Negotiatio Germaniae: Tacitus' Germania und Enea Silvio Piccolomini, Giannantonio Campano, Conrad Celtis und Heinrich Bebel 9783666252570, 3525252579, 9783525252574

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German Pages [284] Year 2005

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Negotiatio Germaniae: Tacitus' Germania und Enea Silvio Piccolomini, Giannantonio Campano, Conrad Celtis und Heinrich Bebel
 9783666252570, 3525252579, 9783525252574

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Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben

Herausgegeben von Albrecht Dihle, Siegmar Döpp, Dorothea Frede, Hans-Joachim Gehrke, Hugh Lloyd-Jones, Günther Patzig, Christoph Riedweg, Gisela Striker Band 158

Vandenhoeck & Ruprecht

Christopher B. Krebs

Negotiatio Germaniae , Tacitus Germania und Enea Silvio Piccolomini, Giannantonio Campano, Conrad Celtis und Heinrich Bebel

Vandenhoeck & Ruprecht

Verantwortlicher Herausgeber: Siegmar Döpp

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 3-525-25257-9  Hypomnemata ISSN 0085-1671

© 2005, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Gesamtherstellung: Hubert & Co. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Meinen Eltern Bodo & Tove T. Krebs

Inhalt

Vorwort ...............................................................................................

11

1. Einleitung: Ausgangspunkt, Weg, ZieL.........................................

13

1.1

Eine imago logische Studie der Varianz der imago Germaniae ................................................................

16

1.2

Ausgangspunkt: die Forschungsliteratur ..............................

22

1.3

Methode: Imagologie, Mythos und negotiatio Germaniae ...

26

2. Tacitus' imago Germaniae aus der Perspektive ihrer Wirkungsgeschichte ...............................................................

31

2.1

Germania Taciti Romana: rhetorische Ethnographie .......... . 2.1.1 Die Penetranz des Eigenen ................................. . 2.1.2 Interpretatio Romana und Interpretatio Tacitea ...

34 41 50

2.2

Corpus nomenque Germaniae: imaginäre Geographie ......... 2.2.1 Caesars Geographie Germaniens als Rechtfertigung seiner Germanienpolitik .............. . 2.2.2 Tacitus' Konstruktion Germaniens und die Fortführung imperialer Expansion ....................... .

56

2.3

69

Mira diversitas Germanorum: die >Germania< und das Problem der Idealisierung ...................................... . 81 2.3.1 Ambivalenz existentieller Werte ......................... . 86 Einfachheit: simplicitas ...................................... .. 2.3.1.1 89 2.3.1.2 Freiheit: libertas ........................ .......................... . 99 2.3.1.3 Tugend: virtus...................................................... 102 2.3.2 Antinomie kultureller Werte: libertas an pax? ..... 106

3. Negotiatio Germaniae: humanistische Adaptationen der taciteischen imago Germaniae ................................................. 3.1

58

Enea Silvio Piccolomini: Stigmatisierung der >Germania< und Barbarisierung Germaniens........................................... 3.1.1 Wegbereiter des Humanismus. ............................. 3.1.1.1 Enea Silvios Rezeption der >GermaniaGermania< ........... Enea Silvios Strategie und intendierte Leser ........ Germania vetus: die heidnische Barbarei ............. Germania nova: die christliche Renaissanceherrlichkeit. ....................................... Das Reich unter Karl dem Großen ........................ Enea Silvios Beitrag zur negotiatio Germaniae ....

Giannantonio Campano: die alternative Lesart der >Germania< ................................................................... . 3.2.1 Agent provocateur? ............................................ .. 3.2.l.1 Manipulationen der >Germania< in der Regensburger Rede? ........................................... . 3.2.2 Das Bild Deutschlands im 6. Epistelbuch ............ . 3.2.2.1 Campano in Tomis .............................................. . 3.2.2.2 Exil als literarische Form: Stilisieren, Konstruieren, Parodieren ..................................... . 3.2.2.3 Die Briefe vor dem Hintergrund der Exiltypologie 3.2.3 Campanos Regensburger Rede ............................ . Auf den Spuren Enea Silvios .............................. .. 3.2.3.1 3.2.3.2 Fortissimi Germani: Tacitus' >Germania< als ahistorisches Dokument.. .............................. .. 3.2.4 Campanos Beitrag zur negotiatio Germaniae ....... Conrad Celtis: Vindikation der >Germania< und Rehabilitation Germaniens................................................... 3.3.1 Humanismus als Frage nationaler Verantwortung 3.3.1.1 Spuren der taciteischen >Germania< in der >Germania generalis< und dem Gedicht Am. 2.9... 3.3.2 Celtis' >Germania generalis< ................................ 3.3.2.1 Die >Germania generalis< im Kontext der negotiatio Germaniae ...... ...... .............................. 3.3.2.2 Die doppelte Edition und das Problem der Zeitlichkeit..................................................... 3.3.2.3 Die >Germania generalis< als Kontrapunkt zur >Germania< Enea Silvios ........ ..............................

127 127 128 131 138 138 143 147 153 155 157 157 159 162 162 166 172 180 180 184 189 190 190 196 200 200 201 205

Inhalt

3.3.3 3.3.3.1 3.3.3.2 3.3.3.3 3.3.3.4 3.3.3.5 3.3.4 3.4

Das Gedicht Am. 2.9: die Elsulaschelte................ Das Problem mehrdeutiger Intertextualität ........... Der nationalisierte Zeitaltervergleich ................... Exkurs: der exclusus amator in Am. 1.14............. Die Spezifität dieser Gegenwartskritik: vitia Italorum ....................................................... Die Spezifität dieser laus temporis acti: der mos maiorum ................................................. Celtis' Beitrag zur negotiatio Germaniae .............

Heinrich Bebei: Reevaluation der >Germania< und Idealisierung Germaniens .................................................... 3.4.1 Der Humanist im Dienste der Memoria................ 3.4.2 Die Widmungsepistel der >proverbia GermanicaGermania< als Dokument sittlicher Integrität 3.4.2.2 Gesetzlosigkeit: die Umwertung eines Imagems.. 3.4.2.3 Die Umwertung der taciteischen imago................ 3.4.2.4 Der Triumph des Patrioten über den Humanisten: proverbia pro litteris .... ............ ........................... 3.4.3 Die Rede vor Maximilian..................................... 3.4.3.1 Panegyrische Geschichte - ein Beispiel............... 3.4.3.2 Vergessene Helden: das Problem der inopia scriptorum und Bebeis Memorialschriften ........... 3.4.3.3 Das germanische Imperium: Freiheit, Autochthonie, Moralität.. .................................... 3.4.4 Bebeis Beitrag zur negotiatio Germaniae.............

9 211 211 213 217 218 222 225 226 226 231 231 232 234 236 238 238 241 243 249

4. Fazit............................................................................................... 251 5. Anhang .......................................................................................... 257 5.1

5.2

5.3

Textbeigaben ......................... .......... ..... .... ......... ....... ........... 5.1.1 Ein Auszug aus Enea Silvios Brief an Martin Meyr (8. August 1457)......................... 5.1.2 Der Brief des Conrad Leontorius.......................... 5.1.3 Celtis' Gedicht Am. 2.9 ....................................... Bibliographie....................................................................... 5.2.1 Werke antiker Autoren......................................... 5.2.2 Werke humanistischer Autoren ............................ 5.2.3 Kommentare ........................................................ 5.2.4 Forschungsliteratur .............................................. Register ...............................................................................

257 257 258 259 264 264 264 265 266 278

Vorwort

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, welche im Sommersemester 2003 der philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel vorlag. Die seitdem erschienene Literatur konnte nicht mehr berücksichtigt werden. Herrn Prof. Dr. Konrad Heldmann, meinem verehrten Lehrer und Doktorvater, möchte ich an diesem Ort meine Dankbarkeit aussprechen. Zwar ist es bekanntlich besser, nichts als zu wenig zu sagen. Ich erlaube mir aber dennoch, ihm dafür zu danken, daß er diese Arbeit in all ihren Phasen mit der ihm eigenen Sorgfalt und Seriosität betreut hat; vor allem aber dafür, daß er dem Verfasser viele der Kenntnisse vermittelt hat, welche die Durchführung eines solchen Projektes überhaupt erst ermöglichen. Ebenfalls zu danken habe ich Herrn Prof. Dr. Thomas Haye, dem Zweitgutachter dieser Arbeit, der sie mit großem Interesse begleitet, durch aufmerksame Kritik gefördert hat, sowie Herrn Prof. Dr. Christopher Pelling, der mir in Oxford so viele Türen geöffnet und den ersten Teil dieser Arbeit um manche Ideen bereichert hat. Frau Prof. Dr. Christina Kraus und Herr Prof. Dr. Olaf Mörke haben mich ebenfalls jeweils auf ihre Art unterstützt. Herrn Prof. Dr. Siegmar Döpp danke ich dafür, meine Arbeit für die Aufnahme in die Reihe der Hypomnemata vorgeschlagen zu haben. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft danke ich für die großzügige finanzielle Förderung meines Dissertationsvorhabens, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst für die Finanzierung meines Aufenthaltes in Oxford und dem »Clark Fund« der Harvard University für den Druckkostenzuschuß. Meine Dankbarkeit möchte ich auch Herrn Engelbert Prolingheuer aussprechen, dem Philologen und dem Freund, sowie Frau Dr. Elizabeth Mann, ohne deren Geduld, Anteilnahme und Nachsicht diese Arbeit ungleich schwerer gewesen wäre. Gewidmet aber ist diese Arbeit meinen Eltern, Tove T. und Bodo Krebs.

Cambridge (Mass.), im April 2004, Christopher B. Krebs.

1. Einleitung: Ausgangspunkt, Weg, Ziel

Tacitus' imago Germaniae (Bild Germaniens) wird in dieser Studie zum einen daraufhin untersucht, wie sie von dem römischen Senator und Historiographen aus der ethnographischen Tradition heraus in seiner >Germania< konstruiert worden ist; zum anderen daraufhin, wie sie von italienischen (Enea Silvio Piccolomini und Giannantonio Campano) und deutschen Humanisten (Conrad Celtis und Heinrich Bebei) rezipiert und gemäß deren jeweils übergeordnetem Argumentationsziel hinsichtlich sowohl der Vergangenheit (als Bild Germaniens) als auch der Gegenwart (als Bild Deutschlands l ) adaptiert worden ist. Die oft und zu Recht bestaunte Wirkungsgeschichte der taciteischen Schrift,2 die gleich nach ihrer Wiederentdeckung mit den hier zu betrachtenden Humanisten in ihre erste Phase tritt, ist die Geschichte der z.T. konfliktträchtigen Instrumentalisierungen der darin entfalteten imago und ihrer Imageme 3 zur Darstellung nicht nur der Germanen-Deutschen, sondern oft auch anderer noble savages: Als W.H. Auden und Louis MacNeice in den 30er Jahren ihre Letters from Iceland verfaßten, fUgten sie ihnen »Sheaves from Sagaland« aus früheren Reiseberichten über Island bei, die oft genug den taciteischen Idealtyp einer einfachen, harten, aber anständigen Existenz widerspiegeln. Bisweilen meint man gar Allusionen zu erkennen, wie im Falle von Richard Burtons Beschreibung der isländischen wilden blauen Augen (truces et caeruli oculi): »A very characteristic feature ofthe race is the eye, dure and cold as a pebble.«4 1 Die Verwendung des Begriffs »Deutschland« ist natürlich anachronistisch (zu diesem Problem s. die Einleitung zu Kap. 3), die des Begriffs »Germanien« (anders als Germania) problematisch (s. Kap. 2.l.); gleichwohl werden sie hier im Vertrauen darauf verwandt, daß weder mit Germanien noch mit Deutschland eine Nation assoziiert wird. 2 In den Worten Rides: )mn livre mince, mais gros de consequences« (1966, S. 492); die einzige nachweisliche Rezeption der )Germania< im Mittelalter (in Rudolfvon Fuldas Translatio sancti Alexandri (vor 865)) blieb wirkungslos und kann daher im Rahmen dieser Arbeit übergangen werden. Zu der hier nur angedeuteten Wiederentdeckung der opera minora: S. 18 (mit Fn. 21). 3 Swiderska (2001, insbes. S. 128) hat diesen Terminus in Analogie zum Begriff des Mythologems gebildet (insbes. S. 14) und als Einzelelement der imago (die sie als »Imagotheme« bezeichnet) definiert. Zur Methode dieser Arbeit und zur Präzisierung der Begriffe: Kap. l.3. 4 Auden / MacNeice: Letters from Iceland, London 1985, S. 58-88; Burton (Ultima Thule, 1875) ist zit. aufS. 61; oculi: Tac. Germ. 4. Zum Bild Islands in der Literatur um die Jahrhundertwende: »Generalizing, we can say that there is a tendency to perceive Iceland as a model of a ficti-

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Negotiatio Germaniae

Neben dieser literarischen Wirkmächtigkeit hat die >Germania< auch wiederholt auf politischer Ebene Wirkungen gezeitigt: Die Germanenideologie des Nationalsozialismus - die ihrerseits der Kulminationspunkt einer beinahe 450jährigen Entwicklung des Germanen-Mythos war5 - berief sich auf diese römische Schrift als historische Quelle der alten Germanen, so daß es nur konsequent war, daß sich die SS darum bemühte, den Codex Aesinas aus Italien »heim ins Reich« zu holen. 6 Stellte diese nationalsozialistische Verflechtung von Literatur und Politik auch den traurigen Scheitelpunkt innerhalb der Wirkungs geschichte dar denn nach 1945 hat man von der nationalistischen Interpretation der >Germania< zumeist entschieden Abstand genommen7 -, so gilt doch, daß die kleine Schrift des Tacitus gleichsam von der Stunde ihrer Wiederauffindung an ein Politikum war und immer wieder für nationalistische und chauvinistische Ziele verwandt wurde: Celtis' pränationalistischer Rückgriff auf diese Schrift als Dokument der Vergangenheit und Prisma seiner Gegenwart wird später genauer analysiert, auf ihre Bedeutung innerhalb der Reformation und während der napoleonischen Kriege soll hier nur hingewiesen werden. 8

tious Germanic past, and travellers such as Morris and Auden approached it with reverenceGermania< hatte oft politische Implikationen. 9 Dabei beschränkte sich ihre Wirkmacht keineswegs auf deutsche Literaturwissenschaftier noch auf solche Arbeiten, die unmittelbar die >Germania< zum Gegenstand hatten: Innerhalb der französischen Geschichtswissenschaft des späten 19. Jahrhunderts - so ist überzeugend argumentiert worden lO - sind die gegensätzlichen Positionen Ernest Renans und Fustels de Coulanges hinsichtlich der Auswirkungen der germanischen Völkerwanderungen des 5. Jahrhunderts auf die französische Entwicklung letztlich auf ihre differenten Bewertungen der imago Germaniae Taciti zurückzuführen. Fustels Bemühung der Demontage des Mythos des germanischen Einflusses geht einher mit seiner Verweigerung der üblichen moralistischen Lesart der >GermaniaGermania< formal wie material durch die griechische ethnographische Tradition bestimmt ist. Diese Traditionsverhaftung, die sich hinsichtlich der Form in der Befolgung der ethnographischen Topik,14 hinsichtlich des Stoffes, der konkreten Aussagen, in den von Norden sogenannten »Wandermotiven«15 zeigt, wird seit dem Ende des zweiten Weltkrieges innerhalb der Klassischen Philologie kaum mehr bestritten, zumal sie durch archäologische Be-

Criticism und New Historicism ist nicht - wie dies in Darstellungen zur Literaturtheorie so häufig geschieht - das exklusive »odenGermania< näher einzugehen sein. 15 »Man könnte von ethnographischen Wandermotiven sprechen: Konnten wir doch früher das Motiv >eines nur sich selbst gleichenden Volkes< von Ägypten über Skythien nach Germanien verfolgen«: Norden (1920, S. 139).

Einleitung: Ausgangspunkt, Weg, Ziel

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funde l6 gestützt worden ist. Die Forschung hat sich seitdem darauf konzentriert, die >Germania< mehr als »literarisches Kunstwerk« zu würdigen und die von Tacitus vorgenommenen Attribuierungen als literarische Motive zu . 17 erweIsen. Wenn die taciteische Schrift in dieser Arbeit nochmals untersucht wird, so darum, weil einerseits eine fundierte Untersuchung der imago Germaniae der genannten Humanisten in der taciteischen ihren Anfang nehmen muß - es mag daher verwundern, daß dies in nahezu allen Rezeptionsstudien versäumt worden ist. 18 Andrerseits soll aus der Perspektive der Rezeption der Frage systematisch nachgegangen werden, welche Eigenschaften eine imago aufweisen muß, die zu solch z.T. widersprüchlichen Adaptationen instrumentalisiert werden konnte; denn die im zweiten Teil dieser Arbeit zu untersuchende negotiatio Germaniae (Verhandlung um die >Germania< / Germanien) steht mit den folgenden Spezifika der taciteischen >Germania< in untrennbarem Zusammenhang: Neben der singulären Ausführlichkeit in der Darstellung der germanischen Moralität sind dies die vermeintliche Authentizität der Darstellung aus der Feder eines römischen Historikers, sein Konzept einer germanischen Staatlichkeit und schließlich seine ambivalente Darstellung germanischen Lebens. 19

16 Die Kommentatoren Lund (1988), Perl (1990) und Rives (1999) weisen Behauptungen des Tacitus, die den ermittelten Sachverhalten widersprechen, ad loc. aus. 17 Darauf hatte Wissowa (1922, S. 58) verwiesen: »Was die Germania etwa als Quellenbuch [ ...] an Wert verlieren sollte, gewinnt sie als literarisches Kunstwerk.« Zu den literarischen Motiven s. z.B. Städele (1996), der das taciteische »obiectu pectorum« als literarisches Motiv ausweist. Von See (1994, S. 45f.) hat die kritische Frage gestellt, ob nicht der von Tacitus geschilderte Komitat kopiert worden sei aus der entsprechenden Schilderung der keltischen Institution bei Caesar oder bei Strabo. Die Traditionsverpflichtung hat mit allem Nachdruck auch Perl (1990, S. 37) unterstrichen: »Da Tacitus am Ende einer langen Kette ethnographischer Tradition steht, ist es nahezu unvermeidlich, daß wir auf Schritt und Tritt den Motiven und Darstellungsmitteln dieser Gattung begegnen.« 18 Die Ausnahme ist hier Ride (1977); bei der Lektüre seiner Überlegungen zur >Germania< kann man sich allerdings nur schwer des Eindrucks erwehren, er habe sie mit (großer) Hilfestellung der Einleitung der Bude-Edition (von Jacques Perret, erstmalig 1949) unternommen; s. Kap. 1.2. 19 »Ajoutons qu'a la difference de toutes les autres sources latines sur les Germains [ ...] la Germanie consiste presque exclusivement en une peinture de mceurs [ ... ]«: Ride (1966, S. 493). Zur Bedeutung der Ambivalenz: Krapf (1979, S. 48), jedoch ohne diese an der >Germania< zu belegen; zur Relevanz des Eindrucks einer Staatlichkeit: Hose (2001, hier: S. 298f.), jedoch ebenfalls nur im Vorübergehen und ohne Auskunft darüber, worin diese Bedeutung bestehe. Zum »veritable[n] nationale[n] Interesse an einer interpretatio Romana des alten Germanien«: Muhlack (1989, S. 139). Ist die interpretatio Romana heutzutage ein gewichtiger Grund, die Objektivität der Darstellung in Zweifel zu ziehen (s. Kap. 2.1), so war sie z.B. für Bebel Garant ftir die Objektivität positiver Aussagen! In diesem Zusammenhang ist aber auch der Problemkomplex der »inopia scriptorum« zu nennen, auf den ich in den Kapp. 3.3.1 und insbes. 3.4.3.2 zu sprechen komme.

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Negotiatio Germaniae

Diese Charakteristika der taciteischen imago Germaniae, welche die späteren Instrumentalisierungen überhaupt erst ermöglichen, zumindest aber vereinfachen, werden im Verlauf des zweiten Kapitels innerhalb der >Germania< verortet und dann - unter Hinzuziehung der beiden anderen opera minora - als Basis fiir tentative Interpretationen genommen, welche Probleme Tacitus erörtert haben mag, als er sich an die Abfassung seiner ethnographischen Schrift machte. Denn je weiter die taciteische Ethnographie von der »germanischen« Wirklichkeit fortrückt, desto interessanter wird die Frage nach den Motiven ihrer Ab-Bildung. Die Wandermotive machten bei Tacitus nicht halt, sie wanderten weiter und hinterließen eindeutige Spuren in der Literatur der frühen Neuzeit: Zwar schrieb noch 1428 ein enttäuschter Poggio Bracchiolini: Cornelius Tacitus schweigt bei den Deutschen (Cornelius Tacitus si/et inter Germanos),20 nachdem er sich vergeblich im Süden Deutschlands um die Beschaffung der opera minora bemüht hatte; aber ca. 30 Jahre später konnte sich Enea Silvio auf die gerade wiederentdeckte Schrift des römischen Historikers berufen, um - entgegen der Behauptung Martin Meyrs und dem durch diesen lediglich verlautbarten Sentiment des deutschen Adels und Klerus in seinem später in Anlehnung an Tacitus De ritu, situ, moribus et conditione Germanie betitelten Brieftraktat den Nachweis zu erbringen, daß die deutsche Gegenwart der germanischen Vergangenheit überlegen sei. Hiermit nahm die faszinierende Geschichte eines Mythos ihren Anfang. 21 Enea Silvios programmatische Äußerung zu Beginn des zweiten Buches ist überaus instruktiv, zum einen weil seine dort explizierte Methode der Synopse von Vergangenheit und Gegenwart Schule machen sollte;22 zum andern weil darin in aller Deutlichkeit der Zusammenhang zwischen den imagines (Bildern) der Vergangenheit und Gegenwart mit dem Argumentationsziel hergestellt wird: Du wünschst, daß Deutschland den Anschein erwecke, es sei - obschon ehedem überaus reich und mächtig - (nun) jedoch durch die Gepflogenheiten der römischen Kurie, das heißt ihre Raubzüge, in Armut und tiefste Machtlosigkeit gestürzt worden. Hierin widersprechen wir Dir nicht weniger als in den übrigen Punkten. Denn das deutsche Volk ist weder arm noch machtlos noch, wie Du sagst, geknechtet; und selbst wenn dem so sein sollte, so darf die römische Kurie nicht beschuldigt werden, 20 neque quicquam exinde novi percepi de ejus operibus: Epistel vom 11.09.1428 ([Nr.19, S. 218], in: Poggii Epistolre, Florenz 1963). 21 Zur tatsächlichen Rezeption der taciteischen >Germania< durch Enea Silvio: Kap. 3.1.1.1. Die Wirren der Wiederentdeckung und die Rolle des Enoch von Ascoli sowie die Frage des Codex, ob Hersfeldensis oder Fuldensis, sind oft thematisiert worden; einen sorgfältigen Überblick und eine ausgewogene Erörterung sowie weiterfLihrende Literatur bietet Perl (1990, S. 53-59). 22 Zu dieser Vorbildfunktion Enea Silvios: Joachimsen (1983, S. 282).

Einleitung: Ausgangspunkt, Weg, Ziel

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als sei sie die Ursache dieser Armut. Um das eindeutig nachzuweisen, müssen wir vor allem das alte Germanien mit dem heutigen vergleichen. Daraus wird hervorgehen, daß Deutschland niemals so mächtig und so reich gewesen ist wie heute. Quam [i.e. Germaniam}, licet olim ditissima et potentissimafoerit, his tarnen Romane curie moribus seu rapinis ad inopiam summamque impotentiam deductam esse videri cupis. Adversamur in hac re tibi non minus quam in ceteris. Nam neque pauper est Germanica natio neque impotens neque, ut tute ais, ancilla, neque, si sir, Romana curia culpanda est tanquam eius inopie causa. Quod ut manifestius declaremus, ostendendum imprimis est, quenam fuerit olim Germania et que sit hodie. Quo facto liquebit numquam Germanici nominis eas foisse vires aut opes, quales sunt hodie. 23

Mit Hilfe seiner im Verlaufe seines Traktates erstellten spezifischen Bilder der vergangenen primitiv-brutalen Barbarei und der paradiesischen Renaissancegegenwart gelingt es Enea Silvio in der Tat, sein Argumentationsziel einzuholen, der Norden solle der Kurie in Rom angesichts ihrer zivilisatorischen Leistung keine Vorwürfe machen, sondern eher Dank bekunden. Es überrascht kaum, daß Humanisten nördlich der Alpen diese Darstellung als Provokation zur Gegendarstellung aufgefaßt haben; und nicht ohne Grund ist spekuliert worden, daß es fiir die Fortentwicklung des germanischen Mythos wohl wichtiger war, daß sich der Italiener Enea Silvio der taciteischen Schrift so eindeutig tendenziös im Sinne seiner Argumentation bediente, als ihre bloße Wiederentdeckung. 24 Enea Silvio hatte schon zuvor - und zwar 1454 in seiner Frankfurter )} Türkenrede« und ohne Kenntnis der taciteischen >Germania< - spezifische Bilder der Vergangenheit und Gegenwart Deutschlands derart miteinander in Bezug gesetzt, daß den anwesenden deutschen Fürsten Enea Silvios Aufforderung, sie vor allen anderen müßten in diesem Konflikt die Initiative ergreifen, plausibel erscheinen mußte: Ihre Vergangenheit würde sie gleichsam dazu verpflichten. 25 Eine Gegenüberstellung der Bilder der >Germania< 23 Enea Silv. Germ. 2.1 und Schmidt (1962, S. 87, dessen Übersetzung aber lückenhaft ist). 24 Jacob Wimpfeling (Responsa §7, zit. nach Schmidt (1962, S. 130)) hat den Grund der Schänmalerei des Kardinals, der ja beinahe zwanzig Jahre seines Lebens in Deutschland verbracht hatte, gesehen: Verumtamen Eneas illustrissimam patriam nostram [ ..] munificis laudibus extulit, ut preconiis forte dulcibus illecti ad fidelissimas suaeque nacioni profuturas admoniciones benignius aures nostras accommodemus [ ..]. Zur Bedeutung Enea Silvios für die Rezeptionsgeschichte und die Geschichte des germanischen Mythos: Tiedemann (1913, S. 5f. u. S. 25ff.), Joachimsen (1910, S. 27-35), Paul (1936, S. 40), Rid6 (1980). Krali (1995, S. 619) liest in der >Germania< Enea Silvios sogar den Anfang des Endes des Romanozentrismus: »L'umanesimo tedesco prelude alla fine deli' universalismo romanocentrico ed il documento dei Piccolomini [Le. La Germania], ben lungi dalle intenzioni dell'autore, ne testimonia il tramonto e ne diventa, suo malgrado, I'epitaffio.« 25 Enea Silvios berühmte Oratio de Constantinopolitana clade et beUo contra Turcos congregando ist Gegenstand einer eingehenden Analyse in Kap. 3.1.2. »A travers la mise en relation des

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Negotiatio Germaniae

Enea Silvios und seiner oratio fördert signifikante Differenzen zutage; und wieder anders ist das Bild Deutschlands in Enea Silvios Briefen an seine zumeist italienischen Korrespondenten. 26 Aus ihrem jeweiligen Kontext gelöst und zum Deutschlandbild des Autors hypostasiert, widersprechen die Bilder einander derart, daß der Versuch einer verbindlichen Aussage über das Deutschlandbild Enea Silvios schlechterdings scheitern muß; jedoch innerhalb ihres argumentativen Kontextes machen diese Bilder Sinn, weil sie als Argument das jeweilige Beweisziel zu erreichen helfen. Finis persuadere dictione: Der Zweck der Rhetorik ist seit jeher die Überzeugung durch die Rede, und Authentizität ist - so hätte Campano seinen deutschen Kritikern, die sich über den Widerspruch zwischen dem Deutschlandbild seiner Rede und dem seiner Briefe entrüsteten, entgegnen können - keine rhetorische Kategorie. 27 Alle hier untersuchten Autoren waren brillante Oratoren, und die überzeugende demonstratio (Veranschaulichung) - sei es einer Person, einer Zeit oder eines Ortes - ist seit jeher eine bekannte rhetorische Technik. Die Einzelanalysen werden zeigen, wie diese Technik jeweils eingesetzt worden ist. Und auch wenn z.B. das Epistolarium Campanos oder Celtis' >Amores( (Liebeserfahrungen) offensichtlich keine Reden sind, so sind sie doch oratorische Texte, welche die Frage erlauben, ob die darin erstellten Bilder über den jeweiligen Kontext, die jeweiligen Diskurse und deren Regeln begründet werden können. 28 Unter dieser Voraussetzung kann die imago Germaniae, wie sie Campano in den Briefen an seine italienischen Freunde vom zeitgenössischen Deutschland entwirft, rekonstruiert werden als eine witzig-ironische Bestätigung der stereotypen italienischen Erwartungen mit Hilfe ovidischer Exillyrik. Beide Bilder Campanos sind »Argumente«, nur was er wirklich von Deutschland gehalten hat, vermögen wir nicht zu sagen.

Germains et des Allemands, c'est une le90n de rhetorique interessee que donne E.S. Piccolomini a ses hötes, en leur montrant que la glorification d'ancetres, meme lointains, peut servir d'argument dans un debat d'actualite politiqueGermania< und somit um Germanien (als deutsche Vergangenheit) meint. 32 Im Verlaufe der negotiatio wandelt sich die >Germania< von der Invektive zum Enkomion: Enea Silvio stigmatisiert Tacitus' 29 Helmrath (2000) geht dieser politisierenden Instrumentalisierung humanistischer Bildung im Kontext der »Turci-Teucri-Diskussion« nach; Müller (1982) untersucht die Funktionen der docti am Hofe Maximilians und ihre Bedeutung innerhalb seiner Propaganda (insbes. S. 48-79). 30 Es handelt sich hierbei um die Epistola de laude atque philosophia Germanorum veterum, die im Kap. 3.4.2 ausftihrlich besprochen wird. 31 Celtis und Bebel (hierzu: Kapp. 3.3.1. u. 3.4.3.2) wissen - wie zahlreiche andere deutsche Humanisten (hierzu: Tiedemann (1913, insbes. S. 8-16)) - um die Wichtigkeit literarischer Repräsentation (oft zitiert (so auch bei Bebei) ist Sallusts Diktum, Catil. 8.4). Beide verstehen ihre Darstellungen GermanienslDeutschlands als dezidiert patriotischen Versuch, der militärischen Macht der Germanen-Deutschen den ihr gebührenden literarischen Ruhm zu bereiten. Zum »patriotic humanismGermania< durch ausschließliche Betonung der positiven Eigenschaften reevaluiert und infolgedessen die germanische Vergangenheit idealisiert. Campanos literarische Bilder fugen sich insofern in dieses Schema, als er zum einen mit seiner positiven Adaptation der taciteischen Schrift deutschen Humanisten eine alternative Lesart eigentlich erst erschließt; zum anderen repräsentiert er durch die in seinem Epistolarium konstruierte imago eben die italienische Auffassung von Germanien-Deutschland, gegen welche deutsche Humanisten anzuschreiben müssen meinten. Bisweilen sind die Kontexte so komplex und/oder das Beweisziel des Autors so unspezifisch, daß die sorgfaltige Rekonstruktion der darin fungierenden imago Aufschlüsse lediglich über die verschiedenen Diskurse, auf welche die imago Antworten gibt, zuläßt, ohne daß ein eindeutiger Zusammenhang hergestellt werden könnte zwischen dem einen Beweisziel und dem verbildlichten Argument. Dann wieder - wie im Falle der hier untersuchten Reden Enea Silvios, Campanos und Bebeis - bereitet die Rekonstruktion keine Schwierigkeiten, weil das Beweisziel explizit genannt ist. Die jeweilige imago Germaniae auf ihre Imageme hin zu analysieren, zu kontextualisieren und mit Hilfe dieses Kontexts soweit als möglich zu erklären, um somit einen Einblick in die negotiatio Germaniae zu gewinnen, ist Ziel dieser Studie.

1.2 Ausgangspunkt: die Forschungsliteratur Felice Ramorino hat sich am Ende des 19. Jahrhunderts mit seiner wenig beachteten Studie Cornelio Tacito nelta storia delta cultura der humanistischen Rezeption der taciteischen >Germania< zugewandt. Da er den deutschen Humanisten kaum Beachtung schenkte, folgte ihm wenig später Paul Joachimsen nach,33 der in seiner bahnbrechenden Arbeit Tacitus im deutschen Humanismus mit groben Strichen die Rezeption erst bei Enea Silvio und Campano als den Wegbereitern der deutschen Tacitusrezeption, dann 33 Ramorino (1898 (1. Aufl. 1890)); Joachimsen (1983, S. 275-96; urspr. 1911).

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bei Celtis, A ventin, Rhenanus und von Hutten darstellte. Die Mehrzahl seiner Erkenntnisse wird bis heute nicht bestritten. Aus der Vielzahl der im Anschluß an Joachimsen erschienenen Arbeiten34 werden im folgenden die für diese Arbeit wichtigsten summarisch vorgestellt: Hans Tiedemann gibt in seiner Arbeit Tacitus und das Nationalbewusstsein der deutschen Humanisten am Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts einen kenntnisreichen Überblick über die von deutschen Humanisten hinsichtlich vieldiskutierter Fragen ihrer Zeit bezogenen Positionen; vor allem ihre selektive Rezeption der taciteischen >Germania< kann anhand des Materials leicht nachvollzogen werden. 35 Für die von Tiedemann untersuchten Lemmata sowie für die Wirkung der taciteischen Schrift stellt seine Studie nach wie vor ein unverzichtbares Hilfsmittel dar. Ulrich Pauls Studien zur Geschichte des deutschen Nationalbewußtseins im Zeitalter des Humanismus und der Reformation verfolgen das Ziel, »eine chronologische Zusammenstellung des im 15. und 16. Jahrhundert in Deutschland umgehenden nationalen Gedanken- und Vorstellungsgutes« zu bieten. 36 Im Anschluß an eine Würdigung der Bedeutung Brunis und Biondos wendet er sich dem kaum zu überschätzenden Einfluß Enea Silvios und dann Campanos zu; mit großer Umsicht weist er die Rezeption ihrer Werke in den Arbeiten deutscher Humanisten nach und stellt deren Reaktionen vor. Auch den Spuren der taciteischen >Germania< folgt er nach; überhaupt vermittelt er einen guten Eindruck von dem Ideen- und Zitatenfluß innerhalb der von ihm untersuchten Periode humanistischer Kommunikation. Peter Amelung verfolgt mit seiner sorgfältig durchgeftihrten und auf extensiver Quellenarbeit basierenden Studie das Ziel, dasjenige Bild zu untersuchen, »das sich die Italiener der Renaissance vom deutschen Menschen in ihrer Literatur gemacht haben.«37 Das von ihm gesichtete Material wird erst chronologisch (»Die Entwicklung und Fixierung des italienischen Deutschlandbildes«), dann typologisch (»Die einzelnen Züge des Deutschlandbildes«) dargeboten. Da jedoch die taciteische >Germania< auf das Deutschlandbild der italienischen Renaissance keinen nennenswerten Einfluß aus34 Neben den besprochenen und in Fn. 45 genannten Arbeiten sind hier anzuführen: Theobald Bieders erster Band seiner Geschichte der Germaneriforschung (1921), Jürgen v. Stackelbergs Tacitus in der Romania (1960), Else-Lilly Etters Tacitus in der Geistesgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts (1966), Klaus von Sees Deutsche Germanenideologie vom Humanismus bis zur Gegenwart (1986) und Frank Borchardts German antiquity in Renaissance myth (1971). In diesen Arbeiten findet sich allerdings zu der hier verfolgten Fragestellung eher wenig. 35 »Man sieht, Tacitus wurde mit Vorsicht benutzt und nur da geschätzt, wo er sich für die Germanen günstig äußerte«: Tiedemann (1913, S. 64). 36 Paul (1936, S. 12). 37 Amelung (1964, S. 21).

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geübt habe,38 beschränkt er sich auf Andeutungen hinsichtlich ihrer Verwendung bei Enea Silvio und Campano, die ihrerseits - und hier folgt Amelung Paul - hinsichlieh ihres Beitrages zum Deutschlandbild untersucht werden. Da es Amelung um die dominante Vorstellung von »dem« Deutschen bei den Italienern über die Dezennien hinweg zu tun ist, wird trotz des historistischen Interesses39 an der Beziehung von historischem Ereignis und zählebigen Stereotypen nicht das Deutschlandbild eines Textes um seiner selbst willen in extenso rekonstruiert, sondern im Hinblick auf die Stereotypik analysiert. Daher endet Amelungs Überblick oft dort, wo diese Untersuchung einen Einblick zu gewinnen sucht. Die zweifelsohne wichtigste Arbeit stammt von Jacques Ride: In seiner monumentalen Studie L 'image du Germain dans la pensee et la litterature Allemandes de la redecouverte de Tadte Cl la fin du XVJeme siecle verfolgt er das ambitiöse Ziel, dem moment germanique in seiner wiederholt identitätsstiftenden Funktion innerhalb der deutschen Geschichte des ausgewiesenen Zeitraums nachzugehen. Sein Interesse gilt dabei vornehmlich den Fragen, wann die Neugier der Deutschen für ihre antike Vergangenheit erwachte und »dans quelles conditions elle [i.e. cette curiosite pour leur antiquite, Anm. v. Verf.] a pu naitre et sous quelles formes elle s'est fixee dans la conscience collective de nos voisins.«4o Nach einer vergleichsweise kurzen Durchsicht der Jahrhunderte vor der Wiederentdeckung der taciteischen >Germania< bespricht er diese insoweit, als er die Charaktereigenschaften der Germanen kompiliert und im Anschluß daran Tacitus unter folgenden Überschriften bespricht: l'artiste, l'ethnographe, le primitiviste et le moraliste. 41 Daran anschließend untersucht er den Beitrag der von ihm ausgewählten Autoren zum Mythos. Das Beeindruckende der Arbeit Rides markiert zugleich ihre Schwäche; die große Anzahl der von ihm berücksichtigten Quellen geht auf Kosten der Genauigkeit der Einzeldarstellungen, in denen oft nur angedeutet wird, was eine ausfiihrliehe Darstellung verdient hätte, und oft übergangen wird, was

38 Amelung (1964, S. 64f.). 39 Amelung (1964, S. 35): »Der Reiz der Untersuchung dieses Bildes liegt vor allem im Aufspüren des Wechselspiels zwischen historisch-politischer Konstellation, konkreten politischen Anlässen und entsprechenden Schwankungen der Schärfe des Bildes.« 40 Ride (1977, S. 9). 41 Die hier von Ride präsentierten Beobachtungen und Beurteilungen lehnen sich eng an die Einleitung Perrets in der Bude-Edition (1983, urspr. 1949) an, wie dies schon an den Überschriften abgelesen werden kann.

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im Kontext der Fragestellung dieser Arbeit von Interesse ist. 42 Außerdem geht es ihm primär um die Kontinuität des moment germanique, so daß die Variabilität und Funktionalität des Deutschlandbildes in Abhängigkeit von dem spezifischen Diskurs nicht untersucht wird. Ludwig Krapfs Arbeit Germanenmythos und Reichsideologie befaßt sich - wie vom Untertitel angegeben - mit frühhumanistischen Rezeptionsweisen der taciteischen »Germania« und ist wohl die einschlägige deutschsprachige Arbeit jüngeren Datums zu diesem Thema. Ausgehend von der treffenden Auffassung des antiken Textes als eines Gegenstandes »einer vorrangig auf Applikation abzielenden Lektüre«43 arbeitet er überzeugend die Abhängigkeit der jeweiligen »Rezeption« von der jeweiligen Intention heraus. Sehr knapp, daher weder sonderlich textnah noch präzise,44 begnügt sich Krapf damit, das jeweilige Kernargument herauszuschälen und aufzuzeigen, wie sich das von den Humanisten rezipierte taciteische Material einfugt, wofiir er wiederum nur wenige exemplarische Passagen anfuhrt; am ausfiihrlichsten und textnahsten ist noch das Kapitel zu Conrad Celtis. 45

42 Die Auseinandersetzung mit seiner Besprechung der Arbeiten Enea Silvios, Campanos und Celtis' wird dies zeigen; dessen ungeachtet wird verschiedenenorts deutlich, wieviel diese Arbeit der Rides verdankt. 43 Krapf (1979, S. 48). 44 So wird bspw. Enea Silvios >Germania< auf lediglich vier Seiten (S. 49-53) abgehandelt. Die Disposition der Arbeit ruft dadurch Verwunderung hervor, daß nahezu die Hälfte auf die Darstellung der Wiederentdeckung der >Germania< verwandt wird. 45 Seit der Veröffentlichung Krapfs sind nur noch kleinere Arbeiten erschienen. Einen Überblick anhand ausgewählter Brennpunkte der Tacitusrezeption (von Rudolf von Fuldas Translatio Alexandri bis zu Fichtes Reden an die deutsche Nation) gibt: Fuhrmann (1978). - Ein hervorragender Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit »Rome et la Germanie chez les poetes humanistes allemandes« ist PieITe Laurens' Arbeit (1979), in der er insbesondere die Reaktion ausgewählter deutscher Humanisten (vor allem Celtis und von Hutten) auf das italienische Barbarenverdikt untersucht und deren Gemeinsamkeiten herausstellt. - Bluschs (1979) Aufsatz zur Tacitusrezeption bei Enea Silvio und Campano bemüht sich, den Unterschied zu etablieren, »daß er sich, wenn er zu einem antiken Autor greift, gleichwohl ausschließlich von der von ihm, Enea Silvio, behandelten SACHE leiten läßt, während Campano stets bestrebt ist, gleich bei welcher Sache, seine KUNST in den Vordergrund zu rücken«; ich werde später zu zeigen versuchen, warum ich diese Antithetik, die im übrigen schon von Amelung (1964, S. 51f.) und Krapf (1979, S. 55) vertreten worden war, für zu undifferenziert halte. Außerdem hat Blusch keine der einschlägigen Arbeiten (peITet (1950), Voigt (1973) und Ride (1977» berücksichtigt. - Der letzte Beitrag stammt von Kelly (1993), der die Literatur zur Rezeption auch nicht hinreichend berücksichtigt hat, und der Enea Silvios Rezeption der taciteischen >Germania< fälschlicherweise schon mit seiner »Türkenrede« in Frankfurt beginnen läßt (S. 155).

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ebenfalls aus stilistischen Gründen - von einem »literarischen Motiv« oder auch »topischen (d.h. mit Hilfe der Topik gewonnenen) MotivIElement« gesprochen. Im Unterschied zu solchen imagologischen Konzepten, deren theoretischer Anspruch so weit gefaßt ist, daß z.B. auch der Zusammenhang von imago innerhalb eines Werkes und dessen Verkaufszahlen ermittelt werden soll, wird hier ein eher limitiertes benutzt, das darauf abzielt, die Relativität der jeweiligen imago durch die Analyse ihrer Motivation und Funktion zutage zu fördem. 48 Mithin werden im zweiten Teil dieser Arbeit die folgenden Fragestellungen untersucht werden: (i) Welche Motive führen zu der Konstruktion der imago? (ii) Wie funktioniert die imago Germaniae innerhalb des Diskurses? (iii) An welche Rezipientengruppe(n) ist sie gerichtet? (iv) Können die imagines Germaniae eines Autors - wie sie in verschiedenen Werken präsentiert werden - zu einer übergeordneten, kohärenten imago zusammengefaßt werden? (v) Woher stammen die Imageme? (Denn der Nachweis der Tacitusrezeption ist ja jeweils zu erbringen, und in zwei Fällen, dem der Rede zur Constantinopoleopersis sowie dem des 6. Buchs der Briefe Campanos, wird eine imago Germaniae ohne Rückgriff auf die taciteische konstruiert.)49 Mit den Fragen nach Motiv, Funktion und intendiertem Rezipienten wird die jeweilige imago kontextualisiert: Unter »intendiertem Rezipienten« ist lung des Problems gibt auch: Bringmann (1989, S. 59-63). - Zur ethnopsychologischen Lesart der taciteischen >Germaniac z.B. Wolff (1934), dessen so wichtiger Beitrag zu Recht für die darin formulierte Auffassung kritisiert worden ist, Tacitus sei es um eine verstehende »Durchdringung fremdvölkischen Wesens« (S. 123, Herv. v. Verf.) gegangen (kritisch hierzu: von See (1994, S. 36)). Auch in Frankreich und Italien hat man in literarischen Bildern der Deutschen Wesenhaftes gesehen: Berühmt ist der Fall Mme de Staels (hierzu: von See (1986, S. 42f.), weniger bekannt der Vittorio Cians (1918), der argumentiert, die Deutschen seien so schlimm, wie in der Literatur beschrieben. Eine zwar nicht umfassende, aber doch sehr hilfreiche differenzierende Gegenüberstellung der Ethnopsychologie, der Sozialpsychologie und der Imagologie gibt Fink (1993). 48 Einen guten Überblick über die Entwicklung der Imagologie gibt: Dyserinck (1988); er hat in vielen seiner Arbeiten (z.B. 1966, 1982 und 1988) neben der literaturimmanenten Fragestellung auch die Frage nach der Wirkung des Bildes, nach dem Zusammenhang von Bild und Verkauf und schließlich nach dem Bild innerhalb der Literaturwissenschaft (seine Ideologiekritik) aufgeworfen, aber nur in Ansätzen anhand eines Werkes verfolgt (eine gute Rekonstruktion des Programms Dyserincks und eine abgewogene Beurteilung bei: Swiderska (2001, S. 24-32)). Ihr kommt das Verdienst zu, die verschiedenen theoretischen Ansätze innerhalb der Imagologie kompetent dargestellt und ein eigenes imagologisches Konzept mit Blick auf ihre Studie präzisiert zu haben (insbes. S. 127-32). Zu meinen imagologischen Fragestellungen vgl. man Fink (1993), der es als die Aufgabe der Imagologie formuliert, »a prendre conscience de la subjectivite des images et a tenter d'en analyser les motivations et les fonctions« (S. 21). 49 Von Fink auf die Formel gebracht (1993, S. 21): »[ ... ] l'imagologue s'efforce de circonscrire la subjectivite du locuteur en cherchant a preciser qui dit quoi, apropos de qui, a qui et dans quelle intention, Oll et a quel moment.«

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hier derjenige Leser/Hörer zu verstehen, der dem Autor vor dem geistigen Auge stand, als er sein Werk verfaßte; zur Rekonstruktion dieses Rezipienten kann auf kommentierende Äußerungen des Autors zurückgegriffen, der textimmanente Rezipient extrapoliert und die Darstellungsform analysiert werden. So muß Z.B. bei der Analyse der Briefe Campanos (stärker) berücksichtigt werden, daß ihm als intendierte Leser neben dem jeweiligen Adressaten auch immer die Nachwelt vor Augen stand, die sein Epistolarium eines Tages lesen würde; und Enea Silvios Brieftraktat ist vielleicht eher an die Kardinäle in Rom als an die durch Martin Meyr repräsentierten deutschen Empfanger adressiert. Und Celtis und BebeI? Es ist eine der Thesen dieser Arbeit, daß für die imagines Germaniae, die von diesen beiden deutschen Humanisten dargeboten werden, die italienischen Humanisten eine intendierte Rezipientengruppe sind, deren Auffassung von GermanienDeutschland sie zu widerlegen suchen. 50 Die informative, die diskursive und die persuasive Funktion der jeweiligen imago fallt je nach Kontext unterschiedlich stark aus: Es ist Celtis' und BebeIs erklärtes Ziel, mit ihren Darstellungen Deutschlands das von ihnen und anderen oft beklagte Kenntnisdefizit zu beseitigen; zugleich sind Celtis' >Germania generalis< und BebeIs >Oratio ad regem Maximilianum de laude eius Germanorumque< wichtige Beiträge zum Diskurs über die Vergangenheit und Gegenwart Deutschlands, und innerhalb dieses Diskurses wird es nicht schwerfallen, die Überzeugungen auszumachen, für die mit Hilfe der jeweiligen imago argumentiert wird. Wendet man sich aber den Briefen Campanos zu, so wird offensichtlich, daß deren informative Funktion a limine nicht vorhanden iSt. 51 Wenn die humanistischen Autoren die Germania vetus (das antike Germanien) darstellen, selektieren und arrangieren sie die ihnen vorliegenden Imageme ihrer Zielsetzung gemäß zu einem Bild der Vergangenheit mit unmittelbarem Bezug auf ihre Gegenwart: Eine derart funktionalisierte Vergangenheit kann als mythische bezeichnet werden. Der Begriff des My-

50 Das Konzept des »intendierten Lesers«, das ich in »intendierter Rezipient« umbenannt habe, um auch die intendierten Hörer der Reden mit einbeziehen zu können, stammt von Wolf (1971; Ansätze zu Wolfs Konzept kann man wohl schon bei Booth (1963, z.B. S. 137f.) finden) und muß von den - bekannteren - Konzepten des »impliziten Lesers« (Iser) und des »realen Lesers« (Jauss) unterschieden werden. Wolf ist sich der Schwierigkeit der Rekonstruktion dieses intendierten Lesers bewußt und gibt daher (S. 160) die von mir genannten Zugänge. Zu Campanos 6. Buch der Briefe: Kap. 3.2.2; zu Enea Silvios Brieftraktat: Kap. 3.1.3. 51 Meine Differenzierung der Funktionen lehnt sich an Schulze (1978, S. 22ff.) an, der jedoch an statt von einer »persuasiven« von der »propagandistischen« Funktion spricht; dies scheint allerdings bei manchen der hier untersuchten imagines nicht angemessen. Zu Celtis: Kap. 3.3., zu Campano: Kap. 3.2.2 und zu BebeI: Kap. 3.4.3.

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thos steht hier nicht im Sinne eines «kollektiv tradierten und erinnerten Erzähltext[es] oder Bildkomplex[es]»52 - man könnte sagen: material -, als vielmehr funktional als eine »Form des Vergangenheitsbezugs«. Der Mythos fungiert als Instrument der gegenwartsbezogenen Vergangenheitsan• 53 elgnung. Wird auf die Vergangenheit in gegenwartsrelevantem Sinne zurückgegriffen, so kann dies in einer fundierend-legitimierenden oder einer kontrapräsentischen oder gar revolutionären Weise 54 geschehen: Während es in erster Verwendungsweise um die Sicherstellung von Kontinuität geht, derart daß das Gegenwärtige mythologisch aus dem Vergangenen hergeleitet und dadurch legitimiert wird, zielen die beiden letzteren - nicht mehr kategorial, sondern nur noch graduell unterschiedenen - auf die deutliche Markierung der Diskontinuität ab. Dies kann wiederum in zweifacher Weise geschehen: Zum einen derart, daß die Gegenwart im Vergleich zur Vergangenheit als defizient dargestellt wird, der Mythos also das positive Verlorene umfaßt; dem diametral entgegengesetzt dann wiederum so, daß die Gegenwart mit Hilfe des negativ konnotierten Mythos der defizitären Vergangenheit als positive Erfiillung kontrastierend gegenübergestellt wird. 55

52 So Harth (1992, S. 29), der jedoch auch eine funktionalistische Betrachtungsweise des Mythosbegriffs in seiner 3. These einnimmt, wenn er schreibt (S. 14): »Mythen sind wie Spielmarken in einem Erinnerungsspiel.« 53 Zu dieser Verflechtung von Gegenwart und Vergangenheit allgemein: »Myth is rather a means by which a culture organizes, interpretes, and gives authority to its most cherished assumptions about itself and the world.«: Borchardt (1971, S. 14). Zum Mythos als »Form des Vergangenheitsbezugs«: Assmann (1992, S. 46), der hinzufügt (S. 47, Herv. v. Verf.): »Wenn ich diese Erinnerungsform als >Mythos< bezeichne, will ich damit keineswegs ihren historischen Charakter abstreiten. Ich will damit lediglich die Funktion solcher Erinnerung hervorheben. Geschichte, die nicht einfach gewußt, sondern erinnert (>bewohnt1984< praktiziert diese Vergangenheitsadaptation in exemplarischer Weise: Man schreibt die Vergangenheit jeweils so um, wie es die Gegenwart verlangt, um letzterer zusätzliche Legitimität zu verleihen. Die Partei folgt daher der Parole: »Who controls the past, [ ...] controls the future: who controls the present, controls the past.« 55 Mit dieser letztgenannten Relation - hier die entwickelte Gegenwart, dort die defizitäre Vergangenheit - gehe ich über Assmann hinaus; sie ist allerdings nicht mehr als die Inversion seines kontrapräsentischen Mythos, als solche aber fiir diese Studie interessant (s. Kap. 3.1.3).

