen.“130 Insgesamt sind für Mitterauer Gattenzentriertheit, Domozentriertheit, bilaterale Verwandtschaft, Ausbau horizontaler Verbindungen, Offenheit und Flexibilität die wichtigsten Merkmale in der Entwicklung der mittelalterlichen Familie.131 Diese Position widerlegt u.a. die von Karl Schmid und Georges Duby favorisierte These, derzufolge seit dem 10./11. Jahrhundert ein Wandel von der horizontal erlebten kognatischen Sippe hin zum vertikal organisierten agnatischen Geschlecht (Lignage) stattgefunden habe.132 Der entscheidende Faktor für die Veränderungen im Familien- und Verwandtschaftssystem ist der Einfluss des Christentums in dreifacher Hinsicht: 1. Dieser spezifisch christliche Einfluss macht sich besonders im Kirchenrecht bemerkbar: Nach kanonischem Recht sind Verwandte der väterlichen und mütterlichen Linie, Bluts- und Heiratsverwandte, fleischliche und geistliche Verwandte prinzipiell gleichgestellt und unterliegen gleichermaßen den komplizierten Heirats- und Inzestverboten. 2. Parallel dazu existieren auch Auswirkungen antiker Traditionen, die nicht genuin christlich sind, aber durch das Christentum in die Gesellschaft des Mittelalters gelangen: Beispielsweise ist von verschiedenen orientalischen Religionsgemeinschaften bekannt, dass ‚Fremde‘ durch Einweihungszeremonien zu ‚Brüdern‘ gemacht werden, auch der Gebrauch der Bezeichnung von Amts- oder Vereins-‚Bruder‘ ist auf antike bzw. hellenistische Wurzeln zurückzuführen.133 3. Diese Veränderungen bezüglich Familie und Verwandtschaft gehen vor allem auf die spezifischen Strukturelemente des Christentums zurück, die die Zurückdrängung abstammungsorientierter Elemente zugunsten gemeindlich-genossenschaftlicher Strukturen erklärt: 128 Vgl. Ruipérez, Germán (1984), S. 136f; sowie Mitterauer, Michael (2003) [2003 b], S. 80f; vgl. außerdem den Exkurs: Verwandtschaftsbezeichnungen, Kap. 2.2.1., der vorliegenden Arbeit. 129 Mitterauer, Michael (2003) [2003 a], S. 356. 130 Ebd. S. 196, 357. 131 Vgl. ebd. S. 355ff. 132 Vgl. Anm. 45f. in Kap. 2.2. 133 Vgl. Mitterauer, Michael (2003) [2003 b], S. 83ff.

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„Die religiöse Bedeutungslosigkeit von Abstammung, die für die Entwicklung des europäischen Familien- und Verwandtschaftssystems so wichtig werden sollte, ist nirgendwo als Glaubensgrundsatz festgelegt. Aber sie gehört implizit zu den Grundstrukturen christlicher Gemeinschaftsordnung. Das Christentum ist eine Bekehrungsreligion. Die Taufe als die ‚Geburt dem Geiste nach‘ hat gegenüber der ‚Geburt dem Fleische nach‘ Vorrang. Das Christentum kennt kein Erbcharisma. Sukzession durch Weihe steht im Vordergrund, nicht Sukzession nach der Abstammungslinie. Das Christentum ist eine Gemeindereligion. Mit seiner Verbreitung setzen sich gemeindlich-genossenschaftliche Sozialformen durch, die organisierten Abstammungsverbänden entgegenwirken.“134

Anschaulich wird dies auch anhand der Herkunft Jesu Christi, die durch eine Dualität von irdischer Familie (Maria, Joseph, Jesus) und spiritueller Familie ( Jesus als Sohn Gottes) geprägt ist: „Das Motiv der Heiligen Familie überblendet beide Ebenen: Die jüdische Herkunftsfamilie, die allerdings um den Rest der Sippe verkürzt wird; und die christliche Zielfamilie, ein Dreieck aus göttlichem Vater, jungfräulicher Mutter und dem als Messias unter die Menschen gesandten Sohn.“135 Vor allem in seinen Glaubensgrundsätzen erscheint Jesus Christus als ‚radikaler Zerstörer‘ familiärer Bande. Entgegen der traditionellen (jüdischen) Familien- und Verwandtschaftsordnung predigt er die spirituelle Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern in Gott: „[ Jesus sprach:] ‚Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder?‘ Und reckte die Hand aus über seine Jünger und sprach: ‚Siehe, das ist meine Mutter und meine Brüder! Denn wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.‘“136

Gegen das genealogische Prinzip von Ehe und Familie setzt er das Ideal des Zölibates und der Besitzlosigkeit: „Er wendet der Sphäre der biologischen Reproduktion den Rücken [zu] und ersetzt sie durch Gottesbindung und Jüngerschaft.“137 Trotz der spirituell-zölibatären Struktur des Christentums sorgt gerade die christliche Kirche durch die Einführung der Konsens-Ehe und durch die 134 Mitterauer, Michael (2003) [2003 a], S. 359. 135 Koschorke, Albrecht (2000), S. 25. Wie Koschorke gezeigt hat, kommt man zu verblüffenden Familienkonstellationen, wenn man die Trinität Gottes ausschöpft, vgl. Koschorke S. 22ff. Beate Kellner (2004), S. 47, Anm. 112, kommentiert: „Die Analysen Koschorkes sind in struktureller Hinsicht immer wieder erhellend, doch weisen sie historisch – nachgerade in denjenigen Partien seines Beitrags, die dem Mittelalter gewidmet sind – viele Defizite und Ungenauigkeiten auf.“ 136 At ipse respondens dicenti sibi ait quae est mater mea et qui sunt fratres mei / et extendens manum in discipulos suos dixit ecce mater mea et fratres mei / quicumque enim fecerit voluntatem Patris mei qui in caelis est ipse meus et frater et soror et mater est. (Mt 12,48-50; Vulgata). Vgl. auch: „‘Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist mein nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist mein nicht wert.‘“ Qui amat patrem aut matrem plus quam me non est me dignus et qui amat filium aut filiam super me non est me dignus. (Mt 10,37; Vulgata) 137 Koschorke, Albrecht (2000), S. 29.

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im 12. Jahrhundert erfolgte Erhebung der Ehe zum Sakrament für die Intensivierung der Paarbeziehung: „Dieser Konsensgedanke ist ein wesentliches Grundprinzip der ‚gattenzentrierten Familie‘, in der nicht Abstammungsbindungen sondern die Paarbeziehung im Mittelpunkt steht. Auf dem christlichen Konsensprinzip beruht – in langfristiger Entwicklung gesehen – das Ideal der Liebesehe.“138

Darüber hinaus belegen beispielsweise auch mittelalterliche Ehepredigtenund -Traktate, dass Freundschaft zwischen den beiden Ehepartnern, emotionale Gegenseitigkeit sowie erfüllte Sexualität als Voraussetzungen einer glücklichen Ehe betrachtet werden. Die bis heute für das Mittelalter immer wieder behauptete Unterscheidung von Liebesehe und Zweckheirat, sowie die von Niklas Luhmann postulierte These, nach der das Ideal der Liebesheirat erst für das 18. Jahrhundert anzusetzen sei139, erscheint daher revidierungswürdig.140 Parallel zur Aufwertung der Paarbeziehung und einer damit implizierten sukzessiven Individualisierung und Emotionalisierung lassen sich damit verbunden auch Veränderungen hinsichtlich des Eltern-Kind-Verhältnisses141 festmachen: Auch im Bereich der historischen Kindheits- und Jugendforschung hat man sich seit einiger Zeit von alten Forschungsparadigmen gelöst – so z.B. von Philippe Ariès‘ These, wonach Kindheit als eigene Lebensphase erst im 18. Jahrhundert wahrgenommen worden sei.142 Neueren Forschungen zufolge gab es in der mittelalterlichen Gesellschaft sehr wohl ein Bewusstsein für die Phasen der kindlichen Entwicklung oder die speziellen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen: Dies belegen die unterschiedlichen Text- und Bildzeugnisse wie die didaktische Literatur, die Fülle von literarischen Jugendgeschichten (wie z.B. bei Parzival, Tristan oder Biterolf und Dietleib), Traktate zu Kindererziehung und Kinderheilkunde, archäologische Funde wie z.B. Hausrat, Spielzeug oder Kleidung von Kindern, aber auch die dokumentierte Trauer der Eltern über den Tod eines Kindes zeigen, dass „das Kind dem Mittelalter stets als ein Wesen sui generis und nicht als ein ‚kleiner Erwachsener‘ bewußt war.“143 Zwar liegt der Sinn der Ehe aus weltlicher Sicht in der Zeugung von Nachkommen und in der Sicherung des Familienbesitzes144, zugleich gelten Kinder darüber hinaus auch als wichtiger Bestandteil für eheliches bzw. familiäres Glück: Vergleicht man die Quellen des 12. und 13. Jahrhunderts, so finden sich viele Hinweise, die einen liebevollen Umgang 138 139 140 141 142

Mitterauer, Michael (2003) [2003 b], S. 106. Vgl. Luhmann, Niklas (1982). Vgl. Schnell, Rüdiger (2002), S. 21, 201, 471f. Vgl. Kap. 2.2.2. „Die mittelalterliche Gesellschaft hatte kein Verständnis zur Kindheit. Sie besaß keine bewußte Wahrnehmung der kindlichen Besonderheit.“ (Ariès, Philippe, 1975 [1960], S. 209) 143 Arnold, K.: Art. „Kind“. In: LMA 5 (1991), Sp. 1143. 144 Vgl. Suttner, E.Ch.: Art. „Ehe“, LMA 3 (1986), Sp. 1635.

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zwischen Eltern und Kindern dokumentieren – wie die Vorfreude auf die Geburt des Kindes oder Berichte über das Entzücken der Eltern, wenn ihre Kinder ihnen entgegenlaufen usw. Liebe und Zuneigung zu den Kindern sowie der Austausch von Zärtlichkeiten sind demnach kein Phänomen der Neuzeit, sondern bereits im Mittelalter belegt.145 Auch in der deutschsprachigen Literatur lässt sich seit dem 13. Jahrhundert ein zunehmendes Interesse an der Paarbeziehung (z.B. im Erec, Tristan, Nibelungenlied) sowie der Eltern-Kind-Beziehung (z.B. Helmbrecht) und damit eine Tendenz zur Individualisierung und Emotionalisierung feststellen. Eine nicht unerhebliche Rolle in der Darstellung diverser literarischer Familienbilder kommt dem biblischen Vorbild der Heiligen Familie zu – dem kulturellen und religiösen Symbol der christlichen Familie.146 In diesem Zusammenhang ist auch auf die Intensivierung der Marienverehrung seit der „‘Karolingischen Renaissance‘ mit der menschlich-mütterlichen Sicht und der beginnenden Glorifizierung der Jungfrau-Mutter“147 hinzuweisen. Der Anstieg des marianischen Gedankens ergreift alle religiös-kulturellen Bereiche und Ausdrucksformen, einschließlich Literatur148 und darstellender Kunst. Dem zu Grunde liegt eine Veränderung der theologischen Bedingungen, welche seit der Übergangsperiode der Karolingerzeit festzumachen ist, in der sich die heilsgeschichtlich-typologische Erfassung Marias „zur individuellgestalthaften Anschauung der Person“ wandelt: Das Subjektive, Gemüthafte tritt in den Vordergrund der Betrachtung, immer stärker wird das Interesse an der Menschlichkeit, am irdischen Leben Mariens.149 Gerade in der bildenden Kunst150 des 13. Jahrhunderts wird auch der menschliche Bezug zwischen Ma145 Vgl. Schnell, Rüdiger (2002), S. 206ff. Demgegenüber ist aber auch auf eine Besonderheit des Christentums aufmerksam zu machen, wonach Nachkommenschaft in gewisser Weise als Nebensächlichkeit im Vergleich zum Ideal der christlichen Askese betrachtet wird. Im Unterschied zu Ahnenkultgesellschaften haben Söhne in der christlichen Religion keine besondere kultische Funktion, es lässt sich zumindest kein religiös begründeter Vorrang von Jungen gegenüber Mädchen feststellen, vgl. Mitterauer, Michael (2003) [2003 b], S. 106. 146 Vgl. Bennewitz, Ingrid (2000) [2000 a], S. 14. 147 Scheffczyk, L.: Art. „Maria“: „Mariologie im lateinischen Mittelalter“, LMA 6 (1993), 245ff. Die Marienverehrung weitet sich kontinuierlich aus: „die Frühscholastik des 12. Jahrhunderts [...] mit der Einbeziehung Marias in das mittelalterliche Weltbild und ihrer Erhebung zur Königin der Erden- und des Himmelsstaates; die Hochscholastik mit dem Zug zur kritischen Durchdringung und Weiterführung der Mariendogmen; die Spätscholastik mit der panegyrischen Steigerung des Marienlobs, aber auch mit der aufkommenden marianischen Mystik.“ (Ebd. Sp. 245f.) 148 Grundlage für die deutsche Mariendichtung seit dem 12. Jahrhundert bilden die liturgischen und außerliturgischen lateinischen Texte, die als Hauptquellen der deutschsprachigen Marienepik und -Lyrik gelten; auch im Minnesang und Sangspruch findet die Mariendichtung in unterschiedlicher Ausprägung Eingang; vgl. K. Gärtner: Art. „Maria“: „Mariendichtung in der deutschen Literatur“, LMA 6 (1993), Sp. 269-271. 149 Vgl. Scheffczyk, L.: Art. „Maria“: „Mariologie im lateinischen Mittelalter“, LMA 6 (1993), Sp. 245ff. 150 Daniela Hammer-Tugendhat zufolge geht die zeitgenössische Literatur der bildenden Kunst im

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ria und dem Jesuskind im Typus der Mutter mit Kind in Skulptur und (Wand) Malerei immer deutlicher herausgearbeitet.151 Um 1400 entwickelt sich aus dem Andachtsbild der Mystik das „Marien-Idyll, in dem Frömmigkeitshaltung, lyrische und höfische Stilisierung sich verbinden.“152 Exkurs: Lebensalter Im Mittelalter gibt es verschiedene Möglichkeiten, die jeweiligen Lebensphasen voneinander abzugrenzen. Geläufig ist entweder die Dreiteilung: Jugend – Mitte des Lebens – Alter, die bereits bei Aristoteles überliefert ist153; oder man gliedert das Leben in vier Stufen, wie beispielsweise bei Philip von Novara: Kindheit (enfance) – Jugend (jovant) – Mitte des Lebens (moien age) – Alter (viellece).154 Isidor von Sevilla hingegen unterteilt das Leben in sechs Stufen: infantia (bis zu sieben Jahren) – pueritia (bis zu vierzehn Jahren) – adolescentia (vom 15. bis zum 28. Jahr) – iuventus (vom 28. bis zum 49. Jahr) – senectus (vom 50. bis zum 77. Jahr) – senium (bis zum Tod).155 Den verschiedenen Einteilungen ist jedoch gemeinsam, dass Lebensphasen wie z.B. Kindheit und Jugend als spezifische Entwicklungsstadien betrachtet werden.156 Die infantia währt im Mittelalter von der Geburt des Kindes bis zu seinem siebten Lebensjahr. An die infantia schließt sich die pueritia an, die bei Jungen vom siebten bis vierzehnten Lebensjahr, bei Mädchen vom siebten bis zum zwölften Lebensjahr reicht. Die adolescentia, die Jugendzeit, setzt (etwa) mit zwölf bzw. vierzehn Jahren ein und endet mit dem Eintritt in das Erwachsensein, wobei die Altersgrenze hier variieren kann. Volljährigkeit und Ehemündigkeit erlangt der Jugendliche zwischen dem vierzehnten und acht-

Mittelalter etwa ein Jahrhundert voraus, vgl. Hammer-Tugendhat, Daniela (1988), S. 162. 151 Ein Höhepunkt ist z.B. mit der Madonna am nördlichen Querhausportal von Notre Dame um 1260 erreicht, der Prozess vollzieht sich in gleicher Weise auch im deutschen Raum: „Das innige Verhältnis Marias zu dem Kind bestimmt den Ausdruck.“ (Braunfels, W.: Art. „Das Marienbild in der Kunst des Westens bis zum Konzil von Trient“, LCI 3, 1971, Sp. 184) 152 Ebd. Sp. 186. „Neben Maria lactans tritt die Mutter, die mit dem Kind spielt, ihm Blumen reicht, es lesen, schreiben oder musizieren lehrt, seltener und meist erst spät ihm seinen Brei löffelt.“ (Ebd. Sp. 186). Um 1400 erwächst auch die Darstellung Marias im Paradiesgärtlein oder im Rosenhag: „Das völlige Fürsichsein von Mutter und Kind vor Rosen, durch die Erscheinung Gott Vaters und der Geisttaube zur Trinität erhöht, ist in sich paradiesisch [...]. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts erlosch nicht zufällig das Motiv der von Raum und Zeit abgrenzenden Rosenlaube.“ (Schumacher-Wolfgarten, R.: Art. „Rose“, LCI 3, 1971, Sp. 568) 153 Vgl. Arnold, Klaus (1980), S. 18. 154 Vgl. Philippe de Navarre: Les quattres ages de l‘homme. In: Arnold, Klaus (1980), S. 118ff. 155 Die Altersklassen können ab dem Stadium der iuventus variieren; so gibt es alternative Einteilungen für diese Zeit von 21 oder 28 bis 35 Jahren, danach folgt die virilitas von 35 bis 55 bzw. 60 Jahren, die mit der senectus beschlossen wird, vgl. Hermsen, Edmund (1998), S. 124. 156 Vgl. ebd. S. 136.

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zehnten Lebensjahr (manchmal sogar noch weitaus später).157 Die Kriterien für die Volljährigkeit hängen von vielen Faktoren wie Geschlecht, regionaler Herkunft, gesellschaftlichem Stand, Vermögen etc. ab: So gilt beispielsweise ein junger adeliger unverheirateter Mann ohne eigenen Landbesitz als iuvenes158. Erst der verheiratete oder mit einem eigenen Lehen ausgestattete Mann wird als vir (Mann) bezeichnet.159 Im bäuerlichen Milieu werden Kinder bereits mit sieben Jahren zur Mitarbeit herangezogen, auch Waisenkinder treten in diesem Alter z.B. in den Gesindedienst ein. Im Normalfall beginnt für die Jugendlichen das Arbeitsleben bzw. die Ausbildungs- oder Lehrzeit zwischen dem zwölften und vierzehnten Lebensjahr.160 Das Heiratsalter nach dem ‚European marriage pattern‘ ist für beide Geschlechter relativ hoch (über fünfzehn Jahre), da die Heirat die Verselbstständigung der Partner voraussetzt. Der Selbstständigkeit geht eine Lehrzeit auf einem fremden Bauernhof, in einem Handwerksbetrieb oder im Dienst am Fürstenhof voraus. Die Gesindewanderung ist wiederum verbunden mit einer hohen Mobilität und führt in aller Regel nicht ins Elternhaus zurück, wodurch die Abstammungsbeziehungen insgesamt gelockert werden: „Das Prinzip der Ablöse von den Eltern gewinnt in der Geschichte der Jugend in Europa nicht nur für jene Jugendlichen an Bedeutung, die als ‚life-cycle-servants‘ die Herkunftsfamilie verlassen. Es wird zu einer allgemeinen Zielvorstellung, insbesondere für männliche Jugendliche. Die lange Dauer der Jugend im Verbreitungsgebiet des ‚European marriage pattern‘ sowie die Zunahme außerfamilialer Kontakte in dieser Zeit erscheinen als eine Voraussetzung dafür, dass Jugend in Europa zu einer entscheidenden Phase der Individualisierung wird.“161

Adelssöhne dagegen verlassen kaum vor dem siebten Lebensjahr das Elternhaus, dann allerdings werden sie in der Regel zur Ausbildung an einen fremden Adelshof oder in ein Kloster gegeben. Mit etwa fünfzehn Jahren, bzw. wenn der Knappe den vollen Umgang mit den Waffen erlernt hat, gilt seine Ausbildung als abgeschlossen, er leistet von nun an seinem Herrn im Krieg konkrete Dienste. Die Ausbildung dazu wird zumeist auf einen Lehrer oder Erzieher übertragen, erlernt wird u.a. Reiten, Waffenumgang und allgemeines Trainieren der Körperkraft. Hinzu kommt im Laufe des Mittelalters die Verfeinerung der höfischen Umgangsformen, Kenntnisse des Lesens und Schrei157 Vgl. Arnold, K.: Art. „Kind“, LMA 5 (1991), Sp. 1143. 158 „Der Ausdruck juventus bezeichnete von daher sowohl eine bestimmte Altersgruppe als auch einen bestimmten sozioökonomischen Status und den Familienstand; zur juventus gehörten die mehr oder wenigen jungen Junggesellen ohne eigenen Landbesitz, die auf der Suche nach einem Feudalherren waren, der ihre Dienste in Anspruch zu nehmen bereit war, und ihr Leben mit Turnieren, Abenteuern, Trinkgelagen und Festen verbrachten.“ (Shahar, Shulamith, 1991, S. 37). Vgl. dazu auch Hermsen, Edmund (1998), S. 124. 159 Vgl. ebd. S. 37. 160 Vgl. Mitterauer, Michael (2003) [2003 a], S. 334ff. 161 Mitterauer, Michael (2003) [2003 b], S. 105.

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bens sowie das Erlernen der lateinischen Sprache.162 Die konkrete Erhebung zum Ritter erfolgt zwischen dem 14. und 18. (manchmal sogar bis zum 30.)163 Lebensjahr durch die Schwertleite oder seit dem 13. Jahrhundert auch durch den Ritterschlag zum Zeichen wehrhafter Volljährigkeit.164 Adelige Töchter werden seltener an einen auswärtigen Fürsten- oder Adelshof zur Erziehung gegeben. Ihre Ausbildung richtet sich auf ihre zukünftigen Aufgaben als Ehefrau und Mutter, sie erlernen Lesen, Schreiben und Rechnen, Musizieren etc. Erst ab dem 13. Jahrhundert wird die Kluft zwischen Mädchen- und Jungenbildung größer: Männliche Jugendliche können die Lateinschule besuchen, werden von Privatlehrern unterrichtet oder gehen später auf die Universität, die Mädchen nehmen dagegen nur am Elementarunterricht teil und erhalten nur selten eine umfassende Ausbildung.165 Im Gegensatz zur übrigen Bevölkerung werden adelige Mädchen in aller Regel sehr früh – mit zwölf oder dreizehn Jahren – verheiratet. Damit fallen bei ihnen adolescentia und Verheiratung zusammen bzw. wird einer speziellen Jugendphase nur ein geringer Entfaltungsraum gewährt. Bei der Verheiratung werden junge Frauen trotz der von der Kirche geforderten Konsens-Ehe im Hoch- und Spätmittelalter im Allgemeinen nicht gefragt, wenn es um die Verheiratung geht.166 Heirat dient in erster Linie der politischen Allianz zweier Herrschaftshäuser und der Zeugung von möglichst vielen Nachkommen.167 Lediglich Klöster und Stifte bieten adeligen Frauen, besonders Witwen, die 162 Vgl. auch Mitterauer, Michael (2003) [2003 a], S. 348f. 163 Zu den variierenden Altersangaben vgl. Hermsen, Edmund (1998), S. 129. 164 Schwertleite bedeutet die Wehrhaftmachung bzw. Ritterpromotion, bei der ein junger Mann mit dem Schwert ausgestattet wird: „Durch bestimmte Rituale (Bad, Gebet, Fasten) am Vorabend der Schwertleite konnte der Akt der Rittererhebung feierlich gestaltet werden. Gern ließ man die Schwertleite durch einen mächtigen Fürsten vollziehen, wobei kirchliche Amtsträger anwesend waren; diese erteilten einen Schwertsegen und wiesen den neuen Ritter auf seine Aufgabe hin, insbesondere auf den Schutz der Kirche und der schutzbedürftigen Personen.“ (Rösener, W.: Art. „Schwertleite“, LMA 7, 1997, Sp. 1646f.) 165 Vgl. Shahar, Shulamith (1991), S. 251ff.; sowie Hermsen, Edmund (1998), S. 126. 166 Zur rechtlichen Situation adeliger Frauen: Seit dem 10. Jahrhundert setzt sich im Deutschen Reich die Krönung der Königin durch, zu Beginn des 12. Jahrhunderts bricht die Tradition der consors regni jedoch ab. Während der Stauferzeit wird die politische Stellung der Königin immer bedeutungsloser, Regentschaften finden nicht mehr statt, eine selbstständigere Stellung ist ihr nur bzgl. ihres eigenen Hausbesitzes oder ihres Wittums möglich. Adelige Frauen können, obwohl sie unter der Munt des Mannes oder der Familie stehen, im allgemeinen über ihren Eigenbesitz selbstständig verfügen, vgl. Rösener, W.: Art. „Frau“: „Die Frau in der adeligen Gesellschaft“, LMA 4 (1989), Sp. 863; Mitterauer zufolge erlangen Königinnen und Fürstinnen durch das Konzept der gattenzentrierte Familie im Hoch- und Spätmittelalter (z.B. in der Hofhaltung, wenn der König vorzeitig stirbt und einen unmündigen Thronerben hinterlässt) jedoch vielfach eine starke Position, vgl. Mitterauer, Michael (2003) [2003 a], S. 273ff.; nach Kanonischem Recht sind Frauen allgemein vom Heiligungs-(Liturgie), Lehr- und Leitungsdienst sowie von der Jurisdiktionsgewalt ausgeschlossen (Ausnahme nur bei bestimmten Äbtissinnen), auch werden sie als Klägerinnen oder Zeuginnen nur in Ausnahmen vor Gericht zugelassen, vgl. Puza, R.: Art. „Frau“: „Kanonisches Recht“, LMA 4 (1989), Sp. 856. 167 Vgl. Opitz, Claudia (1988), S. 116-149; sowie Klapisch-Zuber, Christiane (2004). S. 312-359.

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Möglichkeit zur Entfaltung künstlerischer, literarischer und wissenschaftlicher Fähigkeiten.168 Wer zu hohem Alter169 gekommen ist – womit in der Regel das 60. Lebensjahr gemeint ist – wird „gewisser Pflichten ledig und kann sich freiwillig unter Vormundschaft begeben.“170 Michael Mitterauer betont, dass die europäische Familienstruktur, die als „horizontale Gesellschaft“ bezeichnet werden kann und auf Gattenzentriertheit und bilaterale Verwandtschaft gründet, auch die Position der Alten stark tangiert: In der europäischen Familientradition kann die Stellung des Hausvaters z.B. bereits zu seinen Lebzeiten an einen jüngeren Nachfolger übergeben werden, da kein Senioritätsprinzip existiert: „In Ahnenkultgesellschaften haben die den Ahnen am nächsten stehenden Alten eine besonders angesehene Stellung. Im Christentum fehlt jegliche Begründung dieser Art für einen Altersvorrang in Familie und Gesellschaft.“171 2.2.5. Genealogie als Denkform Sowohl in der wissenschaftlichen Diskussion als auch in der mittelalterlichen Verwendung verweist der Begriff ‚Genealogie‘ auf ein breites Bedeutungsspektrum: Als Familien- und Verwandtschaftsforschung gehört das Thema der Genealogie als anthropologische Kategorie unter den unterschiedlichsten Perspektiven und Schwerpunkten sowohl zur Ethnologie als auch zur Geschichts- und Literaturwissenschaft.172 Auch die mittellateinische Bezeichnung genealogia bedeutet im Mittelalter nicht nur den Geschlechterverband verstorbener und lebender Personen in der biologischen Abfolge der Generationen (Aszendenten, Deszendenten, Kollateralen), sondern auch den sozialen Kontext von Herkunft und Verwandtschaft – häufig unter Einbeziehung tabellarischer, literarischer oder bildlicher Darstellungen.173 Genealogisches Wissen im Mittelalter spiegelt zum einen ausgeprägtes Abstammungs- und Familienbewusstsein im Sinne von Kontinuität und Tradition, zum anderen einen machtpolitisch-legitimatorischen Anspruch wider. Besonders der Adel des Mittelalters verfügt über ein ausgeprägtes, weil gut dokumentiertes Familien- und Abstammungsbewusstsein. So achtet man beispielsweise auf die Wahrung des Familienbesitzes, versucht Ämter und hohe Stellungen zu vererben, strebt standesgemäße Heiraten an. Ein wichtiger In168 Vgl. Wensky, M.: Art. „Die Frau in der mittelalterlichen Gesellschaft“, LMA 4 (1989), Sp. 863. 169 Die Lebenserwartung im (Spät)Mittelalter liegt bei etwa 50 Jahren; Karl der Große gilt mit seinen 67 Jahren als besonders alt, vgl. Hermsen, Edmund (1998), S. 112, Anm. 6. 170 Brauneder, W.: Art. „Alter“, LMA 1 (1980), Sp. 471. 171 Mitterauer, Michael (2003) [2003 b], S. 106f. 172 Vgl. den Forschungsüberblick bei Kellner (2004), S. 68-92. 173 Vgl. Freise, E.: Art. „Genealogie“, LMA 4 (1989), Sp. 1216.

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dikator für die mittelalterliche Familientradition ist u.a. die Namensgebung, indem Namen von Eltern oder Großeltern in Form einer Nachbenennung an die Kinder weitergegeben werden. Dieses adelige Selbstverständnis wird vielfach in Form von Stammbäumen oder eigenen Hausüberlieferungen unter Berufung auf einen Spitzenahn dokumentiert.174 In erster Linie beschreiben Genealogien die Stellung des Einzelnen in der Gemeinschaft; besonders in traditionalen Gesellschaften ist die Identität des Individuums abhängig vom Wissen um Eltern und Vorfahren. Da das Verständnis von Familie und Verwandtschaft die Matrix vieler anderer Bindungen und Institutionen bildet, ist genealogisches Denken im Mittelalter auch Bestandteil vieler anderer Ordnungsmodelle, die wiederum von theologischen, teleologischen, rechtlichen, aber auch medizinischen Diskursen der Zeit beeinflusst und modifiziert werden. Howard Bloch betrachtet Genealogie deshalb als eine zentrale, die verschiedenen Ordnungen und Wissensbereiche des Mittelalters dominierende „mental structure“175, Kilian Heck und Bernhard Jahn verstehen „Genealogie als Denkform“ bzw. als „kulturelle[ ] Ordnungsform mit der Kompetenz, zeitliche und räumliche Relationen herstellen zu können.“176 Demnach rekurriert das Prinzip genealogischer Systembildung nicht nur auf die biologische, geistliche oder gesetzliche Verwandtschaft, sondern auch auf andere Bereiche, in denen es im weitesten Sinne um Herkunft, Ursprung, Abstammung und Abfolge geht. So erweist sich Genealogie u.a. auch als Organisationsmodell von Texten und Textgruppen bzw. als „Intertextualitätsmodell“177. Genealogische Bezüge zwischen den Texten werden vor allem durch den Zusammenhang von Figuren, Namen, Dingen, Stoffkreisen oder sprachlichen Formeln garantiert. Teilweise genügen bereits Andeutungen, um einen quasi verwandtschaftlichen intertextuellen Zusammenhang der Texte178 herzustellen: „Tradition zeigt sich als Generationenkette, die das Wissen durch seine genealogische Weitergabe stabil zu halten in der Lage ist.“179 Diese Vorstellungen von einer „Genealogie der Texte“ oder einer „Genealogie der Dinge“ in Texten basieren auf einer „Genealogie der Wörter und Sprachen“, die wiederum in einem engen Bezug zur mittelalterlichen (ursprünglich antiken) Sprachtheorie stehen.180 Entsprechend jener 174 175 176 177 178

Vgl. Goetz, H.-W.: Art. „Familie“: „Familienbewusstsein“, LMA 4 (1989), Sp. 271. Bloch, Howard (1983); sowie ders. (1986); vgl. auch Kellner, Beate (2004), S. 15. Heck, Kilian / Jahn, Bernhard (2000), S. 1. Kellner, Beate, (2004), S. 32. Beispielsweise sei hier auf die kurze Erwähnung von Ortnits Brünne im Hürnen Seyfrid (Str. 70) verwiesen: Die Brünne taucht sowohl im Ortnit/Wolfdietrich-Komplex auf, wo sie von Ortnit auf Wolfdietrich (DHB III, 111ff.; Wd D 1680ff.) übergeht, als auch im Eckenlied (Str. 21-24; 77), wo sie über den Riesen zu Dietrich, dem Nachfahren Wolfdietrichs, gelangt. In Dietrichs Flucht, in der die genealogische Vorgeschichte des Berners erzählt wird, avanciert Siegfried wiederum zum Neffen Ortnits (DF 2045) und damit zum Vorfahren Dietrichs. 179 Kellner, Beate (2004), S. 32. 180 Vgl. ebd. S. 32.

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Sprachtheorie korrelieren Genealogie und Etymologie, so dass Genealogie als Modell der Sprache erscheint und umgekehrt.181 Dies wird z.B. in der mittelalterlichen Interpretation der Schöpfungsgeschichte deutlich, in der die Zeugung und Benennung Evas in einem direkten Zusammenhang stehen: Evas Gebein wird von Adam genommen und ihr Fleisch von seinem Fleisch, daher wird auch ihr Name von seinem abgeleitet.182 Analog dazu lassen sich noch weitere Rückschlüsse ziehen: „Die genealogischen Beziehungen zwischen den Wörtern sind analog zur Verwandtschaft zwischen den einzelnen Sprachen zu denken und letztere als analog zu den Genealogien der Völker: Jene wiederum bilden das Fundament für die vielen Genealogien der Einzelgeschlechter.“183

Die bekannteste Vorlage mittelalterlicher Genealogien bilden zweifellos die Stammbäume des Alten und Neuen Testamentes – besonders jene von Christus und Maria könnte man als „Prototyp für alle übrigen, weltlichen Genealogien“184 bezeichnen, speziell für die von Adeligen und Königen, die ihre Herrschaft und Macht analog zur Herkunft Jesu Christi zu legitimieren suchen. Auch literarische Darstellungen zu Ursprung und Entwicklung von Königs- und Adelsgeschlechtern wie z.B. in Dietrichs Flucht oder in der Kudrun orientieren sich deutlich an den biblischen Genealogien.185 In den Stammbäumen von Christus und Maria finden sich außerdem zwei wichtige Merkmale – Modifikation familiärer Verbindungen und die Bedeutung der geistlichen Verwandtschaft –, die für alle folgenden weltlichen Genealogien modellbildend werden: Die verschiedenen Evangelien versuchen, die göttliche Abkunft Christi irdisch-genealogisch zu legitimieren, indem man ihn als Nachkommen König Davids und damit als adäquaten Messias vorstellt. So wird im Matthäusevangelium (Mt 1,1-17) die Genealogie Jesu von König David bis zu Abraham entwickelt, im Lukasevangelium (Lk 3,2338) führt Jesu Abstammung von König David bis hin zu Adam und schließlich zu Gott als dem Vater der ersten Menschen.186 Da Jesus aber nicht nur der Gottessohn, sondern gleichzeitig auch der Sohn bzw. Ziehsohn Marias und Josefs ist, wird eine Rückführung auf das Geschlecht König Davids problema181 Vgl. Howard Bloch (1983), S. 30-63, der auf den Zusammenhang zwischen Etymologie und Genealogie aufmerksam gemacht hat. Vgl. auch Müller, Jan-Dirk (2007), S. 46ff. Müllers Untersuchung wurde mir erst nach der Abgabe meiner Arbeit zugänglich, doch sehe ich mich von seinen Ausführungen bestätigt. 182 Vgl. z.B. Hieronymus: Interpretatio Chronicæ Eusebii Pamphili. In: PL 27, Sp. 33-676. Hier Sp. 66: Et dixit Adam: Hoc nunc os ex ossibus meis, et caro de carne mea. Hæc vocabitur Virago [...], quia de viro suo sumpta est. (Zit. nach Kellner, Beate, 1999, S. 55, Anm. 41) 183 Kellner, Beate (2004), S. 45. 184 Heck, Kilian / Jahn, Bernhard (2000), S. 2. 185 Interesse an auserzählter Genealogie ist nach Elisabeth Lienert nicht typisch für die heroische Überlieferung, sondern für den späthöfischen Roman und die von diesem beeinflusste späte Heldendichtung wie die Kudrun und Dietrichs Flucht, vgl. Lienert, Elisabeth (1999), S. 33. 186 Vgl. Kellner, Beate (2004), S. 47.

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tisch.187 Die Lösung liegt in der Modifizierung der Genealogie seiner Mutter Maria, für die man kurzerhand – da die Evangelien keinen derartigen Stammbaum referieren – einen entsprechenden Stammbaum entwarf. So behaupten bereits die apologetischen Schriftsteller der Alten Kirche um 150, dass Maria zum selben Geschlecht wie Josef gehöre und von dem Geschlecht Davids stamme. Die nun vorbildliche und vornehme Herkunft der Heiligen Familie wird „zum Modell der Königs- und Adelsgenealogien im Mittelalter. Was zum Ausweis des Gottessohnes diente, konnte als Modus der Legitimierung von irdischen Herrschern, so die Logik, nur recht und billig sein.“188 Da außerdem eine biologische Bindung an die Genealogie Christi aufgrund der heilsgeschichtlichen Finalität, die durch seine Person markiert wird – weil es keine weiteren göttlichen Zeugungen nach Jesus gibt und aufgrund des Monotheismus auch nicht geben darf –, theologisch ausgeschlossen ist, wird genealogische Kontinuität jedoch durch spirituelle Verwandtschaft und besonders durch die apostolische Amtsnachfolge gesichert.189 Der Genealogie Christi liegt damit bereits die Denkform der korporativen Identität zugrunde, die für alle folgenden Genealogien strukturbildend werden sollte.190 Damit zielen die genannten Punkte bereits auf die beiden fundamentalen und nicht unproblematischen Bereiche jeder genealogischen Ordnung – Ursprung und Kontinuität –, die im Folgenden weiter ausgeführt werden. 2.2.5.1. Ursprung Die ideale Genealogie versucht, ihre Rechtmäßigkeit primär über die gemeinsame Linie des Blutes191 der Vorfahren zu sichern, gleichzeitig aber auch ihre Vorfahren als lückenlose Amtsvorgänger zu etablieren. Genealogie suggeriert damit den Eindruck institutioneller Stabilität.192 Besonders die Frage nach dem Spitzenahn ist jedoch mit einem Problem verbunden, denn „einerseits soll er den Beginn einer genealogischen Linie markieren, andererseits aber ist er der genealogischen Systematik gemäß über seine Ahnen zwangsläufig wiederum selbst in eine Generationenkette eingebunden, die sich über den ver187 188 189 190 191

Vgl. dazu Schreiner, Klaus (1993), S. 215f. Kellner, Beate (2004), S. 49. Vgl. ebd. S. 49. Vgl. Heck, Kilian / Jahn, Bernhard (2000), S. 2. Legitimität von Herrschaft wird auch von der Qualität des Blutes determiniert: Zur Bedeutung des Blutes, von dem man annahm, dass sich dadurch auch die persönlichen Vorzüge und Fähigkeiten der Vorfahren vererben würden, vgl. Schmid, Karl (1961), S. 3-39. Im medizinischen Diskurs werden die verschiedenen Körpersäfte (Blut, Sperma, Milch, Exkremente) als Einheit betrachtet, beim Zeugungsakt wird der Samen als Schaum verstanden, der aus dem Blut entsteht, vgl. Laqueur, Thomas (1992), S. 49-58 u. S. 68ff. 192 Vgl. Gumbrecht, Hans-Ulrich (1983), S. 165; sowie Melville, Gert (1987), S. 214-221.

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meintlichen Ursprung zurückverfolgen läßt.“193 Da gleichzeitig das christliche Dogma der Abstammung aller Menschen von Adam her Gültigkeit besitzt, läuft die genealogische Selbstbeschreibung eines Geschlechtes dabei Gefahr, sich selbst ad absurdum zu führen. Eine Strategie, um dieses Problem zu bewältigen, ist, den Ursprung zu überhöhen und damit qualitativ vom Bestehenden abzusetzen. Verbreitet im Mittelalter ist beispielsweise die Verlängerung des eigenen Geschlechtes durch Ansippung an ein besonders privilegiertes älteres Geschlecht (wie das der Merowinger, Karolinger oder das der sagenhaften Trojaner) oder die Berufung auf einen Spitzenahn, der besonderes Legitimationspotential mitbringt und gegen die Logik genealogischer Sukzession einen Neubeginn inszeniert und mit besonderem mythischen Heil ausgestattet ist wie ein Halbgott, Heros, Heiliger, Gralsgesandter oder auch Dämon.194 Typisch für diese im Mittelalter gebräuchlichen und glaubwürdigen Ursprungsgeschichten ist, dass sich der Ursprung nicht rational erklären lässt oder nicht erklärt werden darf (z.B. das Sichtverbot in der Melusinensage oder das Frageverbot der Lohengrinsage) und dass demnach Lücken und Brüche als charakteristische Merkmale genealogischer Systeme zu verstehen sind: „Die mythische Form der Genealogie bedarf der linea als einer durchgängigen Kette der Geschlechterabfolgen nicht. Charakteristisch für ihre Denkstruktur ist die durch den Spitzenahn in Gang gekommene Genealogie, nicht die stringente, das heißt lückenlose Herleitung bis zu den lebenden Vertretern der Sippe. Die mythische Gegenwärtigkeit des Spitzenahns macht die lineare Herleitung überflüssig, so daß, wenn man im Nachhinein eine Linie konstruieren wollte, zwischen Spitzenahn und gegenwärtigen Vertretern eine Lücke klafft.“195

2.2.5.2. Kontinuität Ähnlich komplex wie die Legitimierung des Ursprungs einer Genealogie muss auch jeder neue Generationswechsel durch einen Nachfahren und/oder Amtsnachfolger begründet werden. Der personelle Wechsel, der meistens Veränderungen mit sich bringt, soll jedoch nach außen hin Kontinuität und Beständigkeit demonstrieren. Das Legitimierungsprinzip von Genealogien liegt in der Idee der Transpersonalität im Rahmen der Korporationslehre, die im Mittelalter genutzt wird, um institutionelle (politische, kirchliche etc.) Einrichtungen und deren Amtsnachfolger zu legitimieren. Dieses Prinzip der surrogatio, das im 13. Jahrhundert im Kontext der Aristotelesrezeption Verbreitung findet, lautet auf eine Kurzformel gebracht „Identität der Gesamtheit trotz Wechsel der Glieder.“196 Trotz Wechsel der einzelnen Glieder einer Fa193 194 195 196

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Kellner, Beate (2004), S. 107. Vgl. ebd. S. 108ff. Heck, Kilian / Jahn, Bernhard (2000), S. 5. Kellner, Beate (2004), S. 122; vgl. auch Kantorowicz, Ernst H. (21994), S. 299.

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milie, eines Geschlechtes oder einer politischen oder rechtlichen Institution bleibt durch die Idee der Transpersonalität – einer aus einzelnen Individuen zusammengesetzte Gemeinschaft wird eine eigene rechtliche ‚Wesenheit‘ zugesprochen, die trotz der Vergänglichkeit der einzelnen Mitglieder bestehen bleibt und damit zur Institution avancieren kann – die Identität des Ganzen erhalten197: „Diese Korporationslehre erlaubte es schließlich, eine ‚überzeitliche Transpersonalität des Institutionellen‘ zu postulieren. Solchermaßen ließ sich die Kontinuität kollektiver Körper sowie auch jene von juristischen Typen und Spezies legitimieren. Und dementsprechend konnte man eine Trennung in ein überzeitlich und überindividuell abstrakt verstandenes Herrscheramt und seine personalen, vergänglichen Vertreter, die Herrscher, entwickeln.“198

Die Korporation nach dem Prinzip der surrogatio lässt sich auch auf die Qualität des Blutes übertragen: „Die Idee von der Potenz des Blutes, in dem und durch das nach der mittelalterlichen Genealogie personale Eigenschaften von Vorfahren auf die Erben übertragen werden können, ist eine letztlich kulturelle Konstruktion.“199 Tatsächlich ergeben sich genealogische Linienführungen nicht nur aus einer ‚natürlich‘ zu betrachtenden Linie des Blutes, sondern diese wird oftmals erst durch geschickte Umakzentuierung, Umbenennung oder Wechsel der Verwandtschaftsverbände entworfen.200 Viele Überlieferungen mittelalterlicher Geschlechter dokumentieren, in welch hohem Grade die Vorstellungen von Familie, (Bluts-)Verwandtschaft und Herkunft modulierbar sind; je nach Beweisziel und Legitimierungsinteressen können verschiedene Verbindungen akzentuiert oder auch vernachlässigt werden. So dokumentiert beispielsweise die welfische Hausüberlieferung, dass sich nicht nur Name und Bedeutung des Spitzenahns ändern, sondern dass die Familie auch unterschiedlich weit in die Vergangenheit verlängert werden kann – bis in die sächsische Stammensgeschichte, in das antike Rom oder bis zum Trojanischen Krieg – sowie agnatische als auch kognatische Verbindungen stark gemacht werden. 201 Daraus resultierend ergibt sich für Genealogien eine duale Struktur sowohl im Nebeneinander von überindividueller Korporation bzw. Transpersonalität 197 Vgl. auch Kantorowicz, Ernst H. (21994), S. 306-316; sowie Melville, Gert (1987), S. 250. 198 Kellner, Beate (2004), S. 123. 199 Kellner, Beate (1999), S. 52; vgl. auch Melville, Gert (1987), S. 251ff, der in diesem Zusammenhang von einer „Kanalisierung des Blutes“ (S. 253) spricht. 200 Vgl. Kellner, Beate (2004), S. 123f. 201 Vgl. ebd. S. 392; auch Bernd Schneidmüller (2000), S. 26, 31, betont: „In Text- und Stammbaumergänzungen entwickelten sich die ‚Staufer‘ zu legitimen Nachkommen der ‚Welfen‘. Das historische Interesse orientierte sich also an der Kontinuität von Besitz und Herrschaft; dem wurde die Geschlechterfolge und der Zweck des Gedächtnisses angepasst. Die Selektion von Genealogie und Vergangenheit erwuchs erneut aus den Bedürfnissen und historischen Sehnsüchten der Vergangenheit. [...] Erinnerung und Legitimation hingen also am Besitz und nicht an einem abstrakten Mannesstamm.“

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und individuellem Träger als auch in der Gleichzeitigkeit von linearen und zyklischen Momenten202: Indem der einzelne Vertreter zugleich seine Vorfahren und potentielle Nachkommen verkörpert – also Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vereint – entsteht erst der überindividuelle Charakter der Genealogie. In Anlehnung an Aristoteles formuliert Beate Kellner: „Der einzelne ist im Rahmen einer Genealogie ‚Gegenwart von Gegenwärtigem‘ (praesens de praesentibus) durch den ‚Augenschein‘ (contuitus), d.h. durch seine sinnlich wahrnehmbare Präsenz, er ist ‚Gegenwart von Vergangenem‘ (memoria), da er gewissermaßen ein Bild seiner Vorfahren darstellt, und er ist ‚Gegenwart von Künftigem‘ (praesens de futuris), da in ihm auch die ‚Erwartung‘ (expectatio) der Nachkommen schon zur Gegenwart wird.“203

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Genealogie im Mittelalter als mentale Struktur und Denkform zu verstehen ist, welche nicht nur auf biologische Verwandtschaft rekurriert, sondern auch andere Objektbereiche bestimmt und vom Prinzip der surrogatio determiniert ist. Genealogien erscheinen als „kulturelle Selbstbeschreibungsmodelle“204, die u.a. die historische Varianz und Bedingtheit von Familie und Verwandtschaft spiegelt: Was sich als ‚natürliche Auslese‘ präsentiert, erweist sich ebenso häufig als kulturelle Konstruktion. Besonders in ihrer Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zielen Genealogien nicht nur auf die Kontinuität der Reihe bzw. Herrschaft, sondern erscheinen gleichermaßen als Zeugnisse zeitgenössischer Memorialüberlieferung (memoria205) und kultureller Identität: „Genealogie [...] ist Gedächtnis. Indem Genealogien die Geschichten vom Ursprung und der kontinuierlichen Entwicklung von Gemeinschaften in mündlichen Überlieferungen, Schrifttexten, Bildern und anderen Denkmälern speichern, werden sie zu Urkunden ihrer Identität, denn soziale Gruppen stabilisieren sich gerade über die Referenzen auf ihre gemeinsame Vergangenheit.“206

202 203 204 205

Vgl. auch Heck, Kilian / Jahn, Bernhard (2000), S. 5ff. Kellner (2004), S. 126. Ebd. S. 477. „Memoria, die Überwindung des Todes und des Vergessens durch ‚Gedächtnis‘ und ‚Erinnerung‘, bezeichnet fundamentale Bereiche des Denkens und Handelns von Individuen und Gruppen und verweist auf eine Fülle von Gegebenheiten in Religion und Liturgie, Weltdeutung und Wissen und auf das ‚kulturelle Gedächtnis‘ in seinen objektivierten Formen von Memorialüberlieferung in weitestem Umfang: Texte und Bilder, Denkmäler und Riten, Geschichtsschreibung und Dichtung.“ (O.G. Oexle: Art. „Memoria“. In: LMA 6. Sp. 510-513. Hier 510). Zur memoria vgl. bes. die Arbeiten des Sammelbandes: Oexle, Otto Gerhard (1995); sowie ders. (1994), S. 297-323. Zum kulturellen Gedächtnis vgl. bes. die Arbeit von Assmann, Jan (1999). 206 Kellner (2004), S. 477.

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2.3. Gender Studies 2.3.1. Theoretische Grundlagen Die Gender Studies haben sich im Kontext von Frauenbewegung und feministischer Literaturwissenschaft in den 1970er Jahren entwickelt – ausgehend von den USA, übergreifend auf Europa und den deutschsprachigen Raum. Seit den 1980er Jahren wurde die feministische Literaturwissenschaft vor allem durch die Rezeption von Poststrukturalismus und Dekonstruktion bestimmt, die auch einen entscheidenden Impuls für die Gender Studies geben sollten. In den 1990er Jahren zeichnete sich ein weiterer Trend ab, es kam zu einer Akzentverlagerung des Erkenntnisinteresses von women auf gender: Die Women‘s Studies sehen ihre Arbeit vor allem im Aufzeigen und Benennen von Differenzen zwischen Frau und Mann aus feministischer Perspektive, was ihnen bald den Vorwurf eingetragen hat, die geforderte Gleichberechtigung der Geschlechter durch die Sonderstellung der Frau ad absurdum zu führen. Den Gender Studies dagegen geht es dagegen weniger „um richtige oder falsche, ‚repräsentative‘ oder ‚verzerrte‘ Weiblichkeitsentwürfe und Frauenbilder [...] als um den Zusammenhang zwischen Weiblichkeit und Repräsentation; weniger um eine Fortsetzung der Kritik an dem (mittlerweile ohnehin bekannten) Ausschluß von Frauen als um ein Verständnis der Machtmechanismen, die mit dieser Ausgrenzung verbunden sind.“207

Die Gender Studies untersuchen, wie sich das (hierarchische) Verhältnis der Geschlechter in den verschiedenen Bereichen von Kultur, Gesellschaft und Wissenschaft manifestiert hat. Grundannahme dabei ist, dass sich Funktionen, Rollen und Eigenschaften, die Männlichkeit bzw. Weiblichkeit konstituieren, nicht kausal aus biologischen Unterschieden zwischen Mann und Frau ergeben, sondern kulturell veränderbare Konstrukte sind. Dabei wird kein fester (einmalig gültiger) Begriff von gender vorausgesetzt, sondern erforscht, wie sich dieser im jeweiligen historischen und kulturellen Kontext entwickelt und verändert und welche Auswirkungen er auf politische, soziale und kulturelle Strukturen hat.208 Damit verstehen sich die Gender Studies als interdisziplinär-wissenschaftlicher Ansatz, der mithilfe der Kategorie gender – und zunehmend ähnlich hierarchisierenden Kategorien wie class und race – ein „kritisches Instrumentarium der kulturellen Reflexion und gesellschaftlichen Kritik bildet.“209 Obwohl in der Kategorie gender der Vorteil liegt, Weiblichkeit und Männlichkeit in ihrer sozio-kulturellen Determiniertheit untersuchen zu können (Genus als historisch wandelbares, gesellschaftlich-kulturelles Phänomen), 207 Hof, Renate (1995) [1995 a], S. 92. 208 Vgl. Braun, Christina von / Stephan, Inge (2000), S. 9ff. 209 Ebd. S. 11.

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zeigen die Erfahrungen innerhalb der Praxis immer noch, dass sich die Gender Studies bis in die letzten Jahre hinein mehr mit den Frauen und ihrer Perspektive auf das Geschlechterverhältnis beschäftigt haben als mit den Männern: „In den 90er Jahren sind unter dem Label Gender Studies unzählige Publikationen erschienen [...]. In der Mehrzahl der Fälle geht es aber inhaltlich ausschließlich um Frauen und deren Perspektive(n) auf das Geschlechterverhältnis. Männer kommen darin nicht vor – oder nur als Negativfolie [...]. Männer sind jedenfalls (noch) nicht integraler Bestandteil der Geschlechterforschung.“210

Auch mit dem interdisziplinären Anspruch der Gender Studies – die Kategorie gender zur Grundlage jeder geistes- und naturwissenschaftlichen Forschung zu erheben – verhält es sich in der Praxis anders: Fachlich bezieht sich die interdisziplinäre Arbeit vorwiegend auf die Kultur- und Literaturwissenschaften, historisch fast ausschließlich auf das Europa der (Frühen) Neuzeit.211 Zu den theoretischen Voraussetzungen der Gender Studies gehört das von der Anthropologin Gayle Rubin212 eingeführte „sex/gender-System“ (1975): Ihre Differenzierung zwischen sex als anatomischem Geschlecht und gender als sozialem Geschlecht ermöglichte die Aufsprengung der binären Oppositionen bzw. dem traditionellen Verständnis, welches die Unterschiede zwischen Frau und Mann als biologisch begründet und daher unveränderlich erachtet hatte. Damit war die Grundannahme für die Gender Studies gegeben, nach der Weiblichkeit und Männlichkeit erst durch sozio-kulturell determinierte Idealbilder und Rollen in einem alltäglichen Prozess (doing gender) konstruiert werden und sich nicht kausal aus biologischen Unterschieden zwischen einem männlichen und einem weiblichen Körper ergeben.213 Doch genau diese Unterscheidung von sex und gender ist in den 1990er Jahren u.a. mit Judith Butlers Publikationen: Das Unbehagen der Geschlechter (1991)214 und Körper von Gewicht (1995)215 in Frage gestellt worden. Sowohl vor dem Hintergrund als auch in radikaler Weiterführung dekonstruktivistisch-diskurstheoretischer Theorien Michel Foucaults entwickelte Butler die These, dass nicht nur gender, sondern auch sex durch diskursive Verfahren hervorgebracht, also ebenfalls ein kulturelles Konstrukt sei: Das Geschlecht (sex) sei durch seine vermeintliche Natürlichkeit in ein „vor-diskursives Feld“ gerückt worden, durch seinen angeblichen „unveränderlichen Charakter“ außerhalb der gender-Diskussion geblieben. Butler erklärt, dass erst durch diskursive Praktiken bestimmten Körpermerkmalen Bedeutungen zugewiesen und anschließend als Geschlechtsmerkmale identifiziert werden: 210 211 212 213

Walter, Willi (2000), S. 108. Vgl. Stephan, Inge (2000) [2000 a], S. 91. Rubin, Gayle (1975), S. 157-210. Vgl. Stephan, Inge (2000) [2000 a], S. 58f; sowie Feldmann, D. / Schülting, S.: Art. „Gender Studies“/„Gender-Forschung“. In: MLGG (2002), Sp. 143. 214 Butler, Judith (22003) [1991]. 215 Butler, Judith (1995) [1993].

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„Diese Produktion des Geschlechts als vordiskursive Gegebenheit muß umgekehrt als Effekt jenes kulturellen Konstruktionsapparats verstanden werden, den der Begriff ‚Geschlechtsidentität‘ (gender) bezeichnet.“216 Das bedeutet, dass gender die Vorstellung von sex produziert bzw. dass „das Geschlecht (sex) definitionsgemäß immer schon Geschlechtsidentität (gender) gewesen ist.“217 Anders ausgedrückt: Der Geschlechtskörper (sex) ist lediglich ein – wenn auch sehr realer – Effekt hegemonialer Diskurse, ist materialisierte Geschichte und damit Ausdruck von gender. Butler betrachtet das biologische Geschlecht in Anlehnung an Foucault als ‚regulierendes Ideal‘, als ideales Konstrukt, das durch einen Prozess ständiger Wiederholung und performativer Akte materialisiert wird und zugleich Ort der ‚Körperherstellung‘ ist: „In diesem Sinne fungiert das ‚biologische Geschlecht‘ demnach nicht nur als eine Norm, sondern ist Teil einer regulierenden Praxis, die die Körper herstellt, die sie beherrscht, das heißt, deren regulierende Kraft sich als eine Art produktive Macht erweist, als Macht, die von ihr kontrollierten Körper zu produzieren – sie abzugrenzen, zirkulieren zu lassen und zu differenzieren.“218

Butler versteht die Macht der hegemonialen Heterosexualität als die regulierende Praxis, die die Oppositionen von Mann/Frau, Kultur/Natur, gender/sex etc. diskursiv hervorbringt, manifestiert und gleichzeitig auch das Begehren steuert. In der subversiven Verschiebung des binären Geschlechterdualismus durch Geschlechter-Parodie als politische Praxis (Travestie, Kleidertausch, sexuelle Stilisierung etc.) läge dagegen eine Möglichkeit, den Konstruktcharakter von Geschlecht transparent zu machen219: „Die Geschlechter-Parodie [offenbart], dass die ursprüngliche Identität, der die Geschlechtsidentität nachgebildet ist, selbst nur eine Imitation ohne Original ist.“220 Die dadurch erfolgte Auflösung der Geschlechternormen hätte den Effekt, „die Geschlechternormen zu vervielfältigen, die substantivische Identität zu destabilisieren und die naturalisierten Erzählungen der Zwangsheterosexualität ihrer zentralen Protagonisten ‚Mann‘ und ‚Frau‘ zu berauben.“221 Obwohl Butlers Thesen, besonders die der Dekonstruktion des Körpers und daraus folgernd der Subjekte Frau/Mann, in Deutschland zum Teil auf vehemente Kritik222 gestoßen sind, haben sie jedoch gleichzeitig darauf aufmerksam gemacht, wie fixiert gesellschaftliches Denken und Handeln auf binäre Strukturen und auf die Zweigeschlechtlichkeit ist. Mit der 1992 erschienenen Untersuchung Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud des Medizinhistorikers 216 217 218 219 220 221 222

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Butler, Judith (22003) [1991], S. 24. Ebd. S. 26. Butler, Judith (1995) [1993], S. 21. Vgl. Butler, Judith (22003) [1991], S. 201ff. Ebd. S. 203. Ebd. S. 215. Vgl. z.B. die Kritik von Duden, Barbara (1993), S. 24-33.

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und Kulturwissenschaftlers Thomas Laqueur wurde die Gültigkeit des „Zwei-Geschlechter-Modells“ erneut in Frage gestellt. Seine Aussagen decken sich in gewisser Weise mit Butlers Befund der kulturellen Kodiertheit von gender und sex. Laqueurs Ansatz ist jedoch ein medizin-historischer, er versucht „eine Geschichte des Vorgangs“ aufzuzeigen, „in dem die soziale und besonders die biologische Geschlechterdifferenzierung […] entstanden sind.“223 Er ist der Überzeugung, dass die Trennung von sex und gender erst im 17. bzw. 18. Jahrhundert224 erfolgt ist: „Das Genus – Mann oder Frau – war von erheblicher Bedeutung und gehörte zur Ordnung der Welt; der Sexus dagegen war, auch wenn die moderne Terminologie eine derartige Umpositionierung absurd macht, eine Sache der Konvention. [...] Ein Mann oder eine Frau zu sein, hieß, einen sozialen Rang, einen Platz in der Gesellschaft zu haben und eine kulturelle Rolle wahrzunehmen, nicht jedoch, die eine oder andere zweier organisch unvergleichbarer Ausprägungen des Sexus zu sein. Anders gesagt, vor dem 17. Jahrhundert war der Sexus noch eine soziologische und keine ontologische Kategorie.“225

Nach Laqueur herrschte im medizinischen Diskurs von der Antike bis zum 18. Jahrhundert das „Ein-Geschlecht-Modell“ vor, welches implizierte, dass der weibliche Körper die gleiche biologische Ausstattung wie der männliche besitze, jedoch mit nach innen gestülpten Geschlechtsorganen versehen sei und damit die ‚verunglückte‘ Version des Mannes darstelle.226 Erst im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen (Französische Revolution, Industrialisierung, Aufkommen der Naturwissenschaften) um 1800 sei das „Ein-Geschlecht-Modell“ von einem „Zwei-Geschlechter-Modell“ des radikalen Dimorphismus und der biologischen Verschiedenheit verdrängt worden.227 Im 19. Jahrhundert wurden die Verhaltensrollen von Mann und Frau als biologisch begründete Verhaltensnormen interpretiert, an denen man vermeintlich naturgegebene Hierarchien von männlichen und weiblichen Fähigkeiten ableiten konnte. Analog zur Tendenz der Biologisierung und der seit der Neuzeit immer mitzudenkenden „Zweitrangigkeit der Spezies ‚Frau‘“228 223 Laqueur, Thomas (1992), S. 11. 224 Im Verlauf seiner Studie wechselt bei Laqueur die zeitliche Grenze vom „Ein-Geschlecht-Modell“ zum „Zwei-Geschlechter-Modell“ zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert. 225 Laqueur, Thomas (1992), S. 20 f. 226 „Über Tausende von Jahren hatte als Allerweltsweisheit gegolten, daß Frauen über dieselben Genitalien wie Männer verfügen, mit dem einzigen Unterschied, daß, wie Bischof Nemesius von Emesa es im 4. Jahrhundert formulierte, ‚ihre innerhalb und nicht außerhalb des Körpers sind.‘ Galen, der im 2. nachchristlichen Jahrhundert das einflußreichste und anpassungsfähigste Modell von der strukturellen, wenngleich nicht räumlichen Identität der männlichen und weiblichen Reproduktionsorgane entwickelte, zeigte des langen und breiten, daß Frauen im Grunde genommen Männer sind, bei denen ein Mangel an vitaler Hitze – an Perfektion – zum Zurückbehalten von Strukturen im Inneren des Leibes geführt hat, die bei Männern äußerlich sichtbar sind.“ (Laqueur, Thomas, 1992, S. 16) 227 Vgl. ebd. S. 21. 228 Spreitzer, Brigitte (1999), S. 251.

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entwickelte sich die Vorstellung einer von Claudia Honegger beschriebenen „weiblichen Sonderanthropologie“229, wie ein Lexikonartikel aus dem Jahre 1898 belegt.230 Laqueurs Studie hat manche Kritik – auch von Seiten der germanistischen Mediävistik – hervorgerufen: Diese betraf z.B. seine Behauptung, der Sexus sei vor dem 17. Jahrhundert lediglich als soziologische und nicht als ontologische Kategorie bezeichnet worden. Brigitte Spreitzer bemängelte vor allem seine methodischen Unschärfen: „Laqueur [transponiert] dennoch die im Theoretischen verworfene Trennung von ‚sex‘ und ‚gender‘ fortwährend auf die Ebene der Historie, um ein Entwicklungsmodell zu statuieren, demzufolge das Gewicht von der einen Kategorie ‚gender‘, auf die andere, ‚sex‘, verlagert worden sei. Das methodische Begriffsinventar ‚sex‘/‘gender‘ [...] schlittert solchermaßen fast unmerklich auf die Beschreibungsebene und stiftet ein heilloses Durcheinander zwischen Beobachtungsmethode und Beobachtungsobjekt.“231

Statt Laqueurs „Geschichte des Vorgangs, in dem die soziale und besonders die biologische Geschlechterdifferenzierung [...] entstanden sind“232, zu diskutieren, sollte „nach Qualität und Funktion der diskursiven Praktiken, welche die distinkten Kategorien ‚Frau‘-‚Mann‘ hervorbringen und als hierarchische Binäroppositionen organisieren“233, gefragt werden. 2.3.2. Körper und Geschlecht in der deutschen Literatur des Mittelalters Betrachtet man die Forschungsübersichten zu feministischen und gender-orientierten Arbeiten in der mediävistischen Literaturwissenschaft234, lässt sich auch hier eine Verlagerung von feministischen Arbeiten seit den 1980er Jah229 Honegger, Claudia (1991). 230 „Die Rolle, welche der Frau im Unterschiede vom Manne im Geschlechtsleben von der Natur angewiesen ist, macht eine völlige Gleichstellung der Geschlechter für alle Zeiten unmöglich. Sie weist ihr als erste und vornehmste Aufgabe die Ernährung, Pflege und Erziehung der Kinder zu [...] In diesem natürlichen weiblichen Pflichtenkreise wurzelt das Familienleben, dessen Hauptträger das weibliche Geschlecht ist und bleiben wird. [...] Es entsteht eine auf natürlicher Grundlage ruhende Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau, die erste und ursprüngliche [...]. Hinzu kommt, daß die besonderen Geschlechtsfunktionen, die den Frauen zufallen, ihre Stellung von vornherein zu einer mehr gebundenen machen, ihnen das unbegrenzte Maß freier Beweglichkeit, dessen der Mann sich erfreut, für immer im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben versagen. Der natürliche Geschlechtsunterschied prägt sich überdies nicht nur in einer durchschnittlich geringern Körperkraft bei den Frauen aus, sondern auch in einer andern Richtung der geistigen und moralischen Fähigkeiten und Kräfte. Diese Verschiedenheiten der Geschlechtsqualitäten sind [...] nicht lediglich ein Kulturprodukt, sondern ursprünglich vorhanden.“ (‚Brockhaus‘ Konversations-Lexikon. Bd. 7. Leipzig 141898. S. 228. Zit. nach: Frevert, Ute, 1995, S. 38) 231 Spreitzer, Brigitte (1999), S. 250. 232 Laqueur, Thomas (1992), S. 11. 233 Spreitzer, Brigitte (1999), S. 251. 234 Vgl. z.B. Peters, Ursula (1988), S. 35-56; dies. (1997), S. 363-396; sowie Bennewitz, Ingrid (1993), S. 383-394.

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ren – hier standen u.a. matriarchatsgeschichtliche oder tiefenpsychologische Interpretationen, historisch-soziologische Untersuchungen zum ‚Frauenbild‘ mittelalterlicher Texte, aber auch die Beschäftigung mit Frauenliteratur und weiblicher Ästhetik im Vordergrund235 – zu gender-orientierten Arbeiten seit den 1990er Jahren festhalten. Heute beschäftigt sich die Mehrzahl der Arbeiten mit der De- und Rekonstruktion der sex-gender-Relation bzw. der literarischen Darstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit und deren ‚Spielarten‘236 vor dem Hintergrund einzelner Texte und Gattungen.237 Besonders seit der Diskussion der Arbeiten von Judith Butler und Thomas Laqueur haben die Gender Studies innerhalb der mediävistischen Literaturwissenschaft „eindeutig an theoretischem Profil und Anziehungskraft gewonnen.“238 Die Anwendung bzw. Historisierbarkeit der Analysen ist für die deutsche Literatur des Mittelalters allerdings nicht unproblematisch: So erweist sich zum einen die Übernahme des „Ein-Geschlecht-Modells“ von Laqueur auf mittelalterliche Literatur ohne Differenzierungen als nicht adäquat: Spreitzer bezeichnet seine Studie in diesem Zusammenhang als „Romantisierung“ und „Vereinfachung“.239 Bennewitz bezweifelt darüber hinaus, dass der von Laqueur beschriebene medizinische Diskurs überhaupt einer größeren Allgemeinheit bekannt gewesen sei bzw. stellt die Wirkungsmöglichkeiten dieses Befundes innerhalb anderer Diskurse in Frage.240 Auch Butlers Studien sind als Hintergrundinformation und Diskussionspotential notwendig und ihre Aufweichung der Kategorien sex und gender logisch-konsequent; für mediävistische Arbeiten ist die Beibehaltung dieser Kategorien als Handwerkszeug bzw. „methodischem Begriffsinventar“241 jedoch sinnvoll, zumal die Forschungsmehrheit für die Nützlichkeit der methodischen Verwendung von sex/gender plädiert. 242 Die Essenz der Theorien Butlers bzw. die von ihr untersuchte Interaktion von Macht, Sprache und Identität ist jedoch für jede literaturwissenschaftliche Untersuchung unverzichtbar: Ihre Überlegungen hinsichtlich sex, gender und desire, die in einem ständigen Prozess performativer Akte zu einer 235 Vgl. zur Entwicklung der feministischen Literaturwissenschaft und der Gender Studies z.B. Hof, Renate (1995) [1995 b], S. 2-33; sowie Stephan, Inge (2000) [2000 b], S. 290-299. 236 Vgl. vor allem neuere Arbeiten zum Thema cross-dressing: Bennewitz, Ingrid (1998), S. 173-191; sowie Feistner, Edith (1997), S. 235-260; vgl. auch die Beiträge im Sammelband von Bennewitz, Ingrid / Tervooren, Helmut (1999). 237 Vgl. z.B. die folgenden Sammelbände: Bennewitz, Ingrid / Tervooren, Helmut (1999); sowie Bennewitz, Ingrid / Kasten, Ingrid (2002); sowie Baisch, Martin / Mecklenburg, Michael (2003). 238 Bennewitz, Ingrid (2002) [2002 a], S. 1. 239 Spreitzer, Brigitte (1999), S. 253f. 240 Vgl. Bennewitz, Ingrid (2002) [2002 a], S. 6. 241 Ebd. S. 4. 242 Vgl. z.B. Scott, Joan W. (1996) [1986], S. 416-440; sowie Hof, Renate (1995) [1995 a]; sowie Stephan, Inge / Braun, Christina von (2000).

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Kategorie ‚Geschlecht‘ verschmolzen werden und so den Anschein des ‚Natürlichen‘ erwecken, gründen sich ihrer Meinung vor allem darauf, das die dafür verantwortliche Macht der Zwangsheterosexualität sprachimmanent ist: „In der Butlerschen Diskurstheorie ist Macht vor allem sprachimmanent, sie ist die im Sinne Foucaults zugleich repressive und produktive Fähigkeit des Diskurses, Realitäten zu schaffen.“243 Wenn Sprechakte demnach als performative Handlungen nicht nur Objekte, sondern auch menschliche Subjekte hervorbringen, sind gerade literarische Texte prädestiniert dafür, die in ihnen geschaffenen Darstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit zu untersuchen und diese als diskursive Repräsentationen von sex, gender und Macht zu analysieren. Grundsätzlich gilt für alle schriftlichen Quellen des deutschen Mittelalters, dass zwischen männlichen und weiblichen Körpern sowie den dazugehörigen Geschlechtsidentitäten unterschieden wird. Jeder Versuch des Überschreitens von körperlichen und sozialen Geschlechtergrenzen wird durch die Gesellschaft unterbunden oder bestraft; gerade im Medium der Literatur ist es jedoch vereinzelt möglich, die Durchlässigkeit der Geschlechtergrenzen bzw. den Konstruktcharakter der Kategorien ‚Frau‘ und ‚Mann‘ transparent zu machen.244 Neben diesen „widerständigen“ Texten ist die mittelalterliche Literatur jedoch überwiegend „heterosexuell normativ und tendenziell misogyn“245 geprägt: Das Ziel mediävistischer Arbeiten sollte deshalb darin bestehen, „die Vielstimmigkeit der dort repräsentierten Diskurse über Körper und Geschlecht erfahrbar und in den Strukturen ihrer kulturellen Fremdheit, aber auch der (mitunter auch täuschenden) Vertrautheit und Nähe […] nutzbar zu machen.“246 Grundlegend für das Geschlechterverständnis im Mittelalter ist u.a. die theologisch-dogmatische Deutung einiger wichtiger Bibelstellen: In Analogie zur Rezeption der Schöpfungsgeschichte247 (und zu Laquers „Ein-Geschlecht-Modell“) wird der weibliche Körper als ein nicht perfekter männlicher Körper betrachtet: „Die Grenzziehung verläuft hier also nicht zwischen männlichen und weiblichen Körpern, sondern zwischen den ‚perfekten‘ männlichen und den als ‚anders‘ – die243 Villa, Paula-Irene (2003), S. 133. 244 Vgl. die Arbeiten (Anm. 289) zum Thema Kleidertausch/cross-dressing sowie zu Homoerotik und Travestie z.B. bei Spreitzer, Brigitte (1999). S. 249-263. 245 Bennewitz, Ingrid (2002) [2002 a], S. 9. 246 Ebd. S. 9. 247 „Da ließ Gott der Herr einen tiefen Schlaf fallen auf den Menschen, und er schlief ein. Und er nahm eine seiner Rippen und schloß die Stelle mit Fleisch. Und Gott der Herr baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm, und brachte sie zu ihm.“ Inmisit ergo Dominus Deus soporem in Adam cumque obdormisset tulit unam de costis eius et replevit carnem pro ea / et aedificavit Dominus Deus costam quam tulerat de Adam in mulierem et adduxit eam ad Adam. (1. Mose 2,21-22; Vulgata)

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sen nicht gleichwertig – auszugrenzenden Körpern, die als Kennzeichen ihrer Stigmatisierung vorgeblich das Phänomen der monatlichen Blutung teilen.“248

Dahinter steht aber nicht nur eine Kenntlichmachung des ‚anderen‘ (weiblichen) Körpers, sondern implizit auch die Ausgrenzung anderer Religionen, Kulturen und Ethnizitäten.249 Im Epheserbrief250 wird nicht nur die Unterordnung der Frau gefordert, sondern auch Körperlichkeit, Sexualität und Begehren mit der Frau gleichgesetzt; der Mann hingegen wird ohne Körperlichkeit und Sexualität bzw. als gottgleiches Vernunftwesen dargestellt. Auch für die deutschsprachige Literatur des Mittelalters gilt, dass diese „im wesentlichen nur ein Geschlecht kennt, nämlich das weibliche. Die Norm, das Männliche, wird hingegen offensichtlich nicht als sexuell bestimmt empfunden.“251 Die Passage aus dem Buch Deuteronomium252 bezieht sich wiederum auf die geforderte und heilsgeschichtlich begründete ‚Gesetzmäßigkeit‘, dass der Körper stets auf die ‚richtige‘ soziale Geschlechtsidentität hinweisen muss und umgekehrt die Geschlechtsidentität Beweis der ‚dazugehörigen‘ ‚natürlichen‘ Körperlichkeit ist. Wirft man einen Blick in die zeitgenössische Literatur, wie etwa in den Tristan Gottfrieds von Straßburg bzw. in den huote-Exkurs (V. 17817-18114), der die art der Frauen diskutiert, wird der vermeintliche Kausalzusammenhang von sex und gender jedoch unterlaufen: „wan swelh wîp tugendet wider ir art, diu gerne wider ir art bewart ir lôp, ir êre unde ir lîp, diu ist niwan mit namen ein wîp und ist ein man mit muote.“253

So können bestimmte Verhaltensweisen, die als ‚typisch‘ männlich gelten, auch beim ‚anderen‘ Geschlecht vorkommen: „(Moralisch) positiv gewertetes weibliches Verhalten ist nicht ‚weiblich‘, sondern vielmehr ‚männlich‘, scheinbar unabhängig gedacht vom Körper, der dieses Verhalten praktiziert.“254 Gleich248 Bennewitz, Ingrid (1996) [1996 a], S. 236. 249 Vgl. Bennewitz (2002) [2002 a], S. 6. 250 „Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn. Denn der Mann ist das Haupt der Frau, wie auch Christus das Haupt der Gemeinde ist, die er als seinen Leib erlöst hat. Aber wie nun die Gemeinde sich Christus unterordnet, so sollen sich auch die Frauen ihren Männern unterordnen in allen Dingen.“ Mulieres viris suis subditae sint sicut Domino / quoniam vir caput est mulieris sicut Christus caput est ecclesiae ipse salvator corporis / sed ut ecclesia subiecta est Christo ita et mulieres viris suis in omnibus. (Epheser 5,22-24; Vulgata) 251 Bennewitz, Ingrid (1996) [1996 a], S. 223. 252 „Eine Frau soll nicht die Ausrüstung eines Mannes tragen und ein Mann soll kein Frauenkleid anziehen, denn jeder, der das tut, ist dem Herrn, deinem Gott, ein Greuel.“ Non induetur mulier veste virili nec vir utetur veste feminea abominabilis enim apud Deum est qui facit haec. (Deuteronomium 22,5; Vulgata) 253 Gottfried von Straßburg: Tristan (V. 17971-18975); zit. nach: Gottfried von Straßburg. Tristan. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Hrsg. von Rüdiger Krohn. 3 Bd. Stuttgart 1984. 254 Bennewitz, Ingrid (1996) [1996 a], S. 236.

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zeitig impliziert diese Aussage, dass eine Frau im ‚Normalfall‘ sich eben nicht durch tugendhaftes, moralisches Verhalten auszeichne, weil es in ihrer ‚Natur‘ nicht angelegt sei. Vor dem Hintergrund dieser Betrachtung sind die Geschlechtergrenzen im Mittelalter nicht statisch, sondern vielmehr fließend: „Die moderne Trennung von ‚sex‘ und ‚gender‘ ist für sie [die mittelalterliche Literatur; G.L.] in dieser Form jedenfalls inadäquat. ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ erscheinen vielmehr – im Hinblick auf ihre biologische wie ihre soziale Konstruktion – als ‚shifting identities‘ (de Lauretis).“255

2.3.3. Zur Konstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit in der deutschen Literatur des Mittelalters Die deutsche Literatur des Mittelalters zeugt von unterschiedlichen Entwürfen bzw. Modellen von Weiblichkeit und Männlichkeit (verstanden als sex und gender), die jeweils vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Gattungen sowie den dazugehörigen spezifischen literarischen Motiven und Strukturmustern betrachtet werden müssen. Als wesentliches Charakteristikum mittelalterlicher (deutschsprachiger) Literatur gilt jedoch grundsätzlich ihre prinzipielle Nähe zur Didaxe.256 Bevor im nächsten Abschnitt auf die Gattung der Heldenepik eingegangen wird, sollen zunächst über die Vorgaben der didaktischen Literatur – deren oberstes Ziel Entwurf und Verbreitung normgerechten und geschlechtsspezifischen Verhaltens ist – ‚allgemeine‘ Verhaltensregeln für Frauen und Männer extrahiert werden: Innerhalb der didaktischen Literatur lässt sich ein bewusstes gendering erkennen, d.h. eine geschlechtsspezifische Adressierung an ein weibliches oder männliches Publikum. So findet sich beispielsweise im Wälschen Gast von Thomasin von Zirclaria ein ganzer Regelkatalog für das korrekte Verhalten junger adeliger Frauen und Männer. Für junge Damen gelten u.a. die folgenden Richtlinien, die eine Konditionierung von Körper und Geist implizieren: 1. Die Verhüllung des Körpers durch Kleidung, welche die Wahrnehmungs- und Bewegungsfreiheit einschränkt 2. Die räumliche Einschränkung, wie das Verbot rascher Fortbewegung und des Reitens, das Verbot des Zu- und Angreifens 3. Die sensuelle Einschränkung, wie das Gebot des leisen Redens (bis zum Redeverbot) sowie das Senken des Blicks, daraus resultierend das Unsichtbarmachen bzw. Kleinhalten des Intellekts:

255 Bennewitz, Ingrid (1996) [1996 a], S. 237, mit Bezug auf Carol Clover (1993), S. 379: „[...] it is a world in which gender, if we can even call it that, is neither coextensive with biological sex, despite its dependance on sexual imagery, nor a closed system, but a system based to an extraordinary extent on winnable and loseable attributes.“ 256 Vgl. Bennewitz (1996) [1996 a], S. 222.

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„Ein juncvrouwe sol senfticlîch und niht lût sprechen sicherlîch. [...] ein vrouwe sol ze deheiner zît treten weder vast noch wît. [...] Wil sich ein vrouwe mit zuht bewarn, si sol nicht âne hülle varn. si sol ir hül ze samen hân, ist si der garnatsch ân. lât si am lîbe iht sehen par, daz ist wider zuht gar. [...] ein vrouwe sol niht hinder sich dicke sehen, dunket mich. si sol gên vür sich geriht und sol vil umbe sehen niht; gedenke an ir zuht über al, ob sie gehœre deheinen schal. ein juncvrouwe sol selten iht sprechen, ob mans vrâget niht. ein vrouwe sol ouch niht sprechen vil, (V. 405-467) [...] Ein vrouwe hât an dem sinne genouc daz si sî hüfsch unde gevuoc, [...] einvalt stêt den vrouwen wol.“ (V. 837-849)257

Für den (jungen bzw. gesellschaftlich noch nicht etablierten) Mann hingegen erscheinen die Verhaltensregeln im Wälschen Gast eher marginaler Art: Diese beziehen sich zum einen auf das Verhalten gegenüber Frauen – z.B. sollen junge Männer nicht reiten, wenn eine Dame zu Fuß geht (V. 420) – und auf den Umgang mit gesellschaftlich höher stehenden oder älteren Männern – sie sollen die Ratschläge älterer Männer befolgen (V. 407ff.) und nicht auf einer Bank stehen, an der ein Ritter sitzt (V. 413) etc. Ein deutliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Frau und Mann ist die Konditionierung des Blicks: Das Senken des Blicks beim Mann wird nur vorübergehend gefordert, z.B. als Zeichen der Akzeptanz hierarchischer Unterordnung, ansonsten ist sein freier und aktiver Blick258 erwünscht: „ein edel juncherre sol / bêde rîter unde vrouwen / gezogenlîche gerne schouwen.“259 Im Unterschied dazu ist der gesenkte Blick der Frau ein „generelles Merkmal des weiblichen Körpers und kennzeichnet seine grundsätzliche und andau257 Der wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria. Hrsg. von Heinrich Rückert. Nachdruck der Ausgabe von 1852. Berlin 1965. 258 Vgl. Weichselbaumer, Ruth (2002), S. 172. 259 Der wälsche Gast (V. 402ff.).

