Negativität und Unbestimmtheit: Beiträge zu einer Philosophie des Nichtwissens. Festschrift für Gerhard Gamm [1. Aufl.] 9783839409565

Für die letzten Jahrzehnte lässt sich eine Konzentration negativistischer Selbstbeschreibungen in Wissenschaften, Philos

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Negativität und Unbestimmtheit: Beiträge zu einer Philosophie des Nichtwissens. Festschrift für Gerhard Gamm [1. Aufl.]
 9783839409565

Table of contents :
INHALT
Negativität und Unbestimmtheit. Eine Einleitung
I. Gesichter des Negativen
Negativistische Hermeneutik. Zur Dialektik von Sinn und Nichtsinn
Unbestimmtheit und Bestimmtheit der Interpretation. Zum Primat der Intersubjektivität bei Davidson
Die Positivierung des Negativen
Negativität der Rede – Unmöglichkeit der Kommunikation
II. Negativität als Unbestimmtheit in Kunst und Wissenschaften
Ding, Gabe und die Praxis der Künste
Zur Unbestimmtheitssemantik der Einbildungskraft in der Moderne
Die Positivierung des Unbestimmten in den nachmodernen Naturwissenschaften
Das »Ich deute nicht« am Grund des Urteilens: Michael Frayns Copenhagen als Beitrag zur Gewissheitsthematik
III. Negative Anthropologie
Mensch ohne Bild. Grenzen der Bestimmung des Unbestimmten
Der unbestimmte Mensch und der Übermensch
Homo absconditus. Das Subjekt als Projekt und offene Frage
»Wie ein Bogenstrich, der aus zwei Saiten eine Stimme zieht...«. Was im Tier blickt uns an?
IV. Entzugsfiguren der Normativität Kant über den Wert des Glücks
Die produktive Unbestimmtheit der pädagogischen Praxis
Das Machbare und das Hinzunehmende. Über Unentscheidbares, das entschieden werden muss
Dekonstruktive Sozialtheorie als Ethik jenseits des Sozialen
Autorinnen und Autoren

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Andreas Hetzel (Hg.) Negativität und Unbestimmtheit

2009-01-09 10-30-59 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 029e199395524096|(S.

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Andreas Hetzel (Hg.)

Negativität und Unbestimmtheit Beiträge zu einer Philosophie des Nichtwissens. Festschrift für Gerhard Gamm

2009-01-09 10-31-00 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 029e199395524096|(S.

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Drucklegung mit freundlicher Förderung durch die Fritz-Thyssen-Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Andreas Hetzel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-956-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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INHALT Negativität und Unbestimmtheit. Eine Einleitung ANDREAS HETZEL

7

I. Gesichter des Negativen Negativistische Hermeneutik. Zur Dialektik von Sinn und Nichtsinn EMIL ANGEHRN

21

Unbestimmtheit und Bestimmtheit der Interpretation. Zum Primat der Intersubjektivität bei Davidson JENS KERTSCHER

41

Die Positivierung des Negativen GERNOT BÖHME

63

Negativität der Rede – Unmöglichkeit der Kommunikation ANDREAS HETZEL

75

II. Negativität als Unbestimmtheit in Kunst und Wissenschaften Ding, Gabe und die Praxis der Künste DIETER MERSCH

91

Zur Unbestimmtheitssemantik der Einbildungskraft in der Moderne MARC ZIEGLER

105

Die Positivierung des Unbestimmten in den nachmodernen Naturwissenschaften JAN C. SCHMIDT

119

Das »Ich deute nicht« am Grund des Urteilens: Michael Frayns Copenhagen als Beitrag zur Gewissheitsthematik DORIS VERA HOFMANN

139

III. Negative Anthropologie Mensch ohne Bild. Grenzen der Bestimmung des Unbestimmten GEORG ZENKERT Der unbestimmte Mensch und der Übermensch JUTTA GEORG-LAUER

155

169

Homo absconditus. Das Subjekt als Projekt und offene Frage REINHARD HEIL

181

»Wie ein Bogenstrich, der aus zwei Saiten eine Stimme zieht...«. Was im Tier blickt uns an? MECHTHILD HETZEL

195

IV. Entzugsfiguren der Normativität Kant über den Wert des Glücks PETER NIESEN

203

Die produktive Unbestimmtheit der pädagogischen Praxis ALFRED SCHÄFER

221

Das Machbare und das Hinzunehmende. Über Unentscheidbares, das entschieden werden muss EVA SCHÜRMANN

239

Dekonstruktive Sozialtheorie als Ethik jenseits des Sozialen PETER WIECHENS

255

Autorinnen und Autoren

273

Negativität und Unbestimmtheit. Eine Einleitung 1 ANDREAS HETZEL

Als Erfahrung und philosophisches Konzept spielt das Negative bereits in der Antike eine bedeutende Rolle. An seinem Stellenwert für unser Leben und Denken entzündet sich nicht zuletzt der Streit zwischen Philosophen und Sophisten. Während letztere dem Negativen ein Recht zugestehen und betonen, dass alles positive Sein von einem negativen Werden daran gehindert wird, sich jemals vollständig zu entsprechen, versuchen die Philosophen, das Negative (in der Gestalt des Werdens) in den Bereich bloßer Sinnestäuschungen zu verweisen und es damit zu depotenzieren. In gewisser Weise formiert sich die abendländische Philosophie als Projekt einer Verdrängung des Negativen – wobei das Negative mit diesem Projekt allererst begrifflich Kontur gewinnt und die Philosophie als Stachel im eigenen Fleisch durch ihre gesamte Geschichte begleiten soll. Bereits am Lehrgedicht des Parmenides2 (um 500 v. Chr.) lässt sich dieser Zusammenhang von versuchter Verdrängung und Exponierung des Negativen veranschaulichen. Der Text, der ein ewiges, unwandelbares, mit sich identisches Sein postuliert, versucht dieses Sein in Abgrenzung zu einem Negativen, dem Nichtsein, zu etablieren. Diesem Versuch verdanken wir die erste begriffliche Klärung des Nichtseins. Parmenides arbeitet mit zwei sprachlichen Modi des Negativen: dem oük Òn und dem mĂ Òn. Das prädikative oük Òn kann als einfache und unproblematische Negation begriffen werden, als Aussage, dass etwas Bestimmtes innerhalb eines vorgegebenen Rahmens nicht ist; demgegenüber verkörpert sich im mĂ Òn ein Nichtsein schlechthin, welches jede Ordnung mit 1 2

Für Diskussionen und wichtige Anregungen danke ich Gerhard Gamm und Markus Lilienthal. Vgl. Parmenides, in: Jaap Mansfeld (Hg.): Die Vorsokratiker, Bd. I, Stuttgart 1983, S. 310-334; vgl. hierzu Klaus Heinrich: Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, Frankfurt/Main 1972, sowie ders.: Parmenides und Jona. Vier Studien über das Verhältnis von Philosophie und Mythologie, Frankfurt/Main 1992.

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Chaos bedroht. Für Parmenides gilt dieses mĂ Òn als Inbegriff des Nichtseinsollenden, all dessen also, was das Sein in seiner Identität, Vollkommenheit und Zeitlosigkeit in Frage stellt: Veränderung, Differenz, Mannigfaltigkeit, Kontingenz, Mangel, Meinung und Praxis.3 Parmenides stellt das normativ ausgezeichnete Sein in das Zentrum sowohl der Philosophie als auch des Kosmos, die sich für ihn ineinander spiegeln. Philosophie legt für ihn Zeugnis von einem Sein ab, das »aus einem Glied und unbeweglich und nicht entstanden« (DK 28 A 34, B 10) ist; er verbannt das Nichtsein in eine Welt bloßer Erscheinungen. Die philosophische Erkenntnis (nóhsiV) hebt sich dadurch von der scheinhaften alltäglichen Meinung (dóxa) ab, dass sie in all ihren Artikulationen auf das ewige, vollkommene, mit sich identische Sein bezogen bleibt. Einen frühen Kritiker findet Parmenides in Gorgias von Leontinoi, der um 442 v. Chr. eine Rede über das Nichtsein verfasst.4 Der Sophist bezieht hier Partei für genau dasjenige Prinzip, welches die Philosophie im Moment ihrer Geburt verwirft, für eine Negativität, die das Sein daran hindert, sich selbstgenügsam in sich abzuschließen. Nach Hegel besteht die große Leistung des Gorgias im »Aufzeigen des Nichtansichseins des Seins«5; Vollkommenheit kann für den Sophisten nicht ohne Mangel gedacht werden, Ewigkeit nicht ohne Zeit, Identität nicht ohne Differenz, das Selbe nicht ohne das Andere. Gorgias rehabilitiert das mĂ Òn und mit ihm das innerweltliche Handeln und Reden als die kontingente, nicht auf letzte Gründe und überzeitliche Ideen reduzierbaren Wirklichkeit menschlichen Lebens. Gegen Gorgias restituiert Platon eine Generation später wieder die Parmenideische Abwertung des Nichtseins zu einem Nichtseinsollenden. Sokrates fragt in der Politeia: »Wie könnte etwas, was ja nicht ist [mĂ Òn] erkannt werden?« (Plat. Pol. V 477a). Das auf den noÿV verweisende Erkennen wird an gleicher Stelle von der dóxa abgehoben, der bloßen Meinung, die am Nichtsein partizipiere. Der Platonische noÿV richtet sich demgegenüber auf das Sein; Sokrates behauptet, »dass das vollkommen Seiende auch vollkommen erkennbar ist« (Plat. Pol. V 477a); Sein und Erkennen verweisen auch hier aufeinander und verstärken 3

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Auf eine Verbindung des Nichtseins mit Praxis im antiken Denken verweist John Dewey: Das »praktische Handeln [...] befaßte sich mit einer niederen Region des Seins, in welcher der Wandel herrscht und die deshalb Sein nur ehrenhalber genannt werden kann, denn sie zeigt durch eben diese Tatsache des Wandels einen Mangel an einer sicheren Grundlage an. Sie ist mit Nicht-Sein infiziert.« (John Dewey: Die Suche nach Gewißheit, Frankfurt/Main 1998 [1929], S. 22) – Dewey war mit den erhaltenen Reden des Gorgias vertraut; vgl. dazu seinen Artikel »Nihilism« in: Dictionary of Philosophy and Psychology, hg. v. James Mark Baldwin, New York 1902, S. 177. Vgl. Gorgias von Leontinoi: »Rede über das Nichtsein«, in: ders.: Reden, Fragmente und Testimonien, Griechisch/Deutsch, hg. u. übers. v. Thomas Buchheim, Hamburg 1989, S. 41-64. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: ders.: Werke in 20 Bänden, Frankfurt a.M. 1970, Bd. 18, S. 435.

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sich wechselseitig. Der Begriff des Nichtseins enthält für Platon dagegen eine Denkunmöglichkeit. Während sich der noÿV auf das Sein richte, »ist das Nichtseiende [mĂ Òn] ja auch vorzustellen unmöglich« (Plat. Pol. V 478b). Die Philosophie habe also »das sich immer gleich und auf dieselbe Weise Verhaltende« (Plat. Pol. VI 484b) zu ihrem einzigen Anliegen zu machen.6 Wenn es auch nie gelingen wird, das Negative vollständig zu verdrängen, so bleibt doch die Parmenideisch-Platonische Auszeichnung des Seins gegenüber dem Nichtsein im rationalistischen Mainstream der abendländischen Metaphysik dominant. Das Negative wird über zwei Jahrtausende in den Untergrund der Philosophie abgedrängt, in rhetorik- und praxisaffine »Techniken« sowie in eine negative, nicht rationalistisch verkürzte Theologie. Erst mit dem Beginn der philosophischen Moderne, insbesondere mit Hegel und Schelling, kommt es zu einer erneuten Umwertung und einer umfassenden Renaissance des Negativen. So ist es für den frühen, aufklärungskritischen Hegel nicht die Partizipation an einer ihnen vorausgesetzten, ihnen gemeinsamen Vernunft, in der sich alle Menschen begegnen, sondern gerade die Abwesenheit jeder derartigen Voraussetzung und damit etwas Negatives. Das Anerkennen des Anderen (das er vor allem auf den letzten Seiten des Abschnitts C., Das Gewissen. Die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung im Geist-Kapitel der Phänomenologie thematisiert7), richtet sich für Hegel weder auf dessen Vernünftigkeit noch auf irgendwelche anderen positiven Eigenschaften. Wirklich Anerkennen kann ich Andere nur, wenn ich von ihren Eigenschaften absehe und sie gerade in ihrer Andersheit oder absoluten Entzogenheit achte. Allen Menschen gemeinsam ist vor diesem Hintergrund nur die Abwesenheit von Gemeinsamkeiten, die »Nacht«, die sich mir im Blick des Anderen eröffnet.8 Nicht die erzwungene Versöhnung steht im Mittelpunkt der sich hier andeutenden Ethik, sondern eine positiv ausgezeichnete Entzweiung. Die List der Hegelschen Vernunft besteht darin, in der Entzweiung selbst ein versöhnendes Moment auszumachen: »Gerade darin ist jedes dem andern gleich, worin es ihm entgegengesetzt ist«9.

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In seinem Dialog Sophistes mildert Platon sein Verdikt gegenüber dem Nichtsein ab und erkennt seine Notwendigkeit für die Erklärung von Bewegung und Veränderung an. Er reduziert das Nichtsein hier allerdings auf ein Verschiedensein, das immer noch als Modus des einen Seins gilt: »Wenn wir Nichtseiendes sagen, so meinen wir nicht, wie es scheint, ein Entgegengesetztes des Seienden, sondern nur ein Verschiedenes.« (Plat. Soph. 257b) Vgl. hierzu auch den Beitrag von Gernot Böhme in diesem Band, S. 63-74. Vgl. G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: ders.: Werke in 20. Bänden, ebd., Bd. 3, S. 492-494. G.W.F. Hegel: »Jenaer Realphilosophie«, in: ders.: Frühe politische Systeme, hg. v. Gerhard Göhler, Frankfurt/Main 1974, S. 201-335, hier: S. 204. Vgl. hierzu Wolfgang Bonsiepen: Der Begriff der Negativität in den Jenaer Schriften Hegels, Bonn 1977. G.W.F. Hegel: »Jenaer Realphilosophie«, S. 222.