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Bei der Konstruktion dieser mythischen imagines Germaniae ist die taciteische >Germania< der Referenztext, mit dem Enea Silvio die kontrapräsentisch-defizitäre imago, Celtis hingegen - zumindest in dem Gedicht Am. 2.9 - eine kontrapräsentisch-überlegene imago konstruiert, die der Gegenwart die Moralität voraushat. Auffällig ist, daß von den hier untersuchten Autoren niemand die Authentizität der taciteischen Darstellung bezweifelt. 56 Eine andersartige oder anderswertige germanische Vergangenheit konstruieren heißt daher die taciteische >Germania< uminterpretieren, sei es daß man die Darstellung des Römers insgesamt für eine andere Interpretation erschließt - wie dies durch die von Celtis mit additiones (Ergänzungen) erweiterte Edition der taciteischen >Germania< geschieht - sei es daß Imageme übernommen, dann aber re evaluiert werden - wie dies von Bebel hinsichtlich der fehlenden germanischen Schriftkultur unternommen wird. Die taciteische >Germania< wird somit zum Verhandlungs gegenstand: Aus ihr entnehmen Enea Silvio und Campano die Imageme, die sie mit spezifischer Wertung zu ihren imagines aggregieren; auf sie greifen Celtis und Bebel zurück, um in Opposition zu insbesondere der imago Enea Silvios ihre eigene imago zu konstruieren. Dieser Prozeß der Verhandlung über die imago Germaniae Taciti und die darin enthaltenen Imageme und zugleich um die germanische Vergangenheit soll - wie gesagt - negotiatio Germaniae heißen. 57

56 Dies trifft zwar für die hier untersuchten Autoren zu (wenn man einmal von BebeIs Widerspruch gegen Tacitus' Behauptung, der Name >Germania< sei jüngeren Datums (Oratio, Schardius, S. 98 (co!. 1», absieht), sollte aber - wie Tiedemanns (1913) Kap. »Die Beurteilung des Tacitus und anderer antiker Historiker« zeigt - nicht verallgemeinert werden. 57 Greenblatts Konzept der »negotiation« geht von folgender Überlegung aus (1988, S. 5): »If the textual traces in which we take interest and pleasure are not sources of numinous authority, if they are the signs of contingent social practices, then the questions we ask of them cannot profi tably center on a search for their untranslatable essen ce. Instead we can ask how collective beliefs and experiences were shaped, moved from one medium to another, concentrated in manageable aesthetic form, offered for consumption.« Gemeinsam ist beiden Konzepten die Bedeutung des verhandelnden Austauschs; sie unterscheiden sich voneinander zum einen darin, daß die negotiatio Germaniae auf eine Ressource, d.i. die taciteische >GermaniaGermania< ist eine magna quaestio. Bis in die jüngste Forschung hat sie geradezu gegenteilige und oft exklusive Interpretationen provoziert: Die »Paradoxa«, daß Tacitus unmittelbar nach dem Domitian-Erlebnis die wiedergewonnene Meinungsfreiheit nutzt, eine Ethnographie zu verfassen, ihr aber kein erklärendes Proöm voranstellt, daß er politische Anspielungen einwebt, diese aber gefährlich vage formuliert, daß er den Leser mit ethnologischen Details erstaunt, sein Material aber nach anderen Gesichtspunkten als dem der Informationsvermittlung sondiert und arrangiert, haben die Interpreten zu unterschiedlichsten Thesen verleitet. 1 Diese Fragen können im Rahmen dieser Arbeit allerdings allenfalls am Rande thematisiert werden, sollen hier doch lediglich solche Aspekte der imago Germaniae analysiert werden, die fiir die tendenziösen Rezeptionen der Humanisten von Relevanz waren. Die Leitfrage lautet: Welche Eigenschaften muß ein Text aufweisen, der als »objektiver« Bericht über die Vorfahren eines Volkes zu geradezu gegensätzlichen Instrumentalisierungen genutzt werden konnte? Und was verraten diese Aspekte über Tacitus' Traktat? Im Wissen um die Rezeptionsformen der Humanisten scheinen mir drei Momente der imago Germaniae Taciti von besonderem Interesse: Zum einen hat es die Identifikation der Germanen mit den Vorfahren der Deutschen sowie die Bestimmung deren konstanten »National«charakters ungemein erleichtert, daß Tacitus im ersten allgemeinen Teil die germanischen Stämme als eine ethnische Identität mit einem politischen Willen in einem 1 magna quaestio: Klingner (1961, S. 490, vom taciteischen (Euvre insgesamt); zur Forschungsliteratur: Weinberger (1890) für die ältere Forschungsliteratur, Lund (1991) für das späte 19. und 20. Jahrhundert, Städele (1997) für den Zeitraum von 1976 bis 1995 (carptim). Eine fundierte Übersicht der verschiedenen Thesen und Zugänge gibt Beck (1998, S. 9-13), der jedoch die Positionen mancher Gelehrter ein wenig überspitzt vorstellt. - Die Interpretation der >Germania< wird auch dadurch erschwert, daß sie als einzige ethnographische Monographie erhalten ist: Die beiden Seneca zugeschriebenen Ethnographien De situ Indiae und De situ et sacris Aegyptiorum sind nur dem Titel nach bekannt; Arrian bezeichnet seine Indike wiederholt als Exkurs zur Anabasis (Ind. 17.7 (Tau Ta OE EKßOATlIlOI 'EOTW TOU AOYOU) und An. 5.5.1), weshalb sie strenggenommen nicht als ethnographische Monographie gelten kann. - Zu Zitation und Übersetzung: Tacitus >Germania< ist zitiert nach: Perl (1990 unter Berücksichtigung der Edition Winterbottoms), von dem auch die Übersetzung stammt, von der ich jedoch bisweilen abweiche; andere antike Texte sind nach den Standardeditionen zitiert, die Übersetzungen stammen entweder von mir oder sind belegt (ad loc.).

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Tacitus' imago Germaniae

eindeutig zu demarkierenden geographischen Raum konstruiert; mit anderen Worten: Tacitus' Suggestion, daß es ein corpus nomenque Germaniae gebe. 2 Zum anderen hat die Ambivalenz des taciteischen Germanenbildes es den Humanisten erlaubt, unter Berufung auf denselben Text gegensätzliche imagines zu konstruieren: Mit Hilfe ein und desselben Textes wurde die germanische Vergangenheit einerseits als Barbarei stigmatisiert, andrerseits als die Epoche eines moralisch, militärisch und genealogisch dem römischen überlegenen Imperiums idealisiert. 3 Schließlich die Interpretatio Romana: Einerseits bedienen sich die hier untersuchten Humanisten der >Germania< ganz so, als handle es sich bei ihr um eine objektive Ab-Bildung der germanischen Vergangenheit; andrerseits gilt fiir deutsche Humanisten, daß ihnen diese Beschreibung der Vergangenheit ihres eigenen »Volkes« aus römischer Feder erlaubte, ihr patriotisches Interesse an einer »nationalen«, von allem Italienischen unabhängigen Vergangenheit mit der humanistischen und somit internationalen Auffassung der Normativität der Antike zu harmonisieren. Darüber hinaus wurde dem Lob von seiten des Römers, eines Fremden also, vor dem Hintergrund einer historiographischen Theorie, die patriotische Voreingenommenheit zum Axiom erklärte, höchste Glaubwürdigkeit bescheinigt. 4 2 Tac. hist. 4.64. Dort läßt Tacitus Gesandte der Tenkterer bei einer Versarnmlung der Agrippinenser folgendermaßen anheben: redisse vos in corpus nomenque Germaniae communibus deis et praecipuo deorum Marti grates agimus, vobisque gratulamur, quod tandem liberi inter liberos eritis. Und die Replik der Agrippinenser (hist. 4.65) verweist darauf, sie hätten die erste Gelegenheit zur Freiheit eher begierig als vorsichtig ergriffen, ut vobis ceterisque Germanis, consanguineis nostris iungeremur. 3 Hätten die Humanisten die auf die Römer Caesar und Tacitus zurückgehende Konstruktion der zahlreichen Völker als Germani Germaniae nicht reaktiviert (zu den Unterschieden s. Kap. 2.2), und wären sie nicht von einem konstanten Volkswesen ausgegangen, das Germanen und Deutsche über die Jahrhunderte hinweg vereint, so würde eine Aufforderung wie die Campanos an die deutschen Fürsten in Regensburg: sequamini vestigia maiorum vestrorum, keinen Sinn machen (s. Kap. 3.2.3). Wann immer die >Germania< als Zeugnis vergangener Zeit zitiert wird, geschieht dies, um die zeitgenössischen Deutschen mit ihrer mythischen germanischen Vergangenheit zu konfrontieren: 1538, um ein Beispiel aus der nördlichen Hemisphäre zu geben, verspricht sich Phillip Melanchthon von seiner Edition der >Germania< und des >Arminius< pädagogische Wirkung von den - wie es im Begleitschreiben zu Johannes Schlick heißt - honesta exempla maiorum auf die Jugend. 4 Zum »nationale[n] Interesse an einer interpretatio Romana des alten Germanien«: »Die deutschen Humanisten stellen der Antike ein eigenes deutsches Altertum entgegen, um gegenüber der Antike und ihren italienischen Vermittlern autonom zu werden. Aber wie der Inhalt ihres kulturellen Selbstbewußtseins die Erneuerung der Antike ist, so muß es letztlich ihr Stolz sein, ein deutsches Altertum zu besitzen, das sich in antiken Begriffen fassen läßt [...]«: Muhlack (1991, S. 139). Ein differenziertes Bild der Beurteilung des Tacitus und anderer antiker Historiker durch deutsche Humanisten gibt: Tiedemann (1913, S. 8-24, insbes. S. 22: »Trotz der oben angeführten Einschränkungen [... ] ist Tacitus doch der besondere Liebling der Humanisten.«). - Zum Mißverständnis der >Germania< als einer objektiven Darstellung: In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts liest man dann: »Wir glauben, daß Tacitus recht hat mit der Eigenständigkeit Germaniens in

Die Perspektive ihrer Wirkungsgeschichte

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Auf der Grundlage der Analyse der drei vorgestellten Aspekte kann die >Germania< folgendermaßen allgemein charakterisiert werden: Tacitus' >Germania< ist eine politisch motivierte ethnographische Abhandlung über existentielle Werte - Freiheit, Einfachheit, Moral -, in welcher der senatorische Historiker aufgrund der ungebrochenen politischen Aktualität der Germanenfrage an den idealtypischen Barbaren allgemeine Betrachtungen zu eben diesen existentiellen Werten anstellt; das begrenzte Germanien, wie er es präsentiert, und die primitiven Germanen, wie er sie vorstellt, würden eine endgültige Eroberung erlauben. Tacitus' imago ist nicht minder konstruiert als die der Humanisten. Zu den einzelnen Aspekten: Im Kap. 2.1 wird ausgehend von einem Verständnis der >Germania< als eines mit Hilfe rhetorischer Mittel verfaßten Überzeugungstextes die Germania Taciti Romana daraufhin untersucht, wie durchgängig sie vom »römischen Geist« des Tacitus geformt ist; Tacitus' Einfluß wird differenziert in (i) die hier so zu nennende »Penetranz des Eigenen«5 und (ii) die unterschliedlichen Formen des Vergleiches, unter denen besonders die interpretatio Tacitea als eine besondere Form der interpretatio Romana zu nennen ist. Im darauffolgenden Kap. 2.2 wird Tacitus' imaginäre Geographie mit der Caesars verglichen, dadurch der Nachweis erbracht, daß Tacitus' Germanien einen scharf demarkierten Raum umfaßt, der sich von den endlosen germanischen Weiten bei Caesar offensichtlich abhebt. Eine Konsequenz dieser Begrenztheit ist, daß die Vorstellung eines germanischen »Volkes« - der Germani Germaniae - bei Tacitus wiederum im Unterschied zu Caesar plausibel erscheint. Das letzte Kapitel liefert eine Analyse der zentralen Wertbegriffe der >Germania< und sucht den Nachweis zu erbringen, daß die Ambivalenz des Porträts letztlich in der Ambivalenz dieser Werte gründet; daß nicht nur das Leben der Germanen in keiner Weise verherrlicht wird, sondern auch die es konstituierenden Werte, wie Tacitus sie darstellt, von einem hohen differentiellen Bewußtsein des Historikers zeugen. Doch diese Werte sind nicht nur ambivalent, Wertgruppen sind antinomisch, und Fragen, die der >DialogusAgricola< thematisieren, sind letztlich auch Gegenstand der >GermaniaGermania< als einer »source inestimable pour la connaissance de la vie des peuples barbares au-delft du Rhin« (S. 231) ausgeht. 5 Von Gould (1989) in bezug auf Herodots Darstellung des Fremden treffend als »Greek cultural grid« bezeichnet.

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Tacitus' imago Germaniae

2.1 Germania Taciti Romana: rhetorische Ethnographie Testis est nobis Cornelius Tacitus, non Germanus, sed Romanus scriptor. 6

Tacitus' imago Germaniae ist beginnend mit Enea Silvio als objektive AbBildung der historischen Realität gelesen worden, mit deren Hilfe die deutsche Vergangenheit eruiert und letztlich beurteilt werden könne. Doch Tacitus' Germanien ist ethnographisch wie geographisch ein Konstrukt, dessen fiktionaler Charakter Resultat seiner imaginatio Romana (römischen Vorstellungskraft) und seiner insbesondere politischen und kulturanthropologischen Interessen (andere sollen hierdurch allerdings nicht ausgeschlossen werden) ist: In der griechisch-römischen Welt lebend und aus diesem Sinnzusammenhang heraus deutend, beschreibt er mit Hilfe der durch die Tradition vorgegebenen ethnographischen Topik sowie der Klimazonen- und Kulturdiffusionstheorie »die« von ihm wahrscheinlich nie beobachteten Germanen. Das »Objekt« der ethnographischen Darstellung verrät das Subjekt, und zwar in anderer als der von Clifford Geertz (s.u.) ans Licht gebrachten Hinsicht. Germania illa libera, wie sie deutsche Humanisten in der taciteischen Schrift abgebildet wähnten und feierten, war immer schon römischem Geist unterworfen. 7 Germania Taciti Romana: In dem hier gewählten Titel stehen zwei eigentlich eigenständige (Sinn-)Welten nebeneinander, die Tacitus jedoch derart zueinander in Beziehung setzt, daß er die germanische mit römi6 Hier können wir Cornelius Tacitus als Zeugen aufrufen - einen römischen, nicht germanischenAutor (Bebei, Oratio ad regem Maximilianum, S. 99 (col. 2». 7 Es verwundert vor dem Hintergrund dieses Verständnisses der taciteischen >Germania< als einer objektiven Darstellung nicht, daß der Kommentator Willichius Tacitus' Autopsie betont (Schardius, S. 38 (col. 2»: Tacitus autem non solum tabulis regionum, quas Romani in senatu studiosissime propter imperii amplitudinem conservabant, usus est, sed et ipse multa loca perlustravit [ ..]. - Zu den beiden taciteischen Interessen: Trüdinger (1918, S. 166) zieht, nachdem er die >Germania< innerhalb der ethnographischen Tradition mit vorangegangenen Darstellungen verglichen hat, aufgrund formaler wie inhaltlicher Eigenheiten den Schluß, daß »Tacitus [...] den Germanen aus den realen politischen Verhältnissen heraus ein besonderes Interesse entgegen[bringe] «, und daß sich »wie in einem Brennpunkte [...] die Interessen des Römers im Menschen und seinen sozialen Beziehungen« sammelten. Letzteres lasse sich daran ablesen, daß Tacitus kein Interesse an der Tier- und Pflanzenwelt (S. 158) nehme, ja von der wissenschaftlichen Begeisterung eines Poseidonios nichts zu spüren sei (S. 166-8); auch »von dem curiositätenkram des Plinius« finde man keine Spur (Kettner, 1887, S. 273). Überaus treffend auch Häussler (1965, S. 303, Fn. 3), demzufolge die >Germania< »von einem politischen Kopf und einem historischen Denker« geschrieben sei. - Zu »Subjekt« und »Objekt«: Turk (1990). - Der Ausdruck >Germania Iibera< ist zum ersten Mal von Grimm (1835/6) in seiner Vorlesung zu Tacitus gebraucht worden (s. Gall (1993».

Rhetorische Ethnographie

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sehern Blick auf die römische Welt konstruiert und dabei auch noch seine individuellen Interpretationen einfließen läßt. 8 Der germanischen Lebenswelt ist allenfalls das rohe Material entnommen, dem der Römer Form verleiht, so daß sich das Problem der Hermeneutik des Fremden, das Clifford Geertz mit allem Nachdruck für die Ethnographie generell verdeutlicht, und Allan Lund insbesondere in Form der Unterscheidung der Perspektive der In-group und der Out-group für die Lektüre der >Germania< fruchtbar gemacht hat,9 für Tacitus nicht stellt. Denn letzterem geht es nicht um eine verstehende »Durchdringung fremdvölkischen Wesens«, nicht darum »das Fremde, als dem Eigenen wesensverwandt anzuerkennen«. Das ethnographische Problem der Perspektivität hätte sich gestellt, wenn Tacitus Wissenschaftler im Geiste eines Poseidonios gewesen wäre. Tacitus aber war Redner, Geschichtsschreiber, Politiker - Ethnologe war er nicht. 10 Infolgedessen stellt er in seiner >Germania< nicht Germanen vor, sondern den Idealtypen des »barbarischen« Gegners des Imperium Romanum, wie er ihn und die durch ihn verkörperten Werte sieht; die senatorische Geschichtsschreibung hat sich fremden Völkern nie um ihrer selbst willen zugewandt, sondern nur insoweit sie das eigene Reich tangierten. 11 Und wie man taciteischer Historiographie nicht gerecht wird, wenn man an sie das

8 Mit Hilfe des Vergleichs zu Poseidonios charakterisiert Trüdinger (1918, S. 168) Tacitus als einen Künstler, »der eine erhöhte und persönlich gestimmte Wirklichkeit vermitteln will«, und der sich in der >Germania< immer wieder als Vermittler dazwischendränge. Zum Verhältnis von Römern und Germanen: Perl (1990, §7 u. 1983), mit dem ich oft - wie deutlich werden wird übereinstimme. 9 Zur Formgebung durch die Römer: O'Gorman (1993, S. 136: »However, the representation of Germany is, from the outset, that of raw material, to be shaped as a Roman artefact«). Zu Geertz' (2000, S. 15) Charakterisierung der Ethnographie als »Fiktion«: »[ ... ] anthropological writings are themselves interpretations, and second and third order ones to boot. [... ] They are, thus, fictions; fictions, in the sense that they are >something made< [ ...].« Lund hat diese Problematik in zahlreichen Arbeiten expliziert (z.B. 1990, 1993 und in der Einleitung zu seinem Kommentar (1988». 10 Wolffs ethnopsychologischer Zugang (»fremdvölkisches Wesen«) zur >Germania< und seine Rede von einer »objektiven Schilderung« (S. 135) und von Tacitus' Ziel (S. 155), »die Wahrheit über die Germanen zu finden«, sind zu Recht wiederholt kritisiert worden (z.B. v. See (1994, S. 36»; er war aber kein Einzelfall: Noch 1977 spricht Till von einer »Wesensverwandtschaft« (S. 119, kritisch hierzu Städele (1997, S. 527» und auch Büchner liest die >Germania< als Zeugnis »echte[r] Begegnung« (1985, S. 143 u.ö.); man vgl. S. 26, Fn. 47. Zu meiner Opposition »Wissenschaftler - Geschichtsschreiber«: Perl (1990, S. 25). 11 Edelmaier (1964, S. 9, dessen Dissertation viel mehr Beachtung verdient hätte); so auch Büchner (1985, S. 27, 138 u.ö.). Zum idealtypischen Barbaren, den Tacitus im allgemeinen ersten Teil entwirft: »Selbst flir die >Germania< des Tacitus gilt, daß es nicht in erster Linie die Germanen an sich sind, die das Interesse des Autors erregen, sondern die Germanen als Objekte des alten und wieder einmal bedrohlich aktuellen Problems, wie es um den >anderenGermania< manch längerer Arbeit vorzuziehen ist.

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modeme Kriterium der Objektivität anlegt,12 so muß es zu Verständnisschwierigkeiten führen, wenn man die >Germania< als Referat über die germanische Frühgeschichte oder auch nur als ernsthaften ethnologischen Versuch liest. 13 Tacitus hat seine individuellen Auffassungen - wie meine Überlegungen zur interpretatio Tacitea, imaginären Geographie und Ambivalenz seines Porträts der germanischen Lebenswelt zeigen sollen - seiner ethnographischen Monographie unauslöschbar eingeschrieben. Hiervon muß, auch wenn die Übergänge fließend sind, das in der >Germania< allgegenwärtige, verschiedentlich (s.u.) in Erscheinung tretende Moment der römischen Sinn- und Lebenswelt unterschieden werden, aus der heraus einerseits das vorliegende Material selektiert und interpretiert wurde (lebensweltlicher Kontext), andrerseits die Form der Darstellung bestimmt wurde (literargeschichtlicher Kontext).14 Die Reihenfolge der Bezeichnungen innerhalb des Titels dieses Kapitels spiegelt also zum einen die zunehmende Bedeutung für die aus diesen Elementen resultierende imago Germaniae; zum anderen indiziert die Stellung des Autors dessen vermittelnde Konstruktionstätigkeit: 15 Die >Germania< ist römisch, weil sie von einem Römer 12 Daß die persönliche Unvoreingenommenheit, die Tacitus in »sine im et studio« verspricht, weniger ist als das moderne Streben nach Objektivität und daß letztere eine die antike Geschichtsschreibung verfehlende Kategorie ist, betont Heldmann (1991, S. 208; hiermit vgl. man Hornblowers Erörterung des thukydideischen Anspruchs (1987, insbes. S. 43-48». 13 Die Applikation des modernen ethnologischen Apparates auf die >Germania< scheint daher eine Maßnahme gegen fehlgeleitete Rezeptionserwartungen bzw. nachträgliche Korrektur vermeintlicher Erkenntnis über das Leben der Germanen zu sein; die taciteische Ethnographie berührt sie nicht, weil sie nicht der Ethnologie verpflichtet ist. 14 Zur Germania Romana: zuletzt O'Gorman (1993), die indes wichtige Punkte ihrer Argumentation bei Wolff(1934) oder aber auch bei Dauge (1981, S. 250-4), Lund (1988, S. 56-69) und Perl (1990, S. 24: »Seine >Germania< enthält implizit zugleich sozusagen auch eine >Romania«Germania< handle es sich um »[t]he sem'ch for a re-Romanised Rome« (S. 149), daß also in Germanien das alte Rom abgebildet werde, wiederholt das - innerhalb der deutschsprachigen Altphilologie umstrittene - Fazit WoltTs (S. 134, so auch: Patzek (1988, S. 31». Trotz dieser Nichtachtung sämtlicher nicht-englischer Literatur (zu Recht von Städele (1997, S. 527) bemängelt) und der daraus resultierenden Wiederholungen fordert ihr Ideenreichtum eingehende Auseinandersetzung: Ihre Überlegungen zur Formgebung, welche die Römer dem rohen germanischen Material ihrer Meinung nach zuteil werden lassen, verdeutlichen den in der >Germania< als solcher (1) manifesten Kulturimperialismus, dessen weitere Komponente O'Gorman darin erkennt, daß die Römer germanischen Phänomenen römische Begriffe aufzwängen. Ihre Beobachtung, »[that] naming is [oo.]linked to power and physical strength« (S. 144), die auch nicht unbedingt neu (man vgl. z.B. Hartog (1988, S. 237-48», aber von ihr sehr sorgfältig am Text ausgearbeitet worden ist, habe ich im Text durch meine Überlegungen zur interpretatio Tacitea weiterzuführen gesucht. - Zum literargeschichtlichen Kontext: Flach (1989, jedoch eher kursorisch). 15 »Immer wieder drängt sich die Person des Vermittlers dazwischen«: Trüdinger (1918, S. 168).

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für Römer geschrieben worden ist, taciteisch, weil Tacitus mit ihr seine spezifischen Interessen verfolgt, eigene Interpretationen bietet. Es gilt also Folgendes zu differenzieren: Die Penetranz des Eigenen bezeichnet den Umstand, daß die vertraute Welt des Ethnographen determinierenden Einfluß auf die Darstellung des »Beobachteten« ausübt. Von diesem durchgängigen römischen Einfluß, den Tacitus nicht explizit reflektiert, gilt es die interpretatio Romana, worunter die Substitution eines römischen Begriffes für den germanischen zu verstehen ist, zu unterscheiden, weil Tacitus bei deren terminologischer Einführung sein Bewußtsein artikuliert, sich der germanischen Welt aus der römischen heraus zu nähern (Germ. 43.3). Diese hinwiederum ist von dem Vorgang der interpretatio Tacitea abzusetzen. Beide Begriffssubstitutionen sind Interpretationen, die dem germanischen Phänomen übergestülpt werden, und als solche Appropriationsakte: Der Begriff symbolisiert Bemächtigung, resp. die Benennung ist Bemächtigung. 16 Unter der interpretatio Tacitea wird hier aber nicht die Übersetzung verstanden, durch die Tacitus den germanischen Begriff, der ein bestimmtes Referenzobjekt bezeichnet, durch einen römischen wiedergibt, der in etwa dasselbe Referenzobjekt bezeichnet; vielmehr ist die interpretatio Tacitea die Interpretation (im heutigen Sinne), welche Tacitus in dem römischen Begriff, der dasselbe bezeichnet, aber etwas anderes als der germanische meint, durchgeführt hat. Tacitus zwängt im Falle der interpretatio Tacitea der germanischen Welt eine spezifische Wertung auf, während im Falle der interpretio Romana »nur« die römische Welt über die germanische geschoben wird. Daß man bei Tacitus eher darauf achten muß, was er mit den Begriffen meint, als darauf, was diese bezeichnen, nicht zuletzt deshalb, weil Beschreibung immer schon Deutung ist, wird hier erneut Bestätigung finden. 17 So kommt - aus heutiger Sicht - paradoxerweise in der ethnographischen Abhandlung über Germanien dem genuin Germanischen insofern die kleinste Bedeutung zu, als der Form- und Gestaltungswille des

16 Vgl. Hartog (1988, S. 242) und Fn. 14. 17 »Tacitus hat öfter den Bericht und seine Deutung miteinander verwoben«: Perl (1990, S. 27); treffend Lund (1991, S. 1863), der die >Germania< als »reine Interpretation«, »als das Ergebnis der Deutung durch einen Fremden« bezeichnet. Zu den >Annalen< bemerkt Heldmann (1991, S. 209), daß die »Darstellung apriori als Deutung« konzipiert sei. - Zu meiner Differenzierung des subjektiven Einflusses in (i) Penetranz des Eigenen, (ii) Interpretatio Romana und (iii) Interpretatio Tacitea sei noch bemerkt, daß diese nicht spezifisch taciteisch ist: Wenn dieses Kapitel Herodots Ethnographie zum Gegenstand hätte, so spräche ich von Inlerprelatio Graeca und Interpretalio Herodotea. Um dies zu belegen, werde ich in den jeweiligen Abschnitten auf jeweils eine entsprechende Erscheinung bei Herodot verweisen. Bei den Bezeichnungen geht es mir nur darum, unterschiedliche Einflüsse, die sich auch nicht immer ganz sauber trennen lassen, auch unterschiedlich zu benennen.

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Tacitus bei der Selektion des Materials 18 ebenso viel Sorgfalt walten ließ, wie bei der Disposition und Elaboration, so daß solche Phänomene, die sich nicht in das Gesamtbild integrieren ließen, eskamotiert, andere hinwiederum im Sinne des Gesamtbildes fingiert wurden, beides zum Zwecke der Überzeugung des römischen Lesers. Denn bei der >Germania< handelt es sich insofern um eine Schrift rhetorischen Charakters, als das in ihr dargebotene, zu einem kunstvollen Aufbau arrangierte und stilistisch nicht zuletzt durch die Sentenzen aufpolierte Material überzeugen SOll.19 Schon Wolf-Hartmut Friedrich hat mit Nachdruck auf den rhetorischen Charakter aufmerksam gemacht, und zuletzt hat insbesondere Gerhard Perl die Bedeutung der Rhetorik wiederholt ausgewiesen?O Innerhalb der Forschung wird diese jedoch vor allem hinsichtlich der elocutio untersucht, obschon inventio und dispositio mindestens ebenso wichtige Mittel zum persuadere sind. In der Tat sind die beiden letztgenannten officia oratoris bei einer unvoreingenommenen Betrachtung der >Germania< evident. Dabei kann der konstruktive Charakter der >Germania< dadurch freigelegt werden, daß man widersprüchliche Aussagen innerhalb der >Germania< ausweist bzw. die >Germania< mit Germaniapassagen der >Historien< und >Annalen< vergleicht. 21 So heißt es z.B. (Germ. 6.1): Nicht einmal Eisen gibt es im Überjluß, wie sich aus der Art ihrer Angriffswaffen schließen läßt. (Denn) nur eine Minderheit hat Schwerter oder größere Lanzen. - ne ferrum quidem superest, sicut ex genere telorum colligitur. rari gladiis aut maioribus lanceis utuntur. Mit Hilfe der steigernden Wendung »ne ... quidem« fUgt Tacitus seinem Bild primitiver Frugalität, wie er es unmittelbar zuvor in Kap. 5 gemalt hat, 18 »Tacitus dürfte sich mit dem Weglassen des Materials mehr Mühe gemacht haben als mit dem Sammeln«: Timpe (1989, S. 117); so auch Perl (1990, S. 26: Die Auswahl sei »von dem aktuellen politischen Interesse des Autors bestimmt«) und Lund (1986, S. 70f.). 19 »[ ... ] il [Tacite, Anm. v. Verf.] a use d'une technique de persuasion«: Devillers (1989, S. 850). Jedoch aus später (in Kap. 2.3) darzulegenden Gründen teile ich Devillers' (u.a.) Auffassung, daß die von Tacitus zu erwirkende Überzeugung eine moralische sei, nicht. 20 »Der Vorrang des Stilistischen, der Antithesen und der Variation, vor der Tatsächlichkeit ist mit Händen zu greifen«: Friedrich (1977, S. 427); Devillers (1989, S. 850 (mit Fn. 27 fiir weitere Vertreter dieser Position); Perl (1990, z.B. S. 207); die Beobachtung Kettners (1887, S. 257, vgl. auch S. 262 und 269), daß Tacitus »wesentlich auch nach rhetorischen Gesetzen« komponiert hat. Boissiers Meinung (1904, S. 40): »la rhetorique est tout a fait absente de la Germanie«, wird heute kaum mehr vertreten. - Zum kunstvollen Aufbau vgl. man die umfassende Arbeit Willes (1983, S. 46-117), der seine Argumentation auf den von ihm akribisch zusammengetragenen Ergebnissen der Forschungsliteratur (S. 46-65) aufbaut; fernerhin Urban (1989). 21 Christ (1965) hat die Präsentation der Germanen durch die taciteischen Werke untersucht und dadurch die Abhängigkeit des jeweiligen Bildes von den zeitlichen Umständen herausgearbeitet. (Ich frage mich aber, ob die Bedeutung des Genres nicht stärker hätte berücksichtigt werden müssen.) Zu den divergierenden Darstellungen des Bataveraufstandes: s. (zuletzt) Beck (1998, S. 47f.).

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einen weiteren Beleg hinzu. Doch dient der Verweis auf die kargen Eisenvorkommen nicht nur material als Beleg fUr die generelle Kargheit, sondern formal auch als assoziative Brücke fUr die daran anschließende Behandlung der Waffen, so daß »ne ferrum quidem superest« also sowohl inhaltlich als auch kompositorisch motiviert ist. Indes bei der Besprechung der germanischen Ehe (Germ. 18.2) heißt es: Zugegen sind die Eltern und Verwandten und mustern die Geschenke; (doch) handelt es sich nicht um Geschenke, die ausgesucht sind, um den Frauen Vergnügen zu bereiten, und nicht, um die Neuvermählte mit ihnen zu schmücken, sondern um Rinder, ein gezäumtes Roß und einen Schild samt Frame und Schwert.

intersunt parentes et propinqui, ae munera probant, munera non ad delicias muliebres quaesita nee quibus nova nupta eomatur, sed boves et frenatum equum et seutum eum framea gladioque.

Daß Waffen als Geschenke in die Ehe gebracht werden, und zwar von beiden zukünftigen Partnern (Germ. 18.2: in vicem), fügt sich stimmig in den Kontext, in dem Tacitus sich die Betonung angelegen sein läßt, daß bei den Germanen alles auf den Krieg hin ausgerichtet sei - die Ehe macht da keine Ausnahme. 22 Die SpezifIkation »samt Frame und Schwert« steht aber im offenbaren Widerspruch zu der zuvor zitierten Passage. 23 Doch beide Aussagen besitzen in ihrem Kontext argumentative Funktion: der Eisenmangel als Beleg der Frugalität, die Häufigkeit der Schwerter als Beleg des martialischen 22 Zur Eheschließung und deren Wechselseitigkeit als Ausdruck der germanischen Ursprünglichkeit: Lund (1986, S. 85-87). 23 »[That] he was perhaps using the word [i.e. gladium, Anm. v. Verf.]loosely«, wie Rives (1999, ad loc.) vorschlägt, halte ich für denkbar unwahrscheinlich. Weitere solcher Widersprüche: Während Tacitus in der Kampfesschilderung von germanischen effigiesque et signa quaedam (Le. dei: 7.2; 40.3) spricht, muß er bei der Darstellung der Religion der Germanen als eines Naturvolkes (I) behaupten [Germanos] nec cohibere parietibus deos neque in ullam humani oris speciem assimulare (Germ. 9.2; zur ethnographischen Topik: Perl (1990, ad loc.), der diesen und andere Widersprüche lediglich über die ethnographische Tradition zu erklären sucht (S. 36)). Obschon er im geographischen Kapitel (Germ. 1) den Rhein als Westgrenze statuiert (hierzu: Kap. 2.2.), räumt er in Kap. 29 ein, daß (i) das römische Imperium seinen Machtbereich über den Rhein hin ausgedehnt habe, (ii) Gallier auch rechts des Rheins leben würden. Und auch die angebliche Geringschätzung der Edelmetalle (Germ. 5.2) revidiert er später (Germ. 15.2). Fernerhin vertritt er zwar in Kap. 2 die Meinung Germanos indigenas [ ..) minimeque aliarum gentium adventibus et hospitiis admixtos, in Germ. 9.1 spricht er aber von dem Isis-Kult, der die Sueben über den Seeweg erreicht habe; und zu Beginn des 2. Teils wird er die »Reinheit« der Germanen geradezu in Abrede stellen (Germ. 28.1): ... eoque credibile est etiam Gallos in Germaniam transgressos. Quantulum enim amnis obstabat quo minus, ut quaeque gens evaluerat, occuparet permutaretque sedes promiscuas adhuc et nulla regnorum potentia divisas! Und wie viele weitere »Widersprüche« bestehen nicht zwischen dem sogenannten allgemeinen und dem sogenannten völkerspezifischen Teil? Und muß deswegen nicht der 1. (allgemeine) Teil (Germ. 1-27) insgesamt als Argument aufgefaßt werden?

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Charakters. Gleiches gilt für die zahlreichen in Fn. 23 aufgelisteten Aussagen, deren Vergleich verdeutlicht, daß nicht das Faktische dominiert, sondern das Argumentative, so daß einen Widerspruch nur der darin finden wird, der das vermeintlich Faktische innerhalb der Aussage fälschlicherweise betont. Weil es nicht um die Belehrung des römischen Lesers über die Germanen geht, sondern darum, ihn von dem Zustand Germaniens und der Germanen zu überzeugen, wie Tacitus ihn sieht, liest, wer sich der >Germania< mit historischem Interesse nähert, mit einer problematischen Rezeptionshaltung; denn sie bietet eher Argumente als Tatsachen. 24 Die in ihren Grundzügen schon bei Herodot entfaltete ethnographische Topik, deren systematische und historische Entwicklung Karl Trüdinger nachgezeichnet hat, liegt der >Germania< als Ordnungs schema zugrunde, von dem Tacitus nie grundlos abweicht. 25 Gleichwohl hat Tacitus diese Formen nicht sklavisch übernommen, sondern sie seinen Absichten gemäß ausgefüllt. So kann man die von Tacitus dargebotene Geographie als dürftig und als Konzession an die durch die ethnographische Topik vorgegebene Ordnung lesen; man kann aber auch die Meinung vertreten, daß Tacitus 24 Schon Norden (1920) hat Tacitus' Versäumnisse aufgelistet; einen sich auf das Wesentliche beschränkenden Überblick gibt Flach (1989, S. 29f.). - Zum rhetorischen Charakter der Schrift: Es soll hier keineswegs argumentiert werden, Tacitus stehe mit seiner Formung des ethnographischen und geographischen Materials im Sinne einer beim Leser zu weckenden Überzeugung allein da: Barlow (1998, S. 139-170) untersucht Caesars Verwendung ethnographischer Prädikate bei der Beschreibung gallischer Führer im Sinne jeweils zu erzeugender Sympathien oder Antipathien. Kraus (1997) hat den Zusammenhang der ethnographischen und geograpischen Beschreibung mit der Erzählung in Sallusts >Bellum Iugurthinum< untersucht (s. insbes. S. 22). Hartog untersucht im 2. Teil seiner Arbeit »how it [the text, Anm. v. Verf.] >translates< the >othen and how it >gets the addressee to believe< in the >othen whom it is constructing« (S. 210, Herv. v. Verf.). Und Lateiner (1989, S. 164) argumentiert, mit Hilfe der Ethnographie erkläre Herodot, warum die Griechen die Perser bezwingen. 25 Es scheint angebracht, darauf aufmerksam zu machen, daß die innerhalb der Forschungsliteratur, wann immer über die »Topoi« (zu diesem problematischen Begriff s. S. 26, Fn. 47) gehandelt wird, in einem Atemzug genannten Abhandlungen von Trüdinger (1918) und Norden (1920) zum einen gänzlich unterschiedliche Ziele verfolgen, zum anderen die ethnographische Tradition einmal hinsichtlich ihrer formalen Kontinuität, das andere Mal (zumindest primär) hinsichtlich ihrer materialen Kontinuität betrachten: Norden, dessen Abhandlung ursprünglich nur auf ein Verständnis des Namensatzes abzielte (S. 7), entdeckt im Verlauf seiner Untersuchungen die berühmten »Wandermotive«, die nach Verlust ihrer Völkerspezifität mehr oder minder beliebig übertragen würden (S. 139). Trüdinger hingegen geht es um die ethnographische Tradition als solche (z.B. S. 21, wo aufgelistet wird, welche »Topoi« die ideale herodoteische Monographie umfaßt), von ihren Anfängen bei Hekataios und Herodot bis eben Tacitus (z.B. wird auf S. 154 die taciteische Genealogie der Germanen vor dem Hintergrund anderer Genealogien beleuchtet), den er auch vor dem Hintergrund der von ihm ausgearbeiteten ethnographischen Topik - verstanden als das Verzeichnis der von einem Ethnographen zu bedienenden Fragestellungen - untersucht. Nach Meinung Timpes (1986, S. 32) repräsentiert Tacitus mit dem Festhalten an den Topoi die römische Ethnologie im Unterschied zur griechischen, wobei erstere »die traditionelle, in bestimmte Denkmuster gefaßte, literarisch geprägte Ethnographie und die völkerkundliche Praxis zu beider Nachteil wieder auseinandertreten« ließ.

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soweit Geographie vermittelt, wie es ihm für seine Zwecke erforderlich scheint. So kann eine Rekonstruktion der taciteischen Geographie zutage fördern, daß sie die anschließende Behauptung der Indigenität und Unvermischtheit der Germanen überaus plausibel erscheinen läßt, sich also in die taciteische Argumentation einfiigt. 26 Betrachtet man die >Germania< als Schrift rhetorischen Charakters, so verbietet es sich eo ipso, in ihr nach dem historischen Germanien zu suchen, denn: Was mit Hilfe der Archäologie mittlerweile als »wahr« erwiesen ist, referiert Tacitus nicht, weil wahr, sondern weil passend. Germanien als ein Land ist ebenso ein dieser Überzeugung verpflichtetes Konstrukt, wie Germani illi als ein Volk (s. Kap. 2.2), wie dessen Schwächen und Stärken (s. Kap. 2.3). Eine mit der >Germania< verfolgte Absicht, denn hier soll nicht wieder die }} Willkür der Verabsolutierung eines einzelnen Zuges« zu ihrem Recht kommen, scheint die Überzeugung des Lesers von der Möglichkeit und Notwendigkeit der Fortsetzung des römischen Imperialismus zu sein; zumindest deuten die hier vorgestellte Rekonstruktion der taciteischen Geographie Germaniens (s. 2.2) und dessen Darstellung der germanischen Lebenswelt in diese Richtung (s. 2.3).27

2.1.1 Die Penetranz des Eigenen Das Problem, dem sich Tacitus wie jeder Darsteller des Fremden konfrontiert sieht, ist das der Übersetzung: Wie das Fremde als Fremdes vermitteln, so daß es einerseits als Fremdes glaubhaft, andrerseits verständlich ist? Man hat die Vermittlungstechniken als »Rhetoric of Otherness« bezeichnet;28 ih26 Anders Bringmann (1989, S. 68), der Tacitus zwar auch die unreflektierte Übernahme eines »Argumentationsschemas« abspricht, Modifikationen aber auf »abweichende Erfahrungstatsache[n]« zurückfUhrt. - Trüdinger hat hinsichtlich der taciteischen Behandlung der Geographie argumentiert, daß Tacitus aufgrund des Traditionszwangs die Schilderung des Landes nicht habe beiseite lassen können (1918, S. 159). 27 Die Verabsolutierungswillkür hat schon Wolff (1934, S. 121) als Prokrustes-Mentalität der Interpreten, die in der >Germania< eine einzige Absicht verarbeitet sahen, kritisiert; so auch Büchner (1985, S. 140). Perl (1990, insbes. §6) hat in der >Germania< das Plädoyer für die Expansion des Imperium Romanum gelesen (einer der frühesten Vertreter dieser Auffassung: Reitzenstein (1967, S. 96ff.)); ich werde mich hier darum bemühen, mit Hilfe meiner Überlegungen zur imaginären Geographie und zur Tendenz der taciteischen Ethnographie weitere Argumente fUr diese These ins Feld zu fUhren. Das Gegenteil- das Abraten von einer Eroberung - meint Beck (1998) darin zu erkennen. 28 »[We] shall be seeking to discover the rhetoric of otherness at work in the text, [...] to note the operative rules in the fabrication ofthe >otherVon der Umwelt< können zwei weitere wirkmächtige Theorien zurückgeführt werden: Zum einen die anthropogeographische, die einen Zusammenhang zwischen den klimatischen Bedingungen einer Region und der Natur ihrer Einwohner postuliert - in den Worten Heines: »[E]in Volk, das flach und nüchtern ist, wie der Boden, den es bewohnt«; zum anderen die Nomostheorie, die zwischen den Lebensgewohnheiten und der physischen und psychischen Konstitution einen Zusammenhang herstellt. Sie liegen der >Germania< zugrunde, situieren sie eindeutig innerhalb der ethnogra· hen Trad"It1on. 33 Ph ISC

31 Perl (1990, S. 25); vgl. Rives (1999, S. 60-2). 32 Allgemein zur Kulturdiffusionstheorie: Müller (1972, S. 121f.). Caesar erwähnt wiederholt, daß die provinznahen Stämme einen höheren Akkulturationsgrad hätten als die rom fernen (z.B. Gall. 1.1.3): [ ..} jortissimi sunt Belgae, propterea quod a cultu atque humanitate provinciae longissime absunt [ ..}; die Nähe zu Rom ist der entscheidende Faktor der unterschiedlichen Entwicklung der Gallier und Germanen (GalI. 6.24.4-6). Auch Tacitus verweist wiederholt auf die kulturellen Unterschiede der Barbaren in Relation zu ihrer Distanz zum kulturellen Zentrum (z.B. Germ. 5.3: interiores simplicius et antiquius permutatione mercium utuntur). Zynisch kommentiert Tacitus (Agr. 21.2) diese mission civilisatrice: idque apud imperitos humanitas vocabatur, cum pars servitlltis esset; hiermit vgl. man Germ. 15.2: iam et pecllniam accipere docuimus. 33 Das 14. Kapitel der rur diese bei den Theorien grundlegenden Schrift mpi aEpwv uocnwv TOTTWV (die treffende Übertragung »Von der Umwelt« stammt von Pohlenz (1953, S. 419)) hebt an, die Unterschiede der »Völker« hinsichtlich ihrer Natur oder ihrer Lebensgewohnheiten zu erklären: So (Kap. 16) resultiere die Feigheit (a8u>Jlrj) der Asiaten aus dem verweichlichenden Klima; die Nomoi (insbes. die tyrannische Regierung) täten ihr Übriges. Zur anthropogeographischen Theorie dieser Schrift: Backhaus (1976) liest hierin »die erste naturwissenschaftlichklimatheoretische Begründung griechischer Überlegenheit und barbarischer Inferiorität« (S. 185); Thomas (2000, insbes. 86-98) hat indes gezeigt, daß in der Abhandlung drei z. T. miteinander konfligierende Theorien vorgestellt werden. - Zum Problem der nomoi: Pohlenz (1953). Es sei hier schon erwähnt, daß Caesar den Unterschied zwischen Germanen und Galliern ausschließlich aus ihren unterschiedlichen Lebensweisen herleitet (GalI. 6.11.1 (moribus) u. 6.21.1 (ab hac conslletlldine»; Tacitus hingegen bedient sich auch der anthropogeographischen Theorie (z.B. Germ. 4: caelo solove asslleverunt; weitere Passus bei Perl (1990, S. 33, Fn. 66». Man vgl. das Kap. 2.2. dieser Arbeit. - Das Zitat Heines stammt aus seinen >Reisebildern< (Norderney; in: Heine, sämtliche Werke, Wien (0. J.), Bd. 3, S. 69).

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Zu den Formen des Vergleichs: Explizit wird Römisches und Germanisches etwa an folgender Stelle miteinander verglichen (Germ. 6.2): Ihre Pferde zeichnen sich nicht durch Schönheit oder Schnelligkeit aus. Sie werden aber auch nicht, wie bei uns üblich, abgerichtet, kreisartige Schwenkungen nach verschiedenen Seiten auszuführen. - equi non forma, non velocitate conspicui; sed nec variare gyros in morem nostrum docentur. Die Wendung »wie bei uns üblich« oder vergleichbare unmißverständliche Indikatoren des Vergleichs sind innerhalb der >Germania< allerdings anders als die impliziten Formen nicht gerade häufig. 34 In den Ausfiihrungen des Tacitus zu der erstmaligen Bewaffnung des germanischen Jünglings (Germ. 13.1) findet sich eine andere Form des Vergleichs, d.i. die Analogie, die bald mehr, bald weniger explizit ausfallen kann; hier, wo Tacitus sich ihrer als Mittel zum Verständnis des fremden Initiationsritus bedient, ist sie aufgrund des prominenten Begriffs Toga nicht zu übersehen: 35 Nichts aber, weder bei einer Angelegenheit der Stammes gemeinschaft noch bei einer der Hausgenossenschaft, unternehmen sie ohne Waffen. Doch erlaubt es die Sitte keinem, Waffen zu tragen, bevor die Stammesgemeinschaft ihn für wehrfahig erklärt hat. Dann schmückt eben in der Stammesversammlung einer der Häuptlinge oder auch der Vater beziehungsweise einer der Blutsverwandten den jungen Mann mit Schild und Frame; (denn) das ist bei ihnen die Männertoga, das die erste öffentliche Auszeichnung für die Jugend; vorher gelten sie nur als Glied einer Hofgemeinschaft, danach der Stammesgemeinschaft.

Nihil autem neque publicae neque privatae rei nisi armati agunt. Sed arma sumere non ante cuiquam moris quam civitas suffecturum probaverit. turn in ipso concilio vel principum aliquis vel pater vel propinqui scuto frameaque iuvenem omant: haec apud illos toga, hic primus iuventae honos; ante hoc domus pars videntur, mox rei publicae.

Die Analogie besteht darin, daß, wie die Römer im Alter von ca. 16 Jahren während des Festes der Liberalia die toga virilis anlegen, so die Germanen während der Volksversammlung die Waffen, wobei Tacitus die Analogie durch eine ad hoc geprägte Wendung (arma sumere)36 markant hervorhebt. Eine Verständnis schwierigkeit resultiert daraus, daß die Analogie von ihm nicht ausgeschrieben wird; der Ausdruck arma sumere kann erst retrospektiv als Analogon zum sumere togam virilem gedeutet werden, 34 Weitere explizite Vergleiche z.B. Germ. 16.1 und 25.1 Geweils: non in nostrum morem) und die sehr schöne Stelle (11.1): nec dierum numerum ut nos sed noctium computant; schließlich (20.1): corpora quae miramur. 35 Zur Verwendung der Analogie bei Herodot: Hartog (1988, S. 227-30: »the Nile is to the south, what the Ister is to the north«). 36 Lund (1988), Perl (1990), Rives (1999) ad loc.