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ernde Bereitschaft der männlichen Vorherrschaft in sozialer und sexueller Hinsicht.“260 Die Verhaltensregeln Thomasins spiegeln sich visuell auch in der bildenden Kunst wider, für die Daniela Hammer-Tugendhat anhand der pudica-Geste (das Bedecken des weiblichen Schoßes mit einer Hand) das Geschlechterverhältnis pointiert beschrieben hat: „Der Gestus ist höchst ambivalent. Er verdeckt, was nicht gesehen werden darf, dennoch wird gerade durch das Verdecken der Blick auf den Schoß gelenkt und das Begehren des Betrachters geweckt. Der Blick wird zum voyeuristischen Blick, der hinschaut, wo er angeblich nicht hinschauen dürfte. So wird eine grundsätzliche Struktur inszeniert, die das Geschlechterverhältnis unserer Kultur mitgeprägt hat: Der Mann ist der Blickende, sein Blick ist voyeuristisch; die Frau, die blicklose, ‚muß‘ sich schämen, sich verdecken.“261

An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass Männlichkeit in der vorliegenden Arbeit nicht als das generalisierte ‚Andere‘, als dominierende ‚Norm‘ oder als Negativfolie zum Weiblichen gewertet wird. Stattdessen wird Männlichkeit, entsprechend den Untersuchungsansätzen neuerer mediävistischer Forschungen262, analog zu Weiblichkeit nicht als stabile, unveränderliche Kategorie, sondern als diskursives Konstrukt aufgefasst. Gerade in der mittelalterlichen Literatur gibt es zahlreiche Beispiele für ‚vorbildliche‘, aber auch für defizitäre bzw. von der Norm abgesetzte Männlichkeitsbilder. Konstituierend für die ‚männliche Norm‘ bzw. die mittelalterliche Gesellschaft ist das rechts- und wehrfähige männliche Subjekt, das Teil der gesellschaftlichen Öffentlichkeit (des Hofes) ist und damit Anteil hat an den „driu leben: gebûre, ritter und pfaffen.“263 Alles, was davon abweicht, „wird als ‚anders‘ markiert und gesondert behandelt – und dazu gehören neben Geistlichen, alten, kranken und nicht christlichen Männern auch die Frauen als Kollektiv.“264 Mit der literarischen Konstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit sollen nicht nur Verhaltensweisen verdeutlicht werden, die im Laufe der Verschriftlichung deutschsprachiger mittelalterlicher Literatur festgeschrieben und internalisiert wurden, sondern darüber hinaus verweisen diese Festschreibungen immer auch auf das Zustandekommen, die Verteilung und die Legitimation von politischer Macht sowie sozialen Strukturen und damit auch auf die Partizipation von Bildung, Wissen und Kultur.

260 Bennewitz (1996) [1996 a], S. 227; vgl. auch Wenzel, Horst (1991) [1991 b], S. 32. 261 Daniela Hammer-Tugendhat (1994), S. 51. 262 Zur Männlichkeitsforschung in der mediävistischen Germanistik vgl. z.B. den Sammelband von Baisch, Martin / Mecklenburg, Michael (2003); sowie Weichselbaumer, Ruth (2003); dies. (2002), S. 157-177; sowie Eickels, Klaus van (2002), S. 97-134. 263 Vgl. Fridankes Bescheidenheit. Hrsg. von Heinrich E. Bezzenberger. Neudruck der Ausgabe von 1872. Aalen 1962. V. 27,1. 264 Weichselbaumer, Ruth (2002), S. 162.

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2.3.4. Heldenepik und gender 2.3.4.1. gender und genre I Die Gattung Heldenepik – so die opinio communis – erzählt hauptsächlich von den Taten und Abenteuern eines männlichen Helden, weibliche Figuren spielen dagegen keine herausragende Rolle: „Was neben den Heroen auftaucht, zählt nicht viel. [...] Heldenepik erzählt von einer Männerwelt.“265 Dies gilt auch für den deutschsprachigen Bereich, betrachtet man die frühesten heldenepischen Texte wie das um 830 entstandene Hildebrandslied oder den Sonderfall des im 10. Jahrhunderts entstandenen (mittellateinischen) Waltharius. Ähnliches hat Simon Gaunt266 für die romanische Heldenepik bzw. die chansons de geste konstatiert und darüber hinaus in programmatischer Weise auf den unabdingbaren Zusammenhang von gender und Textgattung aufmerksam gemacht: „[G]ender and genre are inextricably linked.“267 Für ihn ist gender die (in jeder Gattung unterschiedlich diskutierte) Analysekategorie, um Sinn und Ideologie der Texte adäquat interpretieren zu können. Nach Gaunt ist das „ethical system“ der chansons de geste durch zwei Aspekte gekennzeichnet: Zum einen sei dieses Normsystem „so exclusively masculine“268, dass Frauen aus ihm ausgeschlossen werden – obgleich Frauenfiguren immer präsent und z.T. bedeutend seien.269 Zum anderen sei die Gattung durch die Hervorhebung von männlichen Beziehungen bzw. Bündnissen270 geprägt. Die Konsequenz dessen sei, dass ideale Maskulinität nicht im Verhältnis bzw. durch Abgrenzung zum Weiblichen, sondern fast ausschließlich in zwischenmännlichen Beziehungs-Modellen konstruiert werde.271 Für diesen Befund verwendet Gaunt den Terminus der „monologic masculinity.“272 Jedoch involvierten einige wenige Werke innerhalb der Gattung die Frauenfiguren aktiv in die höfische Wertediskussion273, indem sie das Konzept der ‚monologischen 265 Müller, Jan-Dirk (1998), S. 190. 266 Gaunt, Simon (1995). Gaunt untersucht die Textgattungen chansons de geste, romance, canso, hagiography, fabliaux. 267 Ebd. S. 1. 268 Ebd. S. 22. 269 „Women are excluded from the genre‘s value system even, arguably, in poems where the influence of other genres is tagible.” (Ebd. S. 22) 270 „The foregrounding of male bonding“ (ebd. S. 23). 271 „Ideals of masculine gender are not constructed in relation to the feminine, but in relation to other models of masculinity.” (Ebd. S. 23) 272 Ebd. S. 23. 273 „In some chansons de geste, however, women are more than passive vehicles for men to conduct relations with each other. [...] women characters in texts like Daurel et Beton, the Siège de Barbastre and Orson de Beauvais, supply a counter-narrative from which a critique of the disfunctional dominant masculine ideology, and therefore of its construction of masculinity, is offered.“ (Ebd. S. 63)

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Maskulinität‘ kritisch in Frage stellten: „In many chansons de geste, therefore, women play a diagnostic role which underlines the inadequacies of the genre‘s construction of masculinity.“274 Im Höfischen Roman (roman courtios) dagegen werde die männliche Identität des Helden vor allem durch seine Relation zum Weiblichen konstruiert, da in diesen Texten den Frauen eine zentrale und identitätsstiftende Rolle zukomme. Das dort dargestellte Verhältnis der Geschlechter bezeichnet Gaunt als dialogisch.275 Die Thesen Gaunts wurden in den letzen Jahren auch in der germanistischen Mediävistik, besonders im Bereich der Heldenepik, intensiv diskutiert.276 Ingrid Bennewitz übernimmt den Terminus der ‚monologischen Maskulinität‘ für die deutschsprachige Heldenepik: Texte wie das Hildebrandslied, der Waltharius, die Kudrun oder das Nibelungenlied bestätigten, dass das ethische System ein männliches sei und darüber hinaus „ideales männliches Verhalten primär in Relation zu anderen Modellen von Maskulinität gewonnen wird.“277 Anhand des Nibelungenliedes und der Kudrun unterliefen jedoch gerade die Frauenfiguren durch ihr Verhalten bzw. ihre Figurenkonzeption die Selbstverständlichkeit des männlich determinierten ethischen Systems dieser Texte. Es sprächen zahlreiche Indizien dafür, dass „ausgerechnet die deutsche Heldenepik – mit Ausnahme von Teilen der Dietrich-Epik – eigentlich auch als ‚Heldinnen-Epik‘ zu bezeichnen wäre.“278 Auch Kerstin Schmitt stellt sich anhand der Kudrun die Frage, inwiefern sich die ‚monologische Maskulinität‘ bzw. „das ‚männlich‘ geprägte Paradigma der Heroik verschiebt, sobald die weiblichen Figuren mehr als nur eine marginale Rolle erlangen.“279 Auch dieser Hintergrund soll bei der Analyse der zu untersuchenden Werke Kudrun, Rosengarten, Biterolf und Dietleib sowie Hürnen Seyfrid mitbedacht werden. 2.3.4.2. gender und genre II Die Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit steht darüber hinaus auch in einem Zusammenhang mit den Erzählmodellen und narrativen Strukturen der Gattung, in der diese verwendet werden. Vor diesem Hintergrund sollen die folgenden Fragestellungen beachtet werden: Von welchen narrativen Mustern wird die Konstruktion von gender280 beeinflusst? 274 275 276 277 278 279 280

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Ebd. S. 64. Vgl. ebd. S. 62. Vgl. z.B. Miklautsch, Lydia (2006), S. 241-260. Bennewitz, Ingrid (2003), S. 19. Ebd. S. 12. Schmitt, Kerstin (2003), S. 193. Innerhalb der Untersuchung wird auf die Kategorie des sex sowie auf dessen Zusammenhang mit gender nur en passant eingegangen, da diese Aspekte in den Texten kaum eine Bedeutung spielen.

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Inwieweit sind die Erzählmodelle universal anwendbar oder geschlechtsspezifisch konstruiert? Können die literarischen Vorgaben und daraus resultierend die Geschlechterrollen überschritten werden? Beispielhaft hierfür sei u.a. das Strukturmuster des Heldenlebenschemas erwähnt, das auf literarischer Ebene eine wichtige Rolle für die männliche Identitätsbildung einnimmt281: Dieses Schema besteht aus einer Folge von Bewährungen, Gefahren und Abenteuern, in dessen Zentrum idealerweise der gereifte Held steht. In seiner Abhandlung zum „Modell eines Heldenlebens“282 hat bereits Jan de Vries darauf hingewiesen, dass die zentrale Tat im Leben eines Helden eine „Nachahmung“283 eines Initiationsrituals und damit einen „Durchgang durch den Tod zu einem neuen Leben“284 darstelle bzw. „die Reifung des männlichen Individuums“285 verdeutliche. Hier bezieht sich de Vries auf Arnold van Genneps Untersuchung zu den Übergangsriten (1909): Das Leben eines Menschen vollzieht sich in mehreren Etappen wie Geburt, Pubertät, Heirat, Elternschaft, Aufstieg in eine höhere Klasse, Tätigkeitsspezialisierung usw., die trotz kultureller Unterschiede in jeder Kultur zu finden seien und in ihren dazugehörigen Ritualen teilweise Überschneidungen aufweisen. Jede Veränderung im Leben eines Individuums erfordert „teils profane, teils sakrale Aktionen und Reaktionen, die reglementiert und überwacht werden müssen, damit die Gesellschaft als Ganzes weder in Konflikt gerät, noch Schaden nimmt.“286 Zu jedem dieser Ereignisse „gehören Zeremonien, deren Ziel identisch ist: Das Individuum aus einer genau definierten Situation in eine andere, ebenso genau definierte hinüberzuführen.“287 Zeremonielle Handlungen, die den Übergang zu einem anderen Zustand begleiten, werden als „Übergangsriten“ (rites de passage) bezeichnet.288 Besonders ausführlich hat sich Van Gennep mit dem Ablauf verschiedener Initiations- und Pubertätsriten befasst. Diese Initiationsriten 281 Vgl. auch Cohen, Jeffrey J. (1993), S. 173-192. 282 Vgl. das „Modell eines Heldenlebens“: 1. (Besondere) Zeugung des Helden (Mutter kann Jungfrau, Vater Gott oder Tier, das Kind Ergebnis einer Blutschande sein) 2. Geburt des Helden (z.B. auf unnatürlichem Weg) 3. Jugend des Helden wird bedroht (das Kind wird z.B. ausgesetzt und von Tieren gesäugt, später von Hirten usw. erzogen) 4. Art, wie der Held aufwächst (der Held offenbart meist schon früh Kraft oder Mut) 5. Held erwirbt manchmal Unverwundbarkeit 6. Kampf des Helden mit Drachen oder anderen Ungeheuern 7. Held erwirbt eine Jungfrau nach bestandenen Gefahren 8. Held unternimmt eine Fahrt in die Unterwelt 9. Verbannter Held kehrt zurück und überwindet seinen Gegner 10. Tod des Helden. Jan de Vries zufolge müssen nicht alle Elemente in der Vita des Helden erfüllt sein, vgl. Vries, Jan de (1961), S. 282-289. 283 Ebd. S. 300. 284 Ebd. S. 296. 285 Ebd. S. 295. 286 Gennep, Arnold van (32005) [1909], S. 15. 287 Ebd. S. 15. 288 Alle Übergangsriten weisen drei Phasen auf: 1. Trennungsriten (rites de séparation: kennzeichnen die Ablösungsphase, bes. deutlich z.B. in Bestattungszeremonien) 2. Schwellen- bzw. Umwandlungsriten (rites de marge: kennzeichnen die Zwischenphase z.B. Schwangerschaft, Verlobung, Initiation oder Übergang in eine andere Altersklasse) 3. Angliederungsriten (rites de agrégation: kennzeichnen die Integrationsphase z.B. Hochzeitszeremonien), vgl. ebd. S. 21.

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folgen ähnlichen Schemata und beinhalten stets die Abfolge von Trennung, Umwandlung und Reintegration. Dabei wiederholen sich folgende Motive: Trennung von der gewohnten Umgebung und vertrauten Personen, Einhalten verschiedener Tabus, z.B. Nahrungstabus, Reinigungsrituale, Kostümierung, Verschleierung, Rasur, Bemalung, Blutriten, ritueller Tod und Wiedererweckung des Initianden; Unterweisung in neue Lebensregeln, Gewinnung von neuem Wissen, evtl. neue Namensgebung.289 In den 1960er Jahren formulierte Victor Turner290 Van Genneps Konzept der „Schwellen- bzw. Umwandlungsphase“ neu und entwickelte es weiter. Hatte Van Gennep für den Schwellenzustand (Liminalität) allgemein die Aufhebung der Alltagsregeln konstatiert, ist nach Turner der Initiand in dieser Phase den Zuschreibungen der sozialen und geschlechtlichen Realität vollkommen enthoben. Besonders charakteristisch für die liminale Phase seien deshalb u.a. Geschlechts-, Besitz- und Statuslosigkeit, Anonymität, Demut und Schweigen sowie die Unterwerfung unter die Autorität der Gemeinschaft: „Schwellenwesen [...] befinden sich zwischen den vom Gesetz, der Tradition, der Konvention und dem Zeremonial fixierten Postitionen.“291 Das liminale Stadium zeichnet sich aber nicht nur durch Statuslosigkeit, sondern auch durch Statusumkehrung und Rollentausch aus – so wird der Initiand z.B. zum Verrückten, zur Frau oder zum hierarchisch Untergebenen.292 Häufig ist ein Initiationsritus auch mit einem Generationenkonflikt verbunden: Während die Initianden Mutproben und Peinigungen erdulden müssen, lassen die älteren Männer die jüngeren Männer bzw. die Initianden ihre ganze Macht spüren. Diese Macht bekunden die Alten durch die Einleitung eines rituellen Todes und der anschließenden „Wiedergeburt“.293 Die Religionshistorikerin Caroline Walker Bynum bezieht sich in ihrer Untersuchung über mittelalterliche Heiligenviten auf Turners Konzept der Liminalität, kritisiert jedoch, dass dieser in seinen Arbeiten nur ungenau auf die Rolle der Frau eingegangen sei. Sie betont, dass die Heiligengeschichten über weibliche Heilige „weniger prozeßhaft als die der Männer“ seien und „keine Wendepunkte“ besäßen: „die Themen [sind] weniger Klimax, Bekehrung, Reintegration und Triumph (die Liminalität von Statusumkehrung oder -erhöhung) als vielmehr Kontinuität. [...] Vielmehr bewahren und erhöhen sie im Bild (als Braut oder als Kranke) die alltägliche weibliche Erfahrung, so daß die religiöse Haltung der Frauen entweder dauernd liminal sein muß oder das liminale Stadium nie erreicht.“294 289 Vgl. ebd. S. 70-113. 290 Victor Turner führte von 1950-1954 seine berühmt gewordenen Feldforschungen bei den Ndembu in Sambia/Afrika durch. 291 Turner, Victor (22005) [1969]. S. 95. 292 Vgl. ebd. S. 101ff. 293 Matt, Peter von (1995), S. 278. 294 Walker Bynum, Caroline (1996) [1991], S. 32.

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Walker Bynum zufolge ist Turners Begriff der Liminalität „nur auf Männer anwendbar“295; denn es erfolge bei Frauen keine Umkehrung durch das liminale Stadium wie bei Männern, sondern lediglich eine Fortsetzung der Erfahrung. Als Beispiele zieht sie die Viten weiblicher und männlicher Heiliger heran. Als exemplarisch für ein männliches Heiligenleben verweist sie auf die Vita des Heiligen Franziskus, der in der Phase der Liminalität von Armut, Schwäche, Nacktheit und Weiblichkeit gekennzeichnet ist. Gerade in liminalen Momenten beschreiben sich Männer oft als Frauen296: „Die Frau dient dem Mann zum Rückzug von der Welt in eine innere, oft mystische Ruhe [...]. Der Kontakt mit der Frau ist für den Mann eine Flucht vor der Welt; aus dieser Zuflucht kehrt er, mit Belehrung und Trost gewappnet, in die Welt zurück.“297

Eine weibliche Heilige dagegen erscheine als androgyn oder als weiblich, und wenn sie doch als ‚Mann‘ auftritt, indem sie z.B. Männerkleidung trägt, geschehe dies nicht aus religiösen Gründen, sondern aufgrund einer sozialen Notwendigkeit (z.B. trug Johanna von Orleans Männerkleider, um Krieg zu führen).298 Männliche Biographen konstatierten für eine weibliche Heilige dagegen nur ‚männliches‘ Verhalten, wenn sie auf religiösem Gebiet einen Forschritt erreichten.299 Walker Bynum erklärt dieses Phänomen mit der dahinter stehenden theologischen Tradition: „Im Mittelalter sahen sich sowohl Frauen wie Männer als Braut, Mutter und Schwester Jesu. Aber für die Frauen war das eine Annahme und Fortsetzung dessen, was sie waren; für Männer eine Umkehrung. Die zentralen weiblichen Metaphern erweisen sich als solche der Kontinuität. Da Frauen in der theologischen und exegetischen Tradition das Stoffliche, das Leibliche, das Begehren und die Lüsternheit repräsentierten, Männer dagegen Seele oder Geist, betonten die Frauen in ihren Selbstbildern natürliche Prozesse.“300

Das Modell der christlichen Hagiographie scheint demnach ein narratives Muster zu sein, mit dem weibliche und männliche Erlebnisprozesse – wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise – positiv beschrieben werden können. Doch wie verhält sich dieser Befund zur Heldenepik, in dem sich das 295 Ebd. S. 46. 296 „Bonaventura berichtet uns, daß Franziskus seine Kleider und Schuhe ablegte, sich von seinem Vater lossagte, sein Geld wegwarf, zu Maria betete und wie sie sein erstes Kind gebar (seinen ersten Schüler). Als der Papst ihn zunächst zurückweist, dann aber akzeptiert, erzählt Franziskus die Geschichte einer armen Frau (womit er sich selbst meint), die die Kinder des Heiligen Geistes gebiert. [...] Franziskus wird als Mutter beschrieben, die alle Geschöpfe – vom Kaninchen bis zum Jesuskind – in ihren Armen wiegt.“ (Ebd. S. 34f.) 297 Ebd. S. 35f. 298 „Aber die mittelalterlichen Frauen selbst beschreiben sich nicht als Männer, um ihre Demut oder spirituelle Befähigung zu behaupten. Entweder sie beschreiben sich als wirklich androgyn (d.h. sie gebrauchen männliche und weibliche Bilder ohne ausgeprägte Neigung zu einer gegebenen Gruppe von Persönlichkeitsmerkmalen, die mit dem einen oder dem anderen Geschlecht verbunden sind) oder als weiblich (Braut, Geliebte, Mutter).“ (Ebd. S. 37) 299 Vgl. ebd. S. 37. 300 Ebd. S. 45f.

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männliche Subjekt primär durch Kampf und Gewalt behaupten soll, Frauen301 jedoch von diesem Bereich ausgeschlossen werden? Gibt es diesbezüglich eine Veränderung hinsichtlich der späten Heldenepik? Auch diesen Aspekten soll anhand der Texte nachgegangen werden.

301 Eigenhändig kämpfende Frauen werden in der mittelhochdeutschen Heldenepik fast ausnahmslos ausgegrenzt und stigmatisiert (nur in Abwesenheit von kampffähigen Männern dürfen Frauen zu den Waffen greifen wie z.B. Giburg im Willehalm, V. 226,24-27): Die Kraft der übermenschlich starken Brunhild im Nibelungenlied muss erst gebrochen werden (NL 665ff.), damit sie in die höfische Wormser Gesellschaft eingegliedert werden kann; Kriemhild wird von Hildebrand sogar getötet, nachdem sie Hagen mit dem Schwert erschlagen hat (NL 23732377); vgl. dazu auch Lienert, Elisabeth (2000) [2000 a], S. 129-146.

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3. Kudrun Die Kudrun1 wurde vermutlich um 1240 im bayerisch-österreichischen Donauraum von einem anonymen Verfasser aufgezeichnet. Überliefert ist der Text in einer einzigen prachtvollen Sammelhandschrift, dem Ambraser Heldenbuch, welches von Kaiser Maximilian I. (1459-1519) in Auftrag gegeben und von Hans Ried zwischen 1506 und 1515 in frühneuhochdeutscher Sprache niedergeschrieben wurde. Der heldenepische Mittelteil2 geht auf eine Vorlage zurück, die vermutlich mit dem 1502 urkundlich genannten „helldenbuch“ identisch ist.3 Unter der Überschrift „Ditz puech ist von Chautrun“ steht die Kudrun an zwölfter Stelle und bildet zusammen mit dem Nibelungenlied („Ditz Puech Heysset Chrimhilt“4), der Klage und Biterolf und Dietleip wiederum das Zentrum des heldenepischen Teils, welches strukturell u.a. über die Figur der Kriemhild bzw. Kudrun miteinander verbunden ist. Die Anordnung des heldenepischen Teils spiegelt wider, welche Werke man im frühen 16. Jahrhundert vermutlich als repräsentative und tradierenswerte Bestandteile der Heldenepik erachtete. Verbindendes Element (fast) all jener Texte ist das Motiv der gefährlichen Brautwerbung, welches besonders in der Kudrun „vielleicht schon parodistisch (mit Kuhn ‚manieristisch‘) überstrapaziert wird, [dies] mag etwas mit Maximilians literarischen Vorlieben zu tun haben, wenn man bedenkt, daß er seine eigene Werbung um Maria von Burgund in diesem Sinne literarisch stilisiert hat.“5 Rezeptionsgeschichtlich interessant ist die Tatsache, dass die unikale Überliefung der Kudrun von der Altgermanistik 1

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Die Kudrun wird im Folgenden zitiert nach: Kudrun. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch. Hrsg. von Karl Stackmann. Tübingen 52000. Die Edition überträgt den Text in ein normalisiertes Mittelhochdeutsch, um eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie der Text zum Zeitpunkt seiner Entstehung ausgesehen haben könnte, vgl. Karl Stackmann in der Einleitung, S. XII. Die Ausgabe von Franz Bäuml hingegen überliefert die Kudrun nach dem originalen Wortlaut des Ambraser Heldenbuches (diplomatische Textausgabe): Kudrun. Die Handschrift. Hrsg. von Franz H. Bäuml. Berlin 1969. Das Ambraser Heldenbuch überliefert 25 mittelhochdeutsche Dichtungen, darunter 15 Werke als Unika (z.B. Erec von Hartmann von Aue, Biterolf und Dietleib, Frauenbuch von Ulrich von Lichtenstein etc.). Der heldenepische Mittelteil enthält die folgenden Werke: 8. Dietrichs Flucht, 9. Rabenschlacht, 10. Nibelungenlied, 11. Nibelungenklage, 12. Kudrun, 13. Biterolf, 14. Ortnit, 15. Wolfdietrich A. Vgl. Janota, Johannes: Art. „Ambraser Heldenbuch“, VL 1 (1978), Sp. 323-327. Beide Überschriften zitiert nach: Kudrun. Die Handschrift. Hrsg. von Franz H. Bäuml. Berlin 1969. S. 4. Bennewitz, Ingrid (2003), S. 17.

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als Zeichen literarischer „Erfolglosigkeit“6 gewertet wurde, wohingegen die ebenfalls einzige fast vollständige Überlieferung des Erec7 dessen literarische Wertschätzung und herausragende Bedeutung dokumentierte. Während man sich in den Anfängen der Kudrun-Forschung besonders mit der Rekonstruktion der Stoffgeschichte8 beschäftigte, rückte seit den 1950er Jahren der Versuch in den Vordergrund, den Text als Werk eigenen Rechts aus den Bedingungen seiner Zeit heraus zu verstehen. Schon früh wurde auf den Intertextualitätscharakter der Kudrun verwiesen und die ‚Verwandtschaft‘ zum Nibelungenlied betont. Werner Hoffmann formulierte 1967 die bündige Formel: „Die ‚Kudrun‘ ist eine Antwort auf das ‚Nibelungenlied‘.“9 Dabei wurde es zur opinio communis, die Figur der Kudrun zur „Friedensfürstin“10 zu stilisieren und die Kriemhild des Nibelungenliedes auf die „blutige Rächerin“11 zu reduzieren. Die Dichotomisierung gipfelte schließlich darin, die beiden Werke als „Frauenroman“ zu bezeichnen und die Kudrun als „sehr viel weiblichere Dichtung“12 zu interpretieren, wohingegen die Figur der Kriemhild im Gegensatz zu Kudrun eine Haltung einnehme, „die nicht mehr fraulich (wenngleich von der psychischen Eigenart der Frau sehr wohl verständlich)“13 sei. Der problematische bzw. anachronistische Terminus „Frauenroman“14 soll hier nicht weiter erörtert werden, doch legt die damit verbundene Diskussion beredtes Zeugnis ab, wie lange auch die mediävistische Forschung an 6

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Werner Hoffmann formulierte noch 1974: „Der ‚Kudrun‘-Dichter hat [...] keinen Erfolg gehabt, wie allein schon die Überlieferung in einer einzigen und zudem sehr späten Handschrift erweist. [...] Und während das Nibelungenlied der gesamten Gattung der Heldendichtung des 13. Jahrhunderts als Vorbild diente, [...] ist die Wirkung der ‚Kudrun‘ auf andere Dichtungen überraschend gering. [...] Zu der Erfolglosigkeit der ‚Kudrun‘ hat gewiß die Besonderheit ihres Stoffes samt dem ungewohnten Schauplatz des Geschehens und dem anderen Personal beigetragen.“ Hoffmann, Werner (1974), S. 125. Mit Ausnahme einiger Fragmente (z.B. Wolfenbüttler Fragmente) ist Hartmanns Erec nur im Ambraser Heldenbuch überliefert. So z.B. Karl Müllenhoff, der eine ‚Ur-Kudrun‘ zu rekonstruieren versuchte, vgl. Müllenhoff, Karl (1845); vgl. auch Friedrich Panzer, der die Kudrun aus der Hildesage hervorgehen ließ und die Sage aus einem Märchentypus ableitete, vgl. Panzer, Friedrich (1901). Trotz aller philologischen Bemühungen blieb die Suche nach den stofflichen Grundlagen der Kudrun vergeblich: Bis auf einige Hinweise auf eine Hildesage konnte kein mündlicher Überlieferungshorizont, keine älteren Fassungen, keine direkten Quellen oder Heldenlieder ausfindig gemacht werden, vgl. Stackmann, Karl: Art. „Kudrun“, VL 5 (1985), S. 410-426. Hoffmann, Werner (1967), S. 277. Hilgers, Friedrich (1960), S. 23. Kaiser, Gerd (1981), S. 211. Hoffmann, Werner (1967), S. 269. Ebd. S. 274. Schon 1954 sprach Bert Nagel (1976) [1954], S. 368, bezüglich des Nibelungenliedes von einer „Tendenz zu einem Kriemhildenroman“; vgl. auch Kuhn, Hugo (1989) [1973], S. 15; sowie Nolte, Theodor (1985), S. 76; vgl. dazu die kritische Rezension von Bennewitz, Ingrid (1987), S. 445-447; vgl. auch Frakes, Jerold C. (1994), S. 1ff., der die Begriffe ‚Frauenroman‘ und ‚Frauenepik‘ diskutiert.

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binär-konservativen Geschlechtervorstellungen festgehalten hat und in welch hohem Maße besonders die Deutung der weiblichen Protagonisten von den jeweiligen gender-Vorstellungen der Interpreten abhängig ist. Auf der Basis gender-orientierter Ansätze hat Jerold Frakes 1994 die Machtmöglichkeiten der Frauen in Nibelungenlied und Kudrun untersucht: „The ‚Nibelungenlied‘ is about what happens when men steal women‘s property; Kudrun ist about what happens when men steal men‘s property, that is, women.“15 In seiner feministisch orientierten Arbeit kehrt Frakes die traditionellen Wertungen der Forschung um und interpretiert Kriemhild als heldenhafte Rebellin gegen die patriarchale Unterdrückung, Kudrun dagegen wertet er als „backlash“ und ‚willige Vollstreckerin‘ des Patriarchats.16 Stephanie Pafenberg stellt erstmals auch die Männlichkeitskonstruktionen in den Fokus ihrer Untersuchung, ohne jedoch die Kategorien der Gender Studies auszuschöpfen. Sie wertet die zwei unterschiedlichen Männlichkeitsbilder als Ausdruck des Gegensatzes von höfischen und heroischen Normen, ohne diese genauer zu diskutieren.17 Ann Marie Rasmussen analysiert die Beziehung Kudruns zu ihrer leiblichen Mutter Hilde und zu ihrer ‚Stiefmutter‘ Gerlind und erörtert die Bedeutung der Verwandtschaft für das Werk. Sie betont vor allem, dass mit der Figur Gerlinds eine Frauenfigur beschrieben werde, die eine deutliche Gegenposition zur ‚Friedensstifterin‘ Kudrun einnehme. Darüberhinaus seien die vor allem von Gerlind, Hilde und Kudrun verhandelten heiratspolitischen und friedenssichernden Abkommen keine spezifisch weiblichen Handlungsbereiche, sondern gehörten im feudalen Europa zur politischen Sphäre und seien hauptsächlich von männlichen Herrschern ausgeübt worden. Rasmussen verbindet ihre Thesen zur Verwandtschaft ansatzweise auch mit generationalen Überlegungen. So ist sie der Meinung, dass das Ungewöhnliche der Kudrun die starke Mutterfigur Hilde sei, die ihre Eigenschaften an ihre Tochter weitergebe und damit „a peaceful transfer of power across generations”18 demonstriere, die Mutter-Tochter-Beziehung damit zum Mittelpunkt generationaler Kontinuität avanciere.19 Die umfassenden genealogischen Aspekte behandelt Rasmussen allerdings nicht. Ebenfalls aus gender-orientierter Perspektive untersucht Kerstin Schmitt die Figurenkonzeption sowie die intertextuellen Verbindungen der Kudrun. Sie geht davon aus, dass Kudrun und Nibelungenlied zwar intertextuellen Signalcharakter besäßen, das Verhältnis der beiden Texte allerdings nicht strikt antithetisch aufzufassen sei, sondern „in dem Sinne dialogisch, dass in der 15 16 17 18 19

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Frakes, Jerold (1994), S. 182f. Vgl. ebd. S. 265. Vgl. Pafenberg, Stephanie B. (1995), S. 106-115. Rasmussen, Ann Marie (1997), S. 111. Vgl. ebd. S. 110.

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‚Kudrun‘ unterschiedliche Aspekte des Prätextes thematisiert, diskutiert, problematisiert, aber auch affirmiert werden.“20 Die „dialogische Intertextualität“21 zeichne sich dabei weniger durch konkrete Einzeltextreferenzen aus, sondern ergebe sich weit mehr aus der „Montage“22 narrativer Muster unterschiedlicher Herkunft, die im Text variiert, neu perspektiviert oder ironisiert werden. Zudem seien die Erzählmuster nicht geschlechtsneutral, sondern eng mit den unterschiedlichen Entwürfen von Männlichkeit und Weiblichkeit verbunden. Schmitt fokussiert und vergleicht u.a. die Konstruktion des Personen- und Herrschaftsverbandes von Kudrun und Nibelungenlied,23 streift genealogische und generationale allerdings nur en passant. Auch Ann-Katrin Nolte vergleicht aus gender-orientierter Perspektive Kudrun und Nibelungenlied anhand des Problembereichs ‚Öffentlichkeit und Heimlichkeit‘ und der Thematik des Königinnenstreites (Kriemhild vs. Brünhild; Gerlind vs. Kudrun). Nolte negiert die von der älteren Forschung behauptete Festschreibung, Kudrun sei als Gegenfigur zu Kriemhild gestaltet und die Kudrun damit eine ‚versöhnliche‘ Antwort auf das Nibelungenlied. Nolte kommt zu dem Ergebnis, dass in der Kudrun – im Gegensatz zum Nibelungenlied – Heimlichkeiten vermieden werden und sich innerhalb der drei Teile eine Steigerung des Programms ‚Öffentlichkeit‘ feststellen lasse.24 Generationale und genealogische Aspekte sind schon früh in einigen Arbeiten zur Kudrun diskutiert worden. Besonders die Generationenthematik wurde jedoch vielfach auf das Motiv von Rache und Versöhnung reduziert und die damit verbundenen differierenden Einstellungen der Figuren als Ausdruck einer Dichotomie von heroisch-germanisch-männlichem vs. höfischchristlich-weiblichem Verhalten bzw. einer Opposition von ‚alt vs. jung‘ interpretiert. Als einer der ersten hat Adolf Beck auf den generationsgebundenen, dreiteiligen Aufbau der Kudrun aufmerksam gemacht. Seiner Meinung nach werde das Rachemotiv in Frage gestellt und durch eine christliche Perspektive abgelöst: Der Dichter hebe den „unerbittlich tragischen Gang des Schicksals durch die Generationen auf, indem er den alten, unbedingten Rachegeist durch die Gestalten [...] und durch den Geist der Versöhnung überwinden lässt.“25 Beck zufolge verkörpere die Väter-Generation (Hagen, Wate, Hilde) 20 Schmitt, Kerstin (2002), S. 66. 21 Schmitt definiert den (ursprünglich auf Bachtin zurückgehenden) Terminus der „dialogischen Intertextualität“ als „das ‚ideologische‘ Spannungsverhältnis zwischen Text und Prätext, d.h. zunächst ganz allgemein, dass bestimmte Thematiken oder Problemfelder des Prätextes aufgegriffen und auf konträre oder zumindest unterschiedliche Art und Weise verarbeitet werden.“ (Ebd. S. 65f.) 22 Den Aspekt der Montage hat bereits Hinrich Siefken verwendet, er stellt eine „Tendenz des Epos zur Montage“ fest, vgl. Siefken, Hinrich (1967), S. 113. 23 Schmitt, Kerstin (2002), S. 269-302. 24 Vgl. Nolte, Ann-Katrin (2004), S. 100-121. 25 Beck, Adolf (1956), S. 310.

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unbeirrt den Geist der Rache, während die jüngere Generation (Hartmut, Ortwin, Kudrun) der Versöhnung offen gegenüberstehe, das heroische Ethos damit durch „christlich-ritterliche“ Lebensformen überwunden werde. Hellmut Rosenfeld grenzt die Genealogie des höfischen Romans (z.B. im Parzival oder Gregorius) gegenüber der Kudrun ab: Die Kudrun demonstriere nicht – wie der höfische Roman – den „Adelsstolz auf Abstammung“, sondern ein „Gefühl für Generationenunterschiede“ sowie – „zum ersten Male in der Dichtung“ – ein „Gefühl […] für zeitgebundene Wandlung.“ Rosenfeld erkennt innerhalb des Werkes drei Generationen: eine erste (Hagen), die noch in die „sagenhafte Vorzeit“ hineinreicht, eine zweite (Hilde), die auf „Standesbewußtsein und Rangunterschiede hält“ und eine letzte (Kudrun), bei der das „Menschliche, Versöhnliche, Christliche die Oberhand behält.“ Gleichzeitig gibt er zu bedenken, dass schon innerhalb der ersten Generation „die Jugend versöhnlicher ist als das Alter.“26 Karl Stackmann modifiziert Becks Generationenmodell: Dem Dichter sei es nicht darauf angekommen, „mit dem Wechsel der Generationen einen Wechsel der Anschauungen darzustellen.“ Vielmehr trete ein immer wieder ausbrechender Generationenkonflikt auf, z.B. sei der junge Hagen versöhnungsbereit, anderthalb Jahrzehnte später müsse ihm aber die Versöhnung von Hetel auf dem Schlachtfeld „abgerungen“ werden, ebenso verhalte es sich bei der „jungen“ und der „alten“ Hilde.27 Das Verhalten der Figuren interpretiert Stackmann als eine „Funktion des Lebensalters“, welches in „festen Rollen“ auftrete: „Die Jugend ist dem Neuen zugeneigt und zur Verständigung bereit, das Alter dagegen allen Veränderungen abhold, starrköpfig, unversöhnlich.“28 Werner Hoffmann erkennt zwar im vorangestellten Stammbaum der Kudrun, welcher der höfischen Dichtung nachgebildet sei, „genealogische[s] Denken des Mittelalters“, geht darauf aber nicht ein, sondern kommt lediglich zu dem Schluss: „Es geht in der ‚Kudrun‘ mehr um eine Aufeinanderfolge dreier Generationen als um eine Auseinanderfolge, mehr um eine Aneinanderreihung des Schicksals mehrerer Generationen als um seine innere Verknüpfung.“29 Er vertritt die Meinung, im Hilde- und Hagenteil werde die unnachgiebige ältere Generation der Versöhnungswille der jüngeren Generation gegenübergestellt, doch man dürfe nicht das, „was im Schlussteil der Dichtung in der Tat als Versöhnungsgedanke […] zu bezeichnen ist, so schon im ‚Vorspiel‘ und dann wieder im Hildeteil finden wollen.“30 26 27 28 29 30

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Rosenfeld, Hellmut (1962), S. 290ff. Gemeint ist beide Male Kudruns Mutter Hilde. Stackmann, Karl (51980) [1965], S. XXXV. Hoffmann, Werner (1967), hier 291. Ebd. S. 292.

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Hinrich Siefken zufolge besitzen der genealogische Vorspann und das „Generationenprinzip“ in der Kudrun lediglich die Funktion, die einzelnen Teile des Werkes zu verbinden und „die Teilhandlungen nach dem Gesetz des Überbietens in Beziehung zu setzen.“31 Nach dem genealogischen Prinzip der Steigerung sei auch das Schema der Brautwerbung gestaltet. Ian Cambell stellt das Generationenmodell grundsätzlich in Frage. Er weist darauf hin, dass nicht nur die ältere Generation bereits Versöhnung stiftet, sondern dass auch der jüngeren Generation Rachegedanken nicht fremd seien. Der Dichter zeige weniger einen Gegensatz zwischen alter und neuer Generation (oder zwischen Heroischem und Christlichen), sondern gerade Hagen und Kudrun – deren Ähnlichkeiten er betont – verkörperten „examples of humane, productive leadership.“32 Ebenfalls im Kontext von Rache und Versöhnung rekurriert Andrea Siebert in ihrer Arbeit zur Kudrun zwar auf den genealogischen Aufbau und das „Generationenthema“, weist diesen Bereichen allerdings nur eine marginale Bedeutung zu: „Der Roman [sic!] diskutiert weniger die Einstellung der Generationen oder Alterstufen zum Rachedenken als vielmehr das Rachedenken selbst. Der genealogische Aufbau bedingt die Struktur des Romans, weniger die Thematik.“33 Stephanie Pafenberg stellt die These auf, dass die ältere Generation heroisch geprägt sei, die jüngere dagegen höfische Züge aufweise. Doch seien gerade die Männer der jungen Generation (z.B. Herwig) beiden Welten verpflichtet, so dass sie sich entweder in einer double-bind-Situation befänden oder das „neue höfische“ Modell zwar erfüllten, dafür jedoch den Preis der politischen Machtlosigkeit zahlen müssten. Die Frauen der jungen Generation hätten sich dagegen von der heroischen Rache und dem Kampf abgewendet und nützten stattdessen neue Einflussmöglichkeiten in der politisch-diplomatischen Sphäre.34 Franziska Wenzel kombiniert das Strukturschema der Brautwerbung mit genealogisch-generationalen Aspekten, ohne jedoch die spezifisch mittelalterliche Dimension von Genealogie, Generation oder Verwandtschaft, die in diesem Kontext genauer thematisiert werden müsste, zu definieren. Ihre Arbeit bietet zwar in struktureller Hinsicht interessante Anknüpfungspunkte, trifft aber im genealogisch-generationalen Bereich nicht den Kern der Sache. So ist sie z.B. der Meinung, dass die verwandtschaftliche Bindung zwischen Hagen und Kudrun im Hintergrund stehe und „keine leitmotivische Idee“ darstelle: „Ihre genealogische Beziehung bleibt ohne epische Konturen gegenüber

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Siefken, Hinrich (1967), S. 42f.; vgl. ebd. S. 163ff. Campbell, Ian R. (1978), S. 300; vgl. ebd. S. 149-244. Siebert, Andrea (1988), S. 178; vgl. ebd. S. 143-178. Vgl. Pafenberg, Stephanie (1995), S. 111-113.

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den allenthalben geschlossenen Ehen und beabsichtigten Eheschließungen.“35 Wenzel argumentiert, dass erst im Kudrun-Teil die Gewalt reguliert werde und alle Rache in Versöhnung münde. Obwohl sie selbst formuliert: „Es wird nicht die Rede sein von der Ablösung archaischer Gewaltformen durch pazifistische Formen des Umgangs miteinander“36, formuliert sie an anderer Stelle: „Die jüngere Generation löst immer die ältere ab, die sich gegen die Entmachtung wehrt, indem sie ihre Gewalt in der Ermordung von Brautwerbern oder deren Boten bzw. im Kampf demonstriert, so lange, bis die jüngere Generation in die Position der Eltern einrückt und auch deren Habitus übernimmt.“37 Sie postuliert mit anderen Worten doch ein teleologisches Verständnis von Rache und Versöhnung, welches wiederum an die Kategorien von ‚junger‘ vs. ‚alter‘ Generation gekoppelt ist: Zuletzt, so resümiert sie, verließen „alle Figuren der Elterngeneration die Welt der sich versöhnenden Kinder“38, nur mit der Figur von Wate bleibe ein mythischer Rest anarchischer Gewalt bestehen. Dabei übersieht Wenzel u.a. die Anwesenheit von Kudruns Mutter Hilde, die ebenfalls eine Vertreterin der ‚älteren‘ Generation ist und bis zum Ende eine wichtige Rolle im Sozialgefüge des Personenverbandes einnimmt. Im Folgenden soll dagegen überprüft werden, ob nicht bereits von Anfang an eine versöhnliche Grundhaltung etabliert wird, die im Verlauf des Textes lediglich ausgebaut und modifiziert wird. Schon in Hagens Jugendgeschichte wird der Versöhnungswille als eine friedliche Alternative zur heroischen Rache vorgestellt – diese Haltung wird innerhalb der Kudrun nicht nur unterschiedlich diskutiert und perspektiviert, sondern vor allem am Ende als positive Strategie zur Herrschaftssicherung genutzt. Dabei lässt sich zwar eine Tendenz feststellen, nach der die ‚jüngere‘ Generation einer friedlichen Beilegung eines Konfliktes offen gegenübersteht, die ‚ältere‘ Generation erst davon überzeugt werden muss, aber es werden auch gegenteilige Konstellationen vorgestellt, die diese Tendenz zumindest partiell widerlegen. Im genealogischen Bereich versucht der Text – analog zum genealogischen Denken im Mittelalter – über ein besonderes Herrschergeschlecht Kontinuität durch die ideologische Einheit von Großvater, Tochter und Enkeltochter als Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu etablieren. Der Text suggeriert dies als ideale, natürliche, aufsteigende Entwicklung – tatsächlich jedoch steht die Botschaft von Anfang an fest: Abwendung von der heroischen Rache, Hinwendung zur christlich orientierten Friedenssicherung, einschließlich Vergebung und Versöhnung, ohne jedoch die Ideale heroischen (männlich konnotierten) Kriegertums ganz zu verabschieden. Parallel dazu 35 36 37 38

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Wenzel, Franziska (2005), S. 401. Ebd. S. 404. Ebd. S. 412. Ebd. S. 423.

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wird außerdem ein vorbildlicher, christlich-hagiographisch orientierter Weiblichkeitsentwurf präsentiert, der weibliches Heldentum nicht ausschließt und ebenfalls als (vermeintlich) progressiver Fortschritt dargestellt wird. Dieses Programm wird anhand von idealen kernfamilialen, verwandtschaftlichen und herrschaftlichen Bindungen, die den sich überlagernden und konkurrierenden Bindungen des Nibelungenliedes gegenübergestellt werden, abgearbeitet. Zugleich wird die Kudrun als Repräsentant einer ‚neuen‘ Text-Generation im Verhältnis zum Nibelungenlied und im Kontext der „Kriemhild-Diskussion“ interpretiert.

3.1. Die Kudrun und das Ambraser Heldenbuch Aufschlussreich für die Interpretation der Kudrun ist ihre unikale handschriftliche Überlieferung im Ambraser Heldenbuch. Betrachtet man die Position des Textes innerhalb der Sammlung, ergeben sich mehrere Zuordnungs- bzw. Deutungsmöglichkeiten für seine Aufnahme in den überlieferungsgeschichtlichen Verbund39: Zum einen akzentuiert die Nähe von Nibelungenlied , Klage und Kudrun die personelle Bedeutung der weiblichen Protagonisten Kriemhild und Kudrun und stellt dem tödlichen Untergang eine friedliche Lösung ‚dialogisch‘ gegenüber. Zählt man zu den genannten drei Werken auch den sich der Kudrun anschließenden (ebenfalls versöhnlich endenden) Text Biterolf und Dietleib hinzu, kann man von insgesamt vier aufeinander folgenden Werken sprechen, die sich unter den Begriffen „Nibelungenlied- bzw. Kriemhild-Diskussion“ subsumieren lassen. Bezieht man hingegen alle heldenepischen Texte in der Reihenfolge der Ambraser Handschrift in die Überlegungen mit ein, entsteht eine Art ‚Dietrich-Biographie‘40 in Form eines (allerdings nicht chronologisch geordneten) Zyklus: Die ersten beiden Texte (Dietrichs Flucht und Rabenschlacht) thematisieren die Auseinandersetzung mit Ermrich, Dietrichs Vertreibung sowie sein Exil bei Etzel und knüpfen dann an die Geschehnisse von Nibelungenlied und Klage an. Biterolf und Dietleib hingegen inszeniert einen ‚Lebensabschnitt‘ Dietrichs, der sich vor der Vertreibung durch Ermrich und vor dem Nibelungenuntergang abspielt und besonders das Schicksal seines Neffen Dietleib fokussiert. In den beiden letztgenannten Werken wird die Geschichte von Dietrichs Ahnen Ortnit und Wolfdietrich ‚nachgetragen‘ oder – innerhalb eines (genealogisch-zyklisch) gedachten Kreislaufes – als Anfang einer Dietrich39 Der heldenepische Mittelteil des Ambraser Heldenbuches versammelt die Werke in der folgenden Reihenfolge: 8. Dietrichs Flucht 9. Rabenschlacht 10. Nibelungenlied 11. Klage 12. Kudrun 13. Biterolf und Dietleib 14. Ortnit 15. Wolfdietrich. 40 Heinzle hingegen sieht lediglich in der Heldenbuch-Prosa eine „veritable Dietrich-Vita“, vgl. Heinzle, Joachim (1999), S. 46.

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Vita dieser sozusagen ‚vorangestellt‘. Der einzige Text, der aus dem ‚biographischen Konzept‘ herausfällt, ist die Kudrun, die von der opinio communis weder zur Nibelungen- noch zur Dietrichdichtung gezählt wird. Eine andere Erklärung für die Positionierung der Kudrun und die Anordnung des heldenepischen Teils könnte dagegen die Sammelkonzeption Kaiser Maximilians I. liefern, dem Auftraggeber der Ambraser Handschrift. Nach Ansicht der Forschung steht hinter der Auswahl der Werke vor allem die mehrfach dokumentierte Geschichtskonzeption des Kaisers, „wonach der stetige Rückgriff auf Geschichte als Möglichkeit persönlicher Repräsentation und der prophylaktischen Sicherung des eigenen Gedächtnisses“41 fungiert. Ausgangspunkt von Maximilians gigantischem gedechtnus-Projekt42 ist der Wunsch nach Sicherung von Traditionen (gedechtnus/memoria), die teilweise schon vergessen scheinen. Dieses Projekt umfasst nicht nur das Erinnern an die eigene Person und die eigene Herkunft, sondern es gilt jedem fürstlichen und königlichen Geschlecht einschließlich seiner Zeugnisse, Überlieferungen, Stiftungen, Werke oder Taten – gedechtnus meint immer auch Herrscherlob. Speziell schriftliche gedechtnus weist darauf hin, dass das Subjekt der memoria nicht mehr ein lebendiges Kollektivbewusstsein ist, sondern dass die Erinnerung den Verwaltern der Schriftkultur überantwortet und damit institutionalisiert wird: gedechtnus soll nicht Privatbesitz bleiben, sondern der schriftkundigen Öffentlichkeit und der Nachwelt zugänglich gemacht werden.43 Im Ambraser Heldenbuch finden sich analog zu diesen Überlegungen daher auch keine zeitgenössische Literatur, keine ‚modische‘ Rezeption höfischer Romane und Heldenepen, sondern ausschließlich Werke des 12. und 13. Jahrhunderts. Der heldenepische und der höfische Teil vergegenwärtigen stattdessen vornehmlich Geschichten aus dem Umkreis von König Artus und Dietrich von Bern – beide Figuren ließ Maximilian als Ahnen in seinen eigenen Stammbaum einfügen: In Maximilians „Triumphzug“ und „Ehrenpforte“44 41 Janota, Johannes: Art. „Ambraser Heldenbuch“, VL 1 (1978), Sp. 325. 42 Neben dem literarisch-künstlerischen Programm, das immer auch die bildende Kunst einschließt, werden ebenfalls Bereiche wie Moral, Politik, Jurisprudenz, Ökonomie, Topographie, Volkskunde, Kartographie etc. in dieses gigantische Projekt miteinbezogen: „Der werdende frühneuzeitliche Staat benötigt eine zielstrebige Akkumulation und kontrollierte Aneignung überlieferter Erkenntnisse, Erfahrungen, Regeln der politischen und sozialen Praxis, eine Inventarisierung von Rechtstiteln und -normen, eine Sicherung hergebrachter Legitimationsmuster.“ (Müller, Jan-Dirk, 1982, S. 89) 43 Vgl. ebd. S. 81ff. 44 „Triumphzug“ und „Ehrenpforte“ sind eine Art Bildchronik (Holzschnitte mit kommentierenden Versen). Der „Triumphzug“ hat monumentales Ausmaß, er ist 57 m lang, blieb aber unvollendet. Seit 1507 erste Aufträge für Skizzen, seit 1515 Arbeit am Holzschnittzyklus des Zuges durch Hans Burgkmair, Albrecht Altdortfer, Albrecht Dürer, Hans Springinklee. Die „Ehrenpforte“ (Holzschnitt von 192 Stöcken; ca. 3410 : 2929 mm Gesamtgröße; Erstausgabe von 1517/1518) verbindet die Bildidee des antiken Triumphbogens im Mittelbau mit Elementen des spätmittelalterlichen Wappenturms und gemalten Stammbaumtafeln. Ab dem Jahr 1512 begann Albrecht Dürer an dem Holzschnitt-Bogen zu arbeiten, ihm kam die wichtigste entwer-

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wird Dietrich von Bern neben ‚echten‘ Habsburger Herrschern, Karl dem Großen, aber auch König Artus etc. als Vorgänger und Ahn des Kaisers platziert.45 Maximilian bedient sich gelehrter Fachleute, um z.B. die Abstammung der Franken (und damit seine eigene) vom sagenhaften Troja ‚wissenschaftlich‘ zu untermauern und über eine fabulöse Folge von Merowingerherrschern, den Erzvätern und Sagenhelden wie Priamus, Francus, Sicamber, Artus, Dietrich von Bern oder dem Heiligen Oswald etc. mit dem Kaiserhaus zu verbinden. Lücken oder Leerstellen genealogischer Überlieferung werden geschickt mit erfundenen Herrschern aus der vorchristlichen Geschichte der Franken „ausgefüllt“.46 Hofhistoriographen Maximilians übernehmen die Aufgabe, die offizielle genealogische Abfolge zu begründen und eine aktuellen politischen Konstellationen gemäße zu entwerfen: „Geschlechtermythologien, Heiligenlegenden und Heldensagen werden von Gelehrten unter wissenschaftlichem Anspruch erneuert. Insoweit gleichen die Inhalte denen herkömmlicher adliger Hausüberlieferung, die nach dem Gründerheros […] oder den Hausheiligen fragt, allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: Maximilians gedechtnus löst jene Überlieferung aus dem Umkreis des ‚Hauses‘ heraus, indem sie die verschiedenen Hausüberlieferungen […] kollationiert und systematisiert. Ausdrücklich kümmert sich der Weißkunig nicht mehr nur um die eigenen Ahnen, sondern die gedechtnus von kunigen insgesamt, gerade auch um nahezu ‚zerbrochene‘.“47

Das Ambraser Heldenbuch stellt den Versuch dar, Fiktionales und Historisches, memoria und historia, die eigene Geschichte und sagenhafte Geschichten miteinander zu verbinden. Gerade die Gattung Heldenepik bietet sich dafür an, werden die dazu zählenden Werke im Mittelalter doch als geschichtliche Überlieferung, ihre Gestalten als historische Persönlichkeiten betrachtet. „Der Glaube an die Tatsachenwahrheit der alten mæren wird dabei so lange nicht zum Problem, als ihre normative Geltung feststeht.“48 Auf diese Tatsachenwahrheit richtet sich im 15. Jahrhundert das Interesse in höfischer und heroischer Epik. Die Geltungen der überlieferten Erzählungen werden in Frage gestellt, ihre Normen problematisiert. Man versucht z.B. das Grab Siegfrieds zu finden oder die Rüstung König Laurins – die Wahrheit soll durch Augenschein bewiesen werden:

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fende Rolle an diesem gigantischen Projekt zu. Im Zentrum des Mittelteils bzw. an der Spitze des Stammbaums thront Maximilian selbst, unter seinen Ahnen findet sich (linkes Seitenportal, neben Odoaker als König Italiens) Dietrich von Bern, vgl. Müller, Jan-Dirk: Art. „Kaiser Maximilian I.“, VL 6 (1987) [1987 a], Sp. 223-226; vgl. auch Schauerte, Thomas Ulrich (2001). Dietrich von Bern findet sich auch unter den Bronzefiguren (1513), die in der geplanten Grabkirche dem toten Herrscher das letzte Geleit geben sollten (das Standbild steht heute in der Hofkirche von Innsbruck), vgl. Heinzle, Joachim (1999), S. 31. Vgl. Müller, Jan-Dirk (1982), S. 87. Ebd. S. 88. Ebd. S. 190.

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„Heldenepik ist nicht mehr wie im Frühmittelalter selbstverständliches Medium von Geschichtsüberlieferung und -erfahrung für eine illiterate Kriegergesellschaft, sondern eine mittels mehr oder minder expliziter Regeln und Darstellungstechniken nachahmbare Kunstform zur Mythisierung der res gestae großer Herren.“49

Wo der historische Beweis fehlt, wird die Geltung problematisch; durch genealogische Einbindung der (aus moderner Sicht) literarischen Gestalten in die eigene Hausüberlieferung kann der Gehalt der Geschichten jedoch beglaubigt werden. Indem die heroische (und höfische) Epik als memoria der eigenen Vergangenheit gelesen wird, wird sie genealogisch auf die Gegenwart bezogen und damit für die Zukunft gesichert.50 Auch Maximilian fasst die Epentradition als dynastisch-genealogisches gedechtnus auf, sein Interesse konzentriert sich vor allem auf die ‚historischen‘ Könige wie Artus und Dietrich von Bern (Theoderich), Siegfried dagegen tritt gegenüber den dynastisch bedeutsamen Vertretern zurück. Im heldenepischen Teil des Ambraser Heldenbuches sind dementsprechend nur Werke mit ‚historischem‘ Hintergrund aufgeführt, aventiurehafte Heldenepik ist scheinbar bewusst ausgeklammert worden.51 Höfische Epik wird in diesem Kontext als histori52 verstanden: „histori ist hier nicht dem Moralisten oder dem unterhaltenden Erzähler überantwortet, sondern dem Hofhistoriographen, der überlieferte Darstellungsmuster zum höheren Ruhm des Fürsten einsetzt.“53

In diesen Zusammenhang ist auch die Kudrun einzuordnen, die vor allem anhand der weit zurückreichenden Genealogie zu Beginn des Werkes (K 1 ff.) auf die königliche Abstammung ihrer Familienmitglieder und die herausgehobene Stellung ihrer Protagonistin Kudrun verweist und damit eine Verbindung zu Maximilians gedechtnus-Projekt herstellt: Sowohl das Ambraser Heldenbuch als auch die Kudrun spiegeln – natürlich auf jeweils unterschiedlichen Ebenen – den Wunsch nach Herrschaftslegitimation, Herrschaftssicherung und memoria des jeweiligen adeligen Geschlechtes wider. In beiden Fällen wird dies über die Diskurse von Genealogie, Familie und Verwandtschaft verhandelt. Bei der folgenden Untersuchung der Kudrun, die sich formal in den Hagen-, den Hilde- und den Kudrun-Teil gliedern54 lässt, wird der Kudrun-Teil 49 50 51 52

Ebd. S. 207. Vgl. ebd. S. 190ff. Vgl. ebd. S. 195ff. Um 1500 gibt es eine sehr breite Bedeutung von histori: histori bezeichnet ein durchgängiges Interesse gegenüber (im modernen Sinn) fiktionalen wie historiographischen und sonstigen erzählenden Texten, deren Themen Tatsachenwahrheit und Belehrung sind; histori ist in den verschiedensten Gattungen zu finden, kann Spiel, Spruch, Exempel, Biographie etc. sein; die literarische Funktion kann differieren und ist abhängig von den jeweiligen Produktions- und Rezeptionskontexten, vgl. Müller, Jan-Dirk (1982), S. 207ff.; vgl. auch Knape, Joachim u. Strobel, Karl (1985). 53 Müller, Jan-Dirk (1982), S. 210. 54 Neben der (dominierenden) Dreiteilung nach den Protagonisten Hagen, Hilde und Kudrun, findet sich in der Forschung seit Hinrich Siefken (1967), S. 42, auch die Vierteilung der Ku-

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nicht isoliert betrachtet (wie in der Forschung leider z.T. üblich geworden), sondern auch die beiden ersten Erzählabschnitte werden in die o.g. Überlegungen einbezogen. Gerade der Hagen-Teil wurde von der opinio communis lange Zeit als unterhaltsame märchenhafte Vorgeschichte gewertet oder lediglich hinsichtlich der Brautwerbungen genauer untersucht.55 Da bereits das Ende dieser Episode den Schluss der Kudrun präludiert, ist die Entwicklung Hagens (und später Hildes) eng mit der Entwicklung der ‚eigentlichen‘ Protagonistin Kudrun verbunden und soll daher in Relation zum Hilde- als auch zum Kudrun-Teil betrachtet werden.

3.2. Der Hagen-Teil Heldenepentypisch bzw. dem Anfang des Nibelungenliedes56 nachgebildet, eröffnet die Kudrun ihre Handlung mit der Vorstellung des Repräsentanten eines alten, adeligen Geschlechts: „Ez wuohs in Irlande ein rîcher künic hêr; geheizen was er Gêr, sîn muoter diu hiez Uote und was ein küniginne. durch ir hôhe tugende sô gezam dem rîchen wol ir minne.“ (K 1,1-4)

Der hier vorgestellte Siegeband erscheint nicht als Eroberer eines fremden Landes oder als Begründer einer neuen Dynastie, sondern er wird in die bereits angestammte Herrscherfamilie der irischen Könige hineingeboren – schon sein Vater Ger und seine Mutter Ute sind ausdrücklich königlichen Geblüts. Auf diese Weise wird die Frage nach der Gründung der Herrschaft und des Ursprungs ihrer Genealogie ausgespart; Herrschaft und Geschlecht werden vielmehr in ihrer Existenz vorausgesetzt, der vorgestellte Held tritt in bereits gesicherte Herrschafts- und Familienstrukturen ein. Siegeband wächst zu einem Mann heran und wird zum Ritter geschlagen: „Er wuohs unz an die stunde, daz er wâfen truoc“ (K 4,1). Seine Ausbildung umfasst alles, was ein Krieger und zukünftiger Thronfolger in „heldes achte“ (K 4,2) erlernen muss, „man unde mâge“ (K 4,3) preisen ihn dafür. Kurze Zeit später stirbt drun analog zu den vier Brautwerbungen Siegeband-Ute; Hagen-Hilde; Hetel-Hilde; Herwig-, Hartmut-, Siegfried-Kudrun. 55 Vgl. z.B. Nolte, Theodor (1985), S. 6; oder Siebert, Andrea (1988), S. 39-80. 56 „Ez wuohs in Burgonden ein vil edel magedîn, / daz in allen landen niht schœners mohte sîn, / Kriemhilt geheizen: si wart ein scœne wîp. /dar umbe muosen degene vil verliesen den lîp.“ (NL 2,1-4); sowie: „Dô wuohs in Niderlanden eins edelen küneges kint, / des vater der hiez Sigemunt, sîn muoter Sigelint, / in einer rîchen bürge wîten wol bekant / nidene bî dem Rîne: diu was ze Santen genant.“ (NL 20,1-4). Das Nibelungenlied wird hier und im Folgenden zitiert nach: Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch. Hrsg. von Helmut de Boor. (= Deutsche Klassiker des Mittelalters). Wiesbaden 1996. Die Handschrift C wird zitiert nach: Das Nibelungenlied nach der Handschrift C. Hrsg. von Ursula Hennig. Tübingen 1977.

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Siegebands Vater, was den Erzähler dazu veranlasst, allgemein auf den vorzeitigen Tod adeliger Herrscher („edelen liuten“, K 5,2) hinzuweisen, der meist zu großer Not führe: urkünde bedeutender Fürstentümer legten davon Zeugnis ab, täglich müsse man mit solcherlei Gefahren rechnen: „jâ erstênt diu urkünde in aller fürsten rîchen, / der wir mit grôzen sorgen müezen warten aller tegelîchen“ (K 5,3f.). Das Problem der Herrschaftssicherung – eines der primären Themen der Kudrun – wird mit diesem Kommentar scheinbar in die gesellschaftliche Realität überführt, jedenfalls wirkt es so, als berichte das Werk quasi ‚aktuell‘ von den täglichen, realen Sorgen und Nöten adeliger Geschlechter. Die Kudrun scheint aus dieser Perspektive selbst eine urkünde, eine histori zu sein: Gesellschaftliche ‚Realität‘ und Literatur fallen zusammen, der heldenepische Text avanciert zum glaubhaften Träger feudaler Memorialkultur. Auch im weiteren Verlauf des Werkes wird immer wieder auf die adelige memoria Bezug genommen: Im Kudrun-Teil beispielsweise – nach der Schlacht am Wülpensand – lassen die Hegelingen ihre toten Verbündeten und Feinde sechs Tage lang begraben. Zum Gedächtnis der Toten (u.a. auch König Hetel) wird außerdem ein Kloster gestiftet (K 916), das von den Verwandten der Gefallenen großzügig finanziert wird. Seelenheil und memoria der Verstorbenen werden damit gleichzeitig gewährleistet: „Alle die ir mâge hêten dâ verlân, die gâben dar ir stiure, wîb unde man, durch willen der sêle, der lîchnam si begruoben. sît wart ez alsô rîche, daz dar dienten wol driu hundert huoben.“ (K 917,1-4)

Nach der Rückkehr von der Schlacht lässt Kudruns Mutter Hilde die Mönche des Klosters mit Nahrung versorgen und stiftet außerdem ein Münster sowie ein Spital, damit die Gottesmänner für die Seelen der Toten beten. Diese Stiftung wird – so berichtet jedenfalls der Erzähler – in vielen anderen Ländern bekannt, sie erlangt unter dem Namen „zem Wülpensande“ (K 950,4) legendären Charakter. Der Ort memorialen Gedenkens bleibt während des ganzen Werkes präsent, so treffen sich später auch die vereinten Heere unter Leitung Wates, Ortwins und Herwigs dort wieder (K 1121ff.), um in einer letzten gemeinsamen Schlacht Kudrun aus der Gewalt der Normannen zu befreien. Folgt man dem Handlungsnexus des Hagen-Teils, schlägt die nun verwitwete Ute ihrem Sohn vor, sich eine adäquate Ehefrau zu suchen (K 7ff.), um die Herrschaft Irlands für die Zukunft zu sichern. Den mütterlichen Rat befolgend, wirbt Siegeband erfolgreich um Ute von Norwegen. Kurz nach der standesgemäßen Hochzeit wird dem Paar ein Sohn geboren, der auf den Namen Hagen getauft wird (K 22). Dieser avanciert zum Protagonisten des ersten Handlungsabschnitts der Kudrun. Wie sein Vater vor ihm bleibt Hagen der einzige Sohn und Nachfolger des irischen Königshauses, auch er kann problemlos – wenn auch mit einer Unterbrechung, wie die Entführungsepisode

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zeigt, – in die bereits bestehende dynastische Tradition eingefügt werden. Der Beginn der Erzählung inszeniert durch die kontinuierliche Abfolge der Generationen – darin der Abfolge von Dietrichs Ahnen in Dietrichs Flucht (DF 1-2518) ähnlich – damit eigentlich keinen Neuansatz, sondern vielmehr eine Art von ‚Beginnlosigkeit‘: „Schon hier deutet sich an, worum es in der Vorgeschichte gehen wird: um die Kontinuität im Zeitverlauf, um eine stabilitas, die über den quasi-institutionellen Mechanismus der Genealogie garantiert zu sein scheint.57

Mit der Geschichte Hagens, die nachfolgend erzählt wird, wird allerdings auch eine „Ursprungs- oder Gründererzählung“58 bzw. ein „Gründungsmythos“59 etabliert, denn auf Hagens Eltern oder Großeltern wird an keiner Stelle des Werkes Bezug genommen60, stattdessen werden Hagens Tochter Hilde und seine Enkelin Kudrun als „Hagenen tohter“ (z.B. K 226,4) bzw. „Hagenen künne“ (z.B. K 614,2), nicht aber als Nachkommen oder Verwandte Siegebands oder Gers bezeichnet: „Die Kudrun erzählt eine Gründungsgeschichte, doch eben nicht eine heroische. Es geht nicht, wie in Gründungsgeschichten sonst meist, um die Anfänge einer Institution oder eines Geschlechts […] sondern um die Bewältigung einer Krise, in der die Legitimationsmuster heroischer Geschlechtermythologie unterzugehen drohen.“61

Diese beiden Befunde scheinen auf den ersten Blick einander zu widersprechen, dennoch ergänzen sich die Überlegungen. Zunächst soll die These überprüft werden, wonach der Hagen-Teil als Gründungsmythos interpretiert wird: Der kleine Hagen wird im Alter von sieben Jahren während eines Hoffestes von einem Greifen entführt (K 55ff.) und auf eine einsame Insel verschleppt. Der Junge trifft dort auf drei Mädchen königlicher Abstammung, die sich des Kindes annehmen und ihm erste Nahrung geben. Hagen befindet sich nun nicht mehr in einer höfischen Feudalwelt, sondern in einer Anderwelt, die mythischen Charakter62 besitzt: Fabeltiere wie Greifen und ein drachenartiger gabilûn63 sowie wilde Tiere hausen dort und stellen lebensgefährliche 57 58 59 60

Kellner, Beate (1999), S. 48. Schmitt, Kerstin (2002), S. 69. Müller, Jan-Dirk (1998), S. 124. Die unikale Bezeichnung Hildes als „daz künne“ (K 212,3) ist lediglich eine Ergänzung von Karl Bartsch. 61 Müller, Jan-Dirk (2004), S. 202. 62 Zum mythischen Denken vgl. die Analysen Ernst Cassirers (91994) in Bezug auf Raum, Zeit, Kausalität, Motivationstypen. Jan-Dirk Müller (2004), S. 197-201, zufolge ist die mittelalterliche Gesellschaft, Kultur und Mentalität zwar von der christlichen Religion dominiert, aber es gibt immer noch Elemente und Strukturen, die mythisch, heterogen und vielschichtig sind. Mythische Elemente erscheinen vor allem in mythischen Erzählungen, wenn auch häufig nur bruchstückhaft oder eingekapselt in andere Erzählungen. Viele dieser mythischen Überbleibsel wirken daher erratisch oder sogar störend. 63 Bei dem gabilûn handelt es sich um ein wunderbares, drachenartiges Tier, vgl. Lexer: Band 1, Sp. 722.

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Gegner dar; Zeit-, Raum- und Kausalitätsstrukturen sind im Vergleich zur höfischen Welt teilweise aufgehoben und erscheinen seltsam fremd. Auch im Nibelungenlied besitzen z.B. mündliche Erzähleinschübe wie Hagens Bericht über Siegfrieds Abenteuer (NL 86-100), Orte wie Brunhilds Isenstein und das Nibelungenreich oder Gegenstände daraus wie z.B. die Tarnkappe, der Hort etc. mythischen Charakter; auch hier gibt es keine raumzeitliche Ordnung, keine klaren Kausalitäten, die Grenzen zwischen Realem und Märchenhaftem, zwischen Hier und Anderswo, Ursache und Folge etc. verschwimmen.64 In der Kudrun ist dies ähnlich, so wird z.B. die Entfernung zwischen Irland und der Greifeninsel nur ungenau angedeutet: Erst liegt die Insel in einem undefinierbaren Nirgendwo (K 59,3), ist dann aber nur drei ‚Flugtage‘ von Irland entfernt („hundert lange mîle“; K 80,4), auf dem Rückweg mit dem Pilgerschiff kann die Distanz dann in siebzehn Tagen überwunden werden (K 137,3). Im Gegensatz zum Nibelungenlied, wo die mythische Welt Schritt für Schritt liquidiert wird und gleichzeitig in der höfischen Welt ihr zerstörerisches Potential entfaltet, nähert sich die mythische Welt in der Kudrun sukzessive der gewöhnlichen Welt an: „Anfangs trägt sie mythische Züge, später ist sie nur noch exotisch.“65 Der kleine Hagen wächst zunächst unter der Obhut der Mädchen heran, doch eines Tages findet er am Strand einen an Land gespülten, toten Kreuzfahrer. Hagen nimmt dessen Waffen und legt sich auch die Rüstung an (K 94), eine nicht zu unterschätzende Leistung für einen unerfahrenen Jungen – wie schwer das Anlegen eines Harnisches sein kann, zeigt der ebenfalls unerfahrene junge Dietleib in Biterolf und Dietleib, wo dieser die Rüstung des Vaters zunächst umständlich und dann verkehrt herum anzieht (BuD 2180ff.). In der Kudrun taucht plötzlich der alte Greif auf und will sich auf den Jungen stürzen (K 90ff.). Im selben Augenblick ‚verwandelt‘ sich Hagen zum Helden: „dô wart der küene in vil guotes heldes mâze funden“ (K 91,4). Trotz seiner schwachen Kräfte („blœder krefte“; K 92,1) und der mangelnden Erfahrung („ siten tumben“; K 93,1) kämpft er furchtlos und verbissen („grimme“; K 93,1); er kann den Gegner besiegen und auch die Greifenjungen töten. Damit ist die Greifenfamilie ausgelöscht, die tägliche Bedrohung, die Hagen und die Mädchen zu einem Leben in der Höhle gezwungen hatte, gehört für immer der Vergangenheit an; nun können (fast wie bei Hofe) Spaziergänge im Sonnenschein unternommen werden (K 95,3f.). Der Erzähler kommentiert Hagens erste Heldentat als „michel wunder“ (K 95,1), die er nur mit Gottes Hilfe bestanden habe, allein aus eigener Kraft wäre er verloren gewesen: „des half im got vom himele; jâ mohte er solher krefte niht gewalten“ (K 94,4). Gottes Hilfe ist insgesamt ein wichtiger Faktor für Hagens Überleben, wie der Erzähler nicht müde wird zu betonen: Nur „wan 64 Vgl. Müller, Jan-Dirk (22005), S. 150ff. 65 Müller, Jan-Dirk (2004), S. 204.

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got ez gebôt“ (K 68,1) überlebt Hagen die Entführung durch den Greifen und die hungrigen Greifenjungen, denen er anfänglich zum Fraß vorgeworfen werden soll; nur weil er vor den Mädchen beteuert, „daz ez ein kristen wære“ (K 76,3), nehmen sie sich überhaupt seiner an; und auch hinter dem späteren Sieg über den gabilûn steht nach Ansicht des Erzählers „gotes meisterschaft“ (K 105,2). Von göttlicher Hilfe berichtet das Nibelungenlied in der Jung-Siegfried-Episode dagegen nichts, lediglich im Hürnen Seyfrid ist Siegfrieds Sieg über den Drachen und die Rettung Kriemhilds mit Gottes Hilfe verbunden66 – offensichtlich ist dies ein Merkmal der späten Heldenepik, denn auch in Wolfdietrichs Drachenkampf wird von göttlicher Hilfe berichtet (Wolfdietrich D 1664ff.). Hagens Bewährung in der Kudrun hat offensichtlich auch Initiationscharakter67, denn nach seinem Kampf bedanken sich „sine frouwen“ (K 95,2) bei ihrem Befreier und küssen ihn (fast zeremoniell) „an den munt“ (K 96,2). Hagen avanciert zum Anführer der Gruppe und erzieht sich nun selbst, weil, wie aus dem Text hervorgeht, seine (männlichen) Verwandten nicht anwesend sind: „jâ zôch er sich selbe; er was aller sîner mâge eine“ (K 98,4). Komplementär dazu werden die drei Mädchen betont unselbstständig und passiv gezeichnet (K 92,4), obwohl sie doch bis zu Hagens Erscheinen allein überlebt hatten und den kleinen Jungen mit Wurzeln und Beeren ernähren und aufziehen konnten (K 81ff.); für weitere ‚Erziehungsmaßnahmen‘ dagegen scheinen sie als Frauen völlig untauglich zu sein. Hagen wächst nach dem Greifenkampf zu einem starken Jüngling heran, der sich die Fähigkeiten der Tiere zum Vorbild nimmt und so geschickt und behände wie „ein pantel wilde“ (K 98,3) durch die Wildnis streift.68 Dort trifft er – ähnlich wie Siegfried im Hürnen Seyfrid – eines Tages auf ein drachenartiges Ungeheuer (gabilûn), das ihn verschlingen will (K 100). Hagen unterzieht sich quasi einer zweiten Initiation: Er kämpft mit dem gabilûn, tötet und häutet das Tier, trinkt das Blut seines Opfers und hüllt sich anschließend in dessen Haut ein (K 101ff.). Durch das Blut des Drachen, dessen Stärke er sich damit einverleibt, „gewan er vil der krefte“ (K 101,4) – eine deutliche Parallele zu Siegfried im Nibelungenlied oder im Hürnen Seyfrid.69 Nach dieser rite de passage erkennt ein wil66 Vgl. Kap. 6.2. 67 Winder McConnell (1988), S. 13, verweist z.B. auf den symbolischen Tod des Helden durch die Entführung, der von den Eltern und dem irischen Hofstaat als realer Tod verstanden wird (K 60,2; 146,2; 68,1); vgl. auch die Beschreibung der einzelnen Phasen von Hagens Initiation ausführlich bei Schmitt, Kerstin (2002), S. 71ff. 68 Auch Siegfried und Gunther werden auf der Jagd (beim Wettlauf ) als „zwei wildiu pantel“ beschrieben (NL 976,3); außerdem ist Siegfrieds Jagdausrüstung/der Köcher mit einem Pantherfell bezogen (NL 953,1). 69 Im Hürnen Seyfrid tötet Siegfried den Drachen und kocht diesen mit anderen kleineren Drachen und Lindwürmern in einem Kessel; er taucht seinen Finger in den Sud und bemerkt, dass dieser huernein und unverwundbar geworden ist, so dass er seinen ganzen Körper (mit Ausnahme der Stelle zwischen den Schulterblättern) damit bestreicht (HS 10,1-11,2). Auch das Nibe-

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der Löwe70 Hagens heroische Potenz sofort an und unterwirft sich dem Heros freiwillig (K 102). Hagen ist nun auch in der Lage, aus einem Felsen Feuer – das Symbol menschlicher Zivilisation – zu schlagen (K 104), so dass Nahrung und vor allem Fleisch gekocht genossen werden kann. Den gehäuteten gabilûn schleppt er zurück zu den Mädchen, das Fleisch wird zubereitet und gemeinsam verzehrt, worauf der Erzähler erneut betont: „Dô si die spîse nuzzen, dô mêrte sich ir kraft“ (K 105,1). Ihre Sinne und ihre Körper werden durch das Fleisch gekräftigt, veredelt und verschönert (K 105,2f.), Hagen erlangt (erst jetzt) die 12-Männer-Stärke und wird von nun an mit dem Epitheton wilde ausgezeichnet: „Ouch hête der wilde Hagen krefte zwelf man“ (K 106,1). Die mythische, gefahrvolle Inselwelt wird von Hagen nicht nur bezwungen, sondern auch ‚zivilisiert‘; das Prinzip des „Kulturheros“71, das Ideal des höfischen Ritters und der Heros des Heldenlebenschemas fallen in Hagen zusammen: „Restitution der Kultur und Heroswerden sind enggeführt.“72 Doch Hagens Übergang vom Jungen zum erwachsenen Mann beginnt nicht erst in der Wildnis, sondern bereits am väterlichen Hof kurz vor seiner Entführung: Der siebenjährige Junge wird aus der Obhut der Frauen entlassen, seine Erziehung von Männern übernommen, er wird nun ausdrücklich von „recken“ erzogen (K 24,1), bei denen er sich lieber aufhält als bei den Frauen, die ihm nun verleidet sind (K 24,3); auch ist er fasziniert von Schwertern und Kämpfen und wenn er Waffen nur sieht, will er diese anlegen (K 25). In allem verfügt Hagen über das nötige Potential eines zukünftigen Helden und Thronfolgers, doch wird seine Entwicklung durch die Entführung (zumindest aus der Sicht der Zurückbleibenden) abrupt unterbrochen; gleichzeitig scheint die genealogisch-dynastische Reihe empfindlich gestört bzw. zum Erliegen gebracht zu sein. An dieser Stelle überlagern sich zwei biographische

lungenlied bzw. Hagen berichtet über Siegfried: „‘einen lintrachen den sluoc des heldes hant. / er badet‘ sich in dem bluote: sîn hût wart hurnîn. / des snîdet in kein wâfen; daz ist dicke worden scîn‘“ (NL 100,2-4). 70 Der Löwe wird im Mittelalter vielfältig gedeutet: Neben seiner dämonischen Konnotation wird er auch positiv (z.B. im Physiologus) als Symbol für Menschwerdung, Tod und Auferstehung Christi interpretiert; beispielsweise wird die Erweckung der totgeborenen Löwenjungen durch den Hauch des Löwenvaters als Symbol bzw. Typus der Auferstehung Christi gedeutet, vgl. Liebl, U.: Art. „Löwe“, LMA 5 (1991), Sp. 2141-2142. Heraldisch gehört der Löwe in die Gruppe der gemeinen, natürlichen Figuren und ist neben dem Adler das am häufigsten vorkommende Tier in der Wappenkunde. Er gilt als Symbol für Kraft und Gewandtheit, ihm wird der Titel des ‚Königs der Tiere‘ zugeschrieben. Der Löwe erscheint oft in der Verbindung mit Herrschenden, z.B. auf königlichen Majestätssiegeln, Grabsteinen oder als Schildhalter. Viele Königs- und Fürstengeschlechter trugen und tragen den Löwen, wahrscheinlich eines der ersten Wappentiere, auf ihren Wappen (z.B. die Staufer, die Welfen [Welf = Welp = junger Löwe; vgl. Heinrich der Löwe.], die Könige von England, Schottland, Böhmen, León, Dänemark, Norwegen etc.), vgl. Filip, V.: Art. „Löwe“, LMA 5 (1991), Sp. 2142. 71 Schmitt, Kerstin (2002), S. 82. 72 Müller, Jan-Dirk (2004), S. 210.