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Dieses zunächst innerhalb der praktischen Philosophie entwickelte, negativistische Prinzip wird von Hegel nun auch auf die theoretische Philosophie übertragen.10 Als dialektische versucht Hegels Philosophie, alle positiven Gestalten des Seins und des Bewusstseins über eine »Vermittlung [ihres] Sichanderswerdens mit sich selbst«11 zu explizieren, eine Bewegung, die er im gleichen Satz als »reine einfache Negativität«12 charakterisiert. In vergleichbarer Weise öffnet auch Schelling die Philosophie für eine Reflexion auf das Negative. In seinem Spätwerk unterscheidet er eine »negative« von einer »positiven« Philosophie. Die negative Philosophie trachtet danach, »mit dem Begriff über den Begriff in das Sein hinaus[zu]kommen«13. Negativ ist sie, »weil bloß mit Wegschaffen beschäftigt«14. Ihr auf dem Feld der diskursiven Vernunft situiertes Projekt wäre »der fortwährende Umsturz der Vernunft«15. Die andere, positive Philosophie, die immer schon über alles Diskursive hinaus wäre und am »absolut Überseienden«16 teilhätte, begreift dieses Überseiende als ein Unbestimmtes, »was Alles vom Begriff Herkommende niederschlägt, vor dem das Denken verstummt«17. Diese zweite, positive Philosophie »müßte sich gleich entschließen, auszugehen von dem, was außer der Vernunft ist, um von diesem zu dem zu gelangen, was über dem Sein ist«18. Das höchste Sein selbst zeichnet sich für Schelling, der hier eher die Tradition der negativen Theologie als Parmenides und Platon beerbt, durch eine Ex-Struktur aus: durch eine negativistisch interpretierte Abständigkeit von sich selbst, durch ein SichEntäußern oder Sich-Offenbaren. Positive und negative Philosophie, die sich als Optionen gegenseitig ergänzen und jeweils für sich nicht bestehen könnten, zielen bei Schelling also letztlich auf ein Negatives, auf eine als Ungrund allen Seins verstandene Freiheit. Im Gefolge Hegels und Schellings interpretiert sich die philosophische und kulturelle Moderne weitgehend in Begriffen der Negation. Geschichtsphilosophisch definiert sich die Moderne ebenso als Epoche des »Nicht mehr« wie des »Noch nicht«: Sie ist einerseits nachnatürlich, nachreligiös, nachtraditional, andererseits aber noch nicht bei dem angekommen, was sich an die Stelle von Natur, Religion und der substantiellen Sittlichkeit vormoderner Traditionen setzen könnte. Die Moderne begleitet der Verdacht einer gescheiterten Translatio: dass sich buchstäblich nichts an die Stelle dessen gesetzt haben könnte, was durch die 10 Vgl. Michael Theunissen: Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt/Main 1978. 11 G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 23. 12 Ebd. 13 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Offenbarung 1841/42, hg. v. Manfred Frank, Frankfurt/Main 1993, S. 159. 14 Ebd., S. 152. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 114. 17 Ebd., S. 157. 18 Ebd., S. 110.

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Moderne überwunden wurde. Sie befindet sich in einer sie als Moderne konstituierenden Krise. Gleichzeitig vermag das Negative die Moderne aber auch zu orientieren. Wir leben nicht einfach nur in einer Zeit der Abwesenheit von Gründen und Begründungen, sondern in einer Zeit, in der diese Abwesenheit selbst als Grund zu fungieren vermag. Das Negative hat, wie schon Hegel wusste, eine normative Kraft, es negiert auch und zunächst Vorurteile und Dogmen, Zwänge und Determinationen. Es wird zum Utopischen in der Politik, zur Würde in der Ethik, zur Freiheit in der Gesellschaft. Als die beiden prominentesten Gestalten der Negativität in aktuellen Selbstverständigungsdiskursen können die Unbestimmtheit und ein ihr korrespondierendes Nichtwissen gelten. In den letzten Jahrzehnten lässt sich eine zunehmende Expansion von Semantiken der Unbestimmtheit und des Nichtwissens in der Philosophie, den Wissenschaften und in den Künsten beobachten. Prominent werden in diesem Zusammenhang Begriffe wie Differenz, Kontingenz, Ambivalenz, Überdeterminiertheit, Fraktalität, Unentscheidbarkeit, Unberechenbarkeit und Unübersichtlichkeit. Diese Konzepte sind nicht länger pejorativ konnotiert, sondern werden, wie Gerhard Gamm formulieren würde, »positiviert«19. In ihnen deutet sich ein Wissen darum an, dass alle Bestimmungen des Wissens und Handelns von einer Unbestimmtheit supplementiert werden. Unbestimmtheit erscheint hier als Bedingung der Möglichkeit und Unmöglichkeit alles bestimmten Wissens über das Wesen des Menschen, das moralisch angemessene Handeln, die Natur und die Gesellschaft. Die Philosophie der radikalisierten Moderne reflektiert darauf in Figuren wie der ›transzendentalen Obdachlosigkeit‹ bei Georg Lukács, dem ›Dunkel des gelebten Augenblicks‹ bei Ernst Bloch, dem ›Seinsentzug‹ im Denken Martin Heideggers oder in Jacques Derridas Rede von einem ›unendlichem Aufschub‹. Die Beiträge des vorliegenden Bandes wollen die begrifflichen Grundlagen der negativistischen Selbstbeschreibungen der Moderne klären. Auf die Rolle der Negativitätssemantik in der Selbstverständigung des modernen Denkens ist von der Forschung bereits verschiedentlich hingewiesen worden20, ohne dass jedoch ihre begriffliche Strukturen, ihr logischer Status und die Bedingungen ihrer Konstitution hinreichend geklärt worden wären. Die hier vorliegenden Untersuchungen verstehen sich als – nicht zuletzt philosophiehistorisch ausgerichtete – Arbeit 19 Vgl. Gerhard Gamm: Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang der Moderne, Frankfurt/Main 1997. 20 Vgl. etwa Harald Weinrich (Hg.): Positionen der Negativität. Poetik und Hermeneutik Bd. 6, München 1975; Richard J. Bernstein: »Negativity. Theme and Variations«, in: Praxis International 4/1981, S. 87-100; Michael Theunissen: »Negativität bei Adorno«, in: Adorno-Konferenz, hg. v. Ludwig v. Friedeburg und Jürgen Habermas, Frankfurt/Main 1983, S. 41-65; Wolfgang Bonsiepen: »Artikel Negation, Negativität«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Basel 1984, Sp. 671-686; Theo Kobusch, »Artikel Nichts, Nichtseiendes«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, ebd., Sp. 805-836; Thomas Rentsch: Negativität und praktische Vernunft, Frankfurt/Main 2000.

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an diesem Desiderat. Dabei soll einerseits der geistesgeschichtliche Hintergrund des modernen Negativitätsdenkens ausgeleuchtet werden; andererseits wird es darum gehen, die »negative Infrastruktur« grundlegender Begriffe wie Subjektivität, Sozialität und Sprache freizulegen, welche die Philosophie der Moderne zu Medien ihrer Reflexionsarbeit erhoben hat. Systematisch lassen sich die Beiträger von der Hypothese eines intrinsischen Zusammenhangs zwischen »Negativität«, »Unbestimmtheit« und »Nichtwissen« leiten: In der Negativierung fundamentaler philosophischer Begriffe und Reflexionsformen spiegelt sich die Erfahrung eines irreduziblen Entzugs, einer Unversicherbarkeit oder eines Unbestimmtwerdens der Struktur der Selbst- und Weltbezüge in der Moderne. »Ortlosigkeit des Subjekts«, »Zerstreuung der Sprache« und »Unwahrscheinlichkeit sozialer Ordnung« sind Beispiele, an denen dieser Zusammenhang näher entfaltet wird. Kein anderer Denker hat sich in seinem Werk der Exploration des Zusammenhangs von Negativität und Unbestimmtheit so intensiv gewidmet wie Gerhard Gamm. In seinen Monographien Wahrheit als Differenz21 und Flucht aus der Kategorie22 liest er die Schlüsseltexte der philosophischen und gesellschaftstheoretischen Moderne von Hegel über Schelling, Nietzsche, Heidegger, Wittgenstein, Adorno bis zu Bourdieu und Luhmann als Versuche einer Auseinandersetzung mit einem Unbestimmtheits-Paradox: Die Moderne wird als das Bemühen rekonstruiert, jenes Unbestimmte zu denken, das die ordnende Arbeit des Begriffs erst möglich macht, sich der Arbeit dieses Begriffs selbst aber permanent entzieht. Auf der Suche nach dem Unbestimmten versuchen die Begriffe der modernen Philosophie permanent, ihre eigenen Grenzen zu sprengen: »Die Kategorie als Einheit, worin Sein und Selbst, Begriff und Sache usf. übereinkommen, verliert ihre Bindungskraft: Begriffe und Zeichen, Bilder und Symbole sind auf der Flucht aus der Kategorie.«23 Der Darmstädter Philosoph konzipiert eine umfassende Logik und Semantik des Unbestimmten, die ihren Ausgang bei Fichte, Hegel und Schelling nimmt, welche manchen Philosophiehistorikern immer noch zu Unrecht als Großmeister der Bestimmung gelten. Er legt in minutiöser Weise eine »im Untergrund des 19. Jahrhunderts wirksame Dekonstruktionsenergie« frei, »welche die Entmachtung der kategorialen Synthesis betreibt«24 und entschlackt so die klassische deutsche Philosophie von einer inzwischen ebenso klassischen Vorurteilsstruktur. Am Leitfaden der Schellingschen Hegelkritik entwirft er das Programm einer »Positivierung des Unbestimmten«25, das die begründende und zugleich grundstürzende Macht des Ambivalenten nicht weiter als Mangel an Sein und Erkenntnispräzision begreift. Analog zur physikalischen Unschärferelation Heisenbergs er21 G. Gamm: Wahrheit als Differenz. Studien zu einer anderen Theorie der Moderne, Berlin 22002. 22 G. Gamm: Flucht aus der Kategorie. 23 Ebd., S. 67. 24 Ebd. 25 Ebd., S. 212ff.

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scheint das Unbestimmte hier auch auf dem Feld der Philosophie als Gipfel aller distinktiven Präzision. Gamm schreibt damit die von Nietzsche bis zu Adorno reichende Tradition einer Kritik der identitätslogischen Auffassung von Vernunft, Subjekt und Gesellschaft fort. Analytisch schärfer als seine Vorläufer fragt er, in wessen Namen diese Kritik möglich und notwendig ist. In Detailuntersuchungen wird Licht in Abgründe geworfen, die sich der Philosophin bei der Reflexion über Ränder, Rahmen, Kontexte, Horizonte, Hintergründe und Zwischenräume eröffnen, welche ihr Denken ermöglichen und gleichzeitig immer wieder neu in Frage stellen. Dem Zusammenhang von Unbestimmtheitssemantik und Negativitätsdenken geht Gamm in zwei neueren Aufsatzsammlung weiter nach: Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten26 sowie Der unbestimmte Mensch. Zur medialen Konstruktion von Subjektivität27. Philosophiehistorisch hat er die Negativierungsbewegung des Subjektivitätsbegriffs in der Moderne in dem Band Der Deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling28 thematisiert. Der Einfluss negativistischer Reflexionsformen auf die moderne Sozialphilosophie wird in den zusammen mit Andreas Hetzel und Markus Lilienthal verantworteten Interpretationen. Hauptwerke der Sozialphilosophie29 untersucht. Zwei neuere Editionen widmen sich schließlich den Unbestimmtheitssemantiken der Technik30 und der Kunst31. Die folgenden Beiträge, die aus Anlass des 60. Geburtstags von Gerhard Gamm verfasst wurden, sind wesentlich von den erwähnten Arbeiten inspiriert und suchen auf vier theoretischen Schauplätzen das Gespräch mit ihnen. In einen mit Gesichter des Negativen betitelten ersten Hauptteil fallen Fragen nach der begrifflichen Infrastruktur von Negativität und Unbestimmtheit. Emil Angehrn geht hier zunächst dem Zusammenhang beider Begriffe im Kontext der philosophischen Hermeneutik nach. Er zeigt, dass die hermeneutischen Schlüsselkonzepte des Sinns und des Verstehens immer schon mit ihren Gegenbegriffen, dem Nichtsinn und dem Nichtverstehen verschränkt sind. Für die Hermeneutik ergibt sich Sinn erst aus einem »Widerstreit mit seinem Anderen«.

26 G. Gamm: Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten, Frankfurt/Main 2000. 27 G. Gamm: Der unbestimmte Mensch. Zur medialen Konstruktion von Subjetivität, Berlin 2004. 28 G. Gamm: Der Deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling, Stuttgart 1997. 29 Gerhard Gamm/Andreas Hetzel/Markus Lilienthal: Interpretationen. Hauptwerke der Sozialphilosophie, Stuttgart 2001. 30 Gerhard Gamm/Andreas Hetzel (Hg.): Unbestimmtheitssignaturen der Technik. Eine neue Deutung der technisierten Welt, Bielefeld 2005. 31 Gerhard Gamm/Eva Schürmann (Hg.): Das unendliche Kunstwerk. Von der Bestimmtheit des Unbestimmten in der ästhetischen Erfahrung, Berlin 2007.

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Ausgehend von Gamms Diagnose einer Flucht ins Soziale in der neueren postanalytischen Philosophie untersucht Jens Kertscher am Beispiel der Interpretationstheorie von Donald Davidson mögliche Konsequenzen dieser Flucht. Kertscher konzentriert sich dabei auf die auch den nachkantischen Idealisten nicht fremde These von der vorgängigen Intersubjektivität der Sprache als Möglichkeitsbedingung von Sprechen und Denken. Davidsons Position erweist sich dabei nicht zuletzt deshalb als attraktiv, weil sie der Bestimmtheitsforderung des Wissens genügen kann, ohne einerseits den Versuchungen des Idealismus zu erliegen und ohne andererseits im Skeptizismus zu verharren. Gernot Böhme verortet die Frage nach dem Negativen zwischen antiker und Hegelscher Dialektik, wobei letztere das Negative immer nur als vorläufige Stufe in einem Prozess der Identitätsbildung zulasse. In ihrer sokratischen Form, die auf der Unhintergehbarkeit des Nichtwissens beharre, wäre Dialektik demgegenüber zu retten. Ausgehend von einem (mit Kierkegaard interpretierten) Sokrates deutet sich für Böhme eine Möglichkeit der Positivierung des Negativen an, die sich einerseits in einer Besonnenheit der Erkenntnisansprüche, andererseits im »Neinsagen-Können als Grundkompetenz moralischen Verhaltens« ausdrücke. In diesem Zusammenhang betont der Beitrag das humanisierende Potential des Nichtwissens etwa in biotechnischen Kontexten. Die Negativität von Sprache und Kommunikation steht im Mittelpunkt der Überlegungen von Andreas Hetzel. Ausgehend vom negativistischen Sprachdenken der antiken Rhetorik, das um eine grundlose Kraft des Überzeugens kreist, thematisiert sein Beitrag einen latenten Negativismus in der Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts. Dabei wird zunächst gezeigt, dass auch objektivistische sprachtheoretische Positionen wie der Strukturalismus, die generative Transformationsgrammatik und die analytische Philosophie nicht ohne negativistische Theoriefiguren auskommen. Anschließend wird Georges Batailles Kommunikationstheorie als vielleicht konsequentester Versuch rekonstruiert, die Negativität der Rede zu denken. Eine zweite Textrubrik steht unter dem Titel Negativität als Unbestimmtheit in Kunst und Wissenschaften. Den Anfang macht hier Dieter Mersch mit einem Beitrag zum Dingbegriff in der zeitgenössischen Philosophie und Kunst. Das Ding wird in seinem Verhältnis zur Sprache untersucht und als Entzugsfigur vorgeführt, die in keiner möglichen Symbolisierung aufgeht. Die Gegenwartskunst macht sich, wie Mersch weiter zeigt, das Oszilieren der Dinge zwischen Vertrautheit und Andersheit, Präsenz und Nicht-Präsenz immer wieder zu nutze, um auf ihr eigenes Verhältnis zum Symbolischen zu reflektieren. Der Beitrag von Marc Ziegler verortet die Einbildungskraft in einem engen Kontext zu Gerhard Gamms Philosophie der »bestimmten Unbestimmtheit«. Das Imaginäre wird als eine Vermittlungsinstanz zwischen Begriff und Bild, Ding und Denken, Sinn und Sinnlichkeit gedacht, an welcher die Paradoxien und Aporien der modernen Subjektivität auf prominente Weise ablesbar werden. Die Darstellung der modernen Einbildungskraft folgt hierbei einer chiastischen »Seman-