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und zwar mit letzter Gewißheit erst zu dem Lektürezeitpunkt, wenn er sagt: haec apud Was toga. Tacitus schreibt die Analogie nicht in etwa folgendermaßen aus: quod apud nos toga, id apud Was arma, sondern komprimiert sie durch eine einfache Substitution zu: haec apud illos toga, wodurch mit vier Worten zwei Welten übereinandergeschoben werden. Die Schwierigkeiten werden dadurch noch potenziert, daß der entscheidende Begriff in seiner konkreten Bedeutung ungeklärt bleibt, Tacitus es also seinem Leser überläßt, aus der Art der Verwendung von toga das, was er mit diesem Be. 37 gn·ff· memt, zu gewInnen. Nun ist es zweifellos richtig, daß Tacitus schon zu Beginn des Kapitels dadurch, daß er auf die Sitte des ständigen Waffentragens verweist, kontrastiv zu den römischen Verhältnissen erneut den martialischen Charakter der Germanen betont. 38 Die Schlußfolgerung der Kommentatoren aber, die unisono meinen, daß »der Kontrast im Kontext [... ] somit in den beiden Begriffen toga und arma [liegt], die Frieden bzw. Krieg symbolisieren«,39 scheint mit dem Kontext dennoch nicht kohärent zu sein. Denn wenn man die Analogie ausschreibt und die vorgeschlagene metonymische Auflösung durchführt, hätte Tacitus sagen wollen: »Was den Germanen der Krieg, ist den Römern der Frieden.« Nun ist aber die metonymische Verwendung der toga nicht auf den Frieden begrenzt: In den >Annalen< bspw. fungiert sie als das Signum nationaler Identität, und in Ciceros Hexameter »cedant arma togae [. ..}« begegnet eine weitere metonymische Verwendung der toga, nämlich als Ausdruck innenpolitischer Tätigkeit (im Unterschied zur militärischen eines Pompeius). Der von den Kommentatoren gebotene Verweis auf Ciceros >De oratore< ist hier also willkürlich und hilft nur begrenzt weiter. 40 37 »Eine Bedeutung eines Wortes ist eine Art seiner Verwendung«: Wittgenstein (Über Gewißheit §61). 38 Perl (1990, ad loc.). 39 Lund 1988, S. 148. Ebenso Perl (1990) und Rives (1999), jeweils ad loc. Anders hat diese Passage allerdings schon Wolff(1934, S. 121) und ihm folgend v. See (1994, insbes. S. 36) aufgefaßt: Sie sehen in dem »toga-Vergleich« den Kontrast zwischen der »zivilen Struktur der römischen Gesellschaft« und der »kriegerischen der germanischen« prägnant formuliert. Dies werde ich zu erhärten suchen. 40 Tacitus (ann. 1.59.4) läßt Arminius zürnen: Germanos numquam satis excusaturos, quod inter Albim et Rhenum virgas et secures et togam viderint. Cicero (off. 1.77) verdeutlicht seinem Sohn Marcus die Bedeutung seines anzitierten Verses: Mihi quidem certe vir abundans bellicis laudibus, Cn. Pompeius, multis audientibus, hoc tribuit, ut diceret Jrustra se triumphum tertium deportaturumfuisse, nisi meo in rem publicam beneficio ubi triumpharet esset habiturus. - Rives (1999, S. 180) verweist nicht nur auf die bekannte Stelle aus Cic. de orat. 3.167, wo Cicero in der Tat togam pro pace, arma ac tela pro beUo zu verwenden empfiehlt, um den metonymischen Gebrauch der toga zu belegen, sondern eben auch auf die Stelle Cic. off. 1.77. Indes Ciceros erklärende Erörterungen seines vielgeschmähten Verses flir seinen Sohn machen deutlich, daß mit toga hier die innenpolitische Leistung symbolisiert wird; so beschließt Cicero seinen Paragraphen auch

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Reiht man die Hauptaussagen dieses Passus aneinander, so erhält man folgende Serie von Schlüsselwörtern: arma sumere - haec toga - hic honos - pars rei publicae. Der junge germanische Mann tritt also durch das Anlegen der Waffen aus der Unmündigkeit in die Gemeinschaft, beginnt hiermit seine Laufbahn, denn das Waffenanlegen ist ja nicht nur toga, sondern auch primus honos, wohingegen der junge Römer durch das Anlegen der Toga seine politische Laufbahn mit den Stationen des cursus honorum beginnt. Die germanische Initiation ist eine militärische, die Ehren sind militärische, die römische ist eine politische und die Laufbahn umfaßt innenpolitische wie militärische Stationen. Tacitus verdeutlicht, daß die Germanen einzig und allein martialische Ziele verfolgen, wodurch über die Römer nur so viel ausgesagt wird, daß sie nicht nur auf Kriege fixiert sind. Ausgeschrieben würde die Analogie also lauten: Was den Römern die toga im Verhältnis zum politisch-militärischen Verantwortungs bereich der res publica, ist den Germanen die framea im Verhältnis zum Kriegsdienst für die Gemeinschaft. Die Analogie verwendet Tacitus ungleich häufiger als den einfachen expliziten Vergleich,41 obschon die impliziten Formen nicht immer so ohne weiteres auszumachen sind; die interpretatio Romana und die interpretatio Tacitea zählen strenggenommen auch zu dieser Kategorie, sollen aber gesondert behandelt werden. Die dominante Vergleichskategorie scheint indes der Kontrast zu sein, d.i. die Darstellung dessen, was aus der Perspektive des Römers wie eine verkehrte Welt (mundus inversus)42 anmutet oder dazu stilisiert wird. Diese implizite Form des Vergleichs, welche die häufigste ist - als Beispiel könnte hier der Tagesablauf des Germanen angeführt werden, der in einer Weise dargestellt wird, die der Römer als der seinen diametral entgegengesetzt auffassen mußte - hat als paradoxographisches Element, ja eventuell sogar als Gattung, innerhalb der Ethnographie eine lange Traditimit den Worten: Sunt igitur domesticae fortitudines non inferiores militaribus. Die Verwendung aus >De ofticiis< ist also ein Gegenbeispiel. 41 So Germ. 2.1: Celebrant carminibus antiquis, quod unum apud il/os memoriae et annalium genus est, ... Germ. 5.3: interiores simplicius et antiquius permutatione mercium utuntur. Ganz deutlich ist die Analogie in Germ. 16.2: ne caementorum quidem apud iIIos aut tegularum usus: materia ad omnia utuntur informi et citra speciem aut delectationem. Perl (1988, S. 27) interpretiert Tac. Germ. 39 (Schilderung des Semnonentreffens) als Analogon zum alten Latinerbund; kritisch hierzu: Lund (1991, S. 2209). 42 Zum Phänomen des mundus inversus: Lund (1988, S. 56-62, mit einer Diskussion relevanter Passagen der >GermaniaGermania< waltet: Selektion, Komposition, (vermeintliche) Deskription und Explikation tragen römisch-taciteisches Kolorit. Von den Göttern verehren sie am meisten 43 Schon Herodot spricht von den Epya jlEyaAa TE Ka\ 6CUjlaaTa, deren Ruhm er bewahren möchte; Norden (1920, S. 100; siehe auch Timpe (1986, S. 23)) bemerkt: »Offenbar ist es ein altüberlieferter Gemeinplatz ethnographischer Literatur, die Schilderung der lilmptpovTU von Ländern und Völkern [ ... ]«; zu den 6uljlaTa bei Herodot: Hartog (1988, S. 230-37) und Barth (1968), die feststellt: »In den geographisch-ethnographischen Partien gilt Herodot offenbar jedes Abweichen vom Durchschnitt als mitteilenswert [ ... ]« (S. 109). Auf eine »untergegangene, paradoxographisch-ethnographische Literaturform« hat Trüdinger geschlossen (1918, S. 35), wofür er u.a. Strabo (307.18) als Beleg gibt. 44 Hierzu Perl (1990, ad loc.). Ein schönes herodoteisches Beispiel für die Inversion ist seine Erklärung dafür, warum Kandaules' Frau darüber erbost sei, von Gyges nackt gesehen worden zu sein: rrapo yop TOIOl Auoolal, aXEoov OE W'I rrapo TOIOl 0'\'\0101 ßapßapOlal, Kat ovopa oq,6ijvaI YUjlVOV E5 alaXUVfjV jlEyaAfjV q,epEI (Hdt. 1. 10). Diese Erklärung ist für den griechischen Leser erforderlich, weil sein eigener Umgang mit Nacktheit davon abweicht; auch hier begegnet das Problem der Verzeitlichung: »]] tabu della nudita esisteva anche in Grecia in eta molto anti ca« (Asheri ad loc.): Die Barbaren der Gegenwart leben also auch diesbezüglich wie die Griechen der Vergangenheit.

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den Merkur, dem an bestimmten Tagen sogar Menschenopfer darzubringen sie für geboten halten. - Deorum maxime Mercurium colunt, cui certis diebus humanis quoque hostiis litare fas habent. So leitet Tacitus (Germ. 9.1) seine Ausführungen zur Religiosität der Germanen ein, worin er folgendes (Germ. 9.2) bemerkt: Dagegen glauben sie, es sei der Hoheit der Himmlischen nicht angemessen, Götter in Wände einzuschließen oder sie irgendwie nach Art des menschlichen Aussehens nachzubilden. Sie weihen ihnen (vielmehr) heilige Haine und Wälder und benennen mit Götternamenjenes geheimnisvolle Wesen, das sie nur in frommer Scheu schauen. eeterum nee eohibere parietibus deos neque in ullam humani oris speeiem adsimulare ex magnitudine eaelestium arbitrantur; lueos ae nemora eonseerant, deorumque nominibus appellant seeretum illud quod sola reverentia vident.

Griechisch-römischer Einfluß zeigt sich schon in der Selektion des Stoffes. Denn daß Tacitus mit Hilfe der für die Ethnographie typischen Technik der »stichwortartigen Abschnittsbezeichnung«, die gleichsam als Kapitelüberschrift fungiert, nun über die Religion der Germanen handeln wird, ist durch die ethnographische Topik vorgegeben; auf das neue Thema hatte er mittels der assoziativen Verknüpfung (der letzte Abschnitt (Germ. 8.2) lautet auf deas aus) subtil vorbereitet. 45 Soviel zur Konzession gegenüber der Tradition. Hingegen daß er mit den Kapiteln 9 und 10 die germanische Religiosität vergleichsweise ausführlich behandelt, liegt darin begründet, daß sie ein wichtiger Faktor für die Kriegspraxis ist, deren enge Verbindung zu betonen Tacitus sich wiederholt angelegen sein läßt: Die Germanen glaubten, daß die Gottheit den Kriegern zur Seite stehe, und den Ausgang eines Zweikampfes verstünden sie als Ausdruck göttlicher Gunst;46 beide Details wählt Tacitus aus, um die enge Verbindung von Religion und Krieg zu betonen, deren ausführliche Behandlung das spezifisch taciteische Interesse an den Kriegsgegnern des römischen Reiches offenbart. 45 Zur »stichwortartigen AbschnittsbezeichnungGermania< als rhetorisch aufzufassen, geboten ist, kann bei genauerem Betrachten des Dargestellten diesem wiederum Bedeutsamkeit innerhalb des Kontextes abgewonnen werden. Daß die Germanen keinen anthropomorphen Gottesdienst praktizieren und keinem Tempelkult nachgehen, fügt sich in das - in Kap. 2.3 ausführlicher darzustellende - Porträt der Germanen als Angehöriger einer vorkulturellen Periode: Wie bspw. bei Varro nachzulesen, pflegen primitivere Völker einen Hain- und Steinkult. 49 Dieser primitive Kult fügt sich also nahtlos in die griechisch-römische Vorstellung der Religion primitiver Völker, resultiert also ohne Zweifel aus der Projektion eines römischen Autors auf das fremde Objekt. Doch ist es nicht nur der Kult als solcher, der dem römischen Sinnzusammenhang geschuldet ist, sondern auch die von Tacitus fiir diese Form des Kultes gegebene Erklärung reflektiert ebenso unzweifelhaft »die Anschauungen eines philosophisch gebildeten Römers«.50 Selektion, Komposition, Deskription und Explikation sind immer schon Interpretation. Tacitus wählt die Waffeninitiation der germanischen Jugend

47 Perl (1990, ad loc.); so auch: Flach (1989, S. 37f.). 48 Zu Menschenopfern in Rom: Lund (1988, ad loc. (mit weiterführender Literatur»; man vg!. die Entrüstung bei Paulinus von Nola (Pau!. No!. carm. 32.109). 49 Varro (bei Aug. civ. 3.34) stellt fest etiam antiquos Romanos plus annos centum et septuaginta deos sine simulacro coluisse. Perl (1990, ad loc.) gibt eine Reihe weiterer Belegstellen. 50 Perl (1990, ad loc.); treffend sind auch die Ausflihrungen Bringmanns (1989, S. 72f.).

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für seine Darstellung aus, weil sie für seine römischen Augen Bedeutung trägt; er schließt an die Beschreibung des germanischen Kleidungsstils Betrachtungen zur germanischen Moral an, weil darin in seinen römischen Augen mehr zum Ausdruck kommt als bloße Körperbedeckung; er widmet sich ausgiebig der Religiosität, weil dieser besondere Relevanz für den Krieg eignet, und der Germane durch sie als Primitiver besonders deutlich konturiert werden kann.

2.1.2 Interpretatio Romana und Interpretatio Tacitea Wenn Tacitus über die germanische Religion handelt, identifiziert er in Sätzen wie: Von den Göttern verehren sie am meisten den Merkur (deorum maxime Mercurium colunt: Germ. 9.1; außerdem: 3.1; 40.2; 43.3; 45.2), die germanische Gottheit mit Hilfe eines römischen Namens. Bekanntlich hat Tacitus selbst diese Methode reflektiert (Germ. 43.3): Man erzählt von Göttern, die in römischer Deutung Castor und Pollux heißen: Dies ist nämlich das Wesen der Gottheit, ihr Name ist Alken. - deos interpretatione Romana Castorem Pollucemque memorant: ea vis numini, nomen Alces. Der von Tacitus geprägte Ausdruck interpretatio Romana bezeichnet in diesem engeren - religiösen - Sinne die »designation d'une divinite etrangere par le nom d'une divinite romaine >analogue«< infolge einer zumindest partiellen Kongruenz der Funktionsbereiche oder Merkmale (ea vis numini).51 Wodan erfüllt als Schutzgott des Handels und als Geleitgott der Toten eben die Funktionen, die in griechisch-römischem Kulturkreis von HermeslMerkur ausgeübt werden. 52 Besonders deutlich tritt dies in der auch noch später zu behandelnden Vorstellung des Merkur bei Caesar (GaU. 6.17.1) zutage:

51 Wissowa (1916/19) hat sich um eine Typologie der interpretatio Romana (IR) bemüht, für die er zahlreiche Einzelbetrachtungen anstellt; Girard (1980) beleuchtet die Prozedur der IR und deutet die darin zum Ausdruck kommende religiöse Mentalität der Römer; Barie (1985) befaßt sich exemplarisch an Caesars Exkurs und Herodots Referat über den thrako-getischen Daimon Salmoxis mit der IR als religionsgeschichtlichem Phänomen; Webster (1995), ebenfalls mit religionsgeschichtlichem Interesse, zeigt, daß ein Schluß vom keltischen Kultus post Galliam pacatam, wie er durch die IR verzerrt ist, auf den vor der römischen Invasion nicht möglich ist. Zu den herodoteischen Göttern: Hartog (1988, S. 237-48), Linforth (1926) und Burkert (1985). - Das Zitat stammt von: Girard (1980, S. 21). 52 »[C]'est que les identifications que fait l'interpretatio Romana ne sont pas, comme l'on dit aujourd'hui, genetiques, mais fonctionnelles«: Girard (1980, S. 25). Schon Wissowa (1916/19) hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Kongruenz der Funktionsbereiche oftmals römischem Einfluß geschuldet ist.

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Er hat die meisten Bilder, gilt als Erfinder aller Handwerke und Künste, als Führer auf Weg und Steg und hat nach ihrem Glauben den größten Einfluß auf Gelderwerb und Handel.

huius sunt plurima simulacra, hunc omnium inventorem artium ferunt, hunc viarum atque itinerum ducem, hunc ad quaestus pecuniae mercaturasque habere vim maximam arbitrantur.

Der gallische Merkur erfiillt dieselben Funktionen wie der römische. Hat man nun die (vermeintliche) Identität der Gottheiten ausgemacht und teilt die theologische Auffassung, wie sie etwa bei Cicero in >De natura deorum< (1.30.84) in den Worten wie viele Sprachen, so viele Götlernamen (quot hominum linguae tot nomina deorum) , zum Ausdruck kommt, so scheint die Übersetzung unproblematisch: Der römische Name »Merkur« bezeichnet und - um einer wichtigen Differenzierung vorzugreifen - meint bei Tacitus dasselbe wie der germanische »Wodan«. Die Grenzen zwischen dem hierin zum Ausdruck kommenden kulturellen Imperialismus und der wissenschaftlichen Methode zum Verständnis fremder Kulte sind zweifelsohne fließend. 53 Es ist von der Sache her völlig gerechtfertigt, den Terminus technicus dann weiter zu fassen, um damit auch die Fälle einzuschließen, in denen auf ein germanisches Phänomen jenseits der Religion ein römischer Begriff angewandt wird, weil mit Carnap zu reden die Designata, die Referenzobjekte, identisch sind (oder zumindest als identisch aufgefaßt werden). Diese jenseits des religiösen Bereichs angewandte interpretatio Romana ist interpretatio Romana im weiteren Sinne genannt worden. 54 Gerechtfertigt scheint dies insofern zu sein, als sich bei Tacitus nichts findet, was eine solche erweiterte Verwendung verbieten würde; mit Einschränkungen, die weiter unten näher spezifiziert werden, scheint eine solche interpretatio bei der Verwendung des Ausdrucks concifium anstelle des Thing und bei der Bezeichnung der Freigelassenen als fiberti der Fall zu sein. Jedoch gilt es bei der Verwendung des Ausdrucks interpretatio Romana im weiteren Sinne zweierlei zu beachten: Zum einen sollte damit immer ein Aneignungsvorgang des Fremden mittels einer Begriffssubstitution gemeint sein; nicht hingegen sollte der Begriff dafiir verwandt werden, generell die

53 Zum Kulturimperialismus: Jane Webster (1995, S. 160: »Deity naming, and deity syncretism, are manifestations of power. [ ...] Foreign gods were not simply viewed in terms of the Roman pantheon - they were converted to it by force«). Girard (1980, S. 21) scheint in der interpretatio Romana ein Vorgehen zu sehen, das »loin d'etre un facteur d'abatardissement de la religion traditionnelle, a permis aux Romains de concilier !eur fidelite aux conceptions nationales et leur curiosite des cultes etrangers.« Neumann (1986) untersucht die Aussagefahigkeit der Namen, im Zuge dessen auch der römisch-germanischen Götternamen (S. 124-7). 54 Z.B. Lund (1988, S. 68).

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oben ausgearbeitete Penetranz der römischen Kultur des Schreibers in dem Beschriebenen zu bezeichnen, weil dadurch die distinkte Qualität verloren ginge. 55 Zum anderen gilt es, diese interpretatio Romana von einer andersgearteten interpretatio zu unterscheiden: Denn die interpretatio Romana im engeren und im weiteren Sinne derart, daß die Identifizierung des Germanischen durch einen römischen Begriff der Identität der Referenzobjekte nachfolgt, soll hier aus Gründen der Klarheit terminologische interpretatio Romana genannt werden; römischer und germanischer Begriff bezeichnen und meinen dasselbe. Hiervon gilt es die semantische interpretatio Tacitea abzugrenzen, die auf ein germanisches Phänomen einen römischen Begriff anwendet, der zwar dasselbe bezeichnet wie der germanische, aber nicht mehr dasselbe meint. Dieter Timpe hat in seinen Überlegungen zur ethnologischen Begriffsbildung auf die Tendenz kaiserzeitlicher Autoren hingewiesen, »Phänomene der beobachtbaren Realität als Ausdruck einer tieferen und abstrakteren Wirklichkeits struktur zu verstehen, etwa Verhalten als Ausdruck von Haltung.« In einer weiteren Arbeit, die sich mit dem politischen Charakter der Germanen in der Germania des Tacitus auseinandersetzt, macht er darauf aufmerksam, daß »[n]icht was >objektivbedeutendstenHistorien< (hist. 1.4.1) an, er stelle z.B. den Zustand der Stadt dar, ut non modo casus eventusque rerum, qui plerumque fortuiti sunt, sed ratio etiam causaeque noscantur.

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druck kommt. Mit interpretatio Tacitea sei dieser Interpretationsvorgang bezeichnet, durch den Tacitus mit dem römischen Begriff dem germanischen Phänomen seine persönlichen Werturteile überstülpt, so daß es sich nicht mehr um eine Identifikation mit Hilfe des römischen Begriffs infolge der Identität der Designata handelt, sondern um eine Modifikation der Semantik, so daß der römische Begriff etwas anderes meint als der germanische. Im römischen Begriff kristallisiert sich dann Tacitus' Meinung. Das neben dem Begriff der jramea58 vielleicht schönste Beispiel liefert die bedeutungsreiche Erörterung des Bernsteinhandels der Ästier (Germ. 45.4), worin der römische Begriff sucinum und der germanische glesum dasselbe bezeichnen - denn das Referenzobjekt ist in beiden Fällen der Bernstein - aber gänzlich anderes meinen: Aber auch das Meer durchsuchen sie, und zwar sammeln sie als einzige von allen (Germanen) Bernstein - den sie selbst »glesum« nennen - an seichten Stellen und unmittelbar am Strand. Woraus er aber besteht und auf welche Art und Weise er entsteht, ist (von ihnen), wie bei Barbaren üblich, weder erforscht noch gehört. Er lag sogar lange unter dem übrigen Auswurf des Meeres, bis unsere Prunksucht ihm Bedeutung verlieh. Sie selbst verwenden ihn überhaupt nicht; wie er in der Natur vorkommt, wird er von ihnen gesammelt, unbearbeitet übergeben, und staunend nehmen sie den Preis entgegen. Sed et mare scrutantur, ac soli omnium sucinum, quod ipsi glesum vocant, inter vada atque in ipso litore legunt. Nec quae natura quaeve ratio gignat, ut barbaris, quaesiturn compertumve; diu quin etiam inter cetera eiectamenta maris iacebat, donec luxuria nostra dedit nomen. [psis in nullo usu; rude legitur, in/orme perfertur, pretiumque mirantes accipiunt.

Gemäß Tacitus' sachlich unangemessener Darstellung ist den Germanen ihr glesum »Auswurf des Meeres« und »nutzlos«, so daß sie mit Erstaunen reagieren, wenn sie von den Römern Geld dafiir erhalten. 59 Glesum meint im germanischen Kontext eben nur das nutzlose Naturprodukt, dessen Entstehung darzustellen Tacitus sich ja auch (Germ. 45.2) im Anschluss angelegen sein läßt. Den Römern hinwiederum ist ihr sucinum ein kostbares Luxusgut,60 und ihre luxuria Romana hob das glesum in den Rang des sucinum, verlieh ihm Bedeutung (nomen dedit).61 Glesum wird also nicht durch 58 Der bedeutungsschwere Begriff der framea (Germ. 6.1 (2), 11.2, 13.1, 14.2, 18.2, 24.1) wird als einziger germanischer Begriff nicht durch das römische Pendant ersetzt; die hieran anschließenden Überlegungen würden den Rahmen jedoch sprengen. 59 Zur sachlichen Falschheit dieser Schilderung: Perl (1990, ad loc.). 60 O'Gorman interpretiert diesen Passus im Rahmen ihrer These »römischer Formgebung« (s. Fn. 14) als Beleg eines tiefgehenden Kulturimperalismus (1993, S. 141): Die römische Prunksucht erst verleihe dem Bernstein Bedeutung; »( ... ) the Romans are not only trading amber but also attitudes to amber.« Ihrer Beobachtung möchte ich meine obigen Überlegungen hinzufügen. 61 Zu dieser Bedeutung von nomen: OLD, S.V. 11.

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sucinum übersetzt, es handelt sich hier nicht um eine interpretatio Romana im weiteren Sinne, sondern sucinum ist ein Fall der interpretatio Tacitea: Während glesum den Bernstein bezeichnet und meint, ist mit sucinum das Objekt der luxuria Romana gemeint; während der germanische Begriff das verbum proprium ist, steht der römische metonymisch für entarteten Luxus. Wiederholt spricht Tacitus von der plebs (Germ. 10.2, 11.1. u. 12.3). Dieses soziale Stratum fUgt sich, wie Allan Lund herausgearbeitet hat, in ein fUnfschichtiges Schema, das den Aufbau der römischen Gesellschaft spiegelt. 62 Allerdings scheint mir hier von einer interpretatio Romana zu sprechen problematisch zu sein, gleichviel ob damit die Penetranz des Eigenen oder eine »Übersetzung« gemeint ist: Wenn nämlich von einer interpretatio Romana gesprochen wird, weil die germanische Welt die römische spiegle, weil sie von einem Römer dargestellt werde, wird hier nicht übersetzt, sondern eben die Penetranz des Eigenen nochmals deutlich. Wenn damit aber gemeint ist, daß Tacitus die römischen Begriffe anstelle der germanischen verwende, so handelt es sich zumindest in bezug auf die plebs um eine interpretatio Tacitea. Denn Tacitus hätte die untere Volksschicht auch vulgus nennen können, nennt sie aber, wie Gerhard Perl bemerkt, »entsprechend seiner Hochschätzung der starken plebs in der Zeit der libera res publica« plebs. 63 Wiederum blickt Tacitus, wenn er den Begriff »plebs« verwendet, nicht so sehr auf das Bezeichnete, d.i. die Menge der Freien, als vielmehr auf das, was dieser Begriff für ihn meint: die in Freiheit lebenden Römer der Zeit der Republik. Unmißverständlich kommt dies wohl auch darin zum Ausdruck, daß Tacitus auf die germanische Gesellschaft den Ausdruck res publica (Germ. 13.1) anwendet (s. hierzu Kap. 2.2) und den germanischen Familienvater als pater familiae (Germ. 10.1) bezeichnet. Wie schon bei der Erwähnung der centeni,64 so erhellt auch in der farbigen Schilderung der germanischen Würfelleidenschaft (Germ. 24.2) das Problem der Diskrepanz von Bezeichnung und Gemeintem: So groß ist bei einer verkehrten Sache ihr Starrsinn; doch sie (selbst) nennen es »Treue«. Ea est in re prava pervicacia; ipsi fidem vocant. Der Germane - so Tacitus - setze, nachdem er alles verloren habe, schließlich noch die eigene Freiheit, um dann, wenn er erneut verloren habe, widerstandslos in die Skla-

62 Lund (1985). 63 Perl (1990, S. 163). 64 Ursprünglich bezeichnete »centeni« nur die aus der Jugend Ausgewählten, die vor die Schlachtreihe gestellt wurden (ante aeiem: Germ. 6.2), später aber meinte der Begriff eine EliteTruppe: definitur et numerus: centeni ex singulis pagis sunt, idque ipsum inter suos vocantur, et quodprimo numerusfuit, iam nomen et honor est (Germ. 6.3). Der lateinische Ausdruck »centeni« vermittelt dies nicht, daher Tacitus' etymologische Erklärung.

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verei überzugehen, wofür Tacitus nur wenig Verständnis autbringt.65 Sie selber nennen dies Verhalten in taciteischer Übersetzungfides; Tacitus bezeichnet es als pertinacia, womit er zugleich konstatiert, daß dies seiner Meinung nach nicht als fides bezeichnet werden könne. 66 Tacitus übersetzt also die germanische Treue mit fides, um diese Bezeichnung als unzutreffend zurückzuweisen. Von den jüngeren Kommentatoren thematisiert diese Stelle allein Gerhard Perl: Der römische Begriff »fides« und der germanische »Treue« würden sich nicht decken. Während fides die »Pflicht zur Treue bei Rechtsgeschäften« bezeichne, wozu er auf eine Stelle in den >Annalen< verweist (ann. 13.54.3), sei das Einhalten eines freiwillig eingegangenen Vertrages in dem germanischen Begriff der »Treue« eingeschlossen. Perl macht mit anderen Worten einen Bedeutungsunterschied aus, der daraus resultiert, daß germanischer und römischer Begriff Unterschiedliches bezeichnen. Dieser Bedeutungsunterschied kann freilich nicht ausgemacht werden: >>.fides« kann auch »freiwillige Vertragstreue« bedeuten. 67 Wenn aber der römische Begriff >>.fides« die Anwendung auf die germanische Treue in dem ausgewiesenen Sinne erlaubt, Tacitus fides als Begriff aber zurückweist, wird erneut deutlich, daß das mit fides Bezeichnete und das von Tacitus damit in diesem Kontext Gemeinte divergieren. Erneut liegt das für Tacitus Entscheidende in dem Gemeinten, nicht in dem Bezeichneten, weswegen er das Verhalten der Germanen als pertinacia bezeichnet. 68 Diese Beispiele der interpretatio Tacitea sind wie die der interpretatio Romana letztlich nur augenfällige Konsequenz der Penetranz des Eigenen; sie sollten zeigen, inwiefern >Germanien< eine Germania Taciti Romana ist. Daß der Römer Tacitus aus seiner römischen Welt heraus die Germania konstruiert, wird auch in dem Bild eines einheitlichen germanischen Volkes

65 Tacitus betont, der Verlierer lasse dies quamvis iuvenior, quamvis robustior über sich ergehen, und endet damit, daß er behauptet, die Gewinner würden den Gewonnenen verkaufen, ut se quoque pudore victoriae exsolvant. 66 Irenicus (Exeg. II.l5, 16) sieht hier im Widerspruch zu Tacitus »nur echte Beständigkeit«; Wimpfeling (Epitome, Schluß) übergeht diesen taciteischen Passus ganz: Tiedemann (1913, S. 668) gibt einen Überblick über den Stellenwert der germanischenfides bei deutschen Humanisten. 67 Cf. Lex. Tac. s.v.fides. 68 Zum moralischen Gehalt des römischenfides-Begriffs: Heinze (1960, S. 59ff.). - Eine interessante Parallele bietet hier wie oft der Skythenexkurs (4.65): Herodot beschreibt, wie sie im Falle von Familienstreitigkeiten diese bis zum Tod eines Streitenden austragen und dann den Schädel des Bezwungenen aufbewahren (und sogar zum Becher umgestalten) und stolz Gästen von Rang präsentieren würden; Herodot fUgt mit offensichtlichem Unverständnis hinzu: Tal.ITnV Cxvopaya81nv AEYOVTES. Zwar »übersetzt« Herodot den skythischen Begriff, er macht aber zugleich deutlich, daß dies nicht seinem Verständnis von »Tapferkeit« entspricht; auch hier divergieren Bezeichnetes und Gemeintes.

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in festen germanischen Grenzen und in der Ambivalenz des Germanenporträts deutlich.

2.2 Corpus nomenque Germaniae: imaginäre Geographie Germania enim omnis teste Cornelio Tacito a Gallis Rhetisque et Pannoniis Rheno et Danubio jluminibus separatur; unde extra Germaniam Vindelicos habitasse perspicuum est. 69

Im Sinne einer virtuellen (Wirkungs-)Geschichte kann man wohl sagen, daß die >Germania< nicht so ohne weiteres als Quelle deutscher Vergangenheit gelesen worden wäre, nicht diesen Rezeptionseifer der Humanisten ausgelöst hätte, wenn etwa nur ihr völkerspezifischer Teil überliefert und der idealtypische verloren gegangen wäre. Denn die von keinem Humanisten bezweifelte Annahme, daß Germanen und Deutsche dasselbe Volk an unterschiedlichen Punkten der gemeinsamen Geschichtsachse seien, hat die antiken Germanen als ein distinktes Ethnos zur unausgesprochenen Voraussetzung. Diese Identifikation ist durch Tacitus' >Germania< insofern erleichtert worden, als darin nachdrücklich und versiert der Eindruck vermittelt wird, es handle sich bei den Germanen um eine Nation, welche - von demselben Blut, geographisch eindeutig lokalisiert, politisch organisiert und kulturell homogen - ihr Land: Germanien in seiner Gesamtheit (Germania omnis: Germ. 1.1) bewohnt. Diese Vorstellung ist ihrerseits Konstrukt, und wie hinsichtlich der taciteischen Germanen treffend von einer imaginären Ethnographie gesprochen worden ist, ebenso wird mit Blick auf die taciteische >Germania< von einer »imaginären Geographie« zu sprechen sein. Der Vergleich mit der Geographie Germaniens, wie Caesar sie im >Bellum Gallicum< vorgestellt hat, wird die Andersartigkeit und zugleich die (literarische) Finesse dieser taciteischen Konstruktion zum Vorschein bringen. 7o

69 Denn Cornelius Tacitus be=eugt, daß Germanien von den Galliern sowie von den Rätern und Pannoniern durch die Flüsse Rhein und Donau getrennt ist; daraus erhellt, daß die Vindelicer außerhalb Germaniens gelebt haben: Bebel (demonstratio, quod Germani sint indigenae, S. 106 (col. 2)). 70 Zur imaginären Ethnographie: Lund (1991, S. 1869 u.ö.). - Zur Bedeutung des taciteischen Konstruktes: »Denn die Darstellung des Tacitus erweckte den Eindruck einer kulturellen und auch nationalen Einheit der Germanen, die den Deutschen fehlte. [... ] Dies Geschichtsbild [d.i. die Identifikation der Germanen als deutscher Vorfahren, Anm. v. Verf.] beruhte auf der falschen Voraussetzung einer direkten Abkunft der damaligen Bewohner Deutschlands von den Germanen des Tacitus [... ]Germania< unter den Feinden des Römischen Reiches die Germanen ftir noch gefährlicher hält als die Parther [ ... ], so setzt diese Einschätzung bei den Germanen eine ausgebildete politische Kraft voraus.« Deswegen (Perl, 1990, S. 18f.) werde vom ersten Satz an der Eindruck einer kulturellen und politischen Einheit erzeugt. 76 Inscr. H. 13,1 (S. 78f.); zur Frage der Rekonstruktion: Lund (1998, S. 41, mit der entsprechenden Literatur). - Zu diesem Kapitel: Die imaginäre Geographie in Caesars >Bellum Gallicum< werde ich andernorts ausftihrlicher behandeln (2005). 77 Athen. 4.39 (FGrH. 87 F22 (Jac.»: rEp~ovol OE, ws \OTOpEI nOOEIOWVIOS EV Tlli TPIOKOOTlll, aploTov TTpoaepepovTol Kpeo ~EAT]OOV WTTTT]~eVO KOI ETTITTIVOUOI yaAo KOI TOV olvov aKpoTov.Norden (1920, S. 83f.) liest Poseidonios so, als habe er in seinen »keltischen und germanischen Ethnographien [ ... ] auch über die beiden großen Völkerschaften geurteilt.« Schwere Einwände hat hiergegen schon Jacoby (FGrH. IIC S. 169f.) erhoben, der vor allem darauf verwies, daß Diodor, obgleich er Poseidonios in so vielem folgte, keine eigene germanische Ethnographie verfaßt habe. Auch daß die Germanen als Ethnos ein römisches Konstrukt sind, das die Caesar nachfolgenden griechischen Ethographen nicht übernommen haben, wie Norden selber (S. 10lf.) ftir Diodor, Dio Cassius und Josephus belegt, macht seine Hypothese überaus unwahrscheinlich (hierzu ausftihrlich: Dobesch (1998, S. 61-70, in Auseinandersetzung mit Timpe (1995a)).

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Frage. Es fällt auf, daß die Kategorie Germani innerhalb der griechischsprachigen Ethnographie kaum benutzt worden ist, man dort statt dessen bei dem Schema hier Skythen, dort Kelten blieb, was nur schwerlich erklärbar wäre, wenn Poseidonios selbst schon Germani im caesarischen Sinne verwandt hätte (s. Fn. 77); die Dreiteilung des Nordens war römisch. Eine Erfindung Germaniens durch Caesar scheint somit zumindest wahrscheinlich; auf jeden Fall ist Caesars Geographie Germaniens ein Konstrukt. 78 Schon Gerold Walser hat Caesars Definition des Rheins als Kulturgrenze und im Zusammenhang damit die Deklaration gravierender kultureller Unterschiede zwischen den Bevölkerungen Galliens und Germanies als Manifestationen des tendenziösen Charakters des >Bellum Gallicum< gedeutet, der in der Rechtfertigung bestehe, »daß es sich beim Germanenkrieg nicht um ein eigenmächtiges Unternehmen, sondern um einen dringend notwendigen Verteidigungskrieg zum Nutzen des Reiches handle«, weil die Germanen immer wieder über den Rhein in Gallien einfielen. Und auch Eduard Norden hatte darauf aufmerksam gemacht, daß Caesar es sich in seiner Darstellung zudem angelegen sein lassen mußte zu erklären, warum »der Siegeslauf der Legionen am Rhein seine Grenze« fand. 79 Damit ist die Statuierung des Rheins als Grenze überzeugend begründet worden, worüber man eine nähere Betrachtung der Geographie Germaniens insgesamt vergessen zu haben scheint. 80 Caesar nimmt strenggenommen mehrere Konstruktionen vor: Er statuiert den Rhein als Grenze, konstruiert den Raum jenseits des Rheins und porträtiert die dort lebenden Menschen in spezifischer Weise - all dies um den Preis mancher Schwierigkeiten und gar Widersprüche. Die hier vorzustellende Interpretation, daß Caesar mit Hilfe seiner imaginären Geographie eines grenzenlosen Germaniens die

78 »Caesar ist der Erfinder der Germanen GermaniensGermanien< konstruiert und den Namen Germania geprägt und somit gleichzeitig die Germanen als Oberbegriff erfunden, um sie dem Oberbegriff >Gallier< gegenüberstellen zu können. Er hat mit anderen Worten aller Wahrscheinlichkeit nach den Oberbegriff >Germanen< im Sinne von Einwohner Germaniens zwischen dem Jahr 55 und dem Jahr 53 v. Chr. Konstruiert.« Dieser Schlußfolgerung Lunds kann ich mich aus mehreren Gründen nicht anschließen, zumal er sich damit selbst zu widersprechen scheint. Denn daß Caesar bereits im ersten Buch (GalI. 1.1.3) von den Germanen spricht, qui trans Rhenum incolunt, ferner dann (GalI. 1.28.4) die Rücksendung der Helvetier in ihr Gebiet damit begründet, daß es nicht leer stehen solle, ne propter bonitatem agrorum Germani, qui trans Rhenum incolunt, suis finibus in Helvetiorum fines transirent und schließlich (GalI. 2.4.2) die Meinung referiert plerosque Belgas ortos a Germanis Rhenumque antiquitus traductos, kann - wie Lund dies tut - dahingehend interpretiert werden, »daß Caesar noch kein Wort ftir den geographischen Oberbegriff >Germanien< geprägt hat« (S. 44, Herv. v. Verf.); es ist

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Daß der Rhein der Grenzfluß Gerrnaniens ist, jenseits dessen sich das Land scheinbar unbegrenzt - im Unterschied zu nachfolgenden Ethnographen sind Grenzen zumindest ungenannt - erstreckt,90 zeigt außerdem, daß es Caesar nicht um eine Darstellung Gerrnaniens, sondern um die Begrenzung Galliens und somit des orbis Romanus bestellt war,91 wohinter der orbis alter begann, den man nicht erobern kann, wie Caesar suggeriert: Es fehlt die Nennung der Grenzen im Süden, Norden, Osten, ebenso jedwede Binnengliederung. Nun kann dies dadurch erklärt werden, erst »Agrippa [habe] in frühaugusteischer Zeit Zahlen und Distanzen gesammelt, Mitteleuropa als Raumvolumen gedacht und Grenzlinien [... ] genannt.« Es ist doch aber plausibler, daß Caesar seine »jeweiligen Partner und Gegner, Fürsten und Gefangene nach Land und Leuten ausgefragt und auf diese Weise Kenntnisse über Wegesverhältnisse [... ], strategische Schlüsselpositionen und spezifische räumliche Bedingungen [... ] und über weiträumige Tagesmarschentfernungen gesammelt« hat. 92 Alles andere als Kenntnis der Binnengliederung und (zum wenigsten eine vage) Vorstellung der Begrenzung wäre überraschend, zumal er in seinem Britannien-Exkurs, insbesondere in dem geographischen Passus (Gall. 5.13), nicht nur von der Insel als dreiecksförmig (insula natura triquetra) spricht, sondern auch deren drei Seiten in Ausrichtung und Länge bestimmt. 93 doch aber ganz klar, daß Caesar das geographische Konstrukt »Germanien«, verstanden als der Raum jenseits des Rheins, in den die Germanen eigentlich gehören, schon vom ersten Buch an für seine Neuordnung Nordeuropas vor Augen gehabt haben muß (s. Dobesch, 2000, S.15f.). Lund widerspricht sich m.E. auch, wenn er schreibt (S. 49f.), »daß das einleitende Kapitel des >Bellum Gallicum< erst zu einem Zeitpunkt geschrieben wurde, als Caesar seine Aufteilung des Nordwestens in Gallien und Germanien sprachlich und räumlich schon vorgenommen hatte. Er hat demnach das erste Kapitel erst bei der abschließenden Gesamtredaktion des >Bellum Gallicum< hinzugefügt.« Den nach Lund zwischen 55 und 53 geprägten Begriff Germanien hat Caesar bei der Gesamtredaktion 52 - die ja ebenfalls strittig ist - also nicht berücksichtigt, weder als Wort im ersten einleitenden Kapitel noch konzeptionell an der ausgewiesenen Stelle (GalI. 2.4.1)7 Nein, den Begriff »Germanien« mag Caesar in dem von Lund ausgewiesenen Sinne erst später geprägt haben hier wäre zu fragen, ob dies nicht eher für die These der seriellen Produktion spricht (hierzu siehe: Wiseman (1998)) -, das Konstrukt aber lag vor, ehe er zu schreiben begann; man vgl. Norden (1920, S. 362f.) und Walser (1956, S. 2 u. öfter) und Dobesch (2000, S. 12-16). 90 Vgl. Timpe (1995b, S. 14). 91 Siehe hierzu treffend: France (1989, S. 95: »Mais en meme temps il a fixe au Rhin la limite du monde civilise Oll doit selon lui s'arreter l'Empire de Rome et y a place le terme de sa propre conquete«). Auf die Grenzziehungen bei Pomponius Mela und Plinius dem Älteren wird in Kap. 2.2.2 näher einzugehen sein. 92 Jeweils: Timpe (1995b, S. 15 u. S. 17). Hierzu - sowie zur Geographie Caesars überhaupt vgl. man auch: Rambaud (1974, insbes. S. 112f.). 93 Die Echtheit der geographischen Exkurse ist wiederholt - zumeist aufgrund stilistischer Beobachtungen - bezweifelt worden: Klotz (1910, S. 26ff.) war erst überzeugt, bei ihnen handle es sich um Interpolationen, revidierte seine Auffassung dann, weil Beckmann (1930) die meisten seiner Argumente widerlegt hatte, um dann zu seiner ursprünglichen, wenn auch leicht modifizierten Auffassung zurückzukehren (1934, insbes. S. 69). Gründliche Diskussionen auch bei Hering

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Wenn aber nicht davon auszugehen ist, daß Caesar keine Vorstellung der Grenzen Gennaniens hatte, sieht man sich mit der Frage konfrontiert, warum er Gennanien nicht begrenzt. Und selbst wenn er überhaupt keine Vorstellungen von einer Begrenzung gehabt hätte: Da er den Rhein - sogar wider besseres Wissen - als Grenze statuiert, warum dann nicht eine im Norden, Süden oder Osten? Sind hier geographische Imagination und politische Intention wieder zu einer propagandistischen Verbindung gefonnt?94 Caesar nennt nicht nur (mögliche) Grenzen Gennaniens nicht, er läßt es sich auch wiederholt angelegen sein, die Weite germanischen Gebiets zu betonen (z.B. Gall. 4.3.1; s.a. 6.23.1-4): Sie halten es für den größten Ruhm eines Stammes, wenn dessen Flur möglichst weit von Einöden umgeben ist: Dies sei Beweis dafür, daß eine Vielzahl von Stämmen ihrer Macht nicht gewachsen gewesen sei. So sollen auf der einen Seite des Suebenlandes etwa sechshundert Meilen weit Felder unbebaut liegen. Publice maximam putant esse laudem quam latissime a suis jinibus vacare agros: hac re significari magnum numerum civitatum suam vim sustinere non potuisse. Itaque una ex parte a Suebis circiter milia passuum sescenta agri vacare dicuntur. 95

Indem Caesar diese desaströse Politik der verbrannten Erde schildert, evoziert er beim römischen Leser das Bild weiter Öde (milia passuum sescenta agri). Während das Ungeheuerliche an dieser Stelle in der genannten Verwüstungsgröße liegt, erzielt Caesar den Effekt der Verwunderung im folgenden Zitat (Gall. 6.23.1) durch Wortstellung und Wortwahl: Der größte Ruhm eines Stammes besteht darin, daß alles möglichst weit und breit um ihn herum verwüstet und zur Einöde gemacht ist. - Civitatibus maxima laus est quam latissime circum se vastatis finibus solitudines habere. Die betontesten Satzpositionen sind von »civitatibus maxima laus est« und »habere« besetzt. Es grenzt an eine Paradoxie, daß die größte Auszeichnung darin besteht, eine Öde um sich zu haben, die auch noch durch Verwüstung selbst (1956) und Berres (1970). Ohne hier auf die verdächtigten Passagen und die vorgebrachten Argumente en detail eingehen zu können, möchte ich anmerken, daß die These der »imaginären Geographien« im >Bellum Gallicum< auch dann plausibel ist, wenn man die geographica nicht anerkennt. 94 Schon Bebel (Orat. S. 100 (col. 2) und Epit. Laud. Suevor. S. 139 (co!. 2)) hat darauf aufmerksam gemacht, daß Caesar zwar den Herkynischen Wald anführt, um seine defensive Haltung gegenüber den Sueben zu begründen, zugleich aber das feindliche Meer überquert, um die Britannier zu erobern; Geographie sei also nur Deckmantel für Caesars Furcht vor dem germanischen Gegner. 95 Weite und Größe werden insbesondere für die Sueben wiederholt hervorgehoben: pagos centum Sueborum (GalI. 1.37.3; 4.1.4), die aufgrund der Weite ihres Gebietes immer wieder überfallartige Attacken durchführen und sich dann im Falle der Gegenwehr wieder in ihre Weiten insbesondere: Wälder - zurückziehen konnten (1.54.1; 4.16.5; 4.19.1-4; 6.29.1 - diese Stellen verdanke ich: Timpe (1995b, S. 15)).

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erzeugt ist. Die Junktur »solitudines habere« wird dem Leser aufgefallen sein, die Vorstellung der wüsten Öde sich ihm eingeprägt haben. 96 Hierzu kommt der Charakter der Landschaft, die auch nur irgendwie durch eine Binnengliederung übersichtlicher zu gestalten von Caesar vermieden wird. Einen Herkynischen Wald folgender (Gall. 6.25.1) Charakterisierung kann es nur in Germanien geben: Die Ausdehnung des Herkynischen Waldes verlangt von einem leichtbewaffneten Soldaten einen Marsch von neun Tagen; anders nämlich kann man dort nicht messen, und sie kennen keine Längenmaße für Wegstrecken. Huius Hercyniae silvae ." latitudo novem dierum iter expedito patet; non enim aliter jiniri potest, neque mensuras itinerum noverunt.

Nach einem Abriß seiner Ausdehnung mit Hilfe der an ihn grenzenden Völker wird die unermeßliche Tiefe hervorgehoben, und die Grenzenlosigkeit wird erneut betont: Es sei nicht bekannt, wo der Wald beginne (qua ex 10 co oriatur).97 Caesar sieht sich aufgrund dieser Weite und Öde einem logistischen wie strategischen Problem konfrontiert, denn die Getreideversorgung (res frumentaria) sicherzustellen, bereitet nicht geringe Schwierigkeiten; im Kontext der zweiten Rheinüberquerung (Gall. 6.10.2) verweist Caesar erst eher allgemein auf die Schwierigkeit, sie führt aber schließlich (Gall. 6.29.1) zum Abbruch des Unternehmens. 98 Es ist daher nur konsequent, den Einschub des Exkurses als Caesars Bemühen zu lesen, sein »Scheitern« in Germanien zu kaschieren,99 und zwar nicht nur formal (also im Hinblick auf seine Position), sondern eben auch material, im Hinblick auf das Bild Germaniens und der Germanen. Und daß die Wälder immer wieder als Refugium der Germanen - insbesondere der Sueben - dienten, wodurch diese sich dem Zugriff Caesars entzogen, stellt das aus der Landschaft resultierende strategische Problem dar: 100 So erfahrt er (GaU. 6.10.4-5), daß alle Sueben sich mit ihrer Gesamtmacht und den 96 Auf die besondere Betonung hat - soweit ich sehe - Zeitler (1986, S. 46) als erster verwiesen. 97 Gall. 6.25.4: neque quisquam est huius Germaniae, qui se [aut audisseJ aut adisse ad initium eius silvae dicat, eum dierum iter LX proeesserit, aut, quo ex loeo oriatur, aeeeperit. Daß es Caesar bei dieser Beschreibung auf »Zahlen ankommt«, ja daß ihm »am Überprüfbaren« liegt, wie von Zeitler (1986, S. 48) behauptet, steht beinahe im Widerspruch zu seinen sonstigen - m.E. treffenden - Beobachtungen, die er in bezug auf die Suggestivkraft der caesarischen Bilder macht. 98 Hierauf wird Bebel in seiner Gratio ad Maximilianum zu sprechen kommen: vgl. Kap. 3.4.3. 99 Klingner (1961, z.B. S. 109) hat als einer der ersten die Funktion des Exkurses in dieser Verschleierung gesehen; Zeitler (1986) macht sehr schön deutlich, inwiefern die ethnographischen Passus demselben Ziel dienen. 100 So besonders deutlich (4.18.4): ".seque in solitudinem ae si/vas abdiderant. Hier nutzen die Sugambrer die örtlichen Gegebenheiten zu ihrem Vorteil.