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Muster, zum einen das des höfischen Thronfolgers bzw. Ritters73 und das des Heros74, „und das zweite tritt als Störung des ersten auf.“75 Beide Muster werden in der Kudrun unterschiedlich diskutiert und bewertet, sie können nicht nur miteinander konkurrieren, sondern einander auch ergänzen oder ‚lose‘ nebeneinander montiert werden: Hagen im ersten Teil soll wie Siegfried im Nibelungenlied Held und höfischer Ritter sein – und er ist dank Gottes Hilfe beides. Die Fähigkeiten, die Hagen auf der Insel erwirbt, sind aber nicht allein durch die Allmacht Gottes evoziert oder ‚auf einmal‘ vorhanden, sondern bereits in Hagens feudaladeliger Kindheit vorgezeichnet und lassen sich dort in ihren Anfängen erkennen (s.o.). Doch nach seiner Rückkehr an den Hof des Vaters scheint es, als müsse Hagen in der höfischen Welt seine Qualitäten als Ritter – obwohl er schon Heros ist – erst noch unter Beweis stellen, denn dort heißt es: „Wahsen er begunde bevollen ze einem man. / dô phlag er mit den helden swes man ie began, / daz ritter prüeven solten“ (K 163,1ff.). Hagen soll ausdrücklich lernen, was „helden wol gezam“ (K 165, 1): Ein Jahr und drei Tage dauert die höfische Ausbildung (K 172,4), erst jetzt darf er an der Schwertleite (eine weitere Initiation, nun in einem feudaladeligen Rahmen) teilnehmen und eine der vom Greifen entführten Prinzessinnen, Hilde von Indien, ehelichen. Anschließend wird er feierlich gekrönt (K 179) und Siegeband übergibt seinem Sohn offiziell die Herrschaft über Irland (K 188f.). Jan-Dirk Müller zufolge ist „[d]er Aufenthalt in der Wildnis überschüssig und wird als solcher ausgestellt.“76 Das zentrale Thema der Kudrun sei vielmehr die Verabschiedung eines heroischen Handlungsnexus und eines heroischen Ethos, indem die heroische Position hierfür zunächst stark gemacht werde, um sie dann als korrekturbedürftig darzustellen. Von Anfang an werde im Text die heroische Gewalt durch eine christliche Perspektive77 depotenziert, 73 Im höfischen Ritterideal kommen verschiedene Wertvorstellungen zusammen: Traditionelle Herrenehtik mit den zentralen Begriffen Gerechtigkeit und Freigebigkeit; spezifisch christliche Forderungen (Schutz für Witwen und Waisen, Mitleid mit Besiegten usw.); allgemeine Tugendwerte (Weisheit, Beständigkeit, Tapferkeit usw.). „Alles zusammen wurde auf den neuen Wertbegriff der höfischen Liebe bezogen, der dem ganzen Entwurf den höfischen Charakter im eigentlichen Sinn verlieh.“ (Bumke, Joachim, 21977, S. 181f.) 74 Züge wie die Verabsolutierung des Ehrgedankens, die triuwe zwischen Herr und Gefolgsmann, die Unbedingtheit des Rachegebots, übermuot und zorn, die Aristie des Helden im selbstgewählten Tod etc. sind als grundsätzliche Charakteristika des Helden zu bestimmen, vgl. grundlegend dazu See, Klaus von (1978), S. 1-38. 75 Müller, Jan-Dirk (2004), S. 205. 76 Ebd. S. 205. 77 Die christliche Perspektive der Kudrun war immer wieder Gegenstand von Forschungsdiskussionen. In der jüngsten Forschung wird eine christliche Tendenz zwar wahrgenommen, um dann aber doch negiert zu werden: Christliche Motive oder Erzählmuster seien keine Indizien für eine christliche Konzeption, da „religiöse Inhalte und Sinnpotentiale nicht automatisch übernommen werden.“ (Schmitt, Kerstin, 2001, S. 174). Ich schließe mich dagegen der Position Jan-Dirk Müllers (2004), S. 216f., an, der für die Kudrun sowohl eine christliche wie auch eine

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der heroischen Perspektive damit entgegengesteuert: Schon bei Hagens Entführung herrscht trotz der Klagen der Zurückgebliebenen Zuversicht über die Wiederherstellung der zerstörten Ordnung: „ez müeze sich verenden, als got von himile gebôt“ (K 62,4).78 Doch die heroische, überdeterminierte Potenz Hagens bricht immer wieder hervor, was zu Konflikten – wie z.B. bei Hagens Rückkehr auf dem Pilgerschiff – führen kann. Nachdem Hagen von seiner Entführung und dem Kampf mit dem Greifen berichtet hat, fürchten sich die Leute des Grafen von Garadie vor dem übermäßig starken „kint“ (K 128,1) und wollen ihn entwaffnen, was Hagen jedoch „zorniclîche“ (K 128,4) vereiteln kann. Der Graf versucht, nachdem er erfahren hat, dass Hagen der Sohn eines ehemaligen Feindes ist, den jungen Mann als Geisel zu nehmen. Dieser reagiert auf die Drohung zunächst diplomatisch, beteuert, keine Schuld an der Fehde der Eltern-Generation zu haben und verspricht, den Grafen mit seinem Vater Siegeband zu „versüenen“ (K 131,1), wenn dieser ihn nur nach Hause bringe (K 131). Der Graf zeigt sich davon völlig unbeeindruckt und will ihn gefangen nehmen, doch Hagen mit seinen gewaltigen Kräften wirft 30 Pilger ins Wasser und hätte in seinem rasenden Zorn auch den Grafen getötet, wenn die Mädchen ihn nicht davon abgehalten hätten (K 136). Da die Pilger „muosten fürhten des jungen Hagenen zorn“ (K 137,2), befolgen sie nun den Befehl Hagens und segeln nach Irland. Dort angekommen, vermittelt Hagen zwischen dem Grafen und seinem Vater, der Frieden wird durch einen Friedenskuss besiegelt (K 158ff.). Auch später bleibt Hagens heroische Kraft präsent, er trägt als Herrscher nicht umsonst den Beinamen „vâlant aller kunige“ (K 168,2 ), doch wirkt seine überragende Potenz in der Rolle des Herrschers domestiziert: Hagen entwickelt sich zu einem überaus strengen und Furcht einflößenden, aber gerechten König und obersten Richter (K 194ff.). In Gänze gesehen verhandelt der Hagen-Teil – wie auch später der Hildeund der Kudrun-Teil – die Frage nach der Legitimität adeliger Herrschaft und zeigt dabei verschiedene Strategien, Bedingungen und Möglichkeiten ihrer Rechtfertigung. Die Figur Hagens fungiert dabei als genealogische Zäsur bzw. als Schnittstelle zweier genealogischer Perspektiven, die einander ergänzen. Betrachtet man Hagen als Deszendenten, d.h. als Thronfolger und Sohn bzw. Enkel Siegebands und Gers, scheint die genealogische Linie – deren Ursprung höfische Komponente konstatiert: Das Werk sei vielmehr ganz selbstverständlich von christlichen Gesten innerhalb einer christlichen Kriegergesellschaft gezeichnet. Ähnliches konstatiert Müller, Jan-Dirk (1998), S. 197ff., auch für das Nibelungenlied: Es lasse sich weder die Christianisierung der mittelalterlichen Laiengesellschaft bestreiten, noch könne man einen geschlossenen, homogenen christlichen Verständnishorizont um 1200 annehmen. Die nibelungische Welt sei so selbstverständlich christlich, dass dies gar nicht eigens erwähnt werden müsse; z.B. kirchliche Riten etc. hätten ihren festen Platz im Ablauf des höfischen Lebens. Im Nibelungenlied würden zwar christliche Deutungsmuster eingesetzt, aber diese dienten nicht der Polarisierung einer christlichen bzw. heidnischen Welt, sondern sie sollten unverständliches Geschehen erklären helfen. 78 Vgl. Müller, Jan-Dirk (2004), S. 206.

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nicht thematisiert und damit eine Beginnlosigkeit evoziert wird – einer linearen Konstruktion zu entsprechen, die völlig unproblematisch von Generation zu Generation schreitet. Hagen wäre dann ein weiteres Glied einer gleichmäßig verlaufenden Kette von Herrschern und Nachkommen. Zugleich ergibt sich aus der Beginnlosigkeit eine quasi ‚ahistorische‘ Zeittiefe, die Kontinuität und Legitimation versinnbildlicht. Betrachtet man Hagen dagegen aus der Perspektive seiner Enkelin Kudrun, so avanciert der vâlant aller kunige zum mythischen Gründungsheros und ‚Spitzenahn‘ (Aszendenten) der irischen Dynastie, die Vorgeschichte seiner Eltern und Großeltern erweist sich dann ‚lediglich‘ als passender Rahmen und zusätzlich legitimierendes Element. Die lineare Sukzession wird damit durch ein zyklisches Element ergänzt, „da sich die Genealogie im Einzelnen jeweils verjüngen kann“.79 Gemäß dem genealogischen Denken des Mittelalters verkörpern Hagen, seine Tochter Hilde und seine Enkelin Kudrun zugleich „‘Gegenwart von Gegenwärtigem‘ (praesens de praesentibus) [...] und ‚Gegenwart von Vergangenem‘ (memoria), da der einzelne innerhalb der Sippe gewissermaßen ein Bild seiner Vorfahren darstellt. Gerade diese Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart zwischen den einzelnen Gliedern der Genealogie gewährleistet die Kontinuität der Reihe.“80

Das Besondere an der Kudrun ist, dass Hilde und Kudrun, also zwei Frauen, die Legitimität der Herrschaft, die Kontinuität bzw. Lückenlosigkeit der Amtsnachfolge sowie das dahinter stehende Prinzip der surrogatio – Identität statt Wechsel bzw. Beständigkeit trotz personaler Vergänglichkeit – fortführen, wenn auch unter modifizierten Bedingungen im Verhältnis zu ihrem ‚Spitzenahn‘ Hagen. Die Inszenierung der lückenlosen genealogischen Reihe wird zusätzlich auch auf sprachlicher Ebene bzw. durch die Namen der Mitglieder des Verwandtschaftsverbandes vollzogen: In der mittelalterlichen Sprachtheorie spielen genealogische Prinzipien eine maßgebliche Rolle. Howard Bloch zufolge erscheint Genealogie als Modell der Sprache und Sprache wiederum als Modell der Genealogie, und so lassen sich auch innerhalb von Texten quasi verwandtschaftliche Zusammengehörigkeiten und Ähnlichkeiten z.B. auf der Ebene der Signifikanten bzw. Namen ausmachen.81 In der Kudrun wird der verwandtschaftliche Zusammenhang vor allem durch die stabenden Namen gewährleistet, die mit dem Konsonanten „H“ [+ Vokal] bzw. mit dem Hauchlaut beginnen: Hagen heiratet Hilde (ihre Gefährtin Hildeburg wird später Hildes, dann Kudruns Begleiterin) und ihre gemeinsame Tochter wird ebenfalls Hilde genannt. Hilde ehelicht Hetel von Hegelingen (ein weiterer Verwandter heißt Horand), ihre Tochter erhält den Namen Kudrun 79 Kellner, Beate (1999), S. 50. 80 Ebd. S. 51. 81 Vgl. dazu Bloch, Howard (1983), S. 30-63; sowie Kellner, Beate (2004), S. 33ff.

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bzw. Chautrun – dem entspricht der Reibelaut [x], der später zu wird. Damit steht Kudrun etwas außerhalb dieser Beziehungen, ihr Bruder Ortwin (der später Hartmuts Schwester Ortrun heiratet) fällt mit dem Initialbuchstaben „O“, einem Vokal, vollständig aus dieser Systematik heraus; möglicherweise signalisieren die Abweichungen jedoch den Beginn einer neuen genealogischen Reihe. Entsprechend weichen auch die Namen der Gegner (wie Gerlind und Ludwig) von diesem Schema ab und stellen eine signifikante Opposition zu Hagens Nachkommen dar. Die Regeln der Sprache und der gesellschaftlichen Organisation stehen zwar nicht in einem eindeutigen Kausalitätsverhältnis, besitzen dennoch häufig eine funktionale Relation: Mit dem Namen Siegfried (Kudruns erstem Werber) z.B. wird von Anfang an suggeriert, dass dieser nicht nur aufgrund seiner dunklen Hautfarbe und seiner Religionszugehörigkeit82, sondern auch aufgrund seines ‚unpassenden‘ Namens als Ehemann Kudruns nicht in Frage kommt. Er darf aber später Herwigs (namenlose) Schwester ehelichen, so dass eine verwandtschaftliche Verbindung doch noch ermöglicht wird. Kudruns weitere Werber Hartmut und Herwig dagegen fügen sich perfekt in das Namensschema der Hegelingen ein und es wundert nicht, dass Kudrun beide als potentielle Heiratskandidaten betrachtet. Auch Hartmut wird am Ende mit den Hegelingen verwandtschaftlich verbunden, indem er zum Zeichen der Versöhnung mit Kudruns treuer Gefährtin Hildeburg verheiratet wird: Hildeburg ist zwar keine Blutsverwandte, aber zumindest ein Mitglied der familia; seit ihrer Rettung auf der Greifeninsel durch Hagen gehört sie dem Verwandtschaftsverband der Iren und später dem der Hegelingen an. Hellmut Rosenfeld stellte in den 1960er Jahren die Vermutung auf, dass die Figur und damit auch der Name Kudrun als Gegenentwurf zur Kriemhild des Nibelungenliedes gewählt worden sei und an Gudrun, die Schwester der Burgundenkönige „niederfränkischer Gunther-Gudrunlieder“ erinnern solle, wo Gudrun noch nicht die Gattenrächerin sei, sondern die „unschuldig leidende“.83 Auch in der nordischen Überlieferung der Nibelungensage, in der 82 Siegfried von Morland (= Mohrenland , Arabien o.Ä. ) ist ausdrücklich kein Christ, sondern ein Heide (K 705,1). Seine dunkle Haut (K 583,3) ist Zeichen für diese Ausgrenzung. Die dunkle Haut ist häufig ein Merkmal in der mittelalterlichen Literatur zur Kennzeichnung des Fremden. Haymes spricht in diesem Zusammenhang vom Modell des „dark-hero“, vgl. Haymes, Edward (1986), S. 80; sowie Brinker-von der Heyde, Claudia (1999), S. 114. Als strahlender Bräutigam von Herwigs Schwester ‚mutiert‘ Siegfried am Ende erstaunlicherweise zu einem Mann mit der hellen Hautfarbe eines Christen und mit goldenem Haar. Auch wird erwähnt, dass seine Eltern verschiedenen Völkern bzw. Religionen entstammten, evtl. ist ein Elternteil sogar christlicher Konfession, das suggeriert der Text jedenfalls an dieser Stelle: „Sîn vater und sîn muoter diu wâren niht enein. / sîn varwe kristenlîche an dem helde schein. / sîn hâr lag ûf dem houbte als ein golt gespunnen.“ (K 1664,1-3) 83 Rosenfeld, Hellmut (1966), S. 259: „Der Name Chûtrûn in der Kudrun von a. 1233 wurde also wohl aus literarischer Absicht, und um die Aufmerksamkeit des Publikums auf die leidende Siegfriedwitwe der Gunther-Gudrun-Lieder zu wenden, gebraucht [...].“

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Edda und der Völsungensaga heißt Kriemhild Gudrun, in beiden Werken tötet Gudrun nicht ihre Brüder, sondern den goldgierigen Atli und ihre gemeinsamen Söhne. Die Thidrekssaga, die ebenfalls den deutschen Namen Grimhild für Kriemhild verwendet, entspricht dagegen wiederum der ‚Brudermörderin‘ Kriemhild aus dem Nibelungenlied.84 Vielleicht soll mit Kudruns Namen85 tatsächlich auf die Gudrun der Nibelungensage angespielt werden (im Rahmen der „Kriemhild-Diskussion“), vielleicht soll ihr Name aber auch einen Neuanfang markieren, der zwar noch Ähnlichkeit mit der vorhergehenden Namenslinie hat (symbolisiert auch durch ihren Mann Herwig), aber gleichzeitig auf Veränderungen hinweist.

3.3. Der Hilde-Teil Hagen und Hilde wird eine Tochter geboren, die ebenfalls den Namen Hilde erhält (K 197); „daz kint“ wird sorgfältig erzogen von „edele[n] frouwen“ und „sîne[n] mâge[n]“ (K 198), denen der Vater am meisten vertraut. Nach nur „zwelf jâren“ ist Hilde zu einer Schönheit herangewachsen, „edele fürsten“ hören die Kunde von der berühmten Prinzessin, doch Hagen will seine Tochter keinem geben, „der swacher danne er wære“ (K 201,3), und lässt mehr als zwanzig Boten aufhängen. Der Heros avanciert nun – gemäß dem Brautwerbungsschema – zum eifersüchtigen Brautvater.86 An dieser Stelle erfolgt ein Wechsel der genealogischen Linie: Hetel von Hegelingen, der zukünftige Ehemann Hildes, wird in das Werk eingeführt. He84 Vgl. Die Edda. Götterdichtung, Spruchweisheit und Heldengesänge der Germanen. Übertragen von Felix Genzmer, eingeleitet von Kurt Schier. Köln 1987; Die Geschichte Thidreks von Bern. Übertragen von Fine Erichsen. Darmstadt 1967; Nordische Nibelungen. Die Sagas von den Völsungen, von Ragnar Lodbrok und Hrolf Kraki. Hrsg. und mit einem Nachwort von Ulf Diederichs. Köln 1985. 85 Elisabeth Lienert und Sonja Kerth (2000) [2000 b], S. 108, verstehen dagegen die Kudrun als „Fremdkörper in der späten Heldendichtung“, daher seien auch die Namensparallelen „völlig unklar“. 86 Das Brautwerbungs-Thema kommt in zahlreichen Epen, Romanen und Erzählungen vor. Die Forschung hat sich auf die Erzählschemata in den sog. ‚Spielmannsepen‘ und in der Heldenepik konzentriert, da die beobachtete Schematik als Verweis auf mündliche Tradition, Altertümlichkeit und eine bestimmte literaturproduzierende Schicht (‚Spielmann‘) angesehen wurde. Als ‚Brautwerbungsepen‘ im engeren Sinn gelten die ‚Spielmannsepen‘ (Oswald, Orendel, König Rother, Salman und Morolf, auch Dukus Horant), aus der Heldendichtung Kudrun, Ortnit, Wolfdietrich B und D. Am Rande werden auch das Nibelungenlied und der Tristan in seinen verschiedenen Ausprägungen unter diesem Gesichtspunkt betrachtet. Die Erzählschemata sind häufig z.B. durch bestimmte Motive (z. B. Beratung, Liebe vom Hörensagen, Botensendung, Kemenatenszene, Entführung durch List oder Gewalt, Verfolgung, Schlacht) und feste sprachliche Formulierungen (z.B. râten, daz er wîp neme; si ist gesezzen über sê) typisiert, der Erzähler kann mit den dadurch geweckten Erwartungen des Publikums spielen, vgl. Mertens, V.: Art. „Brautwerberepos“, LMA 2 (1983), Sp. 592-593; vgl. ausführlich dazu Schmid-Cadalbert, Christian (1985), S. 40-100; sowie Kuhn, Hugo (1980) [1973], S. 12-35 und S. 179-180.

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tel wird, weil er eine „weise“ (K 209,1) ist, von seinem Verwandten87 („mâge“, „künne“; K 205) Wate von Sturmland erzogen. Der alte Krieger, der damit die Position des Pflegevaters einnimmt, lehrt den jungen König „alle tugende; er liez in ûz der huote niht entwîchen“ (K 205,4). Als Hetel zu einem Mann herangewachsen ist, beschließt er, sich eine Frau zu suchen (K 2091f.). Der Erzähler betont, dass der junge König, obwohl er viele vriunde besitzt, sich danach sehnt, eine eigene (Kern-)Familie zu gründen (K 209,4). Das verwandtschaftliche Netz, das ihn umgibt, ist weit gespannt: Nicht nur sein Erzieher Wate, sondern auch der alte Frute und der junge Horant (Wates Neffe, sein „swester kint“; K 206 88) sowie Morung und Irolt gehören zu seinen nächsten Verwandten. Gerade weil der junge Hegelingenkönig nicht nur über viele Länder herrscht, sondern auch viele Verwandte hat, gilt er als einflussreich und mächtig: „Hetele der was rîche und hête vil der mâge“ (K 208,3). Hetel will um Hagens Tochter Hilde werben, worauf der alte Frute eine List ersinnt, nach der Wate, Horant und Frute nach Irland reisen, sich dort als Kaufleute ausgeben und so tun sollen, als seien sie von Hetel vertrieben worden. Ein Schiff wird gerüstet und eine ganze Kriegerschar darin verborgen (K 248ff.); man bricht nach Irland auf, Hetel bleibt jedoch in Hegelingen zurück. Die List gelingt, die drei Männer werden an Hagens Hof freundlich aufgenommen. Vor allem Wate, der sich als exzellenter Kämpfer erweist und Hagen in einem freundschaftlichen Zweikampf besiegt (K 362ff.), aber auch Horant, der mit seinem Gesang besonders die junge Hilde entzückt, erregen die allgemeine Aufmerksamkeit. Heimlich bittet Hilde den Sänger, dass er für sie in ihrer Kemenate singen möge. Dort berichtet Horant von Hetels Werbung und erwähnt dabei geschickt, dass sein Herr ein Meister der Musik sei und noch viel schöner singen könne als er selbst (K 406). Die Königstochter zeigt sich mit der Werbung einverstanden (K 407). Ein Kämmerer Hildes 87 künne, mâge und vriunde (in der Bedeutung ‚Verwandte‘) werden in der Kudrun häufig synonym gebraucht. Dabei wird nicht zwischen mütterlichen oder väterlichen Verwandten unterschieden, vgl. dazu Rasmussen, Ann Marie (1997), S. 97.: „The phrase ‚Kudrun‘s relatives‘ (Kûdrûnen mâge) does not distinguish between cognate and agnate descent.“ Vgl. z.B. auch die folgenden Übersetzungen: „künne“ (K 7,3): Familie, Sippe (allgemein); „künne“ (K 23,2): Ahnen oder Vorfahren; „künne“ (K 272,4): Verwandte allgemein; „friunde“ (K 8,2): Verwandte allgemein; ebenso K 60,1; K 177,4 oder K 534,3: Hilde nennt ihren Vater Hagen „mînen besten friunt“; „mâge“ (K 8,4): Verwandte allgemein, ebenso z.B. „mâge“ (K 18,4): Verwandte allgemein; Ute bezeichnet mit „mâge“ (K 34,3) ihre Herkunftsfamilie; Siegeband nennt seine Verwandten und die seiner Frau „mîne und iuwer mâgen“ (K 35,4). 88 Horants Mutter ist an anderer Stelle aber auch Hetels „swester“ (K 1112,3): Horant ist damit Hetels Neffe und Kudruns Cousin. Daraus resultierend müssten allerdings auch Wate und Hetel Brüder sein – diese Konstellation wird von der Forschung als Fehler oder Ungenauigkeit des Textes gewertet, vgl. Rasmussen, Ann Marie (1997), S. 100, Anm. 17. Ob eine Inkohärenz an dieser Stelle vorliegt oder nicht, kann hier nicht entschieden werden; ausschlaggebend hingegen ist das offensichtliche Bemühen des Textes, das Verhältnis zwischen dem Herrscher und seinen Gefolgsleuten auch durch verwandtschaftliche Bindungen zu stabilisieren. Zu den genauen Verwandtschaftsverhältnissen und Bezeichnungen vgl. Kap. 9.1. der vorliegenden Arbeit.

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Der Hilde-Teil

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unterbricht die heimliche Audienz: Wie sich herausstellt, sind sein Vater und Horants Mutter Geschwister, damit erweisen sich Horant, Morung und der Kämmerer als „neven“ (K 419,1). Hetels Männer nehmen das Risiko in Kauf und weihen den Kämmerer in ihren Plan ein, Hilde mit deren Einverständnis (K 405) nach Hegelingen entführen zu wollen. Der Kämmerer befindet sich nun – wie Rüdiger im Nibelungenlied89 – in einem Zwiespalt: Einerseits will er seinen Verwandten helfen, andererseits ist er durch die triuwe zu seinem Herren Hagen verpflichtet (K 415ff.), der ihn und seine Familie nach der Vertreibung durch die Hegelingen vor vielen Jahren bei sich aufgenommen hatte. Im Gegensatz zu Rüdiger im Nibelungenlied entscheidet er sich jedoch für die verwandtschaftliche Seite und verspricht, die Hegelingen in ihrem Plan zu unterstützen (417ff.). Die Entführung gelingt, und Hetel kann Hilde wenig später mit ihren Hofdamen – darunter auch die treue Hildeburg, die bereits ihrer Mutter gedient hatte (K 484f.) und nun zum zweiten Mal den Personenverband wechseln muss – in Hegelingen begrüßen. Doch der Brautvater Hagen hat in der Zwischenzeit seine Schiffe gerüstet und setzt den Entführern nach; es kommt zu einem schweren Kampf zwischen Irländern und Hegelingen, und Hilde bereut kurzfristig ihre Entführung: „ir reise mit den gesten hêt die schœnen Hilden vil sêre gerouwen“ (K 499,4). Hetel kämpft mit seinem Schwiegervater in spe, anschließend tritt Wate gegen Hagen an, wobei der Erzähler wiederholt darauf hinweist, dass die „hetelen mâgen“ (K 507,3) einander im Kampf unterstützen. Als Hagen dem alten Kämpfer zu unterliegen droht, ruft die verängstigte Hilde voller Sorge ihren Bräutigam an, er möge den Kampf beenden lassen (K 521). Hetel unterbreitet ein Friedensangebot: „‘durch iuwer selbes êre / lât sich den haz verenden, daz unser friunde niht sterben mêre‘“ (K 522,3f.). Hagen willigt ein. Hetel bittet nun Hagen persönlich um die Hand seiner Tochter, und dieser zeigt sich einverstanden, weil Hetel mit Kühnheit und Klugheit um sie geworben und sich damit als würdiger Ehemann und Herrscher ausgezeichnet habe (K 528). Daraufhin bittet Hilde den heilkundigen Wate – der seine Künste bei einer Heilerin erlernt hatte (K 529) – die Wunden des Vaters und anderer Verletzter zu versorgen. Doch der alte Krieger weigert sich, solange Hetel und Hagen nicht offiziell eine suone verkünden ließen, würde er keine Hilfe leisten. Wie es scheint, gilt die suone in erster Linie Hagen und Hilde: Man bittet den Vater, sich mit der Tochter zu versöhnen, wobei Hagen nicht erst überredet werden muss: „‘Ich will sie sehen gerne, swie si habe getan‘“ (K 536,1). Hil89 Rüdiger muss sich zwischen seinem Herren Etzel und seinen burgundischen Verwandten (Gieselher wird auf der Reise ins Hunnenland mit Rüdigers Tochter verlobt, NL 1650ff.) entscheiden: Im Gegensatz zum Kämmerer in der Kudrun votiert er schweren Herzens für die herrschaftliche Seite; Gernot und Rüdiger töten einander schließlich gegenseitig im Kampf (NL 2135ff.).

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de dagegen zeigt sich aufgrund ihres schlechten Gewissens zunächst zurückhaltend, doch ihr Vater läuft ihr entgegen und begrüßt sie herzlich (K 538); hiermit ist die suone90 besiegelt. Erst jetzt kümmert sich Wate um die Wunden von Hagen, Hetel und den übrigen Kriegern und wird dafür als großer Heiler verehrt (K 541). Gemeinsam kehrt man zu den Hegelingen zurück, Hilde wird zur Königin gekrönt und offiziell mit Hetel vermählt. Der zufriedene Brautvater Hagen bittet Hildeburg beim Abschied, sie möge sich in seiner Abwesenheit um die Tochter kümmern. Hildeburg ist dazu gerne bereit: Da sie schon der alten Hilde auf der Greifeninsel die Treue gehalten habe und sie seitdem „friunde“ (K 556,3) seien, würde sie selbstverständlich auch die junge Hilde in die neue Heimat begleiten und für ihr Wohl sorgen (K 555ff.). Offensichtlich ist dem Verfasser der Kudrun daran gelegen, verwandtschaftliche Kontinuität und Verlässlichkeit trotz des Wechsels in einen neuen Personenverband zu betonen und gleichzeitig dem Wohl eines Familienmitgliedes höchste Priorität zu zollen. Auch als Hagen wieder nach Irland zurückgekehrt ist – er und seine Frau werden ihre Tochter nie wieder sehen, weil der Weg zu weit ist (K 559) – beruhigt er Hilde: Keinem besseren Mann hätte man die Tochter anvertrauen können: „er kunde zuo niemen sîn tohter baz bewenden. / hête er ir noch mêre, er wollte si hin ze Hegelingen senden“ (K 560,3f.). Wie es scheint, hat Hagen in Hetel einen würdigen ‚Nachfolger‘ und Ehemann für seine Tochter gefunden. Nun wird Hetels Herrschaft in den höchsten Tönen gepriesen, einen besseren und erfolgreicheren Herrscher habe man nie erlebt: „der künic was sô biderbe, man gefriesch nie bezzer landes herren“ (K 565,4). Auch wird berichtet, dass er mehr „êre“ als alle anderen „degen[en]“ vor ihm durch seine Herrschaft erreicht hätte (K 572). Um das Glück des Königs zu komplettieren und seine Potenz auch in familiärer Hinsicht zu betonen, werden Hetel und Hilde zwei Kinder geboren: Ortwin und Kudrun. Aus genealogisch-dynastischer Perspektive wird Hagens Geschlecht durch Hetel nicht abgelöst, sondern durch einen ebenso starken und erfolgreichen Verwandtschaftsverband vielmehr aufgefrischt und gestärkt. Bis zum Schluss wird die Präsenz des vâlant aller künige bestehen bleiben und unabdingbaren Bestandteil von Hildes und besonders Kudruns Identität darstellen – gleichzeitig wird mit dem Geschlecht der Hegelingen auch ein Generationenwechsel bzw. eine Verlagerung signalisiert: Hetel ist Hagen ebenbürtig, wenngleich dem König von Hegelingen der überdimensionierte heroisch-mythische Habitus Hagens fehlt. Stattdessen vereint Hetel das Ideal des heroischen Kriegers mit dem des höfischen Ritters sowie mit dem des erfolgreichen Herrschers. Zusätzlich wird seine Regentschaft von seiner Frau Hilde und von seinen engsten Verwandten unterstützt. 90 Vgl. die gescheiterte suone im Nibelungenlied, vgl. Kap. 3.4.2.

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Der Kudrun-Teil

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3.4. Der Kudrun-Teil Von Anfang an steht Kudrun im Mittelpunkt des erzählerischen Interesses. Obwohl auch ihr Bruder Ortwin erwähnt wird, scheint er im Vergleich zu seiner Schwester eher eine Randfigur darzustellen. Beide Kinder werden sorgfältig erzogen: Ortwin wird, wie sein Vater vor ihm, dem alten Wate empfohlen und in Sturmland zu einem starken „degen“ ausgebildet (K 574). Kudrun wird ebenfalls der Obhut ihrer „næhsten mâgen“ (K 575,3) anvertraut, sie wächst in Dänemark – vermutlich bei Horant, dem Herrscher des Landes – zu einer berühmten Schönheit heran. Während bei Ortwin die höfische und kriegerische Erziehung („hôhe tugende“, „er wart ein degene“; K 574,3f.) betont wird, wird Kudruns Heranwachsen lediglich mit dem Potenzieren ihrer Schönheit verbunden. Der Erzähler bemerkt, dass sie darin sowohl ihre Mutter Hilde als auch ihre Großmutter Hilde von Irland überträfe: „Swie schœne waere Hilde, des Hetelen wîp, noch wart michel schœner der Kûdrûnen lîp, oder danne ir ane Hilde dâ her von Irrîche. für ander schœne frouwen lobete man Kûdrûnen tegelîche.“ (K 578,1-4)

„Schönheit ist keine Qualität, die an der Person haftet, sondern sie setzt eine dem Rang gemäße Position voraus.“91 Aus dieser Perspektive betrachtet, wird mit Kudrun eine Figur vorgestellt, die ihre Mutter und Großmutter in jeglicher Hinsicht – nicht nur bezogen auf die Schönheit, sondern auch auf ihre Fähigkeiten – übertreffen wird. Als sie in dem Alter ist, in dem ein Junge bzw. ein Knappe normalerweise den Ritterschlag erhält („Si wuohs ouch in der mâze, daz si wol trüege swert, / ob si ein ritter wære“; K 577,1f.), wird sie wie ihre Mutter vor ihr von vielen potentiellen Heiratskandidaten umworben. Einer der Bewerber ist Siegfried von Morland, von dunkler Hautfarbe und ein Heide (K 583,3; 705,1), dem Kudrun jedoch sichtlich zugetan ist (K 583). Doch der arabische Herrscher wird vom stolzen, standesbewussten Brautvater Hetel abgewiesen: „Hetelen hôchgemüete versagete im sîn kint“ (K 585,1). Drohend zieht Siegfried ab. Nun wirbt Hartmut aus Ormanie (Normandie/ Normannen) auf den Rat seiner Mutter Gerlind hin um die Hegelingentochter, sein Vater Ludwig jedoch ist gegen das Unternehmen: Er erinnert an den alten Hagen und wie es dessen Leuten bei der Verfolgung Hetels ergangen sei. Ludwig befürchtet, dass die stolzen Hegelingen einen Normannenherrscher verschmähen würden: „‘daz volc ist übermüete: Kûdrûnen mâgen sî wir smæhe‘“ (K 593,4). Doch der junge Hartmut lässt sich von den Einwänden des Vaters nicht abhalten, er bricht mit Gastgeschenken und einem stattlichen Tross nach Hegelingen auf. Als er dort seine Werbungsabsichten kund tut, wird er von Hetel und seiner Frau abgewiesen. Während Hetel das 91 Müller, Jan-Dirk (22005), S. 133.

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Werbungsangebot schlichtweg ärgert: „‘der gedinge Hartmuotes müet mich und froun Hilden vil sêre‘“ (K 608,4), begründet Königin Hilde den genauen Grund für die Ablehnung: Ihr Vater Hagen hatte Ludwig von Ormanie einst Burgen und Land zu Lehen gegeben (K 610,2f.), daher würden ihre Verwandten es ihr verübeln, wenn sie durch Ludwig Lehen empfinge, die er von Hagen erhalten habe: „‘diu lêhen næmen übele von Ludewîges hende die mâge mîne‘“ (K 610,4). Unnachgiebig formuliert Hilde gegenüber Hartmuts Boten: „‘Nu saget Hartmuote: si wirt niht sîn wîp‘“ (K 612,1). Auch nach der Entführung Kudruns durch Hartmut betont Hetel wiederholt, dass Kudruns adeliger Rang dem der Normannen weit überlegen sei und eine Heirat für die Hegelingen eine Mesalliance bedeuten würde: „‘wol weste ich daz im lêch, / dem künige ûz Ormanîe, Hagene sîn lant. / dar umbe wære Kûdrûn hin ze im nâch êren niht gewant‘“ (K 819,2ff.). Ebenso wird Kudrun in ihrer Gefangenschaft permanent den ständischen Unterschied sowie die Überlegenheit der Hegelingen und die ihres Ahnen Hagen betonen, die es ihr verbieten – trotz aller Erniedrigungen und Degradierungen – ihren adeligen Status abzulegen und den ständisch inferioren Hartmut zu ehelichen. Von Anfang an ist Kudrun nicht nur Tochter der stolzen Hegelingen, sondern vor allem auch berühmte Nachfahrin des legendären Hagen; sie ist sowohl unter dem Epitheton „Hetelen tohter“ (K 587,3) als auch unter „Hilden tohter“ (594,4) oder „Hagenen künne“ (K 614,2)92 bei jedermann bekannt. Wenig später wirbt auch Herwig von Seeland um die Hegelingentochter, doch wird er wie seine Konkurrenten von Hetel abgewiesen (K 618,4). Auch dieser Werber stellt in Hetels und Hildes Augen keinen ständisch ebenbürtigen Bräutigam dar (K 656). Doch entspricht die Haltung der Eltern durchaus den Vorgaben des Brautwerbungsschemas: In diesem weist der Brautvater zuerst auch den adäquatesten Werber zurück. Die Position des Brautvaters ist hier ersetzt durch die Brauteltern, in dieser Rolle zeigen sie einen ähnlich unnachgiebigen Habitus wie der alte Brautvater Hagen eine Generation zuvor. Doch statt wie dieser alle Bewerber töten zu lassen, wählen Hetel und Hilde eine weniger heroisch-archaische Methode, indem sie den Werbern ihre Ablehnung verbal zu verstehen geben. Nach einigen Jahren kommt Hartmut unerkannt an den Hof der Hegelingen zurück und gibt sich Kudrun heimlich (wie Hetels Boten bei Hilde) zu erkennen. Der Erzähler beschreibt die Tapferkeit, Kühnheit, Freigebigkeit und Schönheit des jungen Mannes, kann es nicht glauben, weshalb Hetel und Hilde diesen tadellosen Werber nicht akzeptieren: „ich weiz wes er en92 Kudrun wird sowohl vor der Entführung als „Hetelen tohter“ (K 587), „Hilden tohter“ (K 594) oder „Hagenen künne“ (K 614) als auch nach der Entführung als solche bezeichnet: „Hilden tohter“ (K 959; 1052), „Hetelen tohter“ (K 1015; 1030), „Hagenen künne“ (K 1270; 1486); vgl. die vollständige Auflistung im Anhang (Kap. 9.1.); vgl. außerdem Rasmussen, Ann Marie (1997), S. 99.

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galt, / daz in versprochen hête diu schœne tohter hêre / Hetelen und froun Hilden“ (K 623,2ff ). Würde nicht der Makel der ständischen Unterlegenheit an Hartmut haften, läge die Vermutung nahe, dass der Normannenprinz den adäquatesten der drei Werber darstellt. Kudrun ist ebenfalls von dem jungen Mann angetan und man wechselt bereits verliebte Blicke (K 624,2). Dennoch rät sie ihm zu fliehen, wenn ihm sein Leben lieb sei: „Si sach in alsô schœnen, daz irir herze riet, / swie sîn bote gehœnet ûz dem lande schiet. / si was im doch genædic der er im herzen gerte“ (K 626,1-3). Nach Hause zurückgekehrt, bereitet sich Hartmut – erneut angestachelt durch seine Mutter Gerlind – auf einen Entführungszug vor. Doch Herwig kommt den Normannen zuvor und fällt mit dreitausend Mann in Hegelingen ein; ein heftiger Kampf entbrennt, bei dem Kudrun den tapferen Krieger – der „âne vorhte“ (K 635,2), stark und hitzig streitet – gebannt beobachtet: „daz hêt si ze ougenweide. / der helt der dûhtes biderbe; daz was beide liebe unde leide“ (K 644,3f.). Schließlich steht Herwig dem Brautvater im Kampf gegenüber und erweist sich bald als ebenbürtige Gegner. Voller Hochachtung spricht er während des Zweikampfes davon, dass diejenigen, die ihm von Herwig aufgrund seines niederen Standes abgeraten hatten (K 656), nicht wüssten, um welchen gewaltigen Krieger es sich handelte: „‘die mir ze einem friunde des recken niht engunden, / die enwisten wer er wære. er houwet durch die tiefen wunden‘“ (K 648,3f.). Durch die Demonstration seiner kriegerisch-heroischen Fähigkeiten kann Herwig den ständischen Makel ausgleichen und sowohl die Brauteltern als auch Kudrun von seinen Qualitäten überzeugen. Kudrun lässt den Kampf abbrechen und willigt mit dem Einverständnis ihrer „næhsten friunde“ (K 658,1) in eine Ehe mit dem König von Seeland ein. Herwigs Familienverhältnisse werden in der Kudrun nur en passant gestreift, scheinbar wird in seinem Fall kein Wert auf eine weit ausgreifende Genealogie gelegt. Lediglich der späte Verweis auf seine (namenlose) Schwester, die Herwig zur Hochzeit mit Siegfried von Morland nicht ausreichend ausstatten kann (K 1654), weil Siegfried Seeland 15 Jahre vorher überfallen hatte, gibt einen kurzen Einblick in den Familienverband und die Herrschaftsverhältnisse. Offensichtlich reicht der überzeugende Habitus Herwigs, sein Entführungsplan und seine ihn unterstützenden Gefolgsleute (3000 Krieger; K 633,1) aus, um den Rangunterschied zu den Hegelingen auszugleichen. Der entscheidende Punkt und Unterschied zu Hartmuts Werbung und Entführung ist jedoch das Einverständnis der Braut und der Brauteltern – ohne dieses hätte Herwig die Hegelingentochter nicht zur Frau erhalten. Mit ihrer Einwilligung stiftet Kudrun bereits an dieser Stelle einen Frieden zwischen den beiden verfeindeten Parteien: „‘daz ich den haz will scheiden vor dir und mînem künne‘“ (K 662,3). Herwig bittet explizit auch die Brauteltern um ihre Zustimmung, worauf Hetel seine Tochter fragt, ob sie Herwig heiraten wolle (K 664). Der Text versucht damit nicht,

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Kudruns Erklärung oder Herwigs Stand anzuzweifeln, sondern die freiwillige Entscheidung der Braut (Konsensprinzip) zu betonen. Die Ehe von Kudrun und Herwig wird geschlossen93, allerdings nicht vollzogen: Kudrun soll bis zu ihrer Krönung zur Vorbereitung auf ihre neuen Aufgaben noch für ein Jahr am Hofe der Eltern bleiben. Währenddessen erfährt Siegfried von Morland von Herwigs und Kudruns Vermählung und überfällt mit einem großen Heer Seeland. Der bedrängte Herwig übermittelt Hetel die Nachricht vom feindlichen Überfall und bittet den Schwiegervater um Unterstützung. Hetel zeigt sich sofort einverstanden; für ihn ist es selbstverständlich, seinen „friunde[n]“ (K 678,2) zu helfen. Dennoch wartet er den Befehl seiner Tochter ab: Kudrun soll entscheiden, was nun geschehen soll (K 680). Diese reagiert entsetzt über das ungewisse Schicksal Herwigs, ihres „lieben manne[s]“ (K 682,3), den Verlust ihrer Untertanen und ihrer Burgen (K 685,3) und bittet den Vater, ihren Ehemann zu unterstützen. In allem zeigt sich Kudrun als vorbildliche und akzeptierte Ehefrau eines Herrschers, so dass Hetel auf ihre Anordnung hin einen Heerzug vorbereitet, um den „friunde[n]“ (K 686,4) seiner Tochter Verwandtschaftshilfe zu leisten. Bereits hier fungiert Kudrun als wichtiges Verbindungsglied zwischen zwei Personenverbänden, ohne dass es – im Gegensatz zum Nibelungenlied – zu triuwe-Konflikten kommt. Hetel zieht ein großes Heer zusammen, darunter seine Verwandten Wate, Horant und Irolt mit ihren Leuten. Auch Ortwin wird zur Unterstützung herbeigeholt, wobei jedoch auffällt, dass Hetel von seinem Sohn Ortwin nur als „ir [Kudruns; G.L.] bruoder“, von Kudrun dagegen im gleichen Satz von „mîn tohter“ (K 689,4) spricht. Auch sonst wird Ortwin lediglich als „der küniginne bruoder“ (K 698,1), niemals aber als Sohn Hetels oder Nachfahre Hagens bezeichnet.94 Betrachtet man Ortwin im Rahmen des Brautwerbungsschemas, so fällt auf, dass ein Bruder in diesem Schema normalerweise nicht vorgesehen ist.95 Doch auch im Nibelungenlied hat Kriemhild nicht nur einen, sondern gleich drei Brüder, die in die Brautwerbung Siegfrieds96 involviert sind, da sie die Rolle des verstorbenen Vaters einnehmen. Ortwin kommt in der Kudrun allerdings weit weniger Bedeutung als den Burgundenbrüdern zu, wie der Handlungsnexus des Werkes noch zeigen wird. Der Grund dafür 93 Die ältere Forschung sah in dieser Zeremonie lediglich eine Verlobung, wohingegen in der neueren Forschung inzwischen weitestgehend Konsens darüber herrscht, dass die zur Eheschließung notwendigen Eide bereits abgelegt wurden. Die Ehe von Kudrun und Herwig trägt demnach Züge der feudalen Muntehe, das Konsensgespräch der Brautleute weist jedoch auch Einflüsse des kirchlichen Konsensprinzips auf, vgl. z.B. Schmitt, Kerstin (2002), S. 149ff. Einzig Thomas Grenzler sieht in dieser Eheschließung keinerlei Züge der feudalen Muntehe, vgl. Grenzler, Thomas (1992), S. 453-467. 94 Vgl. auch Rasmussen, Ann Marie (1997), S. 99, Anm. 16: „Ortwin is, in fact, never once called ‚Hagens‘s kin‘, although as Kudrun‘s brother he clearly is Hagen‘s kin.“ 95 Vgl. hierzu auch Wenzel, Franziska (2005), S. 400. 96 Vgl. hierzu Kuhn, Hugo (1980) [1973], S. 12-35 und S. 179-180.

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ist seine einflussreiche Mutter Hilde, die nach dem Tode Hetels dessen Position im Herrschaftsgefüge einnimmt (s.u.). Im Nibelungenlied ist die Position Dankrats von Anfang an durch Gunther besetzt, der mit seinen Brüdern Gernot und Gieselher die Regierungsgeschäfte führt (NL 4ff.). Kriemhilds Mutter Ute bleibt im Gegensatz zu Hilde eine ‚Schattenfigur‘; von Beginn an hat die Witwe weder auf politische noch auf herrschaftliche oder familiale Entscheidungen einen Einfluss. In jeglicher Hinsicht sind ihre Söhne ihr ‚vorgesetzt‘. Auch Hilde verspricht, Herwig und seine Leute zu unterstützen, indem man alles miteinander teilen wolle: „‘im [Herwig] sol sîn mite geteilet, swaz wir immer mêre gewinnen‘“ (K 691,2). Während Hetel und Herwig mit dem Krieg gegen Siegfried beschäftigt sind, nutzt Hartmut die Gelegenheit und entführt Kudrun. Dazu rät ihm nicht nur sein Vater, sondern vor allem seine Mutter Gerlind, die es nicht verwinden kann, dass ihr Sohn von den Hegelingen zurückgewiesen wurde. Von Anfang an wird sie als „vâlandinne“97 und „tiuvelinne“ (K 738,4) bezeichnet, die von Ehrgeiz und Rachsucht (K 737ff.) getrieben wird. Hartmut schickt Boten zu Kudrun, lässt ihr ausrichten, dass er sie liebe und zur Frau wünsche, doch Kudrun antwortet ihm, dass sie bereits mit Herwig verheiratet sei: „‘er nam mich ze wîbe‘“ (K 770). Diese Bemerkung ignorierend, plündert und brandschatzt Hartmut gemeinsam mit Ludwig die Burg und entführt Kudrun gegen ihren Willen. Starr vor Schreck kann die Verzweifelte nur die Abwesenheit des Vaters beklagen, der sie vor dieser Schande hätte retten können: „Dô redete si niht mêre wan: ‚owê vater min, soltest du daz wissen, daz man die tohter dîn gewalticlîchen füeret hinnen ûz dînem lande, mir armen küniginne geschæhe niht der schade noch diu schande.‘“ (K 797,1-4)

Hilde sendet einen Boten zu Hetel, der auch Herwig über die Entführung informiert. Der junge Ehemann ist zwar bestürzt über das Geschehen, überlässt jedoch alle weiteren Entscheidungen dem mächtigen Hetel und seinen Leuten: Wate schlägt vor, Siegfrieds Leute in einer letzten Schlacht in die Enge zu treiben und ihnen dann ein Friedensangebot zu unterbreiten, damit man gemeinsam die Normannen verfolgen könne (K 827ff.). Der Plan gelingt, die Heerführer schließen eine suone, aus den „vînde[n]“ werden „Hetelen friunde“ (K 877,4). Siegfrieds, Herwigs und Hetels Leute werden nun den Normannen, den neuen vînden, gegenüber gestellt. Am Wülpensande können die Entführer eingeholt werden, eine gewaltige Schlacht beginnt. Herwig kämpft tapfer wie die anderen Helden, doch ist es der Brautvater Hetel, der im Vordergrund der Kämpfe steht, wie der Erzähler betont: „Nâch sînem lieben kin97 Mit diesem Epitheton wird auch Kriemhild im Nibelungenlied bezeichnet (NL 1748,4 u. 2371,4).

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de der küene Hetele streit, / er und sîn gesinde“ (K 871,1f.). Der König ist es auch, der im Zweikampf gegen Ludwig, den König der Normannen, antritt und von diesem erschlagen wird (K 880). Die Hegelingen reagieren entsetzt, vor allem der alte Wate wird vom heroischen Zorn („er begunde limmen“; K 882,2)98 gepackt und wütet unter den Gegnern. Man kämpft solange, bis Horant, der in der hereinbrechenden Dunkelheit Freund und Feind nicht mehr unterscheiden kann, tragischerweise seinen „neven“99 (K 887,1) tötet. Herwig ordnet an, die Kämpfe auf den nächsten Morgen zu vertagen (K 888). Während die hegelingischen Alliierten schlafen, flüchtet das normannische Heer. Der junge Ortwin will den Feinden hinterher setzen (K 902ff.) und wird darin von Wate unterstützt, doch der besonnene Frute erklärt, dass das Heer bereits zu viele Krieger verloren habe und man außerdem die Normannen nicht mehr einholen könne. Er schlägt vor, die Toten (auch die der Feinde) zu begraben100, und nach Hegelingen zurückzukehren (K 904ff.). Dort angekommen, überbringt der alte Wate der Königin die Nachricht von Hetels Tod und der missglückten Rückentführung. Kein anderer wagt es – selbst Ortwin nicht (K  920) – Hilde die Botschaft zu übermitteln, auch Wate tritt Hilde nur „mit vorhten“ (K 921,1) gegenüber. Die Königin trauert so laut – eine Parallele zur trauernden Kriemhild nach Siegfrieds Tod101 – um Mann und Kind, dass „man hôrte den sal erdiezen“ (K 927,3). Ähnlich wie Kriemhild fordert sie Rache, jedoch in erster Linie ihres Kindes wegen: „‘daz ich errochen wurde, swie sô daz geschæhe, / daz ich vil gotes armiu mîne tohter Kûdrûn gesæhe‘“ (K 929,3f.). Kriemhild dagegen setzt für die Rache sogar das Leben ihres Sohnes Ortlieb aufs Spiel102, allerdings nur, weil ihr sowohl 98 zorn und als seine Folge blindwütiges Rasen kennzeichnen den Heros seit dem Aias der homerischen Ilias, vgl. Müller, Jan-Dirk (1998), S. 203ff; vgl. z.B. auch Dietrichs zorn im Rosengarten zu Worms (Ro A 361,1ff.) oder Gunthers gewalttätiges Rasen im finalen Kampf gegen Dietrich im Nibelungenlied: „Gunther was sô sêre erzürnet und ertobt, / wand‘ er nâch starkem leide sîn herzvîent was“ (NL 2358,2f.). 99 Der Kampf mit dem Freund oder Verwandten ist ein verbreitetes Motiv in der Heldenepik, es findet sich beispielsweise im Waltharius, im Nibelungenlied oder im Biterolf und Dietleib (vgl. Kap. 5.1.); vgl. dazu Harms, Wolfgang (1963), S. 18ff. 100 Die Toten werden jedoch separat bestattet: Die arabischen (‚heidnischen‘) Morländer, die Hegelingen und die Normannen erhalten jeweils eigene Grabstätten (K 913). Anschließend stiftet man dort zum Gedenken der Toten ein Kloster (K 915ff.). 101 „Dô begonde Kriemhilt vil harte unmæzlîche klagen“ (NL 1007,4). Kriemhilds Trauer trägt jedoch exzessive Züge: Auch nach der Hochzeit mit Etzel hört man die Königin jeden Morgen um Siegfried weinen und klagen, wie Dietrich berichtet: „‘ich hœre alle morgen weinen unde klagen / mit jâmerlîchen sinnen daz Etzelen wîp / dem rîchen got von himmile des starken Sîfrîdes lîp.‘“ (NL 1730,2-4) 102 Die Szenenfolge um Ortliebs Tod ist in den Handschriften und in der Forschung kontrovers diskutiert worden: In den Hss. B und C wendet sich Kriemhild zunächst an Blödel und überredet ihn, den Tross der Burgunden zu überfallen (NL 1904,1-4 bzw. NL C 1952,1-4). In Hs. B lässt Kriemhild den kleinen Ortlieb vor die Festtafel der Königshalle tragen, an der bereits die Hunnen und Burgunden tafeln („zuo der fürsten tische, dâ ouch Hagene saz“; NL 1913,3). Der Erzähler berichtet, dass sie ihren Sohn als Provokationsobjekt vorführt, um den Kampf zu

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in Worms als auch später an Etzels Hof die nötige familiäre Unterstützung fehlt. Die Hegelingen beschließen, mit der Rückentführung zu warten, bis eine neue Krieger-Generation103 herangewachsen ist, um die Toten und Entführten zu rächen und Kudrun zu befreien. Hilde gibt ihren engsten Gefolgsleuten den Befehl, Vorbereitungen für den Kriegszug zu treffen, sie selbst gibt den Auftrag, zwanzig Schiffe zu diesem Zweck bauen zu lassen (K 944ff.). Hildes Position im Herrschaftsgefüge ist insgesamt betrachtet ungewöhnlich. Bereits zu Lebzeiten Hetels hat sie großen Anteil an der politischen Meinungsfindung: Sie äußert sich kritisch zu den Werbern ihrer Tochter, lehnt diese sogar persönlich ab (s.o.) und vertritt Hetel in dessen Aufgaben während seiner Abwesenheit (K 760ff.; K 788). Nach Hetels Tod übernimmt nicht sein Sohn Ortwin, sondern Hilde die Position des Herrschers von Hegelingen. Sie regiert jedoch nicht als Stellvertreterin ihres unmündigen Sohnes, denn dieser hatte ja bereits an der Schlacht am Wülpensande als erwachsener104 Krieentfachen und damit Siegfrieds Tod zu rächen: „Dô der strît niht anders kunde sîn erhaben / (Kriemhilt ir leit daz alte in ir herzen was begraben), / dô hiez si tragen ze tische den Etzelen sun. / wie kunde ein wîp durch râche immer vreislîcher tuon?“ (NL 1912,1-4). „Indem Kriemhild weiß, das der Frieden längst gebrochen ist – schließlich hat sie ja Bloedelin zum Überfall verleitet –, ist es ein zynisch einkalkuliertes Risiko, den Sohn an den Ort zu schaffen, wo der Ausbruch zu erwarten ist.“ (Müller, Jan-Dirk 22005, S. 35). Als Dankwart mit der Nachricht vom Überfall auf die Burgunden in die Königshalle stürzt, reagiert Hagen auf den Anschlag, indem er Ortlieb den Kopf abschlägt (NL 1961,1-3). Der Erzähler berichtet aber nicht nur von Kriemhilds Schuld, sondern auch von Hagens mörderischem Hass: „des muose daz kint ersterben durch sînen [Hagens] mortlîchen haz“ (NL 1913,4). Bezeichnenderweise ist Kriemhilds Haltung als Mutter in dieser Situation von einem Großteil der Forschung durchweg negativ bewertet worden, die Schuld des eigentlichen Mörders Hagen wurde dagegen kaum wahrgenommen, vgl. z.B. Nagel, Bert (1965), S. 154f. Die Hs. C befreit Kriemhild jedoch von aller bösen Absicht, indem man den Jungen unkommentiert in den Saal tragen lässt („dô wart in den sal getragen zuo den fürsten daz Ezelen kint“; NL C 1963,3-4). Allerdings wird Kriemhild den Tod ihres Sohnes im weiteren Verlauf nicht erwähnen, nur Etzel beklagt gegenüber den Burgunden den Verlust Ortliebs: „‘mîn kint, daz ir mir sluoget und vil der mâge mîn! / vride und suone sol iu vil gar versaget sîn‘“ (NL C 2090,3-4; vgl. auch NL C 2147,3-4). 103 Im Mittelhochdeutschen existiert kein spezieller Ausdruck für ‚Generation‘, Wate formuliert stattdessen: „‘ez kann niht ê geschehen, / die wir dâ hân ze kinden, unz daz wir gesehen, / das si sint swertmæzic, vil manig edel weise‘“ (K 942,1-3). 104 Als man nach vierzehn Jahren zum Rachefeldzug aufbricht, ist Ortwin angeblich noch keine zwanzig Jahre alt (K 1113,3). Diese Altersangabe steht in einem Widerspruch zu seiner Teilnahme am ersten Feldzug. Auch Kudrun wird in ihrer Gefangenschaft häufig daz kint genannt (so z.B. auch am Schluss; K 1644,1). Dem Erzähler liegt offensichtlich daran, die Generationen anhand dieser Altersangaben (trotz des Anachronismus bezüglich des biologischen Alters) zu charakterisieren: Wate bleibt in jedem Teil der ‚Alte‘, Kudrun und Ortwin immer die ‚Jungen‘. Auch Hildeburg behält offensichtlich immer ihr jungendliches Alter und ihre Schönheit; als sie am Ende mit Hartmut verheiratet wird, wird sie nicht als alte Frau (die sie eigentlich sein müsste) dargestellt. Vgl. dazu auch Müller, Jan-Dirk (2004), S. 205: „‘Hildeburc‘ ist also nicht als ein Individuum mit dieser oder jener Biographie aufzufassen. Sie besetzt jedesmal die Position ‚treue Gefährtin‘ (in der Wildnis, in der Fremde, im Exil), und wenn eine solche gebraucht wird, ‚hat sie ihre Zeit‘, ganz gleich, wie viele Lebensjahre man ihr dann zurechnen muss.“

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ger teilgenommen (K 873ff.; K 903). Auch am Ende der Kudrun überträgt Hilde ihrem Sohn nicht die Herrschaft über Hegelingen, sondern übt diese (vermutlich) bis zu ihrem Tod selbst aus. Ortwin dagegen reist am Schluss gemeinsam mit seiner Ehefrau Ortrun nach Nordland, wo er bereits König ist (K 1704). Hilde ist auch diejenige, die nach vierzehn Jahren ihre Gefolgsleute rüsten lässt, die Alliierten zusammenruft und das gewaltige Heer zur Befreiung Kudruns zu den Normannen sendet (K 1075ff.), und sie ist wichtiger Bestandteil in der finalen Versöhnungszeremonie Kudruns: Erst als Hilde Ortrud einen Friedenskuss105 (K 1583) gibt und auch Hartmut (K 1602) verzeiht, ist das Friedensbündnis rechtsgültig, die anschließenden Vermählungen komplettieren den Frieden nachträglich. Die Machtfülle, welche Hilde besitzt, repräsentiert nach Ann Marie Rasmussen ein anachronistisches Gesellschaftsmodell, das auf vergangene Zeiten verweise, in denen adeligen Frauen mehr Macht zugestanden worden sei.106 Auch Jan-Dirk Müller betont (im Kontext des nibelungischen Personenverbandes), dass das Bild einer unverbrüchlich in triuwe handelnden Feudalgesellschaft – die eindrucksvollsten Beispiele liefern die Beziehungen zwischen Hagen und Gunther, Rüdiger und Etzel, Volker und Hagen107 – bereits um 1200 als „archaisch“ gelte, weil es aktuelle ökonomische und politische Strukturen ausblende.108 Gerd Kaiser spricht sogar von einer „rückwärts gewandten Utopie der ‚Kudrun‘, die an Verwandtschafts- und Herrschaftskonzepte des Frühmittelalters anknüpfe.“109 Der Personenverband bzw. das Gesellschaftsmodell der Kudrun im Verhältnis zum Nibelungenlied wird im Kapitel 3.4.2. ausführlicher behandelt.

105 Der öffentliche Kuss eines Königs besaß im Mittelalter Rechtskraft und konnte einen Frieden besiegeln, vgl. dazu Althoff, Gerd (1997) [1997 c], S. 258-281. 106 Vgl. Rasmussen, Ann Marie (1997), S. 103; vgl. auch Anm. 166, Kap. 2.2.4. 107 1. Hagen entscheidet sich für die Bindung an das Königshaus, er handelt als man Gunthers, nicht als mac (NL 898,1) Kriemhilds. 2. Rüdiger steht zwischen der herrschaftlich begründeten Pflicht gegenüber seinem Lehensmann Etzel (und seiner Königin Kriemhild) und der Verbindung an die Verwandten und Gäste. Rüdiger entscheidet sich für seinen Herrn, wobei der Erzähler der Vasallenbindung keineswegs den Vorrang zuspricht (vgl. NL 2154ff.). 3. Die Waffenbrüderschaft von Hagen und Volker besteht zwar nur aus einem informellen Abkommen, einander Beistand zu versprechen (NL 1777f.), dennoch wird sie vom Epos pathetisch gefeiert (wie schon bei Patroklus und Achill in der Ilias oder bei Roland und Oliver im Rolandslied): „Die Waffenbrüderschaft zwischen Hagen und Volker ist im Schlußteil des Epos der idealisierte Gegenentwurf zur Perversion verwandtschaftlicher und zur Katastrophe herrschaftlicher Bindungen. Anders als diese wird sie keinerlei Belastungen ausgesetzt und bewährt sich konfliktfrei bis in den Tod: Am vollkommensten ist vriuntschaft, wo sie sich von allen andersartigen sozialen Bindungen gelöst hat.“ (Müller, Jan-Dirk, 22005, S. 98) 108 Vgl. Müller, Jan-Dirk (1998), S. 159. 109 Kaiser, Gerd (1981), S. 208.

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3.4.1. Die ‚heilige‘ Kudrun? Als die Normannen sich der Heimat Ormanie nähern, macht Ludwig die entführte Kudrun auf ihr künftiges Land aufmerksam. Er wünscht, sie möge Hartmut ihre Liebe schenken. Doch Kudrun zeigt sich ablehnend und argumentiert erneut mit der Unterlegenheit der Normannen. Lieber wolle sie sterben als Hartmut zu heiraten, selbst wenn seine Abstammung vom Vater her es ihm erlauben würde: „Dô sprach diu Hilden tohter: ‚wan lât ir mich ân nôt? ê ich Hartmuoten næme, ich wolte ê wesen tôt. im wære es von dem vater geslaht, daz er mich solte minnen, den lîp wil ich verliesen, ê ich in ze friunde welle gewinnen.‘“ (K 959)

Ludwig reagiert zornig und maßlos, er packt Kudrun und wirft sie über Bord. Dieses Verhalten erinnert an den Habitus des heroischen Helden wie z.B. an den im Kampf wütenden alten Wate, der ebenfalls nicht mit höfischen Damen umzugehen weiß.110 Auch der Erzähler kommentiert (mit einiger Ironie) Ludwigs unhöfisches Verhalten sowie Kudruns spätere Reaktion – nachdem Hartmut sie an ihrem blonden Zopf aus den Fluten gefischt hat: „Ludewîc kunde unsanfte schœner frouwen phlegen. / [...] diu zuht diu was [Kudrun; G.L.] fremde“ (K 962,2). Von Anfang an verhält sich Kudrun gegenüber Ludwig und seiner Frau Gerlind abweisend, nicht aber gegenüber Ortrun, Hartmuts Schwester. Der Empfang am Strand durch Gerlind und Ortrun erinnert überdeutlich an Brunhilds Ankunft in Worms (NL 586ff.): Auch Brunhild wird wie Kudrun durch unlautere Mittel (der Betrug auf Isenstein) von Gunther und Siegfried bezwungen. Während Kriemhild und Ute die fremde Königin aufs Herzlichste (NL 587ff.) begrüßen und Brunhild in der Öffentlichkeit die Rolle der glücklichen Braut mitspielt, weigert sich Kudrun von Anfang an, mit Gerlind ein freundliches Wort oder eine versöhnliche Umarmung zu wechseln: Kudrun küsst zwar Ortrun (K 977), weist aber Gerlind vor dem versammelten Hofstaat schroff zurück: „‘wes gêt ir mir sô nâhen? / wie ich iuch kuste! ir durfet mich niht enphâgen‘“ (K 978,3f.). Ortrun bleibt die Einzige, der Kudrun wohl gesonnen ist, damit stellt der Text 110 Wate wütet nicht nur in zornes sîten im direkten Zweikampf (z.B. K 882,2), er erschlägt auch Frauen und Kinder: Am Hof von Ormanie tötet er nicht nur Hergart (eine der Hofdamen Kudruns; diese hatte eine intime Beziehung zum Mundschenk der Normannen begonnen, um keine Dienstbotenarbeit mehr verrichten zu müssen; K 1528) und Gerlind (K 1523), sondern auch die normannischen Kinder in der Wiege (Irolt kritisiert Wate, will den Kindermord verhindern, doch Wate argumentiert, er müsse die Kinder erschlagen, damit diese – wenn sie groß sind – ihre Verwandten später nicht rächen können; K 1503). Aber Wate hat auch eine andere Seite: Er fungiert als Heiler bzw. Arzt (K 529), ist Erzieher Hetels und später Ortwins und wird als Oberbefehlshaber und erfahrener Stratege anerkannt und geschätzt. Doch seinen heroischen Habitus (vor allem Frauen gegenüber) kann er selbst außerhalb des Kampfes oder in Gegenwart von höfischen Damen nicht ablegen, betrachtet man z.B. sein Verhalten bei der ersten Begegnung mit Hilde (K 343ff.).

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auch an dieser Stelle – im Gegensatz zum Nibelungenlied, wo von Anfang an Öffentlichkeit und Heimlichkeit, Lüge und Wahrheit vermischt werden – die Weichen für ein klares Feindbild, für die Unterscheidung von vriunt und vînt: „man sach si [Kudrun; G.L.] wider niemen wan gên Ortrûnen wol gebâren“ (K 981,4). Diese Sonderstellung, die Kudrun Ortrud von Anfang an gewährt, kommt Gerlinds Tochter am Ende zu Gute; da Ortrun sich immer freundlich gegenüber Kudrun verhalten hat (K 1046), wird sie in der finalen Befreiungsschlacht von der Hegelingentochter vor dem tobenden Wate geschützt. Zunächst versucht Gerlind die stolze Kudrun mit freundlichen Worten zu einer Ehe mit Hartmut zu überreden. Wieder lehnt Kudrun ab, denn sie könne keinen Mann lieben, durch den sie so viele „mâgen“ (K 989,3) verloren habe. Auch als Gerlind verspricht, ihr zum Lohn die eigene Herrschaft zu übertragen („‘wiltu heizen künigîn, ich will dir gerne geben mîne krône‘“ (K 990,4), bleibt Kudrun hartnäckig – ihr einziger Wunsch ist, nach Hause zurückkehren zu dürfen. Gerlind, die von nun an nur noch „tiuvelinne“ (K 996,1), „übele Gêrlint“ (K 1000,1) oder „wülpinne“ (K 10,15) genannt wird, bittet ihren Sohn, sich um die Erziehung Kudruns persönlich kümmern zu dürfen. Nur die erfahrenen Alten, so Gerlind, seien dazu in der Lage, „tumbe[n] kint“ zu erziehen: „‘diu wîsen suln ziehen alsô diu tumben kint. / welt et ir, her Hartmuot, mich si ziehen lâzen, / ich trouwe es wol gefüegen, daz si sich ir hôchvart müeze mâzen‘“ (K 993,2-4). Hartmut befürwortet den Vorschlag seiner Mutter, doch weist er sie ausdrücklich darauf hin, Kudrun ihrem Stand und ihrem Ansehen gemäß sowie mit Güte zu erziehen, denn die Königstochter sei eine Heimatlose und eine Waise111: „‘swie halt mir gelinge, daz ir die maget guot / habet in iuwer zühte nâch ir und iuwern êren. / diu maget ist ellende. frouwe, ir sult si güetlîchen lêren‘“ (K 994,2-4). Das Epitheton ellende, welches nicht nur im Kontext des jungen Hagen in der Wildnis (K 72,4) genannt wird, sondern auch Kriemhilds Status nach Siegfrieds Tod im Nibelungenlied und in der Klage112 beschreibt, bezeichnet von nun an auch Kudruns Trennung von ihrem Personenverband, den Verlust ihres Vaters sowie den ihres sozialen Standes. In der deutschsprachigen Heldenepik wird dieser Zustand des Fremdseins häufig durch die Formel arm ausgedrückt: Kriemhild ist (nach Siegfrieds Tod) ebenso wie die entführte Kudrun „diu arme“ (z.B. NL 1053,1; K 1171,1), wobei arm nicht nur subjektives Empfinden, sondern auch den objektiven Sachverhalt impliziert. Beide sind 111 Hartmut formuliert später gegenüber seiner Mutter: „‘wir mâchten ze weisen Kûdrûn die hêren‘“ (K 1016,3). Der Tod des Vaters reicht offensichtlich aus, dass Kudrun als Waise betrachtet wird. 112 Auch in der Darstellung der Klage („doch tet ir zallen zîten wê, daz sie ellende hiez“; Kl 73) bleibt die tote Kriemhild das, was sie zu Lebzeiten seit Siegfrieds Tod immer schon war: „ein heimatloser weiblicher Fremd-Körper.“ (Bennewitz, Ingrid, 2001, S. 25-36. Hier S. 29). Die Nibelungenklage wird hier und im Folgenden zitiert nach: Die Nibelungenklage. Synoptische Ausgabe aller vier Fassungen. Hrsg. von Joachim Bumke. Berlin/New York 1999.

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nicht nur bedauernswerte, sondern vor allem entrechtete, ihrem sozialen Status enthobene Figuren. Als sichtbares Zeichen dieses Defektes verlieren beide auch ihre viel gerühmte Schönheit113: Kriemhild selbst beklagt den Verlust dieser Tugend (NL 1245), die erst wieder hergestellt wird, als sie Etzels Werbungsangebot angenommen hat. Nun ist ihr Auftreten wieder majestätisch, ihr Aussehen strahlt wie „ûz dem golde“ (NL 1351,1f.). Auch Kudrun verliert in ihrer Gefangenschaft bei den Normannen ihr königliches Äußeres, und dies geschieht eben nicht (nur), weil sie auf Befehl Gerlinds jahrelang niedere Magddienste verrichten muss, schlecht ernährt und dürftig gekleidet wird, sondern weil das Äußere zeichenhaft den ständisch-sozialen Defekt anzeigen soll. Aus diesem Grund wird Kudrun auch nicht von Ortwin und Herwig bei ihrer ersten gemeinsamen Begegnung nach vierzehn Jahren Gefangenschaft erkannt (K 1239,2ff.), wohingegen Kudrun schon bald vermutet, dass Bruder und Ehemann vor ihr stehen (K 1240ff.). Doch bedarf es eines beiderseitigen Zeichens, um die Identität zweifelsfrei zu sichern. Beide zeigen einander ihren Ehering, und erst jetzt erkennt der junge König seine Frau (K 1247ff.). Gerlinds ‚Erziehungsmaßnahmen‘ zielen jedoch genau darauf ab (entgegen Hartmuts Anweisungen114), Kudruns sozialen Rang zu zerstören, ihren Willen bzw. ihren übermuot zu brechen, um eine Ehe mit ihrem Sohn zu erzwingen. Doch Kudrun weigert sich standhaft und nimmt dafür die harte Arbeit in Kauf, die Gerlind ihr und ihren Mädchen befiehlt: „‘dâ kann ich wol zuo, / swaz ir mir gebietet, daz ich allez tuo, / unz mir got von himele mîne sorge wendet‘“ (K 997,1-3). Gleichzeitig betont sie immer wieder, dass solche Dienste der Tochter Hildes nicht zustehen würden: „‘iedoch hât vil selten mîner muoter tohter geschürt die brende‘“ (K 997,4). In der neueren Forschung wird inzwischen die Meinung vertreten, dass Kudrun in ihrer Gefangenschaft auffallend häufig als Hilden tohter oder Hagenen künne beschrieben werde und dies implizit als Ausdruck eines nahezu übergeordneten Ranges der kognatischen Linie im Verhältnis zu Kudruns agnatischer Abstammung diene, obwohl gleichzeitig die bilaterale Verwandtschaftsorganisation der Hegelingen betont wird.115 An dieser Stelle soll der Akzent etwas verlagert werden, denn wertet man die Bezeichnungen Kudruns aus, kommt man zu folgendem Ergebnis: Kudrun wird in 12 Textstellen als dem Personenverband der Hegelingen zugehörig dargestellt; sie wird Hetelen tohter (3x), Hetelen 113 Vgl. Müller, Jan-Dirk (1998), S. 221ff. 114 Es kommt zwar zu einer Auseinandersetzung zwischen Mutter und Sohn (K 1014ff.) – Kudruns Situation ändert sich dadurch allerdings nicht. 115 Vgl. Schmitt, Kerstin (2001), S. 171: „Die legitimatorische Funktion der kognatischen Familienlinie bleibt im Handlungsverlauf stets präsent und wird an prägnanten Stellen u.a. immer dann aufgerufen, wenn Kudrun Hagene künne genannt wird. Die große Bedeutung der kognatischen Linie wertet die bilateral angelegte Stellung der Ehefrau im Verwandtschaftssystem auf und vergrößert ihren politischen Handlungsspielraum.“ Ähnlich auch Rasmussen, Ann Marie (1997), S. 98ff.

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kint (3x), des küneges tohter (1x), Waten künne (1x) oder maget von Hegelingen (3x), ûz Hegelinge lant dem Hilden kinde (1x) genannt. In 32 Formulierungen wird die Beziehung zu ihrer Mutter bzw. zum Geschlecht Hagens deutlich; Kudrun wird als Hilden tohter (12x), Hilden kint (3x), Hagenen künne (5x) bezeichnet. Außerdem finden sich die Wendungen dô sprâch diu Hilden tohter (11x) sowie Kudruns Selbstbezeichnung mîner muoter tohter (1x).116 Bis zum Schluss lassen sich in den unterschiedlichen Epitheta Kudruns deutliche Bezüge sowohl zur Seite der Hegelingen als auch zur kognatischen Linie Hildes bzw. Hagens finden, wobei die Bezeichnung Kudruns als Hilden tohter eindeutig dominiert. Dies liegt vor allem daran, dass Hetel bei der Entführung von Ludwig getötet wird, seine Figur in den Hintergrund (nicht in Vergessenheit!) rückt und seine Frau Hilde, die die Königsherrschaft der Hegelingen nun vertritt, seine Stelle einnimmt. Nach Hetels Tod ist Hilde der wichtigste Identitätsfaktor für Kudrun und zwar nicht nur in familialer, sondern auch in herrschaftlicher Hinsicht. Das Herrschaftsgefüge der Hegelingen verkörpert insgesamt Bilateralität und Flexibilität bei gleichzeitiger Dominanz der agnatischen Linie, die durch die kognatische Linie jedoch erst ihren herausragenden Stellenwert erhält. Dadurch kann Kudrun problemlos Hagens künne, Hildes und Hetels Tochter bleiben und gleichzeitig Ehefrau Herwigs sein. Auffällig bleibt allerdings, dass Kudruns Beziehung zu Herwig im Vergleich zur Verbundenheit zu ihrem angestammten Personenverband in den Hintergründ rückt. Obwohl sie mehrfach während ihrer Gefangenschaft betont, dass sie mit Herwig verheiratet ist und deshalb Hartmut nicht ehelichen kann (K  1020; 1043), bleibt sie in erster Linie Hildes tohter, die aufgrund ihres sozialen Standes bzw. ihrer Herkunft keinen unter ihr Stehenden heiraten wird. Das mag zum einen damit zusammenhängen, dass Kudrun mit Herwig zwar verheiratet ist, ihre Ehe sexuell (Unio) und herrschaftlich (Krönung) jedoch nicht vollzogen wurde und das Paar weder zusammen gelebt noch zusammen geherrscht hat. Dies steht im Gegensatz zu Kriemhild, die mehrere Jahre mit Siegfried verheiratet ist, mit diesem einen Sohn hat und als Königin von Niederland fest in den neuen Personenverband eingefügt ist. Allerdings entwickelt sich ihre emotionale Verbindung zu Siegfried erst nach seinem ungesühnten Tod zur unerreichbaren Paarbeziehung, in der die Liebe bzw. triuwe zum verstorbenen Mann von Kriemhild derart stilisiert wird, dass alle anderen sozialen Bindungen dieser untergeordnet werden. Als Kudrun dagegen nach vierzehn Jahren der Gefangenschaft am Strand der weissagende Vogel erscheint, der ihre Befreiung verkündet: „‘ich bote von gote; und kanst du mich gefrâgen, / vil hêre maget edele, sô sage ich dir von dînen mâgen‘“ (K 1167,3f.), fragt die Hegelingentochter zuerst nach ihrer Mutter, dann nach ihrem Bruder und schließlich nach Herwig: „‘lebet noch inder Hilde? [...] / lebet noch indert Ortwîn, der künic von Nort116 Vgl. die vollständige Auflistung in Kap. 9.1.

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lande, / und Herwic mîn friedel?‘“ (K 1171,4-1173,4). Die ‚Zweitrangigkeit‘, die die Ehe Kudruns mit Herwig suggeriert, ist indes Teil des hagiographischen Heldenkonzepts117, nach dem die Protagonistin gestaltet ist: Wie eine christliche Märtyrerin weist Kudrun durch passiven Widerstand eine Ehe mit Hartmut zurück, sie setzt ihrer Gegnerin Gerlind keine aktive Gewalt entgegen, sondern beharrt auf stæte und triuwe, die in erster Linie jedoch ihrem Personenverband gilt. Ihre Jungfräulichkeit und damit eine gewisse ‚Distanz‘ zu Herwig ist dabei ein wichtiger Bestandteil des hagiographischen Musters, das ihre Glaubwürdigkeit und Vorbildlichkeit unterstreicht. Die christlichen Motive, die bereits im Hagen-Teil deutlich wurden, werden im Kudrun-Teil noch verstärkt: Beispielsweise ist der Vogel-Bote ein „engel hêre“118 (K 1174,1), dessen Prophezeiung an die Verkündigung Marias erinnert: „‘dir sol grôz liep geschehen. / wilt du mich fragen von dîner mâge lande, / ich bin ein bote der dîne, wan mich got ze trôste dir sande‘“ (K 1169,2-4); woraufhin Kudrun in Form eines Kreuzes zu Boden fällt (K 1170,1f.) usw. Doch die hagiographische Gestaltung Kudruns wird nicht genutzt, um eine religiöse Botschaft zu transportieren: Im Gegensatz zur Vita einer Heiligen verteidigt Kudrun nicht ihre Virginität119, sondern ihren Status als Tochter Hildes und Ehefrau Herwigs; die Jahre der Gefangenschaft erträgt sie nicht aufgrund des christlichen Glaubens, für den sie zu sterben bereit ist, sondern weil sie sich den rechtsgültigen triuwe-Bindungen ihres Personenverbandes verpflichtet fühlt; auch auf den Mordanschlag Gerlinds (K 1471ff.) reagiert Kudrun nicht wie eine Märtyrerin, die keine Furcht vor dem Tod kennt120, sondern mit Angst und Entsetzen (K 1474). In anderen Szenen hingegen wird Kudrun einem männlich-heroischen Habitus angenähert, ohne jedoch die Geschlechtergrenzen zu übertreten: Ausdrücklich formuliert Kudrun gegen117 Erst Rasmussen hat das Muster der Hagiographie mit einem gender-spezifischem Modell von Heldentum in Verbindung gebracht; vorher wurde das hagiographische Muster von der Forschung lediglich als Beweis einer christlichen Konzeption der Kudrun aufgefasst, vgl. Rasmussen, Ann Marie (1997), S. 110; vgl. auch Schmitt, Kerstin (2001), S. 173. Ausführlich zum Erzählmodell Hagiographie in der Kudrun vgl. Schmitt, Kerstin (2002), S. 175-215. Auf die Berührungspunkte zwischen der Konzeption des christlichen Märtyrers und dem Heros der Heldendichtung wurde hingegen schon mehrfach hingewiesen, vgl. z.B. von Klaus von See (1978), 28ff; vgl. außerdem die Ausführungen zur Heiligenlegende im Kap. 6.2.1., Anm. 75, der vorliegenden Arbeit. 118 Der Vogel-Bote erscheint in der Fastenzeit (K 1166,1), Ostern steht kurz bevor (K 1192). Ostern ist das christliche Fest der Auferstehung Christi und steht im Zentrum des Kirchenjahres, vgl. Küppers, K.: Art. „Ostern“, LMA 6 (1993), Sp. 1518-1519. Eine weitere Szene, die christlich konnotiert ist und an Jesu Dornenkrönung (vgl. z.B. Mt 27,26-31) erinnert, ist die Szene, in der Gerlind Kudrun mit Dornenruten züchtigen will (K 1282). 119 Das Motiv der Virginität, das mit der Eheverweigerung einhergeht, ist konstitutiv für die Legenden weiblicher Heiliger, vgl. Opitz, Claudia (1990), S. 87f. 120 Die Furchtlosigkeit vor dem Tod in Heiligenviten gründet sich auf den Glauben, dass der Heilige im Tod von Gott aufgenommen wird, eine Wiedergeburt im Göttlichen erlebt und gerade in seiner nach-todlichen Existenz Wunder bewirken kann, vgl. Nagy, Maria von / Nagy, Christoph N. de (1971), S. 70f.

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über Hartmut, wäre sie ein Mann, würde sie sich mit Waffengewalt zu wehren wissen: „‘ob ich ein ritter wære, er dörfte âne wâfen / zuo mir komen selten‘“ (K 1033,3f.)121 und bedient sich ähnlich wie Wate und Frute (auf der Werbungsfahrt um Hilde) einer List, um die Normannen militärisch zu schwächen und die Befreiungsaktion ihres Verwandtschaftsverbandes zu unterstützen.122 Auch das Prinzip der Versöhnung, das am Ende durch Kudruns Ehestiftungen komplettiert wird, ist nicht ausschließlich als christlicher Gegenentwurf zur heroischen Rache und dem tödlichen Untergang des Nibelungenliedes konzipiert, sondern erweist sich ebenso als pragmatische Strategie zur Herrschaftssicherung. Selbst der Gedanke an Rache ist Kudrun nicht fremd: Zwar schützt sie die treue Ortrun und ihre Damen sowie die ‚untreue‘ Hergart in der finalen Befreiungsschlacht vor dem rasenden Wate (K 1507; 1518), doch lehnt sie die Rettung Gerlinds, die sie um Hilfe anfleht, rigoros ab (K 1509)123. Auch als Wate die Normannenkönigin entdeckt, interveniert Kudrun nicht; der alte Krieger packt Gerlind und schlägt ihr den Kopf ab (K 1523). 3.4.2. Kudrun und die „Kriemhild-Diskussion“ Um das intertextuelle Verhältnis von Kudrun und Nibelungenlied genauer zu bestimmen, wird der Fokus im Folgenden auf das Gesellschaftsmodell der beiden Werke und die Position ihrer Protagonistinnen gerichtet. Das soziale Gefüge der Kudrun zeichnet sich durch einen idealtypisch konzipierten Personenverband124 aus, in dem vertragsähnliche triuwe-Beziehungen (verwandtschaftliche, herrschaftliche und im weitesten Sinn genossenschaftliche Bindungen) den gesellschaftlichen Zusammenhang garantieren. Alle diese Beziehungen können mit vriuntschaft bezeichnet werden.125 Im Gegensatz zum Nibelungenlied, wo die verschiedenen Beziehungsebenen einander überlagern 121 Ähnlich argumentiert Kudrun auch in der folgende Szene: In den letzten Kampfhandlungen bittet Ortrun die Hegelingentochter, den Zweikampf von Hartmut und Wate zu unterbinden. Kudrun antwortet: „‘ich weiz niht wie ich müge den strît understân, / ich wære danne ein recke, daz ich wâpen trüege,: / sô schiede ich ez gerne, daz dir dînen bruoder niemen slüege.‘“ (K 1482,2-4) 122 Nach der Begegnung mit Ortwin und Herwig am Strand kehrt Kudrun siegesgewiss in die Burg der Hegelingen zurück und verspricht Gerlind zum Schein, in die Ehe mit Hartmut einzuwilligen. Kudrun bittet nun Hartmut, er möge hundert Boten mit der Hochzeitseinladung zu seinen Verwandten aussenden lassen. Mit dieser List schwächt die Hegelingentochter das militärische Potential der Normannen, die aus Angst vor einem Überfall bereits ungewöhnlich viele Krieger in ihrer Burg versammelt haben (vgl. K 1284ff.). 123 Entsprechend der originalen Strophenreihenfolge in der Ambraser Handschrift. Karl Bartsch dagegen hat die Strophen 1508 und 1509 zwischen die Strophen 1517 und 1518 positioniert, so dass der Eindruck entsteht, Kudrun wolle der übelen Gerlind verzeihen. Diese Strophenumstellung wird in der Forschung häufig nicht beachtet. 124 Vgl. auch Schmitt, Kerstin (2001), S. 155. 125 Vgl. Müller, Jan-Dirk (22005), S. 97.