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tik des Unbestimmten«: Sie bezieht die Affirmativitäts- und Negativitätsfiguren von An- und Abwesenheit, Etwas und Nichts sowie von Endlichkeit und Unendlichkeit im antinomischen Modus einer wechselseitigen Voraussetzung und Ausschließung aufeinander. Das sprachlich und gesellschaftlich, technisch und künstlerisch imprägnierte »radikale Imaginäre« (C. Castoriadis) kann vor dem Hintergrund dieser Diagnose als das Ereignis der Moderne schlechthin angesprochen werden. Im Beitrag von Jan C. Schmidt wird die Unbestimmtheit anhand eines Teilbereichs der Physik erörtert – eines Bereichs, den man als nachmoderne Physik bezeichnen könnte. Nachmoderne Physik umfasst die Chaos-, Katastrophen-, Selbstorganisations- und Komplexitätstheorien sowie die Fraktale Geometrie und die Synergetik; sie ersetzt die klassisch-moderne Physik nicht (klassische Physik plus Quanten- und Relativitätstheorie), sondern ergänzt und erweitert sie. Die Unbestimmtheit tritt hier in doppelter Hinsicht hervor. Sie betrifft einerseits die Objekte oder Gegenstände, also das Natur- und das Technikverständnis (»ontologische Unbestimmtheit«). Andererseits findet sich die Unbestimmtheit auch im Wissen und in den Methoden, also im Wissenschaftsverständnis (methodologische und epistemologische Unbestimmtheit). Das Verhältnis von Unbestimmtheitssemantik und nachmoderner Physik untersucht auch Doris Vera Hofmann. Kant und Wittgenstein haben sich aus der Perspektive Hofmans in ihrer Kritik am Primat des Wissens um eine entscheidende epistemologische Horizonterweiterung verdient gemacht, indem sie die philosophische Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Gewissheitsmodi mit sehr verschiedenartigen Rechtfertigungsdiskursen quer zur Dichotomie zwischen Wissen und Nichtwissen lenkten. Durch den Aufweis ihrer praktischen Grundlage wurde die Rechtfertigung aus der Beschränkung auf einen theoretischen Rahmen befreit und das jeweilige Ende der Begründung auf eine unbegründete Handlungsweise gegründet. Diese »Fundierung« aber hat Konsequenzen für die Rechtfertigungsdiskurse: Auch ihnen kann man nicht auf den Grund kommen, indem man lediglich ihre Begründungen analysiert und prüft, sondern indem man deren Ende untersucht. Der Beitrag versucht, im Ausgang von Kant und Wittgenstein die verschiedenen Spielarten von Gewissheit und deren Rechtfertigung aus ihrem unterschiedlichen Zuendekommen des Begründens heraus zu interpretieren. Michael Frayns Drama Copenhagen, das den weltgeschichtlich relevanten Verzicht Heisenbergs thematisiert, die Möglichkeit einer nuklearen Kettenreaktion mathematisch zu ergründen, dient exemplarisch dazu, die vielfältigen Dimensionen der auf Abbruch gegründeten menschlichen Gewissheit zu illustrieren. Die dritte Textgruppe des Buches fragt nach der Rolle des Negativismus für die philosophische Anthropologie. Georg Zenkert zeigt in seinem Beitrag, wie das ursprünglich theologische Gebot ›Du sollst dir kein Bildnis machen‹ in das erste Gebot einer negativen Anthropologie transformiert wird, so etwa bei Nikolaus von Cusa und Pico della Mirandola. Deren negative, den Menschen als nicht

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festgestelltes Wesen begreifenden Anthropologien finden ihren normativen Niederschlag dann später in Kants Konzept menschlicher Würde. Ausgehend von Gerhard Gamms Der unbestimmte Mensch konfrontiert Jutta Georg-Lauer die dort entwickelte Semantik der Unbestimmtheit des Menschen mit Nietzsches höherer Moral des Übermenschen, die als strebensethischer Fluchtpunkt der tragischen Bejahung verstanden werden kann. Es zeigt sich, dass Nietzsches antihumanistischer Einspruch gegen das human gezähmte Tier Mensch, welches seine Triebe und Instinkte verleugnet, für eine Ethik der Unbestimmtheit des Menschen keine relevante Orientierung bietet, da der Übermensch für Stärke und Autarkie steht und keine Konzeption ist, die einer zukünftigen Entwicklung des Humanismus zuarbeitet. Der Beitrag von Reinhard Heil geht der Frage nach, inwiefern der Fortschritt im Bereich der sogenannten Biotechnologien eine Bedrohung für das Selbstverständnis des Menschen darstellt. Als kritische Folie dienen dabei die Ansätze Helmut Plessners, Gerhard Gamms und Slavoj Žižeks. Der erste Teil des Aufsatzes führt Gamms Begriff der »Unausdeutbarkeit des menschlichen Selbst« ein. Im zweiten Teil werden Plessners Überlegungen zur menschlichen Natur (homo absconditus) dargestellt und seine Diagnose der sich aus dem biologischen Fortschritt ergebenden Herausforderungen. Der dritte Teil rekonstruiert Gamms Kritik überkommener Konzepte menschlicher Würde und stellt seinen eigenen Würdebegriff vor. Der letzte Teil schließt an Überlegungen Žižeks an und plädiert für ein Fortschreiben der Aufklärung und für ein Verständnis der menschlichen Subjektivität als, von der Biotechnologie nicht zu bedrohende, reine Form. Mechthild Hetzel schreitet in ihren Ausführungen die Grenzen zwischen Mensch und Tier ab. Sie geht von der Analyse einer vertrauten Situation aus: Jemand wird von einem Tier angeblickt. In diesem Blick erschließt sich uns einerseits unser Begriff von Menschheit als einer exklusiven, sich über Eigenschaften bestimmenden Gemeinschaft; anderseits werden die Grenzen dieser Gemeinschaft im Angeblicktwerden durch das Tier prekär; als von diesem Blick gemeinte gelingt es uns gerade nicht, unsere Exklusivität gegenüber dem Tier aufrechtzuerhalten. Angesichts der Frage, die das Tier an uns adressiert, werden anthropologische und ethische Selbstverständlichkeiten erschüttert. Die vierte Textgruppe beschäftigt sich mit den normativen Implikationen einer Philosophie der Unbestimmtheit. Peter Niesen nimmt in seinem Beitrag die praktische Philosophie Immanuel Kants, genauer die Rechtsphilosophie, gegen den Vorwurf in Schutz, sie räume dem menschlichen Streben nach Glück keinen angemessen Rang ein. Das »angeborene« Menschenrecht auf Freiheit weise der Verfolgung des Glücks einen zwar nicht unbegrenzten, wohl aber intrinsischen und nicht-instrumentellen Wert zu. Neben Kants offizieller autonomietheoretischer Begründung des Freiheitsrechts lasse sich in seiner hedonistisch basierten Auffassung des Glücks eine weitere Verteidigungslinie ausmachen: Der Anspruch, sein Glück nach eigenen Begriffen zu verfolgen, kann auch auf den hedonistischen, und damit rezeptiven, kontingenten und unberechenbaren Charakter

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der je eigenen Konzeption des Glücks gestützt werden. Die strukturelle Unbestimmtheit solcher Konzeptionen rühre daher, dass niemand über die hedonischen Grundlagen des je eigenen Glücks verfügen könne. Diese These über das Wesen des Glücks kann zugleich Kants Kritik einer paternalistischen Politik untermauern, die die Menschen nach fremden Begriffen beglücken will. Alfred Schäfer nutzt die Konzepte der Unbestimmtheit und des ›leeren Signifikanten‹ (im Sinne von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe) für eine Reflexion der normativen Implikationen im zeitgenössischen Diskurs der Erziehungswissenschaften. Er zeigt, wie der Rekurs auf eine, im radikalen Sinne unbestimmte ›pädagogisch-praktische Wirklichkeit‹ genutzt wird, um »die imaginäre Einheit der Pädagogik als Handlungstheorie gegen die konstitutive Differenz des pädagogischen Raums« zu behaupten. Was die vielbeschworene pädagogische Wirklichkeit ist, entzieht sich konstitutiv. Den Kampf gegen Ungerechtigkeit entwickelt der Beitrag von Eva Schürmann im Lichte einer aufschlussreichen Unterscheidung zwischen dem Machbaren und dem Hinzunehmenden, nämlich als Revolte gegen das Gegebene und als Hoffnung auf die Gestaltbarkeit unserer Geschicke. Dabei zeigt sich, dass Faktisches und Fatales theoretisch nur schwer voneinander zu trennen sind, und es deshalb von praktischen Entscheidungen abhängt, wogegen wir uns – handelnd und deutend – auflehnen und was wir hinnehmen. Peter Wiechens schließlich stellt in seinem Beitrag, ausgehend von der Systemtheorie Niklas Luhmanns, der Diskurstheorie Ernesto Laclaus und dem Alteritätsdenken Emmanuel Levinas’ die Frage nach dem Verhältnis des Sozialen zum Ethischen. Das Ethische erweist sich dabei einerseits als Unbestimmtheitsstelle des Sozialen, als Ort der Abständigkeit des Sozialen von sich selbst. Andererseits wird eine grundlegende Differenz zwischen dem Sozialen und dem Ethischen, konstatiert, die es unmöglich mache, den Ort des Ethischen etwa ausgehend von einer soziologischen Systemtheorie zu bestimmen. Erst eine sich dekonstruktiver Verfahrensweisen bedienende Sozialtheorie vermöchte dem spannungsvollen Verhältnis des Ethischen und Sozialen gerecht zu werden. Die Beiträge des Bandes gehen zurück auf Vorträge im Rahmen der von der Fritz Thyssen-Stiftung geförderten Tagung Nicht Nichts. Das Negative und das Affirmative, die zu Ehren von Gerhard Gamms 60. Geburtstag am 08.12.2007 von Eva Schürmann und Andreas Hetzel an der Technischen Universität Darmstadt ausgerichtet wurde. Der Fritz-Thyssen-Stiftung danke ich für die finanzielle Unterstützung dieser Tagung sowie für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses für den vorliegenden Band.

I. Gesichter des Negativen

Negativistische Hermeneutik. Zur Dialektik von Sinn und Nichtsinn EMIL ANGEHRN

1. Der Sinn und sein Anderes Das Vertrauen in den Sinn ist brüchig geworden. Auf vielfachen Vorbehalt trifft die Überzeugung, dass Verstehen sich von selbst verstehe und wir den Sinn der Dinge zu erkennen vermögen. Der Einspruch wendet sich sowohl gegen die Intuition, dass alles voll Sinn sei, wie gegen eine affirmative Hermeneutik, die vom Apriori des Verstehens ausgeht und die Universalität unseres verstehenden Weltbezugs behauptet. Der Einspruch wird in unterschiedlicher Gestalt und Radikalität formuliert: Teils wird die Nichtselbstverständlichkeit des Verstehens betont, werden die Grenzen des Sinns aufgewiesen und seine Totalisierung als falsche Hypostasierung angeprangert, teils wird das Nicht- und Missverstehen als primär, als Ausgangspunkt menschlicher Sinnverhältnisse reklamiert, teils wird die Verstehbarkeit der Welt und unserer selbst prinzipiell in Frage gestellt. Klassischer Hermeneutik wird vorgehalten, dass sie das Fremde und Andere nicht in seiner Eigengeltung respektiere, sondern es im Furor des Verstehenwollens1 vereinnahme und die Differenz des Nichtverstehens nivelliere. Sinn und Verstehen verlieren in solchen Gegenperspektiven ihre Fundamentalität und ihren eminenten Rang. Wir können diese Gegenwendung dahingehend zusammenfassen, dass dasjenige, womit wir in unserem Wirklichkeitsbezug zu tun haben, nicht einfach der Sinn, sondern der Sinn im Widerstreit zu seinem Anderen ist. Das Spannungsverhältnis zwischen dem Sinn und seinem Anderen – den Grenzen des Sinns, 1

Vgl. Jochen Hörisch: Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik, Frankfurt/Main 1988.

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dem verdeckten Sinn, dem Nichtsinn, dem Widersinn – umreißt den Raum, in dem sich menschliches Verstehen bewegt. Hermeneutik, die Kunst der Deutung, ist die Kunst des Verständlichmachens dessen, was uns nicht offen vor Augen liegt und umstandslos verstehbar ist – durch Übersetzung, Explikation und Interpretation, durch die Arbeit an den Grenzen des Sinns. Von allem Anfang an hat Hermeneutik nicht nur mit dem Aufnehmen und Übermitteln von Sinn, sondern mit den Schwierigkeiten des Verstehens, mit den Schwellen zwischen Eigenem und Fremdem, der Kluft wie dem Übergang zwischen Sinn und Nichtsinn zu tun. Nach Schleiermacher ist Verstehen grundsätzlich ein Beheben von Missverständnis; basal ist darin nicht das Verstehen, sondern das Nichtverstehen. Der Mensch hat nicht nur mit dem Offenbarsein und Vernehmen, sondern je schon mit dem Fehlen und Entgleiten von Sinn zu tun. Das Phänomen des Sinns gewinnt sein Profil vor dem Hintergrund des bedrohten Verstehens, der Sinnleere und des Nichtverstehbaren. Der Titel, den Merleau-Ponty einer Aufsatzsammlung gegeben hat: Sens et non-sens2, kann als Titel für den Antagonismus stehen, der für menschliches Verstehen konstitutiv, sowohl unhintergehbar wie unüberwindbar ist. Nun ist damit ein Gegenakzent gegen eine bestimmte, affirmative Tendenz der Hermeneutik gesetzt. Doch bleibt die Perspektivenverschiebung zunächst unterbestimmt und offen. Das Verhältnis zwischen dem Sinn und seinem Anderen, das an die Stelle des Sinn-Monismus tritt, bedarf nach zweierlei Hinsicht der genaueren Bestimmung. Zu differenzieren ist einerseits das Andere, das dem Sinn entgegengestellt wird und das in den Kritiken am hermeneutischen Universalismus als Differenz, Alterität oder Negativität, als Fremdes oder Nichtverstehbares, als Nichtsinn oder Widersinn zur Geltung kommt. Unterschiedliche logische und phänomenologische Gestalten des Anderen gehen in die Dynamik von Sinnstiftung und Sinnvernehmen ein. Zu präzisieren ist zum zweiten, wie das Verhältnis zwischen dem Sinn und seinem Anderen als solches zu bestimmen ist – wieweit wir hier mit einem Ergänzungsverhältnis, einem dialektischen Wechselspiel, einem polaren Antagonismus oder einer Verweisung unter der Dominanz der einen Seite zu tun haben. Diesen Fragen möchte ich in den folgenden Überlegungen nachgehen.