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forcierten Kräften ihrer Verbündeten ganz tief ins Land bis an die äußersten Grenzen zurückgezogen hätten; dort liege ein unermeßlich großer Wald, der Bacenis heiße (Suebos omnes ... cum omnibus suis sociorumque copiis, quas coegissent, penitus ad extrem os fines se recepisse; silvam esse ibi infinita magnitudine, quae appelletur Bacenis). Wieder ein grenzenloser Wald; hiermit muß man den größten gallischen Wald vergleichen: Nach seiner Rückkehr über den Rhein (Gall. 6.29.4) zog Caesar durch die Ardennen, den größten Wald in ganz Gallien, der vom Rheinufer und der Grenze der Treverer bis zu den Nerviern reicht und länger als 500 Meilen ist (per Arduennam silvam quae est totius Galliae maxima atque ab ripis Rheni finibusque Treverorum ad Nervios pertinet milibusque amplius quingentis in longitudinem patet). Begrenzte, auch noch so große Größe nimmt sich gegen unbegrenzte Größe klein aus. Diese Erklärung dafiir, daß Caesar keine Grenzen nennt, keine Binnengliederung vorstellt und die unbegrenzte Weite betont, fügt sich nahtlos an die Interpretation der Statuierung des Rheins als Grenze, so daß man den Schluß wagen könnte, Caesar hätte, selbst wenn er detaillierte Kenntnisse über Grenzen gehabt hätte, sie nicht genannt, weil dieses Bild Germaniens ein hervorragendes Argument ist, um das eigene Vorgehen in germanischem Gebiet zu erklären: ein Vorgehen, das nicht in mangelnder Kompetenz des Feldherren Caesar und auch nicht nur in der anschließend darzustellenden Andersartigkeit der dortigen Menschen begründet liegt, sondern in der grenzenlosen Weite Germaniens, die sich prinzipiell nicht erobern läßt. Das begrenzte Bekannte erstreckt sich bis zum Rhein, vom Rhein weg erstreckt sich das unbegrenzte Unbekannte. Über letzteres, insbesondere aber die Bewohner kann man im Grunde genommen nur sagen, was sie alles nicht sein können, weil sie anders sein müssen. Diese Überlegungen finden dann auch vor allem in der Völkersynopse im sechsten Buch durch folgende Behauptung (GalI. 6.21.1) angedeutet und später explizit ihre Bestätigung: Das Leben der Germanen unterscheidet sich merklich von dem der Gallier. - Germani multum ab hac [i.e. GallorumJ consuetudine differunt. Hatte wohl Poseidonios noch, wenn er Strabos Gewährsmann ist,101 die Kelten und Germanen - wen auch immer er darunter nun genau subsumierte - als miteinander verwandt (auyysvsl 5 CxAATlAOI5) ausgewiesen, so läßt es sich Caesar seinerseits angelegen sein, die Andersartigkeit der Germanen im kontrastiven Gegensatz zu den Galliern zu betonen. Beinahe ringkompositorisch leitet die Deklaration der Unterschiedlichkeit die Synopse ein und schließt sie - wenn man den Exkurs über den Herkynischen Wald am Ende der eigentlichen Synopse

101 Strabo (4.4.2); man vgl. auch den etwas differenzierteren Vergleich in 7.1.2.

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ausblendet - auch ab (Gai!. 6.24.6): [Und] nach vielen Niederlagen vergleichen sie sich nicht einmal mehr mit den Germanen an Tapferkeit. - multis[que] victi [i.e. Galli] proeliis ne se quidem ipsi cum illis [i.e. Germanis] virtute comparant. Doch eben diese Vorstellung idealtypischer Germanen fällt - und dies ist ein wichtiger Unterschied zu Tacitus - schwer, weil der Leser bis zum ethnographischen Exkurs nicht nur mit unterschiedlichen germanischen Stämmen jenseits des Rheins konfrontiert worden ist, sondern auch mit der verwirrenden Tatsache der linksseitigen neben den rechtsseitigen Germanen. Diese deshalb nur schwer vorstellbare Unterschiedlichkeit zwischen den (!) Galliern und den (!) Germanen, die Caesar schon früh l02 angedeutet hatte, besteht für (bzw. durch) Caesar in erster Linie in der Zugehörigkeit zu zwei unterschiedlichen Kulturstufen, wie dies explizit am Ende der Synopse (Gall. 6.24.4-6) konstatiert wird. 103 Die Gallier haben durch ihre Nähe zum römischen Weltreich die Weihen der Zivilisation erfahren, sind kultiviert(er), die Germanen hingegen noch immer vorzeitlich unkultiviert. So hat schon Gerold Wals er darauf aufmerksam gemacht, daß Raubzug, Gefolgschaft, Gastfreundschaft - also neben dem Freiheitsdrang die Charakteristika des Germanentums - innerhalb der griechischen Ethnographien viel eher »Kennzeichen eines bestimmten Kulturzustandes und einer gewissen Gesellschaftsentwicklung als einer Nation«104 sind. Die griechische Kulturentstehungslehre und die Kennzeichen der vorkulturellen Phase sowie die Kennzeichen des Umbruchs finden sich weit verstreut innerhalb der lateinischen Literatur und können wohl als Allgemeingut der Gebildeten betrachtet werden. 105 Die Vorstellung, daß die Germanen eher der vorkulturellen Phase (victus ferus, 6Tjplc0öTj5 ß(05) zuzurechnen sind, kann deutlich an der »topischen Dreiheit von Nahrung, Kleidung und Behausung«106 abgelesen werden: 102 Caesar hatte Diviacus über das Wüten Ariovists klagen und in dem Kontext (Gall. 1.31.11) sagen lassen: neque enim conferendum esse Gallicum cum Germanorum agro neque hanc consuetudinem victus cum illa comparandam. 103 Gal!. 6.24.6: nunc quoniam in eadem inopia, egestate, patientia, qua Germani, permanent [i.e. Volcae Tectosagesj, eodem victu et cultu corporis utuntur, Gallis autem provinciarum propinquitas et transmarinarum rerum notitia multa ad copiam atque usum largitur, paulatim adsuefacti superari multisque victi proeliis ne se quidem ipsi cum illis virtute comparant. Diese Gallier also haben den Ruf tapferer Krieger, weil sie - anders als die Gallier in Gallien - wie Germanen leben. 104 Walser (1956, S. 74); erinnert sei an die zitierte Passage aus Thukydides' Werk und ferner daran, daß Caesar den Unterschied zwischen Germanen und Galliern nicht über unterschiedliche Klimaeinflüsse, sondern deren Lebensgewohnheiten erklärt. 105 Elemente der Kulturentstehungslehre z.B. in Lucr. 5. 1092ff.; Verg. geor. 1.122ff.; Verg. Aen. 8.314ff.; Ov. met. l.113fT.; Sen. epist. 90. Reischi (1976) untersucht die Reflexe griechischer Kulturentstehungslehren bei den augusteischen Dichtern. 106 Reischi (1976, S. 4).

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Denn daß sich die Germanen nicht um den Ackerbau bemühen (GalI. 6.22.1), spärlich mit Fellen kleiden, keine Häuser bauen und kein bestimmtes Stück Land oder Grundbesitz (agri modum certum aut fines proprios) haben, entspricht genau den antiken Vorstellungen zu dieser vorkulturellen Phase, wie sie z.B. bei Seneca (epist. 90.18) in seiner Auseinandersetzung mit der Kulturentstehungslehre des Poseidonios zusammengestellt werden: 107 Obdach, Kleidung, Warmhalten des Körpers, Nahrung und was (sonst noch) heutzutage eine >große Sache< ist, war zur Hand, ohne Aufwand und mit geringer Mühe zu beschaffen.

Tecta tegimentaque et fomenta corporum et cibi et quae nunc ingens negotium facta sunt, obvia erant et gratuita et opera levi parabilia.

Zu den tecta, die von der Natur bereitgestellt würden, heißt es (epist. 90.17): Was also? Hat nicht die Zeit viele verborgene Plätze geschaffen, die

durch die Härte der Zeit oder durch irgendeinen Zufall ausgehöhlt, sich zu einer Höhle umgebildet haben? - Quid ergo? Non vetustas multa abdidit loca quae vel iniuria temporis vel alio quolibet casu excavata in specum recesserunt? Neben diesen Höhlen kommen auch noch primitive Hütten in Frage. Zur Kleidung (epist. 90.16): Kleidet sich nicht auch heute (noch) ein großer Teil der Skythen mit Fuchs- und ZobelJellen [. ..]? - non hodieque magna Scytharum pars tergis vulpium induitur ac murum [. ..]? Die Germanen, deren schon früh (Gall. 1.1.3-4) ausgewiesene kriegerische Tapferkeit ebenfalls in dieses Schema paßt, sind dementsprechend allgemein modelliert. Hinzu kommt, daß im Unterschied zu den Galliern, deren Genealogie Caesar 108 beschreibt, die origo Germanorum nicht besprochen wird. Ihre Herkunft bleibt ungeklärt, mehr noch: es wird nicht einmal gesagt, ob sie eine gemeinsame Herkunft teilen. Daher erscheinen die Germanen Caesars als typische Vertreter einer vorkulturellen Entwicklungsstufe, ohne feste geographische Grenzen, ohne Herkunftswissen, kurzum: als Primitive in den Weiten jenseits des Rheins. Caesars Germanien ist offen; er hat vielleicht deswegen diese imaginäre Geographie Germaniens entworfen, um die Aussichtslosigkeit militärischer 107 Zur spärlichen Bekleidung (GaU. 6.21.5): et pellibus aut parvis renonum tegimentis utuntur magna eorporis parte nuda. Zum fehlenden Häuserbau: Daß niemand ein bestimmtes Stüek Land oder Grundbesitz habe, begründet Caesar u.a. damit: ne aeeuratills ad jrigora atque aestus vitandos aedifieant. (Außerdem läßt er Ariovist (GaU. 1.36.7) bramarbasieren: invieti Germani, exereitatissimi in armis, qui inter annos XIV teetum non subissent). Zu Senecas Auseinandersetzung mit Poseidonios: Reinhardt (1953, Sp. 805f.). - Die Übersetzung lehnt sich an die Rosenbachs (1999) an. 108 Ga/li se omnes ab Dite patre prognatos praedieant: GaU. 6.18.1. Zum Topos der origo gentium: Trüdinger (1918, S. 175, s.v. origo) und Bickerman (1952).

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Operation jenseits des Rheins gleichsam geographisch zu fundieren. Imaginäre Geographie wäre somit ein Argument im politischen Diskurs. Fernerhin wirkt sich diese Unabgeschlossenheit seiner geographischen Konstruktion hinsichtlich seiner Germanenethnographie dahingehend aus, daß von einem germanischen »Volk« zu sprechen schwer fällt; zum einen, weil die Heterogenität und Disparität der Germanen vor dem Exkurs im sechsten Buch gar zu deutlich wurde, denn die Existenz der Germani eisrhenani setzt gemäß der Darstellung Caesars voraus, daß Migrationen stattgefunden haben müssen - und zwar, wie der Vergleich von Germanen und Galliern in ihrer Vergangenheit belegt (Gall. 6.24.3-6), nicht nur aus Germanien nach Gallien. 109 Zum anderen, weil der so wichtige Topos der origo nicht behandelt wird. Von einem Bild eines einheitlichen Volks kann keine Rede sein. Daß Caesar für seine )commentarii< nur von Gallien über den Rhein blickt und nicht Germanien überblickt, resultiert in dieser Unabgeschlossenheit des Raumes wie der ethnischen Großgruppe, so daß auch die geographischen Bedingungen und die ethnologischen Charakteristika unverbunden sind. Vor diesem Hintergrund fällt die taciteische Vorstellung Germani Germaniae umso deutlicher auf.

2.2.2 Tacitus' Konstruktion Germaniens und die Fortführung imperialer Expansion Mit »Germania omnis« (Germ. 1.1) leitet Tacitus den ersten Teil ein; die Betonung (Germ. 27.2), daß das in den Kap. 1-27 über die Herkunft und Sitten Gesagte eben für alle Germanen gilt (de omnium Germanorum origine ae moribus), schließt diesen idealtypischen Teil ab. Tacitus verdeutlicht mit Hilfe dieses ringkompositorischen Elementes, daß er über die Germani Germaniae handelt, ganz wie Caesar verdeutlicht hatte, daß Germanen und Gallier nicht zu vergleichen seien (siehe oben). Tacitus folgt Caesar also insoweit, als er Germani ebenfalls als einen kategorialen Begriff verwendet, unter den er die im völkerspezifischen zweiten Teil ausdifferenzierten Stämme subsumiert. Als ethnologische Kriterien zur Bestimmung der Frage der Zugehörigkeit zu dieser ethnischen Großgruppe bedient er sich des geographischen, des genealogischen, des phänotypischen und des kulturellen, wobei sich in der Ordnung der Kapitel seine Vorstellung von dem kausalen Nexus spiegelt: Weil Germanien von Flüssen, Bergen und dem Ozean ein- und abgeschlossen ist, kamen nur selten Schiffe aus dem römischen Erdkreis zu den Germanen, die - autochthon 109 Denn zu der Zeit, cum Germanos Galli virtute superarent, haben die Gallier auch Kolonien im Gebiet jenseits des Rheins gegründet (GalI. 6.24.1: trans Rhenum colonias mitterent).

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keine Ehen mit Nichtgermanen eingingen. Daher ist auch die äußere Erscheinung, soweit das bei einer so großen Menge von Menschen möglich ist, bei allen dieselbe (unde habitus quoque corporum, tamquam in tanto hominum numero, idem omnibus: Germ. 4). Hierdurch wird im allgemeinen ersten Teil der Germania mit besonderer Deutlichkeit das Bild eines einheitlichen »Volkes« evoziert. Die Beobachtung, daß sich bei Tacitus zahlreiche Passagen aufzeigen lassen, in denen er detailliert von der germanischen Zwietracht handelt, ist unter zusätzlicher Berücksichtigung des zweiten Teils dahingehend interpretiert worden, Tacitus habe nur eine ethnische, aber keine politische Einheit der Germanen erkannt. lIo Die völkerspezifischen Äußerungen im zweiten Teil stehen doch aber oft im Widerspruch zu solchen des idealtypischen Teils und müssen gleichsam als Korrektur verstanden werden. III Ein Urteil über »das« Germanenbild bei Tacitus zu sprechen, geht also entweder auf Kosten des Verständnisses und der Wertschätzung der Teile oder aber muß den holzschnittartigen ersten wegen seines offensichtlich konstruktiven Charakters fokussieren, weil nur dieser von den Germanen, der andere von germanischen Stämmen handelt. Denn anders als bei Caesar wird dem Leser in der taciteischen Abhandlung erst der typische Germane präsentiert, der dann durch Differenzierung individualisiert wird. Da Tacitus es sich angelegen sein läßt, die idealtypischen Germanen voranzustellen, scheint eine isolierte Betrachtung des Konstrukts Germani Germaniae gerechtfertigt, innerhalb dessen die Einheit der Germanen eine geographische, ethnische und eben auch politische ist. In der >Germania< insgesamt, also im ersten und im zweiten Teil, berücksichtigt Tacitus fünf Kriterien,112 um auszumachen, ob es sich bei den Ger-

110 Am bekanntesten ist Tacitus' Stoßgebet: maneat ... duretque gentibus, si non amor nostri, at certe odium sui (Germ. 33.2). Die römische Außenpolitik hat sich dieses Fraktionswesen der Germanen zunutze gemacht (z.B. anno 2.62.1): ... haud leve decus Drusus quaesivit inliciens Germanos ad discordias ... - Die Schlußfolgerung Rides (1977, S. 141): »I1s [i.e. les Germains, Anm. v. Verf.] sont nlpartis en nombreuses peuplades et tribus differentes qui, rivales et jalouses, sont divisees par des querelIes intestines presque constantes, favorisees par Rome et dont la politique tire profit. Tacite neanmoins estime les caracteres communs suffisamment evidents pour lui permettre de conclure a l'existence d'une unite germanique non politique, mais ethnique.« 111 Nicht zuletzt deswegen ist wiederholt die Frage nach Sinn und Zweck dieses zweigeteilten Aufbaus gestellt worden; hierzu: Lund (1991, S. 1920-50). 112 Das Standardwerk zur »Barbarologie« ist zweifelsohne Dauges monumentale Abhandlung (1981), in der er die Antithese römischer Zivilisation und barbarischer Primitivität historisch, funktional und strukturell ausleuchtet. Rein begriffsgeschichtliche Untersuchungen zu ßapßapo~ gibt es zahlreiche: Jüthners (1923) sehr sorgfaltige und belegreiche Darstellung; Bengtson (1954), der Jüthners Ergebnisse zusammenfaßt, um dann der interessanten Frage einer griechischen Nationalität nachzugehen; Lund (1990 U. 1993), der ebenfalls die von Jüthner bereitete Bahn abschreitet, um die antiken Ethnographie in ihren Ursprüngen zu erfassen. Christ (1959) hat dargelegt, in-

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manen um ein Volk handelt und ob ein Stamm zu den Germanen zu rechnen ist. Zu den oben genannten und im ersten Teil eindeutig dominanten Kriterien tritt erst im zweiten Teil das linguistische, das daher im folgenden keine Rolle spielen wird. ll3 Man muß Tacitus' Diskussion im Britannienexkurs, ob die Briten, die zwar ihre geographische Isolation vereint, hinsichtlich der Phänotypie und ihrer Kulturen aber differieren, Ureinwohner oder Einwanderer (indigenae an advecti) sind (Agr. 11.1f), vergleichend hinzuziehen, um das Besondere in der Argumentation der >Germania< ersehen zu können: Ihr körperliches Erscheinungsbild ist nicht einheitlich, und daraus kann man Schlüsse ziehen. - Habitus corporum varii atque ex eo argumenta. Haare und Gliedergröße der Einwohner Caledoniens verweisen auf germanischen Ursprung; Gesichtsfarbe und Haarform der Siluren lassen spanische Herkunft vermuten; zur dritten Gruppe bemerkt Tacitus dann: Die den Galliern am nächsten siedelnden Stämme sind diesen auch ähnlich, sei es daß die Kraft ihrer Abstammung immer noch anhält, oder daß das Klima in den sich in verschiedenen Richtungen erstreckenden Ländern ihren Gestalten das gleiche Aussehen verliehen hat.

proximi Gallis et similes sunt, seu durante originis vi seu procurrentibus in diversa terris positio caeli corporibus habitum dedit.

Um sich ein Urteil zu bilden, ob diese letztgenannten Britanni eingeboren und den Galliern physiognomisch nur aufgrund derselben Klimaeinflüsse ähnlich sind oder doch letztlich als Einwanderer von ihnen abstammen, bedient sich Tacitus eines weiteren Kriteriums, des kulturellen: Deren [i.e. der GallierJ religiöse Gebräuche kann man dort antreffen infolge der Überzeugungskraft abergläubischer Vorstellungen; die Sprache weist keine großen Unterschiede auf [ ..}. eorum [i.e. GallorumJ sacra deprehendas superstitionum persuasione; sermo haud multum diversus [ ..}. Dies gibt letztlich den Ausschlag, auch die dritte Gruppe als advecti zu klassifizieren. I 14 Die ethnologischen Kriterien werden hier also gegeneinander abgewogen, um die Frage der origo zu klären, da sie unterschiedliche Schlußfolgerungen nahe legen. In der >Germania< hingegen weisen alle Kriterien gemeinsam darauf hin, daß es sich bei den Germani um ein Volk, ja mehr noch: um eine tantum sui similis gens handelt. 115 wieweit die Modifikationen des Begriffs >barbarus< bei den Römern in deren Integrationspolitik und (als Folge davon) der Verwendung von Barbaren in römischen Diensten zu suchen sind. 113 quibus ritus habitusque Sueborum, /ingua Britannicae propior: Germ. 28.3 (auch: 45.2). 114 Sehr sorgfaltig bespricht diesen Passus: Lund (1988, S. 44ff.). Die Übersetzungen dieses Abschnitts lehnen sich an die Städeles (1991) an. 115 Norden (1920, S. 54ff.) hatte die Formulierung »tantum sui similern gentern« in der griechischen Ethnographie (dort als Beschreibung der Ägypter (mpl c'xEPWV ulic'nwv Torrwv, Cap. 19)

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Zur Geographie: Mit dem folgenden mächtigen Eingangssatz (Germ.l.1) konstruiert Tacitus den Raum Germaniens: Germanien in seiner Gesamtheit wird von den Galliern sowie von den Rätern und Pannoniern durch die Flüsse Rhein und Donau, von den Sarmaten sowie den Dakern durch gegenseitige Furcht oder durch Gebirgszüge geschieden. Die übrigen Seiten umgibt der Ozean.

Germania omnis a Gallis Raetisque et Pannoniis Rheno et Danuvio jluminibus, a Sarmatis Dacisque mutuo metu aut montibus separatur; cetera Oceanus ambit.

Der Parallelismus (a Gallis [. ..] Rheno [. ..) a Sarmatis [. ..] metu), die Alliteration und die für Tacitus typische Verbindung kategorial verschiedener Momente (mutuo metu aut montibus): All dies wirkt auf den Leser, den das Incipit für sich genommen »leicht auf eine ihm vertraute politische Einheit und staatliche Organisation schließen« läßt. 116 Germania omnis ist also von natürlichen Grenzen, nicht erst seit kurzem durch Menschenhand, sondern seit eh und je, als geographischer Raum ein- und abgeschlossen, und zwar im Westen und im Süden von den Provinzen Gallien bzw. Rätien und Pannonien. ll7 Dieser Raum ist klar begrenzt und (daher) überschaubar, woran auch die Grenzziehung im Osten, die im Vergleich zu denen der übrigen Himmelsrichtungen nicht so prägnant scheint, nichts ändert, weil einerseits mit den Sarmaten und Dakern die jenseits Germaniens lebenden Stämme identifiziert sind, andrerseits durch den Verweis auf die montes erneut eine natürliche Grenze ausgemacht ist. Daß Pomponius Mela (3.33) und auch Plinius (z.B. nat. 4.81) die Weichsel als östliche Grenze angeben, die als Ostgrenze auch bei Tacitus die Trias der Grenzflüsse komplettiert hätte, mag verwundern, darf aber nicht zu der Schlußfolgerung verleiten, Tacitus hätte Germanien offenlassen wollen. Wenn man auf Mela verweist, muß man dessen Geographie Germaniens vergleichend hinzuziehen, worin die

und Skythen (ibd., Cap. 18» nachgewiesen und somit als Wandermotiv ausgewiesen (weitere »nur sich selbst ähnliche Völker« bei Perl (1990, S. 35». Bringmann (1989, S. 65ff.) diskutiert dieses »Wandermotiv« und bemüht sich, zwischen der Übernahme der Formulierung aus der griechischen Ethnographie und der sachlichen Behauptung, von der Bringmann meint, sie sei von Caesar im Widerspruch zu griechischen Ethnographen aufgestellt worden, zu differenzieren. Es besteht aber ein Unterschied zwischen Caesars Behauptung, die Germanen seien ein distinktes Ethnos, und der, die Germanen seien ein »nur sich selbst ähnliches Volk«; die Argumentation scheint daher nicht schlüssig. Auch entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, daß sein Argument (sprachliche Form vs. sachlicher Gehalt) gegen Norden von diesem selbst in seiner Vorrede zur zweiten Auflage der >Urgeschichte< vorgebracht worden war, um die >Germania< als erstrangigen Quellentext zu erhalten. 116 Perl (1990, ad loc.). 117 Denn die populi stehen metonymisch fLir die geographischen Länder, wie ja auch in Zeile 9 bei der Flußbeschreibung der Donau in demselben metonymischen Sinne von populi die Rede ist.

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visula ebenfalls nicht erwähnt wird;1l8 außerdem fehlt das prägnante Germania omnis, im Osten ist die Grenzziehung eher noch unschärfer als bei Tacitus, und die bei Tacitus durch den Parallelismus erzeugte Überschaubarkeit geht Melas Darstellung ebenfalls völlig ab. Ähnliches gilt für Plinius. Ein offenes Germanien konstruiert Caesar, Tacitus hingegen läßt es sich angelegen sein, mit diesem ersten Satz Germanien genau zu begrenzen, setzt doch schon die bloße Rede von Germania omnis voraus, daß die genauen Grenzen erkannt sind. 119 Jedoch daß der Rhein zu Tacitus' Zeiten nicht mehr als Grenze fungierte, ist nicht nur ein historisches Faktum, sondern Tacitus selber auch bekannt. 120 Hieraus die Nutzung veralteter Quellen schlußfolgern zu wollen, wird nicht mehr ernsthaft unternommen; auch die Interpretation, das Interesse für Flußgrenzen gehöre zu den spezifisch antiken Voraussetzungen, scheint nicht hinreichend. Die Erklärung schließlich, daß der Rhein als kulturelle Scheide zwischen Galliern und Germanen trotz der politischen Veränderungen weiterhin in der geistigen Geographie der Römer bestand, daß Tacitus sie also vereinfachend statuierte, weil sie dem Römer vertraut war,121 mag richtig sein. Doch wie schon bei Caesar die Frage nach den Implikationen seines offenen Germania-Konstruktes eine Bedeutsamkeit zuta118 Der Passus zur Geographie Germaniens lautet folgendermaßen (3.25): Germania hinc ripis eius [i.e. Rheni} usque ad Alpes, a meridie ipsis Alpibus, ab oriente Sarmaticarum confinio gentium, qua septentrionem spectat oceanico /itore obducta est. 119 Plin. nat. 4.81 u. 4.97. Beck (1998, S. 50) konstatiert, Tacitus habe »nach Osten unbestimmt und in eigenartiger Formulierung von mutuo metu aut montibus gesprochen«, wodurch »ein gewisses Unbehagen vor der Größe und Ausdehnung der germanischen Völker« erzeugt werden sollte. Er verweist zu diesem Zweck in nicht statthafter Weise auch auf Pomponius Mela, der die vistula (3.33) zwar als Grenze zu Sarmatien nennt, aber nicht bei der Besprechung Germaniens, sondern erst bei der Sarmatiens (Sarmatia intus ... ). Jedoch Beck muß die taciteische Geographie so lesen, weil er ja in der >Germania< »das unterschwellige Abraten von einer derzeitigen aggressiven Germanenpolitik« (S. 59) tendenziell verarbeitet sieht. Hier kann ich Becks Argumentation nicht nachvollziehen: Denn der Eindruck, den der erste Satz vermittelt, ist nicht der grenzenloser Weite, sondern überschaubarer Begrenztheit, dem die diskutierte Andersartigkeit der Ostgrenze keinen Abbruch tut (s. auch: Friedrich (1977, S. 426f.». 120 Germ. 29.2 besagt, das römische Imperium habe seinen Machtbereich über den Rhein hin ausgedehnt, und Gallier würden auch rechts des Rheins leben. 121 Informationsdefizit: Norden (1920, S. 274ff) und auch Syme, der der >Germania< nicht viel abgewinnen konnte (1979, S. 127: »Tacitus was not vigilant enough. In the first sentence of the treatise he takes over phraseology about the boundaries of Germany that seems to have been obsolete even in Pliny's day«). Dagegen hat zuletzt wieder Wolters (1994), insbes. S. 9lff) darauf verwiesen, daß Tacitus in Kap. 29.2 zeigt, daß er über die aktuelle Lage durchaus informiert war; daher muß man doch die Frage stellen, warum er wider besseres Wissen an der Grenzziehung festhält. Das Interesse an Flußgrenzen: Lund (1986, S. 55); zur These des Rheins als kultureller Scheide: vgl. Alföldi (1949), Melin (1960/61, S. 125) und Perl (1990, ad loc.). - Mit Beck (1998, S. 50) stimme ich also insofern überein, als auch ich von einer »unterschwelligen Beeinflussung seiner [i.e. Tacitus'] Adressaten« ausgehe; anderer Meinung bin ich indes hinsichtlich der hervorzurufenden Überzeugung.

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ge förderte, welche die Frage nach dem faktischen Wissen Caesars sekundär erscheinen ließ, so kann die taciteische Konstruktion eines geschlossenen Germaniens ebenfalls über die Kontextualisierung gedeutet werden. Eine gesteigerte Aufmerksamkeit scheint auch deshalb gerechtfertigt, weil Tacitus die Grenzflußbeschreibungen mit besonderer ästhetischer Raffinesse gestaltet (Germ. 1.2): Der Rhein, auf einem unzugänglichen und abschüssigen Gipfel der Rätischen Alpen entspingend, wendet sich in mäßigem Bogen nach Westen und mündet dann in den nördlichen Ozean. Die Donau, einem sanft abfallenden und mäßig hohen Rücken des Schwarzwaldes (Abnoba) entströmend, fließt durch mehrere Länder, bis sie sich mit sechs Mündungen ins Schwarze (Pontische) Meer ergießt.

Rhenus, Raetiearum Alpium inaeeesso ae praeeipiti vertiee ortus, modieo flexu in oecidentem versus septentrionali Oeeano miseetur. Danuvius, molli et clementer edito montis Abnobae iugo effusus, pluris populos adit donee in Pontieum mare sex meatibus erumpat.

Die Hyperbata, die streng parallel aufgebaut sind, sind markiert; die Antithese besteht darin, daß der Rhein losstürzt, sanft einmündet, wohingegen die Donau sanft quillt, um tosend einzumünden, wofür Tacitus ganz im Sinne der variatio verschiedene Ausdrücke verwendet. Die Alliterationen am Satzanfang (Rhenus Raeticarum), ungefähr in der Satzmitte (pluris populos) und am Satzende (mare sex meatibus) vollenden dieses Kunstwerk. 122 Es hat Leser verwundert, daß Tacitus die Geographie innerhalb eines Kapitels abhandelt (von dann folgenden kurzen Bemerkungen einmal abgesehen). Indes auf den zweiten Blick und insbesondere unter Berücksichtigung der folgenden Kapitel fällt auf, daß Tacitus das Wesentliche dargestellt hat: Denn nachdem er das Bild geographischer Abgeschlossenheit konstruiert hat, scheint es überaus plausibel, einerseits die Germanen selbst (ipsi Germani) für Eingeborene zu halten, andrerseits den Zuzug von Menschen von außen zu leugnen, so daß er sagen kann (Germ. 2.1): Die Germanen selbst, möchte ich glauben, sind Ureinwohner und auch ganz und gar nicht mit anderen Völkern durch deren Einwanderung und gastliche Aufnahme vermischt. - Ipsos Germanos indigenas crediderim minimeque aliarum gentium adventibus et hospitiis mixtos. 123 Hiermit hat Tacitus den Topos des Stammesursprungs (origo gentis) bedient; mythologisch wird die Autochthonie der Germanen letztlich durch den erdgeborenen Gott Tuisto 122 Schon Gudeman (1916, S. 36) spricht von einem »kleine[n] Meisterwerk lateinischer Kunstprosa«; s. auch Friedrich (1977, S. 426f.). 123 Zu der Bedeutung der Indigenität der Germanen flir die deutschen Humanisten: Tiedemann (1913, S. 40-7).

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als den Vater des Mannus, dessen Söhne die Begründer der Germanen waren 124 - begründet. Durch die geographische Klausur war die Autochthonie ermöglicht, die Unvermischtheit der Germanen mit anderen Völkern schlüssig: Die geographischen und ethnographischen Grenzen sind in auffälliger Weise kongruent. Bei den dort lebenden Menschen handelt es sich um Germani Germaniae. Durch diese Klausur ist fernerhin sichergestellt, daß die Germanen noch immer in ihrer ursprünglichen Primitivität leben, so daß der Schritt über den Rhein in eine Vor-Zeit führt. Es verwundert, wenn man sich die subjektive Grenzziehung in Erinnerung ruft, eigentlich nicht, daß Tacitus an späterer Stelle auch diese Aussage erst partiell revidiert (wenn (Germ. 9.1) der Isis-Kult bei den Sueben referiert wird, den Tacitus als eingewanderte Religion (religio advecta) bezeichnet), dann zu Beginn des zweiten Teils (Germ. 28.1) ganz in Abrede stellt (s. Fn. 23). Wie Caesar in seiner imaginären Geographie ein offenes Germanien darstellt, um des Lesers Meinung zu manipulieren, so Tacitus ein geschlossenes. Infolge dieser geographischen Klausur ist es Tacitus im Unterschied zu Caesar dann auch möglich, Autochthonie und Unvermischtheit zu entwickeln, so daß das berühmte Diktum tantum sui similem gentem durch das taciteische Konstrukt alle Plausibilität für sich beanspruchen kann. 125 Wenn Tacitus dann in den folgenden Kapiteln das öffentliche und private Leben der Germanen insgesamt vorstellt, also die Frage einer gemeinsamen Kultur und Moral thematisiert, ist dies im Grunde genommen nur noch die konsequente Explikation der in die geographischen Konstruktion Germaniens eingeschriebenen Implikationen. Gemäß der antiken Klimazonentheorie gleichen sich die in einer Klimazone lebenden Menschen im Hinblick auf Physis und Psyche: Die eingeschlossenen Germanen sind - wie in 2.3 ausführlicher dargestellt wird - dieser Theorie gemäß vom Typ des jähzornigen Menschen (homo iracundus). Wenn das taciteische Incipit Germania omnis ein ehrender Verweis auf den einzigen innerhalb der Germania namentlich genannten auctor (Germ. 28.1) Caesar und dessen Incipit »Gallia est omnis« ist,126 so würde sich Ta124 Zur Geographie: Trüdinger (1918, S. 159); zum vieltraktierten Tuisto-Mythos: Timpe (1995a, S. 1-60); zu der beinahe logischen Konsequenz der taciteischen Ausführungen: Lund (1986, S. 56ff.). Wie sorgfältig Tacitus im 2. Kap. weitere Argumente für Autochthonie und »Reinheit« der Germanen gibt, stellt Kröner sorgfältig heraus (1982). Mit Blick auf die Wirkungsgeschichte der >Germania< sei noch hinzugefügt, daß die Autochthonie vielleicht »das wichtigste Moment, das die Attraktivität der taciteischen Schrift ausmachte«, gewesen ist (Müller, 2001, S. 357); Bebel wird sich mit dieser Frage in einer eigenen Abhandlung auseinandersetzen (>Demonstratio, quod Germani sint indigenaeGermania< hat schon Krapf aufmerksam gemacht (1979, S. 48: »Durch die Ambivalenz wird der Text in besonderer Weise interpretierbar«). Zum Charakter der Deutschen in den Schriften deutscher Humanisten: Tiedemann (1913, S. 59-68), der auf der Grundlage seiner umsichtigen Zusammenstellung des Materials urteilt (S. 64): »Man sieht, Tacitus wurde mit Vorsicht benutzt und nur da geschätzt, wo er sich flir die Germanen günstig äußerte.« Zu Enea Silvio und Bebel vgl. man die entsprechenden Kapitel.

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deutig zu den Ausnahmen; die Mehrheit der Tacitus lesenden Autoren folgt der von Campano initiierten Rezeptionsweise, sieht - oft in direkter Auseinandersetzung mit Enea Silvio - in Tacitus also einen Lobredner der Germanen (laudator Germanorum). Was aber haben Tacitusleser von bspw. von Hutten bis Benario gemeint, wenn sie in Tacitus einen Lobredner der Sitten der Germanen erblickten?15o Trotz des Abstandes, den man wieder und wieder von der sogenannten »Sittenspiegeltheorie« genommen hat, indem man auf die den positiven Eigenschaften an Zahl gleichkommenden negativen verwies, wird von nur wenigen Tacitus-Gelehrten in Frage gestellt, daß in der Lebensweise der Germanen strenge Moral und altrömische virtutes verherrlicht seien. 151 Das Gesamtbild mag auch Negatives enthalten, doch vor allem die »Grundwerte« Einfachheit, Freiheit(swille) und Tugend (simplicitas, libertas, virtus) würden, soweit herrscht bis in die jüngste Forschungsliteratur weitestgehend Einigkeit, in der >Germania< idealisiert: »En rapport direct avec cette simplicite de mreurs, Tacite celebre chez eux l'amour de la liberte.« 152 So als habe Tacitus nach den Wirren unter Domitian diese drei Werte als exempla maiorum wieder vor Augen stellen wollen, erkennt man den Grund, weswegen Tacitus überhaupt für die römische Aristokratie über die Germanen schrieb, gar in folgendem: »Tacitus was clearly intrigued by this moble< people«;153 und: »Tacite est donc spontanement enclin a faire honneur 150 Ulrich von Hutten will einen Mainzer Drucker gefragt haben: Quid tu Tacitum vereris igitur Germanorum oculis ostendere, authorem, quo nemo de veteri nationis huius laude meritus est melius?: Vadiscus (S. 154; zit. nach: Hiltbrunner (1958, S. 17». Zu Benario s. Fn. 153. 151 Die prägnanteste Formulierung der >Sittenspiegeltheorie< ist vielleicht die Symes (1979, S. 126): »Idealization ofthe savage (like that oftbe peasant), nourished on tbe discontents ofthe urban existence, lent colour and conviction to fancy pictures of primitive virtue and primitive felicity, with inevitable censure, loud or subtle, directed against luxury, complexity, and corruption.« Zu Vertretern der »Sittenspiegeltheorie«: Z.B. Lund (1991, s.v. »Sittenspiegeltheorie« (S. 2376) und Beck (1998, S. 11 u. 25); Kritik an ihr durch Verweis auf die vitia Germanorum z.B. bei: Dauge (1981, S. 253); Timpe (1989, S. 110); Perl (1990, z.B. S. 164f.; vor allem aber s.v. Fehler); Städele (1990, S. 167); ders. (1993, S. 112); Beck (1998, S. 25). Sehr differenziert sind die Werte von den folgenden Autoren betrachtet worden: Häussler (1965, S. 207f.), auf den ich im Zuge der Erörterung der simplicitas zu sprechen kommen werde; Häussler (1965, S. 218), v. See (1994, S. 38), und Perl (1990, S. 164f.), deren Darstellungen der libertas mir dienlich gewesen sind. Schließlich ist hier die hervorragende Analyse der virtus Tacitea durch Feger (1948) zu nennen.Tiedemann (1913) macht anhand seiner Zusammenstellung humanistischer Äußerungen zu diesen Werten (libertas: S. 69f. u. S. 129-33; simplicitas: S. 140 mit Fn. 21; virtus: S. 90-113) sehr schön deutlich, welchen Stellenwert diese insbesondere für deutsche Humanisten hatten. 152 Von Grundwerten spricht Büchner (1985, S. 143); das Zitat bei Ride (1977, S. 146); man vgl. Christ (1965, S. 63): »Kritik tritt zurück hinter der Entfaltung von virtus und libertas [ ...]« und Syme (1979, S. 126) und auch schon - um nur einen humanistischen Vertreter zu nennen - bei Melanchtbon (zit. bei Muhlack (1989, S. 145). 153 Benario (1976, S. 164): »[.,,] Tacitus was cJearly intrigued by this moble< people to such a degree tbat he determined to pass on the results of his experiences and researches to the educated

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aux Germains de tout ce que leurs mreurs ont de fruste et de primitif [... ]: loin d'y voir les marques de la barbarie, il est tout pret a admirer.«154 Und selbst dezidierte Kritiker der Sittenspiegeltheorie sprechen davon, daß Tacitus »die barbarischen Tugenden idealisiert, die aus der römischen Gesellschaft verschwunden waren«, ISS so daß der Tenor innerhalb der Forschung zu sein scheint, Tacitus stelle zwar gute wie schlechte Eigenschaften der Germanen vor, weswegen von einem Sittenspiegel keine Rede sein könne, zu den guten seien aber die genannten (simplicitas, libertas, virtus) zu zählen; dies ist erst kürzlich in der letzten >GermaniaGermaniaIdealisierungidealisiert< habe.«

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Widerstandes an sich«163 zu erfassen, wohingegen die geschichtliche Persönlichkeit in nichts greifbar werde. Die folgenden Überlegungen werden also wiederum zutage fördern, daß es Tacitus immer auch - oder vielleicht gerade - darum ging, das Allgemeine im Konkreten zu konturieren. Fernerhin, daß Tacitus wie vom germanischen Raum, so auch von den germanischen Kriegern die Möglichkeit der Eroberung Germaniens und der Integration der Germanen in das imperium Romanum suggeriert: Nicht nur, daß Tacitus den Germanen manche der Tugenden, die andere Autoren ihnen zugewiesen hatten, verweigert (wie dies in Kap. 2.2.2 deutlich wurde); darüber hinaus werden die Tugenden der Germanen, die er ihnen noch zuerkennt, in auffalliger Weise durch den Kontext relativiert, ja bisweilen gar aufgehoben, wofür die Unkenntnis (ignorantia) als Teil der simplicitas eine entscheidende Rolle spielt: »[E]n effet, ces qualites tiennent, non a eux-memes ni a leur volonte, mais aux circonstances.«164 Indem Tacitus, der Tradition folgend, die GeHihrlichkeit der Germanen in ihrer einfachen Lebensweise begründet, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Germanien-Frage nur einen Agricola braucht, der mit Hilfe überaus vorteilhafter Maßnahmen (saluberrimis consiliis: Agr. 21.1) die nur von Dummköpfen Freiheit genannte schrankenlose Willkür (Dial. 40.2) beendet, indem er Kultur (humanitas: Agr. 21.2) einführt und somit einen grausamen Frieden (saeva pax: hist. 1.50) etabliert.

163 Edelmaier (1964, S. 41). - Zu Agricola heißt es bei Büchner (1985, S. 51): »Nicht das rein Persönliche, nicht das historisch Bedeutsame steht im Vordergrund [ ...], sondern die Frage, was für Eigenschaften sich jeweils an Agricola enthüllen.« Wieder also wird im Konkreten das Allgemeine konturiert. Vielberg (1987, S. 32) resümiert, nachdem er die Beschreibung der Statthalterschaft Agricolas, von Tacitus in Form von Maximen dargeboten, gemustert hat: »Da Aussagen dieser Art Maximen und Prinzipien veranschaulichen, die [ ... ] aufgrund ihres Abstraktionsgrades über sich hinaus auf übergeordnete Prinzipien verweisen, liegt der Schluß nahe, daß Tacitus hier weder Agricolas Wirken im Winter des Jahres 78 noch auch die Maximen seiner Gouvemeurstätigkeit zu illustrieren beabsichtigt, sondern gleichsam normativ das Bild eines gut und effizient arbeitenden Statthalters entwirft [...].« 164 Dauge (1981, S. 208). Einen solchen Zusammenhang hat auch Patzek (1988, S. 31) erkannt.

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2.3.1 Ambivalenz existentieller Werte Ita quod in advorsis rebus optaverant otium, postquam adepti sunt, asperius acerbiusquefuit. (SaH. lug. 4l.4)165

Eine grobe, nicht aber unvollständige Skizze der germanischen Lebenswelt könnte in etwa folgendermaßen aussehen: Die zum Jähzorn neigenden Germanen leben ein einfaches und freies Leben ehrerbietigen Respektes gegenüber Göttern und Verwandten im Sinne martialischer Tugend (virtus bellica, womit ich der entscheidenden Reduktion der virtus auf die virtus bellica, wie sie weiter unten rekonstruiert wird, schon vorgegriffen habe). Denn befragt man die taciteische >Germania< daraufhin, welche Motive innerhalb der germanischen Lebenswelt eine prominente Rolle spielen, so sind dies: simplicitas, libertas, virtus und - von der Forschung weitestgehend vernachlässigt - pietas. Eine besondere Rolle spielt der (Jäh-)Zorn (ira resp. iracundia).166 Prinzipiell unterschieden werden muß fiir die ersten vier Wertbegriffe zwischen der Verwendung des Begriffs und der des Motivs auf der einen Seite und zwischen der Bezeichnung eines Aspekts der germanischen Lebensweise und der eines Charakterzugs auf der anderen Seite: 167 Während Tacitus den Begriff simplicitas nicht ein einziges Mal verwendet, ist das Motiv »des einfachen Lebens«168 allgegenwärtig: Daß es in Germanien nicht einmal Eisen in ausreichendem Maße gebe (Germ. 6.1), daß die Germanen keine Städte bewohnten (Germ. 16.1), nur eine einzige Form des Amusements kennten (Germ. 24.1), sind Manifestationen eben dieses einen 165 So entpuppte sich der Frieden, den sie in Zeiten der Not herbeigewünscht hatten, als bitterer undfeindlicher (als die Zeiten der Not). 166 Die pietas scheint mir nur Ride (1977, S. 144) thematisiert zu haben. - Eine Charakteristik der Germanen gibt Lund (1988, S. 26): »Vier Charakterzüge geben vor allem dem Wesen der Germanen besondere Prägung, nämlich simplicitas, ira/iracundia, inertia und libertas. Von diesen vier sind jedenfalls die drei letzten - gemäß Tacitus - ausschließlich als Ergebnisse der Einwirkung der Umwelt zu betrachten, und die beiden letzten als Nebenprodukte germanischer ira/iracundia.« Indes scheint mir aus den im fortlaufenden Text gegebenen Gründen weder die Terminologie noch die »Charakteristik« des Wesens der Germanen angemessen zu sein. - Eine prägnante, sich in erster Linie aber auf die Differenzen zu Caesar (und Seneca) beschränkende Skizze gibt: Beck (1998, S. 25ff.); eine bloße, jedoch umfassende Zusammenstellung der Eigenschaften der Germanen hat Ride (1977, S. 141-5) erstellt. 167 Den Unterschied von Begriff und Motiv hat schon Klingner in seinem Beitrag zu Sallust herausgearbeitet (1928). 168 Vischer (1965) hat das einfache Leben in seiner gleichnamigen Studie sowohl in begriffsgeschichtlicher als auch motivgeschichtlicher Perspektive untersucht. Tacitus' >Germania< kommt darin aber, nachdem auf die gute Forschungslage verwiesen worden ist, zu kurz (S. 123f.); zudem teile ich seine Einschätzung des Kap. 22 nicht - doch dazu später.

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Motivs. Und während die angeführten Beispiele allesamt die Lebenswelt der Germanen als einfach, anständig, ursprünglich charakterisieren, muß man wohl das Desinteresse der Germanen an Kosmetik (Germ. 6.1), Gold und Silber (Germ. 5.3) und aufwendigen Begräbnissen (Germ. 27.1), schließlich ihren viel zitierten animus ad simplices cogitationes patens (Germ. 22.3) als Ausdruck eines einfachen Gemütes auffassen. 169 Von den genannten gilt es die ira resp. iracundia als genuinen Charakterzug zu unterscheiden, welcher ja zum einen - gemäß der anthropogeographischen Theorie - Umweltbedingungen des Nordens, zum anderen fehlender Erziehung geschuldet ist. 170 Obwohl nur einmalig explizit genannt (Germ. 25.1), ist sie diejenige natürliche Prädisposition der Germanen, mit deren Hilfe sich eine Vielzahl ihrer Eigenschaften erklären lassen und mit der die anderen Wertbegriffe in engem Zusammenhang stehen: Die Kommentatoren verweisen zum Zwecke der Profilierung des jähzornigen Menschentyps (homo iracundus) natürlich auf Senecas Abhandlung de ira. 171 Die unkontrollierte und unkontrollierbare Freiheit wurzelt in dieser Veranlagung zum Zorn; Seneca (dial. 4.15.4) setzt beide zueinander in Beziehung: Ferner: Alle diese in Wildheit freien Völker, die nach Art der Löwen und Wölfe (leben), vermögen weder zu dienen noch zu herrschen. Deinde omnes istae feritate liberae gentes leonum luporumque ritu ut servire non possunt, ita nec imperare. Auch Tapferkeit - wenngleich nur die kurzfristige - kann eine Folge des Jähzorns sein (dial. 4.15.2): Und so bringen auch von Natur aus tapfere Charaktere Jähzorn mit. - Itaque et ingenia natura fortia iracundiam ferunt. Und die angeblich wundersame Widersprüchlichkeit in der Natur der Germanen, von denen Tacitus ja berichtet (Germ. 15.1), daß sie die Trägheit schätzen, die Ruhe aber hassen, ist ebenfalls Gedankengut der stoischen Affektenlehre (dial. 3.1O.1f.): Deshalb wird die Vernunft niemals blinde und gewaltsame Triebe zu Hilfe nehmen. (Denn) über diese hat sie keine Gewalt und sie kann sie niemals zügeln, es sei denn

169 Zu meinem Verständnis von Germ. 22.3: S. 95f. 170 Schon dies ist eine - für stoisches Denken im allgemeinen: notwendige - Unterscheidung, die Seneca im dialogus de ira machen muß, um nicht den Primat der Vernunft und ihrer Einflußmöglichkeiten zu unterminieren: Nachdem er im Einklang mit der herrschenden Theorie festgehalten hat, daß ingenia sunt, ut ait poeta, suoque simillima caelo (dial. 4.15.5), weswegen die nordischen Völker als Iiberae gentes zugleich die iracundissimae (dial. 4.15.1) seien, verweist er darauf, daß sie nur durch disciplina besänftigt werden könnten, ja später fügt er nochmals mit Nachdruck hinzu: Plurimum, inquam, proderit pueros statim salubriter institui (dial. 4.21.lf.). 171 Lund (1988, S. 26f) bezeichnet inertia und Iibertas treffend als »Nebenprodukte germanischer iraliracundia« und gibt einen kursorischen Überblick über die Verhaltensweisen der Germanen, die letztlich auf ihren Jähzorn zurückzuführen seien - wie das permanente Waffentragen, der mutuus metus, das Desinteresse an Agrikultur; ich werde dem weitere Begleiterscheinungen hinzufügen.

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sie setzt ihnen ebenbürtige und gleiche entgegen: z.B. dem Zorn die Furcht, der Trägheit den Zorn, der Angst die Begierde.

Ideo numquam assumet ratio in adiutorium improvidos et violentos impetus apud quas nihil ipsa auctoritatis habeat, quas numquam comprimere possit nisi pares illis similisque opposuerit ut irae metum, inertiam irae, timori cupiditatem. 172

Schließlich muß rn.B. auch die beim Würfelspiel offenbar werdende pervicacia als weitere Facette der iracundia betrachtet werden. 173 Die für die Wirkungs geschichte so folgenschwere Ambivalenz des Germanenbildes, die innerhalb der Forschung insbesondere für das taciteische Bild der Fennen unstrittig ist,174 kann antithetisch in etwa folgendermaßen formuliert werden: Die Germanen, die ihr Leben ganz der virtus bellica verschrieben haben und infolgedessen furchtbare Gegner sind, ziehen räuberisch und plündernd und zerstörerisch umher. Unter Bedingungen der Einfachheit leben sie ein moralisch hochwertiges Leben, dem indes jedwede Kultur fehlt, ja das auf der Stufe primitiven Vegetierens liegt. 175 Als noch immer freie Gegner der Römer boten und bieten sie diesen die Stirn, kranken aber an inneren Zerwürfnissen. Simplicitas, 176 libertas und virtus sind in den Augen (nicht nur) des Tacitus 177 eng miteinander verbunden. Daß die Akkulturation der versprengten und primitiven Menschen (homines dispersi ac rudes), so daß sie sich an Frieden und Ruhe gewöhnen, ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Unfreiheit sein kann, ist - wie auch immer man die der Aussage zugrunde-

172 Die Übersetzungen der Passagen aus >de ira< lehnen sich an die Finks (1993) an. 173 Dies hoffe ich in Kürze darstellen zu können. 174 So Lund (1988, S. 51): »Das Verhalten des Tacitus dem primitiven Menschen gegenüber ist hier, wie auch an anderen Stellen in der >GermaniaGermania< (S. 127f.) und schließlich die Calgacus-Rede (S. 135-37), befreit Städele von einer allzu einseitigen Betrachtungsweise. Er scheint mir aber denselben Fehler der Verabsolutierung zu begehen, wenn er eine für Tacitus' Denken repräsentative Äußerung (idque apud imperitos humanitas vocabatur. cum pars servitutis esset) lediglich unter Verweis auf den Einleitungssatz desselben Abschnitts (sequens hiems saluberrimis consiliis absumpta) mit dem Verweis auf die typisch taciteische Schlußpointe (S. 134) ausräumen zu können meint. Andere Passagen, in denen Vergleichbares von Tacitus antithetisch vorgestellt wird, werde ich im fortlaufenden Text nennen, z.T. erörtern, die alle von dem hohen Grad differentieller Reflektiertheit des Tacitus auf die Ambivalenz sowie Unverträglichkeit gewisser kultureller Werte zeugen, die jeder für sich in gewissem Maße erstrebenswert sind. Das »gebrochene Fühlen« geht nicht auf die Barbaren, wie es Tacitus ja nie um das Konkrete, Persönliche geht, sondern ist Ausdruck der Erkenntnis dieser Antinomie kultureller Werte - eine Erkenntnis, die er ja mit anderen teilt. 179 Caes. Gall. 6.22.3. 180 Ein bei Tacitus auch später häufig wiederkehrender Gedanke, z.B.: quanta pecunia dites et voluptatibus opulentos, tanto magis imbelles (Tac. anno 3.46.2); [ ..] Cherusci nimiam ac marcentem diu pacem inlacessiti nutrierunt; idque iucundius quam tutius fuit, quia inter inpotentis et validosfalso quiescas (Tac. Germ. 36.1). 181 Aus Unerfahrenheit waren sie unschuldig.