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und miteinander in Konflikt geraten, existieren in der Kudrun nur unproblematische, idealisierte Bindungen, die ein stabiles Netzwerk ergeben. Grundlage für dieses ausgewogene System ist die bilaterale (wenn auch patrilinear organisierte) Verwandtschaftsstruktur, die durch die Einbeziehung von ganzen Verwandtschaftsverbänden (z.B. Wate, Frute, Horant, Irolt jeweils mit ihren Gefolgsleuten), neuen Schwiegerverwandten (z.B. durch die Heirat von Kudrun und Herwig) sowie weiteren vriunden (z.B. das Friedensbündnis mit Siegfried von Morland) horizontal gestärkt und vergrößert wird. Alle dargestellten Bündnisse bzw. Typen von vriuntschaft werden ähnlich verbindlich dargestellt wie die (bluts)verwandtschaftlichen Bindungen. Dem Personenverband der Kudrun gelingt es, Rivalitäten, Meinungsverschiedenheiten oder hierarchische Konflikte zu vermeiden. Insgesamt zeigt die Kudrun erstaunlich viele Übereinstimmungen, die Michael Mitterauer als die wichtigsten Merkmale in der Entwicklung der mittelalterlichen Familie bestimmt hat: Gattenzentriertheit, Domozentriertheit, bilaterale Verwandtschaft, Ausbau horizontaler Verbindungen, Offenheit und Flexibilität.126 Auch Domozentriertheit und Gattenzentriertheit finden sich in der Kudrun: Obwohl die Erinnerung an die Vorfahren bzw. Ahnen stets präsent bleibt und ein Fortbestehen von Tradition sowie Herkunfts- und Standesbewusstsein damit gewährleistet wird, verlagert sich der erzählerische Mittelpunkt jeweils auf das aktuelle (junge) Herrscherpaar bzw. auf die neu entstehende Kernfamilie, die nicht mit den Eltern gemeinsam wohnt und herrscht, sondern einen eigenen Bereich findet (nur Hagens Eltern leben bei seiner Heirat noch, doch Siegband übergibt mit der Hochzeit seinem Sohn auch die Herrschaft). Dabei kehren die Männer jeweils mit ihrer Braut in den eigenen (vom Vater vererbten) Herrschaftsbereich zurück, die Frauen (Ute, Hilde, Hilde, Kudrun etc.) dagegen verlassen die elterliche Umgebung. Während Kudrun trotz ihrer Heirat mit Herwig in erster Linie dem hegelingischen Verwandtschaftsverband verbunden bleibt, wird Kriemhild durch die Ehe mit Siegfried und den Umzug nach Xanten dem niederländischen Verband zugeordnet. Gleichzeitig bleibt sie nach ihrer Hochzeit dem angestammten burgundischen Familienverband verpflichtet. Für die burgundische Seite verändert sich jedoch das Verhältnis zu Kriemhild nach ihrer Verheiratung; vor allem Kriemhilds Verwandter Hagen ordnet die verwandtschaftlichen Bindungen den herrschaftlichen Beziehungen unter. Kriemhilds ambivalente Position wird besonders deutlich, als Hagen, der bereits den Mord an Siegfried plant, Kriemhild vor der verhängnisvollen Jagd antrifft: Im Vertrauen auf die triuwe zwischen Blutsverwandten verrät sie Hagen die verwundbare Stelle: „Si sprach: ‘du bist mîn mâc, sô bin ich der dîn. ich bevilhe dir mit triuwen den 126 Vgl. Mitterauer, Michael (2003) [2003 a], S. 355ff.

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holden wine mîn.‘“ (NL 898,1-2).127 Siegfried muss sterben, weil er zu einer potentiellen Gefahr für die burgundische Herrschaft avanciert ist bzw. weil er durch die Öffentlichmachung der Brautnacht-Details im Streit der Königinnen (14. Aventiure) die Integrität Gunthers und Brunhilds verletzt hat (NL 863ff.). Als man seines Herren Gunther handelt Hagen konsequent, die verwandtschaftliche triuwe zu Kriemhild und Siegfried spielt für ihn in diesem Moment keine Rolle. Doch der Erzähler lässt keinen Zweifel an der Verurteilung seines Handelns: „ich wæne immer recke deheiner mêr getout / sô grôzer meinræte, sô dâ von im ergie, / dô sich an sîne triuwe Kriemhilt diu küneginne lie“ (NL 906,2-4). Der Mord an einem nächsten Verwandten akzentuiert die Zersetzung der gesellschaftlichen Ordnung: „Im Verrat ist das Fundament des Personenverbandes – des Inbegriffs sozialer Ordnung – getroffen, und deshalb wirkt er weit über die unmittelbar Beteiligten hinaus […], trifft auch die, die mit den Tätern ihrerseits durch persönliche Bindungen zusammenhängen, und stigmatisiert künftige Generationen (990).“128

Obwohl sie von ihrem angestammten Familienverband verraten wird, bleibt Kriemhild in Worms und schlägt sogar das großzügige und ungewöhnliche Angebot ihres Schwiegervaters Siegmund aus, den Status der Königin von Niederland wie zu Lebzeiten ihres Gatten weiterzuführen (NL 1075). Motiviert und begründet wird dies mit dem Argument der Blutsverwandtschaft: Wiederholt wird Kriemhilt von Ute, Gieselher und Gernot gedrängt, in Burgund zu bleiben; die Brüder betonen, dass die Schwester keine Verwandten unter Siegfrieds Leuten in Xanten habe („si hete lützel künnes under Sîfrîdes man“; K 1081,4), dass vielmehr die Niederländer „alle vremde“ (NL 1082,1) seien. Eben diese Dichotomisierung von Bluts- und Heiratsverwandten überzeugt Kriemhild an dieser Stelle, bei ihren „mâgen“ in Worms zu bleiben (NL 1088,3), und akzentuiert gleichzeitig den finalen Mord an den „næchsten mâgen“ (NL 19,3) als besonders schwerwiegendes Verbrechen. Die blutsverwandtschaftlichen Beziehungen erweisen sich allerdings wiederholt als trügerisch, die Beziehung zwischen Kriemhild, Hagen und Gunther bleibt gestört. Dreieinhalb Jahre nach Siegfrieds Tod initiiert Hagen eine Versöhnung zwischen Gunther und Kriemhild; in dieser Zeit hat die trauernde Witwe sowohl mit dem Mörder als auch mit ihrem ältesten Bruder kein Wort gesprochen (NL 1106,1-4). Doch die suone ist von Anfang an mit neuem Verrat verbunden. Hagen schlägt zwar vor, mit Kriemhilds Morgengabe – die ihr rechtlich nach dem Tod des Gatten zusteht – (NL 1116,4) die Witwe auszusöhnen, tatsächlich versucht er lediglich, Siegfrieds Schatz in die Gewalt der Burgunden zu bringen (NL 1107,1-4). Mit Unterstützung von Gernot 127 Hagen wird nur an dieser und der folgenden Stelle als mâc der Burgunden erwähnt: Im Zuge des Hortraubes kritisiert Gieselher Hagen, den er für seine Tat getötet hätte, wäre er nicht sein Verwandter: „‘wær‘ er nicht mîn mâc, ez gienge im an den lîp‘“ (NL 1133,3). 128 Müller, Jan-Dirk (1998), S. 160.

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und Giselher erfolgt schließlich die suone mit Gunther, besiegelt durch einen Friedenskuss (NL 1114,1-4). Im mittelhochdeutschen Rechtsgebrauch bedeutet suone die endgültige und dauerhafte Beilegung, Versöhnung und Wiedergutmachung eines Streits bzw. einer Strafleistung z.B. durch Wehrgeld. Der Rechtsterminus bezeichnet demnach die zwecks Beilegung eines Rechtsstreits oder einer Fehde erbrachte Leistung (composito) wie auch den mit dieser Leistung erreichten Friedenszustand (amicitia, pax).129 Kriemhild verzeiht allen, bis auf Hagen: „si verkôs ûf si alle wan ûf den einen man“ (NL 1115,3-4) – verkiesen impliziert nicht nur, eine Schuld zu verzeihen, sondern darüber hinaus auf jeden Anspruch zu verzichten.130 Diese Rechtslage sollte Rache verhindern, deshalb verändert die Handschrift C Kriemhilds suone zu einem Lippenbekenntnis, welche noch dazu unter dem Zwang der Brüder stattfindet und so lediglich äußerer Schein bleibt (NL C 1124,4; 1124,1). In allen drei Handschriften bleibt die suone jedoch für die Öffentlichkeit rechtsgültig, was die Brüder dazu veranlassen wird, sich gegenüber Kriemhild in Sicherheit zu wiegen.131 Als Kriemhild große Teile ihres Erbes verschenkt, befürchtet Hagen, sie könne sich damit Männer rekrutieren und an den Burgunden Rache nehmen (NL 1128,1-4). Er kann Gunther dazu überreden, selbst als Handlanger des Königs Kriemhilds Morgengabe zu rauben (NL 1130). Trotz anfänglicher Bedenken stimmt Gunther schließlich Hagens Plan zu und auch Gernot und Giselher, die sich zunächst auf Kriemhilds Seite stellen, gehen nicht gegen Hagen vor und unterstützen so die ökonomische Entmachtung der Schwester. Diese bittet ihren Lieblingsbruder Giselher, ihr Leben und ihren Schatz zu schützen, was dieser auch verspricht, ohne sich jedoch daran zu halten: Die Brüder begeben sich auf die Jagd und geben Hagen damit freie Hand, der den Schatz im Rhein versenkt. Die Abwesenheit der Könige ist notwendig, damit Hagen abseits der von ihnen garantierten Rechtsordnung gegen das Recht verstoßen kann. Nach der Rückkehr der Könige tritt die Rechtsordnung wieder in Kraft, Hagen wird verurteilt: „‘er hât übele getân‘“ (NL 1139,1) und muss dem Königshof solange fern bleiben bis „der fürsten zorne“ sich wieder besänftigt und er ihre „hulde“ wieder errungen hat (NL 1138,2-3). Für Kriemhild ist damit nichts gesühnt, denn ihre Brüder „liezen in [Hagen] genesen“ (NL 1139,3); sie sieht sich machtlos und kann Hagen von nun an 129 Mhd. suone bzw. süene ist ein im Mittelalter weit verbreiteter Rechtsterminus. Ein Sühnevertrag kann privat sowohl außergerichtlich wie vor Gericht geschlossen werden. Die private suone kommt häufig durch Vermittlung von Vertrauensleuten, Schiedsleuten zustande; allgemein ist sie mit Sühnezwang verbunden, z.B. Wehrgeld. Für Totschlag beispielsweise gibt es folgende mögliche Leistungen, die der Totschläger erbringen muss: Abbitte, Sühneeid, Friedenskuss, Wallfahrt, Setzen eines Steinkreuzes, vgl. Kaufmann, E.: Art. „Sühne, Sühneverträge“, HRG 5 (1998), S. 72-76. 130 Vgl. Schmidt-Wiegand, Ruth (1982), S. 372, 379. 131 Vgl. Müller, Jan-Dirk (22005), S. 87f.

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nicht feindlicher gesonnen sein: „dône kunde im Kriemhilt nimmer viender sîn gewesen“ (NL 1139,4). Erst durch die ungesühnten und wiederholten Rechtsdelikte der nächsten mâgen wird Kriemhilds triuwe und Liebe zu Siegfried ins Unermessliche gesteigert. Alle diese Aspekte – der Tod des Ehemanns, die Verbrechen der Familie und die damit verbundene, ins Extensive gesteigerte memoria – fehlen in Kudruns Geschichte, und sie werden offensichtlich bewusst umgangen. Nach weiteren dreizehn Jahren hält Etzel um Kriemhilds Hand an. Nachdem sie in die Heirat eingewilligt hat, trifft sie ihre Reisevorbereitungen. Einen großen Tross mit treuen Hofdamen und Rittern sowie ihr verbleibendes Erbe will die zukünftige Hunnenkönigin in die neue Heimat mitnehmen. Wieder interveniert Hagen ungestraft und veranlasst, das Gold in Worms zu lassen: „‘in will behalten Hagene, daz sol man Krimhilde sagen‘“ (NL 1273,4). Auch Gunther, Gernot und Giselher unternehmen gegen den erneuten Hortraub nichts; nur Rüdiger verspricht seiner Herrin, dass Etzel seine zukünftige Frau mit Gold überhäufen werde (NL 1275,2-4). Doch dann ergreift Gernot die Initiative und nimmt dreißigtausend Mark von dem übrig gebliebenen Schatz und will dieses Geld an Rüdigers Männer verteilen lassen. Rüdiger weist das Gut jedoch zurück: „‘Nu heizet ez behalten, wand‘ ich es niht enwil‘“ (NL 1279,1). Kriemhild wird schließlich nur zwölf Truhen gefüllt mit Gold mitnehmen (NL 1280,1). „Das Hin und Her zeigt Widersprüchliches: Vermeidung einer Wiederholung des Hortraubs und Vermeidung einer Bedrohung Hagens – und also Harmonie –, und zugleich Wiederaufleben eines Konfliktes, der mühsam beigelegt wird – und also Störung.“132

Der Machtlosigkeit Kriemhilds steht die solidarische Verfügungsgewalt der männlichen Verwandten gegenüber, die Recht und Gesetz missachten und ihr Handeln lediglich auf Profit und Machtsicherung ausgerichtet haben. „Als Rechtsgemeinschaft, die auch für die Besitzrechte der rechtsunfähigen Frauen eintreten soll, hat der Personenverband damit versagt.“133 Kudrun dagegen ist selbst in ihrer Gefangenschaft von treuen Gefährtinnen umgeben, eine besondere Rolle kommt dabei Hildeburg zu, die sogar das harte Schicksal des Wäschewaschens mit ihrer Herrin teilt (K 1059ff.). Unverbrüchliche Solidarität findet sich auch im engsten Familienkreis. Ihre Mutter Hilde hat ihr Kind nicht vergessen und wartet nur darauf, bis ein neues Heer nachgewachsen und aufbruchbereit ist, um Kudrun zu befreien. Unterstützt wird die Königin der Hegelingen von Hetels Verwandten Wate, Horant etc. sowie von ihrem Sohn Ortwin und ihrem Schwiegersohn Herwig. Im Gegensatz zu Kudrun agiert Kriemhild im Nibelungenlied isoliert; selbst weiblicher Zuspruch bzw. Solidarität z.B. durch Ute oder Brunhild wird 132 Müller, Jan-Dirk (1998), S. 351. 133 Schmitt, Kerstin (2001), S. 163.

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ihr versagt: Ute steht wie ihre Tochter unter der Verfügungsgewalt Gunthers, Brunhild ist mit Kriemhild seit dem Königinnenstreit verfeindet. Kriemhilds Situation verbessert sich auch nicht, als sie in die zweite Ehe mit dem Hunnenkönig einwilligt. Besonders nach ihrer Hochzeit lässt Kriemhild der Gedanke an Rache, die vor allem Hagen gelten soll, nicht mehr los. Doch erst nachdem sie sich der Treue ihrer hunnischen Leute versichert hat, denkt sie daran, den Mord an Siegried zu rächen und entsprechende Vorbereitungen zu treffen: „‘ich bin sô rîche unt hân sô grôze habe, / daz ich mînen vînden gefüege noch ein leit. / des wære et ich von Tronege Hagen gerne bereit‘“ (NL 1396,2-4). In der sich anschließenden Szenenfolge (NL 1390-1399), dem großen Selbstgespräch Kriemhilds, wägt sie die Schuld der Brüder gegen ihre geschwisterliche Zuneigung ab. Der Erzähler kommentiert, dass wohl der „übel vâlant Kriemhilt daz geriet“ (NL 1394,1). Dabei bezeichnet sie ihre Brüder mal als vriunde, mal als vînde – während des ‚Bettgespräches‘ mit Etzel wird sie zwar noch von ihren „vriunden“ sprechen (NL 1401,4), im gleichen Augenblick jedoch ihre „vînde“ (NL 1400,4) meinen.134 „Kriemhilts triuwe ist radikal individualisiert, nurmehr auf eine Person gerichtet und blendet alle sozialen Rücksichten aus. Sie muß aus dem selbstverständlichen Geflecht der getriuwen, das feudale Gesellschaft konstituiert, herausgelöst werden, und das geschieht unter eindeutig negativen Vorzeichen.“135

Mit der Ankunft der Burgunden an Etzels Hof wird die Feindschaft der beiden Antagonisten offenbar. Gleich bei der Begrüßung der Könige, bei der Kriemhild nur ihren Bruder Giselher küsst (NL 1737,3), reagiert Hagen mit Argwohn und Feindseligkeit. Doch Kriemhild geht nicht darauf ein, sondern fragt nach dem, was ihr die Brüder aus der alten Heimat mitgebracht haben (NL 1739,2-4). Hagen überhört diese Anspielung auf das Nibelungengold und tut so, als verstehe er ihre Forderung im Rahmen eines höflichen Gabentausches. Kriemhild muss ihre Forderung präzisieren: „‘hort der Nibelunge, war habt ir den getân? / der was doch mîn eigen, daz ist iu wol bekant. / den soldet ir mir füeren in daz Etzelen lant‘“ (NL 1741,2-4). In der Zusatzstrophe der Handschrift C erklärt Kriemhild gegenüber Hagen, dass es ihr nicht um den Hort gehe, sondern um den ungesühnten Mord an Siegfried und den Hortraub: „‘Jâne rede ihz niht darume, deich mêre goldes welle gern. Ich hâns sô vil ze gebene, deich iwer gâbe mac enbern. Ein mort un zwene roube, die mir sint genomen, des mœhte ich vil arme noch ze liebem gelte komen.‘“ (NL C 1785)

Wenig später provoziert Kriemhild Hagen zu einem offenen Schuldgeständnis vor ihrem Gefolge. Mit den Insignien ihrer königlichen Macht („under krône“; NL 1770,4) inszeniert sie ihren Auftritt als Rechtsakt und wirft Hagen 134 Vgl. Müller, Jan-Dirk (1998), S. 233. 135 Ebd. S. 167.

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die Schuld an Siegfried Tod vor (NL 1789,1-4). Ungerührt gibt Hagen die Tat zu: „‘ich binz aber Hagene, der Sîfriden slouc, den helt zu sînen handen‘“ (NL 1790,2-3). Er fügt dem hinzu, dass er allein die Schuld daran trage und jeder, der wolle, „ez sî wîp oder man“ (NL 1791,3), könne seine Tat rächen (NL 1791,1-4). Doch keiner von Kriemhilds Kriegern will die Rache aus Angst vor Volker und Hagen übernehmen; verlegen ziehen ihre Leute ab (NL 17931799). Kriemhilds Versuche, die Burgunden zu isolieren und zu überwältigen, schlagen mehrmals fehl, zum einen sind die Wormser nicht zu unterschätzende Gegner, zum anderen werden Kriemhilds Rachepläne immer wieder von ihren eigenen Männern durchkreuzt. Dietrich von Bern und sein Waffenmeister Hildebrand warnen die Burgunden vor Kriemhild und untergraben ihre Autorität vor den Kriegern; Dietrich bezeichnet die Königin sogar als „vâlandinne“ (NL 1748,4). Während es Hagen gelingt, Kräfte an sich zu binden, scheitern Kriemhilds Versuche, ihre Männer zu mobilisieren. Nicht die einzelne Figur, sondern der Personenverband wird zum eigentlichen Gegenspieler Kriemhilds.136 Nach Ortliebs Tod kommt es zu einer Unterredung zwischen Kriemhild und Giselher, in der sie ihm mitteilt, dass es für sie keine Möglichkeit der suone mehr gebe: „‘Ine mac iu niht genâden: ungenâde ich hân. mir hât von Tronege Hagene sô grôziu leit getân, ez ist vil unversüenet, die wîle ich hân den lîp. ir müezet ez alle entgelten‘, sprach daz Etzelen wîp.“ (NL 2103,1-2)

Gleichzeitig bietet sie an, das Leben der Brüder zu verschonen, wenn sie ihr Hagen auslieferten: „‘wande ir sît mîne bruoder unde einer muoter kint‘“ (NL 2104,3). Doch Gernot und Giselher lehnen Kriemhilds Angebot ab und votieren für die triuwe zu ihrem man Hagen. Der kernfamilialen bzw. verwandtschaftlichen Bindung wird eine programmatische Absage erteilt: „‘Nune welle got vom himele‘, sprach dô Gernôt. ‚ob unser tûsent wæren, wir lægen alle tôt, der sippen dîner mâge, ê wir dir einen man gæben hie ze gîsel: ez wirt et nimmer getân.‘“ (NL 2105)

Erst kurz vor dem tödlichen Finale zieht der stärkste Held Dietrich von Bern in den Kampf. Es gelingt ihm, Gunther und Hagen zu besiegen und gefesselt vor die Königin zu führen. Kriemhild verspricht ihm, die Geiseln nicht zu töten (NL 2365,1). Sie lässt die beiden getrennt voneinander festhalten und bietet zunächst Hagen seine Freilassung an, wenn er ihr das gebe, was er ihr genommen habe: „‘welt ir mir geben widere, daz ir mir habt genomen, / sô muget ir noch wol lebende heim zen Burgonden komen‘“ (NL 2367,2-4). Doch der gefesselte Hagen antwortet, solange einer seiner Herren lebe, werde er nicht 136 Vgl. ebd. S. 153.

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verraten, wo sich der Hort befinde (NL 2368,1-4), und reduziert Kriemhilds Objekt der Anklage damit lediglich auf den Schatz. Kriemhild lässt daraufhin ihren Bruder Gunther töten und tritt mit dessen abgeschlagenen Kopf vor ihren Widersacher. Hagen antwortet auch noch angesichts des Todes überlegen: „Nu ist von Burgonden der edel künec tôt, / Gîselher der junge unde ouch her Gêrnôt. / den schaz den weiz nu niemen wan got unde mîn: / der sol dich, vâlandinne, immer wol verholn sîn‘“ (NL 2371). Kriemhild schlägt mit Siegfrieds Schwert, das Hagen sich angeeignet hatte, dem Verwandten den Kopf ab. „Wenn Kriemhild sich das Schwert aneignet, ist die Geste wieder mehrdeutig wie ihre Rede: Retten der Trümmer des Besitzes, Erinnerung an Sivrit und Durchführung der Rache. Die Tat schafft Klarheit: Kriemhild schlägt Hagen den Kopf ab. Das Spiel mit hinterhältigen Unschärfen und gemeinen Unterstellungen ist zu Ende.“137

Etzel und Hildebrand beklagen den Tod des Gegners, doch obwohl auch sie durch Hagen Leid erfahren haben, stilisieren sie ihn noch immer zum „aller beste[n] degen“ (NL 2374,2). Dabei steht nicht der Tod des Helden, sondern die Tatsache, dass eine Frau das Schwert eigenhändig führt und die Todesart Hagens zur Diskussion – ein zweifacher Verstoß gegen die Geschlechterhierarchie: Der unheroische Tod des Helden und man[s] König Gunthers, nicht der Tod des Königs, muss gesühnt werden: „‘wie ist nu tôt gelegen von eines wîbes handen der aller beste degen‘“ (NL 2374). Hildebrand ergreift sein Schwert und erschlägt Kriemhild: „ze stücken was gehouwen dô daz edele wîp“ (NL 2377,2). Die Handschrift C entlastet Kriemhild, indem erklärt wird, dass einzig dem Teufel die Schuld am Massensterben zuzuschreiben sei (NL C 2143). Kudrun hingegen wird von ihren Verwandten und ihrem Ehemann in Ormanie befreit und kann sich aus dieser Position heraus für eine suone der verfeindeten Parteien einsetzen: Zunächst bittet sie Herwig, den Kampf zwischen Wate und Hartmut zu beenden (K 1485); zurückgekehrt nach Hegelingen setzt sie sich für eine Versöhnung zwischen Normannen und Hegelingen ein, bis schließlich Hilde sowohl Ortrun (K 1579ff.) als auch Hartmut (K 1595ff.) verzeiht. Nachdem Kudrun von Herwig zur Königin von Seeland gekrönt worden ist (K 1608), initiiert sie abschließend die Eheschließungen zwischen Ortwin und Ortrun, Siegfried und Herwigs Schwester und Hartmut und Hildeburg (K 1617ff.). Dabei wird sie sowohl von Herwig, der ausdrücklich seine Zustimmung zu den Eheschließungen gibt (K 1613; 1625), als auch von dem alten Frute unterstützt. Dieser schlägt nicht nur die eheliche Verbindung von Hartmut und Hildeburg vor, sondern formuliert auch das Ziel dieser Heiratspolitik: „‘Man sol den haz versüenen, den wir hân getragen‘“ (K 1624,1). Mit den „friuntschefte“ [sic!] (K 1643,2) werden nicht nur neue 137 Müller, Jan-Dirk (1998), S. 151.

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Verwandtschaftsbeziehungen, sondern auch strategisch-militärisch wichtige Friedensbündnisse geschlossen, der Einflussbereich der Hegelingen gesichert und vergrößert. Der Erzähler resümiert: „Ich wæne als grôziu süene nie wart als tet daz kint [Kudrun; G.L.]“ (K 1644,1).

3.5. Die Generationenthematik und gender Anhand der folgenden gender-spezifischen Überlegungen soll die Thematik der Generationen genauer spezifiziert werden. Die männlichen Helden der Kudrun sind in jeweils unterschiedlicher Gewichtung von zwei Männlichkeitsmustern determiniert – heroischer Krieger und höfischer Ritter. Beide Muster finden sich in heterogener Kombination in den aufeinander folgenden Generationen: Hagen entwickelt sich auf der Greifeninsel – dem Heldenlebenschema entsprechend – zum unbezwingbaren Heros; doch bereits in der Wildnis ist ein Teil seines Männlichkeitskonstruktes höfisch orientiert. Zurückgekehrt in die feudaladelige Welt, werden seine höfisch-herrschaftlichen Fähigkeiten in den Vordergrund gerückt (Schwertleite, Hochzeit, Herrschaftsübernahme etc.), als Brautvater wandelt sich seine Rolle erneut. Je nach Kontext werden die disparaten Männlichkeitskonstrukte betont, nebeneinander montiert oder übereinander kopiert. Weniger vielschichtig, aber dennoch heterogen sind auch die meisten anderen männlichen Figuren konzipiert: Der alte Wate, Herr von Sturmland und Erzieher Hetels und Ortwins, verkörpert als einziger ausschließlich den Typus des heroischen Helden; er kann mit höfischen Ritualen (Musik, Gesang, Konversation mit adeligen Damen etc.) nichts anfangen und gibt dies auch deutlich zu verstehen (K 343ff.). Der etwa gleichaltrige Frute von Dänemark ist bereits eine Figur des Übergangs. Auch er ist in erster Linie vom heroischen Habitus determiniert und reagiert z.B. auf Horants Gesang kritisch (K 382), doch ist er im Vergleich zu Wate überlegter und bedachter, er erfüllt die Aufgaben eines klugen Strategen und listigen Ratgebers. Während sich Wate kategorisch weigert, sich am Hofe Hagens als Kaufmann zu verkleiden (K 253), bedeutet das für Frute keinen Abbruch seines kriegerisches Ethos. Horant, der eine Generation jünger als Frute und Wate ist, verbindet bereits problemlos das Ideal des heroischen Kriegers mit dem des höfischen Ritters. Er ist nicht nur herausragender Krieger und Herrscher über Dänemark, sondern er versteht sich auch auf die Formen höfischer Werbung und weiß sich in Gegenwart adeliger Damen adäquat zu benehmen. Ähnliches gilt auch für Hetel, der nicht nur das Ideal des vollkommenen Herrschers, sondern auch das des Meisters höfischer Künste verkörpert (K 406).

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Das Männlichkeitskonstrukt der ‚jungen‘ Generation, repräsentiert von Herwig, Siegfried und Hartmut, korreliert mit diesem hybriden Modell, jedoch in unterschiedlicher Gewichtung, was besonders in der Werbung um Kudrun evident wird. Alle drei werben um Kudrun, erzielen jedoch jeweils differierende Ergebnisse. Herwig zettelt nach dem Misserfolg seiner höfischen Werbung einen blutigen Krieg an. Obwohl seine Aggressionen sich gegen Kudruns Leute richten, kann sie seine Bemühungen anerkennen; es ist heroischer Frauendienst, der Herwig zum würdigen Werber avancieren lässt. Auch bei Siegfried von Morland überwiegt der heroische Frauendienst, denn nach der ersten, ebenfalls erfolglosen höfischen Werbung, tritt er als Aggressor auf und beginnt einen Krieg um die begehrte Frau. Ausgerechnet Hartmut trägt (zunächst) am stärksten die Züge eines höfisch Werbenden, selbst die versteckte Reaktion der vrouwe Kudrun wird angedeutet. Während bei Herwig dessen persönliche Überlegenheit den Makel der weniger vornehmen Herkunft ausgleicht, misslingt dies bei Hartmut, der den ‚falschen‘ Weg einschlägt, nämlich die höfische Werbung: „Höfischer Frauendienst bleibt Fremdkörper im Heldenepos, zweideutig, diskriminierend und diskriminiert.“138 Dennoch versucht die Kudrun über die Männerfiguren der ‚jungen‘ Generation ein ideales Männlichkeitsbild zu diskutieren, das durch die Ausgewogenheit der beiden Ideale markiert wird: Ein der Situation angepasstes und adäquates Handeln, wobei die Waagschale des Männlichkeitskonstruktes eher zum höfischen Krieger als zum toben in zornes sîten, tendiert, denn ein ‚monologisches‘ Männlichkeitsmodell, wie es noch Wate oder Hagen verkörpern, scheint in jedem Fall der Vergangenheit (nicht aber der Vergessenheit!) anzugehören. Auch bei den Frauenfiguren, deren Weiblichkeitsmodelle ebenfalls heterogen139 dargestellt werden, lässt sich eine Entwicklung nachvollziehen. Schon die verwitwete Ute (die Gemahlin Gers) verkörpert die Figur der politischen Ratgeberin, indem sie ihren Sohn in Heiratsangelegenheiten maßgeblich beeinflusst (K 7ff.). Diese politisch-herrschaftliche Einflussnahme verstärkt sich bei ihrer Schwiegertochter Ute von Norwegen, die ihren Ehemann geschickt protegiert und berät, um die Macht und das Ansehen Irlands zu erhöhen. Siegeband vertraut dem Urteil und den pragmatischen Vorschlägen seiner Frau und erfüllt ihr jeden Wunsch (K 27ff.). Ute erweist sich ihrem Mann gegenüber geradezu überlegen: Während sie vor der Ehe bereits den Status der „küniginne“ besitzt, ist Siegeband ausdrücklich noch „kneht“ und muss erst den Ritterschlag erhalten, bevor er sie ehelichen darf (K 18ff.). Auch als der kleine 138 Müller, Jan-Dirk (1998), S. 409. 139 Entgegen der Feststellung Schmitts, welche die Weiblichkeitsmodelle in der Kudrun als „eher eindimensional“ beschreibt, vgl. Schmitt, Kerstin (2003), S. 212.

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Hagen entführt wird, reagiert Ute gefasst (vertrauend auf Gott), während ihr Gemahl fassungslos weint (K 62). Hilde von Indien nimmt dagegen eine untergeordnete Rolle ein (vermutlich bedingt durch den ‚überdeterminierten‘ Heros Hagen), dafür präludiert sie die (überlebens-) wichtigen Verhaltensweisen des Erleidens und Ausharrens in der Fremde unter standesunwürdigen Bedingungen wie später ihre Enkelin Kudrun. Ihre Tochter Hilde dagegen schöpft alle Machtmöglichkeiten aus, die eine Frau und Herrscherin ausüben kann, indem sie ihren Mann nicht nur zu Lebzeiten als kluge Ratgeberin ergänzt, sondern vor allem als Witwe alle herrschaftlichen Funktionen (mit Ausnahme des militärischen Kampfes, der ihr als Frau nicht zusteht) an der Stelle und offensichtlich auch im Sinne ihres Mannes – denn sie wird von allen männlichen Verwandten Hetels unterstützt – vorbildlich erfüllt. Gerlind dagegen ist das Negativ-Pendant zu Hilde. Sie beeinflusst nicht nur die politischen und militärisch-strategischen Entscheidungen des normannischen Herrschers, sondern stellt ihren Ehemann und Sohn dabei häufig genug in den Schatten, wofür sie besonders von Hartmut mehrfach gerügt wird (K 1014; 1379). Genau in dem Moment, in dem Gerlind ihre weibliche Geschlechtergrenze überschreitet bzw. ihrem Sohn kriegstechnische Ratschläge erteilt und ihre Hofdamen zu Kriegerinnen rekrutieren will, wird sie von Hartmut schroff zurückgewiesen (K 1385ff.). Doch Gerlind lässt sich davon nicht abschrecken (obwohl sie zunächst in Tränen ausbricht; K 1387). Schon eine Strophe später befiehlt sie den normannischen Kriegern, sich zu rüsten und stachelt sie wie ein Befehlshaber der obersten Heeresleitung erfolgreich an (K 1388ff.). Dieses normtransgredierende Verhalten sowie ihre unrechtmäßigen und grausamen ‚Erziehungsmethoden‘ Kudrun (und ihren Hofdamen) gegenüber werden ihr schließlich zum tödlichen Verhängnis. In der Figur Kudruns scheinen hingegen sämtliche Eigenschaften ihrer Vorfahren vereint zu sein: In ihr werden sowohl strategisch-herrschaftliche als auch unerbittlich-heroische Komponenten sichtbar, die sich nicht nur in der Figurengestaltung ihrer weiblichen Aszendenten (Ute, Hilde) finden, sondern vor allem einen konstitutiven Teil des männlichen Herrscherideals (Hagen, Hetel) darstellen. Jene Eigenschaften werden jedoch erst während Kudruns Gefangenschaft in der Fremde ausgebaut und gleichzeitig mit einem Erzählmodell kombiniert, das an die Märtyrerinnen des Christentums erinnert: Durch das hagiographische Muster, das aktive Gewalt ausschließt und stattdessen passiven Widerstand, Erleiden und Ertragen idealisiert, wird ein vorbildliches Modell weiblichen Heldentums etabliert. Im Gegensatz zu Kriemhild, die ihre Geschlechtergrenzen durch die Tötung Hagens mit dem Schwert überschreitet, bleibt Kudrun daher stets innerhalb des ihr vorgegebenen weiblichen Bereiches. Doch nur aufgrund der idealisierten Bindungen

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des hegelingischen Personenverbandes, die den desaströsen nibelungischen Verhältnissen gegenübergestellt werden, wird Kudruns Figurenkonzeption erst ermöglicht. Damit präsentiert das Weiblichkeitsmodell zum einen, indem es sich bewusst vom Prinzip der normtransgredierenden Rächerin abwendet, ein fortschrittliches, ‚zukunftweisendes‘ Ideal, und suggeriert zugleich ein Programm der Kontinuität über den Wechsel der Generationen hinweg. Auch die Intention der Kudrun, Herrschafts- und Friedenssicherung durch geschickte Heirats-, Allianz- bzw. Friedenspolitik, wird einerseits bereits von Anfang an im Hagen-Teil vorgestellt, andererseits jedoch vor allem anhand der ‚jungen‘ Generation exemplarisch durch die Protagonistinnen Hilde und Kudrun mithilfe eines Generationenwechsels als progressiver Fortschritt, als lineare, aufsteigende Entwicklung dargestellt. Auch hierin erweist sich das Werk im Hinblick auf das Nibelungenlied, das mit der Vernichtung einer ganzen Helden-Generation endet, als ‚positives‘ Ergebnis einer ‚neuen‘ Text-Generation.

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4. Rosengarten zu Worms Der Rosengarten zu Worms1, zur Unterscheidung zum Laurin bzw. dem Kleinen Rosengarten auch der Große Rosengarten genannt, ist in 21 Handschriften vom Ende des 13. bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts sowie in den sechs Drucken des Heldenbuchs (1479-1590) überliefert. Man vermutet, dass die früheste Fassung des Rosengarten, der zur aventiurehaften2 Dietrichepik gezählt wird, noch in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts bzw. vor 1250 entstanden ist. Die Dichter bzw. Bearbeiter der verschiedenen, im Hildebrandston abgefassten Versionen sind nicht bekannt.3 Die Überlieferung ist so divergent, dass man mindestens fünf Versionen unterscheiden muss: Es handelt sich um die Siglen A, DP, F und C sowie die niederdeutsche Version R13, die sich nicht nur im Handlungsverlauf, sondern vor allem hinsichtlich der Darstellung ihrer Protagonistin Kriemhild unterscheiden.4 „Es verbietet sich also im Grunde, überhaupt von ‚dem‘ Rosengarten zu sprechen.“5 Die folgende Untersuchung konzentriert sich auf die Versionen A, DP, F, die in der Ausgabe von Georg Holz vorliegen.6 Neben den epischen Texten existiert eine dramatische Bearbeitung in zwei Fassungen: Das recken spil. Ain vasnacht spill 1 2

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Im Folgenden Rosengarten. Kennzeichnend für die aventiurehafte Dietrichepik ist nach Heinzle die „strukturelle Offenheit der Texte“, nach der die verschiedenen Versionen der Werke verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten darstellen. Die „strukturelle Offenheit“ hängt mit der „Schablonenhaftigkeit der Texte“ zusammen, die Beweglichkeit und Kollision einzelner Erzählelemente bewirken und von dem jeweiligen Verfasser als variierende Erzählmöglichkeiten („Freiheit des Tradierenden“) genutzt werden, vgl. Heinzle, Joachim (1978), S. 231. Vgl. Heinzle, Joachim: Art. „Rosengarten zu Worms“. In: VL 8 (1992), S. 187-192, sowie ders. (1978), S. 44ff. Vgl. die Übersicht bei Heinzle, Joachim (1999), S. 169ff. Bennewitz, Ingrid (2000) [2000 b], S. 43. Die Gedichte vom Rosengarten zu Worms. Hrsg. von Georg Holz. Halle an der Saale 1893. Die vorliegende Arbeit verwendet für die Version A die ältere Vulgat-Fassung A (Holz A 390 Strophen); für die Version DP die Vulgat-Fassung D (Holz D 633) und die aus drei Fragmenten bestehende Version F (Holz F), vgl. auch Heinzle, Joachim (1999), S. 173. Die folgenden Fassungen werden nicht eigens behandelt: Die Fassung P der Version DP, die mit D im Wesentlichen übereinstimmt, aber kürzer ist (vgl. Bartsch, Karl [1859], S. 1-33); der Dresdner Rosengarten (d.h. die dritte Fassung der Version A, vgl. Der Heldenbuch in der Ursprache, Bd. 2, [1825]); die jüngere Vulgat-Fassung A (d.h. die zweite Fassung der Version A, vgl. Das Deutsche Heldenbuch 1966 [1867]); die Version C, die eine Mischung des A- und des DP-Typs darstellt (vgl. Der Rosengarten. Hrsg. von Wilhelm Grimm. Göttingen 1836) sowie die niederdeutsche Version R13, von der nur 53 Kurzzeilen erhalten sind und die Holz strophisch hergestellt hat, vgl. Holz, Georg (1893), S. LXXf.

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von den risn oder recken aus der Sterzinger Sammlung Vigil Rabers (1511) und die Berliner Fragmente eines Rosengartenspiels (1533). Der Rosengarten wurde auch in Der hürnen Seufrid. Tragoedie in sieben Acten (1557) von Hans Sachs verarbeitet.7 Lange Zeit nahm man an, Version A repräsentiere die älteste Fassung, aus der (über eine Zwischenstufe) D(P) und F entwickelt worden seien. Da man über die Priorität von A oder D aber keine eindeutige Aussage treffen kann, werden die Texte inzwischen als eigenständige Versionen verstanden: „Die ‚Rosengarten‘-Texte A, C, D, F und P sind in diesem Sinne inkommensurabel; A, D und F sind eigenständige Ausformungen des Stoffes; C kombiniert in freier Weise Elemente des A- und D-Typus; P stimmt im Grundriß zum D-Typus, verfährt im einzelnen aber völlig selbständig.“8

Motivliche Parallelen wie z.B. das Herausforderungs-Motiv, das Reihenkampf-Schema oder die Lokalisierung in einem Rosengarten verbindet den Rosengarten mit anderen heldenepischen Texten wie Biterolf und Dietleib9, Thidrekssaga10, Virginal11, Eckenlied12 und Laurin13. Vor allem zwischen Nibelungenlied und Rosengarten können wichtige intertextuelle Bezüge hergestellt werden. Während sich Helmut de Boor (1959) noch gegen einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Nibelungenlied und Rosengarten aussprach – „der Dichter des Rosengarten A hat das Nibelungenlied sicher gekannt, aber er hat es nicht ausgenutzt“14 – und (wie später Karl-Heinz Ihlenburg15) den Text in erster Linie als Kritik am Minne- und Aventiurewesen des ArtusRomans“16 begriff, erkannte er doch gleichzeitig bereits seinen parodistischen 7 8 9 10 11

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Vgl. Kap. 6. der vorliegenden Arbeit. Heinzle, Joachim (1978), S. 125. Dass Biterolf und Dietleib vom Rosengarten abhängt, hat Brestowsky wahrscheinlich machen können, vgl. Brestowsky, Carl (1929), S. 63ff. Vgl. dazu Heinzle, Joachim (1999), S. 181f; vgl. außerdem die Episode „Thidreks Zug ins Bertangenland“ (Ths S. 236-265) in der Thidrekssaga. Das Reihenkampf-Schema findet sich auch in der Virginal: Dietrich, Hildebrand, Biterolf und Dietleib sowie weitere Berner Helden kämpfen in 11 Zweikämpfen gegen Nitger und seine Riesen; am Ende wird Nitger besiegt und muss sein Land von Dietrich zu Lehen nehmen (V 711ff.; 848ff.); vgl. dazu auch Heinzle, Joachim (1999), S. 181; 140f. Im Eckenlied findet sich das Herausforderungs-Motiv: Der junge Riese Ecke will sich von Dietrich von Bern im Kampf messen. Seburg, die Königin von Jochgrimm, wünscht, den Berner zu sehen und beauftragt Ecke, Dietrich herbeizubringen (E 1ff.). Zu einer möglichen Abhängigkeit des Rosengarten vom Laurin und den Parallelen von Thidrekssaga, Biterolf und Dietleib, Laurin sowie Rosengarten, vgl. Lunzer, Justus (1927), S. 161213. Dass man der Parallelität der Kampfplätze im Laurin und im Rosengarten Bedeutung zumaß, beweist die häufige Verbindung der beiden Werke in der Überlieferung, z.B. auch in der Frankfurter Handschrift: Hier wird der Laurin als der kleine rosen garte (Blatt 16r), der Rosengarten dagegen als der große rosen garte von wormse (Blatt 24r) bezeichnet, vgl. Heinzle, Joachim (1999), S. 184. Boor, Helmut de (1966) [1959], S. 230. Ihlenburg, Karl Heinz (1986), S. 41-52. Boor, Helmut (1966) [1959], S. 239.

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Charakter und die besondere Position Kriemhilds: „[D]der Schlüssel zum Verständnis der Rosengartendichtung liegt in der Gestalt Kriemhilds.“17 Joachim Heinzle (1978) zufolge geht es im Rosengarten weder um den Wert des Höfischen noch um das rechte Verhalten in der höfischen Welt: „Erzählt wird – nach dem Herausforderungsmodell – die Geschichte von der bösen Kriemhild und ihrer Bestrafung durch die moralisch und physisch überlegenen Berner.“18 Der Rosengarten sei darüber hinaus ein Stück Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes, entworfen und weiterentwickelt in ständiger Assoziation mit dem Prätext. Auch Heinzle betont die Besonderheit der Kriemhild-Figur: „[D]ie Kriemhild-Konzeption des ‚Rosengarten‘ ist überhaupt nicht denkbar ohne das ‚Nibelungenlied‘.“19 Nach den allgemeineren Überlegungen von Kurt Ruh20, den grundlegenden Arbeiten von Helmut de Boor, Joachim Heinzle und Peter Stein21 wurde es in der Forschung erneut still um den Rosengarten. Erst in den letzten Jahren sind aus gender-spezifischer Sicht Untersuchungen entstanden, die die Kriemhild-Figur fokussieren;22 daneben sind einige wenige allgemein gehaltene Arbeiten23 zu erwähnen. Insgesamt wird das Werk – entgegen seiner mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rezeption, deren weite Verbreitung großes Interesse und Beliebtheit demonstriert – heute immer noch stiefmütterlich behandelt.

4.1. Version A Die Version A beginnt mit der Vorstellung Kriemhilds als „keiserlîche meit“ (Ro A 2,4) und als Tochter König Gibichs von Worms. Dieser hat mit seiner Frau – die im Folgenden aber nicht weiter erwähnt wird – „drî süne“ (Ro A 2,2), von denen aber nur Gernot und Gunther in der Handlung vorkommen. Im Gegensatz zum Nibelungenlied, wo Dankrat bereits verstorben ist (NL 7,2), erscheint er hier quasi als alleinerziehender Vater, der seiner Tochter offensichtlich einen prächtigen Rosengarten geschenkt hat, denn Kriemhild „hête einen anger mit rôsen wol gekleit“ (Ro A 5,1). Der Garten ist von einem seidenen Faden umzäunt und wird von zwölf Helden, darunter ihre Brüder und Siegfried, bewacht. Die Königstochter ist bereits mit Siegfried verlobt (entgegen dem Nibelungenlied, das diese Konstellation nicht kennt), wünscht 17 18 19 20 21 22 23

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Ebd. S. 230. Heinzle, Joachim (1978), S. 252. Ebd. S. 252. Vgl. Ruh, Kurt (1979), S. 15-31. Vgl. Stein, Peter K. (1981), S. 29-84. Vgl. Bennewitz, Ingrid (2000) [2000 b]; sowie Nolte, Ann-Katrin (2004). Vgl. Grimm, Ghislaine (2003/2004), S. 91-104; sowie Schumacher, Meinolf (2003/2004), S. 91-104.

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aber, dass dieser sich mit Dietrich von Bern misst, und so ersinnt sie „manege liste“, „wie si ze samene bræhte die zwêne küenen man / durch daz man sæhe, von welhem daz beste würde getân“ (Ro A 4,3f.). Walther, einer der zwölf Helden am Wormser Hof, reagiert auf die Worte Kriemhilds ungehalten, er kritisiert nicht nur ihren übermuot, sondern ist der Meinung, dass Dietrich nicht besiegt werden könnte. Angestachelt durch dieses reizvolle Hindernis, befiehlt Kriemhild, sogleich einen Boten mit der Herausforderungsnachricht nach Bern zu senden (Ro A 14). Die Erzählschablone des Männervergleiches ist aus dem Nibelungenlied bekannt: Brünhild will sich dort Klarheit über das Rangverhältnis zwischen Gunther und Siegfried verschaffen und lässt den Schwager unter dem Vorwand eines Wiedersehens unter Verwandten nach Worms einladen (NL 724ff.). Im Gegensatz zu Kriemhild im Rosengarten, die ihre Herausforderung öffentlich ausspricht, muss Brünhild (ebenso wie später Kriemhild bei der Einladung der Burgunden in Etzels Land; NL 1400ff.) ihr Anliegen unter dem Vorwand falscher Tatsachen und in der intim-erotischen Atmosphäre des ehelichen ‚pillow talk‘ (NL 726ff.) vorbringen. Die Erzählschablone erinnert aber auch an das Erzählmuster des Brautwerbungsschemas wie z.B. in der Kudrun24 oder im Nibelungenlied25, mit der Besonderheit, dass im Rosengarten Kriemhild, also eine Frau, die Botenfahrt initiiert und das Schema unterlaufen wird. Sabin, der Herzog von Brabant, erklärt sich willig zum Botendienst bereit – allerdings unter der Bedingung, zur Belohnung die Hand der Herzogin Bersabe zu erhalten (Ro 15ff.). Als Kriemhild sich einverstanden zeigt und ihre Hofdame Bersabe darüber informiert, reagiert diese jedoch empört über die Verfügungsgewalt Kriemhilds: „‘Ich enbin niht iuwer eigen‘“ (Ro A 19,1) und zieht zusätzlich mit ihrem Urteil nicht nur die Botenfahrt, sondern auch die Autorität ihrer Königin in Zweifel: „‘welt ir die helde morden, daz sol ân mîne schulde sîn‘“ (Ro A 19,2). Mit dem Stichwort eigen26 wird der Königinnenstreit aus dem Nibelungenlied aufgerufen, in dem Kriemhild und Brünhild den Status und die Machtverhältnisse der Ehemänner und schließlich den eigenen Rang hitzig diskutieren: Der Disput entzündet sich aufgrund des übertriebenen Schwärmens Kriemhilds von ihrem Gatten, worauf Brünhild der Schwägerin Kontra bietet, indem sie ihr erklärt, sie habe auf Isenstein selbst gehört, dass Siegfried ein burgundischer Leibeigener sei27: „‘des hân ich in für eigen‘“ (NL 821,3). 24 Hetel will um Hagens Tochter Hilde werben; da Horant die Botenrolle ablehnt, soll Wate die Botschaft überbringen (K 224ff.) 25 Gunther wirbt mit Siegfrieds Hilfe – der zunächst ebenfalls von der Unternehmung abgeraten hatte – um Brünhild (NL 329ff.). 26 eigen: leibeigen, hörig, untertan; hier als Leibeigene übersetzt, vgl. Lexer: Bd. 1, Sp. 518. Im Königinnenstreit wird eigen und eigen diu sieben Mal von Kriemhild und Brünhild verwendet, vgl. NL 821,3; 822,2; 825,1; 827,2; 828,4; 830,1; 838,4; 841,2. 27 Die Handschrift C des Nibelungenliedes betont dagegen Brünhilds Initiative beim Streit der

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Erst als Brünhild den Lehensdienst von Siegfried einfordert (NL 823), antwortet Kriemhild mit Siegfrieds Anspruch auf Überlegenheit („‘er ist tiwerr danne sî / Gunther mîn bruoder‘“ NL 824,2f.) und steigert anschließend den eigenen Anspruch ins Unerhörte: „‘ich will selbe wesen tiwerr, danne iemen habe bekannt / deheine küneginne, diu krône ie her getrouc‘“ (NL 829,2f.). Gleichzeitig bezichtigt sie die Schwägerin als „übermüete“ (NL 825,4; 842,1). Der Streit kulminiert in Kriemhilds Beschuldigung, Brünhild hätte sich selbst durch die Hochzeitsnacht zur „kebse“ Siegfrieds (NL 839,4) degradiert. Joachim Heinzle zufolge entwickelt Kriemhild im Königinnenstreit „genau die Züge von Selbstüberhebung, die sie im ‚Rosengarten‘ an den Tag legt.“28 Auch nach Ingrid Bennewitz wird diese Szene im Rosengarten „isoliert und als paradigmatisch für Kriemhilds Rolle interpretiert.“29 Der Rosengarten beginnt also bereits in der Introduktion mit einer Negativ-Zeichnung ihrer Figur, die zugleich auf ein Misslingen des Unternehmens verweist. Nachdem Sabin seine Botschaft durch Kriemhilds Brief in Bern überbracht und speziell auf den möglichen Lohn – jedem der Gewinner winkt ein Rosenkranz sowie „ein helsen und ein küssen von der jungen künegîn“ (Ro A 53,2ff.) – verwiesen hat, reagiert Dietrich mit Unverständnis. Er kann nicht begreifen, warum alle Frauen darauf drängen, ihren Zukünftigen mit Dietrich messen zu wollen: „‘Numme dumme âmen!‘ sô sprach her Dietrîch, ‚wie sint dise vrouwen sô rehte wunderlîch, daz ir vil selten keiniu wil nemen einen man, ich enhabe mit ime gestriten oder muoz in noch bestân.‘“ (Ro A 54)

Dietrich zeigt zunächst wenig Lust, sich mit dem unbesiegbaren Helden Siegfried zu messen. Doch je länger er dem Inhalt des Briefes lauscht, der vom Kaplan verlesen wird, desto größer wird sein Zorn über Kriemhild, die er nun als „hôchvart“ (Ro A 81,2) bezeichnet: Mit 60 000 Kriegern und seinen 12 Helden will er zum Rosengarten-Abenteuer aufbrechen. Zuvor muss erst noch der mit Dietrich verwandte junge „degen“ (Ro A 106) Dietleib von Steier30 benachrichtigt werden, denn dieser scheint als Einziger dazu geeignet zu sein, gegen Walther anzutreten. Ein Bote Dietrichs reist zu Biterolf und unterrichbeiden Frauen deutlich: Kurz bevor die Auseinandersetzung der Kontrahentinnen beginnt, überlegt sie, wie sie die Schwägerin dazu bringen kann, ihr zu erklären, weshalb Siegfried Burgund so lange keinen Zins gezahlt habe: „‘Kriemhilt muoz mir sagen, / warumbe uns also lange den zins versezzen hat / ir man, derst unser eigen. der vrage han ich keinen rat.‘ / Sus warte si der wile, als ez der tiufel riet.“ (NL C 821,1ff.). Diese Verse fehlen in den Handschriften A und B. Die vorher nur ‚listige‘ Brünhild wird hier als vom Teufel geleitet beschrieben, Kriemhild dagegen entlastet. 28 Heinzle, Joachim (1978), S. 252. 29 Bennewitz (2000) [2000 b], S. 52. 30 In der Version D ist Dietleib der Neffe Gotelinds (Ro D 88,2) – und Gotelind ist im Nibelungenlied und in Biterolf und Dietleib „nîftel“ von Dietrich (vgl. NL 2314,3 und BuD 11551); in der Version F wird Dietleib explizit als „neve“ Dietrichs bezeichnet (Ro F III,19).

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tet den Vater von der Einladung des Berners, doch Dietleib hält sich in Bechelaren bei Rüdiger31 auf. Rüdiger beurteilt Kriemhilds Herausforderung als jungendlichen Leichtsinn („‘daz ist kintlîch getan‘“, Ro A 115,3; auch Biterolf spricht in diesem Kontext zuvor von der „affenheit“ Kriemhilds, Ro A 111,4) und nennt sie „vâlandîn“ (Ro A 116,5) – mit diesem Schmähwort bezeichnet Hagen Kriemhild am Ende des Nibelungenliedes, nachdem diese Gunther hat enthaupten lassen (NL 2371,4). Rüdiger muss den jungen Boten Sigestab allerdings enttäuschen, denn Dietleib ist nicht vor Ort, sondern hält sich in Siebenbürgen auf, wo er gegen ein Meerwunder kämpft; und Sigestab muss wieder weiterreisen. Diese amüsante Anekdote parodiert zum einen die (quasi umgekehrte) Vatersuche Dietleibs aus Biterolf und Dietleib, zum anderen wird sie genutzt, um die hôchvart und den übermuot Kriemhilds auch von anderen bedeutenden Helden mehrfach zu bestätigen. Als Dietleib endlich in Bern ankommt, wird er von Dietrich aufs herzlichste begrüßt: „er halste in unde kuste in“ (Ro A 126,4); diese Szene kann man als Zeichen verwandtschaftlicher Zuneigung oder schlicht als rituelles Handeln werten, sie spiegelt aber auch die positive Seite der später von Kriemhild (z.T. unwillig) verteilten Küsse und Umarmungen wider. Nun muss als zwölfter Krieger nur noch der Mönch Ilsan32, Hildebrands Bruder (Ro A 141,4), benachrichtigt werden. Das Dietrich-Heer zieht zum Kloster Isenburg und schlägt ein Lager vor dessen Toren auf, so dass die Mönche fürchten, es handele sich um eine feindliche Belagerung. Ilsan wappnet sich mit seiner alten Rüstung und zieht vor das Tor – Hildebrand, der den Bruder sofort erkennt, reitet ihm entgegen, ohne sich aber zu erkennen zu geben. Doch bevor es zu einem ernsthaften Kampf kommt, nimmt Hildebrand den Helm ab und Ilsan kann den Bruder identifizieren (Ro A 144). Der noch rechtzeitig verhinderte Kampf zwischen den Brüdern erinnert zum einen an das (ältere und jüngere) Hildebrandslied, wo Hildebrand und Hadubrand/ Alebrand gegeneinander antreten, zum anderen an den Vater-Sohn-Kampf von Biterolf und Dietleib im gleichnamigen Werk (BuD 3632ff.).33 Obwohl sich der Abt – mit dem Hinweis auf die eigentlichen Aufgaben eines Mönches  – zunächst gegen eine Abreise Ilsans ausspricht, stimmt er schließlich aufgrund der Drohungen seines geistlichen „bruoder[s]“34 (Ro A 158,1) unter der Bedingung zu, dass Ilsan ihm einen Rosenkranz mitbringen 31 Rüdiger ist der Ehemann von Gotelind, vgl. Nibelungenlied (NL 1159) oder Biterolf und Dietleib (BuD 980), damit wäre dieser auch ein angeheirateter Verwandter von Dietrich und Dietleib. 32 Auch im Wolfdietrich D sind Hildebrand und Ilsan Brüder (Wd D 2099-2099A). In Alpharts Tod wird Ilsan ebenfalls als Mönch und Hildebrands Bruder bezeichnet; dort kommt er Dietrich mit 1100 Klosterbrüdern gegen Ermrich zur Hilfe (A 404,3f.). 33 Vgl. Kap. 4. der vorliegenden Arbeit. 34 Mit bruoder wird also nicht nur das leibliche Verwandtschaftsverhältnis (Ilsan-Hildebrand), sondern auch das geistige Verwandtschaftsverhältnis (Ilsan-Klosterbrüder) bezeichnet.

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soll (Ro A 156-158). Ilsan verspricht dies und fügt dem hinzu, er werde dafür sorgen, dass alle seine 52 Mitbrüder einen Kranz erhalten werden. Doch beim Aufbruch des Berner Heeres senden die Mönche Flüche hinter Ilsan her und „bâten Crist von himel [...] / daz er niemer kæme wider, er würde tôt geslagen“ (Ro A 164,3f.). Der heroische Mitbruder ist offensichtlich unbeliebt und gefürchtet, schon bei der ersten Erwähnung wird von den Mönchen berichtet, dass „sie vorhten alle sînen zorn“ (Ro A 185,4). Die geistliche Verwandtschaft der Klostergemeinschaft erweist sich als gestört; statt sich an das friedlichkontemplative Leben der Mitbrüder zu halten, wird Ilsan offensichtlich von seiner eigentlichen ‚Natur‘, dem kriegerischen Helden, dominiert. Auch die triuwe-Bindungen zu seinem leiblichen Bruder und seinem weltlichen Herrn Dietrich von Bern überlagern die Verpflichtungen gegenüber seiner ‚geistlichen Familie‘. Das Motiv der Moniage und das des ‚rückfälligen‘ Mönches, der im Grunde immer ein weltlicher Held bleiben wird, ist z.B. aus dem Wolfdietrich D35 und der Thidrekssaga36 bekannt und verdeutlicht, „daß die Welt der Heldenepik in der Figur eines Mönchs-Helden mit der Welt der Mönche zusammenprallt.“37 Hier und im folgenden Verlauf entsteht ein Normenkonflikt zwischen dem mönchischen und dem heldischen Leben. Als die Berner in Worms ankommen, ist es Kriemhild, die die ‚Gäste‘ als erste erblickt (Ro A 167,4). Sie eilt zu ihrem Vater und rät diesem altklug: „‘vater, lieber herre, hâst du niht vernomen? der edel vürste von Berne ist in daz lant komen. nu rît im engegene, daz stât dir wol an.‘“ (Ro A 169,1-3)

Gibich nimmt den Vorschlag der Tochter gerne an: „‘Du hâst mir gerâten rehte, liebiu tohter mîn‘“ (Ro A 170,1) und begrüßt Dietrich und seine Männer. Der Berner jedoch lässt jede überflüssige Höflichkeit außer Acht und wirft Gibich gleich zu Beginn vor, die Tochter verzogen zu haben und mit ihrem Turnier das Leben der eigenen Leute und damit auch ihrer Familie aufs Spiel zu setzen: „‘warum lât ir den willen ir? warzuo hât ir sie gezogen?‘“ (Ro A 174,2). Doch der Vater nimmt die Tochter in Schutz und erklärt, dass „strîten“ nun mal Kriemhilds „spîl“ (Ro A 175,2) sei. Unterdessen haben sich Kriemhild und ihre Hofdamen prächtig gekleidet, der Königin wird eine Krone aufgesetzt, die sie mit „liehten schîn“ (Ro A 180,3) umgibt, und so herausgeputzt38 35 Im Wolfdietrich D zieht der Protagonist mit 500 Klosterbrüdern in den Kampf, um deren Kloster zu verteidigen (Wd D 2191ff.). 36 In der Thidrekssaga zieht sich Heime in ein Kloster zurück, um seine Sünden zu büßen. Die Mitbrüder leiden unter seiner heroischen, gewalttätigen Natur. Nach einiger Zeit erscheint auch Thidrek, die beiden alten Kämpfer erkennen einander, Heime verlässt das Kloster (ohne die Erlaubnis des Abts) und zieht mit Thidrek. Nach einiger Zeit kehrt Heime in das Kloster zurück und verlangt dort Abgaben für seinen Herrn, doch die Mönche weigern sich. Heime tötet den Abt und die Brüder, nimmt Gold und Geld und steckt das Kloster in Brand (Ths S. 447-457). 37 Schumacher, Meinolf (2003/2004), S. 96. 38 Vgl. auch Kriemhilds demonstrative ‚Aufrüstung‘ im Königinnenstreit des Nibelungenliedes (NL 831ff.): Die prächtigen Kleider und der Schmuck sind für den Ausdruck der Macht und

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empfängt sie die Berner in ihrem Garten. Wolfhart reagiert auf die pompöse Zurschaustellung ärgerlich, er wünscht sich, der Königin für ihre vermeintliche hôchvart einen „[backen]slac“ (Ro A 181,3) geben zu können, woran ihn sein Onkel Hildebrand jedoch hindern kann. Nach zehn Tagen werden die Kämpfe eröffnet, die Kampfpaare bestimmt. Sogar Gibich will antreten, denn zuvor war Kriemhild wegen einer geringschätzigen Bemerkung von Hildebrand beleidigt und bedroht worden (Ro A 194,5), dafür will der König seine Tochter rächen: „‘ich wil dich selbe rechen, liebiu tohter mîn‘“ (Ro A 196,3). An keiner Stelle findet sich ein negatives Wort zwischen Gibich und seiner Tochter, im Gegenteil, er nimmt sie in Schutz und setzt sich für sie ein. Nur Gernot sieht in Kriemhild die Schuldige an der sich bereits abzeichnenden Niederlage der Wormser: „‘uns hât brâht ze laster mîn swester Kriemhilt‘“ (Ro A 295,4). Als er dann selber im Kampf antreten muss, verwandelt sich der vorher noch selbstbewusste Held in eine ängstliche, fast lächerliche Figur, und flüchtet vor seinem Gegner Helmschrot: „dô muoste von im wîchen der küene Gernôt. / er lief vor den vrouwen umbe, sô sêre vorhte er den tôt“ (Ro A 300,3f.). Sein Bruder Gunther dagegen lässt nichts Negatives über die Schwester verlauten; als er im Kampf mit dem starken Amelolt unterliegt, rettet ihm Kriemhild das Leben: „wan sîn swester Kriemhilt, sô wære er ze tode erslagen“ (Ro A 307,4). Ebenso verfährt Kriemhild beim Kampf Hildebrands gegen Gibich, da der Vater dem alten Haudegen nicht gewachsen ist. Besorgt und ängstlich bittet sie „‘nu erslaht mir niht ze tôde den lieben vater mîn‘“ (Ro A 319,3). Die Begegnung zwischen Dietrich und Siegfried bildet den Höhepunkt der Rosengarten-Kämpfe. Dieses Motiv findet sich auch in der Thidrekssaga und in der Rabenschlacht39, aber nur im Rosengarten und in Biterolf und Dietleib existiert das dem Kampf vorgeordnete Zagheitsmotiv40 Dietrichs: Gleich für die Repräsentation der Herkunft wichtig. 39 Auch in der Thidrekssaga („Thidreks Zug ins Bertangenland“) kämpfen Siegfried und Dietrich gegeneinander (Ths S. 260f.); ebenso in der Rabenschlacht (Ra 646ff.): In dieser gewaltigen zwölftägigen Schlacht, in der Dietrich an den auf Ermrichs Seite kämpfenden Siegfried gerät und ihn überwindet, wird Ermrich vernichtend geschlagen. 40 Joachim Heinzle sieht in dem Zagheitsmotiv Dietrichs ein signifikantes Unterscheidungsmerkmal zwischen historischer und aventiurehafter Dietrichepik: In den aventiurehaften Texten und in Dietrich und Wenezlan (der allerdings zur historischen Dietrichepik gezählt wird!) zögere Dietrich, bevor er in den Kampf eintrete, in den historischen Dietrichepen dagegen fehle dieser Zug gänzlich, vgl. Heinzle, Joachim (1999), S. 35f. und ders. (1978), S.187ff. Ähnlich argumentiert Jens Haustein, der außerdem das Motiv von Dietrichs ‚Zagheit‘ als Teil des Fiktionalisierungs- und Individualisierungsprozesses mittelalterlicher Literatur im 12. und 13. Jahrhundert interpretiert, der sonst nur für die Gattung des höfischen Romans angenommen wird, vgl. Haustein, Jens (1998), S. 47-62. Anders dagegen Sonja Kerth: Nach Kerth muss Dietrich auch in Dietrichs Flucht (z.B. DF 2973ff; 4559ff.; 7820f.) von der Notwendigkeit des Kämpfens erst überzeugt werden, daher bleibe das Zauderermotiv nicht nur auf die aventiurehafte Dietrichepik beschränkt, vgl. Kerth, Sonja (2000), S. 173, Anm. 49.

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zu Beginn der Szene stellt sich der von Hildebrand als „der hôchvertige man“ (Ro A 325,1) beschriebene Siegfried selbstbewusst und angriffslustig auf den Kampfplatz und verhöhnt seinen Gegner Dietrich, indem er zur allgemeinen Belustigung fragt, weshalb der „zage“ (Ro A 323,2) Fürst von Bern so lange auf sich warten lasse. Für Siegfried ist die Sachlage eindeutig, der Berner ist einfach kein ‚richtiger‘ Held: „‘er [Dietrich; G.L.] hât nicht recken sin‘“ (Ro A 323,3). Zwischen Hildebrand und Dietrich, die den Hohn Siegfrieds gehört haben, entwickelt sich ein Streit, der sich nach außen hin als Disput über die Sinnlosigkeit bzw. Notwendigkeit eines Zweikampfes geriert, im Grunde jedoch die Normen und Konflikte des Heldenideals anhand eines Generationenkonflikts diskutiert: Während Hildebrand seinen Herrn zum Kampf drängt, versucht der Berner, dem alten Erzieher41 klar zu machen, dass die Chancen, den Helden zu besiegen, ziemlich gering seien. Nur zu gut weiß er um die Zwölf-Mann-Stärke Siegfrieds, um seinen Kampf mit dem Drachen und um die anschließende Hürnung – in einem kurzen Einschub resümiert Dietrich die Abenteuer Siegfrieds (Ro A 329-333), die z.B. auch im Hürnen Seyfrid42 präsent sind. Nach dem Abwägen der Gefahren erscheint die Haltung des Berners sinnvoll und durchdacht, denn er erkennt: „‘daz ich mit ime væhte, ich wære ein tumber man‘“ (Ro A 333,3). Doch der alte Hildebrand, ein Vertreter der traditionellen heroischen Ordnung, ist von dieser ‚unheroischen‘ Haltung wenig begeistert, er fürchtet Schande und Spott für seinen Herren. Hartnäckig wiederholt Dietrich: „‘ich hête in êrste bestanden, wære er mîn gelîch. / hête er vleisch und bein, ich wollte in gerne bestân‘“ (Ro A 340,2f.). Nun denkt sich Hildebrand eine List aus, um den heroischen zorn43 seines Herren und Ziehsohns – und damit genügend Kampfwut gegen Siegfried – zu evozieren, indem er dem Berner einen Faustschlag versetzt: „er sluoc in sô sêre, daz er viel ûf daz lant“ (Ro A 343,1). Der Plan geht auf, Dietrichs zorn, hier offensichtlich ein Reflex des Heros auf körperliche Gewalt, ist nun entfacht und richtet sich gegen Hildebrand. Wolfhart muss in den Streit eingreifen, damit sein Onkel nicht erschlagen wird. Nun reizt auch Wolfhart den Berner, so dass Dietrich kapituliert, sich wappnet und Siegfried entgegentritt. Als der Berner sich jedoch im Kampf als unterlegen erweist, ersinnt Hildebrand eine weitere List, um seinen Herrn in noch größere Wut zu versetzen 41 Nach König Dietmars Tod, dem Vater von Dietrich und seinem jüngeren Brüder Diether, übernimmt Hildebrand die Erziehung der beiden Jungen; davon berichtet nicht nur der Rosengarten (Ro D 485,3), sondern z.B. auch Dietrichs Flucht (DF 2536ff.). 42 Vgl. Kap. 6. 43 zorn und als seine Folge blindwütiges Rasen kennzeichnen den Heros seit den homerischen Epen; der zorn des Helden kann sowohl schaubarer Habitus (abgekoppelt von innerpsychischen Einstellungen) als auch spontaner Impuls sein, vgl. Müller, Jan-Dirk (1998), S. 203ff. Zur Diskursgeschichte des Zorns vgl. auch Grubmüller, Klaus (2003), S. 47-69. Auch im Eckenlied bricht Dietrichs gattungstypischer Zorn hervor (E 219,11), der ihm die nötige Kraft verleiht, seinen Gegner zu töten. Sowohl sein Zorn als auch sein Feueratem wurden häufig als feststehende mythische Attribute verstanden, vgl. Friedrich, Udo (2004), S. 293.

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und damit seine Kampfkraft zu erhöhen: Wolfhart soll verkünden, dass Hildebrand gestorben sei (Ro A 358). Wieder geht Hildebrands Plan auf, denn als Dietrich die Nachricht vernimmt, macht er Siegfried für den Tod des alten Helden verantwortlich (Ro A 361) und gerät dabei in solche Rage, dass er Feuer speit: „Her Dietrîch von Berne wart gar ein zornec man. / man sach im eine vlammen ûz sîme munde gân, / als von der esse tuot daz viur“ (Ro A 363,1ff.). Der Kampf zwischen Siegfried und Dietrich im Rosengarten D verläuft ähnlich wie in der Version A: Dietrich will gegen jeden anderen, aber nicht gegen Siegfried (den er „tiuvel“ nennt; Ro D 488,2) kämpfen, und wird von Hildebrand mehrfach mit dem Epitheton „verzagt“ tituliert (Ro D 472,1; 475,4; 486,1). Hier versucht der Erzieher seinen Herren an einem vermeintlich wunden Punkt zu treffen, indem er daran erinnert, dass Dietrich Land und Besitz von seinem Vater Dietmar geerbt habe (Ro D 484f.) und damit verpflichtet sei, die Tradition der kriegerischen Vorfahren fortzuführen und standesgemäß zu repräsentieren, indem er sich dem Kampf mit Siegfried stellt. Hildebrand kann nicht glauben, dass seine langjährige Erziehungspraxis (Ro D 485,3) und die heldische Abstammung einen ‚verzagten‘ Herrn hervorgebracht haben. Zornig erklärt er Dietrich, dass er kein Gefolgsmann eines solchen Herren sei: „‘Ir wurdet nie mîn herre, verzageter Dietrîch‘“ (Ro D 486,1). Doch auch dieses Argument, das die Familien-Ehre Dietrichs (der Amelungen) beleidigen müsste, lässt den Berner völlig kalt. Erst als Hildebrand ihm wie in der Version A einen Faustschlag versetzt, gerät Dietrich in zorn, schlägt zurück und tritt nun gegen Siegfried an. In der Version A ist Dietrich von solchem zorn erfüllt, dass er Rüstung und Hornhaut des Gegners verletzt, so dass der blutende Siegfried vor ihm fliehen muss und sich in Kriemhilds Schoß rettet. Seine Verlobte wirft schützend einen „stûchen“ (Ro A 365,3) über den Besiegten und bittet um Schonung. Doch Dietrich lässt sich erst erweichen, als Hildebrand in den Garten springt und sich als sehr lebendig erweist. Allerdings verlangt der Berner, dass er Siegfried nur verschonen wird, wenn Kriemhild von ihrem widertrutz ablässt („‘nu trîbet iuwern widertrutz selbe wieder în, / sô lan ich gerne mînen zorn hie an dirre stunt‘“, Ro A 369,2ff.) und damit zu einem Schuldeingeständnis bereit ist. Die Königin zeigt sich einverstanden und schlägt sich zum Zeichen der Niederlage „mit der viuste in ir munt“ (Ro A 368,4). Die Bestrafung Kriemhilds wird auch im weiteren Verlauf fortgesetzt: Ilsan, der nach seinem erfolgreich bestandenen Kampf mit Studenfuchs (Ro A 252ff.) weitere 52 burgundische Krieger besiegt, um für seine Mitbrüder die 52 Rosenkränze zu erhalten, fordert nun auch die entsprechende Anzahl von Küssen von Kriemhild. Während die Königin ihm die Küsse gibt, reibt Ilsan sie „so harte“ mit seinem struppigen Bart, dass ihr das Blut die Wangen hinunterläuft (Ro A 376,2). Hatte Kriemhild den Mönch vor seinem Kampf gegen

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Studenfuchs noch ausgelacht und ihm geraten, mit seiner Kutte über der Rüstung solle er lieber in den Chor gehen und eine Messe singen (Ro A 250), stellt sich nun heraus, dass sie Ilsan offensichtlich unterschätzt hat. Der Mönch ist kein zahmer Kirchenbruder, sondern ein aggressiver Kämpfer. Nicht nur im Kloster, auch im Kampf und bei der Bestrafung Kriemhilds erweist er sich als brutal und unbarmherzig, ein Verhalten, dass nicht nur das Ideal des Mönches ad absurdum führt, sondern auch das des Helden in Misskredit bringt. Das andere Extrem zeigen Eckehart und Hildebrand. Die beiden weigern sich nach ihren Kämpfen, die ihnen als Preis zustehenden Küsse von Kriemhild entgegen zu nehmen, weil sie eine „ungetriuwe meit“ (Ro A 294,2; 320,5) sei. Die Belohnung einer Dame zurückzuweisen, gilt nicht nur in der Heldenepik, sondern vor allem im Minnesang als Affront gegen die Dame und die höfische Ordnung. Die Szene erinnert aber auch an die Bankszene im Nibelungenlied, als Kriemhild mit ihrem Gefolge und ihren Insignien der Macht als Hunnenkönigin vor Hagen und Volker tritt. Die beiden Krieger bleiben demonstrativ sitzen, verweigern der Königin den ehrerbietigen Gruß und verharren in feindlicher Pose: Hagen hält das Schwert Siegfrieds auf dem Schoß, Volker seinen Fiedelbogen (NL 1780ff.). Auch wenn Kriemhild im Nibelungenlied bereits Königin und nicht nur Königstochter ist, bleibt sie machtlos gegenüber dem Angriff ihrer Gegner. Kriemhilds Turnier im Rosengarten endet damit, dass Kriemhild ihre Schande und ihre Schuld vor Dietrich offen zugibt: „swer ime selbe koufet spot, der muoz die schande hân“ (Ro A 379,4). Zur Strafe verliert sie ihren Rosengarten: „keinen garten hegete mê Kriemhilt diu schœne meit“ (Ro A 380,4), denn Gibich muss sein Land von Dietrich zu Lehen nehmen (Ro A 377). Explizit wird Kriemhild die Schuld daran gegeben: „alsô wart der künec eigen und ouch al sîn guot / daz machete Kriemhilt und ir übermuot“ (Ro A 378,3f.). Schließlich verabschiedet man sich, Dietrichs Männer kehren zurück nach Bern, Ilsan reitet heim ins Kloster. Dort angekommen, erschrecken die Mönche und bedauern zutiefst, dass ihr brutaler Mitbruder nicht erschlagen wurde (Ro A 387,4). Ilsan drückt jedem seiner 52 Brüder ein mitgebrachtes dorniges Rosenkränzlein so fest auf die Köpfe, „daz in‘z bluot beidenthalben über die ôren ran“ (Ro A 388,1). Ingrid Bennewitz hat in diesem Zusammenhang auf die parodierten hagiographischen Elemente des Rosengarten hingewiesen: Jene Rosenbekränzungen erinnerten an die Dornenkrönung Christi, Ilsans Auszug aus dem Kloster mute wie ein „Kreuzzug (gegen Kriemhild!)“ an, die Rosenkränze würden zu „Reliquien“.44 Wenn Ilsan seinen Mitbrüdern auch noch sarkastisch erklärt, dass ihre Schmerzen notwendig seien, denn sie sollten die Sünden, die er begangen habe, für ihn büßen: „‘ir büezet mîne sünde, die ich hân getân‘“ (Ro A 389,2) und die verängstigten Mönche ihm versichern: „‘lieber herre, sît ir sît wider komen, / sô hân wir iuwer sünde gar ûf 44 Vgl. Bennewitz, Ingrid (2000) [2000 b], S. 58f.

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uns genomen‘“ (Ro A 390,1ff.), scheint die geradezu ins Boshafte gesteigerte Parodie nicht mehr überboten werden zu können. Joachim Heinzle hingegen hat die Reaktion Ilsans anders interpretiert, er resümiert für den Rosengarten A: „Entscheidend ist, daß Kriemhild als Herrin der Aventiure und Veranstalterin des Männervergleichs negativ gezeichnet wird: als vâlandinne [...] und ungetriuwe meit [...], beherrscht von übermuot und hôchvart und getrieben von einer blutrünstigen Freude an Mord und Totschlag. Ilsan blutige Kuß-Aktion erscheint als gerechte Strafe, die die moralische Ordnung der Welt wieder herstellt.“45

Ich möchte bezweifeln, ob mit derartiger Brutalität die „moralische Ordnung der Welt“ wieder hergestellt wird (wenn es diese in der heldenepischen Welt überhaupt gibt). Im Grunde wird doch die Hilflosigkeit Kriemhilds und die der ebenso wehrlosen Mönche von Ilsan schamlos ausgenutzt; demonstriert wird vielmehr „die Macht des Stärkeren, der die Unbotmäßigkeit von Schwächeren nach seinem Gutdünken rächt.“46 Genauer gesagt geht es um die Abstrafung von Lebensformen, die die herrschende männlich-heroische Ordnung aus den Fugen zu bringen versuchen oder schlicht irritieren: In Kriemhilds Fall ist es ihr ‚unweibliches‘ Verhalten, das Ilsan zu diesem Korrektur-Versuch antreibt; bezogen auf die Mitbrüder ist es deren domestizierte mönchische Männlichkeit und Friedfertigkeit, die Ilsan offensichtlich zu einer Gewalttat herausfordern.

4.2. Version D Der Rosengarten D, der etwa doppelt so lang wie die Version A ist, verstärkt zum einen die Nähe zum Nibelungenlied, zum anderen den parodistischen Charakter und die Kritik an Kriemhild. Die Burgundenfamilie besteht wie in der Version A lediglich aus Gibich, seinen Kindern Gunther (auch eine Figur namens Brünhild47 wird in dieser Version erwähnt), Gernot und Kriemhild mit ihrem Verlobten Siegfried. Die Version D beginnt im Gegensatz zu A nicht mit der Herausforderung Kriemhilds, sondern mit der Herausforderung durch Gibich; und nicht Kriemhild, sondern ihr Vater ist der Besitzer des Rosengartens. Dieser lässt verkünden, wer auch immer die Hüter seines Gartens besiege, „dem wolte er mit willen werden undertân“ (Ro D 13,4). Diese Nachricht gelangt zu König 45 Heinzle, Joachim (1999), S. 185. 46 Schumacher, Meinolf (2003/2004), S. 99. 47 Der Text gibt keinen expliziten Hinweis darauf, dass Brünhild die Frau Gunthers ist. Holz vermutet, dass der Erzähler sie anstelle der Herzogin von Irland in die Version D eingefügt habe, vgl. Holz, Georg (1893), S. 264. Durch den Kontext des Streitgespräches (Ro D 522,2; 535,2) wird meiner Meinung nach jedoch deutlich, dass es sich um die Brünhild des Nibelungenliedes handelt.

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Etzel, der die Herausforderung annimmt, aber die Hilfe Dietrichs von Bern sucht. Nach Heinzle nimmt „[d]er Erzählansatz von der Aventiure [...] Kriemhild ein Stück weit aus der Verantwortung für die Kämpfe im Rosengarten heraus. Zwar erscheint sie auch in dieser Fassung in einem negativen Licht, doch geht es dem Verfasser offenbar nicht um die Statuierung eines Exempels. Er treibt vielmehr ein ironisches bis parodistisches Spiel mit den Vorgaben des ‚Nibelungenliedes‘, das keinen der Beteiligten schont.“48

Etzel reist nach Bern, wo inzwischen ein persönlicher Herausforderungsbrief von Kriemhild eingetroffen ist. Der Brief richtet sich speziell an junge Männer, denn der Schreiber, der den Brief vorliest, berichtet: „‘swer ritter ist worden oder ritter werden wil, / der hœre disiu mære und sol her zuo mir stân‘“ (Ro D 24,2f.). In diesem Brief wird auch deutlich, dass der Rosengarten wie in der Version A Kriemhild gehört: „‘Ez hât diu schœne Kriemhilt, sît daz si ein kindel was, / gezieret einen anger‘“ (Ro D 28,2). Wie in der Version A zeigt Dietrich wenig Lust, nach Worms zu reisen und auch der junge Wolfhart weigert sich – im Gegensatz zur Version A und zu anderen heldenepischen Texten49, in denen Wolfhart als klassischer Vertreter des heroischen Typus gilt und durch blinden Zorn und markige Reden auffällt – mitzukommen, da er Kriemhild verachtet: „‘Nu küsse sie der tiuvel! [...] rîtet ir dâhin, her Dietrîch, ich will hie heime stân‘“ (Ro D 38,1f.). Erst als Kriemhild durch ihren Brief mitteilen lässt, der Berner und seine Helden würden Schande auf sich laden, wenn sie nicht nach Worms zum Kampf kommen, entschließt man sich – einschließlich Wolfhart – nun doch zur Reise (Ro D 71ff.). Wieder werden die Kämpfer bestimmt, Dietleib und Ilsan müssen wie in der Version A erst noch geholt werden. Hildebrand bittet seinen Schwager Amelolt, dass er in der Abwesenheit Dietrichs auf die Harlungensöhne und den jungen Diether Acht geben soll; im Gegenzug dafür will Hildebrand die Verantwortung für seine Neffen Wolfhart und Sigestab in Worms übernehmen (Ro D 81ff.). Bei Ilsan im Kloster angekommen, weigert sich dieser zunächst – offensichtlich aus Gründen des Alters bzw. der Bequemlichkeit –, an der Fahrt nach Worms teilzunehmen: „‘Nu mac ich niemer reisen‘“ (Ro D 101,1). Schließlich kann Hildebrand den Bruder überzeugen, er erinnert Ilsan zum einen daran, dass er seinem Herren Dietrich einst triuwe und Hilfe geschworen habe, sobald der Berner sie benötige und appelliert außerdem an seine geschwisterliche bzw. „brüederlîche[r] triuwe“ (Ro D 102,1). Auf die Einwilligung des Abtes wird nicht lange gewartet; Dietrichs Drohung, man werde ansonsten das Kloster zerstören (Ro D 110ff.) reicht völlig aus, damit Ilsan ziehen kann. Auch hier sind die Mönche in Wirklichkeit erleichtert über seine Abreise und 48 Heinzle, Joachim (1999), S. 186. 49 Im Nibelungenlied treibt Wolfhart in blindem Zorn die Amelungen (Dietrichs Männer) in den Untergang (NL 2267 ff.); auch in der Virginal (V 615) will er sich wie im Rosengarten A (Ro A 198ff.) als erster in den Kampf stürzen. In Biterolf und Dietleib möchte Wolfhart dagegen statt einer Schlacht ein Turnier erleben (BuD 8197ff.).