2. Formen der Andersheit Das Andere des Sinns begegnet in heterogenen Formen und mit unterschiedlicher Radikalität. Schematisch können wir vier Typen auseinanderhalten: das Sinnfremde, das Unverständliche, den falschen Sinn, den Widersinn. Wir haben erstens mit Gegenständen zu tun, die grundsätzlich nicht zum Seinsbereich des 2

Maurice Merleau-Ponty: Sens et non-sens, Paris 1948 (dt. Sinn und Nicht-Sinn, München 2000).

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sinnhaft Verstehbaren gehören, zweitens mit an sich sinnhaften Gegenständen, deren Bedeutung uns aktuell nicht zugänglich und erschließbar ist, drittens mit Formen der Sinnverzerrung und -verhüllung, die nicht nur die Sinnrezeption behindern, sondern der Sinnproduktion selbst anhaften, schließlich mit Instanzen, die sich dem sinnhaften Verständnis nicht nur entziehen, sondern sich ihm widersetzen, den Sinn bestreiten. Wir können die Typologie auch so umschreiben, dass wir erstens mit dem Jenseits des Sinns, zweitens mit fremdem Sinn, drittens mit falschem Sinn und viertens mit negativem Sinn bzw. der Negation von Sinn zu tun haben. Die Herausforderung für die Hermeneutik besteht darin, dass wir in allen Fällen nicht einfach mit indifferenten Außenzonen des Verstehens, sondern mit einem Anderen zu tun haben, das in je spezifischer Weise unser Verstehen tangiert und in unser Verständnis der Welt und unserer selbst eingeht.

2.1 Sinnhafter und nicht-sinnhafter Weltbezug

(a) Das Andere zum Sinn – ontologisch-epistemologischer Hiatus Die grundlegendste und umfassendeste Dichotomie ist die zwischen dem Sinnhaften und dem Nichtsinnhaften. Sie lässt sich sowohl als ontologische Differenz von Gegenstandstypen wie als methodologische Differenz von Betrachtungsweisen formulieren. Meistens wird beides miteinander korreliert: Dualistische Konzepte haben die Differenz zwischen Geistes- und Naturwissenschaften so aufgefasst, dass die Dichotomie der Methoden (Verstehen und Erklären, idiographische Beschreibung und nomologische Deduktion) zwei getrennten Seinsregionen (materielle Körper und geistige Gebilde, Natur und Kultur) entspricht. Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass wir zwei grundlegend verschiedene Zugänge zur Welt kennen. Auf dem einen Weg begegnen wir Sachverhalten im Bereich der Natur, die wir von außen registrieren und in ihrer Beschaffenheit und ihrer Genese zu begreifen suchen, auf dem anderen haben wir mit Gegenständen der menschlichen Welt zu tun, die wir in irgendeiner Weise in ihrem Sinn zu verstehen suchen. Der Meteorologe bezieht sich anders auf die Messdaten zur Luftfeuchtigkeit als der Historiker auf ein Schriftstück im Archiv. Zwischen der Welt des Sinns und der Welt ohne Sinn besteht ein Hiatus: Würde man alle Bestandteile der Welt kennen, so könnte man – nach Laplace – ihren Verlauf und ihre Kombinatorik berechnen. Doch »einen Weltlauf berechnen heißt nicht, ihn verstehen« (H. Lotze). Solche Grenzen des Verstehens sind konstitutive Grenzen, nicht der kontingenten Beschränktheit unserer Sprachkenntnisse oder unseres kulturellen Horizonts geschuldet. Einen Text oder eine Affektäußerung können wir – im Prinzip – verstehen, den Aufbau eines Kristalls oder die Veränderung des Klimas nicht. Wir verstehen das Bild, nicht die Leinwand, auf der es gemalt ist.

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Allerdings sind sowohl die strikte Zweiteilung wie die Parallelführung von Methoden und Gegenstandstypen kontrovers diskutiert und vielfach problematisiert worden. Die scheinbar selbstverständliche Grenzziehung hat sich weder als eindeutig noch als unverrückbar erwiesen. Meist betrafen die Bedenken die Etablierung eines separaten Themen- und Methodenbereichs der geistighistorischen Welt; dagegen wurde gefordert, auch für die Erforschung kultureller Sachverhalte nomologisch-quantitative Methoden sowie funktionale oder kausale Betrachtungen einzusetzen. Doch auch nach der Gegenrichtung steht die Grenzziehung zur Diskussion. Nicht nur die menschliche Welt, die Welt überhaupt wird in emphatischen Konzepten als verstehbar, nach dem Vorbild eines Textes gedeutet. Die Figur der »Lesbarkeit der Welt«3 steht für die Utopie, Wirklichkeit überhaupt als Botschaft zu verstehen. Bemerkenswert ist, dass wir solchen Visionen nicht nur im Kontext mythisch-anthropomorpher Vorstellungen, sondern aktueller Naturforschung begegnen, etwa in der Beschreibung der Registrierung des menschlichen Genoms in Analogie zur Entzifferung einer Schrift und Dekodierung eines Textes. Unabhängig von solchen Projektionen und Problematisierungen bleibt zunächst die Differenz festzuhalten, die für unser spontanes Verständnis und unseren alltäglichen Gegenstandsbezug selbstverständlich ist. Wir verstehen eine Opernarie anders als einen Wasserfall. Wir haben im NichtSinnhaften eine erste Außengrenze, einen ersten Bezug zum Anderen des Sinns.

(b) Das Fehlen von Sinn Diese Verhältnisbestimmung muss keine rein negative sein. Eine Grenze wahrnehmen heißt nach Hegel die Grenze überschreiten, mit der anderen Seite zu tun haben. In zweierlei Weise kann der Bezug zum Anderen des Sinns seinerseits hermeneutisch relevant sein. Das Sinnlose wird sowohl als Defizit, als Fehlen von Sinn wahrgenommen wie es als Fundament und Herkunft des Sinns fungiert. Die Utopie einer lesbaren Natur oder einer Sprache der Dinge kann auch als Protest gegen das Gefühl der Fremdheit, der Verlassenheit des Menschen in einer sinnlosen Natur aufgefasst werden. Pascal hat das Erschrecken angesichts des ewigen Schweigens der unendlichen Räume evoziert.4 Hegel hat in seinem Reisebericht aus den Berner Alpen, fern aller romantischen Verklärung des Zuhauseseins in der Natur, das Geistlose, dem Menschen zutiefst Fremde der Gebirge beschrieben.5 Sartre hat in La Nausée die Sinnlosigkeit des bloßen Daseins des 3 4

5

Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/Main 1986. »Le silence éternel de ces espaces infinis m’effraie« (Blaise Pascal: Pensées, Fragment 206 [101], in: Œuvres complètes, Bibliothèque de la Pléiade, Paris 1954, S. 1113). Georg Wilhelm Friedrich Hegel: »Tagebuch der Reise in die Berner Oberalpen 1796«, in: Karl Rosenkranz, G.W.F. Hegels Leben [1844], Darmstadt 1969, S. 470489.

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Naturalen vor Augen gestellt. Immer verbindet sich das kognitive Nichtdurchdringen mit einer grundlegenden existentiellen Herausforderung, einer abgründigen Andersheit und Fremdheit für den Menschen. Dass wir in zwei Welten leben, ist nicht einfach als Grundverfassung des Menschseins festzustellen. Menschliches Verstehenwollen und menschliches Sprechen ist auf das Ganze des Wirklichen gerichtet, will auf das Ganze ausgreifen. Die ontologisch-epistemologische Dichotomie bildet nicht das letzte Wort, sondern eine Irritation, eine Herausforderung und eine offene Frage für den Menschen.

(c) Vom Nichtsinn zum Sinn Das Sinnlose ist nicht nur das Andere. Hermeneutik ist gerade mit der Frage befasst, wieweit etwa die Stofflichkeit einer Äußerung nur als sinnfremde Voraussetzung oder als indirekt Sinnhaftes fungiert – wie etwa die Materialität der Schrift von der Dekonstruktion als ein selbst zu Interpretierendes aufgenommen wird oder das Räuspern im analytischen Gespräch seinerseits als Äußerung und Mitteilung verstanden wird. Mit Nachdruck hat gerade die psychoanalytische Theorie die Relevanz der Äußerlichkeit und Materialität für den Ausdrucks- und Verständigungsprozess geltend gemacht.6 Wichtige philosophische Interpretationen haben in dieser Überlagerung der Seinstypen und konzeptuellen Raster eine Pointe der Lehre der Psychoanalyse gesehen. Freuds eigene Theoriemodelle – so das topische und das dynamische Modell – bringen das Verhältnis zwischen Bewusstsein und Unbewusstem in Termini der Räumlichkeit und der Kraft zur Sprache und operieren mit dem Übergang zwischen heterogenen Seinsregionen und Denkformen. P. Ricoeur hat in der Transformation von Kraft in Sinn den Kern des zu explizierenden psychischen Geschehens gesehen; R. Rorty hat die härtere Begrifflichkeit der Mechanisierung bzw. des einheitlichen Kausalnetzes als Schlüssel der Freudschen Revolutionierung unseres Menschenbildes bestimmt.7 In eindringlichen Analysen hat B. Waldenfels die innere Einheit zwischen Naturalem und Sinnhaft-Mentalem, zwischen ›Begehren‹ und ›Bedeuten‹ als Dimension menschlicher Existenz aufgewiesen. Jede Fundierung des Sinns im lebendigen Dasein stößt auf das Problem, wie die ontologische Differenz mit dem Übergang der Sphären zusammenzudenken ist. Der Nichtsinn kann als wilder Sinn, als Saum und Vorstufe des Sinns, als Hintergrund des Sinns fungieren.8 6

7

8

Vgl. Emil Angehrn »Vom Sinn des Sinnlosen. Die Herausforderung der Psychoanalyse für die Philosophie«, in: Wolfram Mauser/Joachim Pfeiffer (Hg.): Freuds Aktualität (Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 26), Würzburg 2006, S. 85-96. Richard Rorty: »Freud und die moralische Reflexion«, in: ders.: Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays, Stuttgart 1988, S. 38-81 (S. 40ff., S. 44f.). Bernard Waldenfels: Vielstimmigkeit der Rede, Frankfurt/Main 1999, S. 78ff.

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Körperliche Verfassung, Trieb, Begehren, Wunsch, Absicht, reflektiertes Wollen bilden ein Kontinuum, mittels dessen Verstehen die Grenzen des Intentionalen und Sprachförmigen überschreitet. Das Sinnlos-Sinnfremde zeigt sich von schillernder Natur. Die Differenz zwischen Geräusch und Laut, bloßer Natur und Sinnsubstrat bleibt für die Hermeneutik eine wesentliche, im Horizont des Sinns zu reflektierende Grenze.

2.2 Der verdeckte Sinn: Das Ferne, Unverständliche, Fremde

(a) Graduelle Fremdheit Die zweite Form des Anderen zum Sinn ist dasjenige, was nicht an sich sinnfremd, aber in der konkreten Situation, für den konkreten Sinnrezipienten nicht oder nur partiell verstehbar ist. Es ist gewissermaßen der Normalfall der hermeneutischen Situation. Das Andere ist das Unverständliche, Fremde, Bruchstückhafte, Überkomplexe, das wir nicht problemlos in seiner Bedeutung verstehen können. Unterschiedlichste Gegenstände konfrontieren uns mit dieser Situation: unverständliche Gesten, stumme Monumente, alte Texte, fremde Rituale, undurchdringliche Geschichten. Es geht um eine Grenze des Verstehens, die idealtypisch durch die zeitliche, kulturelle, soziale Distanz zwischen den Polen der Sinnproduktion und der Sinnrezeption bedingt ist; hermeneutische Arbeit bedeutet das Sichabarbeiten an dieser Grenze, den Versuch der Vermittlung beider Seiten durch Überwindung der Fremdheit mittels Übersetzung, Rekonstruktion, Interpolation, Interpretation. Norm dieser Vermittlung ist die Idee eines adäquaten Verstehens, eines Zur-Deckung-Kommens zwischen inkorporiertem Sinn und nachvollziehender Deutung. Immer bewegt sich Verstehen im Raum dieses Mehr oder Weniger, wobei das Defizitäre im Sinnvernehmen zunächst als Index der Distanz bzw. Fremdheit des Verstehens gegenüber der Quelle des Sinns fungiert. Solche Fremdheit variiert graduell und umfasst eine breite Auffächerung vom Nahen und beinahe Verständlichen bis zum gänzlich Fremden. Nichtverstehen resultiert im einfachsten Fall aus Unkenntnis und wird durch zusätzliche Informationen behoben. Hermeneutische Arbeit steht unter der Zielvorgabe, Dunkelheit aufzuhellen und Verworrenes zu entwirren, Mehrdeutiges auszulegen und Fremdes ins eigene Verständnis zu integrieren. Das Unverstandene und Nichtverständliche erscheint zunächst im Zeichen eines zu behebenden Defizits.