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auf Tacitus zu sprechen kommt, dessen >Germania< er als ein exemplum simplicitatis liest. Denn seine schlüssige begriffs geschichtliche Rekonstruktion ergibt, daß die Veröffentlichung der >Germania< zusammenfallt »mit dem Auftreten der simplicitas als gesellschaftlich-politisches Ideal [sic] der [postdomitianischen, Anm. v. Verf.] Epoche.« In der simplicitas, welche er in eine »äußere Einfachheit« und eine »innere« differenziert, sieht er den »Grundgedanken des allgemeinen Teils der Schrift«. Obgleich er sich explizit von der Sittenspiegeltheorie distanziert, verficht er sie implizit, da ja die »alte, urrömische simplicitas [... ] innerhalb des überkommenen Begriffsbildes so unmittelbar neben der simplicitas der primitiven Völker [lag], daß sich die Bezugnahme [für den Römer] von selber ergab.« Auch auf seinem Wege begriffsgeschichtlicher Rekonstruktion gelangt Hiltbrunner zu dem Ergebnis, die >Germania< sei ein Porträt »nicht so sehr der Germanen als solchen, sondern eines Volkes, in welchem sich die simplicitas exemplarisch darstellt.« Friedrich Klingner aufgreifend, der bei seiner Diagnose des Tacitus die >Germania< ja unbeachtet übergangen hatte, liegt der Zwiespalt des Tacitus für Hiltbrunner darin, daß jener »zu rückhaltloser Hingabe an die Illusion des trajanischen Prinzipats als einer Wiedergeburt der simplicitas morum« nicht fahig gewesen sei. Indes habe er die Germanen auf »das Bild edler simplicitas hin« geformt. 182 Mit Hilfe dieses begriffsgeschichtlichen Zugangs - Wandel im Denken schlägt sich in den Begriffen nieder - wird die >Germania< fest in ihrer Zeit verankert: Tacitus ist an den Germanen interessiert, nicht so sehr um sie, als vielmehr um etwas - die simplicitas - an ihnen darzustellen. 183 Dabei handelt es sich bei der taciteischen Darstellung keineswegs um die einer »edlen Einfalt« - Tacitus fördert hier wie sonst subtil Positives und Negatives zutage. Schließlich wird mit der >Germania< kein exemplum simplicitatis exponiert, den Römern in keiner Weise ein Sittenspiegel vor das Antlitz gehalten, und zwar nicht, weil sich in diesem vermeintlichen Sittenspiegel auch zahlreiche negative Züge ausmachen lassen, sondern weil Tacitus eine Vielzahl der moralischen Eigenschaften nachdrücklich auf die spezifischen primitiven Lebensbedingungen der Germanen zurückführt, so daß, wenn Tacitus wirklich seine Zeitgenossen zum moralischen Lebenswandel der

182 Hiltbrunner (1958, S. 15-105); sämtliche Zitate dieses Abschnitts: ders. (S. 77-80). Perl (1990, S. 20, Fn. 27) rechnet Hiltbrunner zu Recht zu den Anhängern der Sittenspiegeltheorie. Es verwundert, daß Hiltbrunner nur die simplicitas in der >Germania< verarbeitet sehen will, die anderen beiden schon oft genannten und in den die >Germania< umrahmenden Werken so prominenten Wertbegriffe hingegen keine Rolle spielen sollen (dies hat schon Vi scher (1965, S. 122) kritisiert). 183 Es geht Tacitus nicht um die Menschen, sondern um die Werte, die an ihnen studiert werden können, und deren Relevanz fur die Frage nach der Integrationsmöglichkeit Germaniens in das Imperium Romanum.

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Germanen ermutigen wollte, er fiir einen Rückschritt in die vorkulturelle Vergangenheit hätte plädieren müssen. Begrifflich begegnet die »simplicitas« innerhalb der >Germania< nicht; lediglich das Adjektiv »simplex« findet Verwendung, und zwar zum einen zur Bezeichnung einer sozialen Praxis, wie z.B. (Germ. 5.3) bei der Darstellung des Handels, zu dessen Zwecke die Stämme im Landesinneren noch in primitiverer und altertümlicherer Art Tauschhandel betreiben (interiores [i.e. gentes Germaniae] simplicius et antiquius permutatione mercium utuntur);184 zum anderen zur Charakterisierung der beim Gelage gehegten einfachen Gedanken (simplices cogitationes: Germ. 22.3); schließlich zur Bewertung von Dingen im weitesten Sinne, z.B. einfacher Speisen (cibi simplices: Germ. 23). Über die durchaus gängige Unterscheidung von äußerer und innerer Einfachheit hinausgehend, scheint es angebracht, die simplicitas, die sich im Bereich des Sozialen äußert, von der, die sich am Material und von der, die sich am/im Individuum äußert, abzugrenzen. So kann dann auch die motivische Verwendung, denn als Motiv ist die simplicitas ubiquitär, dementsprechend geordnet und erörtert werden. 18S Mit der kurzen Beschreibung des Landes als teils durch die Wälder schaudererregend, teils durch seine Sümpfe abstoßend (terra [ ..] aut silvis horrida aut paludibus foeda: Germ. 5.1) eröffnet Tacitus seine Schilderung der Einfachheit der germanischen Lebenswelt: ein Land, bei dem nicht einmal geklärt ist, ob es Gold- oder Silbervorkommen gibt, wo selbst dem Vieh besonderer Schmuck mangelt, dessen Eisenvorkommen spärlich sind. 186 Entsprechend primitiv ist das Besitztum der Germanen: Schlicht sind ihre Waffen, ihre Behausungen primitiv, ohne Schmuck ihre Tafel, ihre Kleidung dürftig. Gleiches trifft auf die sozialen Einrichtungen zu: Es gibt nur eine einzige Form der Geschichtsüberlieferung, der Handel im tieferen Inland ist primitiv, sie kennen nur eine Form des Amusements, Zinswucher fehlt, Prunk bei Begräbnissen ebenso. Dieser Katalog der Schlichtheit ist fiir sich genommen nicht mehr als ein Zeugnis der Rückständigkeit, bisweilen gar Primitivität; bedeutsam wird er erst insofern, als er Auswirkungen auf die Moral hat: So macht Tacitus auf das Fehlen der Habgier (Germ. 5.2) 184 Ebenso fungiert simplex in der Beschreibung (Germ. 10.1) der sortium consuetudo. Zur Glaubwürdigkeit der ersten Aussage siehe: Lund (1988, S. 29). 185 Perl (1990) gibt im Register seines Kommentars folgende Belegstellen: 5.1.3; 6.1.2; 10.1; 14.2; 16.2; 17.1; 20.1; 22.2.3; 23; 24.1; 26.1; 27.1; 46.3. Hiltbrunner (1958, S. 77) faßt noch die »Großzügigkeit im Schenken (14.3; 15.3), [die] humanitas (21.3) bei convictus und hospitia (21.2)« darunter. 186 Hinsichtlich der Edelmetalle widerspricht Tacitus also Caesar (GalI. 6.28.5-6); hierzu: Devillers (1989, S. 849f.). - Im Grunde genommen ist schon die Landschaftsschilderung die erste Andeutung des Motivs der Einfachheit (Germ. 2.1): Quis porro { ..] Germaniam peteret, in/ormem terris, asperam caelo, tristem cultu aspectuque { ..].

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und Prunksucht (cultus iactatio: Germ. 6.1) aufmerksam und betont, daß die Mütter - und nicht deren Ammen - die Kinder stillen (Germ. 20.1). Hierzu zählen auch die simplices cogitationes (Germ. 22.2), die, wie die eben genannten Eigenschaften, auch als Ausdruck der inneren Einfachheit gedeutet werden; schließlich (Germ. 19.2) das berühmte Fazit über die guten Sitten (bon i mores). Allerdings ist all diesen Zügen sittlicher Integrität der Germanen gemein, daß sie einerseits als Konsequenz ihres Lebens in materieller und intellektueller Bedürftigkeit ausgewiesen werden, so daß von einer selbstverantworteten (moralischen) Leistung keine Rede sein kann; andrerseits schmälert diese Bedürftigkeit als solche die Vorzugswürdigkeit einer aus ihr hervorgehenden sittlichen Existenz. Es sollen nun die Ambivalenz der simplicitas und die Relativität der Moral an den jeweiligen Aussagen dargestellt werden. Der in der antiken Literatur viel beklagte amor sceleratus habendi scheint den Germanen zu fehlen - zumindest aus der Perspektive römischer Opulenz: daher die Geringschätzung von Edelmetallen, das Fehlen der Habsucht und die Akzeptanz von Münzen lediglich aus pragmatischen Gründen. Erstmals wird der moralische Wert bescheidener Zufriedenheit im Anschluß an die Schilderung der Frugalität der Landschaft genannt; da der Kontext hier wie in den folgenden Erörterungen für die Argumentation wichtig ist, zitiere ich ausfiihrlicher (Germ. 5.2): Ob ihnen die Götter aus Gnade oder aus Zorn Silber und Gold versagt haben, muß ich offenlassen. Doch möchte ich nicht behaupten, daß keine Ader Germaniens Silber oder Gold ruhrt. Wer hat denn danach geforscht? Besitz und Gebrauch dieser Metalle haben rur sie keinen besonderen Wert. argentum et aurum propitiine an irati di negaverint dubito. Nec tamen adfirmaverim nullam Germaniae venam argentum aurumve gignere: quis enim scrutatus est?J87 possessione et usu haud perinde adficiuntur.

Die im Anschluß genannten argentea vasa, die gleichwohl bei den Germanen gefunden werden können, sind letztlich Geschenke, die von außen kommen. Auch Geld verwenden sie nur dort, wo es ihnen von römischen Händlern zugetragen wird. ISS 187 Perl (1990, ad loc.) liest hierin eine »Klage[n] über mangelnde Erforschung«, die zur historiographischen Topik gehöre. Tacitus scheint mit dieser Frage aber eher erneut zum Ausdruck zu bringen, daß die Germanen in ihrer friedlichen Einfalt nicht nach Edelmetallen gegraben hätten - wie dies ja Kennzeichen des goldenen Zeitalters ist (cf. Ov. met. 1.137-40); denn, wie die anschließende Bemerkung verrät, der Besitz dieser Metalle läßt sie unberüht - warum dann erst suchen? 188 Zum hierin zum Ausdruck kommenden Kulturdiffusionismus: Lund (1988, S. 49f.) und das Kap. 2.1.

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Nachdem Tacitus also einleitend die karge Landschaft mit groben Zügen skizziert und zu den Edelmetallen konstatiert hat, daß die Götter sie den Germanen versagt hätten, so daß sie solange nichts von Gold und Silber gewußt hätten, bis sie durch ihren Kulturkontakt mit den Römern davon erfuhren, überrascht es keineswegs, daß sie keine Begierde nach Edelmetallen entwickelt haben. Wie soll man begehren, was man nicht kennt? Unkenntnis (ignorantia), die innerhalb der Schilderung der germanischen Lebenswelt eine gewichtige Bedeutung hat, und mores stehen hier dicht beieinander. Bei der Thematisierung der Waffen der Germanen im anschließenden Kapitel (Germ. 6) begegnet dasselbe Muster: Nicht einmal Eisen gibt es im Überfluß. (Auch gibt es bei ihnen) kein Prunken mit Waffenschmuck. - Ne ferrum quidem superest [ ..] nulla cultus iactatio. Wenn Eisen in nur geringem Maße vorhanden ist, und die Landschaft auch sonst mit Gaben eher geizt, die Germanen mehr oder minder eingeschlossen sind, wie sollte dann eine iactatio cultus betrieben werden können? Und unmittelbar im Anschluß gesteht Tacitus ja ein, daß die Germanen zumindest ihre Schilde verzieren,189 so daß ihnen also die iactatio nicht völlig abgeht, erst der Vergleich mit den römischen Verhältnissen den Eindruck entstehen läßt, eine solche sei nicht vorhanden - daß germanische Zierde in den Augen des Römers primitiv erscheint, bedeutet ja nicht, daß es sich dabei nicht um Zierde und einen ihr zugrunde liegenden Zierwillen handelt. Letzteres geht aus der Beschreibung des Häuserbaus unzweifelhaft hervor. 190 Im Rahmen ihrer Gegebenheiten besitzen offenkundig auch die Germanen ein Darstellungsverlangen - lediglich das Regiment der Knappheit, wie in dem Beispiel zuvor das der Unkenntnis, als Ermöglichungsbedingungen der Sittlichkeit fungierend, verhindert Auswüchse römischen Stils. Nachdem Tacitus die germanische Ehegemeinschaft thematisiert und vor allem die Mitgift besprochen hat, schließt er daran eine Schilderung »der germanischen Sittenstrenge« 191 an, die in der berühmten Sentenz kulminiert: Und daher vermögen gute Sitten dort mehr als anderswo gute Gesetze. - Plusque ibi boni mores valent quam alibi bonae leges (Germ. 19.2). Dieses literarische Motiv - fester Bestandteil des Inventars des goldenen Zeitalters 192 - das hier ja eigentlich nur die Behandlung der Sitten, soweit 189 seuta tantum leetissimis eoloribus distinguunt: Germ. 6.1. 190 materia ad omnia utuntur in/ormi et eitra speeiem aut deleetationem. Quaedam loea diligentius inlinunt terra ita pura ae splendente ut pieturam ae liniamenta eolorum imitetur: Germ. 16.2. 191 Perl (1990, ad loc.). 192 Elemente der aetas aurea in der >Germaniac Germ. 5.2; 6.1 (Ist es Zufall, daß die drei Metalle in 5.2 und 6.1 in unmittelbarem Zusammenhang abgehandelt werden?); Germ. 19.2; Germ. 26.2. Ginge es zuweit, die scharfe Begrenztheit Germaniens (Germ. 1.1) nicht nur politisch, son-

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sie die adulteria betreffen, abschließt, in seiner Allgemeinheit wohl aber als Bewertung der germanischen Lebensverhältnisse insgesamt aufzufassen ist, muß mit der Einleitung desselben Abschnitts zusammen gelesen und gedeutet werden (Germ. 19.1): Dementsprechend leben sie in umhegter Keuschheit, durch keine verlockenden Schauspiele, durch keine aufreizenden Gelage verfuhrt. Die Geheimnisse der Schrift (oder: heimlicher Briefwechsel) sind Männern ebenso wie Frauen unbekannt. Ergo saepta pudicitia agunt, nullis spectaculorum inlecebris, nullis conviviorum inritationibus corruptae. Litterarum secreta viri pariter ac feminae ignorant.

Die Germanen kennen, wie der Leser später erfahrt, nur eine Form der öffentlichen Spiele (Germ. 24.1). Und das von Tacitus gewählte Passiv legt den Schwerpunkt eindeutig mehr auf die Rahmenbedingungen als auf die (moralisch handelnden) Frauen. Ebensowenig verstehen sie sich infolge ihrer ignorantia litterarum darauf, Liebesbotschaften und Verabredungen bspw. mit Wein zu schreiben. Ein Ovidianer müßte hier also kritisch bemerken, daß es unter diesen Umständen nicht schwer fallt, seine Tugendhaftigkeit zu wahren, und daß sich - so betrachtet - die Sittenstrenge der Germanen nicht als Tugendhaftigkeit, sondern als Konsequenz einer Form der Unkenntnis entdeckt. 193 Die Schilderung der Moral kann natürlich so gelesen werden, als gehe Tacitus infolge seines römischen Blickpunktes so weit, »den Germanen als Verdienst anzurechnen, daß sie frei von den Lastern sind, die erst im Gefolge der von ihnen noch gar nicht erreichten höheren Entwicklung der Kultur auftreten. « 194 Vor dem Hintergrund der bereits diskutierten und der noch folgenden Beispiele aber, worin Tacitus wiederholt die Lebensbedingungen des Mangels und moralische Verhaltensweisen unmittelbar nebeneinander stellt, scheint es mir plausibler, daß Tacitus die Sittenstrenge aus den Lebensbedingungen herleitet, wie dies innerhalb der ethnographischen Tradition, aber auch der historiographischen durchaus üblich war. 195 Tacitus hätte dann, dem von ihm auch andernorts zu beobachtenden hohen differentiellen Niveau gemäß, das Fehlen luxuriöser Stoffe und gesellschaftlichen dem auch motivisch durch das Konzept des goldenen Zeitalters bedingt zu sehen (vgl. Tib. 1.3.35f. und Hor. carm. 3. 24.35-45)? Zum Goldenen Zeitalter im >Dialogusc Häussler (1965, S. 192-97). Zu den Weltzeitaltem allgemein siehe vor allem die Arbeit von Gatz (1967), der auf die >Germania< jedoch nicht eingeht. 193 Denn non loeus est easti qui damna pudoris habet: Ov. ars 1.100 Uedoch leicht verändert); zu den Geheimnissen der Weinschrift: z. B. Ov. am. 1.4.20. 194 Perl (1990, ad loc.). 195 Z. B. Livius (praef. 12): Adeo quanto rerum minus, tanto minus eupiditatis erat: nuper divitiae avaritiam et abundantes voluptates desiderium per luxum atque libidinem pereundi perdendique omnia invexere. Hierzu: Häussler (1965, S. 210-20).

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Amusements sowie den Analphabetismus - foeda paupertas nennt er all dies zusammenfassend am Ende der >Germania< bei der Besprechung der Fennen (Germ. 46.2) - als Bestandteile der simplicitas wohlbedacht zusammen mit den positiven Konsequenzen für eine strenge Moral in einem Atemzug genannt. 196 So stellt Tacitus Primitivität und Moralität markant auch in folgendem Passus (Germ. 20.1) nebeneinander: Auf jedem Hof wachsen sie (die Kinder) nackt und schmutzig zu eben den Gliedmaßen, zu solchem Körperbau, den wir bewundern, heran. Die eigene Mutter nährt jedes an ihrer Brust, und sie werden nicht Ammen aus dem Sklavenstand überlassen. In omni domo nudi ac sordidi in hos artus, in haec corpora quae miramur excrescunt. Sua quemque mater uberibus alit, nec ancillis ac nutricibus delegantur. 197

Die Attribute »nackt« und »schmutzig« evozieren erneut eindeutig die primitiven Lebensverhältnisse, für die als solche der Stadtrömer Tacitus keine Sympathien hegt; der Revers dieser Lebensverhältnisse ist aber die Erziehung der Kinder durch die Eltern, insbes. die Mutter, und nicht etwa durch eine Sklavin. Sowohl im >Dialogus< als auch im >Agricola< wird diese Form der Erziehung in moralischem Kontext erörtert. 198 Zum Zinswucher schließlich bemerkt er lakonisch (Germ. 26.1): Mit Geld Geschäfte zu machen und es durch Zinsen zu vermehren, ist (den Germanen) unbekannt; deshalb also bleiben sie eher davor bewahrt, als wenn es verboten wäre. Faenus agitare et in usuras extendere ignotum; ideoque magis servatur quam si vetitum est. Unkenntnis in bezug auf mögliche Verfehlungen als Garant für die Observanz gegenüber moralischen Standards: Der Nachsatz kann für sämtliche diskutierte exempla geltend gemacht werden. Die Relativierung der Moral mit Hilfe situativer Bedingungen kann auch (und gerade) an der Trinkgewohnheit der Germanen abgelesen werden (Germ. 23), verweist Tacitus doch darauf: Wenn man ihrer Trunksucht Vorschub leistet und so viel herbeischafft, wie sie begehren, wird man sie leichter durch ihr Laster als durch Waffen besiegen können. - si indulseris ebrietati suggerendo quantum concupiscunt, haud minus facile vitiis quam armis vincentur. Die unmittelbar zuvor geschilderte Alkoholgewinnung

196 Absolute, d.i. nicht kontextrelative Sittenstrenge könnte allenfalls noch die Bestrafung indizieren, die hart ist, weil bei den Germanen niemand Laster belächelt (Germ. 19.1). 197 Die Übersetzung Perls (1990) wird mit hilfreichen Ausführungen zum Verständnis der Perikope erläutert (S. 187f.). 198 Das Stillen thematisiert Tacitus (dia!. 28.4): Nam pridem suus cuique filius, ex casta parente natus, non in cella emptae nutricis sed gremio ac sinu matris educabatur [ ..]. Von Agricola berichtet Tacitus bekanntlich dasselbe (Agr. 4.2): in huius [i.e. Iuliae ProcillaeJ sinu indulgentiaque educatus.

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scheint wegen ihrer Primitivität unzureichend, die Nachfrage zu decken, was allein die Germanen davor bewahrt, sich der Trunksucht hinzugeben. Schließlich wird auch in folgender berühmter Beschreibung Moral im weitesten Sinne relativiert, wenngleich nicht als Begleiterscheinung der simplicitas. Denn ein weiteres ethnographisches Wandermotiv aufgreifend, läßt Tacitus die Germanen ihre Beratungen bei Gelagen abhalten, als stünde das Herz zu keiner Zeit aufgeschlossener einfachen Überlegungen (ad simplices cogitationes) offen. 199 Diese Aussage des Tacitus wird einhellig als mentales Pendant zur äußeren Einfachheit gelesen: »[D]er einfachen Lebensweise entspricht die einfache Denkweise«, ganz so, als sei vom animus simplex die Rede. 2oo Auch hier scheint mir der Kontext (Germ. 22.2-3) eine andere Lesart zu empfehlen: [... ] Sie beraten sich bei Gelagen, in der Annahme, zu keiner Zeit sei das Herz aufgeschlossener für aufrichtige und erwärme sich stärker für große Gedanken. Dies Volk, nicht von durchtriebener Verschlagenheit, offenbart obendrein die Herzensgeheimnisse in der ungezwungenen Stimmung, die bei solcher Gelegenheit herrscht; so liegt die Gesinnung von allen ganz offen zutage. [... ] Sie beratschlagen dann, wenn sie sich nicht zu verstellen wissen; sie beschließen dann, wenn sie sich nicht irren können. [ ..] in conviviis consultant, tamquam nullo magis tempore aut ad simplices cogitationes pateat animus aut ad magnas incalescat. Gens non astuta nec callida aperit adhuc secreta pectoris licentia loei; ergo detecta et nuda omnium mens. [ ..] deliberant dum fingere nesciunt, constituunt dum errare non possunt.

Tacitus unterstellt hier, die Germanen würden ihre Beratungen während des Gelages abhalten, weil unter Alkoholeinfluß unverstellte Offenheit herrsche. Die soweit (adhuc) noch verborgenen Geheimnisse würden durch die licentia loci offengelegt;201 die Folge (ergo) dieses Arrangements ist restlose Offenlegung. Mit der typischen Schlußsentenz verknüpft Tacitus Beratung mit Rausch, Nüchternheit mit Beschluß. All diese Explikationen setzen doch aber voraus, daß die Germanen durchaus Hintergedanken und

199 Weitere literarische Verwendungen dieses Wandermotivs: Lund (1988), Perl (1990), Rives (1999) - jeweils ad loc. 200 Perl (1990, ad loc.); so auch Hiltbrunner (1958, S. 76): »Äußere und innere Einfachheit, simplices eibi und simplices cogitationes, zeichnen die Germanen aus«; und weiterhin: »Dieser äußeren Einfachheit [ ...] entspricht die innere simplicitas animi (Germ. 22.3) [ ...].« Lund (1988, ad loc.), Rives (1999, S. 212: »guileless«). Zur Bedeutung dieses Charakterzuges flir humanistische Autoren: Tiedemann (1913, S. 68-70). 201 Während Rives und Perl im Anschluß an Winterbottom licentia loei lesen, zieht Lund die Lesart licentia ioci vor: »Denn es besteht nach dem Kontext kein Zweifel darüber, daß allein der Begriff iocus dem Inhalt Sinn gibt, denn >solutior est post vinum licentia< (Sen. dia!. 5.37.1) oder >Liber ... non ob licentiam linguae dictus est inventor vini< (Sen. dia!. 9.17.8).« Daß dies aber in der Tat und mit guten Gründen bezweifelt werden kann, zeigen die Überlegungen Perls (1990, ad loc.).

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Doppelbödigkeit kennen - ein Charakterzug, den Tacitus oft in den Historien und den Annalen hervorhebt -, weswegen sie ja die Hilfe des Alkohols suchen; all dies scheint doch eher nahezulegen, daß die Germanen eben nicht animi simplices sind?02 Diesem Verständnis taciteischer Beschreibung scheint sich nur die folgende generalisierende Aussage zu sperren: gens non astuta nec callida. Doch damit ist zwar gesagt, daß die Germanen »nicht von durchtriebener Verschlagenheit« sind, nicht aber, daß sie eine gens persimplex - so paraphrasiert Allan Lund die abundante Wendung seien; denn warum sollte eine gens persimplex besondere Rahmenbedingungen schaffen, um cogitationes simplices zu hegen? Zwar »weder verschlagen noch durchtrieben«,203 aber eben auch nicht offen-unverstellt, bedienen sie sich des Alkohols, unter dessen Einfluß sie dann simplices sind. Über die innere Einfachheit der Germanen ist in diesem Kapitel nichts gesagt, allenfalls daß sie diesbezüglich sich selbst nicht trauen. 204 Tacitus' differenzierte Ausgestaltung des Motivs der simplicitas - hier die abstoßenden Züge tierischer Primitivität, dort die hohe Moral - spiegelt die Ambivalenz des Wertbegriffes: Tacitus lobt keineswegs »die Primitivität - mira feritas, foeda paupertas - sondern die Reinheit der Sitten«;205 und indem er die moralische Qualität der Germanen in ihrer Lebenswelt begründet sein läßt, kann sich der römische Zeitgenosse schwerlich an den Germanen orientieren, weil dessen Lebensbedingungen nicht seine sind. Mehr noch: Seneca bemerkt in seiner Auseinandersetzung mit der poseidonischen Kulturentstehungslehre :206 202 Verschlagenheit der Germanen: z.B. hist. 5.16.2, anno 1.55.1 (Arminius perfidus); f1ir weitere Passus: Perl (1990, ad loc.). 203 So die Übersetzung Lunds (1988, S. 89); Rives (1999, S. 86): »A race neither clever nor cunning [...] tbey open the secret chambers of their heart.« Noch weiter entfernt sich Fuhrmann mit seiner Übersetzung (Reclam 1997, S. 35): »Dieses Volk, ohne Falsch und Trug, offenbart noch stets bei zwanglosem Anlaß die Geheimnisse des Herzens; so liegt denn aller Gesinnung unverhüllt und offen da.« 204 Die frühste mir bekannte Interpretation dieser Passage als Lob an der Lauterkeit der Germanen findet sich bei Celtis (Germ. gen. 97: et veri tenax mens consona /abris / ficta c%rate fttgiens mendacia Iingue). 205 Häussler (1965, S. 207), der dies indes in seiner umfangreichen und inhaltsschweren Studie nur an dem Fall der Finnen (Germ. 46.3) festmacht und Schlußfolgerungen zur taciteischen Haltung gegenüber dem goldenen Zeitalter anschließt; Tacitus' Darstellung der simplicitas hingegen wird nicht insgesamt untersucht. Dort heißt es auch: »Er, Tacitus, [...] würde nicht unter die Wilden ziehen wollen, wiewohl sie doch bessere Menschen sind; er betrachtet das Glück dieser Leute, wie man sich heutzutage im Kino die naive Zufriedenheit von Pygmäen ansieht: man möchte trotz alledem nicht mit ihnen tauschen.« Zu derselben Passage kommen Boas und Lovejoy (1965, S. 362) zu demselben Ergebnis: »Though Tacitus is clearly repelled by the sordidness of the lives ofthis people [Le. Fenni], he as clearly admires their self-sufficiency [ ... ].« 206 Sen. epist. 90.46 (Übersetzung nach Rosenbach (1999), jedoch mit vielen Änderungen). Dieser Zusammenhang von ignorantia und virtus findet sich natürlich nicht nur bei Seneca (vgl. Dauge (1981, S. 208».

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Aus Unkenntnis waren sie unschuldig: Es macht aber einen großen Unterschied, ob man nicht sündigen will oder kann. Es fehlte jenen an Gerechtigkeit, es fehlte an Klugheit, es fehlte an Selbstbeherrschung und Tapferkeit. Ihr primitives Leben wies Eigenschaften auf, die all diesen Tugenden (lediglich) ähnlich sind. Ignorantia rerum innocentes erant. Multum autem interest, utrum peccare aliquis nofit an nesciat. Deerat illis iustitia, deerat prudentia, deerat temperantia ac fortitudo. Omnibus his virtutibus habebat similia quaedam rudis vita.

Begriff und Motiv der ignorantia durchziehen die >Germania< in geradezu aufHilliger Weise: Von Goldvorkommen wissen sie nicht (Germ. 5.2), Häuser zu bauen verstehen sie nicht (Germ. 16.1), unbekannt ist das Meer (ignotum mare: Germ. 17.1); und zu schreiben vermögen sie auch nicht. 207 Weil die Germanen von Lastern nichts verstehen, die Herausforderung an den Römer aber darin besteht, diesen zu widerstehen, kann letzterer von ersterem in moralischer Hinsicht kaum etwas lernen: Die >Germania< ist für den Römer in moralischer Hinsicht irrelevant, weil die exempla kontextgebunden sind. Das schließlich, was Tacitus seinem Leser über den Germanen selber mitteilt, wofür nicht die Existenzbedingungen geltend gemacht werden, ist die Beschreibung eines unduldsamen, trägen, trinksüchtigen, feierfrohen und spielwütigen Hitzkopfes. Nun stellt sich, um zu der Ambivalenz der simplicitas zurückzukommen, die Frage nach der prima facie selbstverständlichen Interpretation des folgenden, schon zitierten Satzes neu: Ob ihnen die Götter aus Gnade oder aus Zorn Silber und Gold versagt haben, muß ich offenlassen. - argentum et aurum propitiine an irati di negaverint dubito. Offensichtlich eine »ironisch gestellte Frage«, wenn man die Edelmetalle metonymisch als Dekadenzerscheinungen einer habgierig gierigen Gesellschaft liest, ganz so wie Horaz vom aurum inutile spricht. 208 Man betrachtet die Szenerie dann in moralistischer Perspektive und schlußfolgert, daß die Götter den unkorrumpierten Germanen wohlgesonnen sind. Wenn man aber mit den Edelmetallen, insbesondere mit Gold, Kultur im weitesten Sinne assoziiert, und wenn man Kultur einen Wert zugesteht, so kommt man zu dem Ergebnis, daß die Götter den unkultivierten Germanen wohl feindlich gesonnen sein müssen. Tacitus' »gebrochenes Fühlen« würde dann in der in der Frage gestellten Alternative hervortreten, die Frage

207 Weitere Passagen, in denen die ignoratia thematisiert wird: 15.2 (iam et peeuniam aeeipere doeuimus); 26.1 (Faenus ... ignotum); 26.4 (autumni perinde nomen ae bona ignorantur); 45.4 (nee ... quaesitum eompertumve). 208 So Perl (1990, ad loc.). Horaz (carm. 3.24.47-50) verweist in seinem Gedicht als Kontrapunkt zum viel gescholtenen Reichtum in Rom auf die Skythen und Geten, deren Armut und Moral er preist; ein Vergleich der unterschiedlichen Bewertungen der simplieitas wäre hier lohnend.

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verlöre den ironischen Unterton, gewönne einen resignativen: darüber, daß es nicht möglich zu sein scheint, das eine mit dem anderen zu verknüpfen.

2.3.1.2 Freiheit: libertas

o nomen dulce libertatis (eie. Verr. V.l63)?09 Die Thematisierung der libertas in der >Germania< muß mit der Analyse des Begriffs anheben, der dem Leser innerhalb der >Germania< in folgenden Verwendungsweisen begegnet - wie immer sind die Übergänge fließend: als amor/studium libertatis und als politische Freiheit, und zwar jeweils sowohl individualistisch als auch soziabel; schließlich noch als persönliche Freiheit. 210 Bei der Beschreibung des Procedere einer Versammlung erklärt (Germ. 11.1) Tacitus die Verzögerung von bis zu drei Tagen mit dem aus ihrer Freiheit resultierenden Fehler, daß sie nicht gleichzeitig und weisungsgemäß zur Versammlung kommen (illud ex libertate vitium, quod non simul nec ut iussi conveniunt). Libertas bezeichnet hier nicht so sehr Ungebundenheit, als vielmehr Disziplinlosigkeit, ja mehr noch: als charakterliche Disposition des Germanen den Freiheitsdrang, der letztlich daraus resultiert - wie Caesar (GaU. 4.1.9) dies fiir die Sueben bemerkt - daß sie von Kindheit an weder an Pflicht noch an Zucht gewöhnt werden und überhaupt nichts gegen ihren Willen tun (quod a pueris nullo officio aut disciplina ad209 0 süßer Name Freiheit. 210 Ich übernehme also die Kategorisierung von Gerber/Greef in ihrem lexicon Taciteum. Untersuchungen zur libertas: Kloesel (1967; erstmals 1935) spürt der Iibertas Romana semasiologisch und chronologisch nach und zeigt auf, wie unterschiedliche Konzeptionen zur Zeit der Republik sich hinter dem Fanal libertas auf seiten der Popularen und dem aristokratischen Ideal seitens der Optimaten verbargen. Das Standardwerk zur libertas ist die Untersuchung Wirszubskis (1968, Tacitus: S. 160-67), dessen Hauptthese zur libertas Tacitea besagt: »Accordingly, to hirn libertas and servitus issue in the first place, not from the form of government as expressed in terms of constitutionallaw, but from the manner in which the de facto absolute power of the Princeps is employed, and particularly from the manner in which people behave vis-a-vis the Princeps« (S. 164). Vielberg argumentiert (1987, S. 150-168) im Anschluß an einen Überblick über die Begriffsgeschichte (und Literatur: S. 150f.) und nachdem er sorgfaltig zwischen den diversen Bedeutungen (S. 152-55), die der Begriff Iibertas bei Tacitus annimmt (Vielberg scheint es auf die Vollständigkeit der Kategorien anzukommen, nicht aber der Stellen: es fehlt z.B. Germ. 11.1), und den »Formen der Freiheit« (S. 152), die Tacitus anhand dieser Bedeutungen definiert (S. 155-59), differenziert hat, daß ein Aristokrat durch Freimut einen »wirklichen Freiraum aufbauen« könne (S. 158) und daß libertas und modestia als »eigentliche Tugenden eine Sonderstellung in dem Kontinuum von Verhaltensformen zukommt« (S. 168). Patzek (1988) versteht libertas derart, daß das »Phänomen des Widerstandes der nördlichen Barbarenvölker [ ... ] von Tacitus libertas genannt« werde (S. 38), und daß dieser in keinem Zusammenhang stehe mit dem »allgemein übertragbaren humanen Wert« (S. 40). Meine Untersuchung der Verwendung der libertas wird hoffentlich zeigen, daß dies Verständnis nur einen Aspekt trifft. Zur Iibertas im allgemeinen und der Thraseas im besonderen: Jens (1956) und Heldmann (1991).

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suefacti nihil omnino contra voluntatemfaciunt).211 Diese Bedeutung der libertas liegt auch folgenden motivischen Verwendungen zugrunde: Der zu Recht als »verkehrte Welt« beschriebene Tagesablauf der Germanen (Germ. 22.2), den spätes Aufstehen und bisweilen extensive Trinkgelage prägen, manifestiert ein weiteres vitium ex libertate. 212 Die Gestaltung ihres otiums, das sie mit Schlafen und Essen verbringen (Germ. 15.1: dediti somno ciboque), die pervicacia beim Würfelspiel (Germ. 24.2), schließlich das Strafverhalten im Umgang mit Sklaven (Germ. 26.1): Allem liegt eben dies Motiv der libertas als licentia zugrunde. Der Gegenbegriff wäre hier die disciplina, deren Mangel bei den Germanen zu betonen ja ebenfalls Tradition hat. 213 Diese begriffliche und motivische Verwendung der libertas betont den negativen Aspekt, die licentia, zu der die libertas so leicht de. 214 generIert. Auf der politischen Ebene entspricht diesem individuellen Freiheitsdrang der Freiheitsdrang der germanischen Stämme, der sich allen Annektierungsversuchen seitens der Römer hartnäckig widersetzt hat, heißt es doch (Germ. 37.3): Also offenbar ist die bei den Germanen herrschende Freiheit kraftvoller als die Königsherrschaji des Arsakes. - quippe regno Arsacis acrior est Germanorum libertas. 215 Die Forschung hat dies - soweit ich sehe - oft so gelesen, als zolle Tacitus dieser Facette der libertas uneingeschränkten Respekt;216 sie scheint mithin positiv konnotiert, was rückwirkend auch auf die Bewertung des individuellen Freiheitsdrangs ein positives Licht wirft. Eben diese libertas verstanden als Freiheitsdrang liegt motivisch aber der viel besprochenen Zwietracht (hostium discordia: Germ. 33.2) zugrunde, die immer dann hervorbricht, wenn die externe Bedrohung 211 Perl (1990, ad loc.); Till (1977, S. 107). 212 Lund (1988, ad loc.); Perl (1990, S. 176). 213 S. z.B. Seneca (dia!. 3.11.3): Agedum illis corporibus [i.e. GermanorumJ, illis animis delicias, luxum, opes ignorantibus da rationem, da disciplinam: ut nihil amplius dicam, necesse est certe nobis mores Romanos nos repetere. 214 Zur Distinktion libertas / licentia: Tac. dia!. 40.2 (s. S. 85), ebenso prägnant bei Livius (23.2.1: licentia plebis sine modo libertatem exercentis); man vg!. Wirszubski (1968, S. 7f.). - V. See (1994, S. 47) deutet Tacitus' Ausflihrungen zur Volksversammlung und zum Heer, daß »mehr durch Beispiel und Überredung als durch Befehl erreicht werde« (Germ. 7.1), als weitere Facette des Unvermögens der Germanen zur Unterordnung. 215 Gerber/Greef klassifizieren diese Stelle als: transi. (amor / studium libertatis), das vitium ex libertate allerdings als propr. in univ., was m.E. dem Gehalt des Passus nicht voll gerecht wird. Zur Übersetzung von acrior: Perl (1990, ad loc.). - Bebel wird sich auf diese Aussage des Tacitus berufen (s. Kap. 3.4); hierzu: Tiedemann (1913, S. 131-3). 216 So z.B. Christ (1965, S. 63): »Kritik tritt zurück hinter der Entfaltung von virtus und libertas [.oO]«' Oft findet sich der Verweis auf Lucans (7.431-36) berühmtes Lob: {oOJ Quodfogiens civile ne/as redituraque numquam / Libertas ultra Tigrim Rhenumque recessit / Ac, totiens nobis iugulo quaesita, vagatur, / Germanum Scythicumque bonum, nec respicit ultra / Ausoniam, vellem, populis incognita nostris.

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fehlt, und die Germanen sich selbst überlassen sind. Libertas verstanden als Freiheitsdrang wird also innerhalb der >Germania< hinsichtlich sowohl ihrer positiven als auch ihrer negativen Auswirkungen dargestellt. 217 Mit dieser Bedeutung der libertas eng verknüpft, bedient sich Tacitus des Begriffs wiederholt, um die innenpolitische Ordnung der Germanen zu charakterisieren, gleichsam die Institutionalisierung der »Freiheit«, was sich im Fehlen resp. nur halbherzigen Anwenden von Gesetzen manifestiert - allgemeiner: eines Regelgefuges. So verweist er, als er über die Kontinuierung von Freund- und Feindschaften im Namen der Familie handelt, darauf, daß die Feindschaften nicht unversöhnlich andauern würden (Germ. 21.1), weil persönliche Feindschaften bei der unbeschränkten Freiheit noch gefährlicher sind (quia periculosiores sunt inimicitiae iuxta libertatem). Für die Reihenfolge der Redner auf einem Thing (Germ. 11.2) werden so viele Kriterien genannt, daß man den Eindruck der Regellosigkeit gewinnt. Hierbei scheint die libertas, indem Tacitus auf die Instabilität verweist, negativ konnotiert zu sein. Anders bei der Diskussion des Verhältnisses des Freigelassenen zum Sklaven, die Tacitus mit den Worten (Germ. 25.2i 18 abschließt: Bei den übrigen ist grade die niedrige Stellung der Freigelassenen ein Beweis für die dort herrschende Freiheit. - apud ceteros inpares libertin i libertatis argumentum sunt. Zweifelsohne, insbesondere unter Berücksichtigung der römischen Verhältnisse, trägt die libertas, die hier nach Meinung aller Kommentatoren die »politische Freiheit« meint, positive Züge. 219 Obwohl der Begriff »libertas« an keiner Stelle innerhalb der >Germania< außenpolitisch die Unabhängigkeit der Germanen vom imperium Romanum meint, ist das Motiv in gewisser Weise allgegenwärtig, besonders deutlich tritt es in Germ. 37.2 zutage, denn die spöttische Wendung so lange wird Germanien nun schon besiegt (tam diu Germania vincitur) setzt ja voraus, daß Germanien immer noch frei ist. Dieser letzten motivischen Verwendung - libertas als Freiheit von äußerem Zwang - korrespondiert auch hinsichtlich des Individuums die Verwendung der »libertas« zur Bezeichnung des rechtlichen Status' des freien Individuums, so in der Beschreibung des Würfelspiels (Germ. 24.2): Mit 217 Differenziert ist die Analyse Perls (1990, S. 164f. und Einleitung, §3), treffend das Resümee Häusslers (1965, S. 218: »Tacitus hat der Versuchung widerstanden, die historischen Konturen zu verwischen und die libertas Germanorum zum Idealtypus [ ...] durchzufiltern«); sowie: v. See (1994, S. 38). - Zur Thematisierung der discordia bei deutschen Humanisten: Tiedemann (1913, S. 143f.). 218 Dies ist die einzige Verwendung des Adjektivs, welches die persönliche Freiheit meint. 219 Die politische Ordnung bezeichnet libertas noch an folgenden Stellen: Germ. 28.3; 44.1; 45.6 (während erstere keine Wertung enthält, sind letztere durch den Kontrapunkt der servitus eindeutig positiv besetzt).

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dem allerletzten Wurf wagen sie den Einsatz um ihre persönliche Freiheit. extremo ac novissimo iactu de libertate ac de corpore contendant. Die Knechtschaft (servitus) bezeichnet hier den konträren Status. Dort die freie Gemeinschaft, hier der freie Einzelne. Motivisch scheint mir diese Form der libertas, nun präziser verstanden als Meinungsfreiheit, bei der Schilderung der Versammlung eine Rolle zu spielen. 220 Libertas - in »ihren Licht- und Schattenseiten«221 - bestimmt das Leben der Germanen im kleinen wie im großen: Als Freiheitsdrang, der sich mit keiner Reglementierung verträgt, äußert sie sich in einem scheinbar absoluten Unvermögen zur Subordination, woraus einerseits Undiszipliniertheit und Unkontrolliertheit resultieren, die eine Organisation germanischen Lebens erschweren; andrerseits verschafft sie ihnen fortwährende Unabhängigkeit vom römischen Reich. In der dementsprechend gestalteten Gemeinschaft ist es dem Individuum einerseits möglich, frei seine Meinung zu äußern, sich aus freien Stücken einer Gefolgschaft (comitatus) seiner Wahl anzuschließen, andrerseits bergen private Fehden immer auch den Kern größerer gesellschaftlicher Erschütterung. Tacitus hat es mithin auch in der >Germania< verstanden, den Wertbegriff, der ihn zusammen mit der virtus in wohl einmaliger Weise interessierte und sein Lebenswerk hindurch umtrieb, nicht nur facettenreich darzustellen, sondern auch die Ambivalenz dieses Wertes, die ihm eingeschriebene Dialektik, in unterschiedlichen Perspektiven klar herauszupräparieren. 2.3.1.3 Tugend: virtus Virtuti amorem nemo honeste denegat. (Publilius Syrus (653)/22

Im Unterschied zur virtus des Agricola,223 welche die Fähigkeit, »sich im Krieg mit aller Kraft für die res publica einzusetzen« ebenso umfaßt wie 220 Heißt es doch (Germ. 11.2): audiuntur auctoritate suadendi magis quam iubendi potestate. 221 V. See (1994, S. 38). 222 Niemand kann der Tugend (virtus) auf ehrenvolle Weise den Respekt verweigern. 223 Zur virtus: Der altrömischen virtus spürt Büchner (1967) nach, um dann, nachdem er deren Unterschied zur apsTTl herausgearbeitet hat, der Frage nachzugehen, was Horaz unter virtus versteht; für Curtius (1967) ist virtus »römische Staatstugend«, die das imperium Romanum zu bilden ermöglichte. Zur virtus Tacitea stellt Haas (1938), wenn man die Blut-und-Boden-Rhetorik ignoriert, interessante Überlegungen an, resümiert aber, daß Tacitus die »virtus darstellen mußte und sie hier [bei den Germanen, Anm. v. Verf.] am reinsten verkörpert fand« (S. 177). Feger (1948) stellt erst das Bedeutungsspektrum der virtus Tacitea dar (301-3) und breitet dann die hervorragenden Ergebnisse seiner Analyse der germanischen virtus aus. - Zur virtus ducis boni, die Agricola (Agr. 39.2) in all ihren Einzeltugenden besitzt, siehe: Büchner (1967, S. 377ff.) und vor allem: Streng (1970).

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den »Einsatz fiir den Staat, Erfiillung der Pflichten als civis« in den Zeiten des Friedens, wie schließlich die »Erfiillung der Pflichten als pater familias«, ist die der Germanen eindeutig auf die martialische Tugend (virtus bellica) reduziert. 224 So wird der Begriff virtus ausschließlich im Kontext kriegerischer Handlungen verwendet: Bei der Darstellung des Kampfesgesangs (Germ. 3.1) bemerkt Tacitus, daß der von dem Barritus angestimmte Gesang nicht so sehr ihre Stimmen als vielmehr ein Zusammenklang der Tapferkeit (nec tam voces illae quam virtutis concentus) zu sein scheine. Wenn dann (Germ. 7.1) das Auswahlkriterium des Anfiihrers (dux) angegeben wird, der seiner Leistung wegen (ex virtute) gewählt werde, so erhellt der anschließende Satz, daß hier wiederum die Tapferkeit gemeint ist. 225 Die übrigen Textstellen weichen hiervon nicht ab,226 mit Ausnahme der Beschreibung der Ehegemeinschaft, zu der es heißt (Germ. 18.3): Damit die Frau nicht glaubt, Entschlüsse zu männlichen Taten und Kriegsnöte beträfen sie nicht, wird sie eben durch die symbolischen Geschenke mit ihrer Vorbedeutung für die beginnende Ehe daran erinnert, daß sie als Gefährtin in Mühen und Gefahren kommt und daß ihr bevorsteht, dasselbe wie er im Frieden, dasselbe wie er im Kampf zu ertragen und zu wagen. ne se mulier extra virtutum cogitationes extraque bel/orum casus putet, ipsis incipientis matrimonii auspiciis admonetur venire se laborum periculorumque sociam, idem in pace, idem in proelio passuram ausuramque.

Hier umfaßt die virtus offensichtlich mehr als Tapferkeit im Kampf,227 auf den jedoch dreifach (bella ... pericula ... proelia) mit Nachdruck hingewiesen wird. Motivisch dominiert das Verständnis der virtus als Tapferkeit lfortitudo) nicht minder: Besonders schön verdeutlicht das der bereits besprochene Aufnahmeritus in die Gemeinschaft (Germ. 13.1), werden dem jungen Mann doch Schild und Frame überreicht, womit unmißverständlich von Tacitus zum Ausdruck gebracht ist, in welchem Bereich der Germane sich auszeichnen solle. Die spezielle Form der Beobachtung der Vorzeichen (Germ. 10.3), die darin besteht, daß ein Germane und ein vom Gegner ge-

224 Diese Zitate sind Büchner (1967, S. 378f.) entnommen. Feger (1948, S. 306) differenziert zwischen der virtus civilis und der virtus militaris (letztere habe ich als virtus bellica bezeichnet) und bemerkt dann treffend Gedoch ohne Diskussion der jeweiligen Stellen): »Der Inhalt dieser barbarischen virtus ist indes gegenüber der altrömischen noch mehr verengert: Er ist ausschließlich kriegerischer Art.« 225 [ ..] et duces exemplo potius quam imperio, si prompti, si conspicui, si ante aeiem agant admiratione praesunt: Germ.7.1. 226 [ ..] ea gloria est, si numero ac virtute emineat (Germ. 13.3); Germ. 14.1: siehe fortlaufenden Text; (Germ. 20.1) virtus agnoscat. So auch: 30.2; 31.1; 31.3; 35.2; 42.1. 227 So auch Gerber/Greef ad loc.

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stellter Krieger sich messen und der Ausgang dieses Zweikampfs als Vorentscheidung angesehen wird, exemplifiziert den Stellenwert der virtus bellica im Bereich der Mantik. Daß Waffen in die Ehe als Mitgift gebracht werden (Germ. 18.2), spiegelt die Bedeutung der virtus in der >Keimzelle der GesellschaftGermania< als exemplum zu exponieren, was auch dadurch zum Ausdruck komme, daß sich Tacitus gerade in den Kap. 13 und 14 einer »gehobene[n] poetische[n] Stilisierung« bediene, in der sich die Anteilnahme des Autors am Gegenstand manifestiere. 228 Infolge der dargestellten Reduktion der virtus auf die virtus bellica kann, wenn überhaupt, nur diese als exemplum in der >Germania< verarbeitet sein. Im Kap. 14 begegnet die ausfUhr lichste Beschreibung germanischen Kampfgeistes : Sooft es zur Schlacht kommt, ist es eine Schande für den Gefolgsherren, sich an Tapferkeit übertreffen zu lassen, eine Schande für die Gefolgschaft, nicht die gleiche Tapferkeit wie ihr Gefolgsherr zu zeigen.

cum ventum in aciem, turpe principi virtute vinci, turpe comitatui virtutem principis non adaequare.

Es ist zweifelsohne diese Facette der taciteischen Wiedergabe der virtus, dieser zur Tapferkeit stimulierende Eifer, sich als besonders tapfer auszuzeichnen, von der Karl Büchner meinte, Tacitus habe ihr »als einer großen Sache ein Monument errichten« zu müssen gemeint. 229 Doch daß sich Tacitus keineswegs »mit diesem fremden Volk im Wesentlichen des Lebens einig war«, machen die anschließenden Darlegungen deutlich: Wenn die Stammes gemeinschaft, in der sie geboren sind, infolge langer Friedensruhe in Tatenlosigkeit erstarrt ist, suchen viele junge Männer adliger Abkunft auf eigene Faust die Stämme auf, die zu der Zeit gerade einen Krieg führen; denn diesem Volk ist Ruhe zuwider, ferner wird man leichter in Gefahren berühmt [ ... ]

si civitas in qua orti sunt longa pace et otio torpeat, plerique nobilium adulescentium petunt ultro eas nationes quae turn bellum aliquod gerunt, quia et ingrata genti quies etfacilius inter ancipitia clarescunt [ ..].

Es ist dies die in den opera minora häufig wiederkehrende Erkenntnis, daß nur wer herausgefordert ist, sich zu höchster Leistung aufschwingt, daß wer Frieden und Wohlstand genießt, seine Fähigkeiten als Krieger vernachlässigt. Mit den Worten des Maternus (dial. 37.7): Der Krieg bringt 228 Perl (1990), ad loc. Weitere Vertreter dieser Position: s. Fn. 151-156. 229 Büchner (1985, S. 146); auch das folgende Zitat.

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mehr gute Kämpfer hervor als der Friede. - Plures [ ..] proeliatores bella quam pax ferunt. Voraussetzung der virtus bellica ist nicht nur libertas, sondern ancipitia - die Perpetuierung des Zustands zumindest gespannter Unsicherheit, die Initiierung kriegerischer Handlungen. Eine solche Fokussierung auf die virtus bellica geht selbstredend auf Kosten kultureller Entwicklung (Germ. 15.1): Gerade die Tapfersten und Kriegslustigsten sind untätig und träge. - fortissimus quisque ac bellicosissimus nihil agens [ ..] hebent. Perfektion im Kriegshandwerk verträgt sich mit keinen anderweitigen Beschäftigungen. Und am Ende des vorangegangenen Kapitels bemerkt Tacitus (Germ. 14.3): Die Mittel für die Großzügigkeit bereiten Kriege und Raubzüge. Aber die Erde zu pflügen und den Jahresertrag abzuwarten, wird man sie wohl nicht so leicht überreden können, wie den Feind herauszufordern und sich Wunden zu erwerben. materia munificentiae per bella et raptus, nec arare terram aut expectare annum tarn [acile persuaseris quam vocare hostem et vulnera mereri.