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hoffen, dass er nie wieder zurückkommen wird, da sie wie in der Version A unter seiner Gewalttätigkeit gelitten haben (Ro D 115f.). Wolfhart reagiert irritiert und ablehnend Ilsan gegenüber, er weiß nicht, dass sein Onkel vor ihm steht: „‘Waz welt ir hie, her münech? [...] / ich wil mit iuch niht verre reisen in vremdiu lant‘“ (Ro D 1231ff.), woraufhin Ilsan den jungen Helden als übermuot bezeichnet. Wieder braucht es Hildebrand, um die Verwandtschaftsverhältnisse aufzuklären und die gereizte Stimmung zu beruhigen. Ilsan gibt sich zufrieden und erklärt Wolfharts aufbrausendes Verhalten damit, dass dieser und sein Bruder Sigestab nach ihrem Onkel Hildebrand geraten seien: „‘Sie sint nâch dir gewahsen, Wolfhart und Sigestab: / ân grôze stürme koment sie niemer in ir grap‘“ (Ro D 127,1f.). Unterwegs wird bei Etzels Gemahlin Helche Station gemacht und ihr von der bevorstehenden Reise, Kriemhilds Hochmut und ihrem wunderbaren Garten berichtet. Helche ist dem Leser als die erste Ehefrau Etzels und damit als Vorgängerin Kriemhilds aus dem Nibelungenlied oder aus Dietrichs Flucht und Rabenschlacht bekannt, ihre Vorbildlichkeit und Mildtätigkeit sind berühmt. Sofort wird eine gewisse Rivalität zwischen den beiden Frauen ersichtlich, denn Helche bestärkt nun ihrerseits Dietrichs Helden, sich im Kampf gegen die Wormser hervorzutun: „‘nu bringet uns der rôsen, von Berne her Dietrîch‘“ (Ro D 136,2). Dafür will sie die Männer prachtvoll ausrüsten, damit sie Kriemhilds Helden in nichts nachstehen: „‘Hânt sie bî dem Rîne ir rocke überzogen, ûf iegelîchen gesmîdet zwelf guldîne vogel, sô will ich ûf die iuwern alle samt besunder ûf ieglîchen heizen smîden zwelf guldîniu merwunder.‘“ (Ro D 140)

Außerdem verspricht sie jedem der Männer im Falle eines Sieges eine Jungfrau und ein Land (Ro D 151). Helche versucht mit allen Mitteln „mit der Wormser Erotik und Ästhetik gleichzuziehen“50, ihrer ‚Gegenspielerin‘ Kontra zu geben. Obwohl der Text sich bemüht, mit Etzels Gemahlin ein Gegenbild zu Kriemhild zu evozieren, ähneln sich die beiden Frauentypen, denn auch Helche verlangt von Dietrich selbstbewusst: „‘tuo ez durch den willen mîn‘“ (Ro D 153,3), wofür sie sogleich als „übermuot“ (Ro D 155,1) bezeichnet wird. Im Gegensatz zu Kriemhild ziehen Helches Worte keine negativen Auswirkungen nach sich, ihr Verhalten scheint an dieser Stelle vielmehr als ‚typisch weibliche‘ Wesensart oder als herrschaftlicher Habitus akzeptiert zu sein.

50 Seitter, Walter (1990), S. 148.

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4.2.1. Kriemhild im Rosenhag Bei ihrer Ankunft in Worms bestaunen Gibichs Untertanen die einziehenden Berner. Doch statt sich zu ihrer Königin solidarisch zu verhalten, wird Kriemhild von den eigenen Leuten als „hôchvart“ (Ro D 177,3) bezeichnet und die Berner als überlegen betrachtet: „Kriemhilt diu schœne mac wol in nœten sîn“ (Ro D 198,4). Rüdiger wird nun kostbar eingekleidet und ausgesandt, Kriemhild die Kampfansage Etzels und Dietrichs zu überbringen. Nach Heinzle ist Rüdigers Botschaft „völlig überflüssig“51, meiner Meinung nach ist sie jedoch wie geschaffen dazu, Kriemhild in ihrer Rolle als Rosenkönigin in ihrem Garten (noch dazu ist es Kriemhilds erster ‚Auftritt‘) zu präsentieren und gleichzeitig die parodistische Tendenz und den Bezug zum Nibelungenlied herauszustellen: Kriemhild thront unter einem Baldachin im Schatten einer Linde, umgeben von ihren fünfhundert Hofdamen, bekrönt mit einer goldenen Krone, die nicht nur mit funkelnden kostbaren Edelsteinen besetzt ist, sondern zwei kleine goldene Bildnisse von Kriemhild und Siegfried zeigt. Gold und Edelsteine strahlen so hell, dass ihr Haupt von einem „liehten schîn“ (Ro D 224,4), einem Strahlenkranz gleich, umgeben wird. Die Abgeschiedenheit des Gartens, die „bluomen und daz gras“ (Ro D 232,3), die (Wunder)Linde mit den herrlich (durch Blasebälge animierten) singenden Lerchen und Nachtigallen erinnern nicht nur an einen (pastourellentypischen) „locus amoenus“, sondern – wie Rüdiger später geradezu verklärt den Bernern berichten wird – an ein „himelrîch“ (Ro D 241,2) und ein „paradîse“ (Ro D 254,2). Die Requisiten von (roten) Rosen, Garten und paradiesischer Abgeschiedenheit erinnern auffällig an die Darstellungen Marias im Rosenhag52 – zumal die Rose53 nicht nur für weltliche und geistige Schönheit und Liebe steht, sondern vor allem auch als Symbol Mariens (und Attribut der Minnedame) gilt. Die parodierende hagiographische Tendenz verdichtet sich, wenn man den Überlieferungsverbund der Handschrift R6 betrachtet, die den Rosengarten zusammen mit Marien Rosenkranz, Marienlegende und dem Kleinen Rosengarten aufgenommen hat. Zu denken ist auch an Siegfrieds Flucht in Kriemhilds Schoß (im Kampf gegen Dietrich, Version A), die man als Parallele zur Jungfrau mit dem Einhorn54 51 Heinzle, Joachim (1978), S. 258. 52 Erste Belege für den Bildtypus der ‚Madonna im Rosenhag‘ finden sich in Deutschland um 1420. „Die Gottesmutter sitzt niedrig (vor oder auf einer Rasenbank), hinter der ein klargegliedertes, häufig von Rosen bewohntes Rosenspalier aufwächst, wobei die Rosenlaube vor Goldgrund das Beschlossensein im Garten noch verdichtet.“ Das Sujet der Madonna mit Rosenstock taucht in der Plastik bereits im 13. Jahrhundert auf, vgl. Schumacher-Wolfgarten, R: Art. „Rose“, LCI 3 (1971), Sp. 568. 53 Vgl. ebd. Sp. 563-568. 54 Das Einhorn kann nach Isidor nur im Einschlafen im Schoß einer Jungfrau gefangen werden. In den Kyranien wird das „laszive“ Tier von Wohlgeruch und Figur schöner Frauen betört und sein Horn als Amulett gegen Dämonen empfohlen, vgl. Hünemörder, Ch.: Art. „Einhorn“:

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lesen kann. Auch Ilsans 52 Küsse aus der Version A, die Kriemhilds Wangen blutig reiben und von ihr ertragen werden, erinnern an die Martyrien christlicher Heiliger. Abgerundet wird dieses Bild durch die Epitheta „keiserlîche meit“ (Ro A 2,4; 79,3), „himelische meit“ (Ro A 43,3) oder „küneginne zart“ (Ro D 330,1), die mit geläufigen Bezeichnungen der Jungfrau Maria korrespondieren.55 Gleichzeitig erweist sich Kriemhild auch als vollendete Minnedame, wenn sie Gruß, (Rosen)Kranz und Kuss vergibt (in der Version D vergeben lässt) und wie beim dienest âne lôn die êre des Mannes dadurch erhöht.56 Diese Überblendung von minnesangtypischen und mariologisch-hagiographischen Versatzstücken wird im weiteren Verlauf immer wieder ironischparodistisch gebrochen: So denunziert eine Hofdame ihre Königin als „hôchvart“ (Ro D 234,4); einer anderen Hofdame (und nicht Kriemhild) schenkt Rüdiger für ihr exzellentes Harfenspiel sein golden gewirktes Gewand. Später bei seinem Kampf gegen Gernot57 wird diese juncvrouwe ein Gebet für den Markgrafen sprechen und dafür von Kriemhild mit einer heftigen Maulschelle (Ro D 389) bestraft. Die Botenrolle Rüdigers erinnert natürlich nicht nur durch die ähnliche Konstellation an die Szene des vrouwen schouwen in Biterolf und Dietleib (BuD 6823), sondern auch an seine Rolle im Nibelungenlied, wo Rüdiger es ablehnt, sich von Etzel für die Botenfahrt zu Kriemhild (NL 1152ff.) ausrüsten zu lassen. Im Rosengarten dagegen erklärt er, der Bote eines mächtigen Königs müsse prächtig gekleidet sein (Ro D 210), worauf Etzel ihm ein Gewand im Wert von zwanzigtausend Mark schenkt (Ro D 211ff.). Im Nibelungenlied wirbt Rüdiger im Namen Etzels um die trauernde Witwe Kriemhild, die sich nur mit Mühe zu einer Ehe mit dem Hunnenkönig überreden lässt, wozu Rüdiger – zu dem Kriemhild Vertrauen fasst – einen wichtigen Teil beiträgt. Im Rosengarten dagegen sagt Rüdiger der Burgundenprinzessin den Kampf an – wenn auch im Auftrag Etzel und Dietrichs: „Gelehrte lateinische Tradition“, LMA 3 (1986), Sp. 1741. Das Einhorn, das den Kopf in den Schoß einer Jungfrau bettet, gilt als Symbol der Menschwerdung Christi und Sinnbild der unbefleckten Empfängnis Christi, vgl. Kocks, D.: Art. „Einhorn“: „Ikonographie“, LMA 3 (1986), Sp. 1741f. Auf dem berühmten Gemälde Stefan Lochners „Madonna im Rosenhag“ (um 1448) ist Maria von Rosen umgeben und mit einer von Edelsteinen besetzten Krone geschmückt. Ihr Mantel wird von einer Einhornbrosche zusammengehalten, vgl. Schumacher-Wolfgarten, R.: Art. „Rose“, LCI 3 (1971), Sp. 563-568. 55 Maria wird in den vielfältigen mittelalterlichen Mariendichtung z.B. als reine meit, himelische keiserinn, raine magt etc. bezeichnet, vgl. die Belege bei Bennewitz, Ingrid (2002) [2002 b] S. 55-74. 56 Vgl. Bennewitz, Ingrid (2000) [2000 b], S. 58f. 57 Auch im Nibelungenlied kämpfen Rüdiger und Gernot gegeneinander, wobei beide im Kampf sterben (NL 2218ff.). Da auf dem Weg ins Hunnenland Rüdiger seine Tochter mit Gieselher verlobt (NL 1680) hatte, sind Rüdiger und Gernot miteinander verwandt (Heirats- bzw. Schwägerverwandtschaft).

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„‘Kriemhilte der schœnen wellen sie [Etzel und Dietrich] strîtes gewern: sie wellen ir hie zertreten die bluomen und daz gras, daz siu begozzen werdent mit heizem bluote naz.‘“ (Ro D 232,2ff.)

Ist Kriemhild im Nibelungenlied zum Zeitpunkt der Werbung noch die fügsame Schwester-Tochter und Witwe, die wie eine Schachfigur nun auch in die zweite Ehe dirigiert wird, ist sie im Rosengarten als autarke, die Spielregeln selbst bestimmende Königstochter gezeichnet, die Rüdiger souverän sogar eine ihrer Hofdamen und ein Königreich zum Geschenk anbietet (Ro D 246,1ff.) und damit quasi herrschaftliche Befugnisse besitzt. Dem Handlungsnexus folgend, finden nun die Zweikämpfe zwischen Wormsern und Bernern statt. Obwohl sich die Kampfpaare z.T. in ihrer Zusammensetzung von der Version A unterscheiden – z.B. tritt Walther nicht gegen Dietleib, sondern gegen Hartnit von Riuzen, Hagen gegen Wolfhart und Rüdiger gegen Gernot an – enden ebenfalls alle Kämpfe mit einem Sieg der Berner Helden, mit Ausnahme des unentschiedenen Kampfes von Walther gegen Hartnit.58 Jeder Sieger erhält diesmal Kuss und Kranz nicht von Kriemhild, sondern von einer ihrer Hofdamen. Wolfhart, der anfänglich keine rechte Lust zeigte, mit nach Worms zu ziehen, ist, einmal dort angekommen, in seinem Enthusiasmus nicht mehr aufzuhalten. Besonders nach Rüdigers Bericht über Kriemhilds Rosengarten bzw. über die begehrenswerten Hofdamen ist die Stimmung erotisiert, der junge Mann ist nicht nur kampfbesessen, sondern will auch an den Freuden des „paradîs[es]“ und den Küssen der „mündel minneclich“ (Ro D 257,3f.) teilhaben. Sein Bruder Sigestab ist genauso begierig auf die Kämpfe; als dieser in der ersten Nacht die Schildwache übernimmt, trifft er dort auf den Wormser Rienolt, der den Jungen nach seinem Namen fragt. Sigestab verweigert dem Älteren die Antwort – ähnlich wie Dietleib bei seiner ersten Begegnung mit Gunther in Biterolf und Dietleib (BuD 2848) – und provoziert damit einen nächtlichen Zweikampf (Ro D 364ff.). Die beiden jugendlichen Draufgänger erinnern nicht nur an den jungen Dietleib, der sowohl im Rosengarten als auch in Biterolf und Dietleib ein kampfbegeisterter Heißsporn ist, sondern auch an die beiden Etzelsöhne und den jungen Diether aus der Rabenschlacht, die den Kampf nicht erwarten können, auf eigene Faust losziehen und von Witege getötet werden (Ra 435ff.). Zu denken ist in diesem Zusammenhang auch an den ebenfalls noch kampfunerfahrenen Alphart (Wolfharts und Sigestabs Bruder und Hildebrands Neffe), der vom heroischen Ethos nicht abrücken will und schließlich durch Witege den Tod findet (A 289ff.). Die genannten jungen Männer sind allesamt einer Generation zuzurechnen, ihre Figuren sind ähnlich konzipiert: Sie sind mehr oder weniger militärisch-kriegerisch unerfahren und stehen unter der besonderen Aufsicht eines Älteren (Onkel, Bruder); sie sind drauf58 Mit Ausnahme des Kampfes zwischen Dietleib und Walther, der unentschieden ausgeht, enden alle Kämpfe in der Version A ebenfalls mit der Niederlage der Wormser Helden.

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gängerisch und werden fast immer als übermüete bezeichnet; sie gewinnen im Kampf entweder durch ihre Unerschrockenheit, durch das Eingreifen eines Älteren (meist eines Verwandten) oder sie verlieren ihr Leben. Die Nähe von Kampf und Tod zeigt den Initiationscharakter der Situation an, der nicht wie bei Siegfried (im Nibelungenlied und im Hürnen Seyfrid) oder Hagen (in der Kudrun) mit einem Kampf gegen ein Ungeheuer verbunden ist, sondern sich in einem kriegerisch-realen Umfeld abspielt. Im Falle Wolfharts, Sigestabs und Dietleibs im Rosengarten ist auch die sexuelle Initiation durch erotische Schlüsselbegriffe (rote mündel, küsse etc.) markiert. Bei den heranwachsenden Helden werden zwar keine Altersangaben gemacht, aber sie sind mit Abstand jünger als Dietrich von Bern, der bereits ein erfahrener Krieger ist und wesentlich jünger als der ‚alte‘ Hildebrand, der wiederum älter als Dietrich ist und als sein Erzieher gleichzeitig eine Vater-Position59 einnimmt. Richtig eingesetzt, scheint die übermüete der Jugend sogar notwendig zu sein, um später ein erfolgreicher Held zu werden. Für Frauen bzw. Mädchen ist eine solche Entwicklung indiskutabel, wie das Beispiel Kriemhilds zeigt. Während der Zweikämpfe tritt Wolfhart gegen Hagen an und kann diesen besiegen. Bevor er Hagen „ze tôde“ (Ro D 302,2) schlägt, springt Kriemhild von ihrem Platz auf und lässt den Kampf beenden. Wolfhart dagegen ist vom Wettstreit so berauscht, dass er verkündet: „‘ich will noch mê strîten ûf den alten grunt, / mir werde denne ein küssen von einem rôten munt‘“ (Ro D 304,3f.), wofür er von seinem Onkel Hildebrand jedoch gerügt wird (Ro D 305, 4). Dietrich dagegen macht sich über den jungen Kämpfer lustig, woraufhin Wolfhart zornig wird und seinem Herrn droht, der Kampf mit Siegfried werde für den Berner kein „kintspil“ (Ro D 309,2) werden. Sein Bruder Sigestab tritt gegen Rienolt an, beide Kämpfer sind von ihrem nächtlichen Zweikampf und den erlittenen Verletzungen noch gehandikapt, was Hildebrand natürlich lautstark bemerkt: „‘Ir vüeget wol zesamene, ir sît beide kranc‘“ (Ro D 412,1). Sigestab reizt seinen Gegner, indem er ihm vorhält, wenn seine Königin Kriemhild wahrhaft triuwe besäße, würde sie einen verwundeten Krieger niemals kämpfen lassen, sondern sich um seine Wunden kümmern (Ro D 417). Rienolt reagiert zornig, er habe nie jemanden erlebt, der so jung sei und gleichzeitig so altklug („‘junc und dâbî alt‘“; Ro D 418) daherrede. Auch Kriemhilds Hofdamen beschuldigen ihre Königin, die angeblich das Leben ihrer lädierten Männer aufs Spiel setze, obwohl der alte Gibich und nicht seine Tochter den Krieger Rienolt zum Kampf aufgerufen hatte (Ro D 410ff.): „‘Si [Kriemhild; G.L.] wænet ouch vertrîben der Hiunen übermuot / mit ir spitelsiechen von lande und ouch von guot‘“ (Ro D 414,1f.). Brünhild, die hier erstmals auftritt, schließt sich dem negativen Urteil an und fügt hinzu, 59 Da im Alten Hildebrandslied Hildebrand seinen Sohn Hadubrand tötet und Dietrich durch Dietmars Tod seinen Vater verliert (vgl. Dietrichs Flucht), wird Hildebrands Funktion als Erzieher Dietrichs ergänzt von der Position des Zieh-Vaters.

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hier werde wohl der Wagen vor die Rinder gespannt (Ro D 414,3f.). Zweimal kritisiert sie die Königin auch für ihre angebliche Prahlerei: „‘lât iuwer guiden stân‘“ (Ro D 522,2; 535,2), was eine deutliche Reminiszenz an den Königinnenstreit im Nibelungenlied darstellt. Durch die ständigen Sticheleien provoziert, entlädt sich Kriemhilds Wut darüber schließlich darin, dass sie gegenüber einer ihrer Damen handgreiflich wird: Beim Zweikampf Rüdigers gegen Gernot bittet die Hofdame, der Rüdiger bei seiner Ankunft das kostbare Gewand geschenkt hatte, in einem kurzen Gebet um den Sieg des Markgrafen, was Kriemhild ärgerlich stimmt: „‘warumb wünschest du gelückes eime vremeden man?‘“(Ro D 389,3) und ihr zur Strafe eine Ohrfeige gibt „daz das bluot von ir [der Hofdame; G.L.] vlôz“ (Ro D 389,2). Die Kritik ihres nächsten Umfeldes gipfelt darin, dass die Hofdamen ihrer Königin während des Zweikampfes Gibichs gegen Hildebrand vorwerfen, eine schlechte Tochter zu sein: „‘welt ir iuwern vater alsô verderben lân? [...] welt ir niht gedenken, daz er iuwer vater ist?‘“ (Ro D 565,2ff.), obwohl Kriemhild bereits vor diesem Kampf Hildebrand um einen Frieden gebeten hatte (Ro D 552). Ein weiterer Widersacher Kriemhilds ist auch in der Version D der Mönch Ilsan. Als dieser mit dem Kampf an der Reihe ist, wälzt er sich erst ausgiebig in den Rosen und zertritt dann die übriggebliebenen Blüten, woraufhin die empörte Kriemhild den Mönch verflucht. Doch dieser, kampfbereit und gerüstet, erklärt Kriemhild sarkastisch, dass Fluchen eine Sünde sei (Ro D 432,4). Die Königin nimmt das Argument auf und hält dem Mönch umgekehrt vor, dass man sein Verhalten wohl kaum mit den Idealen eines Gottesmannes vereinbaren könne, doch dieser betont ironisch, sein Schwert sei ein predegerstab, sein Kampf eine bîhte und ergo sein Handeln ein ‚Auftrag‘ in christlicher Mission: „‘Den orden trage ich rehte: sich an den predegerstab, den mir in dem klôster der abbet selbe gap. er hât mich ûz gesendet, ich sol bîhte hœren.‘“ (Ro D 434,1ff.)

Hilflos verflucht Kriemhild den Mönch (Ro D 440,2), doch der belustigte Mönch kontert sogleich: „‘Nu vürhte ich niht sô sêre, vrouwe, daz hellesche viur‘“ (Ro D 438,1). Auch erklärt er in aller Öffentlichkeit, er sei nur deshalb nach Worms gekommen, um von einer Jungfrau geküsst zu werden. Sein Verhalten wird aber nicht nur von Kriemhild, sondern auch von Gibich und sogar vom Erzähler kritisch kommentiert: „Dô hête der münech Ilsân übermuotes begangen vil in dem rôsengarten, als ich iu sagen wil: er hête da zertreten die bluomen und den klê. daz tete dem künege Gibechen und sîner tohter wê.“ (Ro D 462)

Auch Volker rügt Ilsans Verhalten (Ro D 457ff.), doch der Mönch erwidert ungerührt, dass er von dem Geschlecht der Wülfinge abstamme und daher als Nachfahre einer Heldenfamilie gar nicht anders handeln könne.

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Außerdem wolle er seinen beiden Neffen mit gutem Krieger-Beispiel vorangehen: „‘ez hât mich ane gerbet, daz ich bin hôchgemuot von den Wülfingen, die hânt ez dicke gehebet: in stürmen und in strîten wart ir nie keiner überstrebet. Daz hân ich hiute güebet [sic!] den jungen ze bilde vor, daz si hânt geschouwet ûf mînes strîtes spor.‘“ (Ro D 458,2-459,2)

Ilsan suggeriert zwar, dass er aufgrund seiner wahren ‚Natur‘ (der ‚HeldenNatur‘) nicht anders handeln könne, aber sein Verhalten zeigt auch, dass er die klösterliche Lebensform gar nicht erfüllen will: (Kriegerische) Männlichkeit erweist sich anhand dieses Beispiels als Konstrukt und nicht (nur) als biologische Konstituente. Trotz dieser geradezu blasphemischen Äußerungen unterbleiben jegliche Sanktionen. 4.2.2. Die ‚missratene‘ Tochter Innerhalb der burgundischen Kernfamilie findet sich die aus der Version A bekannte Konstellation des wohlwollenden Vaters und des kritisierenden Bruders wieder. Gernots Kritik ist hier allerdings deutlicher als in der Version A: Der eigene Bruder (und nicht Dietrich) wirft dem Vater vor, Kriemhild nicht streng genug erzogen zu haben: „‘Daz du ir hâst verhenget, des ist si worden ze lôs, daz muoz man an ir schouwen: ir hôchvart ist sô grôz, si ist der ruoten entwahsen, si gæbe niht vil ûf dîch.‘“ (Ro D 384,1ff.)

Gibich reagiert in dieser kurzen Szene zwar mit Bedauern: „‘ach sun, daz riuwet mîch‘“ (Ro D 383,4), aber anderen oder Kriemhild gegenüber hört man kein negatives oder kritisches Wort über seine Tochter, im Gegenteil: Er nimmt sein Herzblatt vor Ilsans Spott in Schutz (Ro D 444) und freut sich – jedenfalls anfänglich – vor seiner Tochter kämpfen zu dürfen: „‘ich will der êrste sîn / ze strîten in dem garten vor der tohter mîn‘“ (Ro D 273,1f.). Auch vor dem Kampf Schrutans (Ro D 333,4) und Stüfings (Ro D 437,4) will er seiner Tochter mit dem Turnier offensichtlich Kurzweil bereiten, und so ist es auch kein Wunder, dass Kriemhild selbst den Spielcharakter der Zweikämpfe betont: „‘lât strîten,‘ sprach Kriemhilt, ‚ez ist mir ein kindes spil.‘“ (Ro D 516,2). Der Topos der ‚verkommenen‘ oder verzogenen Tochter und des weichherzigen Vaters ist in der Literatur weit verbreitet; daran gekoppelt findet sich häufig der Zwiespalt des Vaters zwischen der Liebe zum Kind und dem Wissen um die eigene ‚Schwäche‘: „Ich würde doch lieber von einer lasterhaften Tochter, als von keiner, geliebt sein wollen.“60 Oftmals ist für den Typus des 60 So kommentiert Saras Vater in Miss Sara Sampson den Sachverhalt, vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Hrsg. von Herbert G. Göpfert. Bd. 2. München 1971. S. 12.

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‚weichen‘ Vaters eine Sehnsucht nach Strenge und Härte gegenüber der Tochter charakteristisch, wie Gibichs Reue gegenüber dem Sohn zeigt.61 Erschwert wird die Situation, wenn der Vater zugleich auch der Herrscher bzw. Regent, das Kind zugleich Untertan ist: Nur zu leicht macht sich der ‚weiche‘ Vater als Herrscher damit auch angreifbar gegenüber politischen Gegnern, wird das herrschaftliche Gefüge, die alte Ordnung in Frage gestellt. Die häufigsten Konfliktfelder, die zu ‚verkommenen Töchtern‘ und ‚missratenen Söhnen‘62 führen, sind z.B. die eigenmächtige Wahl des Liebespartners oder der Lebensarbeit sowie das eigenmächtige Denken des Kindes: „Was die symbolische Semantik der Kinder im Familientribunal betrifft, sind zwei Grundmöglichkeiten zu unterscheiden. Entweder verkörpern sie das diabolische Prinzip gegenüber einer großartig geltenden Ordnung [...] oder sie verkörpern vorläuferhaft eine neue Zeit, die der Epoche des Vaters den Garaus machen wird.“63

Doch speziell für Töchter gelten scheinbar strengere Regeln, wird normtransgredierendes Verhalten und Denken härter sanktioniert als bei Söhnen – man vergleiche etwa Kriemhilds Situation im Rosengarten z.B. mit Siegfrieds Introduktion (als ‚schwer Erziehbarer‘) im Hürnen Seyfrid (HS 2,1ff.): „Ganz werden heißt mißraten. Die vollendete Frau ist die verkommene Tochter. Die erotisch, intellektuell und lebenspraktisch Selbstbestimmte, die im Fühlen, Denken und Handeln Unabhängige, ist das mißratene und verkommene Kind.“64

Gerade in dem Moment, in dem Kriemhild Durchsetzungsfähigkeit und Denkfähigkeit demonstriert, wird sie im Rosengarten zur potentiellen Gefahr, denn autonomes Denken und Handeln verweist auf Herrschaftsfähigkeit und könnte ergo eine Infragestellung der bestehenden Gesellschaft und der Generationenverhältnisse (innerhalb der Kernfamilie und des Herrschaftsgefüges) bedeuten. Die Literatur gibt dafür Lösungsstrategien vor, indem die Tochter entweder dämonisiert oder sakralisiert wird.65 Im Rosengarten findet beides gleichzeitig statt: Kriemhild wird einerseits dämonisiert, als grausame vâlandinne und als übermüete bezeichnet, andererseits – besonders in der Version D – als höfische (Minne)Dame, die durch (wenn auch parodistisch inszeniert) marientypische Attribute einer Heiligen angenähert wird. Keinem der beiden Extreme entspricht Kriemhild dabei, denn das, was Kriemhild in Misskredit bringt, ist schlicht ‚männliches‘ Verhalten, das, von einer Frau übernommen, bestraft werden muss: Wäre Kriemhild ein Mann, würde ihre Herausforderung vielleicht im ersten Moment kritisiert, letztendlich aber doch akzeptiert werden, ja sogar gewünscht sein, denn der ideale Held benötigt ein gewisses 61 Vgl. Matt, Peter von (1995), S. 119. 62 In Anlehung an den Titel von Peter von Matts Untersuchung: Verkommene Söhne, missratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur (1995). 63 Ebd. S. 165f. 64 Ebd. S. 216. 65 Vgl. ebd. S. 222.

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Potential an übermuot, Furchtlosigkeit und Selbstüberschätzung. In der Thidrekssaga jedenfalls rühmt sich der noch junge Thidrek seiner und seiner Gesellen Tapferkeit: „Eine gewaltige Übermacht ist hier in einer Halle zusammengekommen von diesen auserlesenen Gesellen. Wer wäre so vermessen zu wagen, mit uns den Wettkampf aufzunehmen?“ (Ths S. 236). Sein Erzieher Herbrand (Hildebrand) rügt den jungen König anfänglich für seine Worte: „Du bist ein Kind und redest wahrscheinlich aus Übermut und Unverstand, wenn du denkst, du und deine Mannen hätten nicht ihresgleichen“ (Ths S. 236), doch bleibt er stets der anerkannte und gefeierte Held. Im Laurin dagegen kritisiert Hildebrand seinen Herrn, dass dieser der „getwerge aventiure“ (Lau 30) noch nicht kenne. Durch seinen Erzieher angestachelt, begibt sich Dietrich auf Abenteuer und fordert den Zwergenkönig zum Kampf heraus. Auch Siegfried ist aus dem Nibelungenlied und dem Hürnen Seyfrid für seinen übermuot bekannt, den er bereits in seiner Jugend, später im Nibelungenland und natürlich bei seinem ersten Besuch an Gunthers Hof mit seiner Herausforderung unter Beweis stellt (NL 110). Brünhild und Kriemhild im Nibelungenlied werden dagegen für ihre übermüete bestraft, weibliches Fehlverhalten domestiziert oder ganz vernichtet. Das wird nicht nur auf Isenstein, in Brünhilds Hochzeitsnacht und nach dem Königinnenstreit deutlich, sondern vor allem anhand von Kriemhilds Tod: Der Tod durch Zerstückeln war in der damaligen Rechtspraxis Verrätern66 zugedacht – Kriemhild ist in den Augen ihres Mörders Hildebrand (der stellvertretend für die Grundfesten der männlich dominierten heroischen Welt steht) zweifach schuldig: Sie verrät nicht nur ihren alten Familienverband, sondern gleichzeitig auch die Geschlechterund Herrschaftsordnung der heldenepischen Welt, ihre Hinrichtung statuiert ein Exempel. Auffällig an der engen Beziehung zwischen Vater und Tochter im Rosengarten (parallel zur auffallend ähnlichen Konstellation im Hürnen Seyfrid) ist, dass Kriemhilds Mutter keine Rolle spielt: In der Version A wird sie zwar kurz erwähnt, erfüllt jedoch keinerlei Funktion. Im Nibelungenlied ist Ute dagegen am Leben, während Dankrat bereits verstorben ist und Kriemhild unter der Munt ihrer Brüder steht. Die Mutter-Tochter-Beziehung ist hier (z.B. beim Falkentraum Kriemhilds oder bei ihrer Verheiratung mit Etzel) vor allem durch pragmatische Ratschläge Utes bestimmt, die von der feudal-höfischen (Geschlechter)Ordnung determiniert sind. Ihre Position macht deutlich, dass „die Grenzen der mütterlichen Solidarität dort erreicht sind, wo die gegenläufigen Interessen der männlichen Verwandten beginnen.“67 In der FalkentraumSzene wird dies ersichtlich: Kriemhild träumt von einem wilden Falken, der, nachdem sie ihn gezähmt hat, von zwei Adlern zerfleischt wird (NL 13). Sie 66 Vgl. Schild, W.: Art. „Verrat“, HRG 5 (1991), Sp. 793-795; sowie Meurer, D.: Art. „Todesstrafe“, HRG 5 (1998), Sp. 263-270; vgl. auch Ohly, Friedrich (1995) [1989], S. 423-435. 67 Bennewitz, Ingrid (1996) [1996 b], S. 15.

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erzählt den Traum ihrer Mutter, welche ihn deutet: „‘der valke, den du ziuhest, daz ist ein edel man. / in welle got behüeten, du muost in sciere vloren hân‘“ (NL 14,3f.). Doch die Tochter will von einem Mann nichts wissen, will sogar für immer auf Liebe verzichten, da Liebe stets mit Leid verbunden sei. Ute widerspricht und verspricht Kriemhild, dass das Lebensglück allein von der Liebe eines Mannes abhänge. Der Mutter-Tochter-Dialog der beiden Frauen steht in literarischer Tradition68, bei der die Mutter ihre unerfahrene Tochter in Fragen der Liebe und Ehe unterrichtet. Auch bei Kriemhild und Ute dreht sich das Gespräch nicht um die Beziehung von Mutter und Tochter, sondern vielmehr versucht Ute, ihre Tochter auf den zukünftigen Ehemann vorzubereiten und sie von der Notwendigkeit der Ehe zu überzeugen: „Das eigentliche Zentrum der Mutter-Tochter-Dialoge bildet der (noch) abwesende Dritte: der (zukünftige) Ehemann, oder auch: das Hinführen der Tochter zu der Einsicht, daß es kein akzeptables, wünschenswertes Leben außerhalb der Ehe für sie geben kann.“69

Zwar torpediert Kriemhild mit ihrer (anfänglichen) Verweigerungshaltung in ihrer Exposition das Ideal der höfischen Dame und der Gesellschaft und „sie wird dieses Anderssein bis in die letzten grausamen Konsequenzen durchhalten. Damit nimmt sie eine besondere Position ein: Individualität als Negation dessen, was für jemanden ‚sich gehört‘“70; aber sie erfüllt doch bis zur Heirat mit Etzel alle Pflichten, die von ihrer Familie gewünscht werden, erweist sich im Grunde als gehorsame Tochter und Schwester. Nach Siegfrieds Tod ergibt sich ein weiteres Gespräch zwischen Mutter und Tochter. In der Fassung AB versucht Ute Kriemhild zu einer Eheschließung mit Etzel zu überreden: „‘swaz dîne bruoder râten, liebez kint, daz tuo. / volge dînen friunden, sô mac dir wol geschehen‘“ (NL 1246,2-3). Der mütterliche Rat verdeutlicht sowohl die kernfamilale Unterordnung von Mutter und Tochter unter die Verfügungsgewalt der Söhne bzw. Brüder als auch die übergeordnete Bedeutung des Verwandtschafts- und Herrschaftsverbandes der vriunde, in dem nicht persönliche Interessen, sondern politisch-dynastische Prinzipien ausschlaggebend sind. In der Handschrift C dagegen hat sich Ute inzwischen in das von ihr gestiftete Kloster Lorsch zurückgezogen (NL C 1158,1-4). Sie bittet ihre Tochter, ebenfalls in das Kloster zu ziehen. Kriemhild befürwortet diesen Vorschlag und für kurze Zeit wird im Epos eine Alternative zur Heirat offenbar: ein geistliches Leben in einer kirchlichen Einrichtung, eine mögliche weibliche Lebensform, die auch alltagsgeschichtlich eine nicht zu unterschätzende Bedeutung besaß.71 Kriemhilds Zustimmung zu einem klösterlichen Leben 68 Vgl. weitere Mutter-Tochter-Dialoge z.B. zwischen Kudrun und Hilde in der Kudrun, zwischen Lavinia und Amata im Eneas-Roman, zwischen Isolde und Isolde im Tristan usw. 69 Bennewitz, Ingrid (1996) [1996 b], S. 15. 70 Müller, Jan-Dirk (22005), S. 95. 71 Vgl. auch Bennewitz, Ingrid (1996) [1996 b], S. 15f.

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kann auch als Indiz dafür gewertet werden, dass sie in der Handschrift C zunächst keine Racheabsichten hegt. Erst als Etzels Werbung wenig später durch Rüdiger vorgetragen wird und dieser schwört, ihr Leid zu rächen („er wolde sie ergetzen, swaz ir ie geschach“; NL 1255,3), willigt Kriemhild in die neue Ehe ein. An dieser Stelle erweist sich die triuwe zum Verwandtschaftsverband als sekundär, denn es ist die den Tod des holden vriedel überdauernde eheliche Bindung, die Kriemhilds Denken und Handeln bestimmt. Während Kriemhild im Nibelungenlied nicht einmal im kernfamilialen Bereich auf Unterstützung oder Solidarität hoffen kann, wird sie im Rosengarten als das Herzblatt des Vaters präsentiert. Doch die Sonderstellung der Tochter ruft den Ärger der Brüder hervor, da im Falle einer Niederlage Gibichs Land an Dietrich von Bern fallen würde und die Herrschaft der Wormser damit beendet wäre. Auch im Falle eines Sieges scheint die Herrschaftsnachfolge nicht gesichert zu sein: Die verwöhnte Schwester, der bisher offensichtlich jeder Wunsch erfüllt wurde, könnte vielleicht auch den Vater überreden, Siegfried, seinem Schwiegersohn in spe, die Herrschaft zu übertragen. Auch wenn dieser genealogisch-dynastische Aspekt in den verschiedenen Versionen des Rosengarten nicht direkt thematisiert wird – allenfalls in Gibichs Angebot an Siegfried, er möge ihn und seine Söhne rächen, wofür er ihm Kriemhild zu „eigen“ geben werde (Ro D 463) –, scheint er doch eine nahe liegende Interpretation für die Reaktion der Brüder zu sein. Im Hürnen Seyfrid jedenfalls wird exakt dieser Sachverhalt problematisiert, denn dort erhält Siegfried von seinem Schwiegervater Gibich die Herrschaft über Worms, die Brüder werden hingegen von der Thronfolge (offensichtlich) ausgeschlossen (HS 173ff.). Sowohl im Hürnen Seyfrid als auch im Rosengarten ist Gibich als schwacher König gezeichnet, denn er verliert auch in der Version D sein Land, muss von nun an Dietrich und Etzel untertan sein (Ro D 574) und kann außerdem seine Tochter nicht vor der Bestrafung der Berner schützen. Kriemhild wird wie in der Version A und analog zum Nibelungenlied zunehmend auch von weiteren Angehörigen des Verwandtschaftsverbandes kompromittiert. Auch Hagen, der im Nibelungenlied der „mâc“ Kriemhilds ist (NL 898,1), kritisiert die Königin, macht sie allein verantwortlich für die Niederlage der Burgunden, die Toten und Verwundeten: „‘den mort hât gebrûwen Kriemhilt diu künegîn‘“ (Ro D 604,4) und schließt im selben Moment mit seinem ehemaligen Gegner Wolfhart – einer der offensivsten Widersacher Kriemhilds – offiziell „vriuntschaft“ (Ro D 605,1). Wie im Nibelungenlied72 überlagert ein triuwe-Bündnis zwischen zwei Freien die (bluts)verwandtschaftlichen Bindungen, wird Kriemhild nicht nur vom Verwandtschaftsverband ausgeschlossen, sondern gleichzeitig einer männlich-heroischen Übermacht gegenübergestellt. Die Version F bietet zusätzlich Kriemhilds Mutter 72 Vgl. z.B. die Waffenbrüderschaft von Hagen und Volker (NL 1777ff.) im Kontext der ‚Bankszene‘, in der sich die beiden Krieger ebenfalls gegen Kriemhild verbünden.

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auf, die ihre Tochter des Mordes bezichtigt: „‘Owê‘, sprach ir muoter, ‚wes ist daz gedâcht. / daz du sô manigen recken zu morde hâst gebrâcht?‘“ (Ro F IV; 24,1f.). Die Mutter geht sogar noch weiter und klagt, die Tochter geboren zu haben: „‘ich klage gote von himele, daz ich dich ie getruoc‘“ (Ro F IV; 24,4). Die Verdammung des eigenen Kindes – ein Motiv, das sich bereits in der antiken Tragödie findet und auch in der modernen Literatur ein typisches Konfliktfeld darstellt73 – symbolisiert den wohl härtesten und endgültigsten Ausschluss aus der familiären Gemeinschaft und damit aus der Gesellschaft überhaupt: Die Tochter wird zur Verstoßenen. Die Reaktion Utes steht stellvertretend für den Duktus der Version F, denn die Fragmente verstärken die Isolation bzw. Ächtung Kriemhilds deutlich: Aldrian, der Vater Hagens und Dankwarts, kämpft gegen Ilsan und wird von diesem getötet (Ro F V; 8,3). Statt sich jedoch an Ilsan zu rächen, verurteilt Hagen seine Herrin Kriemhild als mordêrinne. Er ruft seine man und mâge zusammen, um an Kriemhild Rache zu nehmen: „‘wol her, man und mâge. die mir wollen bî gestên! die helfen mir nu rechen den lieben vater mîn an diser mordêrinne, wan daz muoz recht sîn.‘“ (Ro F V; 21,2ff.)

Neben Dankwart stellt sich auch Wolfhart wie in der Version D auf die Seite Hagens (Ro F V; 22) und wird darin von Dietrich unterstützt (Ro F V; 28). Kriemhild bittet ihre Hofdame Seburg, zu deren Geliebten Dankwart zu gehen und zwischen den Parteien zu vermitteln, bevor es zu einem Massenkampf oder einem persönlichen Angriff auf sie kommt: „‘erhebet sich hie ein strîten, hie belîbet maneger tôt‘“ (Ro F V; 24,4). Was dann geschieht, lässt sich nicht mehr rekonstruieren, denn mit dem Auszug der Hofdame endet die Version F.

4.3. „Kriemhild-Diskussion“ Die vielfältigen Zeugnisse der deutschsprachigen nachnibelungischen Literatur belegen, wie unfassbar und ‚anstößig‘ das Nibelungenlied mit seinem Nullpunkt allgemeiner Vernichtung auf seine Rezipienten gewirkt haben muss. Bekanntlich wurde das Epos bis in das 15. Jahrhundert hinein fast ausnahmslos mit der Nibelungenklage überliefert, die versucht, das Geschehen in Form expressiver Klagemonologe zu bewältigen und für die Zukunft zu öffnen. Die Klage zeigt außerdem, „daß früh ein Bedürfnis nach Korrektur des Epengeschehens bestand und nach seiner Einbettung in allgemein akzeptierte 73 Vgl. Matt, Peter von (1995), S. 63. Auch in der mittelhochdeutschen Literatur ist das Motiv verbreitet, so z.B. im Helmbrecht: Der Vater verstößt seinen Sohn mit den Worten: „‘Wê daz dich dîn muoter getruoc!‘“ (V. 516).

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Wertungshorizonte.“74 Doch nicht nur die Klage, sondern auch die Handschrift C des Nibelungenliedes verfolgen jeweils in ihrer Interpretation des Untergangs eine Verlagerung der schuldhaften Verflechtungen: In beiden Fällen wird Kriemhild als treue Ehefrau charakterisiert, Hagen als Hauptschuldiger verurteilt. Weder die Handschrift C noch die Klage lassen einen Zweifel daran, dass vor allem Kriemhilds nächste Verwandte (mit Ausnahme von Ute und Gieselher) maßgeblich an der Ermordung Siegfrieds sowie am Hortraub beteiligt waren und die Schwester quasi zur Rache provoziert haben: „ir aller næhstez künne / het ir ir lieben man benomen“ (Kl B 80f.). Obwohl Kriemhild das explizit ‚Teuflische‘ abgesprochen wird, wird ihre Racheaktion gleichzeitig als Ausdruck einer allgemein zu diagnostizierenden geistigen Defizienz von Frauen gewertet: „daz kom von krankem sinne“ (Kl B 240). Auch in den Handschriften A und B des Nibelungenliedes ist die Vorbildlichkeit der treuen Ehefrau präsent, doch indem sie für ihre Rache an Hagen das Leben aller, sogar das des eigenen Kindes riskiert, ist dies nach den Regeln der nibelungischen Gesellschaft gleichbedeutend mit der Verwandlung in eine vâlandinne: „Wenn Frauen dazu in der Lage sind, so zu handeln, wie es die Handschriften A und B Kriemhild zumindest unterstellen, dann bringen sie – bewusst und mit bedrohlicher, nicht aufzuhaltender Konsequenz [...] – die feudaladelige Männerwelt dazu, sich gegenseitig bis hin zur fast vollständigen Eliminierung der Kriegerkaste zu liquidieren. Die Handschrift C und in ihrem Gefolge die ‚Klage‘ bagatellisieren diese Bedrohung zum peinlichen Unfall, einem historischen Versehen, das der allzu späten Reaktion der Männerwelt zuzuschreiben ist.“75

Doch statt Kriemhild wie in der Handschrift C und in der Klage zu exkulpieren, schlägt der Rosengarten den umgekehrten Weg ein und betont analog zu den Handschriften A und B die negativen Züge ihrer Figur: In den verschiedenen Versionen des Rosengarten ist „sie [Kriemhild; G.L.] selber die aktive Gegenspielerin des Berners und seiner Helden, und sie ist in dieser Rolle abgewertet.“76 Besonders die Version D verweist mit Hildebrands Anspielung: „ich muoz nâch rôsen rîten, man hât nach uns gesant, Kriemhilt diu schœne, ich wil ze ir hôchgezît“ (Ro D 99,2f.) auf die verräterische Einladung Kriemhilds im Nibelungenlied (NL 2122,4) und stellt damit die Weichen für eine negative Interpretation77 der Protagonistin. Auch die Szenenfolge von Sieg74 75 76 77

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Müller, Jan-Dirk (22005), S. 162. Bennewitz, Ingrid (1995), S. 48. Boor, Helmut de (1959), S. 232. Mitte des 13. Jahrhunderts avanciert Kriemhilds Name nicht nur zum Inbegriff des Verrats (Krimhilden hôchzît nannte man es metaphorisch, wenn es irgendwo besonders blutrünstig oder heimtückisch zuging – dabei dachte man wohl ursprünglich an die Worte Gieselhers im Nibelungenlied: „‘uns hât mîn swester Kriemhilt ein arge hôhzît gegeben‘“; NL 2122,4), sondern auch zum geläufigen Schimpfwort (übliu Chriemhilt o.Ä). Auch über die Gattungsgrenzen hinweg wird Kriemhilds Verhalten zumeist negativ interpretiert: Saxo Grammaticus zitiert bereits um 1200 Kriemhilds Rache als Paradebeispiel heimtückischen Verrats an Verwandten; und

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frieds Kampf gegen Dietrich bestärkt diese Tendenz: Selbstbewusst küsst sie ihren Verlobten vor Beginn des Kampfes, wünscht ihm Glück und lobt sich dabei selbst so laut, dass alle es hören können: „‘got müeze dîn selbe pflegen, alsô holt ich dir bin‘“ (Ro D 466,3). Während des Turniers, als ihre Hofdamen bereits um das Leben beider Helden bangen und zu weinen beginnen, fängt bei Kriemhild der Spaß erst an. Sie befiehlt: „‘lât strîten [...] ez ist mir ein kindes spil‘“ (Ro D 516,2) – ihr größter Wunsch ist die Niederlage Dietrichs und die Aussicht auf seine lebenslangen Dienste: „‘alsô hân ich mich bedâht: / ez wirt der von Berne noch hiute darzuo brâht, / daz er mir muoz dienen, die wîle er hât daz leben‘“ (Ro D 521,1-3). Erst als Siegfried trotz der Hornhaut und seiner zwei78 Harnische ernsthaft verwundet wird, beginnt Kriemhild zu weinen. Sie läuft auf den Kampfplatz und fleht Dietrich um Gnade an (Ro D 542). Erinnert man sich dagegen an die Darstellung Kriemhilds vor ihrer Verheiratung im Nibelungenlied, könnte der Gegensatz nicht deutlicher sein. Kriemhild ist trotz der anfänglichen Verweigerungshaltung gegenüber Ehe und Minne vom Anblick des starken Helden aus der Niederlande verzaubert, was sich in versteckten Blicken (NL 133,1-4), in Neugier auf den Helden des Sachsenkrieges (NL 225-226) oder im Erröten ausdrückt (NL 292,2). Sie gibt sich insgesamt zurückhaltend, passiv und lässt sich willig in die Ehe mit Siegfried manövrieren, für die sie von Gunther als Preis für Siegfrieds Dienste ausgesetzt wird: Um Kriemhild heiraten zu können, muss Siegfried erst Gunther bei der Brautwerbung Brünhilds behilflich sein. Kriemhild ist im Nibelungenlied nicht die souveräne vrouwe des Rosengarten oder des Minnesangs, sondern sie steht in der Verfügungsgewalt ihrer Brüder (NL 53f.). Doch schon bald wird die Souveränität Kriemhilds im Rosengarten gebrochen, ihr übermuot verurteilt, ihre Figur isoliert. Ihre Isolation – ebenfalls elementarer Bestandteil ihrer Darstellung in Nibelungenlied und Klage – wird nicht nur allein durch ihr Verhalten, sondern vor allem durch die negativ-parodistische Umkehrung der Ideale von Heiliger und Minnedame evoziert, die Kriemhild zur ‚femme fatale‘ avancieren lässt, obwohl sie lediglich ‚männliches Verhalten‘ durch ihren übermuot und ihren Kampfgeist offenbart. Weibliches Verhalten, das die Grenzen der zuht, also der höfischen Erziehung, überschreitet, bedarf der Korrektur und wird in jedem Fall durch verbale und brutalnoch Jahrzehnte später führt der oberdeutsche Spruchdichter Marner ein entsprechend betiteltes Lied zu diesem Inhalt in seinem Vortragsrepertoire, vgl. Curschmann, Michael (1989), S. 395f. Die zahlreichen Belege finden sich schon bei Grimm, Wilhelm (41954), z.B. S. 176, 180f., 184f. 187-189, 191. Es gibt allerdings auch gegenläufige Meinungen, die die Ambiguität der Kriemhild-Figur verdeutlichen: Mitte des 13. Jahrhunderts berichtet der Prediger Berthold von Regensburg seinen Hörern: dicitur quod crimhilt omnio mala fuerit, sed nichil est („man sagt, Kriemhild sei total böse gewesen, aber das stimmt nicht“; zit. nach Ehrismann, Otfried 22002, S. 168). 78 Siegfried legt ausdrücklich vor dem Kampf zwei Harnische an (Ro D 468,1).

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Das Prinzip der Verwandtschaft und die Generationenthematik

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physische Gewalt bestraft. Der Rosengarten entwirft damit ein „Zerrbild weiblicher Macht, die sich weniger durch ‚zuht‘ auszeichnet, als die Züchtigung durch die Männer herausfordert.“79

4.4. Das Prinzip der Verwandtschaft und die Generationenthematik Die gegnerischen Gruppen der Wormser und Berner werden jeweils deutlich von einem verwandtschaftlichen Prinzip determiniert. Auf Seiten der Berner finden sich gehäuft Onkel-Neffen-Filiationen sowie Brüdergruppen – diese Konstellationen sind nicht nur für das Nibelungenlied, sondern auch für die französische Heldenepik, die chansons de geste, typisch80 – sowie eine Schwager-Allianz: Hildebrand wird unterstützt von seinem Bruder Ilsan, seinem Schwager Amelolt (den er sogar „bruoder“ nennt; Ro A 102,3) und dessen jungen Söhnen Wolfhart, Sigestab und Alphart (Ro D 53), für die sich der alte Krieger in besonderem Maße verantwortlich zeigt. Auch Dietrich ist durch die Erwähnung seines Bruders Diether (Ro A 327,2), seines Vaters Dietmar (Ro D 484,4) und die Anwesenheit seines Erziehers Hildebrand in seinen bekannten familiären Kontext eingebunden, der z.B. auch in Biterolf und Dietleib oder Dietrichs Flucht (DF 2515ff.) allgemein präsent ist. Dietrich zeigt in der Version A außerdem eine besondere Nähe zu seinem Neffen Dietleib, der vermutlich mit Walther verwandt ist: Als Walther gegen Dietleib antreten soll, lehnt Walther zunächst den Kampf ab, weil er erfahren hat, dass sein junger Gegner der Sohn Biterolfs ist („‘bist du Biterolfes barn?‘“, Ro A 267,1); und in Biterolf und Dietleib ist Walther der Sohn von Biterolfs Schwester (BuD 2107). Damit liegt die Vermutung nahe, dass auch im Rosengarten eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen Walther und Dietleib existiert und der Ältere deshalb den Kampf vermeiden will. Doch nicht nur das Verwandtschaftsverhältnis, sondern auch die Jugendlichkeit und die daraus geschlussfolgerte Unterlegenheit Dietleibs lässt Walther zunächst davon absehen, gegen Dietleib anzutreten. Dietleib dagegen fühlt sich durch die Argumente des Älteren in seiner Streitlust angestachelt, die Walther als jungendlichen „übermuot“ (Ro A 269,1) interpretiert. Im Kampf erweist sich der junge Held als so stark, dass der Streit mit einem Unentschieden auf Hildebrands Initiative hin beendet wird (Ro A 272ff.). Beide erhalten Rosenkranz und Kuss von Kriemhild und schließen als einzige in der Version A während des Turniers vriuntschaft („sie wurden eitgesellen“81, Ro A 276,4), womit erneut das besondere Verhältnis der beiden 79 Müller, Jan-Dirk (1998). S. 190. 80 Vgl. Peters, Ursula (1999), S. 275. 81 eitgeselle: geschworener Freund, durch Eid gebunden; geselle: Gefährte, Freund, Geliebter, vgl. Lexer: Bd. 1, Sp. 536 bzw. 908.

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akzentuiert wird. Nahezu identische Verwandtschaftskonstellationen finden sich auch in der Version D, in der die beiden ehemaligen Gegner Hagen und Wolfhart „vriunde“ werden (Ro D 605,1; ähnlich in Ro F V; 27,3). Auf der Wormser Seite kämpfen in der Version A die Riesen-Brüder Pusolt und Ortwin gemeinsam mit ihrem Vater Asprian und ihrem Onkel Schrutan, alle vier werden jedoch im Kampf getötet. Die Mitglieder der burgundischen Kernfamilie Gibich, Gunther und Gernot werden außerdem von Siegfried, dem Schwiegersohn bzw. Schwager in spe, und Hagen unterstützt, dessen verwandtschaftliche Beziehung ebenfalls – aufgrund der Konstellation im Nibelungenlied – nur vermutet werden kann. In der Version D sind außer der Burgundenfamilie nur die beiden Riesen-Brüder Asprian und Schrutan miteinander verwandt. Auffällig ist, dass alle Kämpfe von den Bernern, die über die umfassenderen Verwandtschaftsverbindungen verfügen, gewonnen werden. Die blutsverwandtschaftlichen und gefolgschaftlichen Bindungen treten nicht miteinander in Konkurrenz, sondern ergänzen einander an wichtigen Stellen (vgl. z.B. Ilsans doppelte Bindung an seinen Herrn Dietrich und an seinen Bruder Hildebrant). Beide Arten der vriuntschaft überlagern jedoch die geistliche Verwandtschaft, die in Ilsans Fall im Grunde keine Rolle spielt: Die Verbindlichkeit der geistlichen Brüderschaft zeigt sich lediglich darin, dass Ilsan am Ende wieder ins Kloster zurückkehrt. Konträr dazu entzündet sich ein Generationenkonflikt auf Seiten der Burgunden im kernfamilalen Bereich: Der Ausschluss Kriemhilds wird durch die Kritik des Bruders markiert, in der Version F wird zusätzlich die Mutter Ute aufgeboten, um Kriemhild als Außenseiterin und gegen die Familie Handelnde zu zeigen. Die Isolation der Burgundenprinzessin innerhalb der familia setzt sich fort: Nicht nur der Verwandte Hagen, sondern auch der Gefolgsmann und Verbündete Walther, die Hofdamen und die Bewohner von Worms bringen ihre Vorbehalte Kriemhild gegenüber deutlich zum Ausdruck. Generationenkonflikte werden auch in gender-spezifischer Hinsicht deutlich: Anhand der männlichen Akteure werden unterschiedliche Positionen kriegerischer Männlichkeit durchgespielt, die vor der Folie des heroischen Heldenideals innerhalb dreier Generationen diskutiert werden: Dietleib, Wolfhart und Sigestab, die den Typus des Heldenjünglings verkörpern, orientieren sich in ihrer Grundhaltung der übermüete und ihres unerschütterlichen Kampfwillens zwar am Ideal des traditionellen bzw. heroischen Heldentypus, das durch parodistische Brechungen jedoch unterlaufen wird. Dies zeigt sich z.B. in Wolfharts ablehnender Haltung gegen die Fahrt nach Worms, in seinem Aufbegehren gegenüber seinem Herren Dietrich (Version D) oder darin, weniger um Leben und Tod, sondern um Küsse und Umarmungen schöner Hofdamen kämpfen

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Das Prinzip der Verwandtschaft und die Generationenthematik

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zu wollen – womit wiederum das Ideal höfischen Rittertums persiflierend anzitiert wird. Immer wieder muss Wolfhart in seiner draufgängerischen Art von seinem Onkel Hildebrand gezügelt und korrigiert werden. Dietrich dagegen steht dem traditionellen Heldenideal mit einer deutlicheren Distanz gegenüber. Aus rein rationalen Gründen beschließt er, nicht gegen Siegfried anzutreten; ist er aber einmal von Hildebrand in zorn versetzt worden, unterscheidet er sich in nichts von einem rasenden Ajax oder einem anderen Vertreter der alten Heroik. Der alte Hildebrand ist zwar ein Verfechter der heroischen Ordnung, seine ‚pädagogischen‘ Maßnahmen Dietrich gegenüber führen allerdings dazu, den eigenen Herren und damit heroisches Heldentum in Misskredit zu bringen. Im Unterschied zu Kriemhild, die für ihr Handeln bestraft wird, wird männliches Fehlverhalten dagegen nicht sanktioniert. Ilsan verkörpert am deutlichsten das alte Kämpferideal und negiert es zugleich durch seine brutale und sadistische, ins Hyperbolische verzerrte Haltung, die weder mit den Idealen des Mönches noch mit den Vorgaben eines Helden übereinstimmt. Siegfried, der einst unbesiegbare Drachentöter, ist mit einem Mal verwundbar, sein Helden-Firnis blättert ab und am Ende macht er eine geradezu lächerliche Figur, wenn er sich in Kriemhilds Schoß retten muss. Kurt Ruh hat für den spätmittelalterlichen Heldentypus den Begriff vom „pragmatische[n] Heldentum“82 geprägt; Sonja Kerth und Lydia Miklautsch bezeichnen die späten Heroen hingegen als „hybride Helden“83, da sich an ihnen die verschiedenen Einflüsse außer-heroischer Erzählschemata (wie z.B. dem höfischen Roman etc.) ablesen ließen. In jedem Fall findet im Rosengarten ein Transformationsprozess des alten Heldenbildes statt, den man vielleicht auch als Prozess einer (beginnenden) Überwindung oder zumindest Infragestellung heroisch-ethischer Normen beschreiben könnte. Besonders durch die parodistischen Brechungen wird gleichzeitig der Konstruktcharakter der Heldenrollen evident: „Heldenzorn und Übermut werden zur Rolle, in die Personen situationsbedingt schlüpfen, und an ihnen setzen immer wieder Parodie und metatextuelle Perspektivierung an.“84 Insofern gehören die verschiedenen Versionen des Rosengarten nicht nur zeitlich, sondern auch stilistisch einer ‚neuen‘ Text-Generation an, die sich nicht nur von den Helden(stereo)typen des Nibelungenliedes unterscheidet. Diese Entwicklungsmöglichkeiten liegen allerdings nur bedingt im Falle von Kriemhilds Weiblichkeitsentwurf vor. Anhand ihrer Figur statuiert der Rosengarten vielmehr ein moraldidaktisches Exempel, indem er vorführt, welche negativen Auswirkungen das Verhalten einer verwöhnten Vater-Tochter haben kann, und lässt der Protagonistin ihre ‚gerechte‘ Strafe zukommen. Obwohl normtransgredierendes weibliches Verhalten im Text sanktioniert und 82 Ruh, Kurt (1979), S. 24. 83 Kerth, Sonja (2002), S. 264.; Miklautsch, Lydia (2005), S. 17ff. 84 Kerth, Sonja (2002), S. 264.

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Rosengarten zu Worms

dämonisiert wird, demonstriert die Kriemhild-Figur gerade über ihre Negativität und die parodistische Brechung mariologisch-hagiographischer sowie minnesangtypischer Elemente eine gewisse Widerständigkeit, mit der sie die Regeln der heldenepischen Gesellschaft unterläuft und in Frage stellt. Ähnlich wie im Nibelungenlied sind nur „in dieser Negativität [...] Züge erkennbar, die Kriemhild von der Typenhaftigkeit des nibelungischen Personals sonst unterscheiden.“85

85 Müller, Jan-Dirk (22005), S. 119.

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5. Biterolf und Dietleib Die Entstehung von Biterolf und Dietleib1 im bayerisch-österreichischen Raum wird auf ca. 1350-1360 datiert. Überliefert ist der Text nur einmal – wie die Kudrun oder der Erec Hartmanns von Aue – im Ambraser Heldenbuch Kaiser Maximilians I. (entstanden zwischen 1506 und 1515). Das Werk wird zur (historischen) Dietrichepik2 gezählt, ist aber in Reimpaarversen wie die Nibelungenklage oder der höfische Roman verfasst und gliedert sich grob in zwei ungleich lange Teile: Der erste Handlungsabschnitt (BuD 1-4740) thematisiert die Suche Dietleibs nach seinem Vater; der zweite Teil (BuD 4741-13510) erzählt von der Schlacht vor Worms, die wiederum durch ein Ereignis der Vatersuche begründet ist. Dabei versammelt Biterolf und Dietleib (fast) alle bekannten Figuren der deutschsprachigen Heldenepik zu einem großen „Heldenfestspiel“3 und so trifft der Leser neben Biterolf und seinem Sohn Dietleib auf Dietrich von Bern und Hildebrand, Etzel und Helche, die Burgunden-Brüder, Brünhild und Hagen, Kriemhild und Siegfried, Rüdiger und Gotelind, Walther und Hildegunde usw. Doch schöpft der anonyme Verfasser nicht nur aus dem Bereich der Heldensage wie z.B. dem Nibelungenlied, dem Waltharius, dem Rosengarten4 und dem Laurin, sondern er verknüpft das 1

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Hier und im Folgenden zitiert nach: Biterolf und Dietleib. Hrsg. von Oskar Jänicke. In: Deutsches Heldenbuch. Teil 1. Berlin 1866. Einleitung S. VIII-XXXII, Text S. 1-197. Die Ausgabe von André Schnyder (Biterolf und Dietleib. Neu herausgegeben und eingeleitet von André Schnyder. Bern und Stuttgart 1980) wurde parallel dazu eingesehen. Zur Kritik an der Ausgabe Schnyders vgl. Heinzle, Joachim (1983), S. 143-148; sowie Mecklenburg, Michael (2002), S. 127, Anm. 1. Die Einordnung des Werkes erscheint in Anbetracht der divergierenden Forschungsmeinungen schwierig: Joachim Heinzle zählt den Text nicht zur Dietrichepik, sondern stellt ihn lediglich „in ihr weiteres stoffliches Umfeld“, vgl. Heinzle, Joachim (1999), S. 179f; vgl. ders.: (1978), S. 11; Andreas Daiber wertet das Werk lediglich als einen der „Folgetexte einer Rezeption des Nibelungenliedes vom Typus der Handschriften A und B“, vgl. Daiber, Andreas (1999), S. 268; Michael Mecklenburg und Fritz Peter Knapp zählen Biterolf und Dietleib dagegen zur historischen Dietrichepik, vgl. Mecklenburg, Michael (2002), S. 10, sowie Knapp, Fritz Peter (1992), S. 69; Roswitha Wisniewski und Joachim Bumke ordnen den Text dagegen der aventiurehaften Dietrichepik zu, vgl. Wisniewski, Roswitha (1986), S. 262, sowie Bumke, Joachim (1993), S. 156. Curschmann, Michael (1978), S. 89. Joachim Heinzle zufolge schöpft Biterolf und Dietleib aus dem Rosengarten, vgl. Heinzle, Joachim (1999), S. 180; Jan-Dirk Müller zufolge existiert keineswegs eine genaue Abfolge der Werke, vielmehr kreisen die Epen um eine verwandte Konstellation, die weit in die Oralität zurückreicht, vgl. Müller, Jan-Dirk (1998), S. 101.

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Werk mit Erzählmustern und Figurenkonstellationen des höfischen Romans, wie es z.B. die Parallelen zu Wirnts von Grafenberg Wigalois und Wolframs von Eschenbach Parzival verdeutlichen. Der Verfasser „amalgamiert oder transponiert“ dabei nicht „naiv“, sondern steht dem „Höfischen“ genauso frei gegenüber wie dem „Heroischen“: „Diese Freiheit geht im einzelnen bis zur ironischen Relativierung, ja Persiflage der übernommenen Erzählmuster, etwa in der Behandlung des Motivs vom Zweikampf zwischen Vater und Sohn, der beiden Traditionsbereichen zugehört.“5

Biterolf und Dietleib gilt aufgrund des ironisch-parodistischen Untertons, seiner originellen Verarbeitung und Variation bekannter heldenepischer Stoffe und Figuren als „open experiment in narrative organization“6 und oszilliert auf inhaltlicher wie narrativer Ebene zwischen spil und strît, zwischen Ernst und Komik, zwischen Epos und Roman.7 Besonders auffallend ist die ‚spielerische‘ Erzählweise, die nicht nur durch die Schachmetaphern8 und Kapitelüberschriften, sondern auch durch häufiges Lachen über sich selbst oder den Gegner sowie das versöhnliche und von Scherzen begleitete Ende dokumentiert wird.9 Michael Curschmann zufolge verfolgt der Verfasser mit der Manipulation bekannter Handlungszusammenhänge, Erzählschemata, Motive und Figuren die Absicht, den sonst im Schatten Dietrichs stehenden Helden Diet5 6 7 8

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Curschmann, Michael (1976) [1976 a], S. 20. Curschmann, Michael (1978), S. 85. „The schâch von Wormez evolves in almost dialectical fashion: spil, the new, ‚civilized‘ form portrayed in the novel [...] is contrasted with strît, stylized combat ‚in earnest‘, as portrayed in the epic [...]. strît is a form of spil, but of literary spil.“ Ebd. S. 85. Vgl. z.B. folgende Beispiele: „ir spil dem was sô nâhen mat / des si heten ê gephlegen: / Biterolf der ziere degen / allenthalben schâch bôt“ (BuD 1514ff.); vgl. auch die Überschrift der siebten Aventiure: „Der schâch von Wormez wie der widersaget wart“; vgl. auch: „Dô Gunthêr mit den sînen / wert daz lant und ouch die stât, / dô mohte ir etelîchem mat / werden aller sîner spîl“ (BuD 12006ff.). Auch nach der großen Versöhnungsfeier berichtet der Erzähler: „Also ante sich der schâch“ (BuD 13041). Vgl. dazu: schâch: Schachbrett, Schachspiel; schachbietender Zug; als Interjektion: drohender Zuruf gegen die Figur des Königs im Schachspiel, vgl. Lexer: Art. „schâch“, Bd. 2, Sp. 621; vgl. auch mat: Matt im Schachspiel; Ende; mat geben/sagen/sprechen: matt setzen, vgl. Lexer: Art. „mat“, Bd. 1, Sp. 2059f. Das ursprünglich aus Indien stammende Schachspiel gelangte im 11. Jahrhundert u.a. über Persien auch nach Europa. Die erhaltenen europäischen Schachfiguren und Schachbretter (mhd. schâchzabel: Schachspiel, Schachbrett) und dazugehörigen Spieltische sind zumeist Kostbarkeiten aus erlesenen Materialien wie Elfenbein, Bergkristall und Halbedelsteinen, vgl. Jászai, G.: Art. „Schachfiguren, Brettsteine, Spielbretter“, LMA 7 (1995), Sp. 1430. Das Spiel war beim Adel sehr beliebt, eine Miniatur in der Großen Heidelberger Liederhandschrift zeigt z.B. den Markgrafen Otto IV. von Brandenburg beim Spiel mit seiner Dame, vgl. Bumke, Joachim (91999), S. 304f. Bereits Oskar Jänicke konstatierte in seiner Einleitung von Biterolf und Dietleib „hübsche scherzhafte Züge“, vgl. Jänicke, Oskar (1866), S. XXXII; Justus Lunzer stellte in seiner Untersuchung eine „heitere, ja nicht selten fröhliche Stimmung“ fest, vgl. Lunzer, Justus (1926), S. 25; auf das Spielerische und Humorvolle verweist auch Spechtler, Viktor (1979), S. 260; vgl. auch Mhamood, Ariane (2003), S. 151-174.

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leib „im Sinn eines steiermärkischen Adelspublikums voll zu profilieren“10, und gleichzeitig der Tragödie des Nibelungenliedes ein „heitere[s] Gegenbild[]“ mit „anti-nibelungisch[er]“11 Tendenz entgegenzusetzen. Das Werk präsentiere ein neues literarisches Bewusstsein bzw. ein „neue[s] Verhältnis zur heldenepischen Tradition“, in dem Heldendichtung nun selbst zum Gegenstand der Reflexion bzw. zur „Dichtung über Heldendichtung“12 avanciere. In der jüngeren mediävistischen Forschung wurde Biterolf und Dietleib besonders unter den Aspekten Intertextualität und Parodie untersucht. Andreas Daiber geht es in seiner Analyse um das Aufzeigen von Strategien zur Referentialisierung intertextueller Bezugnahmen, die den hohen Anspruch des Textes13 aus produktions- und rezeptionsästhetischer Perspektive dokumentieren. Aus dieser Perspektive geriert sich Biterolf und Dietleib „gegenüber dem Rezipienten förmlich als fehlendes Glied innerhalb der schon bestehenden Überlieferungskette von Heldendichtung. Fremdtextverweise dienen hier nicht nur als Hintergrund und Erläuterung für das eigene Erzählen, sondern werden als situative Koordinaten zur präzisen und vor allem widerspruchsfreien Einbettung der Biographien jener neuen Helden in die tradierten Lebensläufe des prätextuell bekannten Personals genutzt.“14

Die Ergebnisse Daibers berücksichtigend, fokussiert Michael Mecklenburg das spezifisch Parodistische15 des Werkes und orientiert sich in seiner Analyse an dem Parodiebegriff von Gunther Witting: Danach wären Texte als Parodie zu bezeichnen, „bei denen fremde oder eigene Rede als Ausdruck teilweise übernommen wird zur Formulierung einer neuen Botschaft, die sich zwar gegen die (fremde oder eigene) Vorlage richtet, diese aber nicht durch Über- bzw. Unterfüllung herabsetzt.“16 Mecklenburg wertet die Form der Parodie17 in Biterolf und Dietleib als Ausdruck einer Subjekti10 11 12 13 14 15

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Curschmann, Michael (1976) [1976 a], S. 19. Ebd. S. 20. Ebd. S. 21. Die ältere Forschung hat Biterolf und Dietleib meist stiefmütterlich behandelt oder negativ gewertet, vgl. die Forschungsübersicht bei Mecklenburg, Michael (2002), S. 127ff. Daiber, Andreas (1999), S. 135. Michael Mecklenburg (2002), S. 179, zufolge spielt der Verfasser mit intertextuellen Parallelen, Inversionen oder Auslassungen bekannter mittelalterlicher Texte, die dem literarisch gebildeten mittelalterlichen Publikum offensichtlich geläufig waren. Der Effekt, der dabei erzielt wird, ist komisch und amüsant, wobei die Vorbildlichkeit der Helden damit nicht in Frage gestellt wird: „Komik ist nie ein Mittel zur wirklichen Abwertung der Figuren.“ Witting, Gunther (1986), S. 283; vgl. dazu Mecklenburg, Michael (2002), S. 137. Die Parodie gilt als eine der typischen Großformen der Intertextualität: „Der (im Mittelalter nicht gebräuchl.) Terminus in seinem weitesten Sinn bezeichnet ein Werk (oder auch ein Verfahren), dessen bes. Eigenart darin besteht, daß es Merkmale eines Vorbildes nachahmt; insofern ist er gleichbedeutend mit ‚imitatio‘ [...]. Bei der P[arodie] im engeren, eigentl. Sinn ist es auf eine bes. Wirkung abgesehen, die aus dem Kontrast zw. den imitierten, das Vorbild evozierenden Merkmalen und dem eigenen Gehalt des imitierenden Werks entsteht. Das parodierte Werk muß deshalb dem Publikum der Parodie vertraut sein [...] [D]ie Wirkung der P[arodie] dient der Satire, dem Angriff, der Kritik, der Bloßstellung, dem Spott, vielfach auch dem Scherz

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vierung von Literatur, die wiederum auf einen Mentalitätswandel im 13. Jahrhundert zurückzuführen sei: „Daraus resultiert eine Sicht auf die heldenepische Überlieferung, die diese nicht mehr ausschließlich als unveränderliche Vorzeitkunde, sondern als verfügbares und also auch veränderbares Material begreift. Auf dieser Basis schuf der Autor von ‚Biterolf und Dietleib‘ in souveräner Handhabung stofflicher Überlieferung und komischer Stilmittel ein Werk, das mit seiner subjektiven Neudeutung des Stoffes und dessen origineller Rekomposition [...] als das komplexeste und literarisch bedeutendste der mittelhochdeutschen Dietrichdichtung gelten kann.“18

Neben den intertextuellen, tendenziell parodistischen Bezügen, lässt sich für Biterolf und Dietleib auch ein ausgeprägtes genealogisches Interesse konstatieren, das sich zum einen in der kleinfamilialen Situation z.B. von Vater und Sohn, aber auch in dem umfassenden Verwandtschaftsverband („a web of family relationships“19) widerspiegelt, in den der junge Protagonist eingebunden wird. Darüber hinaus sind von den insgesamt 134 mit Namen genannten Figuren nur etwa 40 nicht mit irgendeiner anderen Figur verwandt.20 Um so erstaunlicher ist es, dass der Erzähler in den ersten Zeilen des Prologes davon berichtet, dass er die Vorfahren bzw. Verwandten Biterolfs nicht kenne. Er begründet sein vermeintliches Unwissen damit, dass er sich auf eine schriftlich niedergelegte Vorlage bezieht: „Von sînen alten mâgen darf mich nieman frâgen: wie die schuofen ir leben, des kann ich iu niht ende geben. der dise rede tihte, der liez uns unberihte, und ist doch übele beliben. hæte er iht dâ von geschriben, daz lieze wir iuch unverdeit: uns hât es nieman niht geseit.“ (BuD 19-28)

Zum einen ist die (topische) Klage des Erzählers über die offensichtlich unvollständige Quelle als Hinweis darauf zu verstehen, dass mit dem nun folgenden Text eine ‚neue‘ bzw. „fremde mæere“ (BuD 5) berichtet wird, die sich von der Vorlage – obwohl der Erzähler beteuert, dieser getreu zu folgen – gerade absetzt. Gleichzeitig demonstriert dieser Winkelzug die literarische Technik und dem lit. Spiel.“ (Bernt, G.: Art. „Parodie“, LMA 6, 1993, Sp. 1727f.). Zur Verwendung der Parodie in der mittelalterlichen Literatur vgl. auch Mertens, V.: Art. „Parodie“: „Deutsche Literatur“, LMA 6 (1993), Sp. 1738-1740. Vgl. in diesem Kontext auch die beiden Sammelbände Röcke, Werner (1999) sowie Röcke, Werner / Velten, Hans Rudolf (2005). 18 Mecklenburg, Michael (2002), S. 220. 19 Curschmann, Michael (1978), S. 80. 20 Vgl. Voorwinden, Norbert (1997), S. 248. Innerhalb der Heldenepik weist lediglich Dietrichs Flucht und Rabenschlacht mit 161 bzw. 102 Namen ein ähnlich großes Figurenarsenal auf, im Nibelungenlied dagegen finden sich ‚nur‘ 66 namentlich genannte Personen, vgl. dazu Daiber, Andreas (1999), S. 41.

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bzw. die stilistischen Raffinessen des Erzählers, für den es typisch ist, literarische Motive und Schemata durch Verformung, Inversion, Auslassung etc. zu unterlaufen: „Das Publikum wird also bereits hier mit jener Technik literarischen Erzählens bekannt gemacht, die für den Biterolf und Dietleib so ungemein prägend ist: die Illusion eindeutig verstehbarer Textaussagen – vom Autor konsequent aufgebaut – wird immer wieder durchbrochen, das Publikum wird gezwungen, sich von dem Erzählten und dem zugrunde liegenden Stoff zu distanzieren und neue Möglichkeiten des Verstehens erproben.“21

Zum anderen suggeriert die Berufung auf eine schriftliche Vorlage, dass Biterolf und Dietleib als glaubhafte Historie verstanden werden und die folgende Erzählung damit legitimiert werden soll. In diesem Zusammenhang hat Fritz Peter Knapp den Text als „Geschichtsfiktion“ bezeichnet, in dem sich der adelige Personenverband eines Landes (der Steiermark) durch den Mund eines Auftragsdichters eine Art „Gründungsurkunde“ ausstellen lässt, „welche die ruhmvolle Vergangenheit, den ökonomischen und politischen Wert und die unantastbare Integrität des Landes und das heißt: eben dieses Personenverbandes bescheinigt.“22 Obwohl am Ende des Textes die Steiermark als Freundschaftsgeschenk Etzels an Biterolf und Dietleib übergeben wird (BuD 13258ff.), lassen sich weitere vermeintlich ‚historische‘ Hinweise, die das Werk liefert, allenfalls als Reflexe, nicht aber als Dokument realer Herrschaftswünsche lesen, wie auch Knapp an anderer Stelle betont.23 Darüber hinaus ist in diesem Zusammenhang auch an den Überlieferungsverbund des Ambraser Heldenbuches zu erinnern, in dem Heldenepik zum Ruhm bzw. zur gedechtnus Kaiser Maximilians I. und zur Legitimation adeliger Herrschaft im Allgemeinen als histori überliefert wird. Ähnlich wie in der Kudrun werden in Biterolf und Dietleib unterschiedliche Strategien zur Legitimation, zur Sicherung und zum gedechtnus von Herrschaft über die Diskurse von Familie, Verwandtschaft und gender verhandelt. Speziell in Biterolf und Dietleib findet sich zudem ein pseudobiographischer Bezug zu Maximilian I., indem der Herrscher, der sich bekanntermaßen als ‚Nachfahre‘ (u.a.) Dietrichs von Bern stilisiert, mit dem Werk ein weiteres Abenteuer aus der Vita seines ‚Vorfahren‘, der wiederum der Onkel des jungen Dietleib ist, präsentiert. Aus dieser Perspektive avanciert der Text nicht nur zur Dietrich-Memoria, sondern quasi auch zur ‚Vorgeschichte‘ der habsburgischen Hausüberlieferung.24 Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung konzentriert sich die folgende Analyse zunächst analog zum ersten Teil des Werkes (Aventiuren 1-6) auf die Beziehung von Biterolf und Dietleib. Anhand des zweiten großen Abschnitts 21 22 23 24

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Mecklenburg, Michael (2002), S. 140. Knapp, Fritz Peter (1992), S. 77. Vgl. ebd. S. 76. Vgl. hierzu Kap. 3.1.

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(Aventiuren 6-16), dem sogenannten schâch von Wormez, wird die Rolle und Position Kriemhilds im Kontext der „Kriemhild-Diskussion“ fokussiert.

5.1. Biterolf und Dietleib 5.1.1. Vater und Sohn Die Beziehung von Biterolf und seinem Sohn Dietleib wird auf narrativer Ebene von den Motiven Vatersuche und Vater-Sohn-Kampf determiniert, die in den verschiedenen, auch außereuropäischen Literaturen (in ihrer jeweiligen Ausprägung selbstverständlich differierend) weit verbreitetet sind. Das älteste Zeugnis eines Vater-Sohn-Kampfes im deutschsprachigen Raum ist das um 840 im Kloster Fulda aufgezeichnete althochdeutsche Hildebrandslied.25 Das unvollständige, nur aus 68 Langzeilen bestehende stabgereimte Werk beschreibt die tragische Begegnung zwischen Vater und Sohn: Hildebrand und Hadubrand treffen als verfeindete Heerführer an der Spitze ihrer Truppen aufeinander. Der Angreifer und zugleich Ältere beginnt, nach dem Namen des jungen Verteidigers zu fragen. Hadubrand nennt seinen und seines Vaters Namen: „‘dat sagetun mi usere liuti [...] / dat Hiltibrant hætti min fater, ih heittu Hadubrant‘“ (V. 15ff.). Während Hildebrand in dem Gegner den eigenen Sohn erkennt, den er vor vielen Jahren zusammen mit dessen Mutter verlassen hat, beharrt Hadubrand darauf, dass sein Vater schon lange tot sei: „‘tot ist Hiltibrant, Heribrantes suno‘“ (V. 44). Der Kampf ist unvermeidlich, und der Vater tötet (mit großer Wahrscheinlichkeit) den Sohn.26 Anthony van der Lee zufolge besteht der Kern des Vater-Sohn-Konflikts aus folgenden Punkten: 1. Der Vater zeugt mit einer (oft magischen) Frau (die er in der Fremde kennenlernt und kurz darauf wieder vergisst) einen Sohn. 2. Der Vater hinterlässt Frau und Kind ein Zeichen, das Gnorisma, mit 25 Vgl. Das Hildebrandslied. In: Althochdeutsche Literatur. Mit Proben aus dem Altniederdeutschen. Herausgegeben, übersetzt, mit Anmerkungen und einem Glossar von Horst Dieter Schlosser. Frankfurt am Main 1989. S. 264-267. Verse 1-68. 26 Bevor der Vater den Sohn tötet, bricht das Hildebrandslied ab, „[d]och lässt sich mit großer Wahrscheinlichkeit schließen, daß der Vater den Sohn tötete.“ (Heinzle, Joachim, 1999, S. 12). Im Jüngeren Hildebrandslied dagegen kann Hildebrand den Sohn (Hadubrand bzw. hier Alebrand) im Kampf überwältigen; er gibt sich dem Besiegten zu erkennen und zieht mit ihm nach Hause zu seiner Frau Ute, vgl. Das Jüngere Hildebrandslied. In: Deutsche Volkslieder. Balladen 1. Hrsg. von John Meier. Berlin/Leipzig 1935. S. 1-21. Der älteste Textzeuge für das Jüngere Hildebrandslied ist ein Fragment von 1459; das versöhnliche Ende ist allerdings keine Neuschöpfung des 15. Jahrshunderts, sondern bereits in der um 1250 entstandenen norwegischen Thidrekssaga vorhanden; dies bezeugt einmal mehr, dass Erzählstoffe der heroischen Überlieferung z.T. über Jahrhunderte (mündlich) tradiert wurden, vgl. Heinzle, Joachim (1999), S. 51ff.