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(b) Konstitutive Unverständlichkeit Dagegen beharren zahlreiche Konzepte auf der prinzipiellen Nichttotalisierbarkeit des Sinns. Sie betonen die nicht-transzendierbare Dialektik von Sinn und Nichtsinn, von Entbergung und Verhüllung, von Fremdem und Eigenem. Es gibt ein konstitutives Unverständliches und Nichtverstehbares als Moment des Sinnprozesses. Die Grenze der Verstehbarkeit wird an Verschiedenem festgemacht. Ein Aspekt ist die Unableitbarkeit des Anfangs. Das Sinngeschehen geht nicht auf in einem Prozessieren gemäß einem gegebenen Funktions- und Regelwerk, sondern schließt kreatives Hervorbringen und die Setzung von Neuem ein. Innovatorische Sinnstiftung ist nicht aus Vorausgehendem, sondern nur aus sich selbst und dem aus ihr Entstehenden heraus zu erfassen, in ihrer Genese wie ihrem Gehalt nie vollständig explizierbar. Verstehen kann nicht vom Nullpunkt ausgehen, sondern muss gewissermaßen immer schon unterwegs sein, mit den entsprechenden Zonen des Vorläufigen und Dunklen: Zuerst verstehen wir nicht, wir fangen an zu lesen (oder zu hören) ohne zu verstehen.9 Die Setzung von Neuem kann sich selbst nie vollständig transparent, in ihrem Ursprung gegenwärtig werden: Es gibt keine vollständige Reflexion, welche die Subjektstelle gleichsam von ihrer Vergangenheit, ihrem Grund her erhellte. Wie sich das Subjekt in seinem Sein in unableitbarer Vorgängigkeit gegeben ist, so entgleitet es sich im Versuch, den Anfang des eigenen Tuns zu beschreiben. Der Zentralpunkt der Perspektive bleibt ein blinder Fleck, konstitutiv für das Sehen, ohne diesem zugänglich zu sein. Wie der Konstitutionsgrund, so entzieht sich das Konstituierte: Uneinholbar sind dem Subjekt Ursprung und Abschluss gleichermaßen. Die Sinnstiftung kommt ebenso wenig zur Vollendung wie das Verstehen: Sprechen kommt nicht zur Deckung mit sich selbst, das Sagen bleibt hinter dem Meinen zurück, wie das Verstehen offen und ohne abschließende Identifikation bleibt. Hermeneutik betont die Unabschließbarkeit der Deutung; Dekonstruktion akzentuiert diese Offenheit – gegen die Hermeneutik – als eine, die nicht auf einen (sei es im Unendlichen gelegenen) konvergenten Fluchtpunkt gerichtet ist, sondern sich ins Viele und Heterogene zerstreut. Gemeinsam ist, dass jede Übersetzung, jede Auslegung, jede Neuschreibung ohne letzte Fassung und definitive Formel bleibt. In allen Versionen ist die Nichtidentität, die mit der Nichteinholbarkeit für das sprechende wie das verstehende Subjekt einhergeht, eine Grenze des Verstehens und ein Anderes des Sinns, mit dem das Subjekt in sich wie in seinem Gegenstand 9

Vgl. Eckhard Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit. Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Jacques Derrida, Paul de Man, Frankfurt/Main 2000, S. 12ff. Nach Schumacher bildet die konstitutive Unverständlichkeit ein Charakteristikum der Modernität (in der Lyrik, aber auch im Roman und in der Philosophie) (Ebd. S. 56ff.). Vgl. Franz Roh, Der verkannte Künstler. Studien zur Geschichte und Theorie des kulturellen Missverstehens, München 1949 (Neuausgabe Köln 1993).

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konfrontiert ist. Sinn ereignet sich zwischen Offenbarung und Verbergung, Präsenz und Entzug. Das Nichtverstehbare ist unabdingbares Moment – nicht nur Defizit, sondern auch Triebkraft – des Prozesses, in welchem Verstehen zustande kommt.10 Auch im gelingenden Ausdruck, im vollendeten Werk ist der Sinn brüchig11, unvollständig, mit Zonen des Dunkels und der Diffusion durchsetzt.

(c) Radikale Andersheit Auch wenn nicht aufhebbar, steht der bisher thematisierte Nichtsinn gleichsam in einem Kontinuum mit dem Sinn, als dessen Rand, unaufgehellte Herkunft, unauflösbarer Kern. Es ist der im Verstehen nicht assimilierbare Rest, der Stoff, der sich der sinnhaften Formung entzieht. In einer radikaleren Gestalt kommt das Andere dort in den Blick, wo es gleichsam ein Gegenprinzip, nicht nur das graduell Andere, sondern die Gegenpotenz zur Verstehbarkeit und Bedeutung darstellt, aber auch dort, wo es zum Fundament und umgreifenden Allgemeinen wird. Hier bildet nicht mehr der Sinn den Horizont, innerhalb dessen Lücken und Unklarheiten zu absorbieren sind. Es geht um ein Anderes, das nicht mehr umfangen ist vom Verstehenkönnen, sondern diesem gegenüber als prioritär und als Gegenmacht auftritt. Gegenkonzepte, die dem vereinnahmenden oder harmonistischen Charakter klassischer Hermeneutik widersprechen, wollen die Andersheit des Anderen, die Differenz im Verschiedenen stringenter zum Tragen bringen. Sie opponieren etwa dem Leitbegriff des Gesprächs, der die Herausforderung der interkulturellen Kommunikation, welche nicht von einem monistischen Verständnis überwölbt wird, nur unzulänglich zu fassen vermag.12 Gegen die ideale Ausrichtung auf die universelle Kommunikation und das allgemeine Einverständnis optiert eine Hermeneutik der starken Differenzen für einen Ausgang vom Dissens und von der irreduziblen Heterogenität der Perspektiven und Diskurse. Auch hier geht es darum, Übergänge zu schaffen, doch ohne sie dem Regulativ eines finalen Konsenses und einer Politik der Integration zu unterstellen.

10 Vgl. Friedrich Schlegel: »Über die Unverständlichkeit«, in: ders.: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801), Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2, hg. v. H. Eichner, München/Paderborn/Wien 1967, S. 363-372; Friedrich Nietzsche wendet sich gegen das Diktat des Verstehenkönnens, das sich der Verständigkeit der Vielen unterwirft: »Man will nicht nur verstanden werden, wenn man schreibt, sondern ebenso gewiss auch nicht verstanden werden«: Die fröhliche Wissenschaft, in: KSA 3, S. 633; vgl. KSA 1, S. 280. 11 Vgl. Urs Stäheli: Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie, Weilerswist 2000. 12 Vgl. Andreas Cremonini: »Sinn und Alterität. Zu den ›nicht-allergischen‹ Voraussetzungen des Verstehens in Gadamers Hermeneutik«, in: Brigitte Hilmer u.a. (Hg.): Anfang und Grenzen des Sinns, Weilerswist 2006, S. 210-221.

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Das Pathos des Fremden, das neuere Konzepte der Hermeneutik bestimmt, assoziiert sich mit einer Politik der Anerkennung, welche die Andersheit des Anderen ernstnehmen, als Differenz respektieren will. Ernst zu nehmen sind die Lücke, der Bruch im Verstehenskontinuum, die auch idealiter nicht als zu behebende verstanden werden. Am entschiedensten kommt diese Alterität dort zum Tragen, wo sie nicht einer strukturellen oder qualitativen Andersartigkeit – einer anderen Kultur, ästhetischen Sichtweise, Denkform – entstammt, sondern in der Differenz des personalen Anderen gründet. Hier geht es um die Anerkennung des anderen Subjekts, das dem verstehenden, aber auch dem sprechenden Subjekt gegenüber gleichen Rechts ist und dessen Stellung als Fokus und Ursprung des Sinns aushöhlt. In »La trace de l’autre« will Lévinas das Konzept eines radikalen Anderen zur Sprache bringen, das nicht, indem es sich zeigt, seine Andersheit verliert.13 Die »unüberwindliche Allergie« vor dem Anderen, welches anders bleibt, die er der okzidentalen Philosophie zuschreibt14, trifft in den Augen der Kritiker im Besonderen für die Hermeneutik und deren Apriori des Verstehens zu. Gegen sie haben verschiedene Autoren das Nichtverstehen nicht nur als initiale Irritation, sondern als bleibendes Moment und Impuls des Verstehens betont.15 Kulturen und kulturelle Arbeit gelten dann geradezu als Formen des Umgangs mit dem Nichtverstehen und der Widerspenstigkeit des Unverständlichen.16 Teils wird die nicht-absorbierbare Alterität nicht nur mit dem fremden Subjekt, sondern ebenso der Materialität und dem Dass des Erscheinens der Sinnobjekte zusammengebracht, die gleichsam ein Jenseits des bedeutungsmäßig Artikulierbaren darstellen; teils wird darin geradezu ein Anderes zur Hermeneutik statuiert.17 Die offene Frage ist zum einen, wieweit mit diesen Verschärfungen der Differenz in der Tat ein Anderes gegenüber der Hermeneutik zum Zuge kommt – oder deren eigenstes Anliegen und eigenste Erfahrung ausformuliert werden. Diese Frage wird von Vertretern der Hermeneutik und hermeneutik-kritischer Positionen – mit entsprechend divergierenden Selbst- und Fremdbeschreibungen – unterschiedlich beantwortet: Gegen den Einwand der Marginalisierung beharrt Gadamer darauf, dass gerade hermeneutisches Denken sich im Ernstnehmen der Offenheit, Pluralität und Differenz bewährt. In Frage steht zum anderen, wieweit 13 Emmanuel Lévinas: »La trace de l’autre«, in: ders.: En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger, Paris 1988, S. 187-202 (dt.: »Die Spur des Anderen«, in: ders.: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München 1983, S. 209-235). 14 Ebd, S. 188. 15 Vgl. Juerg Albrecht u.a. (Hg.): Kultur Nicht Verstehen. Produktives Nichtverstehen und Verstehen als Gestaltung, Zürich/Wien/New York 2005. 16 Michael Diers: »Lost in Translation oder Kannitverstan«, in: J. Albrecht u.a. (Hg.): Kultur Nicht Verstehen, S. 53-63; Dieter Mersch: »Gibt es Verstehen?«, ebd. S. 109-125. 17 D. Mersch: »Gibt es Verstehen?«, S. 122f.; vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz, Frankfurt/Main 2004.

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nicht auch die radikalste Differenz von einem Allgemeinen des Verstehens umgriffen, in einem unhintergehbaren Apriori des Kommunizierens und Sichverständigens fundiert ist, innerhalb dessen allein sie als Differenz figurieren kann. Auf diese Frage ist am Schluss zurückzukommen.

2.3 Falscher Sinn: Sinnverzerrung und Sinnverhüllung Ist im Zusammenhang der Hermeneutik von Negativität und Sinnentzug die Rede, so ist in prägnanten Fällen die so genannte Hermeneutik des Verdachts im Blick: eine Hermeneutik, die zugleich Kritik ist, nicht an der Begrenztheit des Verstehens, sondern an der immanenten Falschheit des Gegenstandes. Es ist eine Kritik an Sinngebilden, die mit einer falschen Prätention auftreten, sich als etwas anderes geben, als sie in Wahrheit sind. Das hermeneutische Problem der Konfrontation mit Sinngrenzen und Unverstandenem betrifft hier nicht das Verhältnis von Subjekt und Objekt, die zu überbrückende Distanz zwischen Sinnproduktion und Sinnrezeption, sondern die Letztere an ihr selbst: Im Spiel sind Sinngebilde, die für sich selbst bzw. für das in ihnen sich äußernde Subjekt dunkel und unverständlich sind. Die klassischen Fälle, anhand deren Ricœur den Begriff expliziert, sieht er bei den drei maîtres du soupçon Marx, Nietzsche und Freud: Das Klasseninteresse, der Wille zur Macht, das Unbewusste sind die verdeckten Autoren der Sinngebilde, deren Bedeutung den sprechenden Subjekten nicht verfügbar ist. Ideologiekritik, Genealogie, Psychoanalyse sind Modelle einer kritischen Hermeneutik, die sich an der inneren Intransparenz, den Prozessen der Sinnverzerrung und -verdeckung abarbeitet, um zugleich mit der Rekonstruktion der Falschheit ein Verstehen der verstellten Äußerung für den Beobachter, aber auch für das sich äußernde Subjekt selbst zu ermöglichen. Wenn Psychoanalyse und Ideologiekritik zwar Konstellationen sozialen Zwangs und psychischen Leidens ins Spiel bringen, so ist die damit illustrierte Figur doch nicht auf pathologische Verzerrung und kontingente Repression beschränkt. Die Undurchsichtigkeit der Äußerung für sich selbst gehört in einem gewissen Maße zur normalen Kommunikation und wird von Gadamer als der innerste Kern des hermeneutischen Problems herausgestellt. Dass ich mir in meinem Sprechen weder völlig klar über die eigene Intention bin noch zum restlosen Ausdruck meines Meinens gelange – sondern umgekehrt um das richtige Wort ringe, den gelingenden Ausdruck meiner selbst suche – , macht die normale Bedingung des Äußerns und Mitteilens aus. Wir suchen nicht nur bei anderen, sondern auch in uns selbst nach dem eigentlich Gemeinten oder Gewollten; wir sind im eigenen Verhalten und Äußern mit Interventionen des Fremden, mit der Wirkung von Motiven und Interessen konfrontiert, die uns nur partiell offen und deutbar sind. In verallgemeinerter Form begegnen wir dieser Sinnkonstellation in Ansätzen kritischer Hermeneutik, die darauf zielen, die Überlagerung und Verzerrung von Sinngebilden aufzulösen, um die darin inkorporierte Bedeutung adä-

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quater zur Sprache zu bringen. Stellvertretend genannt sei die Dekonstruktion, welche Texte und Traditionen in ihrer tradierten Gestalt und verfestigten Lesart aufbricht, um sie neu zu schreiben und ihr Verständnis zu korrigieren und anders zu artikulieren. Nicht zuletzt in der von der Dekonstruktion betonten Vermittlung von Innen und Außen, Materialität und Gestalt, Text und Kontext, Genesis und Bedeutung geht es um Interferenzen zwischen dem Sinn und seinem Anderen, die nicht einfach eine duale Zugangsweise veranlassen, sondern gewissermaßen als Interferenz in die Deutung eingehen, als Seite des Nichtsinns dem Sinn zugeschlagen werden. In dieser selbstbezüglichen – innerhalb der Sinnproduktion und im sinnbildenden Subjekt stattfindenden – Verflechtung des Sinns mit dem Nichtsinn ließen sich analoge Stufen der Fremdheit und Andersheit differenzieren, wie wir sie mit Bezug auf das kommunikative Verstehen, das Verstehen anderer Subjekte und das Verstehen der Welt, ausgemacht haben. Im konkreten Sinnprozess können sich beide Arten von Sinngrenzen überlagern und potenzieren. Wie sich das Sichverstehen und das Verstehen des Anderen in unserem Dasein vielfach durchdringen, so sind wir in beiden Dimensionen der Fremdheit und dem Unverständnis ausgesetzt. Die Selbstintransparenz, die auf Seiten des Sprechers wie des Hörers, des Autors wie des Lesers stattfindet, vertieft die Kluft der Kommunikation zwischen ihnen. Dass wir uns selbst Fremde sind, radikalisiert unsere Fremdheit gegenüber anderen.