Die Entwicklungsstufe, auf der man sich durch Kriege und Raubzüge seine Subsistenz sichert, liegt gemäß dem aristotelischen Schema vor der, in welcher man Landwirtschaft betreibt. 230 Und die agricultura gilt als die Chiffre kultureller Entwicklung, so daß es mit Sicherheit kein Zufall ist, daß Tacitus diese beiden Stufen unmittelbar nebeneinander stellt, um unmittelbar im Anschluß daran von der bekannten mira diversitas naturae zu berichten. 231 Dann aber hat Tacitus in diesen beiden primär der virtus gewidmeten Kapiteln einen Zusammenhang hergestellt zwischen Tapferkeit und Primitivität. Wird hier virtus idealisiert, wo ihr der Ackerbau als »Oder« gegenübergestellt wird? Wo Kriege und Raubzüge durchgefiihrt werden, um nicht nachzulassen? Ferner ist es ja das gefährliche Zusammenspiel von libertas und virtus, das zur discordia fiihrt, deren Resultat (Germ. 33.1) in den Augen des Römers vielleicht erwünscht ist, in den Augen dessen, der Werte menschlicher Existenz betrachtet, aber wieder nur die negativen Konsequenzen einer gefährlichen Werteverschränkung verdeutlicht. Und als wäre die virtus bellica durch diese Konsequenzen nicht schon hinreichend diskreditiert, fugt Tacitus zu denen, die diese virtus personifizieren, noch hinzu (Germ. 14.3): Es gilt im Gegenteil sogar als träge und unmännlich, sich mit Schweiß zu verschaffen, was man doch mit Blut erringen kann. - pigrum quin immo et iners videtur sudore adquirere quod possis sanguine parare.

230 S. hierzu Kap. 2.2.1. 231 Hierzu: Perl (1990, S. 144).

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Wie im Falle der Moral der Germanen, so steht auch hier Kritik (die auch bei Abzug der dem sentenziösen Charakter geschuldeten Hyperbel im Kern der Aussage bestehen bleibt) an dem, was die Germanen als selbstverantwortliche Charaktere verkörpern, und eine ambivalente Darstellung der virtus, die auf Kosten der kulturellen Entwicklung geht. Was Tacitus Maternus im >Dialogus< darlegen läßt, verdeutlicht er auch in der >Germaniac Es ist schlechterdings nicht möglich, großen Ruhm (magna fama) und friedliche Ruhe (magna quies) Geweils dial. 41.5) zu erlangen, womit auf die Antinomie kultureller Werte verwiesen ist, die nun abschließend so, wie sie in der >Germania< vorzuliegen scheint, rekonstruiert werden soll.

2.3.2 Antinomie kultureller Werte: libertas an pax? Cum domino pax ista venit (Lucan 1.670).232

Maternus' Überlegungen zur Beredsamkeit alter Zeit (antiquorum temporum eloquentia) zeigen exemplarisch an der forensischen Rhetorik die Abhängigkeit menschlicher Leistung von politischen Rahmenbedingungen und sozialem Klima und können - den vorangestellten Reflexionen auf die Wertbegriffe innerhalb der >Germania< untergelegt - das Erarbeitete präzisieren helfen. 233 Römischer Redner und germanischer Krieger werden durch das motiviert, was sie mit ihrer Leistung - dem einen die eloquentia, dem anderen die virtus bellica - zu erlangen vermögen. Obwohl auch in Zeiten der Ruhe und der Stabilität, in einem stabilen, ruhigen und glücklichen Staat (composita, quieta et beata re publica: dial. 36.2), dem einen wie dem anderen Ehre zuteil werden kann, wenn sie sich in besonderer Weise ausgezeichnet haben, so glaubten sie [die alten Redner, Anm. v. Ver!J dennoch in der damaligen Verwirrung und Zügellosigkeit mehr erreichen zu können, da jeder Redner, als alles durcheinander ging und eines gemeinsamen Lenkers entbehrte, in dem Maße für klug galt, wie er das wankelmütige Volk bereden konnte (tarnen illa perturbatione ac licentia plura sibi adipisci videbantur, cum mixtis omnibus et moderatore uno carentibus tantum quisque orator saperet quantum errati populo persuaderi poterat)?34 Es ist dies 232 Mit dem Herrscher wird (auch) der Friede kommen [zum futurischen Präsenz: KS 1. 31.7; das - in diesem Kontext - pejorative »ista« (hierzu: KS I. 118.2, Anm. 5) sperrt sich einer geschmeidigen Übersetzung]. 233 Döpp (1995, S. 217) betont, daß eloquentia synonym fiir das genus iudiciale stünde. Zum historischen Vergleich: Heldmann (1982, S. 273: »Die Redekunst ist nicht eigentlich das Thema der 2. Maternusrede, sondern sie ist der thematisch fixierte Schwerpunkt, über den ein historischer Vergleich durchgefiihrt wird«). 234 Tac. dia!. 36.2 (diese und die folgenden Übersetzungen des >Dialogus( stammen von Volkmer (1998».

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das als »bestimmend erkannte Konzessivgef'üge«,235 in dem Licht- und Schattenseite ein und desselben Phänomens unmittelbar ineinander übergehen: Unordnung und Willkür bereiten das Terrain, auf dem sich der Redner, indem er Zuhörer durch seine rhetorische Brillanz in den Bann schlägt und hinter sich vereinigt, zu Macht und Ansehen emporschwingt; Unordnung und Willkür bereiten das Terrain, auf dem der germanische Krieger sich durch seine virtus hervortun und Gefährten (comites) hinter sich scharen kann. Die ausgewiesenen Momente der Unruhe und Unordnung schlagen sich in dem einen Falle nieder in unablässige Gesetzesanträge, Volksreden der Beamten, Anklagen gegen einflußreiche Männer und die Parteiumtriebe des Adels und dauernde Streitigkeiten des Senates mit dem VOlk,236 und in dem anderen Falle in dem aus der Freiheit resultierenden Fehler (vitium ex libertate), den das Zusammenleben gefahrdenden Feindschaften (inimicitiae), Raubzügen, schließlich der finalen Zwietracht (discordia). Hier wie dort also Verhältnisse, die, obwohl sie den Staat zerrütteten, dennoch die Beredsamkeit jener Zeiten übten und sie mit hohen Belohnungen augenscheinlich überhäuften, weil jeder, je mehr er durch Reden auszurichten vermochte, umso leichter zu Ehrenämtern gelangte (quae singula etsi distrahebant rem publicam, exercebant tarnen illorum temporum eloquentiam et magnis cumulare praemiis videbantur, quia quanta quisque plus dicendo poterat, tanto facilius honores adsequebatur).237 Wie der Redner sich daher ruhmbegierig in jede juristische Auseinandersetzung stürzt, so suchen viele junge Männer adliger Abkunft auf eigene Faust die Stämme auf, die zu der Zeit gerade einen Krieg führen (plerique nobilium adulescentium pe tunt ultro eas nationes: Germ. 14.2), denn Anführer wählen die Germanen nach der Tapferkeit (duces ex virtute sumunt: Germ. 7.1). Doch sind es nicht nur die Ehren, die man sich im freien Rom durch die Rede, im freien Germanien aber durch den Kampf erwerben konnte, weswegen die Ausbildung hier auf eloquentia, dort auf virtus abzielt; nein, in Rom kann es bisweilen um das politische Überleben, in Germanien - wenn es sich gegen einfallende Horden aus der unmittelbaren Nachbarschaft zu verteidigen gilt - um die nackte Haut gehen: So kam zu den höchsten Auszeichnungen für die Beredsamkeit auch noch zwingende Notwendigkeit hinzu. - ita ad summa eloquentiae praemia magna etiam necessitas accedebat (dial. 36.8); für die Germanen muß lediglich »virtutis« substituiert werden. 235 Büchner (1985, S. 211). 236 Man vg!.: Hinc leges adsiduae et populare nomen, hinc contiones magistratuum paene pernoctantium in rostris, hinc accusationes potentium reorum et assignatae etiam domibus inimicitiae, procerumfactiones et assidua senatus adversus plebem certamina: dia!. 36.3. 237 Tac. dia!. 36.4 (gekürzt, Volkmers Übersetzung (1998) leicht modifiziert).

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Diese strenge Parallelisierung der Ausführungen im >Dialogus< mit den Gegebenheiten in Germanien erhält spätestens dann ihre volle Berechtigung, wenn Maternus (dial. 37.7) die Analogie explizit aufgreift: Wer wüßte nicht, daß es nützlicher und besser ist, den Frieden zu genießen als vom Krieg geplagt zu werden. Und dennoch bringt der Krieg mehr gute Kämpfer hervor als der Friede. quis ignorat utilius ac melius esse frui pace quam bello vexari? Plures tarnen bonos proeliatores bella quam paxferunt.

Die Aussage des >DialogusGermania< stellt insofern einen »historischen Versuch« dar, als ein Interesse des Tacitus - wie auch in den genuin historischen Werken - den Werten menschlicher Existenz gilt: In ihr studiert er nicht die Germanen, sondern an ihnen simplicitas, libertas und virtus in ihrer Ambivalenz; natürlich immer im Gedanken daran, daß es sich bei diesen auch um die zu seiner Zeit mächtigsten Gegner Roms handelte. Die Ambivalenz der Werte führt zur Ambivalenz des Porträts. Weil Tacitus die Mehrzahl der sittlichen Charakteristika der Germanen auf ihr Milieu zurückführt, ja an den Germanen nichts moralisch scheint außer ihr Strafverhalten im Falle eines Ehebruchs (adulterium), kann der römische Leser, dessen Lebenswelt der germanischen diametral entgegengesetzt ist, nichts lernen - es sei denn, daß in einer vorkulturellen Phase gewisse Probleme und moralische Herausforderungen fehlen. Die >Germania< ist nicht nur kein Sittenspiegel, auch die Germanen werden secunda fa240 Übers. nach Städele (1991). - Diese Maßnahme empfahl schon Kroisos dem Kyros (Hdt. 1.155): Er solle die rebellischen Lydier nicht töten, sondern dafür Sorge tragen, daß sie nicht mehr rebellierten und nicht länger gefährlich seien; er solle ihnen den Besitz von Waffen verbieten, das Tragen eines Untergewandes und von Schuhen hingegen befehlen. Fernerhin solle er ihnen auftragen, K16cxpl1;EIV TE KCXI IjicXAAEIV KCXI KCXTTTjAEUEIV TTCXlOEUEIV TOUS' TTCXIOCXS' Kcxl TCXXEülS' aEcxS', ciJ ßCXOlAEU, YUVCXIKCXS' aVT' avopwv ÖIjiECXI YEYOVOTCXS' (man vgl. auch Tac. hist. 4.64.3.). 241 Richmond-Ogilvie (1967, ad loc.); ebenso Heubner (1984, ad loc.). 242 In diese Richtung hat - wenn auch eher tentativ - schon Dauge (1981, S. 251) gewiesen: »Le but de Tacite a ete de fournir a ses compatriotes une connaissance claire et complete de leur adversaire le plus dangereux, connaissance qui s'avere indispensable pour lui resister - ou pour I'assimiler.« Den informativen Gehalt der >Germania< scheint er jedoch überzubetonen.

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cie nur als Resultate ihres kulturellen Milieus infolge einer geographisch bedingten charakterlichen Disposition zum Zorn dargestellt. Hinzu kommt die politische Komponente: Da die Gefährlichkeit der Germanen aus ihrem barbarischen Leben resultiert, muß, wer sie bezwingen möchte, diese Lebensbedingungen ändern. Was Tacitus im >Agricola< als (außenpolitische) Maßnahme zur Befriedung der Briten lobt, im >Dialogus< als (innenpolitische) Ursache der Stagnation tadelt, ist der Schlüssel zur Integration Germaniens in das römische Imperium: humanitas.

3. Negotiatio Germaniae: humanistische Adaptationen der taciteischen imago Germaniae

Tacitus' imago Germaniae wurde nach Befreiung der >Germania< »aus den Kerkern der Barbaren« ihrerseits von italienischen und deutschen Humanisten dazu verwandt, imagines Germaniae zu konstruieren, um jeweils kontextrelative Funktionen zu erilillen. 1 Im Anschluß an einen summarischen Überblick über die ilir die hier zu untersuchenden imagines relevanten historischen Rahmenbedingungen werden eben diese imagines und ihre Bedeutung im Rahmen der negotiatio Germaniae kurz vorgestellt. Wiederentdeckung und erste Instrumentalisierungen des taciteischen Traktates fielen in eine Zeit politischen wie kulturellen Konfliktes: Das »Heilige Römische Reich Deutscher Nation« befand sich außenpolitisch wie innenpolitisch in einer tiefen Krise. Eine Konsequenz des Bedeutungsverlustes des Reiches bestand ilir deutsche Humanisten in dem Bedeutungsgewinn der Idee einer deutschen Nation, sei es daß das Reich mehr und mehr mit dem deutschsprachigen Gebiet identifiziert wurde oder daß »Deutschland« als zusätzliche Bezugsebene - neben dem Reich - in den Vordergrund trat. Zusätzliches Selbstbewußtsein erwuchs aus der weithin anerkannten Auffassung des Überganges des Imperiums auf die Deutschen (translatio imperii).2 Separatistische Gedanken anderer Art hegten deutsche Kurfürsten: Die Machtpolitik der Kurie in Rom - deren negative Aspekte als gravamina angeprangert wurden - stieß auf eine sich verhärtende deutsche Opposition, 1 Barbarorum ergastula: Poggio, Epist. 1.5 (Turin 1963, S. 29). - Die Benutzung der >Germania< durch Rudolf von Fulda innerhalb seiner Translatio sancti Alexandri (vor 865) ist für diese Untersuchung nicht relevant; hierzu: Perl (1990, S. 53, Fn. 160 (mit weiterführender Literatur».Der Begriff des Nationsbewußtseins stammt von Ehlers (1996). 2 Zur Krise des Reiches und ihren Faktoren: Ride (1977, S. 79-87); einen Überblick über die vielfältigen politischen Entwicklungen des 15. Jahrhunderts gibt Meuthen (1984, insbes. S. 41-73). - Zur zunehmenden Identifikation des Reiches mit Deutschland (Muhlack, 1989, S. 134): »Das Reich wird ihnen [den deutschen Humanisten] mit der deutschen Nation identisch, wirklich ein >heiliges römisches Reich Deutscher NationGermania< durch Bebel hat zu keiner Kontroverse geführt - die Spuren der taciteischen Schrift innerhalb Bebeis (Euvre habe ich daher schlicht in einer Fußnote zusammengetragen (Kap. 3.4.1, Fn. 480). 8 Die beiden Zitate: Joachimsen (1983, S. 325); Muhlack (1989, S. 137) spricht treffend von der »katalysatorischen Funktion, die dem klassischen Altertum im humanistischen Denken zukommt.« - Zur Diskussion des Begriffs »Humanismus«: Meuthen (1983, S. 217f.). - Zur Funktion des Zitats: Morawski (1970) differenziert die Funktion des Zitats in »authoritative, erudite, ornamental«. Das im autoritativen Zitat zum Ausdruck Gebrachte verhält sich unumstößlich genau so und nicht anders, wohingegen das gelehrige Zitat hinsichtlich seines Wahrheitsgehaltes prinzipiell in Zweifel gezogen werden kann. Es findet insbesondere in der wissenschaftlichen Diskussion Verwendung und verweist in einem persuasiven Sinne auf die Quelle. Davon wiederum muß die lediglich ornamentale Funktion des Zitats unterschieden werden, das dem Text, innerhalb dessen es auftritt, nur in ästhetischer, nicht aber in sei es normativer, sei es persuasiver Hinsicht dient. 9 Die Rechtfertigung Enea Silvios: Europa, S. 122. Zur Bedeutung der mutatio rerum, locorum et nominum im Werke Biondos: Muhlack (1991, S. 200ff.); zur Bedeutung dieses Konzeptes in

Humanistische Adaptationen der taciteischen imago Germaniae

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Zudem kann der Rekurs auf die >Germania< als historische Schrift mit Hilfe der verschiedenen Funktionen der Historiographie weiter differenziert werden; hierzu kann auf zwei der Metaphern zurückgegriffen werden, die Cicero im >Dialog über den Redner< zur Definition der historia verwendet. Während insbesondere Campano in seiner »Türkenrede« die res gestae maiorum (Leistungen der Vorfahren) als exempla anführt, die den Deutschen zum Vorbild gereichen sollen, geht es vor allem Bebel primär (wenn auch nicht ausschließlich) um die Rettung der memorabilia vor dem Vergessen; während also bei dem italienischen Redner der Aspekt der historia als magistra vitae zu dominieren scheint, steht bei dem deutschen Humanisten der Aspekt der historia als vita memoriae im Vordergrund. 10 Zu den imagines Germaniae und der negotiatio Germaniae: ll Enea Silvios Bilder der Vergangenheit und Gegenwart Deutschlands differieren je nach Kontext. Während er es sich in seiner >Germania< unter Rekurs auf die taciteische >Germania< angelegen sein läßt, die größtmögliche kultur-historische Zäsur zwischen der barbarischen germanischen Vergangenheit und der herrlichen deutschen Gegenwart zu markieren, stehen Vergangenheit und Gegenwart in seiner auf dem Frankfurter Türkenreichstag gehaltenen Celtis' IGermania generalisGermania< aus (demonstratio, quod Germani sint indigenae, S. 105): Hodie tamen, 0 Corneli, Germania est, non solum non iriformis terris et tristis aspectu, verum etiam cultissima, vinetisque et omni fructuum segetumque genere et conspicua et foecunda; und in demselben Traktat erörtert auch er die nominum mutatio (S. 107), ja in >De laude, antiquitate, imperio ... Germania< bediente, und seine 1496 in Leipzig erschienene >Germania< und deren offenkundig tendenziöse Darstellung der Vergangenheit und Gegenwart Deutschlands stachelt dann deutsche Humanisten zur Gegendarstellung an. Er ist einer der Hauptakteure der negotiatio Germaniae, ja deren Initiator, indem er die taciteische >Germania< als Barbarendokument stigmatisiert und die mit ihrer Hilfe konstruierte Vergangenheit diffamiert. Enea Silvios Frankfurter Rede wird hier nicht nur aufgrund eines imagologischen Interesses analysiert, weil anhand der (im Vergleich zur >GermaniaGermania< belegt. Sein Beitrag zur negotiatio besteht also darin, daß er nachfolgenden deutschen Humanisten eine der piccolomineischen entgegengesetzte Sicht auf die >Germania< eröffnete, indem er sie zur Konstruktion eines positiven literarischen Bildes verwandte: Er bietet im Rahmen der negotiatio Germaniae eine Alternative. Die Kontextrelativität der imago Germaniae - erst kürzlich wieder als »der >Skandal< des Giannantonio Campano« bezeichnet l2 - kann wiederum durch den Vergleich mit einem anderen Werk herausgearbeitet werden; nach Gegenüberstellung der Deutschlandbilder hier der Rede, dort der Briefe hat man - von deutschen Humanisten bis in die jüngste Forschungsliteratur - letztere als Ausdruck der wahren Meinung Campanos, das Deutschlandbild der Rede als bloßes Konstrukt interpretiert. Auch wenn man mit Urteilen über die »wahre Meinung Campanos« vorsichtig sein muß, wie in Kap. 3.2.2 argumentiert wird, so kann das dort entwickelte Bild Deutschlands doch als repräsentativ für diejenige Meinung italienischer Humanisten aufgefaßt werden, gegen die sich deutsche Humanisten wie Celtis und Bebel verwahrten. Letztgenannte sind zwar nicht die ersten deutschen Humanisten, die sich der taciteischen >Germania< bedienen;l3 sie sind aber zum einen unter den ersten, die sich mehr oder minder explizit mit Enea Silvios tendenziöser In12 Münkler/Grünberger (1998, S. 213). 13 Sigismund Meisterlin scheint als erster deutscher Humanist auf Tacitus' >Germania< verwiesen zu haben; Felix Fabri zitiert für seine descriplio Sueviae mehrmals aus der >GermaniaGermania< befassen und ihr eigene Konstruktionen im Rahmen der negotiatio Germaniae gegenüberstellen. Zum anderen komplettieren ihre imagines Germaniae die Adaptationsmöglichkeiten der taciteischen >Germaniac Celtis' Germania generalis »korrigiert« die Verzerrung Enea Silvios, indem er die Ambivalenz des taciteischen Porträts zur vollen Geltung bringt; wie Tacitus läßt er die Moralität der Germanen, die Enea Silvio ja letztlich gänzlich bestritten hatte, neben der fehlenden Kultur stehen, so daß eine simple Idealisierung der ungebildeten Vergangenheit vermieden wird. Celtis' Beitrag zur negotiatio besteht in einer Vindikation der taciteischen Schrift und einer (partiellen) Rehabilitation der germanischen Vergangenheit. Der Vergleich mit einem Gedicht aus seinen >Amores< (Am. 2.9), der nach der >Germania generalis< ausführlichsten Gegenüberstellung der Vergangenheit und Gegenwart Deutschlands unter Rückgriff auf die taciteische >GermaniaGermania< betitelter Brieftraktat, den er am 1. Februar 1458 dem Kardinal Antonio de la Cerda dediziert, zweifelsohne zu den rezeptions geschichtlich wirkmächtigsten. 17 Denn in ihr unternimmt er einerseits als erster den Versuch einer humanistischen Beschreibung des nördlichen Raumes; andrerseits bedient er sich der taciteischen >Germania< und führt sie somit in den literarisch-politischen Diskurs der zweiten Hälfte des 15 . Jahrhunderts ein. 18 Damit aber initiiert er die negotiatio Germaniae.

14 Enea Silvios Aufenthalt in Deutschland begann im Frühjahr 1432 auf dem Basler Konzil und endete 1455 in der Kanzlei Kaiser Friedrichs III.; hierzu umfassend: G. Voigt (1856 u. 1862). Paparelli (1950, Kap. 8) und Widmer (1960, die biographische Einleitung). - Das Zitat: Paparelli (1950, S. 146); zu Enea Silvio als dem Archegeten der Tacitusrezeption: Joachimsen (1983, S. 275-296), Perret (1950, S. 151), Ride (1964, S. 279) und Amelung (1964, S. 63), um nur die älteren Arbeiten zu nennen. - Von den zahlreichen Biographien, die zu Enea Silvio erschienen sind, habe ich auf drei wiederholt zurückgegriffen: Das dreibändige Werk G. Voigts (1856-63) verschafft dem Leser den umfassendsten Einblick in den historischen Kontext und sucht aufgrund seiner Detailfülle trotz der lange zurückliegenden Abfassungszeit und mancher Unstimmigkeiten noch immer seinesgleichen. Als Korrektiv der bisweilen zu negativen Beurteilung Enea Silvios durch Voigt kann Widmer (1960) dienen, die Enea Silvio tendenziell zu positiv betrachtet. Paparelli (1950) schließlich scheint mir frei von dieser Form der Voreingenommenheit zu sein und liegt hinsichtlich der Detailftille zwischen den zuvor genannten Arbeiten. Als wichtigster Sammelband zu Enea Silvio gilt: Pio 11 e la cultura deI suo tempo (1991; darin insbes. Giustiniani (S. 229-42». - Die Zitate sind der Edition von Schmidt entnommen; zu seinen Einleitungen zur Textedition sowie zur deutschen Übersetzung hat Ride (1964) zu Recht scharfe Kritik geäußert, weil darin die Voreingenommenheit des Herausgebers gegenüber seinem Autor zum Ausdruck kommt. 15 Zur Bedeutung Deutschlands für die Karriere Enea Silvios vgl. man die folgende Äußerung, Calixtus habe ihn für das Kardinalat vorgeschlagen, quem non imperator so/um, sed Hungarie quoque rex Ladis/aus et cuncti Germanie principes efflagitabant (Cornm. 1.33 [So 93, dort: ejJa-

Humanistische Adaptationen der taciteischen imago Germaniae

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Seine berühmte Tacitus-Referenz leitet er mit den Worten ein (Germ. 2.4): Cornelius Tacitus' Beschreibung Germaniens ist (sogar noch) düste-

rer als die [des Caesar und des Strabo}. - His feroäora de Germania scribit Cornelius Tacitus [oo.}. Die Autorität des Tacitus muß, wie unmittelbar zuvor auch die des Caesar und des Strabo, dazu herhalten, ein düsteres Bild barbarischer alter Germanen vor das Auge des Lesers zu stellen, vor dessen Hintergrund sich die Zivilität und Prosperität der Gegenwart umso deutlicher abhebt. Bei den einen der nachfolgenden Humanisten stieß seine Vergangenheitskonstruktion, bei den anderen seine Vergangenheits bewertung auf Ablehnung,19 doch die von ihm angewandte Methode der Gegenüberstellung von Vergangenheit und Gegenwart hat Schule gemacht. 2o Celtis und Bebel werden durch Enea Silvios Stigmatisierung der taciteischen >Germania< als eines Dokumentes der Barbarei und seiner Vergangenheitskonstruktion zusätzlich zu ihren eigenen Darstellungen motiviert. 21 gitabant]). Auch wandte sich Calixtus pre ceteris cardinalibus in rebus Germanicis (Comm. 1.33 [So 94]) an ihn. Zu Deutschland als Enea Silvios Machtbasis: Paparelli (1950, Kap. 8). 16 K.Voigt (1973, S. 84-91) spürt den literarischen Reflexen der Reisen in Deutschland nach, wobei er sich insbesondere auf das erste Buch der commentarii, die historia Austrialis, die historia Bohemica, natürlich die >Germania< und die >Europa< konzentriert: »Aeneas ist auf seinen Reisen kreuz und quer durch den südlichen Teil Deutschlands gekommen und hat dort nach und nach fast alle wichtigen Städte mit eigenen Augen gesehen« (S. 90); hiermit vgl. man Giustinianis Urteil (1991, S. 236: »Un solo italiano scopri la Germania com'era veramente nel Quattrocento, e questo e stato Enea [00']«)' das wohl zu scharf und allgemein formuliert ist. 17 Enea Silvio selber hatte dem Brieftraktat keinen Titel vorangestellt; bei Schmidt (1962, S. 8) werden zwei Titel, die im Autographenkodex Vat. Lat. eingetragen sind, genannt: Aeneas Cardinalis Sancte Sabine ad objectiones Germanorum (Vat. Lat. 3886) und De slatu Germanie el his, que per eam nationem objiciunlur Sancte Romane Sedi Aposlolice el quomodo omnibus reclissime respondeatur (Vat. Lat. 3885, eine Kopie des oben genannten Kodex). Die 1496 in Leipzig gedruckte editio princeps zielt durch ihren Titel eindeutig auf deutsche Leser ab: De ritu, silu, moribus et condicione Theutonie descriplio (die Basler Werkausgabe hat Germanie anstelle des Theutonie). Unschwer ist hier zu erkennen, daß die ursprüngliche und die Bücher 1 und 3 füllende kirchenpolitische Thematik zugunsten der Deutschlandschilderung des zweiten Buches in den Hintergrund getreten ist. Ein der editio princeps (ebenfalls in die Edition der Basler Werkausgabe übernommenes [So 1034], bei Schmidt aber nicht abgedrucktes) vorangestelltes Epigramm an den Leser verspricht: Germanos mores urbes et religionem / Climata Theulonici et jlumina cuncta soli / Nomina que genlis quam dara Alemana poteslas / Hic legis Eneas quod pius ipse dedit. Deutlicher kann die erwartete Rezeptionshaltung nicht vorgegeben werden. 18 Zur >Germania< als erster humanistischer Darstellung des nördlichen Raumes: MüIler (2001, Kap. 2.2). - Zur tatsächlichen Rezeption der taciteischen >Germania< durch Enea Silvio: Kap. 3.1.1.1. 19 »Dans I'optique de la polemique entre I' AIlemagne et Rome, cette adresse stylistique et rhetorique se revelera une insigne maladresse sur le plan ideologique. Maints humanistes aIlemands [00'] a l'affUt de lettres de noblesse pour le passe recule de leur patrie, seront tentes d'oublier l'hebetude et la ferocite des Germains pour ne retenir de la description d'Enea que les allusions a la simplicite de leurs mo:urs« (Ride (1980), S. 280). 20 Hierzu s. die Einleitung zu diesem Kap. 21 Zu Celtis' Reaktion auf Enea Silvio: Kap. 3.3.2; zu Bebei: insbes. Kap. 3.4.2.

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Negotiatio Germaniae

Schon vor Abfassung der >Germania< hatte Enea Silvio spezifische Konstruktionen der Vergangenheit und Gegenwart Deutschlands im Sinne der von ihm verfolgten Intention in Bezug gesetzt. In seiner vielleicht berühmtesten Rede, der im Banne der Eroberung Konstantinopels auf dem Türkenreichstag in Frankfurt gehaltenen Oratio de clade Constantinopolitana et bello contra Turcos congregando, hatte er an die deutschen Fürsten unter Berufung auf deren heroische Vergangenheit appelliert, gegen Mehmed 11. zu ziehen. Auch hier funktioniert das Bild der Vergangenheit in seiner Beziehung zum Bild der Gegenwart innerhalb der Argumentation. Und interessanterweise wird sich Bebel auf Enea Silvios imago Germaniae der Rede berufen, die imago Germaniae des Brieftraktates aber zurückweisen. 22 Auf den folgenden Seiten wird zum einen die Variabilität des Deutschlandbildes und die Abhängigkeit des Komplexitätsgrades des Konstruktes von der Komplexität der Fragestellung herausgearbeitet; zum anderen wird die Spezifität des piccolomineischen Beitrags zur negotiatio Germaniae untersucht. Die Thesen lauten: (i) In der Frankfurter Rede, deren primär intendierte Rezipienten deutsche Fürsten sind, stehen die beiden positiven Bilder der Vergangenheit und Gegenwart im Zeichen der Kontinuität unbezwingbaren Kriegertums. Das Bild der Vergangenheit ist zu einem begründenden Mythos funktionalisiert. (ii) In der >Germania< hingegen, deren primär intendierte Rezipienten die Kardinäle in Rom sind, konstruiert Enea Silvio mit Hilfe der taciteischen >Germania< ein negatives Bild germanischer Vergangenheit als Zeit heidnischer Barbarei, wovon er sein Bild der christlichen Renaissanceherrlichkeit abhebt, das den Endpunkt einer kultur-historischen und der Kurie in Rom geschuldeten mutatio (Wandel) markiert. Das Vergangenheitsbild ist zum kontrapräsentischen Mythos funktionalisiert. (iii) Enea Silvios Beitrag zur negotiatio Germaniae besteht in der Stigmatisierung der taciteischen Germania als eines Barbarendokuments und in der uneingeschränkten Barbarisierung der germanischen Vergangenheit. 3.1.1.1 Enea Silvios Rezeption der >Germania< Um das Bild germanischer Vergangenheit zu konturieren, rekurriert Enea Silvio auf die antiken Autoritäten Caesar, Strabo und eben (Germ. 2.4) Ta22 An Bedeutung und Wirkmächtigkeit steht diese Rede seiner >Germania( in nichts nach: »Was dieser italienische Humanist [i.e. Enea Silvio] hier [in der oratio de clade Constantinopolitana] aus berechnender List [ ...] zum Lobe der Deutschen [ ...] aussprach, das kehrte später genau so oder doch ähnlich bei den deutschen Humanisten wieder, ja machte mit den wichtigsten Teil ihrer nationalen Vorstellungs- und Gedankenwelt aus. So wurde der Italiener Enea Silvio ganz ungewollt eine Art Vater des deutschen Nationalbewußtseins im 15. und 16. Jahrhundert« (Paul (1936, S. 26». Erst kürzlich haben Münkler/Grünberger (1998, 3. Kap.) von »Enea Silvio Piccolominis Anstöße[n] zur Entdeckung der nationalen Identität der >Deutschen(Germania< und Barbarisierung Germaniens

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citus. Doch im Unterschied zu Caesar, aus dessen >Bellum Gallicum< er ausgiebig und oft wörtlich zitiert, und auch zu der ihm in lateinischer Übersetzung vorliegenden >Geographie< Strabos, wird Tacitus lediglich paraphrasiert; ja selbst eine promintente Falschaussage findet sich. 23 Daher hat, obschon der explizite Verweis auf Tacitus und die kurz vor der Abfassung der piccolomineischen >Germania< erfolgte Wiederentdekkung der taciteischen opera minora die Berücksichtigung der >Germania< wahrscheinlich machen, Jacques Perret argumentiert, Enea Silvio habe die taciteische >Germania< nur vom Hörensagen her gekannt. 24 Obwohl seitdem in zahlreichen Arbeiten die Rezeption der >Germania< durch Enea Silvio untersucht worden ist, hat man es einerseits nicht fiir nötig erachtet, gegen Perrets These zu argumentieren, »qu'en ce debut d'annee 1458 Aeneas Sylvius ne connalt la Germanie a peu pres que de nom«, sondern gleich eine Rezeption untersucht, die vielleicht gar nicht stattgefunden hat. Andrerseits haben nachfolgende Verfechter der These Perrets sich trotz jener Rezeptionsarbeiten darauf beschränkt, anstatt einer Weiterfiihrung der Argumentation aufeinander zu verweisen: 25 So ist erst kürzlich erneut die Behauptung 23 Denn daß die Verwendung von Perlen unbekannt sei (margaritarum incognitus usus), vermerkt Tacitus in der >Germania< an keinem Ort. - Zu Caesar: Ceterum vitam eorum describens in Commentariis Cesar: Germanos omnis ait in venationibus atque in studiis rei militaris a parvulis institutosfoisse, labori ac duritiei studentes (Enea Silv. Germ. 2.2). Bei Caesar (GaII. 6.22.1) heißt es: Vita omnis in venationibus atque in studiis rei militaris consistit: a parvis labori ac duritiae student. - Zu Strabo: Die lateinische Übersetzung Strabos, derer sich Enea Silvio bedient hat, entstammt der Feder Guarinos (W. Aly, in: Honigmann (1931, Sp. 154); sowie: Perret (1950, S. 144, Fn. 1»; Perret hat auch die Passagen Enea Silvios, Caesars und Strabos anschaulich nebeneinandergesteIlt, woraus hervorgeht, daß Enea Silvio beider Autoren Werke bei der Abfassung seiner >Germania< zur Hand hatte (S. 144-46). 24 »Cesar, Strabon sont cites litteralement; le contenu de l'opuscule de Tacite est evoque de teile maniere qu'on doutera meme qu' Aeneas l'ait jamais lui-meme, en ait eu connaissance autrement que par ouY-dire. Non seulement certaines affirmations d' Aeneas sont en contradiction avec le texte de Tacite [... ] mais il n'est guere qu'une seul phrase >humanis [ ...] hostiis litatum< qui semble l'echo d'une phrase de Tacite, mais la confusion d'Hadrien avec Trajan exclut une connaissance directe du texte; citations, mouvements rhetoriques, recherches de vocabulaire, ebauches de rythme poetique viennent sans doute pallier l'imprecision de la documentation«: Perret (1950, S. 149). Blusch (1983) hat zwar ebenfalls eine Zusammenstellung der Passagen, die auf taciteischen Einfluß schließen lassen, unternommen, setzt sich aber nicht nur nicht mit dem Einwand Perrets auseinander, sondern läuft ihm geradezu ins Messer: Es braucht schon mehr als bloß thematische, ja motivartige Anklänge, um die fragliche Rezeption nachzuweisen. 25 Ride (1964) verweist zwar auf Perret (S. 279, Fn. 19), dessen Untersuchung »laisse supposer que la connaissance de la Germanie que put avoir l'humaniste italien fut assez superficielle«, behauptet im fortlaufenden Text aber: »Dans sa description de la vie et des mceurs des Germains, Enea s'est visiblement inspire de la Germanie«, wofür indes keine Argumente gegeben werden; in seiner Untersuchung von 1977 (S. 173) stellt er fest, »la maniere tendancieuse dont il a utilise Tacite ne laisse place a aucun doute.« Die anschließende, wenig systematische Diskussion der »diverses techniques manipulatoires«, die darin bestünden, daß Enea Silvio nur »I es traits negatifs« kompiliere, mit den unterstellten Kinderopfern noch über Tacitus hinausgehe und schließlich »la tendance ideologique du texte de Tacite« gewaltig verändere, macht seine Annahme in meinen

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Negotiatio Germaniae

aufgestellt worden, daß »[d]ie vielbehauptete Benutzung von Tacitus' >Germania< [... ] nicht nachweisbar« sei, wozu man auf Karl Voigt rekurriert, dessen Textarbeit aber über einen Verweis auf Peter Amelung und Jacques Perret nicht hinausgeht, von denen ersterer seinerseits lediglich auf letzteren verweist. 26 So muß über fünfzig Jahre nach Publikation der Recherehes die Frage, ob Tacitus von Enea Silvio gelesen worden ist, neu gestellt und ihre Antwort in Auseinandersetzung mit Jacques Perret gesucht werden. Von den insgesamt fiinf Argumenten, warum Enea Silvio die taciteische Schrift nicht gelesen haben könne, betreffen die folgenden drei Enea Silvios »Zusammenfassung« der taciteischen Schrift: Zum einen wähle Enea Silvio andere Begriffe als Tacitus;27 zum anderen könnten bis auf eine, zudem textkritisch problematische Ausnahme keine resp. nur zu allgemeine Echos nachgewiesen werden, als daß sie eindeutig auf Tacitus' >Germania< verwiesen;28 schließlich schließe die Verwechslung von Hadrian und Trajan eine direkte Kenntnis der >Germania< aus. 29 Unstrittig folgt aus diesen Argumenten le-

Augen nicht plausibel; von Auslassungen und Modifikationen allein - und seien sie auch spezifischer Natur - auf das Vorliegen des Originals schließen zu wollen, scheint mir methodologisch sehr fragwürdig zu sein (man vgl. aber Fn. 40 zu den leges). Fuhrmann (1978, bes. S. 40), Krapf (1979, S. 32 »Eindruck erster Leseerfahrung«, und S. 47: »Text, den er selbst nur oberflächlich gekannt haben dürfte«) und Kloft (1990 & 1995) gehen überhaupt nicht auf das Problem ein, Kelly (1993, S. 155) behauptet gar, Enea Silvio habe die taciteische >Germania< schon für seine Rede in Frankfurt 1454 benutzt; Schäfer (1993, S. 66f.) setzt eine Rezeption auch voraus und Mellor (1995, S. XXII) behauptet irrtümlich: Enea Silvio »[ ...] later then quoted [sic!] from it extensively in a long letter sent to the chancellor of Mainz in 1458.«). - Eine der frühsten deutschsprachigen rezeptionsgeschichtlichen Untersuchungen zu diesem Thema scheint Lehnerdt (1898) zu sein, der von einer Rezeption der taciteischen >Germania< durch Enea Silvio ausging, aber innerhalb der lateinischen Philologie nicht die Wirkung entfaltete, die Joachimsen (1983, S. 275-296) zuteil wurde, auf dessen Arbeit sich die jüngeren genannten einhellig berufen. - Das Zitat Perrets: 1950, S. 149; er schwächt diese These im Laufe seiner Überlegungen jedoch ab (S. 151). 26 Zitat von: Worstbrock (1989, Sp. 653). K. Voigt (1973, S. 134): »Gründliche Textvergleiche haben ergeben, daß die >Germania< des Tacitus Aeneas zum Zeitpunkt der Abfassung nicht vorgelegen haben kann, denn die Übereinstimmungen sind so allgemeiner Art, daß sie auch aus der Kenntnis der anderen Autoren zu erklären sind.« Mit denen, welche die beiden Texte verglichen haben, sind gemeint: Perret (1950, S. 142-57) und Amelung (1964, S. 61-64). Amelung (1964, S. 64) seinerseits beruft sich auf Perret: »Darauf hat J. Perret [...] mit Nachdruck hingewiesen.« 27 Perret (1950, S. 147, Fn. 3) bemerkt dies erstmalig zu aferitate brutorum. 28 Nur der Druck von 1496 weist das Textstück, in dem humanis saepe hostiis litatum steht, als Marginalie auf, während die Drucke von 1515, 1571 und 1574 diese nicht haben, obwohl sie ansonsten mit der von 1496 identisch sind (die gleichlautende Stelle bei Tacitus ist in Fn. 44 zitiert). Die Ausgabe von 1584 weist die Passage dann auf, und zwar als in den fortlaufenden Text integrierte. Die diversen Überlegungen, die man zu diesem Befund anstellen kann, präsentiert Perret (1950, S. 147, Fn. 11) sehr anschaulich und nachvollziehbar. 29 Wie problematisch dieses Argument Perrets ist, erhellt daraus, daß sich dieselbe Verwechslung im Tacitus-Kommentar (!) des Jodocus Willichius Resellianus findet (Schardius, S. 40 (col.

Stigmatisierung der >Gennania< und Barbarisierung Germaniens

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diglich, daß Enea Silvio den Codex Hersfeldensis (oder eine frühe Abschrift) nicht auf seinem Pult liegen hatte, als er seine >Germania< verfaßte; nicht konkludent ist hingegen die Ausweitung der These, daß Enea Silvio die taciteische Schrift allenfalls vom Hörensagen her kannte. Secunda facie scheinen mir schon die von PeITet eruierten Anklänge fiir eine Lektüre zu sprechen;30 doch lassen sich weitere Beobachtungen hinzufUgen: Nachdem Enea Silvio die Lebensweise als erbärmlich primitiv und nomadisch skizziert hat, fUgt er unter Verweis auf Aristoteles hinzu, daß ein solches Leben ja faul und überaus träge sei: cuiusmodi vitam inertem ac pigerrimam esse Aristoteles auctor est. 3l Im unmittelbar anschließenden Satz heißt es dann, die Germanen hätten keine befestigten Städte besessen und ebensowenig mit Mauem umgrenzte Siedlungen: Nec munite his urbes erant neque oppida muro cincta. Hieran ist nun dreierlei auffällig: Aus der Reihe der fiir Enea Silvio in Betracht kommenden Autoren - Caesar, Strabo, Mela, Tacitus - ist es nur letzterer, der die Trägheit der Germanen als Kuriosum hervorhebt, und zwar nach dem Verweis auf die einprägsame, weil von Tacitus besonders hervorgehobene, wundersame Gegensätzlichkeit der Natur, die darin bestehe, daß ein und dieselben Menschen Trägheit lieben und Ruhe hassen (mira diversitate naturae, cum idem homines sic ament inertiam et oderint quietem). 32 Außerdem scheint Enea Silvio mit iners und pigerrima zwei prominente taciteische Begriffe verarbeitet zu haben,33 so daß aufgrund dieser beiden Beobachtungen die Ökonomie der Rekonstruktion zu verlangen scheint, daß sich diese taciteische Behauptung der inertia Germanorum dem Leser Enea Silvio eingeprägt hatte, und er sich der beiden Begriffe erinnerte. Dies wird zusätzlich durch folgende Beobachtung gestützt: Nicht nur der Verweis auf die germanische Trägheit ist taciteisch, sondern auch der auf die Städte, von denen Tacitus im unmittelbaren Anschluß (Kap. 16.1) behauptet, daß die Germanen keine hätten. 34 Und daß diese beiden, bei Tacitus dicht beieinander stehenden Begriffe (in-

1»: Tacitus autem sui temporis rationem secutus est, qui sub Adriano, hoc est circiter CXX annum post natum Christi,jloruit. 30 Schon G. Voigt (1856, S. 257) hat diese vorsichtigere These vertreten, Enea Silvio habe Tacitus' >Germania< gelesen, aber nicht vor Ort gehabt. 31 Arist. Pol. I.l256a. 32 Tac. Germ. 15.1. So auch PeITet (1950, S. 146, Fn. 6). 33 Pigrum quin immo et iners videtur sudore adquirere quod possis sanguine parare (Tac. Germ. 14.5); man vgl. Blusch (1983, S. 102): Enea Silvio sei »mit Hilfe des Aristoteles zu einer Umdeutung der Tacitusstelle« gekommen. 34 Nullas Germanorum populis urbes habitari satis notum est: Tac. Germ. 16.1. So auch PeITet (1950, S. 146, Fn. 9).

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Negotiatio Germaniae

ertia und urbes) bei Enea Silvio ebenfalls aneinander anschließen, kann wohl nicht als Zufall gelten. 35 Im Fortgang seiner Frugalitätsschilderung kommt Enea Silvio auf die schon in der antiken Ethnographie obligatorische Frage nach Edelmetallressourcen zu sprechen: Selten sei bei den alten Germanen das Silber, noch seltener gar das Gold gewesen; und die Verwendung von Perlen schließlich gänzlich unbekannt (Rarum apud eos argentum, rarius aurum; margaritarum incognitus usus). Er fUgt noch hinzu, daß die Vorkommen der Metalle damals noch nicht untersucht worden seien (nondum metallorum investigate minere). Enea Silvio hätte es bei der generellen Feststellung belassen können, ganz so wie auch Tacitus nur hätte zu schreiben brauchen, er sei im Zweifel, ob geneigte oder erzürnte Götter den Germanen Silber und Gold verweigert hätten. 36 Tacitus fUgt aber in Form einer rhetorischen Frage hinzu, er könne dennoch nicht versichern, daß es in Germanien überhaupt keine Silber- oder Goldader gebe: Wer hätte nämlich danach gesucht (nec tamen adfirmaverim nullam Germaniae venam argentum aurumve gignere: Quis enim scrutatus est?).37 Enea Silvio scheint Tacitus auch hier zu folgen, indem er behauptet, zu jener Zeit seien die Vorkommen noch nicht einmal erforscht worden. 38 Im düsteren Szenario der Vergangenheit duldet Enea Silvio nur einen abgedunkelten Lichtfleck, d.i. die Sittlichkeit der Germanen, die man loben und der man gegenüber der eigenen auch den Vorzug geben müsse (laudanda hec et nostris anteferenda moribus).39 Gleich im Anschluß daran heißt es: Aber in dieser Lebensordnung hat es keine Kenntnis der Schrift, keine 35 Dies hat PeITet (1950, S. 146, Fn. 6-9) natürlich auch ausgemacht; er schenkt aber weder der Besonderheit der inertia Gerrnanorum noch der Zusammenstellung der inertia und der urbes Beachtung. 36 argentum et aurum propitiine an irati di negaverint dubito: Tac. Germ. 5.2. So auch PeITet (1950, S. 147, Fn. 4). 37 Tac. Germ. 5.2. So auch Perret (1950, S. 147, Fn. 6). 38 Und flir die hoc loco verkehrten Perlen vergleiche man folgenden Passus aus dem ethnographischen Exkurs des Agricola (Tac. Agr. 12.6):fert Britannia aurum et argentum et alia metal/a, pretium victoriae. gignit et Oceanus margarita. Da die anderen fur Enea Silvio relevanten Autoren die Perlen ebenfalls nicht erwähnen, könnte dieser fehlerhafte Verweis auf die Perlen als Indiz dafur betrachtet werden, daß Enea Silvio den Agricola gelesen hat. Weiter heißt es im >AgricolaGerrnania< und Barbarisierung Germaniens

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Disziplinierung durch Gesetze gegeben. - At in hoc vivendi ritu nulla fuit litterarum cognitio, nulla legum disciplina. 4o Dies erinnert zum einen wegen der antithetischen Struktur, zum anderen aufgrund der Wortfolge an folgenden Absatz bei Tacitus: Also beherzigen sie strenge Keuschheit, [ ..] die Geheimnisse der Schrift (hingegen) sind Männern und Frauen gleichermaßen verschlossen. - Ergo saepta pudicitia agunt, [ ..] litterarum secreta viri pariter ac feminae ignorant. 41 Die sich daran anschließende Sittenschilderung wird mit einer der wahrscheinlich bis heute bekanntesten Sentenzen innerhalb der taciteischen >Germania< abgeschlossen: Mehr vermögen dort die guten Sitten als andernorts die Gesetze. - Plusque ibi boni mores valent quam alibi bonae leges. 42 Nicht nur findet sich der Verweis auf den Analphabetismus ausschließlich bei Tacitus; auch die Konfrontation der hohen Sittlichkeit mit dieser Facette der Primitivität, sowie die Konstellation der ignorantia litterarum und der leges sind typisch taciteisch. Daß sich die Junktur »legum disciplina« nicht in der >Germania< findet,43 ändert nichts daran, daß spezifische Inhalte und Begriffskonstellationen an die >Germania< erinnern; auch fällt auf, daß Enea Silvio sich erneut offenbar eines der rhetorischen Glanzlichter der >Germania< erinnert, solcher Sätze, die Tacitus einleitend oder abschließend mit einem Aspekt seiner Darstellung verbunden hat. Denn die inertia schließt die Behandlung der auffallend widersprüchlichen Natur der Germanen ab, die urbes leiten die Betrachtung des Bauens und Wohnens bei den Germanen ein, rhetorisch ist die Frage, wer denn nach Metallvorkommen gesucht hätte, und die eben besprochenen leges schließen emphatisch die Schilderung der germanischen Sitten ab. 44 Jacques PeITet gibt zwei weitere Gründe, warum Enea Silvio Tacitus nicht gelesen haben könne: Die halb-geographisch, halb-historiographisch angelegte Schrift >Europa< ist dem Kardinal de Lerida am 29. März 1458 40 Dies ist das eine m.E. stichhaltige Argument Rides (1977, S. 173) in seiner Diskussion der Frage, ob Enea Silvio Tacitus gekannt habe: »ainsi iI prend Tacite a temoin de l'absence de lois codifiees dans la Germania antiqua muIIa legum disciplinaGermania< findet, und dies, obwohl (!) sich zahlreiche Parallelen zwischen diesem Brief und und dem Brieftraktat, z.T. sogar dieselben Sätze, nachweisen lassen. Dies scheint mir ein gewichtiges Argument für eine zwischen den Abfassungen des Briefes und des Brieftraktates erfolgte Lektüre zu sein. Hat Enea Silvio die taciteische >Germania< vor Abfassung seiner >Germania< gelesen? Die inhaltlichen Anklänge, die Zusammenstellung nicht unmittelbar zusammenhängender Charakteristika und der Umstand, daß das, wessen Enea Silvio sich erinnert, ihm als einem der größten Redner seiner Zeit infolge der augenfälligen Stilisierung besonders einprägsam er45 PeITet (1950, S. 149f.). Ähnlich dann auch: K. Voigt (1973, S. 152). 46 Freilich ist man hinsichtlich dieser Frage noch mehr auf schiere Spekulation angewiesen, als dies bei den anderen hier diskutierten Beobachtungen der Fall ist. - Zur Struktur der >Germania< s. Kap. 2.2. 47 Kap. 5.l.l. 48 PeITet (1950, S. 150f.), der fortfährt: »[ ... ] qu'il ait connu la Germanie dans l'entre-deux, qu'ill'ait, plutöt, connue un peu auparavant, il ne l'a connue que par oui"-dire et de fa90n toute superficielle. «

Stigmatisierung der >Germania< und Barbarisierung Germaniens

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scheinen mußte, sowie schließlich der Unterschied zwischen Brief und Brieftraktat scheinen für Enea Silvios Lektüre der taciteischen >Germania< zu sprechen.