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dem sich der Sohn erkennbar machen kann. 3. Der jugendliche Sohn sucht den Vater. 4. Der Sohn findet den Vater, weigert sich aber, seinen Namen zu nennen. 5. Der Zweikampf zwischen Vater und Sohn, der mit dem Tod des Sohnes endet.27 Auf die Kritik28 an Van der Lees Modell soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden, festzuhalten bleibt jedoch, dass nicht alle Aspekte des Schemas erfüllt sein müssen, andere dagegen hinzukommen können. Aus genealogischer Perspektive ist besonders die finale Situation des Vater-SohnKampfes bedeutend, denn mit dem Tod des Sohnes wird auch die Zukunft von Familie und Herrschaft tendenziell zum Erliegen gebracht: „Das tragische Potential der [...] Konstellation ist nicht nur dadurch besonders groß, dass der Vater als Erzieher und Erzeuger, oft auch als Personifikation des Gesetzes, gegen sein ‚väterliches‘ Gefühl handelt und den Sohn tötet oder töten muss, sondern dass damit oft auch das Ende der Genealogie gesetzt wird [...].“29

In Biterolf und Dietleib wird die Vatersuche und der Vater-Sohn-Kampf folgendermaßen dargestellt: König Biterolf von Toledo wird die Kunde von König Etzels überragendem Ruf zugetragen; er beschließt, an dessen Hof zu ziehen, um sich selbst von der Wahrheit zu überzeugen (BuD 402ff.). Heimlich verlässt er seinen kleinen Sohn Dietleib, seine Tochter30 sowie seine Frau Dietlind und macht sich ins Hunnenland auf. Unterwegs begegnet er den Kundschaftern Walthers von Spanien, der vor nicht allzu langer Zeit vom Etzelhof geflohen ist, wie der Erzähler berichtet (BuD 575ff.). Diese kurze Passage, die Walthers Aufenthalt bei den Hunnen, seine Freundschaft zu Hagen, seine Liebe zu Hildegunde etc. impliziert und später von Walther kurz nacherzählt wird, verdeutlicht die Verfügbarkeit von umfassenden Sagenwissen, das sowohl dem Verfasser als auch den mittelalterlichen Rezipienten vermutlich aus dem Waltharius oder dem Waltherepos31 vertraut war. Gleichzeitig avancieren Walthers Abenteuer quasi zur Vorgeschichte von Biterolf und Dietleib, verweist die „genealogische Intertextualität“32 auch hier auf die ‚verwandtschaftliche‘ Vernetzung heldenepischer Texte. 27 Vgl. Lee, Anthony van der (1957), S. 61-71. 28 Vgl. dazu Mecklenburg, Michael (2002), S. 170-173; sowie Matthias Meyer (2006), S. 78: „Was an der These, es gäbe so etwas wie eine ur-indoeuropäische Vater-Sohn-Geschichte problematisch ist, ist die implizite Annahme, dass es für die verschiedenen sagenhaften Thematisierungen dieses Konflikts eine gemeinsame Wurzel geben muss – und dass diese gemeinsame Wurzel ein Spezifikum einer bestimmten sprachlich definierten Gruppe sein soll.“ 29 Ebd. S. 62f. 30 Von Biterolfs Tochter erfährt der Leser an dieser Stelle noch nichts. Erst rückblickend berichtet Biterolf (nach dem Wiedersehen mit seinem Sohn), dass er damals seine beiden Kinder verlassen habe: „‘ich liez dâ heime in gotes phlegen / zwei vil kleiniu kindelîn / einen sun und ouch ein tohterlîn‘“ (BuD 4202ff.). Außer in Biterolf und Dietleib ist nur noch im Laurin eine Schwester Dietleibs belegt, die dort Künhild/Kriemhild genannt wird (Lau A 1041). 31 Zum intertextuellen Verhältnis zwischen Waltharius und dem (weitgehend verloren gegangenen) mhd. Waltherepos vgl. Daiber, Andreas (1999), S. 55. 32 Kellner, Beate (2004), S. 32, Anm. 54.

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Doch zunächst weigert sich Biterolf, dem Knappen seinen Namen und sein Reiseziel zu nennen, woraufhin Walther persönlich erscheint. Obwohl der König von Toledo in dem jungen Mann anhand der Schildwappen seinen Verwandten Walther vermutet (BuD 616ff.), wird das Verwandtschaftsverhältnis vorerst nicht aufgeklärt, denn es kommt sofort zum Zweikampf (BuD 616ff.). Wolfgang Harms zufolge trägt „Biterolfs Verkennen im Kampf [...] dadurch das Mal eines teilweise bewußten Verwandtenkampfes.“33 Doch bevor es zu einer ernsthaften Verletzung kommt, beendet der Ältere die Auseinandersetzung: „‘bist duz Walthêr der degen, / sô hou ûf mich niht mêre‘“ (BuD 662f.) Das gegenseitige Gnorisma folgt in Form eines Gespräches, denn Biterolf eröffnet Walter, dass er sein Onkel sei: „‘mîn swester was diu muoter dîn‘“ (BuD 671) und dass er an den Hof König Etzels ziehen wolle: Sein „neve“ Walther (BuD 715), der nun seinerseits seinen „œheim“ (BuD 783) willkommen heißt, ist der einzige, den Biterolf in sein Vorhaben einweihen wird. Dies geschieht aus einem einzigen Grund: Beim Abschied bittet Biterolf seinen „friunt“ (BuD 790), er möge sich in seiner Abwesenheit als „fridemeister“ (BuD 788) um sein Land und um seine Frau kümmern. Dieser wird die ihm übertragende Aufgabe mit Verantwortung erfüllen und Dietlind wird Dietleib später berichten, dass es Land und Leuten schlechter gehen würde, wenn nicht sein ‚Cousin‘34 Walther zur Stelle gewesen wäre (BuD 2101ff.). Erst vor dem intertextuellen Hintergrund der tragischen Kämpfe zwischen vriunden im Waltharius35 oder im Nibelungenlied36, die durch einander überlagernde triuwe-Bindungen ausgelöst werden, wird die deeskalierende, Frieden sichernde Botschaft von Biterolf und Dietleib ersichtlich. 33 Harms, Wolfgang (1963), S. 58. 34 Dietlind erklärt Dietleib: „‘Walthêr [...] der ist dîner basen suon‘“ (BuD 2107f.). 35 Im Waltharius findet am Ende der große Schlusskampf zwischen Walther, Hagen und Gunther statt. Da Walther und Hagen durch ein waffenbrüderschaftliches Verhältnis (W 1090, 1261), Hagen und Gunther hingegen durch Gefolgschaft verbunden sind (ein Verwandtschaftsverhältnis liegt zwar nahe, vgl. W 27ff., wird aber nicht explizit genannt), befindet sich Hagen in einem Zwiespalt: Auch nachdem Walther dessen Neffen Patavrid getötet hat (W 911ff.), hält Hagen sich aus dem Kampfgeschehen heraus. Erst auf die wiederholte Bitte Gunthers entschließt er sich, diesen zu unterstützen, betont aber, dass er aus Treue zu seinem Herrn handele, nicht, weil er den Tod des Neffen rächen will (W 1113ff.). Vor dem großen Dreikampf erinnert Walter Hagen an ihr Bündnis, doch dieser verweist nun auf den Tod seines Verwandten, und fordert Rache für diesen (W 1275ff.). Hagen verschweigt den wahren Grund, weshalb er den Kampf aufnimmt: Gunther ist allein zu schwach für einen Zweikampf. Am Ende sind alle drei verwundet, geben den Kampf auf und versöhnen sich, vgl. Waltharius. Lateinisch/Deutsch. In: Frühe Deutsche Literatur und Lateinische Literatur in Deutschland. 800-1150. Hrsg. von Walter Haug und Konrad Vollmann. Frankfurt am Main 1991. S. 163-260. Kommentar S. 11691222. 36 Vor allem in der Kontroverse um Rüdiger wird der Konflikt konkurrierender Bindungen durchgespielt: Er steht zwischen der herrschaftlich begründeten Pflicht gegenüber seinem Lehensmann Etzel und der Bindung an die burgundischen Verwandten (NL 1650ff.). Schweren Herzens votiert Rüdiger für die herrschaftliche Seite.

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Biterolf zieht weiter, wird aber, weil er erneut Namen und Identität nicht preisgeben will, zwei weitere Male in einen Kampf verwickelt. In Bayern tritt er gegen Gelphrat und Else an (BuD 841ff.), in Mautaren kämpft er gegen die Brüder Wolfrat und Astolt (BuD 1035ff.); beide Male endet der Kampf mit Biterolfs Sieg, doch trennt man sich friedlich. Sehr viel später, als das EtzelHeer im umgekehrten Weg wieder an Mautaren vorbeizieht, wird sich Biterolf sogar für sein Verhalten gegenüber Wolfrat und Astolt entschuldigen, was der Erzähler lobend betont (BuD 5452). Endlich gelangt er an König Etzels Hof, wo er mehrere Jahre lang unter dem Pseudonym Diete von Teneland (BuD 1910)37 lebt und rasch zum berühmtesten Helden an dessen Hof avanciert. Zum Dank für seine Dienste will Etzel den erfolgreichen Biterolf mehrfach belohnen, doch dieser weist die Zuwendungen des Königs stets höflich zurück. Nicht einmal nach der Eroberung der Stadt Gamali, die allein Biterolfs Verdienst ist (vgl. BuD 1788ff; 1659ff.), nimmt er das von Etzel dargebotene Geschenk (ein Land) an. Biterolf erklärt: „‘ich hân noch solhes niht getân / dar umbe ich krône süle enphân‘“ (BuD 1938f.). Etzel reagiert zwar verärgert (BuD 1945), akzeptiert aber schließlich die Entscheidung des stolzen Helden. Der Konflikt demonstriert eine ambivalente Situation. Zum einen versucht Biterolf, sein Ansehen in der hunnischen Gesellschaft allein durch seine Taten zu beweisen, wofür er seine wahre Identität verschweigen muss; zum anderen will er auch seiner königlichen Stellung, die ihn mit Etzel gleichstellt, gerecht werden: Die Annahme eines Landes muss Biterolf zurückweisen, um seine gesellschaftliche Position nicht der Etzels unterzuordnen.38 An dieser Stelle bricht die Biterolf-Handlung vorerst ab, die Erzählung wendet sich dem Schicksal Dietleibs39 und seiner Mutter in Toledo zu. Dietlind lässt ihrem Sohn, der bei der Abreise seines Vaters zwei oder drei Jahre40 alt ist, eine gebührende höfische Erziehung zuteil werden. Während der zukünftige Thronfolger heranwächst, wird seine äußere und innere Ähnlichkeit mit seinem Vater immer offensichtlicher: „sînem vater vil gelîche / gebâren er begun37 Hier der Übertragung André Schnyders (1980) folgend, vgl. dazu den Kommentar Schnyders S. 433. 38 Vgl. auch Daiber, Andreas (1999), S. 58. 39 Die Dietleib-Figur kommt innerhalb der mhd. Heldenepik auch im Laurin, im Rosengarten, in Dietrichs Flucht und Rabenschlacht sowie in der Virginal vor: Im Laurin hat Dietleib eine Schwester (Künhild bzw. Kriemhild genannt), die vom Zwerg Laurin entführt wurde. Dietrich von Bern bittet Dietleib im Kampf gegen Laurin um Hilfe (Lau A 421). Im Rosengarten unterstützt Dietleib Dietrich gegen die Burgunden (Ro A 106ff.; Ro D 87). In Dietrichs Flucht und Rabenschlacht wird Dietrich ebenfalls von Dietleib (und Biterolf ) im Kampf gegen Ermrich unterstützt (DF 3640; Ra 43ff.). Auch in der Virginal wird Dietleib (gemeinsam mit seinem Vater Biterolf ) von Dietrichs Verbündeten um Hilfe gebeten (V h 378,8; V w 564,6). 40 Im Alter von zwei (BuD 210) bzw. dreieinhalb Jahren (BuD 4206) wird Dietleib von seinem Vater verlassen. Zu den differierenden chronologischen Angaben vgl. Curschmann, Michael (1978), S. 89, Anm. 3.

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de“ (BuD 2024f.). Als etwa zwölfjähriger41 wird Dietleib nun von seinen „ammen“ getrennt und von „helden“ erzogen (BuD 2029ff ). Als eines Tages seine Spielkameraden von ihren Vätern erzählen, wird dem Jungen bewusst, dass er selbst keinen Vater hat (BuD 2034). Erst auf Nachfragen des Sohnes berichtet Dietlind von Biterolfs Verschwinden, woraufhin der Junge sofort erklärt, dass er immer ellende bleiben werde, wenn er den Vater nicht fände: „‘ellende ich immer wolde sîn, / ich enfunde danne den vater mîn“ (BuD 2079f.). Das Epitheton ellende verweist auf einen Defekt und schließt subjektives Empfinden und objektiven Sachverhalt ein:42 Hagen in der Wildnis (K 72,4), die entführte Kudrun in Ormanie (K 994,3), Kriemhild im Nibelungenlied nach Siegfrieds Tod (NL 1053,1) und retrospektiv in der Klage (Kl 73) werden ebenfalls als arm oder ellende bezeichnet. In Dietleibs Fall reichen die ‚Faktoren‘ der allein erziehenden Mutter, die hohe Abstammung, die höfische Erziehung, das adäquate Umfeld etc. offensichtlich nicht aus, um die Identität eines Sohnes und zukünftigen Thronfolgers zu gewährleisten – erst die Anwesenheit des Vaters scheint diese vervollständigen zu können. Gleichzeitig beschreibt Dietleibs Zustand auch die Situation des herrscherlosen Landes, dessen Sicherheit ohne einen starken König potentiell gefährdet ist. Das Ende von Biterolf und Dietleib betont jedenfalls die Rückkehr des Vaters und Herrschers ausdrücklich: „iedoch ist uns daz sît erkant, / daz er [Biterolf; G.L.] vil wol enphangen wart / nach sîner langen heimvart“ (BuD 13442ff.). Von nun an kreisen Dietleibs Gedanken nur noch um sein eigentliches Vorhaben: die Vatersuche. Die Mutter scheint dies zu registrieren, denn obwohl sie ihm erklärt, dass der Vater wahrscheinlich tot sei (BuD 2087), nimmt sie ihm zusätzlich das Versprechen ab, er möge immer bei ihr bleiben und später die Regentschaft übernehmen (BuD 2095ff.).43 Dietleib versichert der Mutter, bei ihr bleiben zu wollen, trifft aber ebenso heimlich wie einst sein Vater erste Vorkehrungen zur Abreise. Weil Dietlind eine Waffenausbildung für zu früh erachtet (BuD 2128), lernt der geschickte Junge heimlich reiten und den Umgang mit Waffen. Seine Körperkraft und sein muot, die er dabei beweist, sind offensichtlich ‚angeborene‘ bzw. ererbte Eigenschaften (art44), die ihn als Nachkommen vornehmer Eltern ausweisen und den Beginn einer heldenhaften ‚Karriere‘ präludieren. Eines Tages findet der Junge das Schwert und die Rüstung seines Vaters, die dieser bei seinem heimlichen Aufbruch 41 Inzwischen sind etwa zehn Jahre vergangen (vgl. BuD 2059). 42 Vgl. Müller, Jan-Dirk (1998), S. 221ff. 43 Besonders Wirnts von Grafenberg Wigalois dürfte weitere Anregungen für die Konzeption Dietleibs gegeben haben: Wigalois Mutter Flôrîe versucht ebenfalls, den Sohn von der Vatersuche abzuhalten. Dieser gelangt schließlich an den Artushof, wo er seinen Vater (Gawein) trifft, ohne dass die beiden einander erkennen (Wig 1302-1679); vgl. dazu auch Daiber, Andreas (1999), S. 64. 44 Vgl. Lexer: Art. „art“, Bd. 1, Sp. 98: Herkunft, Abkunft, angeborene Eigentümlichkeit, Natur, Beschaffenheit.

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zurückgelassen hatte. Drei Stunden benötigt der im Anlegen eines Harnisch unerfahrene tumbe Junge, um sich die Rüstung anzulegen, und dann hat er sie auch noch falsch herum an (BuD 2180ff ) – eine komische Szene, die z.B. ironisch-persiflierend an den jungen Parzival im gleichnamigen Werk45 erinnert. Kurze Zeit später täuscht Dietleib vor, auf die Falkenjagd zu gehen, in Wahrheit bricht er heimlich zur Vatersuche auf (BuD 2236ff.). Als die Mutter den Verlust des Sohnes bemerkt, stimmt sie eine Klage an und bedauert, nun verwaiset zu sein: „‘owê, wie ich verweiset bin. / ob mir mîn man und ouch mîn kint / beide verlorn sind‘“ (BuD 2338). Der Verlust des Ehemannes und jetzt auch des Sohnes markieren nicht nur Dietlinds persönliches Leid, sondern vor allem die Gefährdung der Herrschaft: „‘wem hât mich nu lâzen / der friden solde disiu lant?‘“ (BuD 2344f.) Dem Handlungsnexus folgend, muss sich Dietleib unterwegs auf seiner Suche Vatersuche dreimal im Kampf – parallel zur dreifachen Bewährung seines Vaters Biterolf auf dessen Reise zu Etzel – bewähren: Zunächst begegnet er in der Nähe von Tronje sowie auf der Höhe von Metz jeweils einer Gruppe fremder Krieger, die ihn und seine Begleiter nach Namen bzw. Herkunft und Reiseziel fragen (BuD 2380ff., 2507ff.). Beide Male verweigert er die Antwort und besiegt die Angreifer im Kampf; erst im Nachhinein erfahren jeweils die Gegner, dass sie gegen einen ungeübten Jungen verloren haben, sie sind peinlich berührt und entschuldigen sich. Beide Male verzeiht der junge Dietleib den Angreifern (BuD 2473ff., 2589ff.) und wird zuletzt auf einen kurzen Abstecher nach Metz eingeladen. Der Junge nutzt die Gelegenheit und erkundigt sich dort, ob sich in der Nähe ein großer Hof befinde (BuD 2605ff.), an dem vielleicht ein älterer kampfstarker Krieger lebe (BuD 2624ff.). Man rät ihm, es beim Hofe König Etzels zu versuchen. Dietleib bedankt sich für den Hinweis und reist weiter. Unterwegs kommt es zur dritten, diesmal folgenschweren Begegnung: Der Junge trifft im Wasgenwald46 auf die Burgunden Gunther, Gernot und Hagen. Der jugendliche Held gerät mit den drei erwachsenen Kriegern in Konflikt, weil er sich wiederholt weigert, seinen Namen zu nennen: Herausfordernd behauptet er: „‘ine weiz selbe wer ich bin‘“ (BuD 2848). Da die Burgunden in ihrem gerüsteten Gegenüber einen erfahrenen Krieger vermuten und seine Antwort einen Affront bedeutet, sind die Kämpfe auch hier unvermeidlich. Wie in den vorangegangenen Episoden kann Dietleib die drei nacheinander im Zweikampf besiegen und erklärt ihnen, dass er weder „fürste“ noch „ritter“ sei, sondern ein einfacher „kneht“, den sie grundlos angegriffen hätten (BuD 2977ff.). Gunther lobt die Fähigkeiten des Jungen: „‘ich 45 Auch der junge Parzival wird der tumbe genannt, wenn er dem besiegten Ither ohne die Hilfe des Knappen die Rüstung gar nicht erst abzunehmen vermag (Parz 155,19ff.). 46 Der Wasgenwald gilt als gefährlicher Schauplatz: sowohl der Kampf von Walther gegen die Burgunden im Waltharius (W 490ff.) als auch Siegfrieds Ermordung durch Hagen im Nibelungenlied (NL 911,3) ereignen sich dort.

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hân gesehen / sô küener knaben niene mê‘“ (BuD 2968f.) und bietet ihm trotz der eigenen Niederlage und Demütigung eine Sühneleistung (BuD 2993) an. Doch der jugendliche Heißsporn weist an dieser Stelle die suone zurück und droht den Burgunden mit Rache: „‘ich enreche daz mir ist geschehen‘“ (BuD 3009). Schließlich erreicht Dietleib mit seinen drei Knappen (BuD 3252) den hunnischen Hof. Dort sorgt er, noch „niht halb gewahsen zeinem man“ (BuD 3255), wegen seiner auffallenden Schönheit (BuD 3301) und seiner höfischen Art (BuD 3280ff.; 3307ff.) sofort für Aufsehen. Besonders Königin Helche ist von der Erscheinung des Jungen angetan (BuD 3266ff.). Gemeinsam mit ihren Söhnen Ort und Erpfe sowie Gotelinds und Rüdigers Sohn Nudung soll Dietleib von nun an erzogen werden. Etzel unterstützt dieses Vorhaben: „‘wir suln den gast ze kinde hân, / ob er wil hie bî uns bestân‘“ (BuD 3393f.). Ganz offensichtlich ist das Herrscherpaar bereit, Dietleib als Pflegekind47 an ihren Hof zu binden, vor allem, weil seine bereits sichtbare „degenlîche“ Art und seine vermutete hohe Abstammung („von guotem künne“; BuD 3399) auf einen außerordentlichen Helden hinweisen. Explizit erklärt Helche, dass Dietleib für das hunnische Reich von großem Nutzen sein könnte: „‘er grîft sô degenlîchen zuo, sîn wirt getiuret unser lant. swie lützel er uns sî bekant, er ist von guotem künne komen swâ sich der degen habe genomen.‘“ (BuD 3396ff.)

Dieses Eltern-Kind-ähnliche Verhältnis könnte – neben der intertextuell bekannten Gegnerschaft zwischen Hunnen und Burgunden, die das Nibelungenlied und der Rosengarten dokumentieren – eine Erklärung dafür sein, dass Etzel den jungen Dietleib im Kampf gegen Gunther später wie selbstverständlich unterstützen wird. Zum anderen ist auch aus dem Waltharius bekannt, dass Hagen, Walther und Hildegunde, die zunächst als Geiseln an den EtzelHof gekommen waren, von dem Königspaar als Pflegekinder48 umsorgt, geliebt und ihrem sozialen Stand entsprechend ausgebildet wurden. Auch an Etzels Hof berichtet Dietleib nichts von dem eigentlichen Grund seiner Ausfahrt; er gibt stattdessen vor, nur deshalb gekommen zu sein, weil er so viel Wunderbares von dem Hunnenkönig gehört habe (BuD 3307ff.). Bald nach seiner Ankunft trifft der Junge auf Biterolf, doch beide erkennen einander nicht, denn der Vater lebt unter seinem Pseudonym, der Sohn (anscheinend) anonym. Der Verfasser betont jedoch, dass sich Vater und Sohn offensichtlich stark zueinander hingezogen fühlen, ohne zu wissen, warum: Es ist die Sprache des ‚Herzens‘ bzw. der nahen Blutsverwandtschaft, die die 47 Vgl. Anm. 103, Kap. 2.2.3., zu Adoption und Pflegkindschaft. 48 Im Waltharius werden Hagen, Walther und Hildegunde von Etzel und Helche als alumnos (Pflegesohn) bzw. alumna (Pflegetochter) bezeichnet (vgl. W 98; 379).

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beiden nicht verbalisieren können: „swâ ieman sippefriunt siht, / wart ers mit künde niht gewar, / in treit iedoch daz herze dar“ (BuD 3322ff.). Nach etwa einem Jahr rüstet Etzel zu einem Heerzug gegen den untreu gewordenen Fürsten Wenetzlan, an dem auch Biterolf teilnimmt. Obwohl der Hunnenkönig dem noch unerfahrenen Dietleib untersagt hatte (BuD 3466ff.), an der Schlacht teilzunehmen, widersetzt sich dieser und bricht – wie die Etzelsöhne in der Rabenschlacht49 – trotz des Verbotes heimlich auf, reitet dem Tross hinterher und stürzt sich ins Kampfgeschehen. Mit dieser ‚gefährlichen‘ intertextuellen Parallele zur Rabenschlacht spielt der Verfasser ganz offensichtlich, und das mittelalterliche Publikum dürfte mit Spannung den weiteren Verlauf erwartet haben. Doch nicht nur Dietleib, sondern auch Biterolf entfernen sich unabsichtlich von ihren Truppen, treffen aufeinander und halten sich für Gegner. Das gegenseitige Verkennen hat mehrere Gründe: Zum einen rechnet Biterolf – aufgrund des offiziellen Verbotes durch Etzel – nicht mit dem Erscheinen des Jungen auf dem Schlachtfeld, zum anderen sind die Feldzeichen der Rüstungen derart blutverschmiert, dass die beiden nicht erkennen können, ob ihnen ein Freund oder Feind gegenüber steht. Ebenso blutverkrustet ist auch das Schwert, das Dietleib in der Hand hält: Es handelt sich dabei um Biterolfs Waffe, die er bei seiner heimlichen Abreise in Toledo zurückgelassen hatte. Biterolf kommt der Klang der Klinge zwar irgendwie bekannt vor, aber das ist im nächsten Moment schon wieder vergessen (BuD 3692ff.). Das vorhandene Gnorisma (das Schwert) kann also nicht greifen. Nach Curschmann handelt es sich in der Weiterführung des gegenseitigen Verkennens um „eine geradezu mutwillige Durchbrechung des hergebrachten Handlungsschemas.“50 Es kommt zu einem Kampf, in dem der Jüngere zu siegen droht – doch da ist auf einmal Rüdiger, der wichtigste Mann König Etzels, zur Stelle, erkennt seine Leute und lässt den Kampf beenden. Er belehrt den jungen Dietleib, wie wichtig es sei, sich stets bei den eigenen Truppen aufzuhalten (BuD 3705ff.). Die traditionellen Elemente des Vater-Sohn-Kampfes (Gnorisma und Tod) werden ersetzt durch das Erkennen und Eingreifen eines Außenstehenden51, der sich später zudem als Verwandter der beiden erweisen wird. Zurück an Etzels Hof bemerkt Rüdiger – innerhalb einer sorgfältig arrangierten Szenenfolge, in der lange verschleiert wird, dass es sich um den 49 In der Rabenschlacht verlassen die beiden Etzelsöhne gemeinsam mit Diether (Dietrichs jüngerem Bruder) gegen die Anordnung des Berners die Stadt, verirren sich, treffen auf Witege, greifen diesen an und werden von dem erfahrenen Krieger getötet (vgl. Ra 172; 180; 435; 438). 50 Curschmann, Michael (1976) [1976 a], S. 20. 51 Wolfgang Harms (1963), S. 61, sieht in Rüdigers reflektierendem Erkennen eine „beginnende Intellektualisierung des Erkennensprozesses”; ähnlich argumentiert Andreas Daiber (1999), S. 73, Anm. 152: „Die Tendenz zu rationalerer Behandlung tradierter Motive [z.B. dem Gnorisma; G.L.] zeigt sich an diesem Beispiel erneut“; Michael Mecklenburg (2002), S. 192, betont hingegen den komischen Effekt der Situation.

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Markgrafen handelt52 –, wie eng das Verhältnis zwischen Biterolf und Dietleib geworden ist: Beide sieht man auffallend häufig „güetelîche blicke“ wechseln (BuD 4083f.), der Erzähler erklärt das Phänomen der emotionalen Verbundenheit wiederholt durch das geheime Wissen der „herze“ (BuD 4079f.). Und nun beginnt Rüdiger sich zu erinnern, denn der ältere Krieger kommt ihm irgendwie bekannt vor: Richtig, ist das nicht sein „künne“ (BuD 4100) bzw. sein angeheirateter Verwandter Biterolf aus Toledo? In Anbetracht der Tatsache, dass Rüdiger und Biterolf seit Jahren an Etzels Hof leben und der Markgraf zusammen mit dem vermeintlichen Diete sogar in Gamali zusammen gekämpft hat (BuD 13991ff.), wirkt diese Enthüllung mehr als komisch. Kurz entschlossen stellt Rüdiger seinen Verwandten Biterolf (den er „gesipten friunt“ nennt; BuD 4165) zur Rede. Nach einem ersten Leugnungsversuch gesteht Biterolf schließlich seine wahre Identität. Danach geht Rüdiger zu Dietleib und fragt den Jungen ungehalten, wie lange er eigentlich noch seine Herkunft53 verstecken wolle: „‘wie lange welt ir, junger man, iuwer geslehte vor uns heln?‘“ (BuD 4222). Wie sein Vater versucht auch Dietleib zunächst, die Vorwürfe zu bestreiten, doch Rüdiger erklärt dem Jungen: „‘ir sult ez lâzen âne haz daz mîn und der marcgrævin kint iu vil nâhen sippe sint. [...] Diethêr hiez iuwers anen name, iuwer muoter hiez Dietlint, ir sît daz Biterolfes kint.‘“ (BuD 4233-4238)

In Anbetracht der verwandtschaftlichen Beweislast gibt der Junge schließlich nach und gesteht in der selben Reihenfolge seine Abstammung: „‘mîn muoter heizet Dietlint, /des alten Diethêres kint. / mîn vater ist Biterolf genant.‘“ BuD 4265ff.). Interessant ist, dass sein Großvater mütterlicherseits und seine Mutter beide Male zuerst genannt werden. Dies ist nicht verwunderlich, denn Dietlind54 und demnach auch Dietleib sind Nachkommen der berühmten Amelungen55, dessen berühmtestes Mitglied Dietrich von Bern ist. Auch in 52 Erst nach und nach wird dem Leser enthüllt, dass es sich bei dem Vermittler um Rüdiger handelt; ein typisches Beispiel für das Spiel des Autors mit dem Wissen und der Aufmerksamkeit des Publikums: „The narrator disguises the equally well known middleman and invites his audience to a ‚real‘ game of hide and seek. ‘Use your wits and your knowledge,‘ he seems to say. ‘[...]. As a joke, this is harmless enough, but seen against the background of poetic convention, it is an act of literary showmanship, sophisticated to the point of being blasé.” (Curschmann, Michael, 1978, S. 87f.) 53 Im Gegensatz dazu wird das verwandtschaftliche Verhältnis zwischen Rüdiger, Gotelind, Nudung und Dietleib als „nâhe[n] sippe“ (BuD 4234) bezeichnet. 54 Dietlind ist die „base“ (vermutlich hier Cousine väterlicherseits) von Dietrich von Bern (BuD 12529). 55 Dietrich stammt aus der Sippe der Amelungen. In Dietrichs Flucht ist Hugdietrichs Sohn Amelung der Vater von Diether, Ermrich und Dietmar (Dietrichs Vater), vgl. DF 2410ff. In Biterolf und Dietleib werden die Verwandten und Kämpfer Dietrichs Amelungen genannt (vgl. BuD

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anderen Textstellen wird die Verwandtschaft mit dem großen Helden betont, wie das Beispiel von Biterolfs Pseudonym Diete56 zeigt, oder der Hinweis, dass Dietleibs Pferd von der selben Mutterstute wie Dietrichs Pferd stammt (BuD 2275ff.). Identität und Verwandtschaft wird ähnlich wie z.B. in der Kudrun über die Namen verdeutlicht (vgl. die Analogie Dieter, Dietmar, Dietlind, Dietleib, Dietrich, Diete): „Was auf den ersten Blick als beliebiges name-dropping erscheint, ist also durchaus literarisches Programm.“57 Rüdiger führt nun Vater und Sohn zusammen58 und verhilft ihnen zum verspätetem Familienglück: „mit rehte friuntlîchen sîten / einander si enphiengen“ (BuD 4296f.). Dietleib betont, er habe sich aus „sorge“ (BuD 4291) und „liebe“ (BuD 4295) zu Biterolf auf die Vatersuche begeben, der ursprüngliche Grund für seinen Aufbruch, die ellende-Thematik (vgl. BuD 2079), wird an dieser Stelle nicht mehr erwähnt. Bald darauf59 erfährt auch die Öffentlichkeit bei Hofe die wahre Identität von Biterolf und seinem Sohn. Helche will den Jungen zum Ritter schlagen, doch dieser lehnt ab und berichtet von seiner Begegnung mit Gunther: Bevor die Schmach durch die Burgunden nicht gesühnt sei, wolle er diese Ehre nicht annehmen (BuD 4512ff.). An dieser Stelle erklärt sich rückblickend auch sein Schweigen über die Vatersuche bei seiner Ankunft an Etzels Hof. Daibers Erklärung dafür lautet: „Neben die Vatersuche ist bei Dietleib längst der Wunsch nach ritterlicher Bewährung und eigenem Ehrgewinn getreten.“60 Das ist jedoch nur bedingt richtig, denn die ritterliche Bewährung Dietleibs könnte auch einen anderen pragmatischen Grund haben: Umfangreiche Unterstützung im Kampf gegen die Burgunden, gegen die ein Halbwüchsiger allein keine Chance hätte. Zielte Biterolfs Aufenthalt am hunnischen Hof darauf, seinen Ruf als Held und Herrscher zu bestätigen, muss der junge Dietleib dagegen diese Heldenhaftigkeit erst einmal erringen. Und da es am wirkungsvollsten ist, Ansehen und Respekt zu erwerben, ohne die edle Herkunft zu nennen, schweigt Dietleib (ähnlich wie sein Vater) solange über seine Abstam-

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5174ff.); Dietrich selbst wird als „helt“ bzw. „herre ûz Amelunge lant“ (BuD 106036, 10660) bezeichnet. Gleichzeitig verweist der Name Diete intertextuell auch auf die Exilsituation Dietrichs von Bern (im Nibelungenlied und in den historischen Dietrichepen), der ähnlich wie Biterolf an Etzels Hof lebt. Auch im König Rother führt Rother den Inkognito-Namen Dietrich (KR 820). „Der Name Dietrich verweist hier also nicht (nur) auf die Person des Berners, sondern evoziert die mit ihm verbundene Rolle des Exilierten und Vertriebenen. In der Thidrekssaga wählt übrigens Osanctrix am Hofe Milias in ähnlicher Situation wie Rother als Inkognitonamen ebenfalls ‚Thidrekr‘ (78ff.).“ (Miklautsch, Lydia, 2005, S. 99) Ebd. S. 99. Die Zusammenführung durch einen Dritten ist wiederum eine Anleihe aus dem Wigalois; vgl. dazu Mecklenburg, Michael (2002), S. 195. Vgl. die amüsante Art und Weise, wie Rüdiger, der Biterolf versprochen hatte, weder Mann noch Frau (BuD 4170ff.) von seiner wahren Identität zu berichten, der maide Herrat diese Geschichte erzählt (BuD 4350), woraufhin wenig später der ganze Hof informiert ist. Daiber, Andreas (1999), S. 71.

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mung, bis er eine Heldentat vollbracht hat, die allgemein anerkannt wird. Erst nach einer solchen Leistung kann er sich umfassender Unterstützung sicher sein, ohne dass sein Rachegedanke als kindlicher Unfug bagatellisiert würde. Doch mit der einstweiligen Ablehnung des Ritterschlages wird erneut das Schema der Vatersuche gebrochen: Eigentlich müssten nun Vater und Sohn zur treulich wartenden Ehefrau und Mutter heimkehren61, aber in Biterolf und Dietleib wird zunächst das Turnier von Worms (schâch von Wormez) zwischen diese Ereignisse geschoben. Mecklenburg zufolge dient der Einschub dazu, Dietleib „nun coram publico als wahrhaften Helden vorzuführen, und zwar nicht nur durch die Darstellung seiner kämpferischen Qualitäten, sondern vor allem auch durch die Zurschaustellung seiner vielfältigen Bindungen an all die großen und bekannten Gestalten der Heldensagenüberlieferung.“62 Dem würde ich hinzufügen, dass nur die umfassende Solidarität des Verbandes der vriunde, mit dem Dietleib nach Worms zieht, den Sieg seiner Truppen über die Burgunden sowie das versöhnliche Ende mit anschließender suone ermöglicht: Etzel sichert seinem ‚Zieh-Sohn‘ auf dessen Bitte hin (BuD 4525) sogleich militärische Unterstützung im Form eines großen Heeres zu (BuD 4565). Biterolf schlägt außerdem vor, Boten zu Dietleibs mütterlichen Verwandten („sîner muoter künne“; „sippe“; BuD 4581f.) zu senden und um Hilfe zu bitten: Dietrich von Bern, Ermrich, die Harlungen etc. sind sofort bereit, dem jungen Verwandten mit ihren Kriegern beizustehen (BuD 5173ff.). So zieht ein mächtiges Heer63, angeführt von Dietrich, den Harlungen und Rüdiger, nach Worms. Viele von den einzelnen (namentlich genannten) Helden sind wiederum nicht nur durch das Prinzip der Gefolgschaft (z.B. die „Dietrîches man“ BuD 5240), sondern auffallend häufig auch durch (bluts-) verwandtschaftliche Bindungen in Form von Onkel-Neffen-Filiationen und Brüder-Konstellationen miteinander verbunden. Jene Bindungen sind (fast ausschließlich) positiv besetzt, wie z.B. die Relation zwischen Hildebrand und seinem Neffen Wolfhart (BuD 8975ff.)64 oder die von Biterolf und seinem Sohn Dietleib (BuD 10665) zeigt: Man tritt füreinander ein und schützt sich gegenseitig in der Schlacht. Auch Dietleib und sein Onkel Dietrich kämpfen bis zum Schluss Seite an Seite: „si gestuonden friuntlîche / in dem strîte ein61 Hildebrand und Alebrand (Hadubrand) im Jüngeren Hildebrandslied tun dies jedenfalls, nachdem sie sich beim Kampf erkannt haben: sie reiten heim zu Frau Ute, vgl.: Das Jüngere Hildebrandslied. In: Deutsche Volkslieder. Balladen 1. Hrsg. von John Meier. Berlin/Leipzig 1935. S. 1-21. 62 Mecklenburg, Michael (2002), S. 194. 63 Allein Etzels Heer umfasst 40000 Männer (BuD 4919), Helche schickt zusätzlich von ihr bezahlte 10000 Männer (BuD 4922); Blödel führt „drî und drîzic hundert“ Männer an (BuD 4938); Dietrich hat 8000 Krieger versammelt (BuD 5180). 64 Hildebrand reagiert außerdem betroffen, als er von der Gefangennahme seines Neffen Wolfhart erfährt (BuD 8878ff.). Weitere Beispiele für die Solidarität unter den Kriegern: Der Harlunge Hache rettet seinem Sohn Eckehart (BuD 10243ff.) sowie seinem „veter“ Wachsmut (12208) im Kampf das Leben; die Harlunge kommen Wolfhart im Kampf zur Hilfe (BuD 8764ff.) etc.

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ander bî“ (BuD 10514f.).65 Das damit implizierte ‚Solidaritätsethos‘ wird von Rüdiger formuliert: „‘friunt sol friunde bî gestân‘“ (BuD 6591). Diese Passage ähnelt auffallend der Textstelle, in dem das auf vriuntschaft basierende Bündnis von Hagen und Volker im Nibelungenlied besiegelt wird: „‘sô friunt bî friunte friuntlîchen stât‘“ (NL 1801,2). Die Waffenbrüderschaft der beiden Helden bildet im Schlussteil des Epos den idealisierten Gegenentwurf zur Perversion verwandtschaftlicher und zur Katastrophe herrschaftlicher Bindungen.66 In Biterolf und Dietleib sind konfligierende Verwandtschaftskonstellationen hingegen die Ausnahme, werden allerdings vom Erzähler besonders betont: Beispielsweise rügt Rüdiger Nantwin, der mit seinem Onkel Witege67 um Nantwins Land streitet (BuD 6580ff.); und als Rüdiger gegen Walther antreten soll, verweigert ersterer zunächst den Kampf, weil er sich dem anderen gegenüber verbunden fühlt (BuD 7655).68 Doch Hildebrand kann den Markgrafen durch eine List davon überzeugen, gegen Walther anzutreten. Dieser bedauert hingegen den Kampf mit dem „alte[n] friunt“ (BuD 119231). Die Verwandten Biterolf, Dietleib und Walther können dagegen gemeinsam verabreden, einander im Kampf zu schonen (BuD 9976). Die gegnerische Seite, Gunther und die Burgunden, können weder auf eine vergleichbare Anzahl von Verwandten noch auf freiwillige Unterstützung zurückgreifen (mit Ausnahme der Gefolgsleute am Hofe und ihrem Schwager Siegfried). Um dieses Manko auszugleichen, ersinnt der kluge Hagen eine List und lässt „siben künege rîche [...] dar zuo ir ieslîches wîp“ (BuD 5857ff.) nach Worms einladen, um sich diese als Verbündete zu sichern: Offiziell, so lautet die Einladung, soll in Worms eine prächtige „hôchzît“ (BuD 5017) stattfinden, die natürlich an die ‚verräterische‘ Einladung Kriemhilds an die Burgunden im Nibelungenlied (NL 1399) und/oder an Brünhilds Einladung von Siegfried und Kriemhild nach Worms (NL 729ff.) erinnert. Hagens Plan gelingt, und die Gäste erscheinen mit ihrem Tross genau zu dem Zeitpunkt, als der Bote Rüdiger gerade König Gunther die Ankunft des Dietleib-Heeres mitteilt. In Anbetracht von Gunthers Gastfreundschaft (BuD 6285), vor allem aber, weil jeder der getäuschten Gäste eine Antipathie gegenüber Dietrich oder Etzel69 hegt – die von Hagen einkalkuliert worden ist –, sichern sie dem Burgundenkönig ihre Unterstützung zu. Auch unter diesen Helden gibt es einige (bluts-) 65 Vgl. auch BuD 10726ff.; sowie BuD 12344ff. 66 Vgl. Müller, Jan-Dirk (22005), S. 98. 67 Auch das ist eine ungewöhnliche Kombination: Witege (kämpft für Dietleib) und Nantwin (kämpft für Gunther) sind die beiden einzigen Verwandten außer Rüdiger, Biterolf und Dietleib, die nicht im Kampf demselben Herrn unterstehen. 68 Auch wenn das enge Verhältnis an dieser Stelle nicht genau spezifiziert wird, könnte es sowohl auf eine genossenschaftliche (BuD 7656ff.) als auch auf eine verwandtschaftliche Bindung (über Dietleib sind Walther und Rüdiger verwandtschaftlich verbunden) hinweisen. 69 Beispielsweise kritisiert Siegfried Dietrichs „freislîch[e]“ Art und seinen „übermuot“ (BuD 6406ff.); Herbort von Dänemark ist mit Dietrich, die polnischen Könige Witzlan und Poytan sind mit Etzel verfeindet (BuD 6452ff; 6524ff.).

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verwandtschaftliche Bindungen (vor allem Brüder-Paare); im Vergleich zum Dietleib-Heer ist die Zahl der Verwandten jedoch gering. Damit bilden sich zwei Prinzipien heraus: Das Dietleib-Heer wird (fast) ausnahmslos durch positive Bindungen von vriuntschaft – wobei die blutsverwandtschaftlichen Beziehungen besonders betont werden –, Freiwilligkeit und Solidarität konstituiert. Der burgundischen Truppe hingegen fehlen diese umfassenden freiwilligen Bindungen, ihr Funktionieren basiert vornehmlich auf List und Täuschung, womit bereits hier die Niederlage der Burgunden angedeutet wird.

5.2. Das schâch von Wormez 5.2.1. „Kriemhild-Diskussion“ Erst im zweiten großen Teil, dem schâch von Wormez (Aventiuren 7 bis 16), werden Kriemhild und diesmal auch Brünhild in das Werk eingeführt. Die familiale Situation ist folgende: Brünhild ist mit Gunther, dem König von Worms, verheiratet (BuD 6845). Kriemhild, auch hier die Schwester der Burgunden-Brüder70, ist mit Siegfried, dem König der Niederlande, vermählt (BuD 6205ff.). Dancrât bzw. Gibich,71 der Vater der Burgunden, ist analog zum Nibelungenlied (vermutlich) verstorben, denn Worms „‘ist [...] an die jungen komen‘“ (BuD2623). Die Existenz der Mutter Ute ist vollends ungewiss, sie bleibt ungenannt. Hagen ist wie im Nibelungenlied mit den Burgunden verwandt, er wird von Gunther als „der neve mîn“ (BuD 2763) bezeichnet. Der Verfasser von Biterolf und Dietleib inszeniert die nun folgende Geschichte demnach zu einer Zeit, die dem mittelalterlichen Publikum wie ein möglicher (aber dort nicht existierender) Ausschnitt aus dem Nibelungenlied – quasi zwischen Doppelhochzeit und Königinnenstreit – vorgekommen sein mag. Vor den Toren der Stadt hat sich inzwischen das gewaltige Heer Dietleibs versammelt. Ähnlich wie im Nibelungenlied, wo Rüdiger mit fünfhundert Männern nach Worms reitet, um in Etzels Auftrag um die Hand Kriemhilds anzuhalten (NL 1155), gelangt der Markgraf in Biterolf und Dietleib ebenfalls in Begleitung von fünfhundert Kriegern (BuD 5915) an den burgundischen Hof, um Gunther die Herausforderung zu überbringen. Obwohl dieser zornig auf die Fehdeansage reagiert (BuD 6187ff.), bleibt die Stimmung zunächst überraschend friedlich („si redeten schimpflîche“, BuD 6278). Doch plötz70 Obwohl alle drei Brüder (Gunther, Gernot, Gieselher) erwähnt werden, spielt Gieselher, das „kindelîn“ (BuD 6786; 6208), eine marginale Rolle. 71 In Biterolf und Dietleib wird der aus dem Nibelungenlied bekannte Name Dankrat (BuD 2617; NL 7,2) mit der Namens-Variante Gibich (BuD 2620) kombiniert, die z.B. im Rosengarten und im Waltharius verwendet wird.

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lich schlägt die Stimmung um, denn Rüdiger sagt Gunther nun selber Fehde an (BuD 6642ff.). Gunther droht verärgert mit einer Gefangennahme, aber Hagen interveniert und besteht auf der Immunität des Botschafters (BuD 6679). Nun lenkt Gunther ein und will Rüdiger für seine Botendienste reich mit Gold beschenken, doch Rüdiger lehnt höflich, aber entschieden mit dem Hinweis ab, dass er seinem Herrn Etzel zur Loyalität verpflichtet sei. Um die Situation vor einer erneuten Eskalation zu bewahren, macht Gernot den versöhnlichen Vorschlag, Rüdiger eine besondere Ehre zuteil werden zu lassen: Er soll die schönsten Damen sehen und von Kriemhild einen Kuss erhalten (BuD 6755ff.). Siegfried ist von dieser Idee sofort so begeistert, dass auch Gunther und Walther dem hunnischen Botschafter ihre Ehefrauen zum Küssen anbieten. Die amüsante Situation kann man zum einen als Parodie auf das Ritual des Friedenskusses72 verstehen, zum anderen assoziiert sie intertextuelle Bezüge: Die erotische Komponente des „frouwen [...] schouwen[s]“ (BuD 6823) und der Kuss einer Dame erinnern sowohl an die Rituale des Minnesangs als auch an den Rosengarten D, wo Rüdiger ebenfalls als Bote ausgeschickt wird und bei der Turnierkönigin Kriemhild vorsprechen soll. Allerdings wird Rüdiger von Dietrich dort mit einem kostbaren Gewand ausgestattet, damit die Damen ihn und seinen Reichtum (und den seines Herrn) „schouwen“ können (Ro D 212,4). Doch zur Verwunderung des Publikums wird Kriemhild in Biterolf und Dietleib in dieser Szene und im weiteren Verlauf nicht als die erste Dame des Hofes dargestellt. Es ist vielmehr Brünhild, die als Gastgeberin und Wortführerin im Mittelpunkt steht und Rüdiger im Frauengemach als erste begrüßt, küsst und den Gast, nachdem er auch von Kriemhild und Hildegund einen Kuss erhalten hat, zwischen ihr und Kriemhild einen Platz zuweist (BuD 6784ff.). Nun stellt sich die berechtigte Frage: Was hat die „Kriemhild-Diskussion“ mit einer dominierenden Brünhild zu tun? Betrachtet man den Text genauer, fällt auf, dass eigentlich nur Brünhilds Name und ihre Position am Burgundenhof mit der gleichnamigen Figur des Nibelungenliedes übereinstimmen73, strukturell verbirgt sich hinter ihrer Rolle die Figur Kriemhilds. Bereits Michael Curschmann hat darauf verwiesen: „[H]inter Brünhild steht trotz allem die übele Kriemhilt, und zwar speziell die Kriemhild des 72 Zum Ritual des Friedenskusses vgl. Althoff, Gerd (1997) [1997 c], S. 258-281; sowie Strätz, H.-W.: Art. „Kuss“, LMA 5 (1991), Sp. 1590-1592.: „Das Frühmittelalter übernahm lediglich die antike Sitte, den Gast mit einem Kuß zu bewillkommnen und zu verabschieden. In höfischer Zeit wurde hieraus der Kuß der Etikette, der bei Ranggleichheit dem Ankommenden erlaubte, die Burgherrin mit einem Kuß zu begrüßen. [...] Stärkste symbolische Ausprägung fand der Kuß im kirchlichen Bereich. Er galt v.a. als Zeichen des Friedens, der Versöhnung und der Verehrung. [...] Im Rechtsleben diente der Kuß als Bekräftigung eines Vertrages oder eines Versprechens. [...] Nach kirchlichem Vorbild entwickelte sich der allgemeine Friedens- oder Versöhnungskuß (osculum reconciliatorium) [...]; er galt als Symbol behobener Feindschaft.“ 73 Dies bestätigt auch Andreas Daiber, ohne jedoch diesen Befund weiter zu verfolgen, vgl. Daiber, Andreas (1999), S. 109.

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‚Rosengarten‘.“74 Ähnlich argumentieren Elisabeth Lienert und Sonja Kerth: „[D]ie Rolle der Kriemhild ist mit Brünhild besetzt.“75 Auch dürfte die (chiastisch angelegte76) Parallelität der beiden Frauen-Figuren im Nibelungenlied einen ‚Rollentausch‘ unterstützt haben: „Die Kriemhild-Diskussion beginnt ja im Nibelungenlied selbst als Diskussion zwischen Kriemhild und Brunhild. Brunhild ist als eventuelle Freundin, als Ähnliche, als Rivalin von Anfang an ein Pfeiler der Frage, was mit Kriemhild los ist.“77

Hinzu kommt, dass Brünhild und Kriemhild in Biterolf und Dietleib kein einziges Wort miteinander wechseln: „Es existiert keine Rivalität zwischen den beiden Königinnen, sie sind lediglich nebeneinander anwesend.“78 Denkt man sich demnach Brünhild als „Spiegelung“79 Kriemhilds, so findet man auch im Text zahlreiche Belege dafür, wovon die wichtigsten im Folgenden diskutiert werden. Wo Kriemhild und Brünhild gemeinsam auftreten, assoziierte das mittelalterliche Publikum vermutlich auch eine Anspielung auf den Königinnenstreit. Und richtig, auch in Biterolf und Dietleib existiert eine zentrale Szene, die sich zu einem Vergleich anbietet. In der entsprechenden zehnten Aventiure wird die Auseinandersetzung bezeichnenderweise nicht zwischen Brünhild und Kriemhild ausgetragen, sondern zwischen Brünhild und Etzels Frau Helche. Diese Frauenkombination erscheint auf den ersten Blick ungewohnt, doch auch im Rosengarten D wird Helche in einer Szene dem Publikum in ihrer Unterredung mit Dietrich von Bern präsentiert und tritt dort als ‚Anti-Typ‘ zur Kriemhild-Figur auf, indem sie zu der Herausforderung der Burgundenprinzessin Stellung nimmt (Ro D 130ff.).80 Die Kommunikation in Biterolf und Dietleib erfolgt allerdings über ihren Boten, denn Helche selbst befindet sich im Hunnenland. Zunächst erkundigt sie sich nach ihrem ehemaligen Pflege-Sohn Hagen und lässt diesen fragen, weshalb er sich so selten im Hunnenland sehen lasse (BuD 4830ff.). Daran anschließend unterstreicht sie die enge Beziehung zu Dietleib, den sie mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln in seiner Revanche gegen Gunther unterstützen wird: 74 Curschmann, Michael (1989), S. 404. 75 Lienert, Elisabeth / Kerth, Sonja (2000) [2000 b], S. 117. 76 Auf die chiastische Struktur hat bereits Jerold C. Frakes (1994), S. 20, hingewiesen: „This chiastic structure may function as a key to the Nibelungenlied.“ Vgl. auch Nolte, Ann-Katrin (2004), S. 39f. 77 Seitter, Walter (1990), S. 125. 78 Daiber, Andreas (1999), S. 109. 79 Vgl. zu diesem Begriff auch den Titel der Arbeit von Nolte, Ann-Katrin (2004). 80 Die Konstellation im Rosengarten D rekurriert wiederum auf das Nibelungenlied, wo Helche als makellose Herrscherin, aufopfernde Mutter und Pflegemutter beschrieben wird. Ihre ‚Nachfolgerin‘ scheint der ersten Frau des Hunnenkönigs zunächst in jeglicher Hinsicht ebenbürtig zu sein (NL 1390), doch nachdem Kriemhild am Ende nicht nur für den Tod der nächsten Verwandten verantwortlich ist, sondern auch das Leben des eigenen Kindes aufs Spiel setzt, avanciert sie zur Antipodin Helches.

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„‘mîn frouwe hiez iu widersagen dô si den recken [Dietleib; G.L.] hôrte klagen. ellenden liuten ist si holt: ûz ir kamere gibet si golt wol zehen tûsent mannen, die rîtent mit im dannen.‘“ (BuD 4923ff.)

Kurz darauf empfängt Brünhild den Markgrafen Rüdiger und fünfhundert seiner Leute gemeinsam mit Kriemhild und Hildegund und weiteren Hofdamen im Frauengemach – im Rosengarten D hingegen begrüßt Kriemhild den hunnischen Boten bei einer Privataudienz im Kreise ihrer fünfhundert Damen (Ro D 220). Nachdem Rüdiger in Biterolf und Dietleib Brünhild, Kriemhild und Hildegund hat küssen dürfen, erkundigt sich zunächst Hildegund nach Helches Befinden (BuD 6889) – aus dem Waltharius (W 110ff.) weiß man von der liebevollen Mutter-Tochter-ähnlichen Beziehung der beiden Frauen. Nun greift Brünhild ins Gespräch ein und fragt, ob Helche zu Recht das höchste Lob vor allen anderen Königinnen verdient habe: „‘nu lât uns hœren, Rüedegêr, ob Helche diu küneginne hêr von schulden daz verdienet hât, daz ir lop sô hôhe stât vor andern fürsten wîben: sô solde ir leben belîben unz an den jungesten tac.‘“ (BuD 6897ff.)

Diese Frage trifft genau in das Zentrum des Königinnenstreits im Nibelungenlied. Hier ist es Kriemhild, die den Auftakt zum Streit mit der Behauptung beginnt: „‘ich hân einen man, / daz elliu disiu rîche ze sînen handen solden stân.‘“ (NL 815,3). Mit dieser Bemerkung entbrennt der Streit der beiden Frauen um die Frage, wer von ihren Männern das höhere Ansehen in der Gesellschaft besitze. Brünhild versteht die schwärmerischen Worte als Angriff auf Gunthers Königsherrschaft und widerspricht Kriemhild: Nur ihr Gemahl könne der Ranghöchste sein, zumal doch Siegfried auf Isenstein selbst bestätigt habe, dass er der Lehnsmann Gunthers sei: „dô jach des selbe Sîfrit, er wære ‘sküneges man“ (NL 821,3), deshalb halte sie Siegfried entsprechend für ihren Leibeigenen („eigen“; NL 821,3). Mit dieser Denunziation von Siegfrieds gesellschaftlichem Rang und ihrem Anspruch auf seine Lehnsdienste mindert Brünhild auch den Rang Kriemhilds. Doch Kriemhild weist Brünhilds Aussagen zornig als „übermüete“ (NL 825,4) zurück, wohingegen Brünhild kontert: „‘Du ziuhest dich ze hohe‘“ (NL 826,1). In der ‚zweiten Runde‘ des Königinnenstreits vor dem Kirchenportal wird der Disput über die eigene Vorrangigkeit fortgesetzt (NL 838ff.). Diese Einzelheiten werden dem mittelalterlichen Publikum geläufig gewesen sein. In Biterolf und Dietleib wird die brisante Situation jedoch entschärft, denn Rüdiger bezeugt, dass Helches überragender Rang, ihre Großzügigkeit

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und Tugendhaftigkeit von keiner anderen vrouwe übertroffen werden könnte: „‘si hât sô vlîziclîche, ir lop verdienet manege zît, daz man ir von prîse gît. daz nime ich ûf der triuwe mîn daz et deheiner frouwen sin baz niht wesen möhte. ob einer daz getöhte daz ir dienten alliu lant, sô wart nie milter herze erkant daz ie frouwen lîp getruoc. tugendrîch ist si genuoc.‘“ (BuD 6906-6916)

Gegen diese Eloge Rüdigers kann Brünhild nichts Negatives erwidern, wenn sie nicht selber in die Kritik geraten will, und lobt stattdessen ebenso höflich die Vorzüge Helches (BuD 6920) sowie die Treue Rüdigers gegenüber seiner Königin: „‘Nu lône iu gôt‘“ (BuD 6917). Rüdigers loyale Haltung kann man indirekt auch als Kritik auf die o.g. Szene des Nibelungenliedes beziehen, denn dort mangelt es besonders einer männlichen Fürsprache bzw. Rechtsprechung. Nach dem Streit der Frauen ist Brünhilds êre-Verletzung durch die sich anschließende Gerichtsverhandlung, die einer Farce gleicht, nicht gesühnt, da sie von dem Vorwurf des Ehebruchs nicht freigesprochen wurde. Dies belegen ihre Tränen und ihr Rückzug aus der Öffentlichkeit des Hofes (NL 863,2). Zusätzlich hätte ein rechtsverbindlicher Akt der suone von Gunther (als oberstem Rechtsvertreter) ausgesprochen und von den Beteiligten angenommen werden müssen. In Biterolf und Dietleib lässt Brünhild nun vom Thema Helche ab, stellt aber Rüdiger sogleich eine weitere brisante Frage. Sie möchte wissen, warum er Gunthers Gastgeschenke nicht angenommen und damit ihren Gemahl „schamerôt“ (BuD 6930) gemacht habe. Rüdiger hat den Vorwurf deutlich genug verstanden: Er sei sich Gunthers milte wohl bewusst, aber da er selbst so reich und mächtig sei, wäre er nicht auf milde Gaben angewiesen (BuD 6941ff.). Die Anspielung auf Rüdigers Stellung, die dem Rang Gunthers nicht untergeordnet ist (und erneut an die Rangfrage des Königinnenstreits im Nibelungenlied erinnert), verfehlt ihre Wirkung nicht. Kriemhild greift nun in den sich zuspitzenden Schlagabtausch ein und entschuldigt Rüdiger damit, dass er und Helche die gleiche hohe Gesinnung hätten und damit von allen Verfehlungen ausgenommen seien: „‘des sît ir immer schanden frî / unz an iuwer beider tôt‘“ (BuD 6950f.).81 81 Auch an anderer Stelle wird auf Helches Tod angespielt: Rüdiger lässt Helche auf der Rückreise im Namen Brünhilds ausrichten, dass sie der Hunnenkönigin ein möglichst langes Leben, so etwa „tûsent jâr“, wünsche: „‘frouwe, ich sol iuch hœren lân, / waz iu frou Brünhilt entbôt. / si wünschet des daz iuwer tôt / ir nimmer werde für geseit, / und daz ir âne herzen leit / belî-

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Doch Brünhild gibt deutlich zu verstehen, dass sie sich durch die Anspielung auf ihren Gemahl ebenfalls kompromittiert fühlt („‘nu machet mich niht schâmerôt‘“; BuD 6952) und es auch bleiben wird, wenn Rüdiger ihre Gastgeschenke nicht annimmt. Nun lenkt Rüdiger ein und nimmt Brünhilds Gaben (Habichte, Sperber, Vogelhund) an, nicht aber ohne gleichzeitig ein paar weitere gut getarnte Spitzen loszuwerden, wie die Anspielung auf Gunthers Geschenke als „fremder liute guote“82 (BuD 6963). Auch schenkt er die beiden Habichte sofort weiter an Gernots Männer und verletzt damit die Gastfreundschaft Brünhilds, doch gelingt es ihm, diese Unverschämtheit in Form einer höflichen Ausrede zu kaschieren: Im Hunnenland sei der Boden einfach viel zu sumpfig, als dass man dort mit Pferden reiten und auf die Beizjagd gehen könnte, deshalb überließe er die Habichte besser Leuten, die damit angemessen umgingen (BuD 7006ff.). Auch diese ironische Bemerkung verfehlt ihr Ziel nicht, denn Gernot berichtet, er hätte sich schon seit langem die wertvollen Vögel gewünscht, doch seien sie ihm von Brünhild verwehrt worden – worüber diese peinlich berührt erneut errötet (BuD 7030). „Das ist eine öffentliche Bloßstellung der nun schamrot werdenden Brünhild, die offensichtlich ‚in der Familie‘ nicht so freigebig ist wie gegenüber Rüdiger.“83 Als Rüdiger auch den Sperber und den Vogelhund mit fadenscheinigen Argumenten ablehnen will, lässt sie Rüdiger eine kostbare Fahne überreichen. Ihre an seine männliche Ritterehre appellierende Bitte, die Fahne „durch die liebe mîn und aller frouwen die hie sin‘“ (BuD 7095) anzunehmen, kann Rüdiger nun doch nicht abschlagen. Erst nachdem er die Gabe angenommen hat, eröffnet ihm Brünhild, dass er und seine Leute die Fahne während des Kampfes an das Wormser Stadttor bringen sollen: Das wertvolle Geschenk ist mit einem gefährlichen dienest verbunden. So avanciert Brünhild am Ende der Szene – die als eine der raffiniertesten84 und komplexesten Szenen in Biterolf und Dietleib gilt – von der kompromittierten Herrscherin und Helche-Gegnerin zur selbstbewussten Turnierkönigin, die wie Kriemhild im Rosengarten die Spielregeln vorgibt und Leistung von den Männern in Form von Kampf und Bewährung verlangt, bevor sie bet uns an daz ende.‘“ (BuD 13158ff.). Erst Helches Tod liefert Etzel im Nibelungenlied den Grund, Kriemhild zu ehelichen; und erst durch die Heirat mit dem Hunnenkönig eröffnet sich Kriemhild die Möglichkeit zur Rache, die in den endgültigen dramatischen Untergang führt. Einmal mehr stilisiert der Erzähler des Biterolf und Dietleib damit die erzählte Zeit des Epos zur harmonischen Epoche und verweist gleichzeitig auf die Gefahren und Verstrickungen des Nibelungenliedes. 82 Ist Gunther doch dafür bekannt, sich wie im Waltharius, W 470ff., (ansatzweise auch im Nibelungenlied, vgl. NL 870) am Besitz anderer bereichern zu wollen. 83 Mecklenburg, Michael (2002), S. 201. 84 „Wie in Wasserkaskaden ergießt sich die Handlung in immer neue Becken, werden Nebenflüsse aufgetan, die sich wieder dem Hauptstrom vereinigen, das Ganze gesteuert und unterlegt mit vielfachen, manchmal nur kleinsten Anspielungen auf die Tradition der Heldensage.“ (Ebd. S. 203)

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einen Kuss als Lohn vergibt. Auch Brünhilds isolierte Position trotz der sie umgebenden Damen erinnert ebenfalls an die ‚Einzelkämpferinnen‘ Brünhild und Kriemhild im Nibelungenlied und natürlich an die Situation Kriemhilds im Rosengarten. Der in drei Geschenke-Runden verhandelte Schlagabtausch in Biterolf und Dietleib zwischen Brünhild und Rüdiger ist zudem eine Reminiszenz – allerdings in umgekehrter Weise – an Rüdigers dreimalige Werbung in Etzels Namen um Kriemhild im Nibelungenlied.85 Im weiteren Verlauf werden jedoch die Parallelen zum Rosengarten immer deutlicher. So bezeichnet Brünhild den Kampf in Worms als „spil“ (BuD 8654) und auch von Kriemhild im Rosengarten weiß man: „strîten ist ir spîl“ (Ro A 175,2). Als Gunther während des schâch von Wormez in ernsthafte Bedrängnis gerät (wenig später berichtet der Erzähler sogar von drohendem „etelîchen mat“; BuD 12008), bereut Brünhild ihren „übermuot“ (BuD 11327) und begreift, dass sich das Turnier, das „spil“, zum blutigen Kampf gewandelt hat: „Si [Brünhild; G.L.] sprach: ‚wir suln belîben lân daz schouwen des uns was gedâht: ich wæn, ez habe in angest brâht vil manegen tiurlîchen helt. [...] ob ez ieman sî ze schaden komen, daz ich klage deste min.‘“ (BuD 11348ff.).

Die Charakterisierung Brünhilds als übermüete ist aus dem Nibelungenlied bekannt86, allein im Königinnenstreit bezeichnet Kriemhild die Gegnerin damit zweimal87, im Rosengarten ist das Epitheton jedoch auf Kriemhild übertragen – dort wirft sogar Brünhild ihrer Schwägerin „übermuot“ (Ro D 568,3) vor. Zwar trägt Brünhild in Biterolf und Dietleib nicht die Verantwortung für den Konflikt zwischen Dietleib und den Burgunden, aber sie verlängert diesen durch den Kampf um die Fahne. Brünhilds ‚Reue‘ findet wenig später ebenfalls Ausdruck darin, dass sie um das Leben ihres Mannes im Kampf fürchtet (BuD 12163ff.) – und auch im Rosengarten bangt die sonst so selbstsichere Kriemhild sowohl um ihren Vater im Zweikampf gegen Hildebrand (Ro A 319) als auch um das Leben Siegfrieds, der von Dietrich besiegt zu werden droht (Ro D 539). Das Motiv der übermüete ist in Biterolf und Dietleib aber nicht nur auf die Figur Brünhilds reduziert; beispielsweise wird Siegfried in heldenepischer 85 Mehrmals (NL 1219, 1238, 1249) lehnt Kriemhild eine Ehe mit Etzel ab. In einem vertraulichen Gespräch mit Rüdiger zeigt sich Kriemhild dann doch an der Heirat mit dem Hunnenkönig interessiert: Rüdiger schwört ihr, sie für alles Leid, das ihr widerfahren sei bzw. widerfahre, zu entschädigen (NL 1255,3). 86 Beispielsweise wird Brunhild auch nach Siegfrieds Tod als übermüete dargestellt, selbst die Trauer ihrer Schwägerin beeindruckt sie nicht: „Prünhilt diu schœne mit übermüete saz. / swaz geweinte Kriemhilt, unmære was ir daz. / sine wart ir guoter triuwe nimmer mê bereit“ (NL 1100,1-3). 87 Vgl. NL 825,4 und NL 842,1.

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Tradition als „hôchvart“ und „übermüete“ (BuD 9835ff.) beschrieben und auch für den jungen Dietleib sind diese Epitheta charakteristisch.88 Am Ende von Biterolf und Dietleib – im versöhnlichen Scherzen über die vorangegangenen Ereignisse der ehemals verfeindeten Parteien89 beim Friedensmahl90 – bekommt Brünhild nun doch noch eine öffentliche Abreibung: Rüdiger beklagt sich halb scherzend, halb ernst, dass ihre „senfticlîche“ Fahnen-Gabe ihm nun mindestens ein halbes Jahr lang Rückenschmerzen bereiten würde (BuD 12590ff.). Brünhild entgegnet, sie habe den Kampf nicht „ûf iemans haz“ herbeigeführt, sondern um endlich alle „recken“ zu sehen „von den wir wunder hôrten sagen“ (BuD 12605). Die offensichtliche Anspielung auf das Nibelungenlied (NL 1,4) mündet darin, dass sie Rüdiger ihre Angst gesteht, von Gunther für ihr Verhalten gezüchtigt zu werden (12610ff.). Im Nibelungenlied hingegen berichtet Kriemhild, wie Siegfried sie für ihre Schwatzhaftigkeit nach dem Königinnenstreit verprügelt hat.91 Auch im Rosengarten wird Kriemhild von Ilsans 52 Küssen so geschunden, dass ihr das Blut die Wangen hinunterläuft (Ro A 376); Wolfhart wünscht sich dagegen, ihr einen „[backen]slac“ (Ro A 181,3) geben zu können, und schließlich schlägt Kriemhild sich selbst mit der Faust in den Mund (Ro A 369,4). Man kann Brünhilds Angst vor Gunthers Schlägen – analog zu Michael Mecklenburg92 und Andreas Daiber93 – natürlich auch auf Brünhilds Situation in Isenstein beziehen, wobei Brünhild dort den Kämpfen aber nicht zusieht, sondern selbst kämpft. In Biterolf und Dietleib nimmt Rüdiger jedoch Brünhild in Schutz und argumentiert unter dem Gelächter der Umstehenden, es werde wohl an ihrer „alten site“ liegen, dass sie „sô gerne sehet strît“ (BuD 12621). Auch hier findet sich eine Parallele zu Kriemhild im Rosengarten, in dem sie sämtliche Kämpfe zwischen Burgunden und Bernern beobachtet. In jedem Fall dokumentiert die Szene mit ihrer fröhlichen, scherzhaften Atmosphäre statt dem finalen Untergang im Nibelungenlied oder der Aus88 Dietleib bezeichnet den Kampf in Worms als „kindes spil“ (BuD 9854), seine jugendliche Naivität und Überheblichkeit erinnern an die Beschreibung Kriemhilds im Rosengarten, wo sie verkünden lässt: „‘Lât strîten, [...] ez ist mir ein kindes spil‘“ (Ro D 516,2). 89 Vgl. auch im Waltharius (W 1421ff.) die Scherze zwischen Hagen, Walther, Gunther und Hildegunde. 90 Das gemeinsame Mahl hatte im Mittelalter demonstratives Potential: „Mit dem gemeinsamen Essen und wohl noch wichtiger Trinken zeigt man seine Bereitschaft zu friedlich-freundschaftlichem Verhältnis zum Partner.“ (Althoff, Gerd, 1997 [1997 a], S. 243) 91 Siegfried äußert sich Gunther gegenüber nach dem Königinnenstreit, man müsse Frauen so erziehen, dass sie übermütiges Gerede sein lassen: „‘Man sol sô vrouwen ziehen‘, [...] / ‚daz sie üppeclîche sprüche lâzen under wegen. / verbiut ez dînem wîbe, der mînen tuon ich sam.‘“ (NL 862,1-3). Aus NL 894,2 geht hervor, dass Siegfried Kriemhild für ihr Verhalten verprügelt hat: „‘ouch hât er sô zerblouwen dar umbe mînen lîp‘“. 92 „Die Anwesenden können nur deshalb über diese Bemerkung lachen, weil alle Brünhilds Herkunft kennen.“ (Mecklenburg, Michael, 2002, S. 210) 93 „Die alte Gewohnheit, auf die der Markgraf anspielt, erweckt unzweifelhaft Assoziationen an die Kampfspiele in Isenstein.“ (Daiber, Andreas, 1999, S. 110)

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grenzung Kriemhilds im Rosengarten Versöhnung, Harmonie und vor allem familiale Verbundenheit. Gerade das abschließende Mahl galt im Mittelalter nicht nur als Ausdruck der Friedenssicherung94, sondern: „[g]emeinsam essen und trinken ist der Inbegriff dessen, was Mitglieder einer Familie, einer Hausgemeinschaft miteinander verbindet. Und in diese Mahlgemeinschaft wurde die Gefolgschaft einbezogen.“95

Auch die in dieser Szene kulminierend auftretenden Epitheta smielen und lachen sind nicht nur komischer Effekt der Parodie, sondern dienen ebenfalls der öffentlichen Demonstration friedlicher Absicht.96 Bevor es jedoch zur offiziellen Versöhnung kommt, soll zunächst noch kurz auf Dietrichs Kampf gegen Siegfried eingegangen werden. Der Zweikampf der beiden größten Helden wird auch in anderen Texten wie z.B. in der Rabenschlacht (Rs 645ff.) beschrieben, aber nur im Rosengarten (Ro A 323ff.; Ro D 472ff.)97 und in Biterolf und Dietleib existiert das dem Kampf vorgeordnete Zagheitsmotiv98 Dietrichs. Analog zum Rosengarten (Ro A 329ff.) wird auch in Biterolf und Dietleib zunächst erklärt, warum Dietrich in Gedanken an Siegfried der Mut verlässt (BuD 7810), denn ihm ist die Geschichte des kühnen Helden wohl bekannt: Resümierend berichtet der Erzähler – nahezu identisch mit Hagens Bericht im Nibelungenlied (NL 86ff.) – von Siegfrieds unermesslicher Kraft, von seinen Kämpfen mit Schilbung und Nibelung, von der Gewinnung des Hortes und des Nibelungenlandes sowie von der Tarnkappe (BuD 7811ff.). Den ebenfalls im Nibelungenlied (NL 100) und 94 Das Mahl gilt als Ort ursprünglicher Gemeinschaftlichkeit, es ist Ritual der Friedensstiftung und Friedenssicherung und stellt die soziale Ordnung zeichenhaft dar: „Gemeinsames Essen ist Zeichen intakter Gemeinschaft.“ (Müller, Jan-Dirk, 1998, S. 424). Im Nibelungenlied kommt das Motiv des gestörten Mahles gehäuft vor und kulminiert schließlich in der Szene am Etzelhof, als die Fassade des Friedens endgültig zerbricht, Ortlieb getötet wird und der Kampf beginnt: „Kriemhilden hôchgezît meint beides: Fest und Gewaltorgie. Kriemhild trägt ganz buchstäblich den Konflikt in die Tischgemeinschaft: Nachdem sie Bloedelin zu einem heimtückischen sprichwörtlichen Überfall aufgehetzt hat, geht sie ze tische (1911,2) [...]; ze tische lässt Kriemhilt ihren und Etzels Sohn tragen (1912,3).“ (Ebd. S. 426) 95 Mitterauer, Michael (2003) [2003 a], S. 271; vgl. auch Althoff, Gerd (1990), S. 203ff. 96 Nach Gerd Althoff ist das Lachen im Mittelalter ein Code, der benutzt wird, um in bestimmten Situationen Gruppenzugehörigkeiten zu markieren, und der deutlich performativen Charakter besitzt. Althoff unterscheidet: 1. (Einseitiges) Lachen: bedeutet Wohlwollen, Gewogenheit, kann aber auch als Signal, dass man den Gegenüber durchschaut, verstanden werden. 2. Miteinander Lachen: verdeutlicht die friedliche Absicht zweier Parteien. 3. Hohn- und Spottgelächter: Der Gegner soll verächtlich gemacht oder gereizt werden (Verlachen und Verspotten). 4. Davon abgesetzt nennt Althoff außerdem das Lachen über eine Pointe des Gegners (dieses vom Gegenüber ausgelöste Gelächter bezeichnet Althoff als spontan, nicht als inszeniert), vgl. Althoff, Gerd (2005), S. 3-16. 97 Vgl. Kap. 4.1. 98 Vgl. dazu Haustein, Jens (1998), S. 47-62. Das Motiv von Dietrichs ‚Zagheit‘ ist nach Haustein als Teil des Fiktionalisierungs- und Individualisierungsprozesses mittelalterlicher Literatur im 12. und 13. Jahrhundert zu verstehen, der sonst nur für die Gattung des höfischen Romans angenommen wird.

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im Hürnen Seyfrid99 beschriebenen Drachenkampf und als dessen Folge die Hürnung erwähnt der Erzähler in Biterolf und Dietleib jedoch nicht.100 Als erster erfährt Wolfhart von Dietrichs ‚Zagheit‘ und beschwert sich darüber bei seinem Onkel Hildebrand (BuD 7868ff.). Doch Hildebrand reagiert auf die Kritik an seinem Herren mit Unmut; er tadelt seinen jungen Neffen und beschließt, die Situation mit Dietrich unter vier Augen zu besprechen. Ähnlich wie im Rosengarten erinnert Hildebrand seinen Herren an dessen Pflicht, seine êre als Krieger und Herrscher im Kampf zu beweisen, und verweist auf die Schande, die eine Verweigerung nach sich ziehen würde (BuD 7955ff.). Doch Dietrich reagiert unwillig: „‘iuwer rede diu ist mir leit‘“ (BuD 7981). Auch Hildebrands Appell, sein Herr möge sich an den letzten Willen seines Vaters Dietmar erinnern – dieser hatte dem alten Krieger die Erziehung des Sohnes anvertraut – bleibt erfolglos. Der Alte resümiert: „nu bin ich alsô gar betrogen, / sam ich iuch nie tac het erzogen‘“ (BuD 7999f.). Erst als Hildebrand seinen Zieh-Sohn damit reizt, dass er, obwohl nur halb gewaffnet, Dietrich in jedem Fall körperlich und geistig überlegen sei, greift dieser den alten Kämpfer voller Wut an (BuD 8027ff.) – im Rosengarten dagegen benötigt es noch eines Faustschlags, um den Zorn des Helden zu wecken (Ro A 343). Dietrich ist nun so in Rage, dass der alte Erzieher um Gnade bitten muss: „‘mære helt, nu entêre dich / niht an dem besten friunde dîn‘“ (BuD 8066f.). Dem kurzen Zweikampf in Biterolf und Dietleib folgt eine ‚Nachbesprechung‘, in die außerdem der junge Wolfhart – der auch hier in der Rolle des jugendlichen Draufgängers dargestellt wird – miteinbezogen wird. Nach einem weiteren kurzen Wutausbruch Dietrichs – da er erfährt, dass Wolfhart heimlich Hildebrand von seiner ‚Zagheit‘ berichtet hat (BuD 8118ff.) – erklärt der Berner nun seine „zagelîch[e]“ (BuD 8150) Gesinnung, die ihn bei dem Gedanken an Siegfried überfallen hätte. Anschließend lobt der Held die Unterstützung seiner Leute: Wolfhart sei „für die zageheit / der aller beste arzât“ (BuD 3144f.) und auch Dank Hildebrands gerechter Strafe habe sich endlich sein „bluot“ zum Kampf „erwarmet“ (BuD 81557). Im Unterschied zum Rosengarten wird hier der Schwerpunkt auf die Überzeugungsarbeit Hildebrands und die Zustimmung Dietrichs bzw. auf die gemeinsame Kommunikation gelegt. Auch im weiteren Verlauf wird der aus dem Rosengarten bekannte Ablauf des Schemas: ‚Zagheit‘, Aufreizung, Kampf und Sieg über Siegfried (vgl. Ro A und D) in Biterolf und Dietleib gebrochen. Erstens findet der Kampf mit einiger Verzögerung und in mehreren Etappen101 statt; zweitens geht es in der Auseinandersetzung selbst nicht mehr primär um die 99 Vgl. Kap. 6.1. 100 Dies entspricht der Tendenz von Biterolf und Dietleib, phantastische Elemente weitestgehend zu vermeiden; vgl. dazu auch Daiber, Andreas (1999), S. 97. 101 Vgl. die drei Fortsetzungen des Zweikampfes von Siegfried und Dietrich: BuD 11055-11145; 1225-11269; 11296-11311.

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beiden Kontrahenten, sondern alle Krieger kämpfen nun um das Schwert Nagelring (BuD 10948), welches Siegfried Heime zuvor abgenommen hatte; drittens endet die Episode damit, dass Dietrich Siegfried zurückdrängen und Hildebrand sich des Schwertes bemächtigen kann (BuD 11280ff.). Ähnlich verhält es sich beim Fahnenkampf: Dietrichs letzter Kampf gegen Siegfried102 endet wieder mit der Zurückdrängung des Gegners, ohne dass es wie im Rosengarten zu einer peinlichen Niederlage Siegfrieds kommt (Ro A 365). Dietrich und Siegfried sind vielmehr ein Kampfpaar unter vielen, die versuchen, den Sieg um die Fahne zu erringen. Am Ende ist es Rüdiger, dem es mit der Unterstützung seiner Leute (darunter Biterolf, Dietleib, Dietrich etc.) gelingt, die Fahne an das Tor zu tragen und damit den finalen Sieg über die Burgunden zu demonstrieren (BuD 12294ff.). Für die herausragende Leistung werden Dietleib und Rüdiger explizit gelobt: „daz man Dietleibe prîses jach, / und daz man volliclîche sprach / den lop ouch Rüedegêre“ (BuD 12359ff.). Der Triumph des Dietleib-Heeres weicht jedoch schnell gegenseitiger Anerkennung, man schließt stattdessen einen Frieden (BuD 12355) und König Gunther lädt die Gäste vor ihrer Abreise noch zu einem gemeinschaftlichen Bad mit anschließendem Festessen ein (BuD 12375ff.). Hier steht erstmals Kriemhild im Mittelpunkt, sie bittet Dietrich um Siegfrieds willen um suone: „‘ich will daz man den fride tuo sô stæte und ouch die süene daz ir, degen küene, sô iht hazzet mînen man.‘“ (BuD 12534ff.)

Dietrich ist mit diesem Vorschlag einverstanden (BuD 12549ff.). Zum Zeichen der Versöhnung sieht man die beiden Helden beim Abschied vom Burgundenhof geselliclîche nebeneinander in die Heimat reiten: „her Sîfrit von Niderlant der reit geselliclîche mit dem herren Dietrîche, sam si wurden nie gehaz.“ (BuD 12822ff.).

Das von Kriemhild vorgeführte Beispiel der suone wird wenig später auch von Dietleib übernommen, indem er Gunther folgenden Vorschlag unterbreitet: „‘her künic [...] swaz wir einander hân getân, / daz sol gar verkorn sîn‘“ (BuD 12771ff.). Nun mischt sich auch Brünhild in die Unterhaltung ein und rät zum rechtsgültigen Friedenskuss: „‘sô küsset ir iuch beide, / daz manz dâ mit sô scheide, / daz ir iht äveret den haz‘“ (BuD 12775ff.). Damit nicht genug, lässt sie außerdem die besten Grüße an Helche ausrichten (BuD 12785ff.). Besonders die von Kriemhild initiierte suone in Biterolf und Dietleib ist in intertextueller Hinsicht von Bedeutung, denn sie hält den überwiegend negativ behafteten Versöhnungsbestrebungen des Nibelungenliedes – Kriemhilds Täuschung bei der suone mit Gunther (NL 1115), ihre Ablehnung jeglicher 102 Vgl. BuD 11977ff. und BuD 12027ff.