2.4 Negativität und Widersinn

(a) Das Nichtseinsollende als Grenze des Verstehens Eine letzte Figur des Anderen zum Sinn – neben dem Sinnfremden, dem Unverständlichen und dem verzerrten Sinn – ist das dem Verstehen sich direkt Widersetzende, der manifeste Widersinn, das Sinnlose, Absurde. Das Verstehenwollen trifft auf einen Gegenstand, der sich dem sinnhaften Begreifen, der Integration in unser Verständnis widersetzt. Mit solchem Widerstand sind wir in beiden Dimensionen des theoretischen wie des praktischen Weltbezugs konfrontiert. Ein selbstwidersprüchlicher, aber auch ein unkorrekter, grammatisch inkonsistenter Satz höhlt die Möglichkeit des semantischen Nachvollziehens aus. Doch ist der hermeneutisch gewichtigere Fall im Bereich des Praktischen gegeben. Hier sind wir mit einem Negativen konfrontiert, das nicht verstanden werden kann, weil es als ein Nichtseinsollendes, als eines, das wir nicht wollen und nicht bejahen können, sich dem nachvollziehenden Begreifen verweigert. Das sinnlose Leiden Unschuldiger, das wir in keiner Weise rational rechtfertigen können, bleibt ein Stachel für die Erkenntnis. Dem Satz ›Verstehen heißt verzeihen‹ korrespondiert auf

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der Gegenseite eine Grenze des Verstehenkönnens: Das Unerträgliche, Unakzeptable, Unverzeihliche kann in gewissem Sinne nicht verstanden werden. Auch dieser Aspekt wird durch die psychoanalytische Lehre vom Unbewussten illustriert, sofern dieses nicht einfach für ein dem Bewusstsein Entzogenes, sondern ein unverfügbar Gemachtes, ein Ausgeschlossenes und Verdrängtes, steht. Ausgeschlossen ist es als eines, das aus bestimmten Gründen nicht eingestanden und erkannt werden soll: als Gegenstand der Unlust, der Scham, aber auch als eines, vor dem sich das Subjekt ängstigt, durch das es sich bedroht fühlt. Es ist ein Negatives, das nicht bewusst und nicht verstanden werden soll, weil es nicht sein soll. Psychoanalyse hat mit Pathologien nicht nur als defizitären Bewusstseinsformen, sondern als Formen des Leidens zu tun. In extremer Gestalt ist dieser Zusammenhang in Konstellationen des Traumas präsent: in Formen des Leidens und der Erschütterung, die so tief gehen, dass das Erlebte nicht vergegenwärtigt, nicht erinnert oder sprachlich dargestellt werden kann.18 Was das theologische Bilderverbot im Affirmativen, ist die Nichtrepräsentierbarkeit des absoluten Leidens im Negativen. Das Negative ist eines, das nicht primär als Grenze des Verstehens und Verstellung des Sinns, sondern als Unerträgliches, als ›Sinnloses‹ im praktischen Verständnis erfahren wird. Verstehen ist ebenso durch die existentielle – gegebenenfalls metaphysische – Sinnleere oder Sinnwidrigkeit herausgefordert wie durch die hermeneutische Irritation des Nichtverstehbaren. Im Kontext des Negativen erfahren wir exemplarisch die Verbindung zwischen dem semantisch-hermeneutischen und dem praktisch-normativen Sinnbegriff, dem Sinn als verstehbarer Bedeutung und dem Sinn als Wert oder Zweck: Das Sinnlose entzieht sich dem sinnhaften Verstehen (wie umgekehrt die zweckmäßig-sinnvolle Ordnung ein privilegiertes Kriterium rationalen Verstehens ist).

(b) Formen des Negativen Dieses Negative, das nicht nur ein kognitives oder logisches ist, kann in verschiedener Gestalt und Tiefe als Grenze des Sinns und der Sprache fungieren. Schematisch können wir drei Formen unterscheiden: die Endlichkeit der conditio humana, die Negativität der bestehenden Welt, das metaphysische und religiöse Negative.

18 Vgl. Wulf Kansteiner: »Menschheitstrauma, Holocausttrauma, kulturelles Trauma. Eine kritische Genealogie der philosophischen, psychologischen und kulturwissenschaftlichen Traumaforschung seit 1945«, in: Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3: Themen und Tendenzen, Stuttgart/Weimar 2004, S. 109-138; Joachim Küchenhoff: »Die Negativität des Symptoms und die Schwierigkeit, Nein zu hören«, in: Brigitte Hilmer u.a. (Hg.): Anfang und Grenzen des Sinns, S. 195-209; Rudolf Bernet: »Das traumatisierte Subjekt«, in: Matthias Fischer u.a. (Hg.): Vernunft im Zeichen des Fremden. Zur Philosophie von Bernhard Waldenfels, Frankfurt/Main 2001, S. 225-252.

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Die Endlichkeit bedingt, dass der Mensch in seinem Sein grundsätzlich mit dem Fehlen und Nichtsein konfrontiert ist. Das menschliche Sein ist durch Nichtganzheit, Nichtvollendung charakterisiert; in seinem Innersten wohnt ein Begehren, das des Anderen, der Erfüllung bedarf. Wenn der Mensch sich in grundlegenden Affekten seines Wesens innewird, so sind dies nach prominenten Theorien Negativaffekte (Angst, Unsicherheit, Verzweiflung, Mangel). Sein Streben geht darauf, dieses Defizit, die Leere zu überwinden. Nach Lacan folgt das Sprechen der Dynamik des Begehrens: Im Selbstausdruck, im Stiften von Sinn wollen wir die Ganzheit und Einheit gewinnen, die uns uneinholbar entzogen ist. Wir stoßen in uns selbst auf das Fehlen, das Entgleiten des Sinns. Reale Gewalt, erlebtes Unrecht, die zerrissene Welt sind Gestalten des Negativen außer mir, das mein Einswerden mit dem Sinn und mein verstehendes Einssein mit mir selbst verhindert. Das Subjekt unterliegt der Übermacht einer objektiven Versagung oder Destruktion von Sinn. Der Mensch ist nicht für sich Meister des Sinns; als sinnstiftendes wie als verstehendes Subjekt ist er auf den »entgegenkommenden Sinn«19 der Welt angewiesen. Gesellschaftliche oder säkulare Katastrophen, aber auch individuell erlebtes Leid können sich in Sinnzusammenbrüchen auswirken, die einem verstehenden Umgang mit dem eigenen Leben, mit anderen Menschen und der umgebenden Welt den Boden entziehen. Dies kann, wie es gerade die Hermeneutik des Verdachts illustriert, auch unterhalb der Schwelle bewusster, artikulierter Wahrnehmung der Fall sein. Leiden kann in Sprachlosigkeit, Bilderlosigkeit münden – wie die Heimkehrer des ersten Weltkriegs nach Benjamin verstummt aus dem Felde kamen, eines Vermögens beraubt, das dem Menschen wesentlich schien: des Vermögens, Erfahrung zu machen und sein Leben zu erzählen.20 In abgründigster Weise figuriert das Negative als Gegenpotenz des Logos, wo es in seiner metaphysischen Valenz reflektiert wird: als das Übel, das Böse, das Leiden. Seit je ist das malum als Provokation für den Vernunftglauben der Philosophie, aber auch für die religiöse Überzeugung von der Güte Gottes erfahren worden. Dass das Negative nicht denkbar und nicht sagbar ist, gehört zu den Grundfesten der metaphysischen Tradition. Parmenides statuiert die Nichtsagbarkeit des Nichts; Weltentstehungsmythen evozieren das bestimmungs- und ordnungslose Chaos als den namenlosen Ursprung aller Dinge. Besondere Virulenz gewinnt die Frage der Denkbarkeit des Bösen – einem historisch wie lebensweltlich unleugbaren Realen, das doch in monistischer Metaphysik auf ein Nichtseiendes und Negatives, die privatio boni, reduziert wurde. Das Böse denken und begreifen – d.h. es von einem Prinzip, einem Grund her verstehen – zu können, scheint das Denken, das von sich aus Denken eines Seienden, eines Positiven ist,

19 Vgl. Roland Barthes: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt/Main 1990. 20 Walter Benjamin: »Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II.2, Frankfurt/Main 1980, S. 438-465.

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in einen Widerspruch zu treiben. Das Böse ist nicht nur Fehlen, sondern Destruktion von Sinn, aktive Negation des Verstehens. Die Aporetik des Bösen im Kontext der Hermeneutik wird in aufschlussreicher Weise in den frühen Schriften von P. Ricoeur erörtert. Seine Hauptthese lautet, dass das Böse nicht aus einer anthropologischen (›eidetischen‹) Strukturanalyse abzuleiten ist, welche nur die menschliche Fehlbarkeit, d.h. die Möglichkeit, nicht die Wirklichkeit des Bösen erfassen kann. Nicht phänomenologisch, nur hermeneutisch, d.h. über den Umweg der Deutung von Symbolen und mythischen Erzählungen kann das kontingente, unableitbare Faktum des Bösen zum Thema werden. Hermeneutik kommt gerade als eine Denkform zum Tragen, welche dasjenige, was sich dem rationalen Denken als Nichtsinn entzieht, zu thematisieren vermag.21 In radikaler Weise macht Emmanuel Lévinas das Leiden als absolute Gegeninstanz zum Verstehen vorstellig: als das radikale Nein, das jeder prädikativen Verneinung zugrunde liegt und sich als stringente »Verneinung und Verweigerung des Sinns« äußert. Das sinnlose, unnötige Leiden ist dasjenige, was wir schlechthin nicht denken, nicht auffassen können, was sich der bewussten Synthese nicht nur entzieht, sondern aktiv widersetzt.22 Hier scheint eine äußerste Grenze des Verstehens berührt, ein letztes Anderes des Sinns, das weder positiv überschritten noch durch Negation in eine höhere Synthesis integriert werden kann.

3. Konstellationen des Gegensatzes von Sinn und Nichtsinn

3.1 Zwischen Dialektik und Negativismus In zunehmender Radikalität sind uns Figuren des Negativen, des Anderen zum Sinn begegnet, vom Nichtsinn über den verdeckten und verzerrten Sinn bis zur Verweigerung und Destruktion des Sinns. Mit ihnen treten die unterschiedlichen Konstellationen vor Augen, in denen menschliche Existenz sich im Spannungsverhältnis zwischen dem Sinn und seinem Anderen vollzieht. Mit der Gestalt und Radikalität des Anderen variieren die Figuren des Gegensatzes. Die Weichenstellung liegt darin, ob dieser im Konkreten ein Komplementaritätsverhältnis, einen Antagonismus, ein Denken vom Anderen her oder eine einseitige Vorherrschaft bedeutet.

21 Paul Ricoeur: Finitude et culpabilité I: L’homme faillible, II: La symbolique du mal, Paris 1960. 22 Emmanuel Lévinas: »La souffrance inutile«, in: ders.: Entre nous. Essais sur le penser-à-l’autre, Paris 1991, S. 100-112.

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(a) Dialektisches Wechselspiel Als komplementäres Wechselspiel prägt das Ineinander von Sinn und Nichtsinn unsere Lebenswelt. Ihm entspricht eine grundlegende Intuition, die von Heraklit bis Heidegger vielfach formuliert worden ist. Das Anwesende ist zugleich abwesend, das Abwesende anwesend; keine verstehbare Bedeutung ist ohne einen Hof des Unklaren und Bedeutungslosen, jedes Bestimmte ist vom Unbestimmten umfangen, alles Bewusste ruht auf einem Grund von Unbewusstem. In Frage steht nicht einfach die logische Beziehung omnis determinatio est negatio, sondern eine phänomenale Doppelseitigkeit, in welcher Licht und Schatten, Offenbarung und Entzug einander ablösen und ineinander spielen. Das Wechselspiel von Dunkel und Klarheit, Mehrdeutigkeit und Eindeutigkeit ist der Raum des Verlautens und Hörens von Sinn. Heidegger hat die unhintergehbare Doppelung zum Kern des Wahrheitsgeschehens gemacht und sie mit Heraklits Diktum physis kryptesthai philei zusammengebracht: Wenn der Prozess des Wirklichseins im Innersten ein Manifestationsprozess ist, so ist ein Hervorkommen und Sichoffenbaren im Spiel, das immer die Kehrseite des Sichzurücknehmens und Sichverbergens enthält. Wir können diese fundamentale Gegenläufigkeit in alltäglichen Verstehens- und Interpretationsprozessen erkennen, die immer zwischen Gelingen und Misslingen, Verstehen und Nichtverstehen oszillieren und in welchen jede Interpretation weiter drängt und jede Aufhellung neuen Explikationsbedarf erzeugt. Dies betrifft das Selbstverhältnis ebenso wie die kommunikative Verständigung und die Aneignung der kulturellen Welt. Jedes Aufweisen hat nach Heidegger den »Charakter der Zurückweisung von Verstellungen und Verdeckungen«, weil das Dasein »je schon erschlossen«, aber darin »zumeist immer schon ebenso gründlich missdeutet« ist.23 Allgemein ist dies das Spiel zwischen Sinnfindung und Sinnentzug, in dem sich Hermeneutik wie Dekonstruktion in konvergierenden wie disseminierenden Bewegungen vollziehen. Die Hervorbringung, Artikulation, Deutung und Transformation von Sinn ist sowohl durch die Verstehbarkeit der Wirklichkeit getragen wie durch das Andere des Sinns herausgefordert.

(b) Nichtdialektisierbare Differenz In schärferer Kontur kommt diese Gegenwendung dort zum Tragen, wo sich das Negative nicht in eine dialektische Synthese integrieren lässt, sondern als Anderes, Widerstrebendes und Grenze des Verstehens bestehen bleibt. Es steht außer Frage, dass die Macht des Verstehens in Fällen existentieller Erschütterung und traumatischen Leidens aufs Äußerste herausgefordert sein kann, vielmals in die Schranken gewiesen wird. Der Mensch ist in seinem Verstehenwollen mit end23 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 101963, S. 58.

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gültig Nichtverstehbarem, Nichtaneigenbarem konfrontiert. Der individuelle wie kollektive Prozess der Sinnbildung – der Auslegung und Gestaltung der Lebenswelt, der Formierung von Kulturen, Geschichtsbildern, Werthaltungen – enthält Zonen des Scheiterns. Sinnbildung ist nicht total, sondern bleibt bezogen auf den Nichtsinn als nicht-integrierbares Äußeres, als nicht-assimilierbare Materie, als »nicht-dialektisierbare Negativität«24. Gegenüber dem Wechselspiel von Sinn und Nichtsinn haben wir hier mit Formen des radikal Anderen, des absolut Negativen zu tun, die nicht wie in Hegels Überführung des dialektischen in spekulatives Denken als Moment eines übergreifenden Allgemeinen absorbiert, in ein Höheres ›aufgehoben‹ werden können. Adornos Negative Dialektik will Hegel genau in diesem Punkt25 die Gefolgschaft versagen und auf der »unbeirrten Negation«26 beharren, die sich dem Umschlag ins Positive verweigert – gegen die Vorstellung, dass der Durchgang durch den Schmerz des Negativen der Weg zu dessen Überwindung sei und »die Negation, indem sie weit genug getrieben wird und indem sie sich selbst reflektiert«, zum Medium des Positiven werde.27 Der Nichtsinn bleibt als unaufgehobener, unversöhnter das Andere für das Verstehen.28

(c) Denken vom Negativen her Allerdings ist auch in solchen Figuren nicht einfach der Bruch des Sinns, der Abbruch des Verstehens das letzte Wort. Das unversöhnte Negative ist dem Verstehen nicht einfach ein berührungslos Fremdes. Es ist vielmehr eines, dem das Verstehenwollen ausgesetzt ist, mit dem es im Bemühen um Sinn zu tun hat. Verstehen ist zur Auseinandersetzung mit dem Nichtverstehbaren, mit dem Nichtseinsollenden und Sinnlosen genötigt: Verstehen bemüht sich um sinnhafte Orientierung in der Kritik am Falschen und der Abwehr des Widersinns. Negati24 Urs Stäheli: Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie, Weilerswist 2003, S. 75. 25 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt/Main 1966, S. 25. 26 Ebd., S. 160. 27 T. W. Adorno: Metaphysik. Begriff und Probleme (1965), Frankfurt/Main 1998, S. 224. 28 Eine noch andere, gleichsam gegenläufige Figur des Nicht-Integrierbaren, die eine andere Antithese zur Dialektik bildet, wäre der positive Überschuss, die Grenzüberschreitung, die nicht mehr zum Selbst und zum Bestimmten zurückkehrt. Derrida hat im Kontext der Sinnproblematik eine solche Figur in Anlehnung an Batailles Idee der absoluten Verausgabung und der affirmativen Transgression gezeichnet, die sich der hegelschen ›Aufhebung‹ entgegensetzt und Hegels Totalisierung des Sinns untergräbt (wobei diese Totalisierung und das ihr zugrundliegende Sinnverlangen dem ›knechtischen‹ Bewusstsein der Phänomenologie entsprechen, während gerade das vorbehaltlose Opfer des Sinns im Zeichen der Souveränität steht): Jacques Derrida: »De l’économie restreinte à l’économie générale. Un hégélianisme sans réserve«, in: ders.: L’écriture et la différence, Paris 1967, S. 369-407.