3.1.2 Vergangenheit und Gegenwart Deutschlands in der Frankfurter Rede 3.1.2.1 Die Bedrohung Europas Haec sunt enim, quae progenitores vestros virtute praestantes, quamvis iamdudum mortuos, memoriae tamen hominum quasi viventes exhibent [ ..]. 49

In seiner vielleicht berühmtesten Rede, der am 15. Oktober 1454 auf dem Frankfurter Reichstag gehaltenen Rede über den Untergang Konstantinopels und die Vorbereitung eines Krieges gegen die Türken (oratio de Constantinopolitana clade et bello contra Turcos congregando),5o mit deren mächtigem Incipit Constantinopo!itana clades den deutschen Fürsten die Constantinopoleopersis durch den Sultan Mehmed H. programmatisch in Erinnerung gerufen wird, eine Niederlage, durch die man nun in Europa, das heißt in unserem Vaterland, in unserem eigenen Haus, in unserem Sitz (in Europa, id est in patria, in domo propria, in sede nostra/ 1 erschüttert worden sei, unternimmt es Enea Silvio im Auftrage des Kaisers Friedrichs III.,52 die dort gebannt lauschenden Versammelten zu einem Kreuzzug gegen die Türken zu bewegen: Er [i.e. Enea SilvioJ sprach beinahe zwei Stunden, von so gespannter Aufmerksamkeit vernommen, daß niemand sich zu irgendeinem Zeitpunkt räusperte, niemand seine Augen vom Gesicht des 49 Das nämlich ist es, was eure durch ihre Tugend ausgezeichneten Vorfahren, obwohl sie schon lange tot sind, der Erinnerung der Menschen vorstellt, als wären sie lebendig [ ..): Enea Silv. op. om. S. 682. Sämtliche Übersetzungen dieses Kapitels stammen von mir; zu Zitation und Orthographie vgl. S. 117, Fn. *. 50 Dies der Titel der Rede, die als epist. 131 in den op. om. abgedruckt ist (hiernach wurde auch zitiert); im Codex lat. Monac. 519 ist die Rede überschrieben: Oratio Enee episcopi Senensis habita in conventu Franlifordensi 15. die Octobris 1454 (nach Voigt, 1862, S. 123, Fn. 4). - Zur Bedeutung der Rede: »Die Rede kann bislang flinfzigmal handschriftlich nachgewiesen werden, neben den Sammelcorpora der Pius-Reden zum großen Teil in Einzelüberlieferungen. [ ...] Die c/ades wurde in der Rezeption zum Schul-Klassiker einer Türkenrede [ ...]«: Helmrath (2000, S. 94). Es ist sicherlich auch kein Zufall, daß in den von Nikolaus Reusner herausgegebenen vier Bänden (1595/96-1603) der Turcica die Clades den ersten Platz einnimmt; man vgl. Mertens (1997b, S. 42-44). Zu dem früh einsetzenden Nachleben der Rede vgl. man die Studie Pauls (1936, S. 25-34), der Zitate z.B. bei Wimpfeling, Bebel und Nauclerus (insbes. S. 33) nachweist. 51 Enea Silv. op. om. S. 678. 52 Sed cum eius [i.e. Friderici] desiderium ab his impediretur, quibus non tam pax et ocium quam contentiones et beUa sunt usui, misit hosce praestantissimos et celeberrimos legatos qui suum locum tenerent, suasque vices implerent [ ..]: Enea Silv. op. om. S. 679.

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Redners abwandte. - Oravit ille duabus ferme horis, ita intentis animis auditus, ut nemo umquam screaverit, nemo ab orantis vultu oculos suos aver] 53 tent. [ .... Die Rede, welcher eine auf dem »Türkenreichstag« zu Regensburg vorangegangen war und eine in Neustadt folgen sollte, unterteilt sich auffällig in ein exordium, in dem Enea Silvio den Anlaß nennt und seinen Herren entschuldigt, wodurch er sich zugleich legitimiert; daraufhin exponiert er die Frage, ob gegen die Türken Krieg geilihrt werden müsse (an contra Turcos [ ..) sit bellum suscipiendum), die wiederum untergliedert werden müsse in die Fragen, ob es sich bei dem Krieg erstens um einen gerechten, zweitens um einen nützlichen und drittens um einen leichten handle (primo an sit iustum, secundo an utile, tertio an facile [i. e. bellum]). 54 In der sich daran anschließenden argumentatio handelt Enea Silvio die drei ausgewiesenen Fragestellungen ab, mit - wie nicht überrascht, denn bei dem zu behandelnden Thema handelt es sich um eine res certa - jeweils positiven Ergebnissen, die dann resümierend am Ende des argumentativen Abschnitts zusammengefaßt werden: Ihr erkennt nun, daß der Kriegsgrund gerecht, notwendig und von größter Wichtigkeit ist. Zum Kampf seid ihr in allem besser ausgestattet als die Türken. - Causa belli, ut intellegitis, et iusta est et necessaria et maxima: vobis ad pugnam omnia quam Turcis meliora supersunt. Mit folgenden Worten schließlich hebt Enea Silvio zur peroratio an, in der nochmals mit allem Nachdruck die Notwendigkeit eines Kreuzzuges hervorgehoben wird: Der Kaiser bittet euch, ihr möget euch der christlichen Gemeinschaft, (ja) eurer selbst in dieser Situation annehmen. Orat vos Caesar, ne Christianae rei publicae, ne vobis ipsis hoc tempore desitis. 3.1.2.2 Demonstratio - die verbale Verbildlichung Neben dem Charakter der Rede, bei deren Abfassung Enea Silvio sich von Ciceros Rede über Pompeius' Oberbefehl inspirieren ließ, weisen vor allem die Sorgfalt, die auf die Spezifikation der Fragestellung verwandt ist, sowie

53 Enea Silv. Comm. 1.27 [So 83]. Zu den Auswirkungen des Untergangs Konstantinopels: Meuthen (1983). 54 Zusammenfassung und Gliederung der Rede bei Blusch (1979). Zu den Reichstagsreden (eher summarisch: PaparelIi (1950, S. 152-60)): Auf den Regensburger Reichstag kommt Enea Silvio selber noch im Proöm seiner clades zu sprechen: Fuit itaque Concilium apud Ratisponam convocatum: quae ibi gesta sunt omnes tenetis (op. om. S. 679). Zu den 1454/55 abgehaltenen sog. Türkenreichstagen vergleiche man: Voigt (1862, 89-148) und Helmrath (1997, 1998, 2000). Die Habilitationsschrift Helmratbs (1994) wurde nicht veröffentlicht; Herr Helmratb hat mir allerdings freundlich erweise einen Abschnitt seines Kapitels zur oratio de clade Constantinopolitana zur Verfiigung gestellt, wofiir ich mich nochmals bedanken möchte. - Zu den Akten dieser Reichstage s. Deutsche Reichstagsakten XIXlI und XIXl2 (hrsg. v. Weigel u. Grüneisen).

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die deutlich markierte Struktur des argumentativen Teils diese Rede eindeutig als dem genus deliberativum zugehörig aus; indes weisen die zahlreichen und umfangreichen enkomiastischen Partien, die sich finden lassen, auf das genus demonstrativum hin. 55 Die drei antiken genera orationis, die nie mehr als Idealtypen waren, können auch in diesem Falle nur dazu dienen, Tendenzen zu bestimmen. Gegenstand dieser offenkundig enkomiastischen Partien sind oft die Germanen der Vergangenheit und Gegenwart, sowie Germania, worauf ich mich im folgenden beschränken werde. Enea Silvio verarbeitet in dieser Rede eine Reihe klassischer literarischer Motive: Der türkische Gegner wird mit Hilfe der Barbarentopik als eben der Barbar porträtiert, der Pferdefleisch ißt, Sklave der Lust ist und zur Grausamkeit neigt, Bildung und Kultur aber haßt. 56 Der Fall Konstantinopels 55 De Imperio Cn. Pompei weist ja ebenfalls enkomiastische Partien auf (insbes. §§27-48); mit Enea Silvios expositio vgl. man die Ciceros (§6): Primum mihi videtur de genere belli, deinde de magnitudine, turn de imperatore deligendo esse dieendum; Ciceros Definition des vollendeten Feldherren (§28): Ego enim sie existimo, in summo imperatore quattuor has res inesse oportere, seientiam rei militaris, virtutem, auetoritatem, felieitatem, hat Enea Silvio beim Lob Kaiser Friedrichs vor Augen gestanden: Neque dubitabitis illum eligere, in quo sit seientia rei militaris eximia, virtus exeellens, auetoritas evidens, praesumptafelieitas [ ..j Die von Enea Silvio anschließend (op. om. S. 679) aufgelisteten virtutes imperatoriae (laboriosus in negotiis, fortis in perieulis [ ..j) stammen zumeist wörtlich ebenfalls aus Ciceros Rede (§29). Doch weitere Anklänge herauszuarbeiten, ist hier nicht der Ort. Campanos Rückgriff auf Ciceros Rede kann ebenfalls eindeutig belegt werden (s. Kap. 3.2.3). - Zu den genera orationis: Mertens (1997a, S. 420f.) verweist auf die nicht publizierte Untersuchung von Helmrath (1994) und stellt fest, »daß sie [d.i. die elades] zwar formal als klassische deliberative Rede präsentiert wird [...], daß jedoch eine echte Entscheidungssituation gar nicht anerkannt wird. Deshalb besteht die Funktion der Rede letztlich darin, >eine vorhandene Grundüberzeugung (Ja zum Türkenkrieg) konsenshaft zu verstärken< (Helmrath, S. 217). Dies aber ist die Funktion der epideiktischen Rede.« Mertens' Zuspitzung und somit eindeutige Funktionszuschreibung scheint problematisch, die Aspekte der Rede sind aber zweifellos richtig erkannt. - Bekanntlich hat schon Aristoteles auf mögliche Überschneidungen der yevT] aufmerksam gemacht (Rhet. 1.9 [1367b36-7]); und zur römischen Lehre vgl. man z.B. Rhet. ad Her. 3.15; einen Überblick über die drei genera gibt: Kennedy (1997). 56 [ ..j earnes adhue equorum [,,} eomedit, libidini servit, erudelitati sueeumbit, literas odit, humanitatis studia persequitur: Enea Silv. op. om. S. 681. Es verhält sich mit dem Türkenbild komplexer: Dies Zitat ist dem Kontext der Diskussion der origo Tureorum, die Enea Silvio bei den Skythen verortet, entnommen; Scytharum genus est ex media barbaria profeetum, quod ultra Euxinum Pyrriehiosque montes, ut Ethieo philosopho plaeet, ad septentrionalem oeeanum sedes habuit, gens immunda et ignominiosa, forniearia in eunetis stuprorum generibus. Es werden aber dem abgehärteten Nordvolk der Skythen schon bei Herodot ganz andere Stereotypen attribuiert als den »verweichlichten« Asiaten - als eßsüchtige Lüstlinge mit ausgeprägtem Sinn fUr Grausamkeiten sind die Völker des Nordens wahrlich nicht bekannt: Enea Silvio berichtet daher unter Berufung auf Otto von Freising von einer Wanderung der Türken, die tongo itinere in Asiam angekommen seien; damit entspricht zwar die Lokalität der angenommenen Herkunft der Türken, die Modifikation der Stereotypen steht aber noch aus. Daher fUhrt Enea Silvio als letztes Argument die anthropogeographische Theorie an, die den Wandel zum Asiaten erklären soll: Et quamvis sub miti eoelo et mundiori terra per tot seeula parumper exeuttam se prebuerit, sapit tarnen adhue multum pristine deformitatis neque omnem barbariem detersit: op. om. S. 681. Zum Türkenbild vgl. man: Helmrath (2000, S. 104-117), der indes auf das Problem des »nordischen« Stammes mit

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wird ganz in der Tradition des urbs-capta-Motivs (des Motivs der eingenommenen Stadt) ausgestaltet und muß hier - da daran weitere Überlegungen anschließen werden - ausführlich zitiert werden: Sein Kopf [d. i. der Konstantins ] wird auf eine Lanze gespießt und zur Schau getragen. Ein erbarmungswürdiges Gemetzel unter den Griechen findet statt. Niedergestreckt werden nicht nur die, die sich zu verteidigen suchen, sondern sogar diejenigen, die die Waffen von sich strecken und sich ergeben. Daß während der Raserei des ersten Einfalls (in die Stadt) möglichst viele niedergemacht wurden, dies halte ich nicht rur allzu bedeutsam; vor jenem aber schaudert mir, jenes verachte und verfluche ich: Als die Bevölkerung gefangen, die Waffen abgelegt und die Bürger in Fesseln geworfen waren, da (erst) begann man so richtig zu wüten, da wurden Söhne vor den Augen der Eltern niedergestreckt, vornehme Bürger wie Tiere verstümmelt, Priester zerfleischt, [... ], Mütter und Schwiegertöchter nach Gutdünken mißhandelt. Caput eius [i.e. Constantini] lance infixum spectaculo ftrtur. Fit miseranda Graecorum caedes. Occiduntur non solum qui se tueri conantur, verumetiam qui proiectis armis sese dedunt. Nec ego hoc magni duco in ipso fUrore primi introitus trucidatos esse quam plurimos, illud horreo, illud abominor, illud omnino detestor, capta civitate, depositis armis, coniectis in vinculis civibus, tum maxime sevitum est, tum filii ante ora parentum occisi, tum viri nobiles velut bestiae mactati, tum sacerdotes laniati, [ ..], tum matres ac nurus ludibrio habitae. 57

Unmittelbar daran schließt sich das Bild des blutdurstigen Tyrannen Mehmeds an. 58 Die Deutschen hingegen werden - wie noch ausführlicher darzustellen sein wird - zu tapfersten Kriegern stilisiert, Konstantinopel schließlich als Symbol der humanitas, insbesondere der studia humanitatis statuiert. 59 Mit dem emphatischen Aufruf »Stellt euch vor Augen (ponite ante oculos)«, der im rhetorischen Lehrsystem als Sonderform der Apostrophe »repraesentatio« heißt, will Enea Silvio die deutschen Fürsten nochmals nachdrücklich dazu auffordern, sich die Taten ihrer Vorfahren, die er ihnen geschildert hat, lebhaft zu veranschaulichen; sie sollen ihre Vorfahren und de»südlichen« Eigenschaften nicht eingeht, sowie Schwoebel (1967, S. 70f., 148f., 204-6) und Heath (1979, insbes. S. 455-63). 57 Zum Motiv der urbs capta vgl. man die literarhistorische Studie von Paul (1982). 58 Mahometus ipse terribili facie, tetris ocutis, terribili voce, crudetibus verbis, nephandis nutibus homicidia mandat, nunc istum nunc ilIum ad caedem poscit, manus in sanguine Christianorum lavat. Omniafoedat, omnia polluit: Enea Silv. op. om. S. 680. »Als Schlächter war der Sultan im ersten Teil der Clades kurz erschienen, erneut tritt er, verändert, im letzten Teil der Rede auf«: Helmrath (2000, S. 110), der diese Veränderung erörtert. Allgemein zur Verwendung »türkischer Grausamkeiten« durch Enea Silvio: Smith (1966); umfassend zur Bedeutung der Türkenfrage im Werke Enea Silvios: Helmrath (2000). 59 Besonders deutlich mit folgendem Satz (Enea Silv. op. om. S. 681): In cuius [i.e. Turci] manus venisse nunc doctam eloquentemque Graeciam, nescio quis satis dejlere queat.

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ren Taten leibhaftig und wahrhaftig vor sich sehen. 60 Enea Silvio unternimmt eben dieses innerhalb seiner Rede wiederholt; im Sinne seiner übergeordneten rhetorischen Strategie, d.i. des Nachweises der militärischen Überlegenheit der Deutschen gegenüber den Türken, führt er seinen Zuhörern Ereignisse, Personen, Zeiten bildhaft vor Augen, wie dies vor allem an der Ausgestaltung der Einnahme Konstantinopels, besonders schön aber auch am Bild des blutrünstigen Mehmed abgelesen werden kann. Das auf die Lanze aufgespießte Haupt, das Abschlachten Bewaffneter wie Waffenloser, das Morden der Kinder vor den Augen der Eltern usw. dient der verbalen Verbildlichung. Diese Technik, derer sich Enea Silvio in seiner clades wiederholt bedient und die in der Schilderung der Einnahme geradezu lehrbuchmäßig umgesetzt ist, wird innerhalb des rhetorischen Lehrsystems als evidentia ausgewiesen, fiir die hier - jedoch als demonstratio bezeichnet - eine Definition aus dem neben De inventione wichtigsten rhetorischen Schulbuch des Mittelalters und noch der frühen Neuzeit, dem Auctor ad Herennium, angeführt werden soll: Bei der Verbildlichung handelt es sich um eine Technik der Ausgestaltung eines Sachverhaltes mit Worten derart, daß ein Geschehen abzulaufen, Sachverhalte vor Augen zu sein scheinen. - Demonstratio est, cum ita verbis res exprimitur, ut geri negotium et res ante oculos esse videatur. 61 Die evidentia, die sowohl mit konkreten, also gegenwärtigen Gegenständen, als auch bloß imaginierten arbeitet, dient der Steigerung des Affekts, soll den Zuhörer stärker involvieren und somit letztlich überzeugen. 3.1.2.3 Fortissimi Germani: die Gegenwart im Zeichen der normativen Vergangenheit Äußerungen zum Charakter der Deutschen finden sich zwar schon in den Teilen, in denen Enea Silvio über die Frage handelt, ob der Krieg gerecht resp. nützlich sei; eine als solche zu bezeichnende Charakteristik findet sich aber erst in der Erörterung der Leichtigkeit des zu unternehmenden Krieges (de facilitate belli gerendi). Die Logik des darin entwickelten Argumentes verlangt strenggenommen nur, daß Enea Silvio den Nachweis erbringt, daß die Deutschen den Türken als Krieger überlegen sind: je kriegerischer die Deutschen, desto leichter der Krieg. Es ist daher nur folgerichtig, daß Enea

60 Mementote patrum vestrorum, generosi proceres, ponite ante oculos illustria facta maiorum, [ ..]: Enea Silv. op. om. S. 687. 61 Her. 4.55.68. Zur evidentia vgl. man Lausberg (1990, §81O, S. 399) sowie den Artikel von Kemmann (1996). Der Verwendung der evidentia in »Ciceronian Oratory« geht Vasaly (1993) nach, durch deren Buch ich mich zu vielen Überlegungen zu Enea Silvios Rede habe anregen lassen.

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Silvio gleich zu Beginn dieses Abschnitts die Aufmerksamkeit der vornehmen Herren darauf lenkt, daß die militärische Kenntnis des Feindes nicht größer sei als die der Deutschen; auch seien diese weder an Übung noch an Geld noch an Macht den Türken unterlegen. 62 In dieser erneuten Betonung des schon zuvor hervorgehobenen Charakters der Deutschen als Krieger, nicht zuletzt durch die Form des Appells, deutet sich indes mit dem Verweis auf den Reichtum und die politische Macht, obwohl zweifelsohne kriegsrelevant, etwas an, das Enea Silvio im folgenden weiter ausgestalten wird: Er beschränkt das Enkomion auf die Deutschen nicht auf Angelegenheiten des Krieges, sondern weitet es aus. 63 Doch bevor er die Überlegenheit der Deutschen aus buchstabiert, beruft er sich auf Octavian (nam teste Octaviano Caesare), um seiner Bemerkung über die Gleichheit der Kräfte die erforderliche Autorität zu verleihen; mehr als ein bloßes Exempel humanistischer Manier, ist in diesem - überraschenden, da unvermittelt aus der Gegenwart erfolgenden - Rekurs auf die Antike in persona Augusti die im folgenden konsequent durchgefuhrte Vermengung von Gegenwart und antiker Vergangenheit subtil angedeutet. Der Hörer (wie auch der Leser) wird gleichsam vorbereitet auf Enea Silvios konstanten Rückgriff auf die antiken Exempla. Diese Zusammenfuhrung der beiden Zeiten findet sogleich im nächsten Satz ihre Fortsetzung: Aber ob ich nun jüngere Ereignisse bedenke oder mich älterer erinnere, unter allen Völkern, die im Ruf der Kriegstauglichkeit stehen, scheint mir doch keines erprobter, keines tapferer, keines erfahrener noch wagemutiger zu sein als das eure. - At mihi seu nova consideranti64 seu vetera mente repetenti inter omnes nationes, quas bello idoneas iudicant, nulla expeditior, nulla fortior, nulla peritior, nulla audentior quam vestra videtur. Obwohl der Ausdruck vetera als solcher vage ist, erhält er durch den voranstehenden Verweis auf Octavian die erforderliche Spezifität; die von den Römern gefurchteten Germanen sind als Vorfahren der Deutschen zumindest angedeutet. 65 62 ne maior hostibus quam vobis sit scientia rei militaris, ne frequentior usus, ne pecunia copiosior, ne potentia superior, ne Deus ipse faventior. Und Enea Silvio fUgt noch versichernd hinzu: quinimmo neque si pares utrinque viresfuerint bellum suaserim (op. om. S. 684f.). 63 Schon zu Beginn der Rede: [ ..} quanto et nobiliores estis et meliores (op. om. S. 678). Später (op. om. S. 683): Equidem, praestantissimi principes, cum omnibus virtutibus afJecti sitis, [. .. ]. 64 Die op. om. haben hier considerandi. 65 Münkler/Grünberger (1998, S. 170) lesen hierin den »Kern eines auf die Deutschen bezogenen Tugendkataloges« und stellen mit Blick auf die Wirkung der Rede (hierzu neben Paul (1936, S. 26) insbes. Rid6 (1977, S. 168)) fest: »Den Germani in ihrer Gesamtheit und nicht bloß einzelnen, partikularen Stammes verbänden werden Vorzüge zuerkannt, die sie von anderen nationes positiv unterscheiden. So zumindest haben die deutsche Humanisten [ ... ] sie verstanden und gelesen.«

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Die Versicherung, daß es keine zweite so großartige »Nation« gebe (nulla natio tam grandis sub coelo est), wird mit einer schnellen Abfolge rhetorischer Fragen bekräftigt, in denen die weiter oben schon angedeutete Tendenz, das Lob der Deutschen über den bloß militärischen Bereich hin auszudehnen, erneut offenkundig wird: Und wo - ich bitte euch! - gibt es (denn noch) so viele hochberühmte Fürsten? So viele adlige Vornehme? So viele überaus tapfere Ritter? So viele mächtige Städte, so großen Reichtum, so viel an Gold und Silber? - Et ubi obsecro tot clarissimi principes? tot generosi proceres? tot fortissimi equites? tot potentes civitates? tot divitiae? tot auri? tot argenti?66 Die nunmehr dritte (nach der Ausdifferenzierung der militärischen Kenntnis (scientia militaris) und dem Lobpreis der natio) detaillierte Beschreibung eines Gesamtgegenstandes, hier in Form des mittels der Anapher hervorgehobenen Isokolons, ist eines der Mittel der evidentia;67 Enea Silvio bedient sich dieses Verfahrens hinsichtlich seines Bildes der zeitgenössischen Deutschen wiederholt - ein weiteres prägnantes Beispiel hierfür ist die »Völker«synopse, in der er Türken und Deutsche gegenüberstellt. 68 Kleinschrittig baut Enea Silvio darin das Bild des deutschen Kriegers auf, vor dem sich der türkische »Rekrut« jämmerlich ausnimmt. Es ist dabei durchaus vorstellbar, daß Enea Silvio, um seinen rhetorischen Fragen Evidenz zu verleihen, sein Auditorium unmittelbar mit einbezog, z.B. bei der Frage ubi tot clarissimi principes auf eben diese zeigte: Das Gezeigte fungierte dann gleichsam als Beweis des Gesagten. Die angesprochenen »ausgezeichneten Fürsten« wüßten aufgrund des Kontextes auch sogleich, was sie mit ihrer Auszeichnung zu assoziieren hätten, nämlich ihre Leistung im Krieg. 69 Der derart unmittelbar erbrachte »Beweis« dieses Aspekts und die ausgewiesene Assoziation würden dem Bild des Deutschen als Krieger insgesamt Plausibilität verschaffen. 7o Und die natio schließlich, von der hier die 66 Op. om. S. 685. Bebel wird diese Fragen in seiner Rede vor Maximilian zitieren: s. Kap. 3.4.3. 67 Lausberg (1990, S. 403f.). 68 Conferamus nunc Turcos ac vos invicem [ ..}. Vos nati ad arma, illi tracti. Vos armati, illi inermes. Vos gladios versatis, illi cultris utuntur. Vos balistas tenditis, illi arcus trahunt. Vos loricae thoracesque protegunt, illos culcitra tegit. Vos equos regitis, illi ab equis reguntur [ ..}: Enea Silv. op. om. S. 685. 69 »Can persuasion depend on the effect on the audience of the ambiance in which a speech takes place [ ... ] [and] how does the orator make use of it?«, sind nur zwei der zahlreichen Fragen, die Vasaly (1993, S. 7) an Ciceros Reden richtet. 70 Denn offenbar ist es mit dem Aufzeigen einzelner Prädikate nicht getan, vielmehr muß der Zuhörer das Gesamtbild imaginieren, was Vasaly wie folgt beschrieben hat: »The dichotomy posited here between what is seen and what is imagined is, however, a somewhat misleading one. [...] The temple itself would have served as a kind of prop, a starting point for the leap of the imagination - similar, but not identical, to the kind of imaginative leap required of the audience by the description ofan event that had occurred in a place not visible to them(c Vasaly (1993, S. 129).

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Rede ist, zeichnet sich nicht nur dadurch aus, daß ihre Fürsten über exzellente kriegerische Fähigkeiten verfUgen, sondern darüber hinaus durch wiederholt betonten Wohlstand, was Enea Silvio ja schon zuvor angedeutet hatte. Reiche Krieger sind die von Enea Silvio präsentierten Deutschen, und mögliche Spannungen zwischen Reichtum und Tugendhaftigkeit, wie Enea Silvio sie dann in der >Germania< geltend machen wird, werden hier nicht erwähnt. Das den zeitgenössischen Deutschen präsentierte Bild ihrer selbst ist unbedingt positiv. Als weiteren Beleg für die Größe der Deutschen im allgemeinen, ihre überlegene Macht (superior potentia) im besonderen und erneut mit Hilfe einer Verknüpfung von antiker Vergangenheit und Gegenwart fUhrt Enea Silvio einen Vergleich zwischen dem alten Germanien und dem zeitgenössischen Deutschland (Germania vetus und Germania nova) an. 7l Für das antike Germanien werden dabei die klassischen Grenzlinien (das Meer, die Weichsel, die Donau, der Rhein) angefiihrt. Vor diesem Hintergrund beschreibt Enea Silvio dann den Macht- und Einflußbereich des zeitgenössischen >DeutschlandsDeutschland< mächtiger sei als je zuvor, andrerseits betont er die durch diese Eroberungen erworbene gloria. Und so hat man bei Lektüre dieses Katalogs territorialer Macht in der Tat den Eindruck, bei den Deutschen handle es sich um würdige Empfänger der von Enea Silvio wiederholt betonten translatio imperii. 72 71 Germaniaefines, ut veteres tradunt, ab oriente Viscellajluvius et Ungariae Iimesfoere, ab Occidente Rhenus, a Meridie Danubius, a Septentrione Oceanus et mare Balteum, quod Prutenicum vocare possumus. Nunc quantum extra hos terminos possideatis ipsi videtis: Vos Angliam, pulsis Britannis, occupastis; vos Belgarum Helveticorumque fines eiectis Gallis obtinuistis; Vos Rhetiam et Noricam invasistis; vos usque in Italiam pedem extendistis; vos Hulmerigros, qui nunc Pruteni vocantur, ex manibus infidelium detraxistis; soli ex alienis in vestro solo Bohemi sedent, potentissimi et nobilissimi populi: Enea Silv. op. om. S. 685. 72 Z.B. post imperium ad vos, 0 Germani, translatum: op. om. S. 681. Dies war keineswegs selbstverständlich: In seiner Florentiner Geschichte hatte Leonardo Bruni es bestritten, daß das deutsche Kaisertum die Weiterführung des Imperium Romanum sei (s. hierzu: Paul, 1936, S. 19); zum piccolomineischen Beitrag zur Lehre der translatio imperii: Münkler/Grünberger (1998, Kap. 3 [mit weiterführender Lit.]). - Blusch (1979) geht den unterschiedlichen Darstellungsprinzipien nach, die zum einen in dieser »Türkenrede« des Enea Silvio, zum anderen in der Campanos, die dieser für den Reichstag in Regensburg verfaßt, angewandt worden sind. Die These, daß man »die spezifische Differenz zwischen beiden Autoren bzw. Reden am treffendsten beschreibt, indem man im einen Fall, der Rede des Enea Silvio, eine gewissermaßen klassische, im anderen eine ausgeprägt manieristische Ausdrucksgebärde konstatiert« belegt er sowohl hinsichtlich des jeweiligen Stils als auch hinsichtlich der Gedankenführung. Seine daran anschließenden Versuche, mit Quintilian, dessen institutio ja von Campano herausgegeben worden ist, Partien der oratio Campani zu deuten, muß man aber skeptisch betrachten, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die evidentia, welche er in Campanos Rede rekonstruiert, auch in Enea Silvios vorfindIich ist; sein Versuch, Campano dem Mittelalter (S. 135) zuzurechnen, ist auch zurückzuweisen, und problematisch

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Im an diesem Vergleich territorialer Extension anschließenden Satz kulminiert Enea Silvios Zusammenführung von Vergangenheit und Gegenwart, die er hier geradezu ineinander aufhebt: Denn ihr seid die großen, ihr seid die kämpferischen, überaus mächtigen, tapferen und von Gott erhörten GennanenlDeutschen, denen es zukommt, ihr Gebiet so sehr ausgedehnt zu haben, und denen es im Unterschied zu allen anderen Menschen möglich war, der Macht Roms die Stirn zu bieten. Vos igitur magni, vos bellicosi, vos potentissimi, vos fortunatissimi, ac Deo accepti Germani73 estis, quibus adeo fines extendisse !icet, et super omnes mortales Romanae potentiae datum fuit obsistere.

Mit diesem Satz geht Enea Silvio über das im Rahmen der Memorialkultur Übliche, d. i. »die Verbindung von retrospektiver pietas und prospektiver fama«, hinaus: Die Makrostruktur des Abschnitts zeichnete sich dadurch aus, daß immer wieder aus dem Jetzt (nune) auf das Einst (olim) zurückgegriffen wurde, um die aus der glorreichen Vergangenheit resultierende Verpflichtung der Gegenwart, sich der gloria würdig zu erweisen, betonen zu können; hier nun werden die gegenwärtigen Deutschen nicht durch den respektgebietenden Verweis auf die Germanen, die den Römern die Stirn boten, in die Pflicht genommen, sondern als diese angesprochen. 74 Die direkte scheint auch die Meinung hinsichtlich des Umgangs mit historisch-politisch-geographischen Gegebenheiten: »Campano geht es gar nicht um Richtigkeit oder Unrichtigkeit [ ... ], er will vielmehr, gleich mit welchen Mitteln [... ], die Geflihle seiner Zuhörer in eine bestimmte Richtung lenken. Enea Silvio will dagegen historisch-politische Einsicht vermitteln und so seine Zuhörer überzeugen« (S. 135). 73 »Mit der Bezeichnung Germani spricht er [d. i. Campano] unmittelbar sein Auditorium an [in §90], dessen Unbesiegtheit er eben noch bis in die graue Vorzeit, die der Ur-Germanen, verfolgt hatte. Enea Silvio trennte schärfer [ ...] (wenn auch nicht durchweg), Campano konsequent überhaupt nicht. Damit steht er - unmittelbarer als Enea Silvio - am Anfang einer Entwicklung, die gerade durch einerseits harmloses, zum anderen absichtsvolles Nicht-Differenzieren zu ungeahnten Konsequenzen geflihrt hat. Hat Campano womöglich mächtiger als Enea Silvio diese Entwicklung (mit)verschuldet?« (Blusch 1979, S. 132). Es wird, glaube ich, aus dem im fortlaufenden Text zitierten Passus deutlich, daß Enea Silvio an dieser SchlüsselsteIle seiner Rede sich eben der Verwischung bedient, die Blusch ihm - zumindest tendenziell - abspricht; in Anbetracht der Verbreitung der Rede und des Interesses gerade deutscher Humanisten an ihr, kann man auch Bluschs als Frage formulierte Hypothese, Campano habe stärker gewirkt, zurückweisen. Man siehe auch: Et vos ergo, Theutones, [ ..] und im darauffolgenden Satz: Quod si vos, Germani, [ .. ] (op. om. S. 683). 74 Das »nunc - olim« Schema wird später bei der Diskussion der >Germania< eine gewichtige Rolle spielen; es sei darum hier schon eingeflihrt. - Zur Memoria: Oexle (1995, insbes. S. 37-48, das Zitat auf S. 38); Bebel wird in seiner >Epitome Laudum Suevorum< den Memoria-Gedanken wie folgt formulieren (Schardius, S. 139 (co!. 1)): Aemulemur, quaeso, te duce et principe, majores nostros, qui rebusfortiter gestis, hanc pepererunt laudis et gloriae praerogativam. Sumus illorum sanguis, illorum effigies expressissima. In nobis relucet mirifica illa majorum nostrorum Nobilitas et animi magnitudo.

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Anrede der in der Darstellung vorkommenden Personen, die als ein weiteres Mittel der evidentia fungiert, macht sie zu den Freiheitshelden im Widerstandskampf gegen das römische Imperium. 75 Als Zeuge wird kein anderer als Julius Caesar (orbis domitor Iulius Caesar) angeführt, dem sich dann noch Octavian hinzugesellt, die beide bitter spüren mußten, daß sich das römische Reich nicht über den Rhein hin ausdehnen ließ; 76 es überrascht nicht, daß die beiden traumatischen römischen Niederlagen im Kampf gegen die Germanen (die clades Lolliana und die clades Variana) angeführt werden. Seine Rekapitulation der römisch-germanischen Konfrontation schließt er dann mit dem Verweis ab, die Römer hätten ohne die Hilfe der Germanen in ihren eigenen Reihen nicht so große Leistungen erbringen können. 77 Die rhetorische Strategie ist offenkundig: Enea Silvio muß die Deutschen als herausragende Krieger präsentieren, denen eine kriegerische Auseinandersetzung mit den Türken ein leichtes wäre. Das von ihm mittels der evidentia konstruierte Bild der Deutschen und ihres Lebensumfeldes dient eben diesem Ziel und erhält dadurch, daß Enea Silvio sein Auditorium mit einbezieht, sei es durch den Verweis auf die anwesenden stattlichen Fürsten, sei es durch deren direkte Anrede, höchste Probabilität: Das von ihm konstruierte Bild der Deutschen scheint eine akkurate Darstellung der Realität zu sein. 78 Enea Silvio begnügt sich aber nicht mit einem Bild der zeitgenössischen Deutschen; vielmehr flicht er in den Strang seiner Argumentation zusätzlich das Bild der dem Ruhm verpflichteten und ihre Nachfahren zum Ruhmeswillen verpflichtenden alten Germanen ein, die ausschließlich als Krieger präsentiert werden. Denn Bemerkungen zu ihrem Leben im allgemeinen fallen nicht. Plausibilität verschafft er diesem zweiten Bild, indem er auf bekannte mißlungene römische Unternehmungen jenseits des Rheins ver75 Ride (1977, S. 168) bemerkt zu den Implikationen dieser Apostrophen: »En employant dans ses apostrophes et ses rappels historiques le nom de Germani pour designer aussi bien les Allemands de son temps que les Germains, Enea sacrifiait a un usage typiquement humaniste et mettait aussi en evidence la filiation et la continuite existant entre les premiers et les seconds.« Zur Apostrophe als Mittel der evidentia: Lausberg (1990, S. 404f.). 76 IlIe, inquam, felicissimus imperator nullibi umquam nisi apud Germanos succubuit: op. om. S.685. 77 Nec Romani cum rerum potirentur, res magnas sine Germanis auxiliantibus peregerunt, quorum tanta in bello virtus, tanta in domo fides fitit, ut Caesari corporis custos cohors ex Germanis potissime legeretur: op. om. S. 685. Dies wird Bebel (s. Kap. 3.4.3) als Argument flir seine These der Gleichwertigkeit des germanischen mit dem römischen Imperium verwenden. 78 Dies sind die beiden beinahe selbstverständlichen Bedingungen, die Vasaly für die Konstruktion von Bildern für die Reden Ciceros anführt: »To be successful he was bound by only two constraints: first, the images he created of the world had to further his rhetorical goals; and, second, he needed to make it appear to his audience that these images were an accurate reflection of reality«: Vasaly (1993, S. 132).

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weist. Unter der an keinem Ort in Frage gestellten Bedingung der ethnischen Kontinuität von Germanen und Deutschen, die in dem oben zitierten Satz in der Anrede der Germanen als Bezwinger der Römer ihre stärkste Ausprägung erfährt, verschafft das Bild der alten Germanen dem Bild der zeitgenössischen Deutschen zusätzliche Legitimation: Die Funktion des von Enea Silvio präsentierten Bildes der alten Germanen besteht also in der Begründung (seines Bildes) der gegenwärtigen Deutschen, das derart funktionalisierte Bild ist ein Mythos im assmannschen Sinne. 79 Enea Silvio kann also vor dem Hintergrund seiner imagines mit voller Überzeugung sagen: Ihr versetzt jedes Zeitalter mit (eurer) unbändigen Gewalt in Schrecken. Vos omne aevum furore terretis. 80 Diese Reduktion des Germanen-Deutschen auf das Bild des Kriegers, im Falle des zeitgenössischen Deutschen des reichen Kriegers, hat für Enea Silvios Argumentation eine nachteilige Implikation. Denn Konstantinopel wird von ihm als Hort der Literatur dargestellt, gleichsam als Epizentrum der studia humanitatis. 81 Das Problem, daß sich dem Krieger hier die Frage aufdrängen könnte, was er denn mit Literatur zu schaffen habe, wird von Enea Silvio antizipiert und in Form der occupatio eliminiert: Ihr, Soldaten, entgegnet nun aber: Was erwähnst du uns gegenüber den Verlust an Bildungsgut? Was haben wir mit Bildung zu schciffen? Lanzen und Schwerter sind unser Geschäft. - Sed dicitis, milites: Quid tu nobis literarum detrimentum commemoras? quid nobis de literis? nos hastas gladiosque versamus. 82 Diese occupatio resultiert einzig und allein aus der Konstellation der von Enea Silvio konstruierten Bilder: seiner Stilisierung Konstantinopels zum Inbegriff der Bildung auf der einen, seiner Reduktion der Deutschen auf bornierte Krieger auf der anderen Seite. Der Nukleus der Problemlösung ist hier - natürlich - der Ruhm; dem Ruhm, allgemeiner: der Leistung, über ein Lebensalter hinaus Dauer zu verschaffen, in der Memoria auch nach dem Tode weiterzuleben, ist nur durch literarische Konservation möglich: Wie aber kann euer Ruhm von Dauer sein, wenn er nicht durch Literatur vergöttlicht wird? - Sed quae laus vestra diuturna esse potest, nisi literis consecretur?83 Es liegt also im Interesse des ruhmbegierigen Kriegers - so die Konklusion - sich für den Erhalt von Bildung im allgemeinen und Lite79 Man vgl. die Ausflihrungen in Kap. 1.3. 80 Enea Silv. op. om. S. 486 (der Druck hat hier:ferore territis). 81 Zu Konstantinopel als »la seconda Roma«: PaparelIi (1950, S. 151); man vgl. auch Enea Silvios BriefNr. 163 (op. om. S. 716). 82 Enea Silv. op. om. S. 681. 83 Enea Silv. op. om. S. 481. Celtis wird das Verhältnis von Heldentaten und Geschichtsschreibung in seiner Ingolstädter Antrittsvorlesung kritisch gegen die Deutschen wenden: s. Kap. 3.3. - Zur literarisch bewahrten Memoria: Ohly (1984).

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ratur im besonderen einzusetzen. Die drohende Kollision der beiden Konstrukte ist somit abgewehrt. In seiner oratio de clade Constantinopolitana, die auf deutsche Fürsten als Rezipienten hin verfaßt ist, konfrontiert Enea Silvio, ohne die Darstellungen antiker Autoritäten zu zitieren, seine Zuhörer mit einem einfarbigen Bild der alten Germanen als gefürchtete Krieger, das anhand der Mittel der evidentia rekonstruiert werden kann. Zum Mythos funktionalisiert, begründet es die Exzellenz der gegenwärtigen Deutschen nicht nur, sondern wird geradezu in der Gegenwart aufgehoben: Ihr seid die Germanen, die (damals) den Römern die Stirn boten. Es herrscht uneingeschränkte, d.h. bedingungslose Kontinuität germanischen Kriegertums. Das unbedingt positive Bild der gegenwärtigen Krieger-Deutschen weist, wenngleich auch dieses das Kriegertum fokussiert, zumindest noch das Moment großen Reichtums auf, woraus Enea Silvio jedoch keine Spannungen erwachsen läßt; konjunktiv, nicht disjunktiv ist die Relation von Tapferkeit und Reichtum: Der Deutsche ist nicht mehr nur Krieger, er ist reicher Krieger. Dieses - im Vergleich zu den antiken Germanen - zusätzliche positive Moment, sowie die über das antike Germanien weit hinausgehende territoriale Ausdehung des von Enea Silvio konstruierten deutschen Reiches insinuieren, daß die Deutschen sogar noch mehr vermögen als ihre germanischen Vorfahren. 3.1.3 Die erste humanistische Beschreibung »Deutschlands«: Enea Silvios >Germania< 3.1.3.1 Enea Silvios Strategie und intendierte Leser Eneas Germanorum semper et laudator et defensor extitit [ ..]. 84

Das Dedikationsschreiben an den Kardinal Antonio de la Cerda teilt die Umstände der Abfassung der >Germania< mit: Durch den ihm in Freundschaft verbundenen Martin Meyr sei ihm in einem Brief mitgeteilt worden, daß Unzufriedenheit und Unruhe angesichts der Politik der Kurie (die gravamina 85 ) in Deutschland herrschten. Ich beschloß also zurückzuschreiben

84 Enea ist doch immer schon ein Verteidiger und Lobredner Deutschlands gewesen: Comm. 1.33 [So 93f.]. Die Beteuerung, die Interessen Deutschlands singulari quadam charitate et praecipuo affectu zu berücksichtigen und zu verfolgen, findet sich ebenfalls in den Briefen an Martin Meyr (epist. 369 (op. om. S. 836f.) vom 8. August 1457) und an Friedrich III. (epist. 371 (op. om. S. 840f.»; siehe auch Fn. 15. - Die Übersetzungen stammen mit Ausnahme der der >GermaniaGermania< und Barbarisierung Germaniens

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und die gegen den heiligen Stuhl erhobenen Vorwürfe zu widerlegen. - Decrevi rescribere et illa confutare, que prime sedi obiciuntur. Im Verlauf des Schreibens habe ihn die sich ihm aufdrängende Fülle des Stoffes fortgerissen: Einen Briefwollte ich schreiben, und ein Buch ist es geworden; was sage ich - Buch? Bücher sind es geworden! - Epistolam scribere institui, et liber exivit; quid dixi: liber? libri exivere. 86 In Wahrheit hatte Enea Silvio Martin Meyr, dem Kanzler des Mainzer Erzbischofs, auf dessen uns nicht mehr erhaltenen Brief hin 87 schon am 8. August, am 20. September und am 20. Oktober 1457 vergleichsweise kurz, aber im Kern identisch, zu den Klagen über die Kurie in Rom Stellung bezogen, die er am Anfang seiner >Germania< nochmals zusammenfaßt: [ ... ] Hier [Le. im zweiten Teil des Briefes] erklärst du, deine Deutschen seien schwer empört darüber, daß weder die Dekrete des Konstanzer noch die des Basler Konzils eingehalten würden. Auch die mit deiner Nation getroffenen Vereinbarungen würden nicht eingehalten, vielmehr werde mit tausend überaus ausgeklügelten Mitteln von uns Geld zusammengerafft. Deshalb sei, wie du behauptest, die Nation, die einst in blühendem Wohlstand stand und weit und breit herrschte, an den Bettelstab gebracht worden [.. .]. Doch schon sännen die fiihrenden Männer deines Volkes über Mittel und Wege nach, wie sie ihre Lage verbessern könnten. [ ..} quo in loco asseris Germanos tuos gravissime ferre, neque Constantiensis apud nos neque Basiliensis Concilii decreta servari nec pactionibus cum natione tua percussis locum esse, sed mille modis et quidem exquisitissimis a nobis argentum corradi. Quibus ex causis nationem ipsam, que quondam jlorentissima fuit longe lateque imperans, ad summam inopiam deductam esse contendis [ ..j. Sed cogitare iam primores tue gentis, qua sibi via quibus artibus melius rei sue consulant (Germ. 1.4).

Obschon insbesondere der Brief vom 8. August und der Brieftraktat dasselbe Argumentationsziel verfolgen, nämlich zu zeigen einerseits, daß die Vorwürfe gegen die Politik der Kirche unberechtigt seien, und andrerseits, daß Deutschland nicht arm und machtlos, sondern im Gegenteil so reich wie nie zuvor sei, fällt schon bei flüchtiger Lektüre auf, daß sie sich signifi-

86 Terminus ante quem rür die Abfassung der >Germania< ist also der 1. Februar 1458, auf den das Dedikationsschreiben datiert ist. 87 Denn der der >Germania< vorangestellte Brief floß aus der Feder Enea Silvios: Er datiert ihn auf den 31. August 1457; träfe dies zu, so hätte Enea Silvio seinen (ersten) Rechtfertigungsbrief (vom 8. August) vor der Anklageschrift verfaßt (so schon: G. Voigt, 1862, S. 239, Fn. 3). Außerdem ist - wie Schmidt (1962, S. 11) bemerkt - der Brief allzu summarisch, als daß er eine wirkliche Beschwerde hätte darstellen können; fernerhin mag man sich fragen, ob Meyr sich der Wendung tamquam ex barbaris bedient hätte (die Passage ist auf S. 141 zitiert). In seinen Commentarii schließlich (1.27 [So 83]) würde Enea Silvio Meyr (nahezu) wörtlich zitieren (s. Fn. 97): Diese Beobachtungen lassen keinen Zweifel, daß der Brief aus Enea Silvios Feder geflossen ist.

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kant im Ton unterscheiden. 88 Während Enea Silvio seinen eigentlichen Brief an Meyr mit den Worten beginnt: Ich habe mich über deinen Briefgefreut (Iocundae nobis fuerunt literae tuae),89 womit er auf dessen Gratulation zu seinem Kardinalat reagiert, steht am Anfang des Brieftraktats90 folgendes Konzessivgefüge (Germ. 1.1): Obwohl du manches Bittere und Harsche deinem Schreiben beifügst, so hat mir dein Brief doch große Freude bereitet. - Quamvis amara et raucida quedam scriptis admisces tuis, pergrata tamen fuit nobis epistula. Dieser Verärgerung über die vorgebrachten Vorwürfe, der Enea Silvio auch im Begleitschreiben an den Kardinal Luft verschafft,91 wird hier Priorität zuerkannt; auch hier lohnt wieder der Vergleich mit dem Brief, in dem Enea Silvio, erst nachdem er sich geraume Zeit warmherzig über die Freundschaft ereifert hat, eine Bemerkung zu den Klagen über die römische Kurie geradezu einstreut. 92 Die unterschiedlichen Anfange der beiden »Briefe« sind charakteristisch und präsentieren deren unterschiedlichen Hauptintentionen gleichsam in nuce: Denn während Enea Silvio im Brief eine Reihe von Zugeständnissen macht, jede Härte vermeidet und schließlich mit einer Loyalitätszusicherung schließt,93 bedient er sich in der >Germania< nicht selten fadenscheiniger Erklärungen und sophistischer Argumentationen, attackiert bisweilen seinen Freund und bezichtigt die Deutschen wiederholt der Undankbarkeit. Scheint es Enea Silvio in dem Brief darum bestellt zu sein, sich die Zunei88 Bei den Briefen handelt es sich um: epist. 369 (op. om. S. 836f.) vom 8. August 1457 und epist. 338 (op. om. S. 823) vom 20. September; in letzterem geht es nicht um die vermeintliche Armut und Machtlosigkeit Deutschlands; gleichwohl unterscheidet auch er sich merklich im Ton von der >GermaniaGermania< und Barbarisierung Germaniens

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gung Meyrs (und somit des Dietrich von Mainz, der eine wichtige Funktion in der deutschen Opposition innehatte) zu erhalten, ohne die Politik der Kirche gar zu kritikwürdig erscheinen zu lassen,94 so ist ihm in der >Germania< daran gelegen, die Kurie mit allen Mitteln zu verteidigen, möglichst ohne sich seiner deutschen Machtbasis auf Dauer zu berauben. Was soweit für die Tonlage zum einen des Briefs, zum anderen des Traktats dargestellt worden ist, wird in Enea Silvios Bildern Germaniens, wie er sie in seiner >Germania< insbesondere im 2. Buch dem Leser vor Augen führt, ebenfalls deutlich werden: Bei Abfassung der >Germania< standen Enea Silvio zwar auch die aufgebrachten deutschen Fürsten und Prälaten vor Augen, insbesondere aber die Kardinäle in Rom, die es von seiner Tauglichkeit für das Amt des Papstes zu überzeugen galt. 95 Nachdem Enea Silvio im ersten Buch die von Meyr weitergereichte Kritik an der Mißachtung der Kurie für das Konstanzer und Basler Konzil, am Wuchern der Expektanzen96 und am Umgang mit Reservationen - um nur einen Auszug des Sündenregisters zu geben - teils ridikülisiert, teils zurückgewiesen hat, wendet er sich im zweiten Buch der seines Erachtens nur vermeintlichen Armut und Ohnmacht Deutschlands zu. In der von ihm wiedergegebenen brieflichen Anklage hatte er den Umgang der Kurie mit Deutschland und die Auswirkungen folgendermaßen zugespitzt: Tausend Möglichkeiten werden ersonnen, mit denen der römische Stuhl mit raffinierter List aus uns, als wären wir (noch) Barbaren, Gold herauspreßt. Dadurch ist unsere einst ruhmreiche Nation, die sich durch ihre Tüchtigkeit und ihr Blut das römische Imperium erworben hat und uneingeschränkte Herrscherin über die Welt gewesen ist, nunmehr an den Bettelstab gebracht, geknechtet und zinspflichtig geworden [ ... ].

[ ..} exeogitantur mille modi, quibus Romana sedes aurum ex nobis tanquam ex barbaris subtili extrahat ingenio; ob quas res natio nostra quondam inclita, que sua virtute suoque sanguine Romanum imperium eoemit, fuitque mundi domina ae regina, nune ad inopiam redaeta, aneilla et tributariafaeta est [ ..}.

94 An anderer Stelle hingegen spart Enea Silvio nicht mit Kritik; vgl. z.B. die Epistel an Sceva de Curte (vom 2. Dezember 1457, nach: Voigt (1863, S. 503)). 95 Schmidt (1962, S. 9) erkennt die Kardinäle als heimliche Adressaten daran, daß Enea Silvio einen »ausftihrliche[n] Nachweis der Göttlichkeit Christi mit [ ... ] zahllosen Bibelzitaten« einflicht, die mit den gravamina überhaupt nichts zu tun hätten und lediglich dem Zweck dienen, die Bibelfestigkeit des Autors zu demonstrieren. Für die These der »heimlichen Adressaten« werde ich weitere Argumente zu bringen suchen. 96 »[ ... ] das heißt solcher Vergabungen, die noch vor der Vacanz der Pfründe einer bestimmten Person ertheilt oder vielmehr thatsächlich aufSpeculation verkauft wurden«: Voigt (1862, S. 241).