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Form von Versöhnung am Schluss des Epos (NL 2103) usw. – eine unkomplizierte Form der Konfliktlösung entgegen. Parallel dazu bewirkt die suone in Biterolf und Dietleib eine Solidarisierung der vorher verfeindeten Parteien, von der selbst Kriemhild und Brünhild nicht ausgeschlossen werden. Doch auch hier geht die Exkulpierung Kriemhilds einher mit der gleichzeitigen Bagatellisierung sowohl des tragischen Geschehens im Nibelungenlied als auch der Ausgrenzung Kriemhilds im Rosengarten. Die Versöhnung stiftende Kriemhild ist aber nicht nur als Wunschphantasie des Autors oder als Antithese zur Kriemhild im Nibelungenlied einzuschätzen: In der Version K des Laurin setzt sich Dietleibs Schwester Kriemhild/Künhild103 für das Leben Laurins ein, den Dietrich töten wollte (Lau K 1595ff.); kurz darauf bittet sie Dietrich außerdem, Laurin zu einem guten Christen zu erziehen, was dieser ihr verspricht. Die religiöse Unterweisung endet mit der Taufe und einer lebenslangen „freuntschaft“ (Lau K 1851) zwischen dem Berner und dem Zwerg, womit sich die „Kriemhild-Diskussion“ evtl. auch auf den Laurin ausweiten würde. Vielleicht sollte man vor dem Hintergrund der Schachmetaphern104 in Biterolf und Dietleib außerdem bedenken, dass das Schachspiel als Motiv und allegorische Darstellung der mittelalterlichen Gesellschaft – z.B. als Paradigma einer Konfliktsituation – auch in der Literatur Eingang fand.105 Berück103 Dietleibs Schwester heißt im Laurin Kriemhild bzw. Künhild. Zu den verschiedenen Namensvarianten von Kriemhild im Laurin vgl.: Laurin und der kleine Rosengarten (Holz, Georg [1897], Anm. S. 183-213). Holz hält den Namen Künhilt für Konjektur, S. 189f.; vgl. auch Gillespie, George T. (1973), S. 22; sowie Dahlberg, Thorsten (1948) [Zwei unberücksichtigte mittelhochdeutsche Laurin-Versionen]. 104 Vgl. außerdem die Schachmetaphern in Anm. 8. 105 Seit dem 11. Jahrhundert erfolgte die Aufnahme des Schachspiels als Motiv und allegorische Darstellung der mittelalterlichen Gesellschaft in Literatur und Ikonographie. Die Schachallegorien sind weder Abbild noch Utopie der bestehenden Gesellschaft, sondern eher als literarische Ordnungsangebote zu sehen, als „Modell der Ordnung in einer unordentlich gewordenen Welt.“ (Cramer, Thomas, 32003, S. 106). Die deutschen Schachallegorien gehen allesamt auf eine lateinische Prosaschrift des italienischen Dominikaners Jacobus de Cessolis um 1300 zurück, die im 14. Jahrhundert auch in deutsche Prosa übersetzt wurde und in zahlreichen Handschriften überliefert ist. Die bekanntesten deutschen Bearbeitungen stammen u.a. von Konrad von Ammenhausen (Schachbuch von 1337) und Heinrich von Beringen (Schachgedicht um 1323-1359), vgl. ebd, S. 107. Seit dem 12. Jahrhundert wird die Erwähnung des Schachspiels zum feststehenden Topos in der Literatur: „In mehreren Erzählungen der Chansons de geste fungiert eine Schachszene als Paradigma einer Konfliktsituation. Dem feudalen Thema von Spielwut und des Streites mit tödlichem Ausgang (Les quatre fils Aymon) steht die höfischamouröse Interpretation der Spielsituation (Chrétien de Troyes: ‚Erec‘, ‚Perceval‘; Ulrich vor dem Türlin: ‚Arabel‘) entgegen, die das Spiel als Verbindung von Gegensätzen, als ‚rite de passage‘ deutet. Ein weiterer Topos ist das Spiel gegen den Tod, bzw. das Spiel des Menschen um seine Seele [...], in welchem sich die Individualisierung des Menschen im Spätmittelalter ankündigt.“ (Petschar, H.: Art. „Schachspiel“, LMA 7, 1995, Sp. 1429). Das Schachspiel bringt wie kein anderes Spiel die Grundstrukturen mittelalterlichen Denkens zum Ausdruck: „Position und Züge der Figuren dienen zur allegorischen Darstellung und zur moralisch-religiösen Kritik der Gesellschaft, die Spielsituation erlaubt paradigmatisch die ‚großen‘ Gegner des männlichen mit-

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sichtigt man weiterhin, dass nach den Regeln des Schachs106 der König zwar als mächtigste, die Dame aber als stärkste Figur gilt, die zur Verteidigung des Königs möglichst lange aus dem Spiel herausgehalten werden sollte, ergäbe sich auch hier eine Parallele zur Funktion der Damen in Biterolf und Dietleib. Dass Kriemhild und Brünhild im schâch von Wormez ebenfalls zur ‚Verteidigung‘ des Königs, vor allem aber zur Friedenssicherung eingesetzt werden, haben die o.g. Beispiele gezeigt. Ob man nun die beiden Damen als Einzelfiguren oder Brünhild als ‚Spiegelung‘107 Kriemhilds betrachtet, bleibt dem Leser überlassen. Wichtig ist vor allem, dass Biterolf und Dietleib auch mit den Frauenfiguren nicht das tödliche Finale, das ‚schachmatt‘ des Nibelungenliedes übernimmt, sondern den friedlichen Ausgang, das Unentschieden des königlichen Spiels vorführt: das Patt.

5.3. Die Generationenthematik Die besondere Gestaltung der Generationenthematik in Biterolf und Dietleib liegt gerade darin, dass der Text zwar eine Vielzahl von klassischen familialen Konfliktsituationen (z.B. Verwandtenkampf, Vatersuche, Vater-Sohn-Kampf etc.) anzitiert, diesen jedoch innerhalb kürzester Zeit durch Schemabruch, Inversion, parodistische Umgestaltung etc. die Brisanz entzieht. An die Stelle dramatischer Generationenkonflikte rücken stattdessen Hinweise zur positiven Gestaltung von Generationenbeziehungen. Die dazu notwendigen Strategien der Konfliktvermeidung und Deeskalation werden dabei vor allem über unproblematische bzw. ideale Konstruktionen von Familie, Verwandtschaft und gender verhandelt. Selbst die konfliktträchtigsten Situationen erfahren eine Neuinterpretation, wie die Beispiele von Dietleibs Vatersuche mit anschließendem Vater-Sohn-Kampf oder Dietrichs Auseinandersetzung mit telalterlichen Subjekts zu benennen: der Orientale, die Frau, der Tod.“ (Ebd. Sp. 1429) 106 Ende des 15. Jahrhunderts setzen sich die modernen Schachregeln durch: Gegenüber dem modernen Spiel „sind nur die Züge des mittelalterlichen Läufers (‚Alfil‘: springt diagonal vom ersten ins dritte Feld) und der mittelalterlichen Dame (‚Fers‘: zieht ein Feld diagonal) unterschiedlich. [...] Gegen Ende des 15. Jahrhunderts mehren sich Anstrengungen zu einer Dynamisierung des Spiels, die schließlich in der Erweiterung der Züge des Läufers (über die ganze Diagonale) und der Dame (max. Aktionsradius gerade und schräg) ihren Ausdruck findet.“ (Ebd. Sp. 1427) 107 Im Kontext der Schachregeln könnte man auch von einer ‚Verdoppelung‘ der beiden Figuren sprechen: Erreicht ein Bauer die letzte (gegnerische) Reihe des Schachbretts, kann er sich in eine Dame, einen Turm, einen Läufer oder in einen Springer verwandeln, wobei die Dame, die die Zugkraft von Turm und Läufer in sich vereinigt, am häufigsten gewählt wird. Diese Verwandlung nennt man „in die Dame gehen“. Jeder Bauer, der die gegnerische Seite erreicht, darf zu einer neuen Figur promovieren, ungeachtet, wie viele solcher Figuren der Spieler schon besitzt, so dass man in der Praxis häufig Spiele mit zwei oder drei Damen antrifft, vgl. Euwe, Max (1994), S. 17.

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Hildebrand dokumentieren: Auch wenn Dietleib zunächst gegen das Verbot der Mutter verstößt und zur Vatersuche aufbricht sowie gegen den Willen seines Pflege-Vaters Etzel in die Schlacht zieht und dort fast den leiblichen Vater tötet, wird sein Zuwiderhandeln stets entschuldigt. Sein rebellierendes Verhalten gegenüber der Eltern-Generation ist vielmehr notwendig, um seine heldenhafte art sowie seine Prädestinierung zum zukünftigen Herrscher und würdigen Nachkommen der Amelungen unter Beweis zu stellen. Dietleibs Exkulpation manifestiert sich vor allem darin, dass er in seiner Revanche gegen Gunther nicht nur von seinem Vater und seinen Pflegeeltern Etzel und Helche, sondern darüber hinaus auch von seinem gesamten Verwandtschaftsverband mütterlicherseits – allen voran der berühmte Dietrich von Bern – bedingungslos unterstützt wird. Das bedeutet jedoch nicht, dass die agnatische Verwandtschaft Dietleibs disqualifiziert würde, denn Walther, Biterolf und Dietleib verabreden gemeinsam, einander im Kampf zu schonen, und Walther ist derjenige, der während der Abwesenheit Biterolfs die Sicherheit Toledos gewährleistet; ganz bewusst werden konfligierende triuwe-Beziehungen damit vermieden. Obwohl sich die Verwandtschaftsbindungen in ihrer Bedeutung als Schutz- und Friedensgemeinschaft als (nahezu) gleichwertig erweisen, wird jedoch auf emotionaler Ebene differenziert: Dietleibs Verhältnis zu seinem leiblichen Vater – das Wissen der „herze“ (BuD 4079) bzw. die biologische Vaterschaft – demonstriert die besondere und unnachahmliche Bindung zwischen kernfamilial verwandten Personen. Dietleibs Vatersuche markiert außerdem den Beginn seiner Mannwerdung, die erst mit dem Zweikampf gegen Gunther im schâch von Wormez beendet wird. Seine Initiation hat jedoch kaum noch etwas mit der zentralen heroischen Tat eines Helden wie Siegfried oder Hagen beim Drachenkampf zu tun. Obwohl auch Dietleib permanent versucht, seine Heldenhaftigkeit unter Beweis zu stellen, ist er kein jederzeit gewaltbereiter Heros mehr; die heroische Disposition wird zugleich vom Männlichkeitsideal des höfischen Ritters determiniert, das „die Gewalt kanalisiert und an ein allgemein akzeptiertes Ethos zurückbindet.“108 Ein Beleg für diese hybride Konzeption ist die finale Auseinandersetzung mit Gunther, denn der Zweikampf109 mit dem König von Worms wird alles andere als spektakulär beschrieben: Der Kampf erfolgt nicht an exponierter Stelle, sondern wird als eine kriegerische Auseinandersetzung neben anderen berichtet; entscheidend ist nicht primär Dietleibs Sieg, sondern Gunthers anerkennende Worte für den jungen Helden, womit das schâch von Wormez gleichzeitig beendet ist (BuD 12355ff.). Dennoch hat Dietleib seine Disposition als Krieger und vorbildlicher Ritter nun endgültig bewiesen und seine (vermeintlich) verlorene Ehre ist wieder hergestellt, ohne dass sein 108 Kerth, Sonja (2002), S. 263. 109 Gunther und Dietleib treffen im schâch von Wormez mehrfach im Kampf aufeinander (vgl. 11179ff; 11965ff.; 12056ff.).

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Gegner deshalb Schaden nehmen müsste. Als Ausweis seiner bestandenen Initiation erhält Dietleib – gemeinsam mit seinem Vater Biterolf – von Etzel die Steiermark als Geschenk (BuD 13253ff.). Parallel dazu verliert auch die Auseinandersetzung zwischen Dietrich und Hildebrand sowie der sich anschließende Kampf mit Siegfried an heroischem Gewicht. Der Überwindung der ‚Zagheit‘ geht zwar immer noch ein kurzer Kampf mit Hildebrand voraus, doch wird der Akzent in Biterolf und Dietleib auf die Bedeutung der Kommunikation gelenkt, in dessen Folge Dietrich die Bemühungen des alten Erziehers akzeptiert, aber auch seine Gründe für sein Verhalten plausibel darlegen kann. Mit der ausführlichen Diskussion, an der schließlich auch der junge Wolfhart teilnimmt, wird offensichtlich auch die mythisch-heroische Aura des unbesiegbaren Siegfried depotenziert. Dietrichs Kampf gegen Siegfried endet – analog zur Auseinandersetzung zwischen Gunther und Dietleib – mit der Zurückdrängung des Gegners. Auch hinsichtlich des intertextuell bekannten Konfliktpotentials der burgundischen Kernfamilie – die man geradezu als Synonym für familiäre Auseinandersetzungen beschreiben könnte – wird der Rezipient enttäuscht: Bezeichnenderweise sind Ute und Dankrat, die Eltern der Burgunden, bereits verstorben, und auch unter den Geschwistern Gunther, Gernot, Gieselher und Kriemhild ist von Rivalitäten oder Interessensüberlagerungen nichts zu bemerken; strît und tôt sind durch hofes vreude ersetzt. Nicht einmal Kriemhild und Brünhild sind als Rivalinnen gezeichnet: Während Gunthers Frau offensichtlich – wenn auch vergebens – Streit mit einer anderen Königin (Helche) sucht, verharrt Kriemhild in der Rolle der Versöhnung Stiftenden. Auch wenn Kriemhilds Figur – im Vergleich zum Nibelungenlied oder zum Rosengarten – entlastet und entschuldigt wird, nimmt sie gleichzeitig die Rolle einer Statistin ein. Die Veränderungen, Entschärfungen bzw. Akzentverlagerungen bekannter Motive und Figurenkonstellationen, die der Verfasser des Biterolf und Dietleib vornimmt, demonstrieren keine Absage an die heroische Überlieferung, wohl aber einen „Wandel von Geschichtserfahrung in spätmittelalterlicher Heldendichtung“: „Der Anspruch auf Verbindlichkeit [der heroischen Welt; G.L.] für eine Gegenwart tritt zurück, konzentriert sich auf wenige Helden, nicht das Weltzeitmodell insgesamt. Ein Wolfdietrich oder ein Dietrich von Bern bewegen sich in einer verzerrten Gegenwelt. Was man dort vollbringen darf und kann ist von zeitgenössischen Normen, Herrschaftsordnungen oder Konflikttypen weit entfernt. Die monströse Übersteigerung könnte geradezu als Antwort auf beschränktere Handlungsmöglichkeiten verstanden werden: in der Weise kompensatorischer Brutalität oder entlastender Komik.“110

110 Müller, Jan-Dirk (1985), hier S. 81.

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Die umfassende Kenntnis und die souveräne Verfügbarkeit der heldenepischen Stoffe korrelieren mit einem spielerisch-experimentellen Umgang mit den klassischen Gattungsmerkmalen, die als Ausdruck eines Fiktionalisierungs- und Subjektivierungsprozesses111 interpretiert werden können. Gerade durch diese „Transposition in eine ‚poetisch‘ zu deutende Spielwelt“112 wird der Abstand von Biterolf und Dietleib zur heldenepischen Tradition und ganz besonders zum Nibelungenlied deutlich, avanciert der Text zu einem Vertreter einer ‚neuen‘ Text-Generation.

111 Vgl. Mecklenburg, Michael (2002), S. 220. 112 Müller, Jan-Dirk (1980), S. 240.

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6. Das Lied vom Hürnen Seyfrid Das Lied vom Hürnen Seyfrid1, eine Art Heldenbiographie in 179 Hildebrandston-Strophen, ist ausschließlich in 12 Drucken des 16. und 17. Jahrhunderts überliefert. Der älteste Druck K (Nürnberg, Kunegund Hergotin) wird auf etwa 1530 datiert.2 Die Entstehungsgeschichte und genaue Datierung des Werkes erweist sich hingegen als schwer rekonstruierbar, lediglich die Parallelen zu den Nibelungenlied-Handschriften m und n sowie zum Rosengarten A belegen, dass mindestens die Geschichte der Entführung Kriemhilds durch den Drachen und ihrer Befreiung bereits im 14. Jahrhundert existiert hat.3 Inhaltliche und kompositorische Widersprüche haben die Forschung dazu bewogen, den Hürnen Seyfrid als Kompilation dreier Teile zu bewerten: Hürner Seyfrid I (HS I, Str. 1-15), Hürner Seyfrid II (HS II, Str. 16-172) und Hürner Seyfrid III (HS III, Str. 173-178). Es wird vermutet, dass das Kernstück (HS II) im 13. Jahrhundert entstanden ist; Anfang- und Schlussteil (HS I und III), deren mögliche Entstehung auf das 12. oder 13. Jahrhundert datiert wird, seien hingegen erst um 1500 hinzugefügt worden.4 1

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Zit. nach: Das Lied vom Hürnen Seyfrid. Critical Edition with Introduction and Notes by K. C. King. Manchester 1958. Kings Ausgabe folgt dem Druck K. Zur Ausgabe Kings vgl. die Rezensionen von Boor, Helmut de (1959), S. 225-229; sowie Kralik, Dietrich (1960), S. 321328. Der Druck N (textlich nahezu identisch mit K) ist in folgender Ausgabe zu lesen: Das Lied vom Hürnen Seyfrid nach der Druckredaction des 16. Jahrhunderts. Mit einem Anhang: Das Volksbuch vom gehörnten Siegfried nach der ältesten Ausgabe (1726). Hrsg. von Wolfgang Golther. Halle an der Saale 21911. Dem ältesten Druck K folgt der etwas jüngere Nürnberger Druck N (Georg Wachter), der von dem wiederum jüngeren Druck H (Hamburg, J. Löw) gefolgt wird. Diese drei Drucke bilden eine Gruppe, die dem ‚Archetyp‘ näher stehen soll. Die anderen 9 Drucke bilden den nicht ganz einheitlichen anderen Überlieferungszweig. Sie verteilen sich auf den Zeitraum von 1561-1642 und die Verlagsorte Frankfurt am Main, Straßburg, Basel, Bern, Leipzig, vgl. Brunner, Horst: Art. „Hürnen Seyfrid“, VL 4 (1983), Sp. 317. Die Erlösung Kriemhilds auf dem Drachenstein dokumentieren die Aventiure-Überschriften 7-9 der Handschrift m (Darmstädter Aventiurenverzeichnis, Mitte oder 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts; zur Datierung von m vgl.: Deutsche und niederländische Handschriften, mit Ausnahme der Gebetsbuchhandschriften. Beschrieben von Kurt Hans Staub und Thomas Sänger. Wiesebaden 1991. S. 146f.), die Strophe 8,4 der Handschrift n (Darmstadt 4257, von 1449) sowie die Strophen 329-333 des Rosengarten A (entstanden in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, handschriftlich belegt im 14. Jahrhundert). Die Strophen 1-3 des Rosengarten A stimmen außerdem nahezu wörtlich mit den Strophen 16 und 33 des Hürnen Seyfrid überein. Zu weiteren intertextuellen Beziehungen z.B. zum Wolfdietrich D (um 1300) oder zum Rennewart (um 1250) Ulrichs von Türheim, vgl. Brunner, Horst (1983), Sp. 320ff. Vgl. King, K.C. (1958). S. 87ff.; sowie Boor, Helmut de (41973), S. 144; sowie Brunner, Horst

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Norbert Voorwinden dagegen vermutete jüngst, dass der Hürne Seyfrid in der überlieferten Form bereits im 12. oder 13. Jahrhundert entstanden sei: „Man nimmt denn auch an, daß im überlieferten Text des ‚Hürnen Seyfrid‘ Bestandteile aus zwei verschiedenen Liedern kombiniert [...] sind. Dieser Text wurde aber in dieser unausgeglichenen Form während mehrerer Jahrhunderte überliefert, obwohl das ‚Nibelungenlied‘ schon längst seine uns bekannte endgültige Form bekommen hatte.“5

Auch John Flood gibt zu bedenken, dass der Text Elemente wie beispielsweise den Drachenkampf beinhalte, die mindestens so alt wie das Nibelungenlied seien.6 Man muss also davon ausgehen, dass neben der schriftlichen Überlieferung des Nibelungenstoffes eine lebendige, vielgestaltige Tradierung existiert hat, die mündlich verbreitet war (oder schriftlich nicht erhalten ist). Mündliche und schriftliche Nibelungenüberlieferung verliefen im Mittelalter aber nicht nur nebeneinander, sondern konnten auch kombiniert werden bzw. sich überlagern, wie dies in den Nibelungenlied-Handschriften k, m und n erkennbar ist. Auch im Hürnen Seyfrid wird in der letzen Strophe auf eine weitere Dichtung, Sewfrides hochzeyt („Wer weyter hoeren woell / [...] Der leß Sewfrides hochzeyt“7 HS 179,2f.), verwiesen, die – wenn man den Text wörtlich nimmt – schriftlich vorgelegen hat, aber nicht überliefert ist.8 Die sagengeschichtliche Bedeutung des Hürnen Seyfrid beruht darauf, dass neben Details der Sage von Siegfried (die z.B. auch im Nibelungenlied oder im Rosengarten präsent sind) Elemente vorkommen, die der nordischen Überlieferung (Thidrekssaga, Edda, Völsungensaga) entsprechen: „Diese Übereinstimmung, die (außer im Falle des ‚Rosengartens‘) nicht auf direktem, literarischem Zusammenhang beruhen kann, sichert, daß es sich um alte Sagenüberlieferung handelt, die demnach im hoch- und spätmittelalterlichen Deutschland außerhalb des ‚Nibelungenliedes‘ lebendig war.“9

Gerade die sagengeschichtliche Thematik10 war für die ältere Forschung von großem Interesse; literarästhetisch hielt man den Hürnen Seyfrid hingegen lange Zeit für ein Werk „minderen literarischen Ranges“, erachtete ihn als „typische[n] Vertreter der Trivialliteratur der Frühen Neuzeit.“11 Werner Hoffman versucht das große Publikumsinteresse am Hürnen Seyfrid – das von der Anzahl der Drucke im 16. Jahrhundert dokumentiert wird – mit dem (1983), Sp. 322. Voorwinden, Norbert (1995), S. 7f. Vgl. Flood, John L. (1998), S. 52. In den Zitaten sind überschriebene , und durch Umlaute ersetzt worden. Vgl. dazu Göhler, Peter (1995), S. 78f.; sowie Heinzle, Joachim (1995), S. 97. Brunner, Horst (1983), Sp. 319. Zur sagengeschichtlichen Forschung vgl. z.B. den Überblick bei Kreyher, Volker-Jeske (1986), S. 13-18. 11 Hoffmann, Werner (1974), S. 98. 5 6 7 8 9 10

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Unterhaltungscharakter des Textes zu erklären: Das Werk breite eine von Riesen, Zwergen und Drachen bevölkerte unproblematische Phantasiewelt aus, die den Leser von den Problemen der Gegenwart ablenke und zusätzlich Identifikationsmöglichkeiten biete.12 Für Roswitha Wisniewski ist der Text „Prototyp märchenhafter Heldendichtung“, der das „idealtypische“ Schema des Heldenlebens zeige und damit eine didaktische Absicht verkörpere „wie die intellektuellen, physischen und moralischen Kräfte eines Menschen zur Verwirklichung höchsten Menschentums eingesetzt werden.“13 Die jüngere Forschung beschränkt sich auf die Untersuchungen von Volker-Jeske Kreyher und Ralph Breyer. Ersterer interpretiert den Hürnen Seyfrid als eigenständiges und in sich schlüssiges Werk des Spätmittelalters, wobei er den Text in zwei Abschnitte gliedert (HS I vs. HS II und HS III), die zwar aufeinander bezogen seien, jedoch zwei unterschiedliche Heldenviten Siegfrieds dokumentieren: „[D]er Lebensweg des Helden in der Dichtung [wird] in zwei durch die Parallelität der Abenteuer korrelativ miteinander verknüpften Versionen erzählt“14. Der Hauptteil des Hürnen Seyfrid sei hingegen als „‘Konkurrenzwerk‘ zur vorherigen Tradierung“15 geschaffen worden. Siegfrieds Gestaltung im ersten Teil entspreche einem traditionellen, tendenziell negativen Heldenbild, wohingegen im Hauptteil ein „neuartige[s] Ideal des sozial handelnden Helden“16 herausgearbeitet werde. An anderer Stelle weist Kreyher jedoch daraufhin, dass im Spätmittelalter und in der nachfolgenden Rezeption des Werkes die beiden Teile als zeitlich aufeinander folgende Lebensabschnitte (HS I als Jugendabenteuer: Kindheit, Schmiedezeit, Drachenkampf, Hürnung; HS II als Mannesabenteuer: Jagdauszug zum Drachenstein, Befreiung Kriemhilds) verstanden wurden: dies belegen die Nibelungenlied-Handschrift m, die Bearbeitung von Hans Sachs: Der hürnen Seufrid. Tragoedie in sieben Acten (1557)17 sowie der Prosaroman (‚Volksbuch‘): Eine Wunderschöne Historie von dem gehörnten Siegfried18 (ältester Druck von 1657).19 Ralph Breyer untersucht den Hürnen Seyfrid unter Einbeziehung der Heldenliedstruktur nach Joseph Campbell, wobei er den ersten Teil des Textes (HS I) als Jugendgeschichte versteht, die mit der Geschichte von Siegfrieds Tod (HS III) das Kernstück (HS II) umrahmt und so eine „komplette Biogra12 13 14 15 16 17

Vgl. ebd. S. 98f. Wisniewski, Roswitha (1976), S. 715. Kreyher, Volker-Jeske (1986), S. 224. Ebd. S. 225. Ebd. S. 225. Der hürnen Seufrid. Tragoedie in sieben Acten von Hans Sachs. Hrsg. von Edmund Goetze. Tübingen 21967. 18 Das Volksbuch vom gehörnten Siegfried nach der ältesten Ausgabe (1726). Hrsg. von Wolfgang Golther. Halle an der Saale 21911. 19 Vgl. Kreyher, Volker-Jeske (1986), S. 206, Anm. 289; darin übereinstimmend mit Brunner, Horst (1983), Sp. 317-326.

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phie“ darstellt. Breyher zufolge gewinnen widersprüchliche Erzählbezüge durch das Heldenlebenschema einen neuen Sinn, reduziert sich die von der Forschung häufig beklagte Brüchigkeit des Textes auf Formales, werde der „Blick frei auf eine überzeugend ausgebildete Sinnebene.“20 Entsprechend der Rezeption des Hürnen Seyfrid in der Bearbeitung von Hans Sachs sowie im Prosaroman analysiert die vorliegende Untersuchung den ersten Handlungsabschnitt (HS I) als Jugendgeschichte Siegfrieds, den Hauptteil (HS II und III) als zeitlich nachfolgende Erzählung. Einen weiteren Ausschlag für diese Interpretation gibt außerdem das Nibelungenlied, das ebenfalls die Drachentötung und Hürnung als Jugendabenteuer (NL 100), die Gewinnung Kriemhilds hingegen als Taten eines älteren Siegfried schildert. Gleichzeitig soll versucht werden, die Brüche und Inkonsistenzen des Hürnen Seyfrid nicht zu retuschieren, sondern sie im Sinne der „strukturellen Offenheit“21 später Heldendichtung und des Verfahrens der „Montage“22 als Produkt vielfältiger, kreativer und spielerischer Erzählmöglichkeiten zu interpretieren.

6.1. Hürner Seyfrid I: Der ‚missratene‘ Sohn Der Hürne Seyfrid beginnt mit der Vorstellung des jungen Protagonisten und zugleich mit einem Konflikt zwischen Eltern und Sohn. Zunächst wird Siegfried heldenepentypisch als Sohn König Siegmunds und Königin Sieglinds präsentiert: „Es saß im Niderlande Ein Kuenig so wol bekandt Mit grosser macht und gewalte Sigmund was er genant Der hett mit seyner frawen Ein sun der hieß Sewfrid.“ (HS 1,2-6)

Der junge Siegfried23 („Der knab“ HS 2,1) erweist sich in seinem Verhalten allerdings nicht als adäquater, angepasster Thronanwärter: Zwar entspricht er physisch den Vorstellungen eines Königssohns und Helden – er wird als „starck“ und „groß“ (HS 2,2) beschrieben – aber sein „wesen“ (HS 1,7) wird nicht nur als „kuene“ (HS 4,2), sondern auch als „muotwillig“ (HS 2,1) charakterisiert. Muotwille bezeichnet im Mittelhochdeutschen den eigenen frei20 Breyer, Ralph (1995), S. 64, Anm. 43. 21 Zum Begriff der ‚strukturellen Offenheit‘ vgl. Heinzle, Joachim (1978), S. 231. 22 Zum Begriff der ‚Montage‘ vgl. Miklautsch, Lydia (2005), S. 16; sowie Schmitt, Kerstin (2002), S. 306. 23 Altersangaben existieren nicht, Siegfried wird lediglich als „knab“ (HS 2,1) bezeichnet; hier als Junge, Jüngling, Knabe übersetzt.

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en Willen bzw. den Antrieb zum Guten als auch zum Bösen.24 Mit muotwillig wird eine Willenshaltung beschrieben, die im Kontext der Reaktion seiner Eltern („Das seyn vatter und muoter / Der ding gar seer verdroß“; HS 2,3-4) als negativ, ungezügelt, übermütig interpretiert werden kann. Der Junge will sich niemandem, auch nicht seinen Eltern unterordnen: „Er wolt nie keynem menschen / Seyn tag seyn underthon“ (HS 2,5f.). Sein einziger Wunsch besteht darin, hinaus in die Welt zu ziehen (HS 2,7f.). Die königlichen Eltern sind mit dem ungezügelten Jungen offensichtlich überfordert und beraten sich mit ihren engsten Vertrauten. Die Ratgeber des Königs empfehlen, den Sohn gehen zu lassen: Siegfried soll seine Erfahrungen außerhalb des Hofes sammeln, Gefahren und Aufgaben ohne fremde Hilfe bestehen („[sich] nieten“, HS 3,5)25, damit er so zu seiner eigentlichen Bestimmung reifen, ein Herrscher und Held werden und das Erbe seiner Eltern übernehmen kann: „Do sprachen des Kuenigs Raethe Nun last jn ziehen hyn So er nicht bleyben wille Das ist der beste syn Und last jn etwas nieten So wirdt er bendig zwar Er wird ein Held vil kuene Und lebt er etlich Jar.“ (HS 3,1-8)

Hinter diesem ‚Erziehungsprogramm‘ scheint die Überzeugung zu stehen, dass die Eigenschaften eines Kindes bereits von Geburt an vorhanden sind und lediglich kanalisiert werden müssen. Siegfrieds Charakterisierung mag auf den Leser negativ wirken,26 im Grunde jedoch demonstriert sie bereits die hyperbolisch gezeichneten Fähigkeiten eines Helden im heroischen Sinn: stark, mutig, unerschrocken und wild – und damit Voraussetzungen für einen Herrscher. So jedenfalls wird auch Hagen in der Kudrun beschrieben, der nur als der „wilde Hagen“ (K 106,1) Heros und Herrscher wird. Im Unterschied zu Hagen, der kein ‚schwer erziehbares Kind‘ ist, sondern unverschuldet durch seine Entführung in die Wildnis gerät und sich dort als Heros beweist, sucht sich Siegfried den Auszug in die Welt, ähnlich wie Dietleib in Biterolf und Dietleib, selbst aus. Im Gegensatz zu Siegfried muss Dietleib aber nicht erst weggeschickt werden, sondern er verlässt heimlich und gegen den Willen seiner ‚alleinerziehenden‘ Mutter den Königshof, um den Vater in der Fremde zu suchen (BuD 2236ff.). Siegmund und Sieglind hingegen erkennen, dass man 24 „muotwille“: (sw.M.) der eigene freie Wille; Antrieb sowohl zum Guten als auch zum Schlechten; auch (böse) Absicht, Übermut, vgl. Lexer: Bd. 1, Sp. 2248. 25 „[sich] nieten“: (refl.) eifrig sein, streben, sich befleißen, üben; mit etwas zu tun, zu schaffen haben, und zwar kann der Gegenstand angenehmer oder unangenehmer Natur sein, daher auch: sich einer Sache erfreuen oder sie erleiden, ertragen müssen, vgl. Lexer; Bd. 2, Sp. 79. 26 „Der Text tut hier alles, um ein unerfreuliches Bild Seyfrids zu geben: aggressiv, unbelehrt und unbelehrbar.“ (Breyer, Ralph, 1995, S. 55)

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durch höfische Erziehung keine Wesensveränderung des Sohnes erreichen kann: Seine überschüssige heroische Kraft erweist sich als so stark und unkontrollierbar, dass nur eine Siegfried ebenbürtige bzw. entsprechende Umgebung dieses exorbitante Potential zu kanalisieren vermag. Auch im Nibelungenlied wird Siegfried in der zweiten Aventiure als Sohn des niederländischen Königs Siegmund und seiner Gemahlin Sieglind vorgestellt, dem man die beste höfische Erziehung zuteil werden lässt (NL 23,1). Man weiß aber auch von ihm zu berichten, dass er „bî sînen jungen tagen“ (NL 22,1) manch wunderbare Taten (gemeint sind höchstwahrscheinlich Drachenkampf, Hürnung und Horterwerb) vollbracht hat, und dass er Fähigkeiten und Charaktereigenschaften besitzt, die allein aus ihm selbst gekommen sind: „von sîn selbes muote waz tugende er an sich nam!“ (NL 23,2). Dies ist eine deutliche Parallele zu Siegfrieds Darstellung im Hürnen Seyfrid, wobei dem Helden im Nibelungenlied die ‚schwer erziehbare‘ (negative) Komponente fehlt, obwohl diese in der Werbung um Kriemhild (als Herausforderung Gunthers, NL 110) in modifizierter Weise zumindest angedeutet wird. Nach der Entfaltung seiner heldenhaften Anlagen wird der junge Siegfried (parallel zur Schwertleite Hagens in der Kudrun; K 178,4) zum Ritter geschlagen (NL 28,4 u. 31,4) und sein Vater will ihm sogar die Herrschaft über Niederland übertragen, doch der junge Mann lehnt ab: Solange seine Eltern noch leben, will er die Krone nicht empfangen (NL 42-43). Siegfried stellt damit die eigenen Herrschaftsansprüche hinter die seines Vaters zurück. Erst nach dieser Episode zieht Siegfried zur Werbung um Kriemhild aus (NL 44f.). Der Bericht über den Heros, den Drachentöter und Schatzbesitzer Siegfried wird erst in der dritten Aventiure von Hagen als sagenhafte Geschichte nachgetragen (NL 86-100); die heroische Seite Siegfrieds wird zunächst bewusst von der höfischen Darstellung überblendet.27 Im Hürnen Seyfrid findet das genaue Gegenteil statt, wird die heroische art des Helden zunächst stark gemacht: Siegfried nimmt Abschied von den Eltern und zieht hinaus in die Welt. Er gelangt aber nicht an einen fremden Königshof, sondern gerät sukzessive immer tiefer in eine unhöfische, wilde Gegend: ze hove und ze holze gelten in der höfischen Dichtung als zwei diametral einander gegenüberstehende Bereiche: auf der einen Seite die geordnete, erstrebenswerte, höfische Welt, auf der anderen Seite der tendenziell negative, kreatürliche, triebhafte Raum des Waldes oder der Straße.28 Gleichzeitig symbolisiert die Wildnis eine Bewährungssituation, aus der – nach bestandenen Gefahren – der Held gestärkt hervorgeht, um anschließend als vollwertiges Mitglied in die höfische Gesellschaft aufgenommen zu werden.29 Zunächst ge27 Vgl. Müller, Jan-Dirk (1998), S. 125ff. 28 Vgl. Wenzel, Horst (1986), S. 277-300. 29 Vgl. Schmid-Cadalbert, Christian (1989). S. 24-47. Schmid-Cadalbert betont außerdem die

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langt Siegfried zu einem Dorf, das am Rande des Waldes liegt, trifft dort einen Schmied, wird von diesem als Geselle aufgenommen und darf sich an ersten Arbeiten versuchen (HS 4,3-8). Auch die Thidrekssaga30 und der Rosengarten A31 berichten von Siegfrieds Ausbildung bei einem Schmied. Im Hürnen Seyfrid zerstört der junge Mann mit seiner ungeheuren Kraft das Schmiedeeisen und treibt den Amboss mit seinen unkontrollierten und gewaltigen Schlägen in die Erde (HS 5,1-2). Als er für sein ungezügeltes Benehmen getadelt wird, reagiert Siegfried gewalttätig und verprügelt Meister und Knecht: „Er schluog den knecht und meyster / Und trib sie wider und fuer“ (HS 5,5-6). Der Schmied überlegt sich eine List, wie er den Jungen loswerden kann: Er schickt ihn zum Kohlen holen in den Wald und hofft darauf, dass er dort vom Drachen getötet wird (HS 5,7-7,2).32 Siegfried zieht nun zum zweiten Mal aus, er gelangt in eine Gegend, die explizit als Wildnis („gwilde“, HS 8,1) beschrieben wird. Unter einer Linde trifft er auf den Drachen, tötet diesen (HS 7,3-6) und findet noch weitere „Lindtwuerm Kroetten und Attern“ (HS 8,3), die er mit Baumstämmen erschlägt und anschließend verbrennt. Das Horn der Ungeheuer schmilzt, Siegfried taucht seinen Finger hinein und bemerkt, dass dieser huernein und unverwundbar geworden ist, so dass er seinen ganzen Körper (mit Ausnahme der Stelle zwischen den Schulterblättern) damit bestreicht (HS 10,1-11,2).33 Siegfried, der weder die Aufgaben und Pflichten eines Königssohns noch die eines Schmiedegesellen erfüllen kann, bewährt sich erst in der Wildnis, wo sich seine überdimensionale körperliche Kraft, seine Unerschrockenheit und

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strukturelle Ähnlichkeit der Überwindung der wilde mit einer rite de passage: „Das Sich-Verlieren des Aventiureritters in der Wildnis ist jenes Element, das strukturell dem Stadium des Todes entspricht, denn es symbolisiert den Übergang von einer Welt in die andere.“ (Ebd. S. 40) In der Thidrekssaga wird Sigurd im Wald geboren, während seine Mutter Sisibe bedroht wird und stirbt; zuvor hat sie den Säugling noch in ein Glasgefäß gelegt. Der im Gefäß liegende Säugling wird von Hartwin in den Fluss gestoßen. An Land gespült, findet eine Hindin das Kind und zieht es auf. Nach zwölf Monaten wird er von dem Schmied Mime im Wald aufgefunden, dieser nimmt das Kind als Pflegesohn an, gibt ihm den Namen Sigurd und bildet ihn zum Schmiedeknecht aus (vgl. Ths S. 215-218). Im Rosengarten A wird berichtet, dass Siegfried vom Schmied Eckerich erzogen worden sei: „aller brünnen meister, der werde Eckerîch. / er hât in von kinde in der smitten erzogen, / dâvon ist der helt an der brünne unbetrogen.“ (Ro A 331,2-4) Auch in der Thidrekssaga wird Sigurds ungezügelten Verhalten thematisiert: „Er war so schwierig im Umgang, daß er Mimes Schmiedeknechte zerbläute und verdrosch, so daß kaum einer es bei ihm aushielt.“ (Ths S. 218.). Auch der gewaltige Ambosshieb (Ths S. 219) und die Aussendung in den Wald, damit er vom Drachen getötet wird, werden berichtet (Ths S. 219). In der Thidrekssaga erschlägt Sigurd den Drachen mit einem glühenden Baumstamm und kocht dessen Fleisch in einem Kessel. Beim Probieren der Drachen-Brühe kann er die Stimmen der Vögel verstehen. Anschließend reibt er sich mit dem Blut des Drachen ein, worauf seine Haut zur unverwundbaren Hornhaut wird (Ths S. 220). Auch das Nibelungenlied bzw. Hagen berichtet über Siegfried und seine Unverwundbarkeit: „‘einen lintrachen den sluoc des heldes hant. / er badet‘ sich in dem bluote: sîn hût wart hurnîn. / des snîdet in kein wâfen; daz ist dicke worden scîn.‘“ (NL 100,2-4)

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Überlegenheit zum ersten Mal als positiv erweisen. Die Tötung der Drachen und die Hürnung erweisen sich als Initiationstat, als Wandlung vom ungebärdigen Jungen zum verantwortungsvollen Erwachsenen: Siegfried wird nun als Mann beschrieben („Und was auch manheyt vol“ HS 11,8), der an den Hof König Gibichs zieht und um dessen Tochter Kriemhild erfolgreich wirbt (HS 11,7ff.). In kurzen Zügen wird auf die acht Jahre dauernde Ehe des Paares sowie auf Siegfrieds Erwerb des Nibelungenhortes hingewiesen. Der Schatz bzw. die Habgier der anderen Helden, so berichtet der Erzähler, sei dabei für den Untergang aller verantwortlich: „Darumb sich von den Hewnen / Huob jaemerlicher mordt“ (HS 14). Nur Dietrich von Bern und Hildebrand hätten den „streyt[]“ (HS 15,3) überlebt. Ganz explizit verweist der Erzähler darauf, dass im Folgenden diese Geschehnisse bzw. die eigentliche Geschichte berichtet werden sollen: „Als jr noch hoeret sagen / Das niemand kam daruone / Das thuo ich euch bekandt“ (HS 15,4-6).34

6.2. Hürner Seyfrid II: Der Sohn als ‚Erlöser‘ Mit Strophe 16 setzt ein neuer Erzählabschnitt ein, der mit der Introduktion des burgundischen Königshauses beginnt und deutliche Parallelen zu den ersten beiden Strophen des Rosengarten A35 aufweist: König Gibich von Worms wird vorgestellt, der gemeinsam mit seiner (namenlosen) Frau drei Söhne (hier Gunther, Gernot und Hagen; Giselher existiert nicht) und eine Tochter (Kriemhild) hat: „Ein Stadt leyt bey dem Reyne Dieselb ist Wurms genant Darinn da was gesessen Ein Kuenig Gybich gnant Der het bey seyner frawen Drey suen so hoch geporn Ein tochter durch die warde Manch kuener Held verlorn.“ (HS 16)

Der Fokus richtet sich im Folgenden auf Kriemhild, die eines Tages am geöffneten Fenster steht und von einem herbei fliegenden Drachen entführt wird (HS 17,4-8). Der Drache nimmt die erschrockene „Junckfraw“ (HS 19,5), fliegt mit ihr in ein abgeschiedenes Gebirge und setzt sie auf einem Felsen ab. Vier Jahre lang hält er Kriemhild dort gefangen, versorgt sie mit Essen und 34 Zur Mehrdeutigkeit dieser Textstelle vgl. Kreyher, Volker-Jeske (1986), S. 56f. 35 „Ein stat lît an dem Rîne, diu ist sô wünnesam / und ist geheizen Wormze. sie weiz noch manec man. / darinne saz ein recke, der hête stolzen muot: / er was geheizen Gibeche und was ein künec guot.“ (Ro A 1,1-4); „Der hête bî siîner vouwen drî süne hôch [geborn / und ouch ein schoenez megedîn. [durch die wart verlorn / manec küener degen, sô ma[n uns von in seit. / Kriemhilt was si geheiz[en, diu keiserlîche meit.“ (Ro A 2,1-4)

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Trinken, behandelt sie freundlich: „Die Junckfraw durch jr schoene / Dem Trachen so lieb was“ (HS 18,5-6). Kriemhild dagegen ist verzweifelt, sie weint täglich, betet zur Jungfrau Maria und hofft darauf, dass sie von ihren Brüdern und ihrem Vater gerettet werde (HS 29-31); der Erzähler beschreibt ihr Schicksal als unermessliches Leid: „Das war das groeste leyden / In aller welte weyt“ (HS 32,5f.). In der Zwischenzeit hat König Gibich Boten in alle Länder aussenden lassen, damit sich ein Held findet, der seine Tochter „[e]rloest“ (HS 32,8). Mit dem Signalwort des ‚Erlösers‘ erfolgt eine erneute Vorstellung Siegfrieds. Auch hier wird dieser als Königssohn beschrieben, der so stark ist, dass er Löwen fängt und sie zum Gespött der Leute an die Bäume hängt: „Do was zuo den gezeyten Ein stoltzer juengeling Der was Sewfrid geheyssen Eyns reychen Kuenigs kind Der pflag so grosser stercke Das er die Loewen fieng Und sie dann zuo gespoette Hoch an die baumen hieng.“ (HS 33)

Wiederholt wird die noch nicht kanalisierte heroische Potenz des jungen Siegfried angedeutet, wobei die erneute Introduktion beinahe wörtlich mit der dritten Strophe des Rosengarten A36 übereinstimmt. Nur begleitet von seinen Hunden und einem Habicht reitet der „juengeling“ (HS 33,2) zur Jagd aus – offensichtlich weiß er nichts von der entführten Kriemhild (HS 37,7f.) – als plötzlich einer seiner Bracken die Spur eines Drachen aufnimmt. Siegfried folgt dem Hund vier Tage lang ohne Essen, Trinken und Schlaf, verirrt sich im Wald und gelangt schließlich zum „Trachen steyn“ (HS 39,2). Es wird finster um ihn herum und ängstlich, fast noch kindlich, nimmt Siegfried den Bracken auf den Arm (HS 41,1-4) und ruft Christus um Hilfe an. Genau in diesem Moment taucht der Zwergen-König Eugel auf (HS 42,5-44,8). Eugel fragt Siegfried, was er hier mache, doch dieser antwortet mit einer Gegenfrage: „Wie hieß der vatter meyn / Ich bitt das du jn nennest / Und auch die muoter meyn“ (HS 46,6-8). Sogleich wird dem Leser berichtet, dass Siegfried nichts von seinen Eltern wüsste, außer, dass er versendet37 und von einem Schmied aufgezogen wurde: „Er ward vil ferr versendet / In eynen finstern than / Darinn zoch jn ein meyster / Biß er ward zuo eym man“ (HS 47,5-8). Eugel erklärt Siegfried, wer seine Eltern seien:

36 „Sie [Kriemhild; G.L.] begunde vrîen e[in stolzer wîgant, / der was geheizen Sîv[rit, ein helt ûz Niderlant. / der pflac sô grôzer sterke, daz er die lewen vienc / und sie mit den zegeln über die mûren hienc.“ (Ro A 3,1-4) 37 versenden: aus-, wegsenden bes. in die Verbannung schicken, vgl. Lexer: Bd. 3, Sp. 225.

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„Deyn muoter hieß Siglinde Und was von Adel geporn Deyn vatter Kuenig Sigmunde Von den so bist du worn.“ (HS 48,8)

In Anbetracht des von Siegfried initiierten und von den Eltern unterstützten Auszugs in die Welt im ersten Erzählabschnitt (HS 3ff.) sowie seiner erneuten Vorstellung als Sohn königlicher Eltern (HS 33) im zweiten Teil erscheint das versenden (im Sinne von ‚aussetzen‘) und das Unwissen über seine Herkunft verwunderlich. In der Thidrekssaga38 hingegen existiert die Version des als Säugling ausgesetzten Siegfried, was für den Hürnen Seyfrid bedeuten könnte, dass hier eine zweite Variante der Jugendgeschichte Siegfrieds eingefügt wurde. Bei Hans Sachs und im Prosaroman wird dieser Erzählbruch durch einen eindeutigen Zusammenhang aufgelöst bzw. geglättet: Siegfried fragt nicht nach seiner Herkunft, sondern will lediglich wissen, woher Eugel seinen Namen kenne. Eugel teilt ihm sein Wissen über seine Eltern und seine Zukunft mit; die ‚doppelte Jugendgeschichte‘ wird damit ausgespart bzw. nicht als solche verstanden.39 Die zweifache Variante von Siegfrieds Kindheit im Hürnen Seyfrid muss nicht zwangsläufig einen Erzählbruch oder stümperhafte Klitterung bedeuten, sondern verweist vielmehr auf die besondere Charakteristik heldenepischen Erzählens: Auch das Nibelungenlied nutzt Elemente mündlichen Erzählens „für eine ‚performative Poetik‘, die – im Gegensatz zu schriftliterarischer Eindeutigkeit und Stimmigkeit –, manches offenläßt, was beim mündlichen Vortrag durch das Agieren des Vortragenden komplettiert werden könnte.“40 Statt Eindeutigkeit bietet das Epos Unschärfen, Widersprüche, Doppelungen oder Variationen, die letztlich darauf abzielen, unterschiedliche Lösungen bzw. mehrdeutige Verständnishorizonte präsent zu halten: „Der der Mündlichkeit verpflichtete Stil des Nibelungenliedes dagegen lässt die Epenhandlung zugleich unbestimmt offen und rätselhaft zwangsläufig erscheinen.“41 Andererseits entsprechen die im Hürnen Seyfrid ‚neu‘ eingefügten Elemente in Siegfrieds Vita – die Aussetzung des Knaben, das Aufwachsen in ungewohnter Umgebung – dem ‚traditionellen‘ Schema des Heldenlebenmodells42, das die Ausgewähltheit und besondere Stellung des Helden betont und ihn dadurch von anderen unterscheidet. Bereits Jan de Vries hat in seiner Abhandlung zum „Modell eines Heldenlebens“ darauf verwiesen, dass die zentrale Tat im Leben eines Helden im Grunde die Nachahmung eines Initiationsrituals darstellt.43 Betrachtet man Siegfrieds zweite Einführung im Kontext der Initiationsriten, könnte man sei38 39 40 41 42 43

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Vgl. Ths S. 215ff. Vgl. Hans Sachs (Sachs, 3. Akt, 412-424) und den Prosaroman (13b-14b, S. 73). Müller, Jan-Dirk (22005), S. 64. Ebd. S. 67.; vgl. auch ders. (1998), S. 121-151. Vgl. Vries, Jan de (1961), S. 282-289. Vgl. ebd. S. 300.

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ne Frage nach der Herkunft und die Auskunft des Zwerges auch als konstitutive Elemente der liminalen Phase interpretieren: Victor Turner zufolge ist es für Schwellenwesen typisch, dass sie „keinen Status, kein Eigentum, keine Insignien [...], keinerlei Dinge besitzen, die auf einen Rang, eine Rolle, oder eine Position im Verwandtschaftssystem verweisen.“44 Das Unwissen des Initianden sowie die Einführung und Unterweisung durch einen Priester, evtl. verbunden mit einer neuen Namensgebung, sind ebenfalls charakteristisch für Initiationsriten. Auch die davor liegenden vier Tage, die Siegfried ohne Schlafen, Essen und Trinken („Das er essens und trinckens / Und auch nie ruoge pflag“, HS 36,2-5) verbracht hat – ausdrücklich weist der Text darauf hin, dass Siegfried erst nach dem Drachenkampf von Eugel „speys“ und „weyn“ (HS 155,4) erhält – erinnern an Rituale einer rite de passage; die umgebende Wildnis an einen typischen Ort der Seklusion.45 Eugel avanciert in diesem Kontext quasi zum „Initiationspriester“, er ist „Teil und Agent jener Macht, die Seyfrid initiiert. Deshalb kann Seyfrid nach seiner Herkunft fragen, deshalb kann Eugel antworten, deshalb kann er ihm später seine Zukunft deuten.“46 Der Sieg über den Drachen bildet den Höhepunkt der Initiation Siegfrieds: „Das Untier ist ein Bild des Chaos; der Initiand muß gewissermaßen durch dieses Ungeheuer hindurchgehen, damit er als neuer Mensch wiedergeboren werde. Denn erst muß das Chaos wiederhergestellt sein, ehe eine neue Schöpfung sein wird.“47

Siegfrieds nachfolgende todesähnliche Ohnmacht (HS 149,1-150,3) nach dem Kampf symbolisiert anschaulich diesen „ewigen Prozeß von Tod und Erneuerung.“48 Da die Initiation nicht nur geistige, sondern auch sexuelle Reife bedeutet, sind der Sieg über den Drachen und die Befreiung einer Jungfrau (Kriemhild) eng miteinander verbunden. Eugels ehrerbietige Anrede „[e]dler Kuenig“ (HS 158,4) bezeugt zusätzlich Siegfrieds Befähigung nicht nur zum Helden und Mann, sondern auch zum adäquaten Herrscher. Zurück zu Siegfrieds erster Begegnung mit dem Zwerg: Dieser berichtet nun vom unbesiegbaren Drachen und von der entführten Kriemhild (HS 49-50). Er rät dem Helden, sich schleunigst auf den Rückweg zu machen: „Du solt von hinnen keren / Sewfrid du werder man / Und thuost du das nicht balde / Deyn leben muost du lan“ (HS 49,1-4). Doch ohne zu Zögern fasst Siegfried den Entschluss zur Befreiung der geraubten Kriemhild: die „Junckfraw wolt er han“ (HS 52,8) und der Zwerg soll ihm dabei helfen. Als Eugel sich weigert, nimmt er den Zwerg bei den Haaren und schlägt ihn so heftig an die Wand, dass dessen Krone zerbricht (HS 57). Siegfried hat seine Macht gegenüber 44 45 46 47 48

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Turner, Victor (22005) [1969], S. 95. Vgl. Gennep, Arnold van (32005) [1909], S. 78ff. Breyer, Ralph (1995), S. 57. Vries, Jan de (1961), S. 297. Ebd. S. 294.

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Eugel durchgesetzt, von nun an ist dieser der willige Helfer des Helden. Der Zwerg erzählt Siegfried von dem Riesen Kuperan, der den Schlüssel zum Eingang des Drachensteins besitzt (HS 59); im Inneren des Felsen befindet sich wiederum ein sagenhaftes Schwert, mit dem es möglich ist, den Drachen zu töten. Mit Eugels Hilfe gelangt der Held schließlich zur Wohnstätte des Riesen, die sich in der Nähe des Drachensteins befindet, und ruft ihn zum Kampf heraus (HS 61). Sogleich erscheint Kuperan, bewaffnet mit einer Riesen-typischen „staelein stangen“ (HS 62,3), und dringt auf seinen Gegner ein, wird von diesem aber schwer verwundet, woraufhin er zurück in seine Behausung flüchtet und eine kostbare Rüstung anlegt: „[...] ein vil guote Brinne Die was gar koestenlich Von eyttel klarem golde, Gehert mit Trachen bluot On Kaysers Otnit Brinne So ward nie Brinn so guot.“ (HS 70, 3-8)

Trotz der wunderbaren Rüstung und der übermenschlichen Kraft des Riesen kann Siegfried seinen Gegner überwältigen. Kuperan bittet um Schonung und verspricht, dem Helden bei der Befreiung Kriemhilds behilflich zu sein. Zum Zeichen seines Gehorsams übergibt er Siegfried die goldene Brünne (HS 82) und schwört ihm Treue (HS 83,3ff.). Obwohl Siegfried sogar sein seidenes Hemd zerreißt, um damit die Wunden des Riesen zu verbinden (HS 85,5ff.), wird Kuperan wenig später eidbrüchig und überfällt den Helden hinterrücks. Nur mit Hilfe des Zwergen-Königs Eugel und dessen unsichtbar machender Tarnkappe vermag Siegfried den Riesen zu überwinden. Erneut bittet Kuperan um Gnade und zum zweiten Mal gewährt ihm der Held die Bitte. Der Riese führt ihn zum Drachenstein, schließt die Höhle mit dem Schlüssel (HS 99) auf und führt ihn zu Kriemhild. Die „schoene Junckfraw reyn“ (HS 103,4) ist hoch erfreut über ihre Rettung, zugleich aber voller Angst vor der Entdeckung durch den Drachen, der der „grewlichst Teuffel“ (HS 104,5) sei. Kuperan zeigt nun Siegfried das Schwert, mit dem der Drache besiegt werden kann: „Sunst ist keyn kling auff erden / Die den Trachen gwinnen kann“ (HS 107,7f.). Nur wenig später versucht der treulose Riese erneut, den Helden zu töten, wieder wird er von Siegfried besiegt und wieder bittet er um Gnade. Doch Siegfried bleibt diesmal unnachgiebig: „Deyn red ist nun verlorn“ (HS 114,2) und wirft ihn vom Drachenstein, so das „[e]r sprang zuo hundert stuecken“ (HS 114,7). Die nächste Gefahr lässt nicht lange auf sich warten, der Drache erscheint: „Do kam er her mit fewre [sic!] / Nach Teuffelischer litz / Kam er an steyn gefaren / Das sich der steyn erschuett“ (HS 129,3ff.). Über mehrere Strophen erfolgt die Beschreibung des Kampfes, die jedoch durch die Nebenhandlung des Hortfundes unterbrochen wird: Siegfried verbirgt sich vor der Hitze des feuerspeienden Drachen in der Höhle, in der die Zwerge aus Furcht vor dem Einstürzen des Berges den Schatz versteckt hatten und fin-

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det so den Hort (HS 133ff.). In einem letzten infernalischen Kampf kann der Held den Drachen schließlich mithilfe des Schwertes töten („Er hieb jn von eynander / Wol in der mit entzwei“, HS 148,1f.), fällt danach aber vor Hitze und Erschöpfung in einen Zustand der Bewusstlosigkeit: „Er fiel vor grosser hitze Und west nicht wo er was Das er vor grosser onmacht Und muede kaum genaß Das er nicht sach noch hoeret Und niemand kennen kundt Seyn farb was jm entwichen Kolschwartz was jm sein mundt.“ (HS 149)

Als er wieder zu sich kommt, sieht er auch Kriemhild todesähnlich auf dem Boden liegen: „Got von hymel / O wee meyner grossen not“ (HS 150,7f.). Wieder tritt Eugel als Retter in letzter Sekunde auf, verabreicht der Ohnmächtigen eine Wurzel und erweckt sie zu neuem Leben: „Und do die Junckfraw reyne / Die wurtz in mund genam / Do ward sie bald auffsitzen / Und zuo jr selber kam“ (HS 152,1ff.). Die Episode endet vorerst mit dem Lob Siegfrieds, der durch den Sieg über den Riesen und den Drachen nicht nur zu Kriemhilds Retter, sondern auch zum Erlöser der Zwerge avanciert, wie Eugel dankbar betont: „Nun habt jr uns erloeset Und hie gemachet frey Des woell wir euch gern dienen Als vil als unser sey Und will euch heym beleyten Euch und die maget feyn Ich weyß euch weg und steyge Biß gen Wurms an den Reyn.“ (HS 154)

Die Stilisierung Siegfrieds zum ‚Erlöser‘ (z.B. HS 32,8; 50,8; 154,1; 169,5) oder seine Bezeichnung als „außerwelte[r] man“ (z.B. 45,6; 52,6) verweist auf eine christlich-religiöse Deutungsebene, die immer wieder anzitiert und zwischen die Gattungsmuster des Heroischen und Höfischen ‚montiert‘ wird. In diesem christlichen Kontext steht auch der Drache, bekannt als personifizierter Antichrist, der sich an „eynem Ostertage“ (HS 22,1) in einen Menschen verwandelt und Kriemhild prophezeit, er werde ihr in fünf Jahren das „magthumb“ (HS 26,7) nehmen, damit sie ebenfalls ihr Leben in der „helle“ bis zum „Juengsten tag“ fristen müsse (HS 28,3-5). „Ostern ist die Zeit der Erlösung durch den Kreuztod Christi als stellvertretendes Sühneopfer für alle sündigen Menschen. Ostern ist aber auch die Zeit, in der im Volksaberglauben die Dämonen ihr Unwesen treiben [...]. Die Nachahmung Christi durch den Antichrist ist eine verbreitete Vorstellung des Volksaberglaubens, die wohl auf chiliastische Traditionen zurückgeht.“49 49 Kreyher, Volker-Jeske (1986), S. 80, Anm. 123; vgl. auch Küppers, K.: Art. „Ostern“, LMA 6,

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Der Begriff Ostern ist untrennbar mit dem Tod und der Auferstehung Jesu Christi verbunden und auch der Text weist in eine ähnliche Richtung50: Kriemhild stilisiert den Helden zum Erlöser, der um ihretwillen Gefahr und Tod auf sich nehmen will. Zum Lohn versichert sie Siegfried ihre triuwe: „Nun lon dir Got Sewfride Du hast die groß arbeyt Durch meynent willen erlidten Und durch mich angeleyt Und hilfft mir Got zuo lande Das wisse one won Des gib jch dir meyn trewe Keyn andern fuer dich han.“ (HS 106)

Kriemhild warnt den Helden ausdrücklich vor dem Drachen, sie befürchtet, er könne diesem nicht widerstehen: „Ich fuercht aber du moegest / Dem Trachen nicht wider stan / Es ist der grewlichst Teuffel / Den jch han ye gesehen“ (HS 104,3ff.). Doch Siegfried zeigt sich sogar noch ungerührt, als der Drache mit lautem Schall heranfliegt; beruhigend antwortet er der Verängstigten: „Wer wil uns nehmen das leben / Das uns Got durch seyn guete / Auff erden hat gegeben[?]“ (HS 121,6-8). Auch direkt vor dem Kampf – der ebensogut tödlich ausgehen könnte – beruft sich Siegfried auf sein Vertrauen auf Gottes Hilfe: „Wer sich an Got hie liesse / Der ward doch nie verlorn“ (142,3f.). Siegfrieds Drachenkampf erinnert außerdem an die Legende des Heiligen Georg51, der das Untier tötet und die jungfräuliche Königstochter befreit:52 Explizit wird Kriemhild im Hürnen Seyfridals christliche Jungfrau dargestellt (1993). Sp. 1518-1519. 50 Johannes Janota (1983) [1981], S. 16, zufolge gehört u.a. die „persönliche Gotteserfahrung“ zu den Merkmalen spätmittelalterlicher Literatur; vgl. auch Ursula Schulze (2003), S. 211f., die die besondere Charakteristik spätmittelalterlicher Literatur folgendermaßen beschreibt: „zumindest für den Bereich des geistlichen Diskurses [ist] eine spezifische, zunehmend dominierende emotionale Gotteserfahrung zu nennen. Sie rückt das Transzendente, das Heilige, an den Menschen heran, versinnlicht es gleichsam, indem Gott nicht mehr nur erhöht und abgerückt im Gegenüber gedacht wird, sondern im affektiven Nachvollzug markanter Phasen des Erdenlebens Christi erfassbar erscheint. [...] Das Verfahren dieser Gotteserkenntnis und Gotteserfahrung [liegt darin], dass sie den Weg zu Gott durch die Imitatio und Compassio des Weges Christi auf Erden, speziell seines Leidens, sucht.“ In modifizierter Form könnte man diesen Befund auch auf den Hürnen Seyfrid beziehen. 51 Der Heilige Georg zählt zu den 14 Nothelfern. Der Legende nach wird eine Stadt von einem giftigen Drachen bedroht, weshalb ihm die Menschen zur Besänftigung Schafe und Menschen opfern. Das Los fällt auf die Tochter des Königs. Georg findet die Königstochter (in manchen Quellen ist sie mit der Heiligen Margarete identisch), verwundet den Drachen und gemeinsam kehren sie zum König zurück. Unter der Bedingung, dass sich die Untertanen christlich taufen lassen, tötet Georg den Drachen. Später (in einer anderen Stadt) wird Georg gefangen genommen, geschleift und enthauptet (Martyrium), vgl.: Die Legenda Aurea des Jacobus de Voragine. Aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Benz. Heidelberg 101984. S. 300-306. 52 Auf den Einfluss der Georgslegende auf den Hürnen Seyfrid ist bereits in der älteren Forschung hingewiesen worden, vgl. z.B. Golther, Wolfgang (21911), S. XXIII; sowie Kreyher, VolkerJeske (1986), S. 83f., Anm. 128.

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(„Sie ist von Christen leuten / Eyns Kuenigs tochter her“ HS 50, 5f.), die nur mit „Gottes erbarmunge“ (HS 50,7f.) vom Drachen erlöst werden kann. Der Kampf gegen Kuperan liest sich hingegen als Analogie zum Kampf zwischen David und dem Riesen Goliath, von dem die Bibel berichtet, dass David (ebenso wie Siegfried) vor dem Riesenkampf bereits in seiner Jugend Löwen besiegt habe.53 Der spätere König David gilt aber nicht nur als Vorausbild, sondern gleichzeitig auch als Ahnherr Jesu Christi (Mt 1,1ff.), und so avanciert der Drachentöter Siegfried hier quasi zum spirituellen Nachfahren des Gottessohnes. Siegfrieds christlich konnotierte Darstellung und der damit verbundene Männlichkeitsentwurf darf selbstverständlich nicht ausschließlich als hagiographische Stilisierung oder Erhöhung gewertet werden, denn sein Handeln entspricht ebenso dem Ideal der militia christiana54, dem christlichen Ideal des höfischen Ritters. Siegfried ist vielmehr als hybrider Held zu bezeichnen, in dessen Figur unterschiedliche Helden-Konzepte – legendarischer Held, höfischer Ritter und Heros – kombiniert werden. Obwohl sich die verschiedenen Modelle in einigen Punkten durchaus ähneln55, ergeben sich durch das Ineinanderschieben der Konzepte allerdings auch Brüche bzw. Unstimmigkeiten.56 Gleichzeitig führt die Neukombination und Montage der heterogenen Erzählmuster dazu, dass dem Rezipienten unterschiedliche Lektüren bzw. Interpretationsmöglichkeiten eröffnet werden, je nachdem, aus welcher Perspektive man die Handlung betrachtet: Aus der Perspektive des legendarischen Helden erweist sich Siegfried als Bezwinger des Bösen im Kampf mit dem Antichristen; vor dem Hintergrund der befreiten Kriemhild avanciert er zum höfischer Ritter, der um der minne willen die Aventiure besteht; aus heldenepischer Sicht liest sich der Drachenkampf als typische Bewährungstat des Heros. Eine ähnlich hybride Struktur hat jüngst auch Lydia Miklautsch für die Figur Wolfdietrichs, dem Protagonisten der Wolfdietrich-Dichtungen, konstatiert.57 Doch nicht nur die polyperspektivisch ausgerichteten Männ53 Vgl. 1. Buch Samuel 17,36ff.; vgl. dazu die Strophe im Hürnen Seyfrid, in der Siegfried die Löwen fängt und an die Bäume hängt (HS 33,6-8). 54 Vgl. auch Kreyher, Volker-Jeske (1986), S. 82ff. und S. 133. 55 Zu den Parallelen zwischen Heiligenvita und heroischer Heldenbiographie vgl. z.B. Miklautsch, Lydia (2003), S. 184; auch Wolfgang Haubrichs verweist auf die Ähnlichkeit zwischen Heiligenlegende und Heldendichtung, sieht in der labor, der Mühsal bzw. dem ertragenden Leid des Heiligen Überschneidungspunkte zum heroischen Helden. Auch Siegfried im Nibelungenlied oder Dietrich z.B. in Dietrichs Flucht und in der Rabenschlacht sind nicht die siegreichen Helden, sondern die großen Dulder, vgl. Haubrichs, Wolfgang (1994), S. 27-49; vgl. außerdem Pörksen, Gunhild / Uwe Pörksen (1980), S. 257-286. 56 Z.B. beruft sich Siegfried in seinem ersten Gespräch mit Eugel einerseits auf christliche Grundsätze (sein Vertrauen auf Gottes Hilfe bei der Erlösung Kriemhilds, HS 56), andererseits wird diese Darstellung durch sein heroisch-gewalttätiges Verhalten gegenüber dem Zwerg desavouiert bzw. unterlaufen (er schlägt Eugel gegen die Wand, so dass seine Krone zerbricht, HS 57). 57 „Die hybride Struktur der Texte [gemeint sind die Wolfdietriche; G.L.] führt auch zu einer hybriden Konzeption des Haupthelden, in dem höfische, heroische und legendarische Eigenschaf-

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lichkeits- bzw. Heldenkonzepte der beiden Hauptfiguren, sondern auch einige inhaltliche Einzelheiten verbinden Siegfrieds Vita mit der Biographie von Wolfdietrich58: Beide Helden werden beim Kampf gegen einen Riesen von einem Zwerg durch dessen Nebelkappe gerettet;59 beim Drachenkampf tragen beide Krieger die kostbare Brünne60 und ein seidenes Hemd61; am Ort des Kampfgeschehens finden sie jeweils ein Schwert, mit dem der Drache getötet werden kann;62 durch das Vertrauen auf Gottes Fügung63 bzw. durch Gottes Hilfe64 kann der Drache überwunden werden. Nach den bestandenen Abenteuern werden Wolfdietrich und Siegfried im Land ihrer Ehefrauen zum dortigen Herrscher ernannt.65 Hinzu kommt eine intertextuelle Verknüpfung, die mit dem Verweis auf „Kayser Otnits[s] Brinne“ (HS 70,7) signalisiert wird: Obwohl der Erzähler erklärt, dass es sich zwar nicht um Ortnits Brünne, wohl aber um einen vergleichbar kostbaren Harnisch handelt (HS 70,6-8), wird der Hürne Seyfrid darüber mit mehreren anderen heldenepischen Texten – und vor allem mit ähnlichen ‚Drachentöter-Schicksalen‘ – in Verbindung gebracht, die dem mittelalterlichen Publikum geläufig gewesen sein dürften: In Ortnit und Wolfdietrich erhält Ortnit von dem Zwerg Alberich eine goldene, in Drachenblut gehärtete Rüstung (Wd D 188ff.), mit der er gegen einen Drachen kämpft, dabei jedoch getötet wird (Wd D 828ff.). Einige Zeit später findet Wolfdietrich jene Rüstung in der Drachenhöhle, legt diese an, besiegt den Drachen und avanciert zum rechtmäßigen Nachfolger Ortnits (Wd D 1680ff.). Wolfdietrich schenkt den Panzer später dem Kloster, in das er sich im Alter zurückzieht; das Kloster verkauft wiederum die Brünne an die Königin Seburg, die dem Riesen Ecke für den Kampf gegen Dietrich diese zum Dank anbietet. Am Ende gelangt der kostbare Gegenstand an Dietrich von Bern66 ten miteinander verknüpft sind.“ (Miklautsch, Lydia, 2003, S. 184) 58 Bereits Hermann Schneider (1913), S. 211-213, hat auf die Parallelen zwischen Wolfdietrich und Siegfried hingewiesen. Schneider verfolgt in seiner Untersuchung jedoch primär sagengeschichtliches Interesse und vermutet daher, dass der Wolfdietrich aus dem Hürnen Seyfrid geschöpft habe. 59 Vgl. HS 89,5; Wd D 733ff. Ortnit und Wolfdietrich wird hier und im Folgenden zitiert nach: Ortnit und Wolfdietrich D. Kritischer Text nach Ms. Carm 2 der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main. Hrsg. von Walter Kofler. Stuttgart 2001. 60 Im Hürnen Seyfrid findet sich zwar kein expliziter Hinweis darauf, dass Siegfried die Brünne anzieht, aber Kuperan übergibt diese ausdrücklich dem Helden (HS 82,7). Auch im Rosengarten A wird von Siegfrieds wunderbarer Brünne berichtet (Ro A 331). 61 Wolfdietrich wird im Kampf gegen den Drachen durch das Taufhemd des Heiligen Georg geschützt (Wd D 1646). Siegfried verbindet mit seinem Hemd die Wunden Kuperans (HS 85,6) und tupft später damit Kriemhild ihren Angst-Schweiß von der Stirn (HS 122,1). 62 Vgl. Wd D 1680ff; HS 130. 63 Vgl. HS 121,6ff; 142,3ff.; auch vorher beruft sich Siegfried auf Gott bzw. bittet um Gottes Hilfe, vgl. HS 37,5; 40,5; 41,5; 46,1; 56,5f.; 76,1. 64 Vgl. Wd D 1664. 65 Wolfdietrich heiratet Ortnits Witwe Liebgart/Sidrat (Wd 1869ff.); Siegfried heiratet Kriemhild (HS 171). 66 Dietrich von Bern kämpft in der Virginal gemeinsam mit Hildebrand gegen einen Drachen,

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(Eckenlied 21-24), der in Dietrichs Flucht als Nachfahre von Ortnit und Wolfdietrich dargestellt wird (DF 2038ff.). In Dietrichs Flucht wird außerdem ein genealogischer Bezug zu Siegfried hergestellt, indem Ortnit als Bruder Sieglinds ausgewiesen wird (DF 2029-2055) und Siegfried so zum Neffen Ortnits und Verwandten Wolfdietrichs avanciert. Die damit dokumentierte „genealogische Intertextualität“ basiert nicht nur auf inhaltlichen und strukturellen Übereinstimmungen, sondern wird vor allem über die Verwandtschaft der Figuren gewährleistet, wodurch heldenepisches Wissen weitergegeben und neue Bezüge hergestellt werden können: „Diese Genealogie der Texte bildet ein relativ einfaches Verweisungssystem aus, das die einzelnen Geschichten in einer Übergangssituation von Mündlichkeit und Schriftlichkeit einander zuzuordnen vermag und so die Vorstellung eines Kontinuums der literarischen Texte und mithin eines Zusammenhangs innerhalb der literarischen Redeordnung hervorrufen kann.“67

6.2.1. Der Hort Nach dem erfolgreich beendeten Kampf gegen den Drachen und der damit verbundenen Befreiung Kriemhilds und des Zwergenvolkes nimmt Siegfried Eugel beiseite und bittet diesen, er möge ihm voraussagen, wie lange er noch zu leben habe (HS 160). Der Zwerg erklärt dem Helden, dass er nur acht Jahre lang mit Kriemhild verheiratet sein werde, denn dann werde ihm sein „leybe / So moerderlich genummen / So gar on alle schulde“ (HS 161,5-7). Eugels Auskunft, dass Kriemhild seinen Tod rächen und dabei keiner der anderen Helden (einschließlich Kriemhild) am Leben bleiben wird (HS 162), scheinen Siegfried zufrieden zu stimmen und lassen ihn davon absehen, zu erfahren, wer sein Mörder ist: „Wird jch in kuertz erschlagen Und wird so wol gerochen So will jch nit fragen Von wem jch wird erschlagen.“ (HS 163,2-5)

Nachdem er sich von Eugel verabschiedet hat, nimmt Siegfried den Hort an sich, da er glaubt, dass dieser dem Drachen gehört habe und er nun der rechtmäßige Besitzer sei („Das erbt von recht mich an“ HS 166,4). Er weiß nicht, dass Eugel und seine beiden Brüder die eigentlichen Eigentümer sind, die den Hort ihres Vaters Nybling geerbt haben: „Er west nicht das die erben in dessen Maul sich ein Mann befindet (V 144ff.), vgl.: Virginal. In: Deutsches Heldenbuch V. Dietrichs Abenteuer von Albrecht von Kemenaten nebst den Bruchstücken von Dietrich und Wenezlan. Hrsg. von Julius Zupitza. Berlin 1870; vgl. auch die Thidrekssaga, wo Thidrek gemeinsam mit Fasold einen Drachen, der ebenfalls einen Mann in seinem Maul festhält, tötet (Ths S. 168f.). 67 Kellner, Beate (1999), S. 56.

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/ Waren die Kuenig im berg / die da hetten verstossen / Nyblings schatz des alten Zwerg“ (HS 168,1-4). Trotz seiner seherischen Fähigkeiten bekommt Eugel nichts von Siegfrieds Tun mit: „Eugel das Zwerg sein sune / Der west nicht umb die ding / er meynt der schatz der lege / Im berg noch gar gering“ (HS 168,5f.). Die im Grunde unrechtmäßige Hortaneignung wird jedoch in den Hintergrund gerückt, stattdessen wird Siegfrieds Unwissenheit und Unschuld über die eigentlichen Besitzverhältnisse (HS 140,7-8; 165,5-6), der Dank der Zwerge gegenüber dem Helden68 („Des sol wir euch ymmer dancken HS 158,3) sowie die Tatsache, dass Siegfried bei seinem Tode „on alle schulde“ (HS 161,7) sei, betont. Auch in der Logik von Gabe und Gegengabe (in der feudalhöfischen Terminologie: dienest und lôn)69 sowie in der Struktur des Heldenlebenschemas (der stärkste Held gewinnt Besitz, Land und Herrschaft wie Siegfried im Nibelungenlied70; NL 97,4) wirkt Siegfrieds Inbesitznahme des Hortes legitim und rechtmäßig. Das neuartige im Hürnen Seyfrid besteht jedoch darin, dass der Schatz von Anfang an keine besondere Bedeutung für Siegfried besitzt: „Der schatz was jm unmere“ (HS 141,1). Aufgrund dieser Tatsache fasst der Held auf der Heimreise sogar den Entschluss, ganz auf den Hort zu verzichten: „Do er kam an den Reyne Do dacht er in seym muot Leb jch so kurtze zeyte Was sol mir dann das guot Und sollen alle Recken Umb mich verloren seyn Wem soll dann dieses guote Und schuet es in den Reyn.“ (HS 167)

Diese Strophe zeigt mehrere Bedeutungsperspektiven: Zunächst dokumentiert Siegfrieds Handeln ganz allgemein seinen neu gewonnenen Verstand sowie seine Umsichtigkeit (muot) infolge seiner Initiation zum Mann und seine Prädestinierung zum verantwortungsvollen und überlegten Herrscher. Zum anderen könnte man Siegfrieds Absage an materielles Gut in Anbetracht des eigenen baldigen Todes auch als innere Läuterung71 interpretieren, die nicht 68 Vgl. auch die folgende Strophe (interpretiert als Vorausdeutung) des Hürnen Seyfrid: „Nun het Sewfrid gefochten / Gar Ritterlich seyn jar / Des dienten jm vil gerne / Fuenff tausent Zwerge zwar / Sie gaben dem werden Helden / Gar williglich jr guot / Er het ein wurm erschlagen / Vor dem hettens keyn huot.“ 69 Vgl. Mauss, Marcel (21994); sowie Hanning, Jürgen (1988), S. 11-37. 70 Im Nibelungenlied dagegen wird die Hortaneignung ganz anders erzählt: Siegfried gelangt in das Land der Nibelungen und trifft dort auf die Nibelungenkönige Nibelung und Schilbung, die ihn bitten, den Schatz, den sie von ihrem Vater geerbt haben, für sie aufzuteilen (NL 87-91). Da die beiden mit seiner Einteilung nicht einverstanden sind, kommt es zu einer Auseinandersetzung, in der Siegfried die Nibelungen und viele ihrer Männer tötet (NL 94-96), den Zwerg Alberich besiegt, sich dessen Tarnkappe aneignet und so zum Besitzer des Hortes und zum Herrscher über das Nibelungenland avanciert (NL 97). 71 Vgl. dazu auch Kreyher, der Siegfrieds Hortverzicht als „Ausdruck der ‚conversio animi‘ des

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nur dem Ideal des „guten Todes“72 (ars moriendi) zu Lebzeiten entspräche, sondern Siegfried wiederum in die Nähe legendarischer Helden und seinen Sinneswandel in den Kontext der conversio eines Heiligen rücken würde: Ähnlich wie Wolfdietrich73 wird der Heros Siegfried „zum Heilsbringer, dessen Aufgabe es ist, die triuwelosen zu besiegen und die göttliche Ordnung wiederherzustellen.“74 Einem christlichen Märtyrer75 vergleichbar, der sein irdisches Schicksal demütig erträgt, nimmt Siegfried seinen bevorstehenden Tod ohne Klage oder Auflehnung auf sich. Auch Siegfrieds weitere Überlegungen, die man mit ‚christlicher Nächstenliebe‘ umschreiben könnte, zielen in diese Richtung: Um zu verhindern, dass um seinetwillen alle anderen Helden sterben müssen (HS 167,5-6), versenkt er den Schatz im Rhein. War im ersten Teil des Hürnen Seyfrid allein die vernichtende Macht des Hortes für den Tod aller Helden verantwortlich gemacht worden (HS 14,58), so wird im Hauptteil des Werkes der Faktor des Hortes durch seine ‚vorzeitige‘ Versenkung eliminiert – der Untergang aller Helden wird dagegen mit Helden“ wertet, vgl. Kreyher, Volker-Jeske (1986), S. 155. 72 Der Tod wird im Mittelalter nicht als das Ende des Lebens, sondern als ein Schritt innerhalb des Lebens angesehen. Im teleologischen Sinn erscheint der Tod als Durchgangsstadium zu einer anderen Existenz und zugleich als Wartezustand auf das Jüngste Gericht. Erst die im Hochmittelalter populär werdende ‚Fegfeuerlehre‘ löste die Dichotomie von Paradies und Hölle auf und ermöglichte den Menschen, sich nachträglich Rettung vor der ewigen Verdammnis sowohl durch vorsorgende Strategien zu Lebzeiten als auch durch Initiativen der Nachkommen und Angehörigen zu gelangen: Das Leben wird zur Vorbereitung auf die Sterbestunde. Das kirchliche Ideal des ‚guten Sterbens‘ gerät innerhalb der mittelalterlichen Gesellschaft zu einem zentralen Disziplinierungsinstrument. Abhängig vom sozialen Stand und den finanziellen Verhältnissen erwarben die Menschen Ablässe, finanzierten Stiftungen etc. Das Ideal des ‚guten Todes‘ zu erreichen lehrte u.a. die ars moriendi (Kunst des Sterbens), eine sehr populäre Gattung der frommen Literatur. Diese Sterbebüchlein wurden auch in die Volkssprachen übersetzt und führten einen exemplarischen, gottgefälligen Lebenswandel vor Augen, vgl. Dinzelbacher, P. / Daxelmüller, Ch.: Art. „Tod, Sterben“, LMA 8 (1997), Sp. 829-834. 73 Im Wolfdietrich D verzichtet der Protagonist angesichts des baldigen Todes auf seine Herrschaft und geht ins Kloster (Wd 2115ff.); Wolfdietrichs Moniage ist Bestandteil aller Versionen, mit Ausnahme der Version B. 74 Miklautsch, Lydia (2005), S. 197. 75 Der Märtyrer/Heilige verzichtet im Gegensatz zum weltlichen Helden auf Gewalt oder militärische Verteidigung, der heroische oder höfische Held bewährt sich in erster Linie über den Kampf mit Waffen. Nach Maria von Nagy und Christoph N. de Nagy gliedert sich die Heiligenlegende in folgende Episoden (nicht alle Punkte dieses Idealschemas müssen in jedem Heiligenleben verwirklicht sein): 1. Vorgeschichte mit Taufe, Namensgebung, bes. Herkunft, Tugenden evtl. conversio 2. Konfrontation mit dem Gegner, Kämpfe oder Versuchungen 3. Prüfungszeit, Marter bzw. Folterungen, meist mit Zwischenaufenthalt im Kerker 4. Während der Proben erwacht oft bei den Heiligen das Erkennen, Schauen oder Hören mit dem Geiste (Erwachen der geistigen Erkenntnis) 5. Der Tod des Heiligen 6. Bestattung 7. Auferstehung und nachtodliches Leben mit Helfertaten in Geistgestalt 8. Nach Jahrhunderten nachtodliches Wirken in Menschengestalt. Die Heiligenviten sind dabei analog zu den Stationen des Lebens Christi gebaut: incarnatio (Verkörperung), nativitas (Geburt), passio (Leiden), descensio ad inferos (Abstieg in die Hölle), resurrectio (Auferstehung) und ascensio (Himmelfahrt), vgl. Nagy, Maria von / Nagy, Christoph N. de (1971), S. 45-48.