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vistische Hermeneutik steht für das Konzept eines Verstehens, das solchem Denken aus dem Negativen entspringt.29 In solchen Konstellationen steht sowohl die Konstruktion wie die Rezeption von Sinn auf dem Spiel. Die Seite der Konstruktion kommt beispielsweise bei Nietzsche zur Sprache, wenn er die Entwicklung von Moral und Religion aus der Auseinandersetzung mit der »Sinnlosigkeit des Leidens« hervorgehen lässt.30 Ein analoges Motiv macht Jörn Rüsen in der Dynamik historischer Sinnbildung geltend, indem er auf das Motiv der Leidenserinnerung als Kern historischer Arbeit rekurriert: »Unvordenkliches und unbegriffenes Leiden als elementare Sinnlosigkeitserfahrung konstituiert in letzter Instanz die Anstrengung und die Leistung kultureller Sinnbildung.« »Leiden gebiert Sinn«, lautet dann die prägnante Formel für die kulturelle Dialektik von Sinn und Sinnentzug.31 Was bei Nietzsche einen tendenziell delegitimierenden Charakter hat, wird in negativistischer Sicht als fundierendes Strukturmerkmal aufgewiesen. Die Tiefenschicht des Sinnlosen, gegen welches das Verstehenwollen opponiert, ist keine Widerlegung, sondern ein Konstitutionsgrund von Sinn32. Mit der Verschärfung des Negativen wandelt sich das Verhältnis zum Nichtsinn. Mit der Radikalisierung des Gegensatzes wird nicht einfach die Trennung der Pole vertieft. In negativistischer Sicht ist das Negative nicht die bloße Grenze und das Andere, Äußere des Verstehens, sondern zugleich dessen Kern. Das Sinnlose wird zum Grund der Sinnstiftung und deutenden Auslegung. Dabei gehört es zur Herausforderung kultureller Arbeit, auch das Nichtverstandene, ja, das Nichtsassimilierbare und Nichterzählbare nicht einfach auszuschließen oder zu verdrängen, sondern es als Anderes im Horizont sinnhafter Verständigung zu erinnern und zu reflektieren. Nicht Sinnloses in Sinn zu verklären, ist die Aufgabe und wahre Leistung der Interpretation im Umgang mit Bösem und Leiden. Vielmehr geht es darum, es als Negatives – als dasjenige, was wir nicht wollen und nicht begreifen können – im Horizont unseres Verstehens und unserer Selbstverständigung zu bedenken, »das Sinnlose und Sinnwidrige in einer sol-

29 Zum Konzept des Negativismus vgl. Michael Theunissen: »Negativität bei Adorno«, in: Adorno-Konferenz 1983, hg. v. L. von Friedeburg und J. Habermas, Frankfurt/Main 1983, S. 41-65; Emil Angehrn u.a. (Hg.): Dialektischer Negativismus. Michael Theunissen zum 60. Geburtstag, Frankfurt/Main 1992. 30 F. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 5, S. 245-412, S. 411f. 31 Jörn Rüsen, »Sinnverlust und Transzendenz – Kultur und Kulturwissenschaft am Anfang des 21. Jahrhunderts«, in: F. Jaeger/J. Rüsen (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3: Themen und Tendenzen, S. 533-544 (S. 542). 32 Ursula Wolf hat die Sinnfrage als Antwort auf existentielle Aporien expliziert, d.h. auf die Einsicht in die Unmöglichkeit, im Leben ein vollendetes Glück zu erreichen: U. Wolf: Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, Reinbek 1999, S. 19ff., 123-139, 152ff. passim; vgl. Ernst Michael Lange: Das Verstandene Leben. Nachmetaphysische Lebensphilosophie. Vorschläge und Kritik, © Lange 2006: www.emlange.de.

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chen Weise zu fassen, dass man sich in ein sinnvolles Verhältnis zu ihm setzen kann«33.

3.2 Verstehbarkeit und Nichtverstehbarkeit der Welt

(a) Metaphysische Prämissen Nur verwiesen sei auf den umfassenderen Horizont, in den sich das hermeneutische Ausgespanntsein zwischen Verstehen und Sinnentzug hineinstellt. Es ist die umfassende Dichotomie der Erkennbarkeit und Unerkennbarkeit der Welt – die fundamentalphilosophische Frage, wieweit menschliches Verstehenwollen in die Welt ›passt‹, wieweit es mit der Wirklichkeit in einer prinzipiellen Korrespondenz steht. In der Geschichte sind dazu divergierende Konzepte entwickelt worden, die teils die wesenhafte Fremdheit, teils die grundlegende Entsprechung beider Seiten betonen. Letzteres ist die Grundüberzeugung klassischer Philosophie von der Metaphysik bis zur Transzendentalphilosophie. In exemplarischer Weise ist sie von Kant für den Bereich der Natur als transzendentales Prinzip der Urteilskraft expliziert worden. Gemäß dem Prinzip einer »formalen Zweckmäßigkeit der Natur« gehen wir davon aus, dass die Natur so verfasst ist, dass sie gleichsam unserem Erkennen entgegenkommt und eine zusammenhängende Erfahrung von ihr und ein systematisches Begreifen ihrer Gesetze zulässt: Unser Erkennen ist von der Überzeugung geleitet, dass Natur auf ihre »Fasslichkeit« für unseren Verstand hin angelegt ist34 – ein Zusammenspielen, das Kant auch im Bereich des Ästhetischen bekräftigt und durch das Gefühl des Schönen bezeugt sieht: »Die schönen Dinge zeigen an, dass der Mensch in die Welt passe.«35 R. Spaemann hat diesen Gedanken dahingehend verallgemeinert, dass menschliche Vernunft das Eigensein, den immanenten Sinn der Natur und des Wirklichen zu erfassen vermag – gegen eine reduktionistische Sichtweise, welche den Sinn als eine Variante von Unsinn behandelt, während er in Wahrheit das Primäre ist und jede Verdeckung und jedes Fehlen von Sinn nur vor dem Hintergrund einer basalen Verstehbarkeit der Welt zu denken sind.36

33 Ingolf U. Dalferth: Leiden und Böses. Vom schwierigen Umgang mit Widersinnigem, Leipzig 2006, S. 162. 34 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Einleitung, BXXXVIf. – In neuerem Diskussionskontext ist eine analoge Überlegung unter dem Begriff des anthropischen Prinzips formuliert worden. 35 Immanuel Kant: »Reflexion« 1820a, in: Akademie-Ausgabe Bd. XVI, S. 127. 36 Robert Spaemann: Das Natürliche und das Vernünftige. Essays zur Anthropologie, München 1987.

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Dieser Intuition, die den Leitfaden der metaphysischen Tradition bildet, steht auf der Gegenseite nicht nur der Zweifel daran gegenüber, dass die Welt dem endlichen Verstand des Menschen zugänglich sei und dieser im unendlichen All zuhause sein könne. Dem Vertrauen in den Logos der Welt wird grundsätzlicher widersprochen, wenn der Welt selbst eine idealiter erkennbare, rationale Seinsverfassung abgesprochen wird. Foucaults Zurückweisung des Glaubens, dass die Welt uns ein lesbares Antlitz zuwende, welches wir nur zu entziffern hätten37, lässt sich nicht nur als epistemologische, sondern ebenso als metaphysische Absage an die Lesbarkeit der Welt verstehen. Die Fremdheit zwischen dem Erkennen und den Dingen ist letztlich eine, die auf der Nichtsinnhaftigkeit der Welt selbst beruht.

(b) Entzug und Unhintergehbarkeit des Sinns So begegnen wir im Kontext der metaphysischen Prämissen demselben Spannungsverhältnis zwischen der Affirmativität und der Negativität des Sinns. Es ist an dieser Stelle nicht in den Disput der Positionen einzutreten, sondern nur deren Gesamtkonstellation festzuhalten. Sie reproduziert das Ausgespanntsein des Verstehens zwischen der Unhintergehbarkeit und dem Entzogensein des Sinns. Sie bekräftigt den grundlegenden Sachverhalt, dass Sinn ein Differenzphänomen ist und als solches unser Leben bestimmt. Sinn ist weder als erfüllter gegenwärtig noch einfach ein »unnegierbares Medium« (Luhmann)38 unseres Weltbezugs. Er bildet als grundsätzlich in Frage gestellter den Horizont unseres Seins. Nicht einfach das Gegebensein von Sinn, sondern dass Sinn in Frage steht, macht den Kern einer Theorie existentiellen Verstehens aus. Die grundlegende Intention des Verstehens, die menschliches Existieren als solches kennzeichnet, ist in vielfacher Weise mit Grenzen des Sinns konfrontiert. Doch bedeuten diese Grenzen keinen Einspruch gegen ihre Intention und ihre Aufgabe. Noch die härteste Grenze des Negativen, die Idee des Unerträglichen und Nichtseinsollenden, verbleibt im Horizont dessen, worauf sich menschliches Dasein interpretierend bezieht: Auch wenn nicht-rationalisierbares Leiden nicht tröstend in affirmativen Sinn überführt werden darf, kann es einen Gegenstand des Erinnerns bilden, das menschlichem Verstehen aufgegeben ist. Wie beides in seinem Verhältnis zu fassen sei, wie ein Verstehen zu realisieren sei, dessen letztes Fundament die Negation, die Kritik am Negativen ist, bildet die kritische Frage an eine negativistische Hermeneutik. Auch hier ließe sich stellvertretend auf Adorno verweisen, demzufolge das »Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen« die »Bedingung al-

37 Michel Foucault: L’ordre du discours, Paris 1971, S. 55. 38 Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1998, S. 52.

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ler Wahrheit«39 ist und die radikale Kritik, das Neinsagen zum Negativen, das Potential eines nichtreduktiven Deutens erschließt.40 Auch wenn die Welt nicht voll Sinn ist, ist sie nicht ohne Sinn. Auch das Fehlen und die Zerstörung von Sinn sind in einer Welt des Sinns. Menschliche Existenz ist im Ganzen verstehend: Die Unhintergehbarkeit des Sinns und die Grenzen des Verstehens bilden gleichermaßen Bedingungen des Menschseins.

39 T. W. Adorno: Negative Dialektik, S. 27. Vgl. E. Angehrn, »Kritik und Versöhnung. Zur Konstellation Negativer Dialektik bei Adorno«, in: Georg Kohler/Stefan Müller-Doohm (Hg.): Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts, Weilerswist 2008. 40 Mit der Verschränkung zwischen Kritik und Hermeneutik befasst sich Adorno etwa in seiner Vorlesung Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit (Frankfurt/Main 2001), in welcher er das Programm einer »Philosophie als Deutung« (S. 179) exponiert. Vgl. E. Angehrn, »Hermeneutik und Kritik«, in: Rahel Jaeggi/Tilo Wesche (Hg.): Was ist Kritik?, Frankfurt/Main 2008.

Unbestimmtheit und Bestimmtheit der Interpretation. Zum Primat der Intersubjektivität bei Davidson JENS KERTSCHER

»[T]he child’s discovery of itself as a person is also its discovery of itself as a member of a world of persons [...]. The discovery of myself as a person is the discovery that I can speak, and am thus a persona or speaker; in speaking, I am both speaker and hearer; and since the discovery of myself is also the discovery of other persons around me, it is the discovery of speakers and hearers other than myself.« Robin George Collingwood, The Principles of Art »Indem wir den Dualismus von Schema und Welt fallen lassen, verzichten wir nicht auf die Welt, sondern stellen die unmittelbare Beziehung zu den Gegenständen wieder her, deren Possen unsere Sätze und unsere Meinungen wahr oder falsch machen.« Donald Davidson, Was ist eigentlich ein Begriffsschema?

1. Der Begriff der objektiven Wahrheit setzt den der intersubjektiven Wahrheit voraus. Um einen Begriff von der objektiven Beschaffenheit der Dinge zu gewinnen, müssen wir schon über einen gemeinsamen, also intersubjektiven Wahrheitsbegriff verfügen. Ein solcher Wahrheitsbegriff ist aber nur im Kontext gemeinsamer sprachlicher Interaktion zugänglich. Die These von der ursprünglichen Intersub-

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jektivität von Sprache als Voraussetzung für die Objektivität des Wissens hat in der Philosophie des 20. Jahrhunderts in ganz unterschiedlichen Kontexten eine Rolle gespielt. Nachdem Wittgensteins Spätwerk zu einem Referenzpunkt der spät- oder, wenn einem diese Bezeichnung lieber ist: postanalytischen Philosophie1 geworden ist, hat es auch in diesem Diskussionskontext nicht an Versuchen gefehlt, diese These mit unterschiedlichen Mitteln wie Gebrauchstheorien der Bedeutung, intentionalistischen oder pragmatistischen Bedeutungstheorien zu erläutern oder zu begründen, ihre Konsequenzen auszuloten und ihre Reichweite für andere Gebiete der theoretischen und praktischen Philosophie auszumessen. Eine bemerkenswerte Folge der Debatten um den sozialen Charakter epistemischer und sprachphilosophischer Grundkategorien ist das erstarkte Interesse einiger postanalytischer Philosophen für das Erbe der nachkantischen Philosophie. Man könnte es geradezu als ein Merkmal postanalytischen Philosophierens bezeichnen, wieder den Anschluss an diese von analytischen Philosophen lange verschmähte Tradition zu suchen, und es spricht sogar einiges dafür, dass der Streit um Hegels Erbe inzwischen jenseits des Atlantiks ausgetragen wird.2 Zumindest wird man festhalten können, dass es in analytischen Kreisen längst nicht mehr als Zeichen von Obskurantismus gilt, sich affirmativ auf Kant oder Hegel zu beziehen. Gerhard Gamm, selbst Autor von originellen Interpretationen nachkantischer Metaphysik3, hat diese Konvergenzen postanalytischer Theoriebildung mit einer lange Zeit geradezu verfemten Tradition metaphysischen Denkens schon früh reflektiert und in den größeren Zusammenhang seines eigenen philosophischen Projekts, die Geschichte des modernen Denkens unter dem Gesichtspunkt der »Unbestimmtheit« zu dechiffrieren, gestellt.4 Entwicklungen und Zusammenhänge, die von den an diesen Denkbewegungen Beteiligten selbst nicht wahrge1

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Vgl. dazu die Ausführungen von Herbert Schnädelbach: »Analytische und postanalytische Philosophie«, in: ders.: Analytische und Postanalytische Philosophie. Vorträge und Abhandlungen 4, Frankfurt/Main 2004, S. 9-44. Diese Tendenz wird seit mehr als einem Jahrzehnt in den Arbeiten von John McDowell und Robert Brandom besonders deutlich. Einen Einblick in diese Debatte gibt der Sammelband von Christoph Halbig/Michael Quante/Ludwig Siep (Hg.): Hegels Erbe, Frankfurt/Main 2004. Vgl. dazu die Rezension von Sebastian Rödl: »Das Erbe der Philosophen«, in: Philosophische Rundschau 54 (2007/3), S. 123147. Vgl. auch die Darstellung von Tom Rockmore: Hegel, Idealism and Analytical Philosophy, New Haven 2005. Vgl. Gerhard Gamm: Der Deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling, Stuttgart 1997 sowie ders.: Wahrheit als Differenz. Studien zu einer anderen Theorie der Moderne, Hamburg 2002. Zu diesem Projekt vgl. Gerhard Gamm: Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang aus der Moderne, Frankfurt/Main 1994. Zu den Konvergenzen der postanalytischen Philosophie mit dem nachkantischen Idealismus vgl. ders.: »Postkantischer Idealismus und Sprachanalytische Philosophie«, in: ders.: Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten, Frankfurt/Main 2000, S. 153-177.