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In der ein wenig unvermutet aufblitzenden Wendung »tanquam ex barbaris«97 kündigt sich gleichsam das Leitmotiv der Widerlegung Enea Silvios, die sich in zwei Teile gliedert, an: Denn er zielt darauf ab darzulegen (Germ. 1.5), daß Deutschland in keiner Weise mittellos ist, sondern reich, in voller Blüte und mit allen Gütern gesegnet (Germanicam nationem haud quaquam inopem esse, [ ..) sed divitem, sed jlorentem, sed bonis omnibus abundantem}. Zwischen der von Enea Silvio anvisierten Vergangenheit und der Gegenwart hat sich die »Wandlung vom vorchristlichen zum modemen Deutschland« vollzogen; um dies belegen zu können, muß er - wie er selber sagt - zeigen, wie es einst um Deutschland bestellt war, nun um Deuschland bestellt ist. 98 Um mit seiner Synopse der beiden Zeiten den Leser davon überzeugen zu können, daß die erhobenen Vorwürfe gegenstandslos sind, weil in der Gegenwart alles besser ist, bedient er sich einer Reihe argumentativer Kniffe: Zum einen statuiert er als »einst« das antike Germanien, wie er es mit Hilfe Caesars, Strabos und des Tacitus präsentieren kann, wodurch er die von Martin Meyr eigentlich gemeinte mittelalterliche Großmacht unter Karl dem Großen ausblendet,99 auf die er erst wesentlich später, nachdem er den krassen Kontrast zwischen olim und nunc lOO in Form der sermocinatio (Germ. 2.28) rhetorisch auf die Spitze getrieben hat, in Form der occupatio (Germ. 2.29) zu sprechen kommen wird; dies ist dann auch der weiter oben schon angedeutete zweite Teil der Widerlegung. Zum anderen blendet er den Aspekt der Kriegsrnacht und anderer positiver Eigenschaften in seinem Bild der antiken Germanen gänzlich aus und zentriert es ausschließlich um deren BarbareL lO1 97 Interessanterweise vermerkt Enea Silvio in seinen commentarii, daß deutsche Fürsten beim Türkenreichstag in Frankfurt den Verdacht geäußert hätten, es solle unter dem Vorwand eines Kreuzzuges den Deutschen, als wären sie Barbaren, nur wieder Gold entlockt werden: pulchrum id esse aucupium expeditionem in Turcos decernere, ut a Germanis aurum subtili ingenio velut a barbaris extrahatur (Enea Silv. comm. 1.27 [So 83]). Er zitiert hier also beinahe wörtlich aus dem seiner >Germania< vorangestellten Brief. - Zur Wendung tamquam ex barbaris vgl. man die treffende Bemerkung Rides (1977, S. 169, Fn. 00): »Cette comparaison montre qu'aux ranca:urs anticuriales se melaient des ressentiments anti-italiens.« 98 Quod ut manifestius declaremus, ostendum imprimis est, quenam fuerit olim Germania et que sit hodie. Quo facta liquebit numquam Germanici nominis eas fuisse vires aut opes, quales sunt hodie: Germ. 2.1. - Zur »Wandlung vom vorchristlichen zum modemen Deutschland« und der Verwendung des Konzeptes der mutatio bei Enea Silvio: Muhlack (1991, S. 201). 99 »Damit [mit der Formulierung Mairs] ist klar, daß Mair, wo er von einer glanzvollen Vergangenheit gesprochen haben mag, die des Mittelalters meinte, als das Reich nicht im Innern durch die Rivalität seiner Fürsten gelähmt war und von außen durch die immer weiter nach Westen drängenden Osmanen bedroht war«: (Krapf, 1979, S. 51); so auch schon Ride (1977, S. 177). 100 Die piccolomineische »olim-nunc-Schematik« (Münkler/Grünberger, 1998, S. 213) wird seit der Arbeit von Joachimsen (1983, S. 275-296) nicht in Zweifel gezogen (PeITet, 1950, S. 144; Ride, 1977, S. 174; Fuhrmann, 1978, S. 41; Krapf, 1979, S. 52). 101 Ganz so, wie das Bild des antiken kriegerischen Germaniens als gewichtiges Argument in der Frankfurter Rede fungierte, dient das Bild des barbarischen Germaniens als dezisives Argu-

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Obschon die Überlegenheit und Vorzugswürdigkeit der Gegenwart gegenüber »der« Vergangenheit nachgewiesen hätte werden können, ohne letztere so eindeutig zu degradieren, läßt es sich Enea Silvio angelegen sein, den kulturellen Unterschied zwischen den beiden Phasen nicht als graduellen, sondern kategorialen zu gestalten: Die Vergangenheit ist barbarisch und heidnisch und daher eindeutig negativ; zivilisiert und christlich und daher eindeutig positiv ist die Gegenwart. Enea Silvios Argumentationsziel ist in diesem ersten Hauptteil seiner Widerlegung ein doppeltes: Es ist nun (nunc) alles besser als in der Vergangenheit (olim), und dies ist letztlich der Kurie in Rom geschuldet. Doch kommt er dann im zweiten Teil seiner Argumentation (Germ. 2.29) auf die Macht des Reichs unter Karl dem Großen zu sprechen, worin er eine gänzlich andere Strategie verfolgt: Daß das Deutschland der Gegenwart sich in bezug auf Macht nicht mit dem Reich vergleichen könne - wie Enea Silvio einräumt -liege in dem (allzu) großen Reichtum der Deutschen und der Uneinigkeit deutscher Fürsten begründet und sei keinesfalls der Politik der Kurie zur Last zu legen. Daß Deutschland in solcher Blüte steht, ist, wie der Vergleich des antiken Germaniens mit Deutschland erhellt, letztlich der Kurie in Rom geschuldet; daß Deutschland nicht, wie der Vergleich mit dem Reich unter Karl dem Großen erhellt, in voller Blüte steht, ist selbstverschuldet. 3.1.3.2 Germania vetus: die heidnische Barbarei Um das barbarische Leben der alten Germanen darstellen zu können, greift Enea Silvio mit der Begründung auf Caesars Völkersynopse im sechsten Buch der >Commentarii< zurück, daß es erst mit Caesar möglich sei, Einblick in das Leben der Germanen zu gewinnen. I02 Wie andernorts schon erwähnt, werden die antiken Darstellungen der Germanen im allgemeinen als authentische Berichte betrachtet, die abbilden, wie es eigentlich gewesen. I03 Wenn auf die antiken auctores zurückgegriffen wird, bedienen sich die Humanisten zum einen ihrer Darstellung, zum anderen ihrer Autorität. Weil dieser Bericht aus der Feder Caesars, Strabos, Tacitus' geflossen ist, steht er außerhalb jeden Zweifels; einer derartigen Zitation antiker Autoren ment in Enea Silvios Widerlegung der Armuts- und Unbedeutendheitsthese Meyrs: »L' Allemagne n'ajamais ete plus riche qu'aujourd'hui; elle doit a la Rome chretienne plus qu'elle ne pourra jamais lui rendre. Dans cette perspective l'evocation de la vie primitive des anciens Germains, peut prendre, on le voit, figure d'argument: la mise en ceuvre des temoignages de Cesar, de Strabon, de Tacite est donc assez naturelle«: Perret (1950, S. 144). 102 Gaji Caesaris etatem inspieere tibet [ ..j: Germ. 2.2. 103 So auch Enea Silvios Abschluß seiner Zusammenfassung der Darstellung Caesars (Germ. 2.2): sic Caesar, gravissimus auelor. Auch: Utramque superius viam apud veleres Germanos auctorilaie maiorum ostendimus [ ..}: Germ. 2.27.

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kommt offenkundig autoritative Funktion zu, es ist entschieden mehr als bloße humanistische Manier zum Ausdruck von Gelehrsamkeit. 104 Die Zusammenfassung der antiken Autoren, die Enea Silvio chronologisch arrangiert, ist insofern tendenziös, als er die Lebensbeschreibungen auf ihre negativen Aspekte reduziert, positive entweder gänzlich ausblendet oder marginalisiert: 105 Während Enea Silvio in der Frankfurter Rede die Germanen ausschließlich als Krieger zeichnete, beschränken sich seine Ausftihrungen zu diesem Motiv in der Germania auf einen einzigen Satz (Germ. 2.2): Wir räumen ein, daß die Deutschen als kriegerisch und waffengeübt galten. - Fatemur, bellicosi et in armis exercitati Theutones habebantur. 106 Dies aber bedeutet, daß er es offenlassen will, wie es eigentlich um sie bestellt gewesen sei. Die Tatsache, daß Enea Silvio auf das Kriegerwesen zu sprechen kommt, bevor er Caesars Ausftihrungen selektiv zitiert, sowie, daß er auf die Germanen als Krieger nur dieses eine Mal andeutend verweist, und schließlich die Form, wie er dieses Charakteristikum einflicht, verdeutlichen, daß das Bild der Vergangenheit der Germanen eindeutig negativ sein sollte. So ist es in bezug auf die Konstruktion Enea Silvios nur konsequent, daß er an späterer Stelle zur Exemplifizierung der tapferen Barbaren (an erster Stelle stehen die Skythen) nicht die antiken Germanen aufgenommen hat. 107 Und während die Germanen in der besprochenen Rede den Römern auf Dauer die Stirn boten, werden sie in der >Germania< schließlich unterworfen. 108 Tacitus' >Germania< kommt im allgemeinen in diesem Zusammenhang selbstverständlich dieselbe Funktion zu wie Caesars >Commentarii< und Strabos >GeographiaGermania< derartig aufgefaßt werden muß (Virginopolis quoque magna et insignis habetur [ ..): Germ. 2.13.), ermöglicht dessen Konnotationsspektrum es dem Leser doch, Enea Silvio so zu lesen, als behaupte er, die Germanen hätten als kriegerisch gegolten (wie ich es daher auch aufgefaßt habe). 107 Den Skythen folgen Greci inopes, Alexander divitiis inferior, Paulus Emilius und Scipio Africanus: Germ. 2.30. 108 Germ. 2.5: Sub illo autem imperatore [i.e. AdrianoJ tota Germanica natio in potestatem Romanorumfacta est post annos ducentos, quam a Romano primum mi/ite debellari cepta est.

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noch düsterer, noch barbarischer darstellt. I09 Am AnfarJg der Paraphrase steht (Germ. 2.4): Wahrlich, nur wenig unterschied sich zu jener Zeit das Leben deiner [i.e. Meyrs] Vorfahren von der wilden Rohheit der Tiere. Parum quidem ea tempestate a feritate brutorum maiorum tuorum vita distabat. Und zur besonderen Betonung spitzt er seine Ausführungen summarisch am Ende des Tacitus-Paragraphen mit den Worten zu (Germ. 2.4): Alles war grauenhaft, alles abscheuerregend, roh, barbarisch und, um die rechten Worte zu verwenden, tierisch, menschenunwürdig. - Omnia foeda, omnia tetra, aspera, barbara et, ut propriis utamur vocabulis, ferina ac brutalia. In dem zwischen diesen generellen Einschätzungen entworfenen Bild eines erbärmlichen Daseins barbarischer Rückständigkeit flicht Enea Silvio den einzigen Kommentar zur - auf seiten deutscher HumarJisten später nicht genug zu betonenden - hohen Sittlichkeit ein (Germ. 2.4): Dies verdient Lob und ist unseren Sitten vorzuziehen. - Laudanda hec est et nostris anteferenda moribus. Indes nimmt er der höheren Sittlichkeit der alten GermarJen mit dem unmittelbar arJschließenden Satz ihren GlarJZ (Germ. 2.4): Aber dieser Lebensform fehlte die Kenntnis der Schrift, die Disziplin durch Gesetze und die Beschäftigung mit den edlen Künsten. - At in hoc vivendi ritu nulla foit litterarum cognitio, nulla legum disciplina, nulla bonarum artium studia. In einer hinsichtlich des Inhalts sowie gedanklicher und kompositorischer Antithetik stark arJ Tacitus erinnernden Weise llO wird das Lobenswerte durch die unmittelbare Opposition des Verwerflichen aufgehoben, zumindest drastisch eingeschränkt, um das eindeutig negative Bild der antiken GermarJen nicht aufhellen zu müssen. 111 Wie schon mit der Kriegerherrlichkeit unternimmt es Enea Silvio auch im Falle der Moral, diese mit einer denkbar kurzen ErwährlUng zu übergehen. Der antike GermarJe war kruder Barbar - diese Einschätzung soll der Leser am Ende der Ausführungen Enea Silvios mit Tacitus uneingeschrärikt teilen. l12 Die positiven Eigenschaften in dem ambivalenten Porträt des Ta109 Aufgrund der eindeutig dunkleren Darstellung des germanischen Lebens, wie sie Enea Silvio mit Hilfe der taciteischen >Germania< gibt, würde ich daher der Lesart His ferociora de Germania scribit Cornelius Tacitus im Unterschied zu Schmidt (1962), der sich fur His sororia { ..] entscheidet, den Vorzug gegeben. 110 Man vgl. meine Ausflihrungen in 3.1.1.1. Enea Silvio hat hier offenkundig Zusammengehöriges getrennt; Heinrich Bebel wird den taciteischen Gedanken in seiner epistola de laudibus atque philosophia Germanorum wiederherstellen: apud nostros maiores etenim, ut Cornelius Tacitus tradit, plus boni mores valuerunt quam alibi bonae leges { ..}; vgl. das Kap. 3.4.2. 111 Und an späterer Stelle wird die Sittlichkeit der Gegenwart gar der Verrohung der Vergangenheit gegenübergestellt: Et hec igitur vobis, 0 Theutonici, sedes apostolica predicavit, cum Christum docuit esse colendum, hoc beneficium vobis apostolica sedes contulit: ex infidelibus Christianosfecit, ex barbaris Latinos, ex vitiosis honestos, ex perditis salvatos (Germ. 3.22). 112 So auch Ride (1977, S. 174) und Krapf(1979, S. 52).

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citus hat Enea Silvio gänzlich ausgeblendet. In der >Germania< wird das antiquarisch-philologische Wissen der Humanisten unübersehbar fur ein propagandistisches Ziel eingesetzt: 113 Infolge seiner tendenziösen Zusammenfassung der taciteischen >Germania< wird diese zu einem Dokument absoluter germanischer Barbarei stigmatisiert, die germanische Vergangenheit diffamiert. Im Anschluß an die mit Tacitus' Germania abgeschlossene Darstellung der Vergangenheit kann Enea Silvio in größtmöglichem Kontrast den heilsamen Einfluß der zivilisierten römischen Welt und infolgedessen der christlichen Religion darlegen, I 14 der dank der weiter oben schon erwähnten überraschenden Niederlage der Germanen im Kampf gegen die Römer das barbarische Germanien zu zivilisieren begann (Germ. 2.5): Von da an wurde Germanien zivilisierter und nahm Kultur an. - Exinde mitior facta civilern cultum accepit." 5 Wenn Enea Silvio dann, nachdem er die Größe der Germania nova mit der Germania vetus verglichen hat, mit dem Satz: Nun aber zu dem herrlichen Anblick: Wer wüßte nicht, daß er (nun) deutlich besser als damals ist (Faciem autem atque ornatum quis ignorat longe prestantiorem esse, quam olim fuit), seine Darstellung des zeitgenössischen Deutschlands einleitet, könnte der Kontrast zwischen dem Bild der Vergangenheit und dem der entfalteten Gegenwart nicht größer sein. In dem von Enea Silvio konstruierten Bild der Germania nova ist nichts mehr so,

113 So auch Helmrath (2000) in bezug auf die »Turci-Teucri-Diskussion« in der oratio de clade Constantinopolitana. Dies ist natürlich nur eine Manifestation der Politisierung des Humanismus; zu Humanisten als »Spezialisten für die Vermittlung und Applikation von Traditionswissen schlechthin« und der mit ihrer Hilfe erbrachten »)wissenschaftliche[n]< Fundierung historischer Legitimation«: Müller (1982, S. 84 u. S. 87 u.ö.). Wie schon in der Einleitung bemerkt, sind im Grunde genommen sämtliche mit Hilfe der taciteischen )Germania< konstruierte imagines Resultate dieser Verbindung von Humanismus und Politik. 114 »!t is here that Tacitus proves so valuable, for Enea is able to show that it is the church which has brought the Germans from barbarism to their present level of cultureGermania< und Barbarisierung Germaniens

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wie es einst war; Enea Silvio funktionalisiert sein Bild der Vergangenheit zu einem kontrapräsentischen Mythos. 116 3.1.3.3 Germania nova: die christliche Renaissanceherrlichkeit Der Vergleich der Ausdehnungen - dort des antiken Germaniens, hier des zeitgenössischen Deutschlands - markiert den Übergang von der Darstellung des antiken Germaniens zu der der Germania nova. 117 Nachdem Enea Silvio die Ausdehnung Germaniens mit den bekannten Flüssen begrenzt hat, offenbart er schon mit dem ersten Satz zum zeitgenössischen Germanien die nicht überraschende Stoßrichtung seiner Behandlung der Größe des Reiches (Germ. 2.6): Donau und Rhein, die einst die Grenzen Germaniens bildeten, fließen nun mitten durch deutsches Gebiet. - Danubius ac Rhenus, qui quondam Germanie limites clausere, nunc per medios Germanorum dilabuntur agros. Doch begnügt sich Enea Silvio nicht damit, das rechtlich dem Kaiser untertänige Reich als bedeutend größer darzustellen; sondern darüber hinaus unternimmt er es, indem er das idiomatische und kulturelle Kriterium (lingua et moribus) hinzunimmt, weitere Städte und Landstriche als zum deutschen Reich gehörig zu deklarieren, auch wenn sie es iure nicht oder nur partiell sein sollten (Germ. 2.6)Ys Belgien, das früher ein Drittel Galliens ausmachte, gehört jetzt größtenteils zu Deutschland und ist in bezug auf Sprache und Sitten deutsch. - Belgica regio, que Gallie prius portio tertia fuit, nunc maiori ex parte Germanie cessit, lingua et moribus Theutonica. 119

116 Hierzu vgl. man Kap. 1.3. 117 Es soll nicht der Versuch unternommen werden, anhand eines Vergleichs der Äußerungen in der >Germania< mit denen bspw. in den Briefen die Auffassung des Enea Silvio herauszudestillieren. Dies hat K. Voigt (1973, insbes. S. 145-148) unternommen: »Man wird sich nun fragen, welche Urteile über Deutschland der wahren Ansicht des Aeneas entsprachen [...]. Eine Antwort darauf kann nur aus einem Vergleich der Urteile in der Germania mit der in den anderen Schriften des Aeneas vorherrschenden Beurteilung erhellen« (S. 145). Dies setzt offensichtlich voraus, daß Enea Silvio in den anderen Schriften seine eigene Meinung wiedergibt, wovon indes - wie K. Voigt an anderer Stelle ausfiihrIich erörtert (S. 91) - nicht ausgegangen werden darf. Allenfalls die Frage, inwiefern den Äußerungen Konsistenz eigne, dürfte hier thematisiert werden; aber auch dies bleibt hier aus. 118 K. Voigt (1973, S. 131f.). 119 Weitere Stellen (ohne den Anspruch auf Vollständigkeit): Schon bei der Besprechung des Basler Konzils (Basileam [ ..) situ Gallicam, more ac sermone Germanieam: Germ. 1.14); Transimus Gandavum, populosissimam urbem [ ..}. Que licet Gallici iuris esse videantur, Theutonico tamen sermone et moribus vestris utuntur (Germ. 2.7). In einer weiteren Passage wägt Enea Silvio unterschiedliche Kriterien gegeneinander ab: Bohemia, quamvis Slavonico sermone utitur, sub imperio tamen Germanico sese continet et moribus Theutonicis [ ..} (Germ. 2.12); vgl. K. Voigt (1973, S. 131, Fn. 244). Erstmals hat Enea Silvio diese Kriterien in seiner Beschreibung Basels verwandt; hierzu Widmer (1959).

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Im Vergleich zu den von Enea Silvio übernommenen Grenzen des antiken Germaniens ist Deutschland dank der Kriterien mores et lingua, deren er sich dann wiederholt im Städtekatalog bedienen wird, bedeutend größer. Doch scheint der Berücksichtigung des kulturellen Kriteriums mehr zugrunde zu liegen als der Wunsch, den Deutschen über Maßen zu schmeicheln. Denn die eher vagen und wechselnden Nationalitätskriterien helfen, das intrikate Problem »Italien« zu neutralisieren. Daß Italien Teil des Reiches war und iure dem Kaiser unterstand, erwähnt er nicht; eindeutigere Äußerungen zur Zugehörigkeit Italiens finden sich erst wesentlich später. 120 Obschon Enea Silvio Italien derart geschickt aus seiner Darstellung der Größe des deutschen Reiches ausgeklammert hat, vermag er diesen Teil seiner Beschreibung abschließend doch zu behaupten (Germ. 2.6): Eure Nation ist größer, als sie es je zuvor gewesen ist. - Amplior est vestra natio, quam umquam fuerit. Indes auch dies trifft, wie Enea Silvio später selber konzedieren wird, in dieser Allgemeinheit nicht zu und muß daher an späterer Stelle revidiert werden. 121 Im Anschluß an seine Besprechung der Ausdehnung des deutschen Machtbereichs stellt Enea Silvio die blühenden Landschaften und Städte dar, wobei das Ergebnis seiner Darstellung gleich mit dem ersten Satz vorweggenommen ist. 122 Enea Silvio konfrontiert seine Leser mit einem Städtekatalog, dessen epischer Umfang (73 an der Zahl) beeindrucken soll; und zu jeder Stadt weiß er Positives zu berichten. 123 Obgleich der Umstand, daß Enea Silvio, der ja über zwanzig Jahre seines Lebens in Deutschland verbracht hatte, auf der Grundlage der Autopsie sprach, seiner Beschreibung den Anschein größerer Authentizität verleiht, so steht doch außer Frage, daß Enea Silvio auch hier wieder nicht so sehr um eine möglichst akkurate 120 Hierzu K. Voigt (1973, S. 135f). - Es verhalte sich mit der Region um die Alpen und diesen selbst folgendermaßen (Germ. 2.6): Retia tota et ipsum Norieum et quid Vindeliei nominis inter Alpes Italas ae Danubiumfitit, ad Germanos defeeit, ita ut etiam Alpes ipsas { ..] nomen Germanieum penetrans in Italia quoque sedes posuerit Brixinone, Marano Bulzanoque in valle Athesis oeeupato. Später (Germ. 2.29) wird er Meyr sogar ausdrücklich darüber klagen lassen, daß italien dem Reich nicht mehr gehorcht (zit. auf S. 153). 121 Germ. 2.29, zit. aufS. 153 122 Faciem autem atque ornatum quis ignorat longe prestantiorem esse, quam olim fitit (Germ. 2.7). 123 Nam agros ubique eultos videmus { ..] splendidissimas urbes { ..]: Germ. 2.7. Zu Städten als augenfälligem Ausdruck hoher Kultur: Kugler (1983); man vgl. auch Müller (2001, S. 403f.) und Boockmann (1994). Der Hyperbolik bedient sich Enea Silvio also sowohl in der Konstruktion der Vergangenheit als auch in der der Gegenwart; man vgl. auch (Germ. 2.17): Rhenus aureas evolvit arenas, et in Bohemiafluvii sunt, in quis magnitudinem eieeris aurea grana Thaborite reperiunt. In Hungaria quoque aurum { ..] ipsi plerumque eontrectatis magnasque domum refertis opes, quod supelleetiles vestre demonstrant et onuste auro argentoque mense. Treffend Ride (1977, S. 174): »La peinture du second volet de son diptyque exagere les lumieres comme celle du premier avait accuse les ombres.«

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Beschreibung deutscher Verhältnisse bemüht ist als vielmehr um die Einlösung seines Beweisziels; Jacob Wimpfeling wird in seinen 1515 erscheinenden Responsa eben diesen Vorwurf erheben, daß Enea Silvio ut Italius nicht imstande sei, die deutschen Verhältnisse adäquat wiederzugeben, und er wehrt sich ferner gegen die allzu offenkundig eigenen Interessen Enea Silvios folgende Darstellung der »Paradiesherrlichkeit der Renaissance«. 124 Aufschlußreich fiir den von Enea Silvio avisierten Rezipientenkreis ist auch in diesem Zusammenhang der Vergleich deutscher mit italienischen Städten, wobei letztere den Maßstab bilden, an dem erstere gemessen werden. So faßt er nach Aufzählung seines Städtekatalogs den Eindruck des Beobachters wie folgt zusammen: Er wird eingestehen, daß es in Europa kein Volk gibt, dessen Städte sauberer oder im Anblick erfreulicher als die in Deutschland sind. Man kann ihnen vielleicht einige der italienischen Städte vorziehen [... ]. Aber wenn man die Nationen miteinander vergleicht, gibt es keinen Grund, italienische Städte den deutschen vorzuziehen. [. ..} fatebitur nullam esse in Europa nationem, cuius urbes mundiores aut aspectu letiores quam in Germania sint. Possis forsitan ex Italicis urbibus nonullas preferre [ ..}. At si nationem nation i conferas, non est, quod urbes ftaUe Germanicis anteponas (Germ. 2.16).

Es gebe also durchaus einige italienische Städte, denen man den Vorzug geben müsse, und mit denen sich keine deutsche messen könne. Und auch der Nationenvergleich schmeichelt dem italienischen Leser mindestens so sehr wie dem deutschen, da ja der deutschen Stadtlandschaft nur zugebilligt wird, nun zu der italienischen aufgeschlossen zu haben, so daß wiederum deutlich wird, wie sehr sich Enea Silvio um die Gunst seiner italienischen Leser in Rom bemühte. Deswegen hat Klaus Voigt zu Recht festgestellt, Deutschland werde geschmeichelt, soweit es zur Besänftigung der Deutschen erforderlich und mit dem Selbstdünkel der Italiener verträglich sei. 125 124 Das Zitat: Krapf (1979, S. 53); anderer Auffassung scheint mir K. Voigt (1973, S. 98) zu sein. - Die Einschätzung Wimpfelings ist zitiert (und belegt) auf S. 19, Fn. 24. 125 Nach Meinung K. Voigts boten sich Enea Silvio aus dem Zwiespalt, den Deutschen zu schmeicheln, ohne die Italiener zu brüskieren, zwei Auswege an: »Wenn er die Darstellung Deutschlands in die Topoi der )Iaudatio< sowie in möglichst viele rhetorische Fragen und Ausrufe kleidete, war er sowohl gegen deutsche als auch gegen italienische Anfeindungen gefeit, denn dadurch konnte er seine wahre Ansicht verhüllen und mehrere Auslegungen offenlassen« (S. 132). Später heißt es: »Das andere Mittel war die Gegenüberstellung des alten Germanien mit dem gegenwärtigen Deutschland« (S. 133). Hierdurch sei ein Maßstab gesetzt, der wiederum eine zweifache Auslegung zulasse: Für den deutschen Leser würde das Lob durch die Referenz auf die antike Vergangenheit nicht geschmälert, im Gegenteil, »dieser hatte Aeneas nur dankbar zu sein, von ihm so viele wissenswerte Nachrichten über die eigene Frühgeschichte erfahren zu können.« Dem italienischen Leser hingegen bleibe es überlassen, diesen Vergleich zu belächeln und sich selbstgeflillig der eigenen Kultur zu vergewissern.

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Nachdem Enea Silvio sein Bild prosperierenden Reichtums erneut mit einer scharfzüngigen Bemerkung gegenüber Meyr abgeschlossen hat, 126 wendet er sich den Institutionen politischer Machtausübung zu: Die Macht der Deutschen ist in drei Teile aufgespalten. Zwar haben die Prälaten, die Fürsten und die Städte ein gemeinsames Oberhaupt, dem sie Treue schwören, (nämlich) den römischen Kaiser; sie handeln aber meist nach eigenem Gutdünken und herrschen über ihre Untertanen, als ob sie volle Freiheit genössen.

Potentia Germanorum trifariam divisa est. Nam et prelati et principes et civitates, quamvis unum habent caput, in cuius verba iurant, imperatorem Romanorum, suo tamen arbitrio plerumque moventur et, quasi libertate potiantur, suis imperant subditis (Germ. 2.18).

Hier schwingt schon mit, was Enea Silvio später gegen die Deutschen wenden wird, nämlich deren dadurch bedingte Uneinigkeit, daß jeder Herr sein möchte. Das bereits im Kontext antiker Germanen wegen seines Fehlens thematisierte Kriegermotiv wird nun von Enea Silvio bei der Beschreibung der zeitgenössischen Deutschen reaktiviert. Es hat dabei den Anschein, als würden die literarischen Details zur Ausgestaltung des Kriegerporträts der antiken Germanen von Enea Silvio schlichtweg auf die deutschen Krieger der Gegenwart übertragen. 127 Enea Silvio betont die kontinuierliche Praxis, verweist auf die schon in frühster Kindheit einsetzende Übung und macht schließlich auf ihre Härte aufmerksam. In Caesars geraffter Darstellung germanischer Lebensverhältnisse begegnet dieselbe Struktur; ebenso hatte Caesar schon bei den Sueben hinsichtlich ihres Kriegerwesens hervorgehoben, daß sie sich in einem fort üben würden, schon von Kindheit an nichts gegen ihren Willen zu unternehmen gewohnt seien und auch an eiskalten Orten kaum der Kleidung bedürften. 128 Und daß die Germanen immer in Waffen seien, hatte Tacitus (Germ. 13.1) in der prägnanten Wendung nihil [. ..] nisi armati agunt eindrucksvoll bemerkt. Hiermit soll lediglich darauf aufmerksam gemacht werden, daß Enea Silvio, was er bei der Darstellung der antiken Vergangenheit unter Berufung auf seine Gewährsmänner hätte schreiben können, in die Porträtierung 126 Pauper ipse ingenio fuerit, qui Germaniam pauperem affirmaverit [ ..]: Germ. 2.17. 127 Quanta insuper vel prineipum vel civitatum armorum peritia est, quantus usus, quanta rei bellice disciplina! Nati in Germania pueri prius equitare quam loqui discunt: currentibus equis immobiles herent se/lis, lanceas dominorum longiores ferunt, frigore ae sole durati nullo labore vincuntur. Nullus inermis aut Suevus aut Franco iter ingreditur eques (Germ. 2.25). 128 Man vgl. Caes. Gal!. 6.22.1: vita omnis in venationibus atque in studiis rei militaris consistit; a parvis labori ac duritiae student. Zu den Sueben (Gal!. 4.1.9): quae res et cibi genere et cotidiana exercitatione et libertate vitae, quod a pueris nullo officio aut disciplina adsuefacti nihil omnino contra voluntatemfaciunt, et vires alit et immani corporum magnitudine homines efficit.

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zeitgenössischer Deutscher einfließen läßt. Und da es im 15 . Jahrhundert nicht mehr reicht, nur die Eigenschaften aufzuweisen, die auch dem antiken »Vorfahr« zur Kriegerehre gereichten, fügt Enea Silvio noch die Deutschen als Erfinder der Waffenkunst hinzu.!29 Das soweit nachgezeichnete Bild des zeitgenössischen Deutschen ähnelt dem in der Frankfurter Rede rekonstruierten: Der Deutsche ist reicher Krieger. Infolge seiner Stilisierung Konstantinopels zum Hort der Literatur und der Reduktion der angesprochenen deutschen Fürsten auf Krieger sah Enea Silvio sich einer möglichen Kollision dieser beiden Bilder konfrontiert, der er dadurch abhalf, daß er das Interesse des Kriegers an einem erst durch die Literatur verbürgten Ruhm als Scharnier einfügte. In der >Germania< verhält es sich wiederum anders (Germ. 2.27): Wir müssen nun einiges über Kultur

und wissenschaftliche Bildung sagen, damit deutlich wird, daß auch hierin das neue Deutschland das alte, das du so sehr lobst, bei weitem übertrifft. De moribus ac doctrina non nihil dicendum occurrit, ut liqueat in hac etiam parte novam Germaniam veterem Wam, quam tantopere laudas, haud parum superare. Nachdem Enea Silvio die mores unterteilt hat in zwischenmenschliche und religiöse, ruft er hinsichtlich letzterer für das antike Germanien Heidentum und Menschenopfer in Erinnerung, hinsichtlich ersterer die Freude am Rauben und Massakrieren. 13o Zum Deutschland der Gegenwart führt er erst an, daß man ja nunmehr auch in Deutschland dem einen und wahren Gotte huldige, um dann ein Land zu schildern, in dem Klugheit und Ernst walten, und die freien Künste blühen.!3! Der überraschenderweise ausbleibende Verweis auf den Analphabetismus der antiken Germanen hätte den Kontrast der Gegenwart zur Vergangenheit noch deutlicher hervortreten lassen. Indes, wie im Bild der Vergangenheit Lichtflecken eingeräumt werden mußten, so muß mutatis mutandis im Bild der Gegenwart auch Dunkles eingeräumt werden: Relikt der barbarischen Vergangenheit seien die anhaltenden Raubzüge sowie die Sprache (s.u.); Celtis wird hierauf zu sprechen kommen. !32 129 Que machinarum ac tormentorum experientia! [ ..] tot ibi maiores baliste, tot catapulte, tot insolite magnitudinis enea tormenta visuntur, quas vocant bombardas, quarum et ipsi Theutones repertores habentur (Germ. 2.25). 130 Utramque superius viam apud veteres Germanos auctoritate maiorum ostendimus monstravimusque in natione tua nec deo verum cultum exhibitum fuisse nec Theutones ad civilitatis usum exercitationem habuisse, qui et vana simulacra colebant liberos suos demoniis immolantes et rapinis cedibusque gaudentes iniuriari vicinis eosque bonis despoliare in laudem trahebant (Germ. 2.27). 131 Littere quoque et omnium bonarum artium studia apud vos florent (Germ. 2.27). In der Vergangenheit hingegen: At in hoc vivendi ritu nullafoit litterarum cognitio, nulla legum disciplina, nulla bonarum artium studia (Germ. 2.4). 132 Et quamvis adhuc veterum nonnulla rapinarum vestigia maneant - nam hoc unum est ex prisca barbarie vitium inter vos relictum - non tamen ea predarum libertas est, que olim foit

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Wie schon bei der Verwendung des Kriegermotivs, so kann auch an der Gastfreundschaft das Bemühen Enea Silvios um eindeutige Polarisierung in der Konstruktion der Vergangenheit und Gegenwart Germaniens abgelesen werden; denn die von Deutschen so herzlich demonstrierte Gastfreundschaft hebt er besonders hervor. \33 Nun war aber schon bei Caesar, insbesondere dann aber bei Tacitus das hospitiurn ausgiebig dargestellt worden. 134 Enea Silvio erwähnte die Gastfreundschaft aber bei seiner Zusammenfassung der antiken Autoritäten nicht; wie in folgender Sentenz nochmals deutlich wird, geht es Enea Silvio um den größtmöglichen Kontrast: Ihr lebt mit allen Völkern im Geist der Humanität zusammen und ein so leuchtender Glanz umstrahlt heute bei euch Menschen wie Dinge, daß es scheint als sei außer der Muttersprache nichts Barbarisches mehr unter euch. Convivitis humanissime omnibus gentibus tantusque hodie et hominibus vestris et rebus nitor impositus est, ut preter sermonem patrium nihil inter vos barbarum remansisse videatur (Germ. 2.27).

Tacitus hätte Enea Silvios Darstellung mit den Worten kommentiert: ornnia apud posteriores rneliora. 135 Enea Silvio hat somit sein Beweisziel erreicht, der Vergleich der von ihm sowohl hinsichtlich der Zeit spezifizierten als auch hinsichtlich der Lebensform konstruierten Vergangenheit mit der Gegenwart ist vollendet, so daß er zum Abschluß eindrucksvoll mit Hilfe der serrnocinatio einen antiken Germanen auferstehen lassen kann, der schlichtweg leugnen würde, daß er sich in Germanien befände, in dem ein solches Maß an Glanz, ein solches Maß an Zivilität und Bildung gefunden werden könne (tanturn nitoris, tanturn urbanitatis atque hurnanitatis inveniretur: Germ. 2.28).136 Erst der Blick zum Himmel, also die geographische Bestimmung Germaniens, würde ihn davon überzeugen. Wirkungsvoll unterstreicht Enea Silvio nochmals, daß das Germanien von einst und das Germanien seiner Zeit nichts mehr gemein hätten - Sternbilder ausgenommen. (Germ. 2.27). Zur deutschen Sprache als Ausdruck der Barbarei: Amelung (1964, S. 173-75). Selbst Celtis wird nicht nur in seiner Panegyris die deutsche Sprache als murmura indoctae linguae (Paneg. 66-68) abqualifizieren und engagiert für die Pflege der latinitas argumentieren (man siehe auch die Ode an Apoll (4.5.23: barbarus sermo) und Od. 1.11.l5f.). 133 Suscipiuntur hospites apud vos leto vultu. sed meliori corde (Germ. 2.27). 134 Caes. Gall. 6.23.9; Tac. Germ. 21.2. 135 Mit diesem Lob stellt sich Enea Silvio - zum Wohle seiner Argumentation - gegen den auf italienischer Seite nahezu ausnahmslos (man s. jedoch Patrizzis Gesandtschaftsbericht, zit. in Kap. 3.2, Fn. 197) geteilten Vorwurf der Barbarei seitens der Deutschen; man vgl. Amelung (1964, S. 35-60, wo sich eine Besprechung von Enea Silvios »Lob« findet). 136 Auch Bebel wird (laut Paul (1936, S. 51f.) von Enea Silvio inspiriert) einen alten Germanen bei Anblick der Germania nova erstaunen lassen: De laude veterum Germanorum, S. 275).

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3.1.3.4 Das Reich unter Karl dem Großen Mit den folgenden Worten leitet Enea Silvio seine überraschende occupatio ein: Aber du wirst dagegen einwenden: Unter Kar! dem Großen, dem Kaiser aus unserem Volk, haben außer Deutschland auch Gallien, Italien und Spanien den Deutschen gehorcht. [... ] Jetzt aber haben wir außer dem deutschen Sprachgebiet nichts mehr in Besitz, ja sogar Italien, einst die sicherste dem Reich unterstehende Provinz, gehorcht uns nicht mehr.

Sed refricabis: Sub Carolo Magno, nostri generis principe, non Germaniam solum, sed Galliam atque Italiam et Hispaniam Theutonibus paruisse. [ ..] nunc extra Theutonicam linguam nihil obtinemus, quando nec Italia, iuris imperii certissima provincia, imperatafacit (Germ. 2.29).137

Die vorangegangene sermocinatio stellt rhetorisch den Höhepunkt des Vergleichs zwischen antikem Germanien und der Gegenwart, und - in der Rückschau - auch thematisch den Abschluß dar, denn von nun an wird das Deutschland der Gegenwart dem Reich unter Karl dem Großen gegenübergestellt. Der Leser fragt sich, was Enea Silvio wohl dazu bewogen haben könnte, nun einzugestehen, daß euer Reich nicht das ist, was es unter Karl war (imperium vestrum non esse quod sub Carole fuit: Germ. 2.29), wodurch nicht nur die Behauptung, größer als jemals ist eure Nation (amplior est vestra naNo quam umquam), revidiert, sondern im Zuge der anschließenden Argumentation manches zuvor Gesagte offenkundig »verdreht« werden muß. Daß Enea Silvio wußte, auf welche Vergangenheit Deutschlands Meyr mit seinem »quondam« abzielte, diese aber durch die antike substituierte, um erst, nachdem die Vorzüglichkeit des gegenwärtigen Deutschlands dank des gewählten Vergleiches verdeutlicht worden ist, kurz auf die eigentlich gemeinte Periode einzugehen, scheint wahrscheinlicher, als daß er wirklich einem möglichen Einwand in Form der occupatio begegnen wollte. Enea Silvio legt Meyr als erste Maßnahme zur Entschärfung des Einwands die Überzeugung in den Mund, man habe an Glanz und Ruhm eingebüßt, weil das Gold zum apostolischen Stuhl fließe (quod aurum vestrum ad sedem apostolicam deferatur: Germ. 2.29). Somit kann er sich nun des schon von Kroisos vorgebrachten Argumentes bedienen, daß für Tapferkeit und Kriegsrnut nichts verderblicher sei als Wohlstand; diente der Reichtum 137 Ride (1977, S. 79-87) gibt einen Überblick über die politisch-militärischen Schwierigkeiten, denen sich das Reich konfrontiert sah; hierzu zählt auch der französische Anspruch auf die Kaiserkrone. Zur mit letzterem im Zusammenhang stehenden Streitfrage nach der »nationalen Zugehörigkeit« Karls des Großen: Münkler/Grünberger (1998, S. 184-91), wo auch die antifranzösische Attitüde Enea Silvios besprochen wird.

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der Deutschen in der Türkenrede noch als zusätzliche Verpflichtung, so wird er ihnen hier zum Vorwurf gemacht. Als historische Exempla führt Enea Silvio dann die Skythen und eine Reihe von Volksgruppen an - die antiken Germanen aber erwähnt er bezeichnenderweise nicht. 138 Nachdem er nochmals betont hat, daß die deutschen Vorfahren ihr Reich durch Waffen und nicht durch Geld zu verteidigen pflegten, scheint er sich gleichsam daran zu erinnern, daß er ja zuvor den Deutschen der Gegenwart enkomiastisch den Status des vollkommenen Kriegers zugesprochen hatte: Durch Waffengewalt hätte also die Macht aufrecht erhalten werden müssen; zwar ist eure Jugend, wie oben schon berichtet, überaus stark im Waffenhandwerk, aber, verlockt durch Genüsse, die sich ihr zu Hause darbieten, wagt sie es nicht mehr, aus Deutschland zu ziehen.

Armis igitur retinenda maiestas fuit, quibus etsi plurimum valet vestra iuventus, ut ante relatum est, illecta tarnen domesticis voluptatibus extra Germaniam prodire non audet(Germ.2.31).

Diese Behauptungen lassen sich kaum mit denen des ersten Teils der Widerlegung harmonisieren. Jedoch beläßt er es nicht hierbei, sondern fügt noch den Appell an die Deutschen hinzu, sich doch der alten Tugenden zu besinnen. 139 Der daran anschließende antithetisch strukturierte Katalog der nun wieder (!) zu beherzigenden Tugenden wirft noch größere Zweifel an der Ernsthaftigkeit der früheren Äußerungen zum Kriegerstatus der Deutschen auf. 140 Daß der Germane Krieger ist, wird also zuerst in bezug auf die Vergangenheit partiell durch die Formulierung, partiell durch die zusätzlichen Beschreibungen aus der imago entfernt, um daraufhin für die Gegenwart reaktiviert zu werden, weil so gezeigt werden kann, daß das Meyr so wichtige Kriegertum in der Gegenwart in hellem Glanz erstrahlt, die deutsche Gegenwart also alles andere als depraviert ist; schließlich und endlich wird das Kriegermotiv im zweiten Teil zum Appell instrumentalisiert, zu alter, in diesem Kontext mittelalterlicher, kriegerischer Lebensführung zurückzukehren. Enea Silvio hat also im Sinne der von ihm verteidigten römischen Kurie das Kriegermotiv hinsichtlich der Vergangenheit implizit bestritten,

138 Zu diesen Gruppen: Germ. 2.30. Enea Silvios Fazit (Germ. 2.31) lautet: Viris fortibus et animo exeellenti preditis sepius auri eopia quam inopia noeuit, siquidem magnas opes et delitie et voluptates eonseeuntur [ ..}. Videmus enim Germaniam, ut diximus, argento et auro plenam omnibusque delitiis ajj1uentem ita se ipsa eontentam esse, ut armaforis nusquam efferat. 139 Vos tamen, si priorem eupitis eminentiam vendieare, priseas virtutes, prise os resumite mores: Germ. 2.33. 140 Fortitudinem ignavie opponite, liberalitatem avaritie, sollieitudinem desidie, iustitiam iniquitati (Germ. 2.33).

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um sie eindeutig als negativ darstellen zu können, hinsichtlich der Gegenwart in leuchtendsten Farben gemalt, also bestätigt, hinsichtlich des Übergangs von der (guten) Gegenwart zur (besseren) Zukunft als verstärkt zu beherzigendes anempfohlen - auf Kosten mancher Widersprüche. 141 Als weiteren Grund für die geringere Stellung Germaniens bringt Enea Silvio das schon zuvor subtil angedeutete Übel zur Sprache, an dem das deutsche Reich kranke: Ihr gehorcht ihm [i.e. dem Kaiser] nur, soweit ihr wollt, und ihr wollt sowenig wie möglich. - Tantum ei Fe. i. imperatori] paretis, quantum vultis, vultis autem minimum (Germ. 2.32). Und weiter: Daher sind Zwistigkeiten unter euch so häufig, und dauernd wüten Fehden, aus denen Raub, Brandlegung, Mord und tausend andere Übel entspringen. - Hinc discordie inter vos crebre et assidua beUa crassantur, ex quibus rapine, incendia, cedes et mille malorum emergunt genera (Germ. 2.32). Erneut fragt man sich, wie dies mit der Darstellung der blühenden Kulturlandschaft Deutschlands zusammengeht; und wie beim Changieren des Kriegermotivs, so kann auch hier beobachtet werden, wie es sich Enea Silvio angelegen sein läßt, im ersten Teil seiner Widerlegung mit Hilfe des Bilds des barbarischen Germanien die strahlende Gegenwart Deutschlands als Verdienst der Kurie, im zweiten Teil hingegen die Schattenseiten der Gegenwart als selbstverschuldete Nachlässigkeiten der Deutschen zu präsentieren. 3.1.4 Enea Silvios Beitrag zur negotiatio Germaniae Alle in diesem Kapitel rekonstruierten imagines Germaniae sind als Argumente in der Beweisführung des Enea Silvio seinem jeweiligen Beweisziel unterworfen; der Komplexitätsgrad der Fragestellung bestimmt die Komplexität der imago. Anders als in der Frankfurter Rede konstruiert Enea Silvio unter Verweis auf antike Autoritäten in seiner >Germania< ein Bild der antiken Germanen als krude Barbaren, deren positive Eigenschaften er soweit abdunkelt, daß das vor dem geistigen Auge des Lesers stehende Bild unbedingt negativ ist. Tacitus' >Germania< markiert die Klimax des Barba141 Es gilt sich gegenwärtig zu halten, daß es Enea Silvio bei der Erörterung dieser Frage und überhaupt in diesem zweiten Teil ausschließlich um das Verhältnis zwischen der Vergangenheit unter Kar! dem Großen und den zeitgenössischen Germanen geht, daß also die alten Germanen hier keine Rolle spielen (deren Funktion scheint eindeutig negativ). Borchardt (1971, S. 56) ist diesbezüglich dem durch Enea Silvios zweifache Vergangenheitskonstruktion leicht entstehenden Irrtum aufgesessen: »Indeed, before their [i.e. the Germans'] conversion, there was nothing more disgusting than Germans [... ]. On the other hand, the ancient [sie!] Germans had the advantage over the modems in bravery, generosity, zeal, justice, and - above all- unily [... ].« Er verweist auf Germ. 2.33, wo sich in der Tat ein Lobpreis der Tapferkeit der Germanen findet, indes nicht der antiken, sondern der unter Karl dem Großen.

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rentums und wird in Enea Silvios Händen zu einer Invektive gegen die germanische Vergangenheit. Wie in der Rede wird das Bild der Vergangenheit zu einem Mythos funktionalisiert, der hier jedoch kontrapräsentisch den erforderlichen Kontrast zum Bild der Gegenwart bildet; die zeitgenössischen Deutschen sind nicht mehr die heidnischen Germanen, deren Leben in der barbaries durch die Niederlage im Kampf gegen die Römer ein Ende nahm, sondern dank der von Rom aus verbreiteten religio Christiana kultivierte Christen. Die kulturgeschichtliche mutatio ist eine totale, Gegenwart und Vergangenheit sind kategorial verschieden. Der signifikant andersartige Ton der >Germania< im Kontrast zu den Briefen, die Dedikation an den Kardinal Antonio de la Cerda, die Betonung der Schuld der Deutschen gegenüber der Kurie fiir deren zivilisierenden, kultivierenden und christianisierenden Einfluß und schließlich die vage Thematisierung Italiens scheinen gemeinsam darauf zu weisen, daß Enea Silvio beim Verfassen seiner Replik nicht so sehr Martin Meyr, Dietrich von Mainz und die von letzterem angeführte kurfiirstliche Opposition als Rezipienten avisierte als viel mehr die Kardinäle in Rom. 142 1458 - dem Todesjahr des schon bei Amtsantritt alten und kränklichen Calixt III. - präsentierte sich Enea Silvio als potentieller Nachfolger, der die Interessen der Kurie auch gegenüber seinen engsten Verbündeten durchzusetzen verstand. Nicht als defensor Germanorum, sondern als defensor curie verfährt der spätere Papst Pius H. hier.

142 Hier komme ich also zu einem zumindest in der Gewichtung anderem Ergebnis als Ludwig Krapf, der von einer »durchgehend vorgenommene[n] Perspektivierung des antiken Textes auf ein fast ausschließlich deutsches Publikum« (Krapf, 1979, S. 47) spricht. Denn die Barbarisierung der antiken heidnischen Germanen mit Hilfe der taciteischen >Germania< geschieht in erster Linie nicht mit Blick auf die deutschen Leser, sondern mit Blick auf die Verfechter des christlichen Glaubens in Rom. K. Voigt hingegen bemerkt - wie ich finde - treffend, Enea Silvio habe auf der Hut sein müssen, »niemanden zu verletzen - weder die italienischen und spanischen Kardinäle [...] noch die deutsche Opposition« (1973, S. 131f.). Ride (1977, S. 176) hat Enea Silvios konsequente Ausrichtung auf die Erfordernisse der Tagespolitik sehr schön an dessen favorisierter Etymologie der Germani herausgearbeitet; letzterer lehnt Strabos Herleitung (»Brüder der Gallier«) ab und leitet es von »germinare« ab, da: »Trouver une quelconque ressemblance entre les Allemands et les Fran9ais a un moment ou des princes seculiers et ecclesiastiques d' Allemagne etaient tentes d'imiter la France en dotant leur pays d'une Pragmatique Sanction risquait d'etre maladroit.« Jedoch schenkt auch Rid6 den Kardinälen als intendierten Lesern zu wenig Beachtung (z.B. S. 175).

Die alternative Lesart der >Germania
Germania< 3.2.1 Agent provocateur? Nam proprii et pressi cultor sermonis ubique est Priscis cedere nescius. 143

Daß es erneut ein italienischer Gesandter war, der sich im Dienste des Papstes die taciteische >Germania< für politische Zwecke zunutze machte und dessen mit ihrer Hilfe konstruiertes Bild Germaniens die Reaktion deutscher Humanisten nicht weniger auf den Plan rief als das Enea Silvios, hat man zu Recht als Kuriosum der Rezeptionsgeschichte bezeichnet. 144 Campano - gefeierter Poet und als solcher als Ovidius alter gepriesen, gleichermaßen bewunderter Redner und als solcher Hortensius und Cicero an die Seite gestellt _145 wurde von Papst Paul H. als Begleiter des Kardinals Francesco Todeschini-Piccolomini zum Regensburger Reichstag, dem sogenannten Großen Christentag (1471)/46 gesandt, um dort um deutsche Hilfe für einen Feldzug gegen die Türken zu werben. Während seines Aufenthaltes in Deutschland verfaßte er nicht nur die berühmte Rede,147 son-

143 Denn er beher=igt allenthalben einen charakteristischen und gedrungenen Stil und versteht es, hinter den Alten nicht =urück=lIstehen: Petri Sabini in novam Campani editionern, decastichon (op. om. fol. Zu »cedere nescius« vgl. Hor. carm, 1.6.6: Pelidae stomachum cedere nescii. Sämtliche Übersetzungen dieses Kapitels stammen von mir (s. auch Fn. 164). 144 »I! est, en tout cas, bien curieux de constater qu'apres les polemiques d' Aeneas Sylvius, la seconde manifestation ou, si I'on veut, utilisation publique du texte de la Germanie se produit encore (en 1471) dans des circonstances tout it fait analogues: il s'agit lit aussi d'un prelat italien qui, en evoquant it travers Tacite le passe germanique, s'efforce d'attacher aux causes defendues par I'Eglise romaine les princes allemandsGermania
Germania
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