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Kriemhilds Rache motiviert (HS 162-163). Dies bedeutet wiederum eine Parallele zum Nibelungenlied, wo Kriemhilds Rache ebenfalls den Untergang der Helden besiegelt, der Hort jedoch – auch nach seiner Versenkung – bis zum tödlichen Finale einen besonderen Stellenwert einnimmt: Im Nibelungenlied rät Hagen seinem Herrn Gunther nach Siegfrieds Tod, den Schatz nach Worms holen zu lassen, um Kriemhild mit ihren Geschwistern auszusöhnen. Gleichzeitig betont er, dass die Burgunden von dem Reichtum der Schwester profitieren könnten: „Dô sprach der helt von Tronege: ‘möht ir daz tragen an, daz ir iuwer swester ze vriunde möhtet hân, sô kœme ze disen landen daz Nibelunges golt. des möht ir vil gewinnen, würd‘ uns diu küneginne holt.‘“ (NL 1107)

Der Plan geht auf, der Hort wird nach Worms geschafft, Gunther und Gieselher können die Schwester davon überzeugen, sich mit Gunther zu versöhnen, die suone wird besiegelt (NL 1115). Obwohl Kriemhild der Schatz von Rechtswegen zusteht – er war ihr als Morgengabe von Siegfried geschenkt worden (NL 1116) – gelingt es Hagen, seinen Herren davon zu überzeugen, Kriemhilds Besitz zu rauben: „dô namens si der witwen daz kreftige guot“ (NL 1132,2). Während die Brüder offiziell zur Jagd ausreiten, entwendet Hagen den Schatz und versenkt ihn im Rhein, um ihn später zu nutzen – was ihm jedoch nicht gelingen wird, wie der Erzähler betont (NL 1137). Hagens zweifaches Verbrechen bleibt ungesühnt, die wehrlose Kriemhild bleibt trauernd zurück. Von nun an ist in Kriemhilds Wahrnehmung Siegfrieds Tod stets mit dem Hortraub verbunden: „Mit iteniuwen leiden besweæret was ir muot, / umb ir mannes ende, unt dô si ir daz guot / alsô gar genâmen“ (NL 1141,13), und wird bis zum tödlichen Finale von ihr thematisiert (NL 1741; 2367). Dabei geht es Kriemhild allerdings nicht um eine materielle Entschädigung oder um autonomes Machtstreben, „[v]ielmehr dient der Schatz (wie später die Besitztümer Etzels) in ihrer Hand einzig und allein ihrer speziellen Form der memoria Siegfrieds: Die Bewahrung der gedechtnus durch die vorbildliche Ehefrau Kriemhild ist einzig verbunden mit dem Wunsch, die Erinnerung an seine Ermordung wachzuhalten und damit die Möglichkeit zur Rache an seinem Mörder“.76

Im Hürnen Seyfrid wird die memoria Siegfrieds jedoch vom Hort und seiner Ambivalenz abgekoppelt und allein auf die Rache der Ehefrau bezogen: Da Siegfrieds baldiger Tod unumgänglich ist und auch alle anderen Helden in Folge von Kriemhilds Rache sterben werden – und es folglich keine potentiellen Erben gibt77 –, verliert der Hort seine Bedeutung und wird wertlos. 76 Bennewitz, Ingrid (1995), S. 42. Ähnlich formuliert Heinz Rupp (1985), S. 172: „Das ist keine Goldgier, wie man immer behauptet. Der Hort ist nur ein Symbol für ihr Leid. In ihm schließt sich alles zusammen, was Hagen ihr angetan hat, und er weiß das.“ 77 Im Nibelungenlied haben Kriemhild und Siegfried einen gemeinsamen Sohn (Gunther, NL 716), den sie vor der Abreise nach Worms in Xanten zurücklassen (NL 780,1f.). Nach Sieg-

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Wenn also materielles Erbe und biologische Nachkommenschaft ihre Bedeutung verlieren, rückt damit das ideelle Erbe bzw. die Erinnerung an den Helden in den Vordergrund. Auf den ersten Blick scheint mit Siegfrieds Tod das Ende einer Heldenfamilie und einer ganzen Helden-Generation besiegelt zu sein und damit die Tradition mittelalterlicher Genealogien in eine Aporie zu münden, da die genealogische Kette unterbrochen wird. Dem Korporationsgedanken folgend bleibt die Identität und Stabilität der Gemeinschaft jedoch bestehen, wenn einzelne Repräsentanten vergehen, aber nur, wenn dies durch die memoria an den Verstorbenen gewährleistet wird. Sind keine Nachkommen vorhanden, die diese Aufgabe wahrnehmen können, wird in der gesellschaftlichen Praxis des Mittelalters das Gedenken der Toten durch Stiftungen, Denkmäler, Dichtungen oder andere Memorialüberlieferungen gewahrt.78 Kriemhilds Rache erweist sich damit – innerhalb der Mikroebene des Textes – als exorbitant genug, um Siegfrieds memoria auch nach dem Tod aller Helden zu bewahren. Gleichzeitig wird damit nicht nur eine Legitimierung der Rache bewirkt, sondern es erfolgt auch eine Aufwertung der Kriemhild-Figur. Auf einer Makroebene gesehen, avanciert der Hürne Seyfrid zur zeitgenössischen Memorialüberlieferung bzw. zum gedechtnus des Nibelungenliedes (als „Nibelungenlied-Diskussion“): Der Hürne Seyfrid hält nicht nur die Erinnerung an das Nibelungenlied wach, sondern stellt dem absoluten Ende des Epos („hie hât daz mære ein ende: daz ist der Nibelungen nôt“; NL 2379,4) bzw. dessen Nullpunkt von Familie, Verwandtschaft und Genealogie eine christliche Perspektive gegenüber, die durch das zu Lebzeiten ‚organisierte‘ Gedenken genealogische Kontinuität in spiritueller Hinsicht wahrt und so die Hoffung auf Zukünftiges wiederherstellt.79

frieds Tod verbleibt das Kind auf Kriemhilds Wunsch in Xanten und wird von seinem Großvater erzogen (NL 1090,3). Im folgenden Verlauf wird der kleine Gunther nicht mehr erwähnt. Auch im Prosaroman (Das Volksbuch vom gehörnten Siegfried) haben Siegfried und Kriemhild (Florigunda) einen gemeinsamen Sohn: Löwhardus. Dieser wird von Siegfrieds Vater Sieghardus nach dem Tod seiner Eltern (Kriemhild/Florigunda vollzieht nicht eigenhändig die Rache an ihrem ermordeten Gemahl, sondern klagt ihrem Schwiegervater ihre Not, der daraufhin Rache an den Burgunden nimmt; Kriemhild/Florigunda stirbt danach vor Kummer) in den Niederlanden aufgezogen und wächst dort zu einem großen Held heran, von dem eine eigene Geschichte (Loewhardi Historie) berichtet (Prosaroman 39b-40bff.). Im Prosaroman lebt damit das Andenken an Siegfried durch die Erinnerung des Sohnes weiter. 78 Vgl. Oexle, O.G.: Art. „Memoria“, LMA 6 (1993), Sp. 511f. 79 Ähnlich verfährt die Nibelungenklage – allerdings ‚öffnet‘ sie das Epos auf eine dynastische Zukunft und sichert damit das Bestehen von Genealogie und memoria: „Die Klage rückt die Nibelungensage in den Kontext zeitgenössischer Memorialkultur, indem sie die Entstehung von Nibelungendichtungen aus dem Interesse an der Sicherung adliger Hausüberlieferung begründet, sie in den vertrauten Kontext von ‚Herkommen‘ stellt und in den Klagereden auf die Toten selbst Memorialfunktion erfüllt. Damit stellt sie die Kontinuität feudaler Geschichtserinnerung wieder her, die mit dem Ende des Epos so brutal unterbrochen schien.“ (Müller, Jan-Dirk, 22005, S. 163)

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6.2.2. Der Streit um das Erbe Bei ihrer Rückkehr nach Worms werden Siegfried und Kriemhild mit allen Ehren empfangen, man huldigt Siegfried, als wäre er mächtiger als ein Kaiser auf Erden: „Als kein Keyser auff erden / Des gleych geehret nit“ (HS 170,3f.). König Gibich lädt die edelsten Fürsten des Landes zur Hochzeit des Paares ein, die mit großem Prunk vierzehn Tage lang gefeiert wird (HS 172, 1ff.). Nach der Hochzeit erhält Siegfried die Mitregentschaft in Worms: „Sewfrid gab solch geleyte Und stercket das gericht Het eyner Gold getragen Er dorfft sich fuerchten nicht Also mit grosser stercke Er alle ding bestelt.“ (HS 173,1-6)

Siegfried zeichnet sich dabei als idealer Herrscher aus: Er sorgt für Schutz und Sicherheit (geleyte80), ist für die Rechtsprechung (gericht81) zuständig und zeigt sich umsichtig und durchsetzungsfähig. Kriemhilds Brüder reagieren auf die Bevorzugung des Schwagers durch den Vater feindselig und eifersüchtig: „Also die drey jung Kuenge / Sewfriden truogen haß“ (HS 177,1f.). Gunther verflucht Siegfried (HS 173,7), der mit seiner besonderen Position bei Hofe die ihm ebenbürtigen Helden des Landes – und implizit die eigentlichen Anwärter auf den Thron, die Burgundenbrüder – gering halte (HS 174). Hagen betont, er werde der Erste sein, der sich an Siegfried rächen werde, wenn es diesem gelänge, die Herrschaft vollständig zu übernehmen (HS 175). Gernot legt darüber hinaus das Verhalten des Vaters als Schwäche aus: Er brächte jedes Opfer dafür, wenn Gibich so viel Verstand („muot“ HS 176,6) wie er selbst besäße, denn dann würde der Vater feststellen, dass Siegfried dem Land auf Dauer schaden würde (HS 176).82 An dieser Stelle treffen zwei Herrschaftsmodelle – ähnlich wie im Nibelungenlied83 – aufeinander: Die Herrschaft der Burgun80 geleit: Leitung, Führung, vor allem landesherrliches Geleit und Schutz, vgl. Lexer: Bd. 1, Sp. 809. In der Rechtsgeschichte wird mit Geleit eine Begleitung mit dem Ziel des Schutzes gegen Beraubung oder Behinderung (Schutzgeleit), der Ehrung (Ehrengeleit) oder der Unterstützung und Beförderung (Beförderungs-Geleit) bezeichnet. Das mittelalterliche Geleitrecht gehörte zu den sog. Regalien. Im 13. Jahrhundert wurde es zu einem fürstlichen Hoheitsrecht, unbeschadet des königlichen Rechts, mit dem es konkurrierte. Üblicherweise wurde es den Landesherren zuerkannt, vgl. B. Koehler. Art. „Geleit“, HRG 1, Sp. 1481-1483. 81 Landesherrliches Geleit und Gerichtsbarkeit gehören zum Aufgabenbereich des Herrscheramtes. 82 Hans Sachs verschärft die Argumente der Brüder: Angeblich würden sie von Siegfried zum Narren gehalten und verachtet; der Held aus Niederland habe sich mit „Schmaichlerey“ bereits das „halb [...] kuenclich regiment“ angeeignet und sorge nun dafür, dass man die Brüder von der Erbfolge ausschließt, um nach dem Tod des alten Gibich selbst König zu werden (Hans Sachs, 7. Akt, 1004-1024). 83 „Das Nibelungenlied bewahrt in der Gestalt des Heros ältere Leitvorstellungen politischer Legitimation und stellt sie zugleich an seiner Geschichte zur Diskussion.“ (Müller, Jan-Dirk,

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den beruht auf dynastisch-genealogischer Kontinuität, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Siegfried verfügt in den Niederlanden zwar ebenfalls über einen ererbten Anspruch, in Worms jedoch legitimiert er sich lediglich über seine Heldentaten in der Wildnis aufgrund seiner persönlichen Stärke. Im Gegensatz zum Nibelungenlied, wo Siegfried bei seinem Eintreffen in Worms die Herrschaft Gunthers zunächst herausfordert (NL 110), ist von einem Herrschaftsanspruch Siegfrieds im Hürnen Seyfrid keine Rede. Der alte Gibich scheint vielmehr die Fähigkeiten des Schwiegersohnes erkannt zu haben und nun den eingeheirateten Helden zum Erben bestimmen zu wollen. Den Ausschluss von der Erbfolge fürchtend – eine Weiterführung der Herrschaft über die kognatische Linie der Familie (Kriemhild mit Siegfried) scheint ausgeschlossen zu sein – einigen sich die drei Söhne, den Schwager zu töten (HS 177): Gernot und Gunther ‚befehlen‘ Hagen wenig später, den Helden zu „erstech[en]“ (HS 178,7-8). Im Nibelungenlied dagegen ist Hagen derjenige, der den Mord an Siegfried initiiert und schließlich Gunther und Gernot von seinem Plan überzeugen kann. Hagen nennt gleich mehrere Gründe, weshalb der Held eliminiert werden muss: Erstens sieht er Brunhilds Ehre (und damit die seines Königs) durch Kriemhilds Beschuldigung – Siegfried habe als erster in der Brautnacht mit Brunhild geschlafen (NL 847,3) – desavouiert. Er befürchtet, dass Gunthers Sohn evtl. der Sohn Siegfrieds sein könnte und damit die Herrschaft in Worms bedroht wäre: „‘suln wir gouche84 ziehen?‘“ (NL 867,1). Außerdem verweist er auf die Besitztümer Siegfrieds (Länder und Hort), die Gunther nach Siegfrieds Tod (NL 774,4 u. 870,3f.) zufallen könnten. Darüber hinaus bleibt die Herausforderung Siegfrieds bei seiner Brautwerbung um Kriemhild in Worms (NL 110) – trotz seiner vielen Dienste für die Burgunden – als potentielle Bedrohung im Raum stehen. Für Jan-Dirk Müller beziehen sich diese Überlegungen allerdings auf eine Machtkonkurrenz im Allgemeinen: Obwohl es zum Zeitpunkt seiner Ermordung keinen Anhaltspunkt für einen Machtkampf zwischen Siegfried und Gunther gibt und die Sympathie des Erzählers Siegfried gilt, erweist sich das Herrschaftsmodell, das er gegen die Wormser Königsherrschaft vertritt, als problematisch, wenn nicht gar als gesellschaftsgefährdend: „Siegfried wird genau dann beseitigt, wenn Gunthers Königsherrschaft durch die Beleidigung der Königin beschädigt zu werden droht.“85 Im Hürnen Seyfrid dagegen tritt exakt das ein, was man im Nibelungenlied meinte verhindern zu müssen: Siegfried wird Regent in Worms, allerdings nicht durch Usurpation und Gewalt, sondern durch den noch amtieren2 2005, S. 111); vgl. ders.: (1998), S. 170-177; sowie ders. (1974), S. 85-124. 84 Der Kuckuck (mhd. gouch: Kuckuck, Bastard) ist bekannt dafür, dass er seine Eier zum Ausbrüten in fremde Nester legt. Sind die Kuckucksjungen geschlüpft, werfen sie die anderen Jungen oder Eier aus dem Nest. 85 Müller, Jan-Dirk (22005), S. 113.

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den Herrscher Gibich, dessen Entscheidung zwar eine genealogisch denkbare Möglichkeit darstellt, die jedoch im Kontext adeliger Herrschaft und des Thronrechts86 – im Allgemeinen hat der direkte lebende Deszendent Vorrang vor dem angeheirateten Verwandten – revolutionären Charakter besitzt: Siegfrieds Regierungsstil, der als gerecht und umsichtig beschrieben wird (HS 173,1ff.), sowie sein mehr als kaiserlicher Empfang in Worms (HS 173,1-6; 170,3), lässt zudem Vorstellungen an einen (analog zu Christus) endzeitlichen Friedenskaiser wach werden: „Die von einem Friedenskaiser erwartete neue Ordnung, wurde als positive Gegenwelt der als verbesserungswürdig befundenen Wirklichkeit gegenübergestellt.“87 Genau diese neue Ordnung, die nicht auf Herkommen und Tradition, sondern auf persönlicher Stärke und christlichen Idealen gründet und damit einen gewissen (typisch christlichen) Gleichheitsanspruch inkludiert, gefährdet aber nicht nur die Herrschaft der Burgunden, sondern adelige Herrschaft und deren Legitimation im Allgemeinen.

6.3. „Kriemhild-Diskussion“: Die ‚heilige‘ Kriemhild? Kriemhilds familiale Position im Hürnen Seyfrid erinnert den Rezipienten nicht nur aufgrund der ähnlichen Introduktion (HS 16-17) an den Rosengarten: Auch im Hürnen Seyfrid scheint die Königstochter der Liebling der Eltern, besonders des Vaters zu sein. Als Kriemhild vom Drachen entführt wird, bleiben Vater und Mutter „trawrigklichen“ (HS 18,7f.) zurück, und in der Gefangenschaft bedauert sie ihre Eltern, auf die nun „jamer und layde“ (HS 22,7) durch den Verlust der Tochter gekommen sei. Kriemhild gibt die Hoff86 „Das Thronrecht gewährt in abstracto die rechtliche Möglichkeit zu sukzedieren und steht allen sukzessionsfähigen Deszendenten des ersten Erwerbers (primus acquirens) zu, von welchem es allein abgeleitet wird. Durch die Thronordnung wird im konkreten Fall einer Thronerledigung aus dem ganzen Kreise der Sukzessionsberechtigten eine bestimmte Person auf den Thron berufen, wobei in der Regel das Verhältnis der Verwandtschaft zu dem letzten Inhaber (ultimus defunctus) entscheidet.“ Freie Wahl des Thronfolgers blieb jedoch formelle Verfassungstheorie, die Berücksichtigung des Geblütsrechts dagegen materielle Verfassungspraxis: „Unabhängig davon, ob es sich um ‚Wahl‘- oder ‚Erbreiche‘ handelte, sukzedierten [...] überall [in Europa] Nachkommen des ersten Königs des Landes (primus acquirens). Dessen beim Thronfall lebende Nachkommen bildeten also eine Consaguinitätsgemeinschaft, aus der der Nachfolger des ultimus defunctus auf dem Thron bestimmt wurde. Im einzelnen ist dabei die Geltung folgender Prinzipien zu beobachten: Ceteris paribus wurde ‚der Gradnähere dem Gradferneren vorgezogen, der Mann gegenüber der Frau, der Agnat dem Cognaten, der Ältere dem Jüngeren, der Mündige dem Unmündigen, der ehelich Geborene dem Unehelichen, der leiblich Verwandte dem Adoptierten, der Einheimische dem Ausländer‘.“ (Wolf, A.: Art. „Thronfolge“, HRG 5, 1998, Sp. 206-209) 87 Struve, T.: Art. „Friedenskaiser“, LMA 4 (1989), Sp. 922: „Die Vorstellung von einem am Ende aller Zeiten einen umfassenden Zustand des Friedens und der Gerechtigkeit herbeiführenden End- oder Friedenskaiser führt auf die jüd.-hellen. Erwartung eines gottgesandten Retters [...] wie auf die altröm. Weissagung von der Wiederkehr einer aurea aetas zurück.“

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nung nicht auf, dass ihr „lieber vatter“ (HS 31,5) und ihre Brüder sie aus der Gewalt des Drachen befreien werden. Auch als Siegfried die Königstochter auf dem Drachenstein antrifft, gilt ihre erste Frage dem Wohle der Eltern und der Brüder: „Wie lebt meyn muoter und vatter / Zuo Wurms wol an den Reyn / Und meyn vil lieben brueder[?]“ (HS 102,3-5). Als sie mit Siegfried nach Worms zurückkehrt, wird das Paar vom alten Gibich und seinen Getreuen mit allen Ehren empfangen – dem Vater (seine Frau wird nicht mehr erwähnt) ist offensichtlich viel daran gelegen, die Heimkehr der Tochter, ihren Retter und deren Hochzeit gebührend zu feiern (HS 169-172). Hans Sachs kehrt die besondere Stellung Kriemhilds innerhalb der Burgundenfamilie noch deutlicher hervor. Gleich zu Beginn wird die gute Beziehung zwischen dem Vater und seiner „liebsten dochter“88 (Sachs 228) thematisiert: Gibich lässt ein Turnier veranstalten, um sein Herzblatt zu unterhalten (Sachs 257); und als Kriemhild vom Drachen entführt wird, scheint sein ganzes Lebensglück zerstört zu sein: „Ach we mir, immer ach und we! / Nun wirt ich froelich nimerme, / Weil ich mein dochter hab verlorn; / Auf erd ist mir nichts liebers worn“ (Sachs 299ff.). Seine Trauer wird noch gesteigert, als seine Frau schließlich an ihrem Leid über die verlorene Tochter stirbt, woraufhin der König sich selbst als ellent89 bezeichnet. Dementsprechend glücklich reagiert der Vater, als er von Eugel erfährt, dass seine durch Siegfried befreite „dochter zart“ (Sachs 20) nach Worms zurückkehren wird: „Dis sind die aller liebsten mer, / Der ich nie hab gehoert, pis her / Mein liebe dochter war geporn“ (Sachs 762ff.). Kriemhilds Brüder hingegen treten erst im letzten Akt der Tragedj auf, um den Mord an Siegfried zu planen (Sachs 104ff.). Während bei Hans Sachs die Figur der Kriemhild – durch den Einschub des 6. Aktes, in dem Dietrich von Bern und Siegfried miteinander kämpfen90 – letztlich aber doch kritisiert wird91, erscheint sie im Hürnen Seyfrid vollkommen frei von negativen Eigenschaften wie fuerwiz, (Hans Sachs) und übermuot (Rosengarten); sie wird nicht als vâlandinne (Rosengarten A und Nibelungenlied AB) stilisiert, sondern vielmehr – quasi als Pendant zu Siegfried – dem 88 Umgekehrt nennt Kriemhild ihren Vater: „Hertz liebster herr und vater mein“ (Sachs 253). 89 „Ach got, erst bin ich ellent gar, / Weil ich pis in das virde jar / Mein dohter Crimhilt hab verlorn, / Die von eim wurm hin gfueret ist worn, / Die ich vileicht sich nimer mer. / Das kumert mein gmahel so ser, / Das sie auch starb vor herzenleid. / Also hab ichs verloren paid.“ (Sachs 750ff.) 90 Hans Sachs schöpft an dieser Stelle aus dem Rosengarten (bes. Rosengarten A 352-370): In der Tragedj berichtet Siegfried voller Stolz von der Hürnung und seinen Heldentaten und brüstet sich damit, unbesiegbar zu sein. Daraufhin kommt Kriemhild auf die Idee, Dietrich von Bern zu einem Zweikampf einzuladen. Siegfried ist von dieser Idee begeistert (Sachs 799ff.). Gemeinsam mit ihrem Gatten verfasst Kriemhild den Herausforderungsbrief an den Berner (Sachs 863ff.); später kann sie es kaum erwarten, wer von den beiden sich im Kampf als der beste Held erweist (Sachs 893ff; 910ff ). 91 „Crimhilt, das schoen weib, / Dewt ein weib, das der fuerwiz treib / Zw manchem hochmuetigen stueck; / Der kumbt vil unraz auf den rueck.“ (Sachs 1135-1138)

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Ideal einer christlichen Heiligen bzw. Märtyrerin angenähert. Dies geschieht zum einen durch die Parallelen zur Legende der Heiligen Margarete92, zum anderen durch ihre passive, demütige Charakterisierung: Als Kriemhild während ihrer vierjährigen Gefangenschaft vom Drachen erfährt, dass er ihr ihre Jungfräulichkeit nach seiner Rückverwandlung nehmen (HS 25-27,4) und sie der ewigen Verdammnis der Hölle zuführen werde (HS 25-30), fleht sie zunächst Jesus Christus an, der als Bezwinger des Bösen und der Hölle gilt: „Hort ich meyn tag ye sagen Gewaltiger Jhesu Christ Das du gewaltig werest Uber alles das da ist Im hymel und auff erden Und uber alle ding Ein wort zerprach die helle Das von deym munde gieng.“ (HS 29)

Danach wendet sie sich an die Jungfrau Maria, von der sie sich Rettung und Gnade verspricht: „O reyne mayd Maria Du hymel Kayserein Ich empfilch mich in deyn gnade Ich armes megetleyn Seyd von dir sagen die buecher Vil tugent reyne Fraw Hilff mir von disem steyne Als wol ich dir vertraw.“ (HS 30)

Während sie noch um Beistand bittet, rinnen ihr blutige Tränen über die Wangen („Sie waynt auß iren augen / Alltag das bluot so rot“ HS 31,7f.), die eine Analogie zum Nibelungenlied herstellen, als Kriemhild den Sarg Siegfrieds aufbrechen lässt und den geliebten Ehemann mit blutigen Tränen beweint (NL 1068-1069).93 Ihre Tränen bedeuten nicht nur Verzweiflung und Schmerz, sondern könnten vielleicht auch – als Assoziation an christliche Kultbilderblut-Darstellungen und Wunderlegenden – auf eine grundlegende (frevlerische) Verletzung der eigenen (heiligen) Person hindeuten: „[B]eim 92 Aufgrund des Drachens und der kerkerartigen Gefangenschaft auf dem Drachenstein erinnert Kriemhild an die Heilige Margarethe, die zu den Quattuor Virgines Capitales und den 14 Nothelfern gezählt wird: Der Legende nach wird die Christin Margarete in einen Kerker geworfen, um von ihrem Glauben abzulassen. Dort erscheint ihr der Teufel in Gestalt eines Drachens (der Drache verwandelt sich danach in einen Menschen, um sie ein weiteres Mal zu versuchen), den sie aber mit einem Kreuzzeichen daran hindern kann, sie zu verschlingen; zum Zeichen ihres Sieges setzt sie ihren Fuß auf ihn. Am Ende ihres Lebens wird die Heilige Margarete enthauptet (Martyrium). In einigen Quellen ist die Heilige Margarete mit der Königstochter aus der Georgslegende identisch, vgl.: Die Legenda Aurea des Jacobus de Voragine (101984), S. 463-466. 93 „diu ir vil liehten ougen vor leide weineten bluot“ (NL 1069,4). Arthur T. Hatto zufolge stellen Kriemhilds blutige Tränen hingegen ein traditionelles Motiv der Heldenepik dar, vgl. Hatto, Arthur T. (1991), S. 11.

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Verletzen v[on] Kreuz-, Marien- oder Heiligenbildern vergießen diese blutige Tränen oder Blutschweiß. Dies alte Legendenmotiv knüpft schon an die Nikodemusüberlieferung und das blutende Kreuz von Beirut (3. Jh.) an.“94 Im Rosengarten findet sich eine ähnliche Situation, als Kriemhild von Ilsan so häufig geküsst (bzw. ‚gemartert‘) wird, dass ihr das Blut die Wangen hinunterläuft (Ro A 376,2). Die hagiographischen Versatzstücke, die auch im Rosengarten konstitutiv für Kriemhilds Figurendarstellung sind, werden dort jedoch negativ-parodistisch gebrochen, so dass die Jungfrau im Rosenhag zur ‚femme fatale‘ umgedeutet wird. Im Nibelungenlied hingegen wird Kriemhild in einzelnen Szenen in positiver Weise der literarischen Stilisierung weiblicher Heiliger angenähert wie z.B. in ihrer anfänglichen Verweigerung gegenüber Ehe und Liebe (NL 15ff.), in ihrer Klage um den toten Siegfried (NL 1008ff.) oder in ihrer das Epos überdauernden triuwe zum Verstorbenen. Auch die Klage unterstützt diese Perspektive, indem Kriemhild dort zur ‚Minneheiligen‘ avanciert, die sich durch ihre Liebe das Himmelreich verdient habe:95 „sît si durch triuwe tôt beleip, und si grôz triuwe daz zuo treip, daz si in triuwen verlôs ir leben, sô hât uns got den trôst gegeben: swes lîp mit triuwen ende nimt, daz der zem himelrîche zimt.“ (Kl C 571ff.)

Im Hürnen Seyfrid wird Kriemhilds hagiographische Stilisierung96 genutzt, um auch die unverheiratete Kriemhild als von Jugend an vorbildlich, treu und aufopfernd vorzuführen, ihre spätere Charakterisierung als treue Gattin zu betonen und als ‚natürliche‘ Entwicklung zu präsentieren. Ganz bewusst wird ihre Rache an den Brüdern im Hürnen Seyfrid lediglich angedeutet, aber nicht näher auserzählt. Erst nach Siegfrieds Tod bzw. innerhalb der Prophezeiung von Eugel (d.h. ‚außerhalb‘ des Textes), avanciert die ‚Erlöste‘ zur Rächerin, die, da sie von aller Schuld befreit bzw. ihre Handlung legitimiert wird (HS 162; 163), damit quasi selbst die Rolle der ‚Erlöserin‘ bzw. Retterin97 ein94 Brückner, W.: Art. „Blut, heiliges“: „Kultbilderblut“, LCI 1 (1971), Sp. 312. Vgl. auch Art. „Tränengabe“: Besonders im Spätmittelalter wird die Beweinung Christi mit der weinenden Mutter Gottes oder Maria Magdalenas (auch als Einzeldarstellungen) in Form von Andachtslyrik- oder Bildern dargestellt, die den Betrachter zur sogenannten ‚Tränengabe‘ auffordern sollten. Die ‚Tränengabe‘ ist ein seit den Wüstenvätern hochgeschätztes Charisma, aus Frömmigkeit weinen zu können im Gedenken an die eigene Sündhaftigkeit, aus Himmelssehnsucht oder Mitleid mit dem Passionschristus und wird schon in frühmittelalterlichen Heiligenviten erwähnt, vgl. Dinzelbacher, P.: Art. „Tränengabe“. In: LMA 8 (1997). Sp. 935. 95 Vgl. Bennewitz, Ingrid (2000) [2000 b], S. 56f.; sowie dies. (2001), S. 30f. 96 Darüber hinaus wird Kriemhild nicht nur als „Junckfraw“ (HS 18,4; 19,5; 21,2; 22,3) oder „magetleyn“ (HS 26,1; 30,4), sondern – analog zur Jungfrau Maria – als „Kayserliche[] magt“ (HS 37,8) und als „außerwelte magt“ (HS 142,8) bezeichnet. 97 Bei Hans Sachs avanciert Kriemhild sogar zur dreifachen Retterin: Sie verabreicht dem bewusstlosen Siegfried nach dem Drachenkampf die Wurzel, die ihn wieder belebt (Sachs 708ff.),

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nimmt. Die im Nibelungenlied ambivalent dargestellte Figur Kriemhilds – als Opfer und Täterin, als treue Gattin und vâlandinne – gewinnt im Hürnen Seyfrid durch die hagiographische Ausrichtung an positiver Eindeutigkeit. Kriemhilds hagiographisch ausgerichtete Darstellung führt aber nicht (wie in Siegfrieds Fall) zu einer grundsätzlichen Veränderung ihrer Situation, sondern zeigt, dass die Fähigkeit des passiven Duldens, des stillen Erleidens von Erniedrigungen und Qualen nicht nur das Idealbild der Heiligen, sondern das der mittelalterlichen Frau im Allgemeinen ist und vielmehr eine Fortsetzung des alltäglichen Lebens bedeutet: „Die zentralen weiblichen Metaphern erweisen sich als solche der Kontinuität.“98 Ähnlich wie in der Kudrun wird durch das hagiographische Erzählmuster ein Modell von weiblichem Heldentum etabliert, das nicht in Konkurrenz zum männlichen Heldenkonzept tritt und sich damit gegenüber der Darstellung Kriemhilds im Nibelungenlied und in den verschiedenen Versionen des Rosengarten bewusst absetzt. Im Hürnen Seyfrid wird jedoch gleichzeitig der erzählerische Schwerpunkt von der weiblichen Protagonistin auf den männlichen Helden verlagert, dessen Vita in voller Länge erzählt wird.

6.4. Die Generationenthematik Die Generationenthematik im Hürnen Seyfrid konzentriert sich vor allem auf die differierende kleinfamiliale Situation der beiden Protagonisten Siegfried und Kriemhild. In beiden Familien finden sich Konflikte zwischen der Elternund der Kinder-Generation: Siegfried, der sich zunächst – zum Leidwesen seiner Eltern – als schwer erziehbar erweist, entwickelt sich jedoch durch seine Abenteuer in der Wildnis zum vorbildlichen und gerechten Herrscher. Auch Kriemhild scheint in ihrer Gefangenschaft in der Wildnis ihr tugendhaftes Verhalten erst voll entfalten zu können. Ihre Brüder dagegen, die sich nicht außerhalb des Hofes als Helden beweisen mussten, erweisen sich als unfähige Nachfolger und werden vom Vater von der Thronfolge ausgeschlossen. Anhand dieser kernfamilalen Ungleichgewichtung werden die Kernpunkte genealogischen Denkens – Erbe, Macht, Herrschaft und memoria – vor allem im Kontrast zu den Konstellationen des Nibelungenliedes verhandelt. Über die Figur Siegfrieds, die durch die hagiographische Stilisierung zum Vertreter eines neuen bzw. hybriden Heldentypus avanciert, wird ein genuin christliches Herrschaftsmodell zur Diskussion gestellt, das die blutsverwandtschaftlich orientierte Erbfolge durch spirituelle Nachfolge bzw. persönliche Eignung zu ersetzen versucht. Obwohl dieses Modell einerseits vorbildliches Potential sie beschützt Siegfried im Zweikampf mit Dietrich vor dem Tod (Sachs 41; 965ff.) und rächt seine Ermordung (Sachs 46). 98 Walker Bynum, Caroline (1996), S. 45.

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impliziert, bedroht es andererseits die Legitimation traditioneller Herrschaft und muss eliminiert werden. Auch wenn Siegfried schlussendlich getötet wird, Kriemhild ihren Gemahl rächt und nicht nur ihre Brüder, sondern eine ganze Helden-Generation damit vernichtet, bleibt am Ende die Schuldlosigkeit und Vorbildlichkeit des Paares auch nach ihrem Tod bestehen. Die damit verbundene Fokussierung auf die Beziehung von Siegfried und Kriemhild geht mit einer offensichtlichen Bedeutungsminderung des Verwandtschaftsverbandes einher, der – im Gegensatz zum Nibelungenlied – in keinem Vers erwähnt wird. Diese Interpretation des alten Stoffes ist im Grunde bereits im Nibelungenlied und der mündlichen Überlieferung innerhalb der Nibelungentradition angelegt, aber sie gewinnt im Hürnen Seyfrid durch die christlich-hagiographische Akzentuierung und die genealogische Kontinuität über den Tod der Helden-Generation hinaus eine eigenständige Perspektive, die als Versuch der Schaffung neuer Erzählstrategien und Bedeutungshorizonte – im Sinne einer (dem Nibelungenlied) zeitlich nachfolgenden ‚neuen‘ Text-Generation – gewertet werden kann.

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7. Schlussbetrachtung Die vorliegende Arbeit verfolgte das Ziel, die verschiedenen Perspektiven der Generationenthematik anhand ausgewählter Textbeispiele der späten Heldenepik herauszuarbeiten. Vor dem Hintergrund sowie in Korrelation genealogischer, familiengeschichtlicher, gender-spezifischer und gattungstheoretischer Überlegungen wurden die jeweiligen familialen Generationenbeziehungen innerhalb der Texte untersucht. Gleichzeitig standen die intratextuellen Beobachtungen stets in einem intertextuellen Zusammenhang, der die ‚genealogischen‘ Beziehungen zum Nibelungenlied, aber auch zu weiteren quasi verwandten Stoffkreisen thematisierte. Den übergreifenden Bezug und gemeinsamen Referenzrahmen der Texte bildete dabei die „Nibelungenlied- bzw. Kriemhild-Diskussion“. Die Arbeit ging davon aus, dass die Interpretation und Bewertung der jeweiligen Kriemhild-Konfiguration in einem engen Zusammenhang mit der Darstellung ihrer familialen Position und den daraus resultierenden differierenden Generationenbeziehungen steht. In diesem Kontext erwiesen sich die Diskurse von Familie, Verwandtschaft und Genealogie nicht nur als konstitutive und verbindende Faktoren der verschiedenen personalen Beziehungen, sondern fungierten gleichzeitig auch als textübergreifende zentrale Ordnungsmuster, mit deren Hilfe intertextuelle sowie überlieferungsund rezeptionsgeschichtliche Aspekte erklärt werden konnten. Die Kudrun dokumentiert besonders deutlich das Ineinandergreifen von genealogischen Bezügen, familialen Generationenbeziehungen und genderEntwürfen. Im genealogischen Bereich versucht der Text über ein besonderes Herrschergeschlecht Kontinuität durch die ideologische Einheit von Großvater, Tochter und Enkeltochter als Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu etablieren und damit erfolgreich einen generationenübergreifenden Herrschaftsanspruch zu sichern. Die Besonderheit des Textes liegt darin, dass Hilde und ihre Tochter Kudrun, d.h. zwei Frauen, die Legitimität der Herrschaft, die Kontinuität bzw. Lückenlosigkeit der Amtsnachfolge sowie das dahinter stehende Prinzip der surrogatio – Identität statt Wechsel bzw. Beständigkeit trotz personaler Vergänglichkeit – fortführen, wenn auch unter modifizierten Bedingungen in Relation zu ihrem Aszendenten Hagen. Korrelierend mit diesen unproblematischen genealogischen Strukturen wird anhand des Personenverbandes der Hegelingen ein stabiles, horizontal ausgerichtetes Netzwerk vorgeführt, das in auffallend harmonischer Weise Bluts- und Schwägerverwandte sowie Bündnispartner zu einer idealisierten

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Gemeinschaft der vriunde vereint. Die vorbildliche Gestaltung personaler Bindungen wird auch im kernfamilalen Bereich fortgesetzt: Kudrun kann gleichzeitig Hagens Nachfahrin, Hildes und Hetels Tochter, Ortwins Bruder sowie Herwigs Ehefrau sein, ohne Interessenskonflikte oder -überlagerungen auszulösen. Aufgrund der bedingungslosen triuwe zu ihrem Personenverband verweigert Kudrun in ihrer Gefangenschaft in Ormanie die Ehe mit Hartmut, nimmt dafür sogar ein Leben unter standesunwürdigen Bedingungen in Kauf. Erst in der Fremde wird ihre Figurenkonzeption mit einem Erzählmodell kombiniert, das an die Märtyrerinnen des Christentums erinnert. Durch das hagiographische Muster, das aktive Gewalt ausschließt, statt dessen passiven Widerstand, Erleiden und Ertragen idealisiert, wird ein vorbildliches Modell weiblichen Heldentums etabliert, das nicht in Konkurrenz zum Männlichkeitskonstrukt tritt und damit eine Antithese zur Darstellung der KriemhildFigur im Nibelungenlied bildet, die am Ende des Epos ihren Bruder Gunther hinrichten lässt und ihren Verwandten Hagen eigenhändig tötet. Gerade in familialer Hinsicht nimmt die Kudrun eine deutliche Gegenposition zum Nibelungenlied ein, das ein zutiefst pessimistisches Bild von der Wirkungsmacht konkurrierender und einander überlagernder kernfamilialer, verwandtschaftlicher und herrschaftlicher Interessen bietet. Im engsten Kreis der Burgundenfamilie – beginnend mit dem Mord an Siegfried und den darauffolgenden Verbrechen an Kriemhild – nimmt die Zersetzung personaler Beziehungen ihren Anfang, weitet sich aus und erreicht ihren Höhepunkt und ihr gleichzeitiges Ende mit dem finalen Verwandtenmord und dem Untergang einer ganzen Helden-Generation an Etzels Hof. In den verschiedenen Versionen des Rosengarten wird Kriemhild in einer anderen Familienkonstellation präsentiert, sie wird als verwöhnte Tochter vorgestellt, der der Vater keinen Wunsch, auch nicht den nach einem Turnier zwischen Wormsern und Bernern in ihrem Rosengarten abschlagen kann. Doch schon bald wird die Souveränität Kriemhilds gebrochen, ihre Figur isoliert. Ihre Isolation – ebenfalls elementarer Bestandteil ihrer Darstellung in Nibelungenlied und Klage – nimmt wiederum im engsten Familienkreis ihren Anfang bzw. beginnt mit der Kritik der Brüder, die dem Vater vorwerfen, dass er die Tochter verzogen habe. Die Version F bietet zusätzlich die Mutter Ute auf, die ihre Tochter verflucht und damit aus dem Familienverband ausstößt. Die Kritik an Kriemhild weitet sich auch auf den Verwandtschaftsverband und den Wormser Hofstaat aus, die ebenfalls ihren übermuot verurteilen. Die Protagonistin steht damit nicht nur den herausgeforderten Berner Helden, allen voran Dietrich, Hildebrand und Ilsan, sondern einer vereinten männlichdominierten Übermacht gegenüber (in der Version D versöhnen sich Berner und Wormser), die normtransgredierendes weibliches Verhalten bestraft. Anhand der Kriemhild-Figur statuiert der Rosengarten ein moraldidaktisches Exempel, indem vorgeführt wird, welche negativen Auswirkungen das Verhalten

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(sowohl im familialen als auch im herrschaftlichen Bereich) einer verzogenen Vater-Tochter haben kann und der vâlandinne (Ro A) – hier mit dem Nibelungenlied AB übereinstimmend – ihre ‚gerechte‘ Strafe zukommen lässt. Obwohl normtransgredierendes weibliches Verhalten im Text sanktioniert und dämonisiert wird, demonstriert Kriemhild gerade über ihre Negativität und die parodistische Brechung mariologisch-hagiographischer sowie minnesangtypischer Elemente eine gewisse Widerständigkeit, mit der sie die Regeln der heldenepischen Gesellschaft unterläuft und in Frage stellt. Ähnlich wie im Nibelungenlied sind nur „in dieser Negativität [...] Züge erkennbar, die Kriemhild von der Typenhaftigkeit des nibelungischen Personals sonst unterscheiden.“1 In Biterolf und Dietleib wird Kriemhild in einer weiteren Familienkonstellation vorgestellt. In Form einer heiteren Parodie werden die zerrütteten familialen Verhältnisse der Burgunden im Nibelungenlied durch entproblematisierte Personenbindungen ersetzt: Bezeichnenderweise sind die Eltern Gibich und Ute bereits verstorben, unter den Geschwistern Gunther, Gernot, Gieselher und Kriemhild ist von Rivalitäten oder Interessensüberlagerungen nichts zu bemerken und nicht einmal Kriemhild und Brünhild sind als Rivalinnen gezeichnet. In diesem Kontext wird Kriemhilds Figur vor allem – neben ihrer ‚Spiegelung‘ in Brünhild – auf die Rolle der Versöhnung Stiftenden reduziert. Auch wenn Kriemhild im Vergleich zum Nibelungenlied oder zum Rosengarten damit entlastet und entschuldigt wird, verharrt sie gleichzeitig in der Rolle einer Statistin. Obwohl der Fokus in Biterolf und Dietleib auf einen anderen Protagonisten, den jungen Dietleib, verlagert wird, scheint die konfliktfreie bzw. idealisierte familiale Situation der Burgunden mit der Intention des gesamten Werkes zu korrelieren: Die besondere Gestaltung der Generationenthematik in Biterolf und Dietleib liegt gerade darin, dass der Text zwar eine Vielzahl von klassischen familialen Konfliktsituationen (z.B. Verwandtenkampf, Vatersuche, Vater-Sohn-Kampf etc.) anzitiert, diesen jedoch innerhalb kürzester Zeit durch Schemabruch, Inversion, parodistische Umgestaltung usw. die Brisanz entzieht. An die Stelle dramatischer Generationenkonflikte rücken stattdessen Hinweise zur positiven Gestaltung von personalen und familialen Beziehungen. Die dazu notwendigen Strategien der Konfliktvermeidung und Deeskalation werden dabei vor allem über unproblematische bzw. ideale Konstruktionen von Familie, Verwandtschaft und gender verhandelt. Ähnlich wie in der Kudrun wird der junge Protagonist in Biterolf und Dietleib zusätzlich in einen weit zurückreichenden und stark vernetzten Verband der mâge und vriunde eingebunden, der sich durch uneingeschränkte Solidarität und triuwe auszeichnet. Im Hürnen Seyfrid erinnert Kriemhilds familiale Position in den Grundzügen an ihre Darstellung im Rosengarten; statt jedoch als verzogenes Herzblatt des Vaters gleichzeitig als ‚femme fatale‘ dämonisiert zu werden, erscheint 1

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Müller, Jan-Dirk (22005), S. 119.

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sie im Hürnen Seyfrid als vorbildliche, gehorsame Tochter, die, von negativen Eigenschaften befreit, dem Ideal einer christlichen Heiligen angenähert wird. Die im Nibelungenlied ambivalent skizzierte Figur Kriemhilds – als Opfer und Täterin, als treue Gattin und vâlandinne – gewinnt im Hürnen Seyfrid durch die hagiographische Ausrichtung an positiver Eindeutigkeit. Kriemhilds vorbildliche Darstellung bewirkt einerseits die Legitimation ihrer Rache, die der memoria Siegfrieds dient, andererseits unterstützt sie die Interpretation des Hürnen Seyfrid als positive Memorialüberlieferung des Nibelungenliedes. Parallel dazu wird ihre Figur allerdings auch – ähnlich wie in Biterolf und Dietleib – in den Hintergrund gerückt; besondere Aufmerksamkeit gilt hingegen dem männlichen Protagonisten Siegfried. Dessen Konflikt mit den Eltern zu Beginn des Textes wird genutzt, um seine Entwicklung zum vorbildlichen, hagiographisch stilisierten Herrscher besonders hervorzuheben. Über die Figur Siegfrieds wird ein genuin christliches Herrschaftsmodell zur Diskussion gestellt, das die blutsverwandtschaftlich orientierte Erbfolge durch spirituelle Nachfolge bzw. persönliche Eignung zu ersetzen versucht. Die verschiedenen, zum Teil widersprüchlichen Rollen, die die KriemhildKonfigurationen in den behandelten Werken einnehmen, stehen in einem wechselseitigen Verhältnis zu den ebenfalls heterogen skizzierten männlichen Heldentypen sowie zu den modifizierten narrativen Strukturen der Texte und implizieren über diese polyperspektivische Differenz eine Umakzentuierung, ein verändertes Bewusstsein gegenüber der heldenepischen Tradition bzw. zu ihrem Prätext, dem Nibelungenlied. Jan-Dirk Müller hat in seiner Abhandlung über den „Wandel von Geschichtserfahrung in spätmittelalterlicher Heldenepik“2 dargelegt, dass in bzw. mittels Heldenepik sich ansatzweise ein Bewusstsein historischer Distanz artikulieren und eine Vorstellung historischer Zusammenhänge ausbilden kann, die „weder heilsgeschichtlich überformt noch reichsgeschichtlich zentriert [...], eben deshalb aber auch von den normativen Vorgaben dominierender mittelalterlicher Geschichtsauffassung entlastet [sind].“3 Demzufolge löst sich seit dem 13. Jahrhundert die Heldenepik von einem Typus historischer Erfahrung ab, sie wird nicht mehr als „lebendige Vergangenheit“4 verstanden, stattdessen wird sie „literarisiert oder aber, wenn auch weit seltener, zur historisch-antiquarischen Überlieferung unter anderen. Das hängt mit ihrer Verschriftlichung zusammen, die zunächst weiterhin Austausch mit einer lebendigen mündlichen Tradition und Wechselwirkung zwischen Gegenwarts- und Vergangenheitsbewußtsein zuläßt.“5

2 3 4 5

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Müller, Jan-Dirk (1985). Ebd. S. 72. Graus, Frantisek (1975), S. 40. Müller, Jan-Dirk (1985), S. 73.

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Michael Curschmann hat die späte Heldendichtung in diesem Kontext als „Dichtung über Heldendichtung“6 bezeichnet, um den Abstand gegenüber dem älteren Typus, wie ihn das Nibelungenlied noch zum überwiegenden Teil verkörpert, zu verdeutlichen. Die Distanz zur heldenepischen Tradition wird durch einen spielerisch-experimentellen Umgang mit Situationstypen, Handlungsschemata, Darstellungsmitteln etc. ausgedrückt, der die freie Verfügbarkeit literarischer Stilmittel voraussetzt. Auch die in der vorliegenden Arbeit behandelten Texte dokumentieren die Verwendung verschiedener narrativer Muster wie dem Höfischen Roman oder dem hagiographischen Erzähltypus, die mit traditionellen heroischen Elementen vermischt werden oder – vor allem im Rosengarten und in Biterolf und Dietleib – parodistisch-persiflierend gebrochen werden können. Die Montage bzw. Variation, Kombination und Überblendung verschiedener Erzählschablonen erfolgt in den vorgestellten Texten allerdings nicht beliebig, sondern erweist sich als produktiver Versuch, um eine veränderte Sichtweise des Heroischen zu präsentieren: „Die Geschichten aus der Vorzeit wurden so ‚modernisiert‘ und dem Zeitgeschmack des Publikums – offensichtlich erfolgreich – angepasst.“7 Parallel dazu wird der Zusammenhang der Texte durch intertextuelle Bezüge zu verwandten Stoffkreisen über Namen, Figuren, Verwandtschaftsbeziehungen, Gegenstände oder sprachliche Formeln garantiert. In diesem Sinne fungiert die „Genealogie der Texte“8 einerseits als Mechanismus der Stabilisierung von Texten in der Ordnung der (heldenepischen) Literatur, andererseits bietet sie zugleich Anknüpfungspunkte und neue Deutungshorizonte für die Interpretation der alten mæren. In Anbetracht dieser mentalitätsgeschichtlichen und gattungspezifischen Veränderungen wird auch die Transformation des männlichen Heldenbildes verständlich: Die untersuchten Werke zeigen besonders anhand der Vertreter der ‚jungen‘ Generation (z.B. Hartmut, Herwig, Dietleib oder Siegfried) einen hybriden Heldentypus, der zwischen den Modellen von heldenepischem Krieger, höfischem Ritter und legendarischem Helden (im Falle Siegfrieds im Hürnen Seyfrid) oszilliert. Zwar sind bestimmte Züge wie absolutes Ehrempfinden, Rachsucht etc. noch vorhanden, aber die späten Helden sind nicht mehr grundsätzlich heroisch-gewaltbereit; Heldenzorn und Übermut werden vielmehr „zur Rolle, in die Personen situationsbedingt schlüpfen, und an ihnen setzen immer wieder Parodie und metatextuelle Perspektivierung an.“9 Daran anknüpfend müsste Simon Gaunts Befund der ‚monologischen Maskulinität‘ – das als charakteristisches Merkmal der chansons de geste gilt und sich über die Exklusion von Frauen, aber auch durch den Ausschluss abweichender 6 7 8 9

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Curschmann, Michael (1976) [1976 a], S. 21. Miklautsch, Lydia (2005), S. 11. Kellner, Beate (1999), S. 56. Kerth, Sonja (2002), S. 264.

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Schlussbetrachtung

Formen von Männlichkeit konstituiert – für die späte deutschsprachige Heldenepik modifiziert, wenn nicht gar revidiert werden. Zumindest in den untersuchten Texten wird Männlichkeit nicht nur durch die unterschiedlichen Ausprägungen hybrider Heldentypen, sondern auch durch die Relation zu den Frauenfiguren determiniert. Gerade durch die unterschiedliche und zugleich produktive literarische Darstellungsweise, mit der die vier analysierten, zeitnah entstandenen Werke das gemeinsame Thema – die „Nibelungenlied- bzw. Kriemhild-Diskussion“ – präsentieren, evozieren sie ein „dynamische[s] Spannungsverhältnis“10 und avancieren so zu einer ‚neuen‘ Text-Generation, die den Abstand zu den alten mæren des Nibelungenliedes deutlich macht. Damit eröffnet die in dieser Arbeit entwickelte textgenerationale Perspektive einen speziellen Zugang zu den behandelten Werken, mit deren Hilfe sowohl intertextuelle, genealogische und gattungsspezifische Faktoren als auch zeit- bzw. literaturgeschichtlicher Wandel und Kontinuität erfasst werden kann.

10 Mannheim, Karl (21970), S. 558.

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8. Literaturverzeichnis 8.1. Siglen DHB DLZ DVjs HRG

Deutsches Heldenbuch Deutsche Literaturzeitung Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geisteswissenschaft Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte. Hrsg. von Adalbert Erler und Ekkehard Kaufmann. 5 Bde. Berlin 1971-1998 LCI Lexikon der Christlichen Ikonographie. Hrsg. u.a. von Engelbert Kirschbaum, Wolfgang Braunfels. 8 Bde. Rom/Freiburg u.a. 1971-1994 Lexer Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Von Matthias Lexer. 3 Bde. Stuttgart 1872-1878. Nachdruck Stuttgart 1979 LiLi Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik LMA Lexikon des Mittelalters. 10 Bde. München/Zürich 1980-1999 MLGG Metzler Lexikon Gender Studies/Geschlechterforschung. Hrsg. von Renate Kroll. Stuttgart/Weimar 2002 PBB Paul und Braunes Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur PHG Pöchlarner Heldenliedgespräch RDL Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 2. Hrsg. von Harald Fricke. Berlin/ New York 32000 VL Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearbeitete Auflage. Hrsg. von Kurt Ruh [ab Bd. 9: von Burghart Wachinger]. 13 Bde. Berlin/New York 1978-2007 Vulgata Biblia Sacra Vulgata. Editio quinta. Hrsg. von Robert Weber und Roger Gryson. Stuttgart 2007 ZfdA Zeitschrift für Deutsches Altertum ZfdPh Zeitschrift für Deutsche Philologie

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212 A BuD DF DHB E HS K KG Kl Lau NL Parz Ra Ro Ths V W Wd Wig

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Literaturverzeichnis

Alpharts Tod Biterolf und Dietleib Dietrichs Flucht Deutsches Heldenbuch Eckenlied Hürnen Seyfrid Kudrun König Rother Nibelungenklage Laurin oder Kleiner Rosengarten Nibelungenlied Parzival Rabenschlacht Rosengarten zu Worms oder Großer Rosengarten Thidrekssaga Virginal Waltharius Wolfdietrich Wigalois

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Primärliteratur

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8.2. Primärliteratur Biterolf und Dietleib. In: Deutsches Heldenbuch I. Biterolf und Dietleib. Hrsg. von Oskar Jänicke. Laurin und Walberan, mit Benutzung der von Franz Roth gesammelten Abschriften und Vergleichungen [hrsg. von Karl Müllenhoff ]. Berlin 1866. Neudruck Berlin/Zürich 1963. Biterolf und Dietleib. Neu herausgegeben und eingeleitet von André Schnyder. Bern und Stuttgart 1980. Brestowsky, Carl: Der Rosengarten zu Worms. Versuch einer Wiederherstellung der Urgestalt. Stuttgart 1929. Das Deutsche Heldenbuch. Nach dem mutmaßlich ältesten Drucke neu herausgegeben von Adelbert von Keller. Stuttgart 1867. Neudruck Hildesheim 1966. Das Eckenlied. Sämtliche Fassungen. Hrsg. von Francis Brévart. 3 Bde. Tübingen 1999. Das Hildebrandslied. In: Althochdeutsche Literatur. Mit Proben aus dem Altniederdeutschen. Herausgegeben, übersetzt, mit Anmerkungen und einem Glossar von Horst Dieter Schlosser. Frankfurt am Main 1989. S. 264-267. Das Jüngere Hildebrandslied. In: Deutsche Volkslieder. Balladen 1. Hrsg. von John Meier. Berlin/Leipzig 1935. S. 1-21. Das Lied vom Hürnen Seyfrid nach der Druckredaction des 16. Jahrhunderts. Mit einem Anhang: Das Volksbuch vom gehörnten Siegfried nach der ältesten Ausgabe (1726). Hrsg. von Wolfgang Golther. Halle an der Saale 21911. Das Lied vom Hürnen Seyfrid. Critical Edition with Introduction and Notes by K. C. King. Manchester 1958. Das Nibelungenlied. Paralleldruck der Handschriften A, B und C nebst Lesarten der übrigen Handschriften. Hrsg. von Michael Stanley Batts. Tübingen 1971. Das Nibelungenlied nach der Handschrift C. Hrsg. von Ursula Hennig. Tübingen 1977. Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch. Hrsg. von Helmut de Boor. (= Deutsche Klassiker des Mittelalters). Wiesbaden 1996. Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor. Ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse. Stuttgart 1997. Der Heldenbuch in der Ursprache. Hrsg. von Friedrich Heinrich von der Hagen und Alois Primisser. Bd. I und II. Berlin 1820 und 1825. Der hürnen Seufrid. Tragoedie in sieben Acten von Hans Sachs. Hrsg. von Edmund Goetze. Tübingen 21967. Der wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria. Hrsg. von Heinrich Rückert. Nachdruck der Ausgabe von 1852. Berlin 1965. Deutsches Heldenbuch II. Alpharts Tod, Dietrichs Flucht, Rabenschlacht. Hrsg. von Ernst Martin. Berlin 1866. Neudruck Dublin/Zürich 1967. Deutsches Heldenbuch III und IV. Ortnit und die Wolfdietriche. Nach Karl Müllenhoffs Vorarbeiten hrsg. von Arthur Amelung und Oskar Jänicke. Berlin 1871. 1873. Neudruck Dublin/Zürich 1968.

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Literaturverzeichnis

Deutsches Heldenbuch. Nach dem ältesten Druck in Abbildung. Hrsg. von Joachim Heinzle. I . Abbildungsband. II. Kommentarband. Göttingen 1981 und 1987. Die Edda. Götterdichtung, Spruchweisheit und Heldengesänge der Germanen. Übertragen von Felix Genzmer, eingeleitet von Kurt Schier. Köln 1987. Die Gedichte vom Rosengarten zu Worms. Hrsg. von Georg Holz. Halle an der Saale 1893. Die Geschichte Thidreks von Bern. Übertragen von Fine Erichsen. Darmstadt 1967. Die Legenda Aurea des Jacobus de Voragine. Aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Benz. Heidelberg 101984. Die Nibelungenklage. Synoptische Ausgabe aller vier Fassungen. Hrsg. Von Joachim Bumke. Berlin/New York 1999. Dietrichs Flucht. Textgeschichtliche Ausgabe. Hrsg. von Elisabeth Lienert und Gertrud Beck. Tübingen 2003. Fridankes Bescheidenheit. Hrsg. von Heinrich E. Bezzenberger. Neudruck der Ausgabe von 1872. Aalen 1962. Gottfried von Straßburg. Tristan. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg. von Rüdiger Krohn. 3 Bde. Stuttgart 1984. König Rother. Mittelhochdeutscher Text und neuhochdeutsche Übersetzung von Peter K. Stein. Hrsg. von Ingrid Bennewitz unter Mitarbeit von Beatrix Kroll und Ruth Weichselbaumer. Stuttgart 2000. Kudrun. Die Handschrift. Hrsg. von Franz H. Bäuml. Berlin 1969. Kudrun. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch. Hrsg. von Karl Stackmann (= Deutsche Klassiker des Mittelalters). Tübingen 52000. Laurin und der kleine Rosengarten. Hrsg. von Georg Holz. Halle an der Saale 1897. Nordische Nibelungen. Die Sagas von den Völsungen, von Ragnar Lodbrok und Hrolf Kraki. Hrsg. und mit einem Nachwort von Ulf Diederichs. Köln 1985. Ortnit und Wolfdietrich D. Kritischer Text nach Ms. Carm 2 der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main. Hrsg. von Walter Kofler. Stuttgart 2001. Rabenschlacht. Textgeschichtliche Ausgabe. Hrsg. von Elisabeth Lienert und Dorit Wolter. Tübingen 2005. Sonntag, Cornelie: Sibotes „Frauenzucht“. Kritischer Text und Untersuchungen (= Hamburger Philologische Studien Bd. 8). Hamburg 1969. Virginal. In: Deutsches Heldenbuch V. Dietrichs Abenteuer von Albrecht von Kemenaten nebst den Bruchstücken von Dietrich und Wenezlan. Hrsg. von Julius Zupitza. Berlin 1870. Neudruck Dublin/Zürich 1968. Waltharius. Lateinisch/Deutsch. In: Frühe Deutsche Literatur und Lateinische Literatur in Deutschland. 800-1150. Hrsg. von Walter Haug und Konrad Vollmann. Frankfurt am Main 1991. S. 163-260. Kommentar S. 1169-1222. Wirnt von Grafenberg. Wigalois. Text der Ausgabe von J. M. N. Kapteyn. Übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach. Berlin/New York 2005.

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Primärliteratur

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Wolfram von Eschenbach. Parzival. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach der Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung und Nachwort von Wolfgang Spiewok. Stuttgart 22000. Zwei unberücksichtigte mittelhochdeutsche Laurin-Versionen. Untersucht und hrsg. von Thorsten Dahlberg. Lund 1948.

8.3. Sekundärliteratur Aghassian, Michel / Augé, Marc u.a. (Hgg.): Les domaines de la parenté. Filiation/alliance/résidence. Paris 1975. Althoff, Gerd: Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im frühen Mittelalter. Darmstadt 1990. Althoff, Gerd: Demonstration und Inszenierung. Spielregeln der Kommunikation in mittelalterlicher Öffentlichkeit. In: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Hrsg. von Gerd Althoff. Darmstadt 1997 [1997 a]. S. 229-257. Althoff, Gerd: Verwandtschaft, Freundschaft, Klientel. In: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Hrsg. von Gerd Althoff. Darmstadt 1997 [1997 b]. S. 185-198. Althoff, Gerd: Empörung, Tränen, Zerknirschung. Emotionen in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters. In: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Hrsg. von Gerd Althoff. Darmstadt 1997 [1997 c]. S. 258-281. Althoff, Gerd: Vom Lächeln zum Verlachen. In: Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und früher Neuzeit. Hrsg. von Werner Röcke und Hans Rudolf Velten. Berlin 2005. S. 3-16. Ariès, Philippe: Geschichte der Kindheit. München 1975. [Original: L‘enfant et la vie familiale sous l‘ancien régime, 1960]. Arnold, Klaus: Kind und Gesellschaft im Mittelalter und Renaissance. Paderborn 1980. Arnold, K.: Art. „Kind“. In: LMA 5 (1991). Sp. 1142-1145. Assmann, Jan: Das Kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1999. Bachtin, Michail: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. von Rainer Grübel. Frankfurt am Main 1979. Bachtin, Michail: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hrsg. von Edward Kowalski und Michael Wegner, aus dem Russischen von Michael Dewey. Frankfurt am Main 1989. Baisch, Martin / Mecklenburg, Michael u.a. (Hgg.): Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts. Göttingen 2003. Bartsch, Karl: Der Rosengarten. In: Germania 4 (1859). S. 1-33.

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Literaturverzeichnis

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9. Anhang 9.1. Personen und Verwandtschaftsverhältnisse in der Kudrun Hagen – Sohn von Siegeband und Ute – Herrscher von Irland; verheiratet mit Hilde von Indien – Vater von Hilde; Großvater von Kudrun und Ortwin Hilde – Tochter von Hagen und Hilde; Ehefrau von Hetel; Mutter von Kudrun und Ortwin Ortwin – Bruder Kudruns; wird nur als „ir [Kudruns] bruoder“ (K 689,4) o.Ä. bezeichnet, nie als „Hagene künne“ wie Kudrun – Herrscher von Nordland (K 1371) – heiratet später Hartmuts Schwester Ortrun (K 1649) Kudrun – Tochter von Hetel und Hilde; Schwester von Ortwin; Ehefrau Herwigs – Irolt und Morung (die „mînes vater Hetelen mâge“; K 1175,4) sowie Wate und Frute sind ihre Verwandten bzw. „friunde“ (K 1183,4); Wate wird auch als Kudruns „künne“ (K 1307,3), Horant als der „neve“ Kudruns (K 1181,1) bezeichnet

Kudruns Bezeichnungen vor und nach ihrer Entführung (nicht aufgeführt sind Formulierungen wie „diu edele Kûdrûn“, „diu küneginne“, „daz kint“ etc.): – „Hetelen tohter“: 587 (Erzähler); 1015 (Gerlind); 1030 (Erzähler) – „Hetelen kint“: 970 (Gerlint); 1000 (Gerlind); 1525 (Erzähler) – „des küneges tohter“: 963 (Erzähler) – „Waten künne“: 1307 (Erzähler) – „maget von Hegelingen“: 1242 (Kudrun) – „Kûdrûnen von Hegelinge lant“: 1019 (Erzähler) – „der minniclîchen dâ her von Hegelingen“: 1327 (Erzähler) – „ûz Hegelinge lant dem Hilden kinde“: 1533 (Erzähler) – „Hilden tohter“: 580 (Erzähler); 594 (Hartmut); 740 (Hartmut); 959 (Erzähler); 977

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Personen und Verwandtschaftsverhältnisse in der Kudrun

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(Erzähler); 1052 (Gerlind); 1178 (Erzähler); 1268 (Erzähler); 1289 (Hartmuts Botschafter); 1473 (Erzähler) ; 1510 (Erzähler); 1630 (Erzähler) – „Hilden kint“: 1511 (Wate); 1508 [nach Bartsch:1516] (Erzähler); 1533 (Erzähler) – „dô spâch diu Hilden tohter“: 959; 1178; 1199; 1233; 1268; 1330; 1482; 1517; 1632; 1651; 1653 – „Hagenen künne“: 614 (Hartmut); 1030 (Kudrun selbst); 1270 (Erzähler); 1281 (Erzähler); 1486 (Kudrun selbst) – „mîner muoter tohter“: 997 (Kudrun selbst) Hetel – Kudruns und Ortwins Vater; Ehemann Hildes – Herrscher von Hegelingen – Hetel nennt Frute „neve“ (K 220,4) – Hetel nennt Wate „neven“ (K 515,4) Wate – Herrscher von Sturmland – ist der Erzieher bzw. Pflegevater von Hetel (K 205) – nennt Horant „neve“ (K 254,1); Horant ist Wates „swester kint“ (K 206,1) – ist der „friund“ (K 1183,4) von Kudrun – ist Kudruns „künne“ (K 1307,3) – nennt Frute seinen „neven“ (K 1467,4) – ist der Erzieher bzw. Pflegevater von Ortwin (K 574) – nennt Ortwin seinen „neven“ (K 1558,1) Horant – Herrscher von Dänemark – Horant ist Wates Neffe (sein „swester kint“, K 206,1) – der Kämmerer Hildes ist der Cousin von Horant („‘mîn vater und sîn muoter / diu wâren eines vater kint‘“, K 414,3f.) – Horants Mutter ist Hetels „swester“ (K 1112,3): Horant ist damit Hetels Neffe und Kudruns Cousin (damit wären allerdings auch Wate und Hetel Brüder; diese Konstellation wird allerdings von der Forschung als ‚Fehler‘ oder Ungenauigkeit des Textes/Autors interpretiert1) – Horant ist der „neve“ Kudruns, K 1181,1) – ist einer von Kudruns „næhstez künne“ (K 1541,4)

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Vgl. Rasmussen, Ann Marie (1997), S. 100. Anm. 17.

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Anhang

Frute – Herrscher in Dänemark – Verwandter Hetels – etwa so alt wie Wate; Frute nennt Horant „neve“ (K 251,1) – ist der „friund“ (K 1183,4) von Kudrun Morung – Herrscher von Nifland/Waleis – „künne“ von Hetel (K 272,4) – Horant und Morung sind „neven“ (K 419,1) Irolt – Herrscher von Friesland – „künne“ von Hetel (K 272,4) – nennt Wate seinen „ôheim“, K 492,4 Herwig – Herrscher von Seeland – Ehemann Kudruns – hat eine (namenlose) Schwester (K 1651ff.); diese heiratet später Siegfried von Morland (K 1665) Siegfried – Herrscher von Morland – seine Eltern entstammen verschiedenen Völkern bzw. Religionen, evtl. ist ein Elternteil sogar christlicher Konfession (K 1664,1-3) Hartmut – Sohn von Gerlind und Ludwig von Ormanie – seine Schwester heißt Ortrun; diese heiratet später Kudruns Bruder Ortwin

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Personen und Verwandtschaftsverhältnisse in der Kudrun

9.1.1. Stammbaum zur Kudrun

Irland Ger ∞ Ute

Siegeband ∞ Ute

Hagen ∞ Hilde

(Hegelingen) Hetel ∞ Hilde

Schwester

(Seeland) Herwig ∞ Kudrun



(Morland) Siegfried

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(Normandie) Ludwig ∞ Gerlind

Ortwin ∞ Ortrun

Hartmut



Hildeburg

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Anhang

9.2. Personen und Verwandtschaftsverhältnisse im Rosengarten Version A Die 12 Berner Helden: – Amelolt (kämpft gegen Gunther; Ro A 303ff.) ist allgemein als Vater von Wolfhart, Sigestab und Alphart sowie als Schwager Hildebrands bekannt2: wird von Hildebrand als „bruoder“ (Ro A 102) bezeichnet; Dietrichs „held“ (Ro A102) – Dietleib (kämpft gegen Walther; Ro A265ff.) und Walther werden „eitgesellen“ (Ro A 276,4); ist der Sohn Biterolfs (Ro A 267) und ein „held“ Dietrichs – Dietrich (kämpft gegen Siegfried; Ro A 350ff.) ist der Herrscher von Bern (Ro A 12); sein Bruder Diether (namentlich nicht genannt) wird kurz erwähnt, ist aber in Worms nicht mit dabei (Ro A 327,2) – Eckehart (kämpft gegen Hagen; Ro A 288ff.) ist ein „held“ Dietrichs (Ro A 100) – Heime (kämpft gegen den Riesen Schrutan; Ro A 215ff.) ist ein „held“ Dietrichs (Ro 97) – Helmschrot (kämpft gegen Gernot; Ro A297ff.) ist ein „held“ Dietrichs (Ro A 101) – Hildebrand (kämpft gegen Gibich; Ro A 311ff.) ist Ilsans Bruder (Ro A 104), Amelolts Schwager und Sigestabs, Alpharts und Wolfharts Onkel; einer der 12 „helden“ Dietrichs – Ilsan (kämpft gegen Studenfuchs; Ro A 257ff.) ist der Bruder von Hildebrand (Ro A 152,3); einer der 12 „helden“ Dietrichs – Ortwin (kämpft gegen Volker; Ro A 280ff.) ist ein „held“ Dietrichs (Ro A 99) – Sigestab (kämpft gegen den Riesen Ortwin; Ro A 207ff.) ist der Neffe Hildebrands (Ro A 198,2); ein „held“ Dietrichs – Witege (kämpft gegen den Riesen Asprian; Ro A 238ff.) ist ein „held“ Dietrichs (Ro A 98) – Wolfhart (kämpft gegen den Riesen Pusolt; Ro A 198ff.) ist der „neve“ von Hildebrand (Ro A 198,2) und ein „held“ Dietrichs (Ro A 95) Die 12 Wormser Helden: – Gunther ist der Bruder Kriemhilds (Ro A 295); „held“ Kriemhilds (Ro A 6) – Gernot ist der Bruder Kriemhilds, Ro A 307; „held“ Kriemhilds (Ro A 6) – Gibich ist der Vater von Kriemhild, Gernot und Gunther (Ro A 1ff.); König in Worms; einer der 12 „helden“ Kriemhilds (Ro A 6) – Hagen ist ein „held“ Kriemhilds (Ro A 7) – Pusolt (Riese) und Ortwin (Riese) sind Brüder (Ro A 205,2) und Neffen des Riesen Schrutan (Ro A 214,3 „mînes bruoder kint“); daher sind Schrutan und Asprian Brüder (explizit in Ro P3) 2 3

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Vgl. Gillespie, George T. (1973), S. 6. Vgl. ebd. S. 7.

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Personen und Verwandtschaftsverhältnisse im Rosengarten

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– Siegfried ist der Verlobte Kriemhilds (Ro A 3) und „held“ Kriemhilds (Ro A 9) – Studenfuchs vom Rhein ist ein „held“ Kriemhilds (Ro A 9) – Walther vom Wasgenstein ist ein „held“ Kriemhilds (Ro A 8) – Volker von Alzeie ist ein „held“ Kriemhilds (Ro A 7)

Version D Die 12 Berner Helden: – Dietleib (ist Gotelinds „swesterkint“, Ro D 88,2; Gotelind ist Rüdigers Gattin, Ro D 246) kämpft gegen Stüfing (Ro D 277); Dietleib ist ein „held“ Etzels (Ro D 75) – Dietrich kämpft gegen Siegfried (Ro D 514ff.); ist Dietmars Sohn und Diethers Bruder (Ro D 484; 82); wurde nach dem Tod des Vaters dem Hildebrand empfohlen (Hildebrand war Dietrichs Erzieher; Ro D 485) – Dietrich von Griechenland („held“ Etzels; Ro D 74) kämpft gegen Herbort (Ro D 280) – Hartnit von Riuzen („held“ Etzels; Ro D 74) kämpft gegen Walther (Ro D 394) – Heime („held“ Dietrichs; Ro D 73) kämpft gegen Schrutan (Ro D 336) – Hildebrand kämpft gegen Gibich (Ro D 552ff.); Hildebrant ist der „ôheim“ von Wolfhart (Ro D 50,1), Sigestab (Ro D 81) und Alphart (Ro D 53); auch umgekehrt nennt Hildebrand seinen Neffen Wolfhart „ôheim“ (z.B. Ro D 478,1 und Ro D 276,2); seine Gattin Ute wird erwähnt (Ro D 41); Ilsan ist sein Bruder (Ro 95); wurde Dietrich von dessen Vater empfohlen (Ro D 485) – Ilsan kämpft gegen Volker (Ro D 446ff.); Ilsan ist Hildebrands Bruder (Ro D 95) und „man“ bzw. „held“ Dietrichs (Ro D 78, 100) – Rüdiger kämpft gegen Gernot (Ro D 386ff.); Rüdigers Gattin Gotelind (Ro D 246) und sein Sohn Nudung werden erwähnt (Ro D 320); „held“ Etzels (Ro D 73) – Sigestab kämpft gegen Rienolt (Ro D 411ff.); Sigestab ist Amelolts Sohn und Hildebrands (und Ilsans) Neffe (Ro D 81; 127); „held“ Dietrichs (Ro D 71) – Vruote von Dänemark kämpft gegen Gunther (Ro D 359ff.); „held“ Etzels (Ro D 72) – Witege kämpft gegen Asprian (Ro D 320ff.); „held“ Dietrichs – Wolfhart kämpft gegen Hagen (Ro D 92ff.); Wolfhart ist Amelolts Sohn und Hildebrands (und Ilsans) Neffe (Ro D 81, 125); Wolfhart ist der Bruder Alpharts und Sigestabs (Ro D 53, 81); ist einer von Dietrichs „helden“ (Ro D 72) Die 12 Wormser Helden: – Asprian (Riese) ist ein „held“ Gibichs – Gernot ist Gibichs Sohn (Ro D 27) und einer der 12 Helden – Gibich ist König von Burgund (Ro D 8), Vater von Gunther, Gernot, Kriemhild (Ro D 27); einer der 12 Helden (Ro D 43) – Gunther ist der Sohn Gibichs (Ro D 27); einer der 12 Helden (Ro D 44)

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Anhang

– Hagen ist Aldrians Sohn (Ro D44); schließt mit seinem Gegner Wolfhart „vriuntschaft“ (Ro D 605,1); ist einer der 12 Helden (Ro D 44) – Herbort ist ein „held“ Gibichs (Ro D 47) – Rienold ist ein „held“ Gibichs (Ro D 47) – Schrutan (Riese) ist ein „held“ Gibichs (Ro D 46) – Siegfried ist einer der 12 Helden Gibichs; Kriemhilds Verlobter (Ro D 68) – Stüfing ist ein „held“ Gibichs (Ro D 45) – Volker ist ein „held“ Gibichs (Ro D 45); ist Kriemhilds „swestersun“ (Ro D 45; in Version h ist Volker Brünhilds „swestersun“) – Walther ist ein „held“ Gibichs (Ro D 44)

Version F – Kriemhilds Mutter (Ro F IV;24ff.) kritisiert die Tochter – Dietleib und Nudung sind „neven“ von Dietrich (Ro F III;19 und Ro F IV;22) – Harlungenbrüder sind Dietrichs „vetern kint“ (Ro F III;16)

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Personen und Verwandtschaftsverhältnisse in Biterolf und Dietleib

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9.3. Personen und Verwandtschaftsverhältnisse in Biterolf und Dietleib Dietleib – Sohn Biterolfs und Dietlinds (BuD 182); hat eine Schwester (im BuD namenlos, Schwester erst BuD 4203f. erwähnt) – über seine Mutter (Biterolf bezeichnet Dietleibs mütterliche Verwandtschaft als „sîner muoter künne“, BuD 4581) mit Dietrich von Bern verwandt – ist der „neve“ Dietrichs (BuD 12518) – verwandt mit dem Amelungen Berchtung („sîn künne“, BuD 4761); Dietrichs Geschlecht und seine Männer werden Amelungen genannt (BuD 5174); in Dietrichs Flucht ist Amelung der Großvater (DF 2408) Dietrichs von Bern – ist verwandt mit den Harlungenbrüdern Fritele und Imbrecke („künne“, BuD 4761ff.); Fritele bezeichnet Dietleib als „der neve mîn“ (BuD 9808); die Harlungen sind zugleich auch Dietrichs „neven“ (BuD 5717) – ist verwandt mit Ermrich (Ermrich ist der „veter“ von Dietrich von Bern, BuD 12915); in Dietrichs Flucht sind Diether, Ermrich und Dietmar (Dietrichs Vater) die Söhne Amelungs (DF 2410) Dietlind – Mutter Dietleibs und seiner Schwester, Ehefrau Biterolfs – Tochter König Diethers, sie ist „Diethêres kinde“ (BuD 4146, 4266) – ist vermutlich Schwester der Harlungen, denn die beiden Harlungenbrüder Fritele und Imbrecke sind z.B. in Dietrichs Flucht die Söhne Diethers (DF 2470ff.) – Dietlind ist die „base“ von Dietrich (BuD 12529) – Ermrich und Diether werden als Brüder bezeichnet (BuD 4592) Biterolf – verheiratet mit Dietlind, hat zwei Kinder: „einen sun und ouch ein tohterlîn“ (BuD 4204) – seine Schwester ist die Mutter von Walther (BuD 671) Walther – ist Biterolfs Neffe, der Sohn seiner Schwester (BuD 671); Walter nennt Biterolf „oheim“ (BuD 683) – ist Dietleibs Cousin (Dietlind sagt zu Dieteib: „Walthêr [...] ist dîner basen suon‘“, BuD 2107f.)

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Anhang

Gotelind – verheiratet mit Rüdiger; haben gemeinsamen Sohn Nudung (BuD 3335f.) – mit Dietlind verwandt; Gotelind nennt Dietlind „‘der lieben vetern tochter mîn‘“ (BuD 5575): d.h. Diether, der Vater Dietlinds, ist Gotelinds Onkel / Cousin / Verwandter (väterlicherseits) – Tochter Gêres (BuD 6089) – Gotelind ist „niftel“ von Dietrich (Dietrich berichtet: „‘Gotelint, die nîftel mîn‘“, BuD 11551) Rüdiger – verheiratet mit Gotelind; Vater von Nudung – Rüdiger beschreibt sein Verwandtschaftsverhältnis zu Dietleib als „nâhe[n] sippe“ (BuD 4234); nennt Biterolf „künne“ (BuD 4100) und „gesipten friunt“ (BuD 4165) Hildebrand – ist der alte Erzieher von Dietrich von Bern (BuD 7987) – Wolfhart ist der „neve“ (BuD 8979) von Hildebrand (im allgemeinen sind Wolfhart, Sigestab und Alphart Brüder; sie sind die Söhne von Hildebrands Schwester4) – ist verwandt mit Weichnant (BuD 10324) und mit Wolfwein (BuD 12932) Wolfhart – „neve“ Hildebrands (BuD 8979) – ist verwandt mit Rienold (BuD 8226), Wolfwein (BuD 6358) und Sigestab (BuD 11595)

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Vgl. Gillespie, George T. (1973), S. 151.

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Personen und Verwandtschaftsverhältnisse in Biterolf und Dietleib

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9.3.1. Gegner und Verbündete beim schâch von Wormez Dietleib wird unterstützt: – von seinem Vater Biterolf – von seinem Onkel Dietrich und dessen Gefolgsleuten/Anführern: Hildebrand und dessen „neve“ Wolfhart; die Brüder Gerbart und Weichart (BuD 5249, 11562); Helferich, Sigeher, Ritschart, Wolfbrant, Wolfwein und sein „neve“ Sigestab (BuD 5247ff.) u.a. – von seinem Großonkel Ermrich: Dieser schickt sein Heer unter Berchtung, Witege, Heime, Lutwar und Sabene als Anführer (BuD 5187ff.) zur Unterstützung des DietleibHeeres – von seinen Verwandten (Onkeln), den Harlungenbrüdern Fritel und Imbrecke und ihren Gefolgsleuten (Harlungen genannt): Wachsmut (BuD 4769), Regentag (verwandt mit Wachsmut und Eckehart; BuD 10239); Rimstein; Hache (verwandt mit Wachsmut, BuD 12208) – von Sonstigen/befreundeten Sympathisanten: u.a. die Brüder Astolt und Wolfrat (BuD 1051); die Brüder Rienolt und Randolt (BuD 4601) – von Etzels Leuten (Etzel selbst nicht in Worms dabei), die von Rüdiger von Bechelaren (verwandt mit Dietleib) angeführt werden; Rüdigers Bruder Blödel (BuD 4936); seine Männer: Ramung, Hornboge, Gibeche, Schrutan von Meran, Sigeher, Gotele (BuD 4939ff.); Hadebrand von Steier (BuD 10754) – von Exilanten am Etzel-Hof, die mit nach Worms ziehen und von Helche ausgeschickt werden: Harwart von Dänemark (BuD 4957, 5291), Irnfried von Thüringen (BuD 4959, 5293), Iring von Lothringen (BuD 4961, 5287)

Gunther wird unterstützt: – von seinen Brüdern Gernot und Giselher, von seinem „vetern sun“ (BuD 60008) Ortwin von Metz und von seinem „neven“ (BuD 2763) Hagen (Hagen ist der „neve“ von Ortwin von Metz, BuD 9176) sowie von seinem Schwager Siegfried – von seinen Gefolgsleuten Sindold, Hunold (der Sindolds „neve“ ist, BuD 10357) und Rumold (BuD 10554) – von seinen ‚getäuschten‘ Gästen: u.a. Walther von Spanien, Stutfuchs von Palermo, Herbort von Dänemark, die Brüder Witzlan und Poytan von Bayern, Nantwein, den Brüdern Else und Gelphrat, den Brüdern Ludeger und Ludegast (BuD 6216ff.)

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Hildegund ∞Walther

Alpher ∞ Schwester

Schwester

Harlungen

Ermrich

Die Position von Dietrichs Schwester bzw. Gotelinds Mutter ist so zwar nicht explizit belegt, aber möglich.

Dietleib

Biterolf ∞ Dietlind

Diether

Amelung

Dietrich

Dietmar

Nudung

Gotelind ∞ Rüdiger

Schwester

246 Anhang

9.3.2. Stammbaum zu Biterolf und Dietleib

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