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nommen wurden, rücken durch Gamms vergleichende Interpretationen in den Blick. Einen solchen unbemerkten Zusammenhang sieht er in der Tendenz zur pragmatischen Selbstzurücknahme des Wissens angesichts der Aufgabe, »die prinzipielle Unbestimmbarkeit der Gegenstände als Resultat strenger Prüfung in das jeweilige Gegenstandsverständnis einrechnen zu müssen.«5 Im postanalytischen Kontext von Quine bis Davidson – und man kann hinzufügen bis Brandom – stellt sich diese pragmatische Selbstzurücknahme, so Gamm weiter, als »Flucht ins Soziale« dar. Dieses Motiv der Flucht ins Soziale soll im Folgenden aufgenommen werden. Zunächst gilt es, die von Gamm behauptete Fluchtbewegung ein wenig genauer nachzuzeichnen. Dabei wird es nicht darum gehen, Gamms Diagnose zu widersprechen, vielmehr soll der Versuch unternommen werden, ihre möglichen Konsequenzen ein wenig anders zu akzentuieren, indem Davidsons Position gegen einige Einwände verteidigt wird. Ausgangspunkt der weiteren, Davidson gewidmeten Überlegungen ist der bereits angesprochene, auch den nachkantischen Idealisten nicht fremde, wenn auch anders begründete Gedanke von der vorgängigen Intersubjektivität als Möglichkeitsbedingung von Sprechen und Denken.6 In der postanalytischen Diskussion, in der Davidson und Brandom die Rolle von Referenzautoren für diese Thematik spielen, ist die Auseinandersetzung um die angemessene Ausformulierung und theoretische Explikation dieser These sicherlich eines der reizvollsten gegenwärtigen philosophischen Projekte. Es wird abschließend zu prüfen sein, ob bzw. inwiefern die intersubjektive Verfasstheit von Sprache und Denken Unbestimmtheit im Sinne einer Bedrohung des Wissens nach sich zieht. Anders als Quine, der die Sozialitätsthese nicht in Erkenntnistheoretischer Hinsicht ausbeutet, setzt Davidson sie gerade dort ein, nicht zuletzt, um dem bei Quine drohenden Skeptizismus zu entgehen.

2. Zunächst sei also Gamms Diagnose einer Flucht ins Soziale bei Davidson in Erinnerung gerufen. Gamm hebt zu Recht hervor, dass es Davidson darum geht, »zumindest eine schwache Version der Bestimmtheitsgarantie des Wissens [zu] retten.«7 Das geschieht bekanntlich im Rahmen seiner Kritik am so genannten

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G. Gamm: »Postkantischer Idealismus«, S. 155. Neben den bereits in Fn. 3 erwähnten Schriften von Gerhard Gamm wären dazu die Arbeiten von Robert Pippin: Die Verwirklichung der Freiheit. Der Idealismus als Diskurs der Moderne, Frankfurt/Main 2005 sowie Terry Pinkard: Hegel’s Phenomenology. The Sociality of Reason, Cambridge MA, 1994 zu nennen. Skepsis hinsichtlich der Selbstverständlichkeit, mit der die Intersubjektivitätsthese akzeptiert und die nach-hegelianische Philosophie dafür in Anspruch genommen wird meldet dagegen Akeel Bilgrami: Belief and Meaning, Oxford 1994, S. 65 an. G. Gamm: »Postkantischer Idealismus«, S. 166.

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dritten Dogma des Empirismus, der Unterscheidung zwischen Begriffsschema und uninterpretiertem empirischem Inhalt. Mit seiner Kritik an diesem Dualismus bricht Davidson zugleich mit einer ganzen Reihe von selbstverständlichen, den Diskurs der analytischen Philosophie bestimmenden Grundannahmen. Davidson sieht nämlich, »daß sich die Anzeichen mehren, die dafür sprechen, daß die dualistische Ontologie von Geist und Natur, Sprache und Welt, Subjektivem und Objektivem, die auch den Empirismus der sprachanalytischen Philosophie weitgehend beherrscht, daß diese Auffassung aufgegeben werden muß.«8 Eine für die ausufernden sprachphilosophischen Debatten um den Bedeutungsbegriff neue Wege weisende Einsicht besteht darin, »daß eine bestimmte Darstellung der notwendigen und allgemeingültigen Bedingungen gelingender Kommunikation nicht möglich ist.«9 Oder stärker noch: »Ein radikales Ernstnehmen der Sprache erlaubt es nicht, die Sprachlichkeit unseres Selbst und Weltverstehens zu hintergehen.«10 So tritt Davidson eine »Flucht ins Soziale an«11, die allerdings nicht mehr zu erklären vermag, »was es heißt, ›zu verstehen‹ oder was es mit gelingender Kommunikation auf sich hat.«12 Es bleiben lediglich noch die kontingenten Lerngeschichten von einzelnen Sprechern, die sie zu sozialen Wesen mit einigermaßen stabilem Welt- und Selbstverständnis werden lassen. Deren Bestimmtheitsbedürfnisse lassen sich jedoch – und darin besteht die Flucht ins Soziale – nicht mehr theoretisch, sondern nur noch praktisch befriedigen. Gamm zufolge bedeutet dies zweierlei: »[E]inerseits Anschluß zu finden an die überaus wichtige Einsicht des Idealismus vom Primat praktischer Vernunft, alles Verstehenkönnen oder alle gelingende Kommunikation besitze einen Tugendkern (Nachsicht, Liebe, Vertrauen), den man nach Davidson notwendig zu den Bedingungen der Möglichkeit von Verstehen rechnen muß; andererseits markiert diese Einsicht auch das Ende aller Hoffnung, rein theoretisch zu definitiv wahren Aussagen über unsere Weltverhältnisse kommen zu können.«13

8 Ebd., S. 168. 9 Ebd., S. 169. 10 Ebd. Mit solchen Einsichten empfiehlt sich Davidson für sprachphilosophische Ansätze, die eine Vermittlung von sprachanalytischer und phänomenologischhermeneutischer Philosophie anstreben. Vgl. Christoph Demmerling: Sinn, Bedeutung, Verstehen. Untersuchungen zu Sprachphilosophie und Hermeneutik, Paderborn 2002 sowie zuletzt Albrecht Wellmer: Sprachphilosophie. Eine Vorlesung, Frankfurt/Main 2004. Dazu meine Besprechung: »Pragmatik oder Hermeneutik – Einige neuere Arbeiten zur Sprachphilosophie«, in: Philosophische Rundschau 54 (2007/4), S. 330-356. 11 G. Gamm: »Postkantischer Idealismus«, S. 169. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 172.

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Was bleibt also nach Gamms Deutung bei Davidson, der doch angetreten war, eine minimale epistemische Bestimmtheitsgarantie zu sichern? Nicht viel, wenn auch nicht nichts: »Einer Art minimalistischem Weltvertrauen verdanken wir es lediglich, daß unsere höchst kontingenten Lebens- und Lerngeschichten konvergieren; wo das nicht der Fall ist, müssen moralisch-praktische und technisch-praktische Appelle einspringen, um gelingende Kommunikation sicherzustellen (was nicht weniger Vertrauen in die Moral voraussetzt) [...]. [D]ie Flucht aus der Kategorie endet mit dem Überstieg in einen nicht weiter theoretisierbaren Grund sozialer Interaktion.«14

Die Flucht ins Soziale meint also eine Repragmatisierung und Rehistorisierung der Idee von Philosophie, der Verzicht auf den traditionellen Philosophenglauben, »durch Analyse der Kategorien oder formaler Verfahren invariante Rahmenbedingungen wahrer Urteile ermitteln zu können.«15 Vor dem Hintergrund dieser Diagnose werden nun auch die Konvergenzen und Differenzen mit Gedanken des nachkantischen Idealismus deutlich. Gamm denkt hier in erster Linie an das Verhältnis von Geist und Welt, wie es sich im Rahmen Hegelscher Denkfiguren darstellt, wobei Davidson, anders als die postkantischen Idealisten, sich noch die Naivität leistet, »an ein vorgängig gegebenes Sein, das kausal unsere Auffassungen über uns und die Welt bewirkt«16 zu glauben. Diese letzte kritische Pointe gegen Davidson erlaubt den Übergang zur Diskussion der Intersubjektivitätsthese. Anders als einige postanalytische Autoren wie McDowell, die, um die Bestimmtheit des Wissens zu sichern, die Welt in die Sphäre des Begriffs so weit hereinholen, dass die Welt als eine von unserem Denken unabhängige Instanz abhanden zu kommen droht, besteht das reizvolle an Davidsons undogmatischem Empirismus darin, dass er unseren Bestimmtheitsbedürfnissen genüge tun kann, ohne den Versuchungen des Idealismus zu erliegen.17

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Ebd. Ebd. Ebd., S. 170. Die Kennzeichnung Davidsons als undogmatischen Empiristen ist sicherlich nicht unumstritten. Vgl. Simon Evnine: Donald Davidson, Stanford 1991, der Davidsons Abkehr vom herkömmlichen Empirismus in die Nähe einer rationalistischen Position stellt: Vgl. dort z.B, S. 6. Mir scheint die Charakterisierung von Davidsons Position als Spielart eines undogmatischen Empirismus gleichwohl berechtigt, und ich hoffe, dass diese Einschätzung im weiteren Verlauf plausibel wird.

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3. Im Folgenden soll diese Behauptung über die Vorzüge von Davidsons interpretationistischer Sprachphilosophie gegenüber anderen, explizit an Hegel anknüpfenden postanalytischen Philosophien nicht in direkter Konfrontation von Davidsons Ansatz mit jenen Theorien gestützt werden. Eine solche Auseinandersetzung, die sich vor allem auf Brandoms und McDowells Davidson-Kritik einzulassen hätte, kann hier nicht geführt werden. Stattdessen soll ein Umweg über die Diskussion einiger verbreiteter Einwände gegen Davidsons Sprachtheorie gewählt werden. Zwei Aspekte, die sich auch schon aus Gamms Darstellung herauslesen lassen, sollen dabei im Vordergrund stehen: Die Rolle von Ursachen bei der Konstitution und Zuschreibung von Bedeutung sowie die Frage nach dem Primat von Intersubjektivität für das Verständnis des Begriffs objektiver Wahrheit. Mit dem ersten Aspekt ist Davidsons Version des Externalismus hinsichtlich der Zuschreibung von geistigen Gehalten angesprochen und damit auch die Frage nach der empirischen Basis des Wissens, seiner Rechtfertigung und Bestimmtheit angesichts der von ihm angenommenen kausalen Verbundenheit von Sprache und Welt. Der zweite Aspekt berührt das Thema der angemessenen Rekonstruktion der sozialen Struktur sprachlicher Praxis. Anders als Autoren, die sich dabei gerne, ob zu Recht oder zu Unrecht, auf den späten Wittgenstein berufen, versucht Davidson bekanntlich nicht, sie in Begriffen einer geteilten Sprache oder Lebensform zu erläutern. Eine prägnante Formulierung für den interpretationistischen Standpunkt lautet, »daß ein Wesen nur dann Gedanken haben kann, wenn es ein Interpret der Sprache eines anderen ist.«18 Meinem Verständnis nach sollte man diese durchaus erläuterungs- und begründungsbedürftige These nicht bloß als eine heuristische Annahme begreifen, die sich daran zu bewähren hat, ob sie bessere Lösungswege für bestimmte bedeutungstheoretische Probleme eröffnet als andere Ansätze, sondern als eine grundlegende Annahme von Davidsons Programm. Dieses Programm läuft auf die Begründung der eingangs erwähnten Intersubjektivitätsthese hinaus. Zunächst hat die Auszeichnung des Standpunkts der Interpretation aber einen methodischen Grund im Zusammenhang mit dem Projekt einer Theorie der Bedeutung für natürliche Sprachen. Denn nach Davidson kann man von diesem Standpunkt aus am besten erklären, wie herauszufinden ist, was ein Sprecher meint, mit dem, was er sagt. Das Verfahren der Interpretation ist notwendig, um den Inhalt und die Gedanken anderer Sprecher zu identifizieren. Dabei kreuzen sich sprachphilosophische und erkenntnistheoretische Aspekte. Indem Davidson nämlich das dritte Dogma des Empirismus, den Dualismus von Begriffschema und uninterpretiertem Inhalt zurückweist, bekommt die Perspek-

18 Donald Davidson: »Denken und Reden«, in: ders.: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/Main 1990, S. 224-246, hier S. 227.

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tive der Interpretation eine erkenntnistheoretische Funktion.19 In einem Empirismus ohne drittes Dogma kommt es dem Interpreten zu, die Verbindungen zwischen sprachlichen Äußerungen, Gedanken und der Welt zu ermitteln. Denn es sind diese Verbindungen, die nach Davidson nicht nur unseren Worten Bedeutung liefern, sondern sie sollen vor allem auch die Bedingungen bestimmen, unter denen sprachliche Äußerungen und mit ihnen Gedanken wahr sind. Die für einen undogmatischen Empirismus relevante erkenntnistheoretische Frage lautet daher: wie können bestimmte Ereignisse und Gegenstände in der Welt es verursachen, dass Sprecher wahre Überzeugungen über sie haben können?20 Damit hängt aber noch ein weiterer Aspekt zusammen, der zur Intersubjektivitätsthese zurückführt. Davidson ist nämlich der Auffassung, dass nur das Verfahren der Interpretation erlaubt, die Gegenstände und Ereignisse zu ermitteln, welche wechselseitige Kommunikation ermöglichen. Die Perspektive der Interpretation ist also keine bloß heuristische Annahme, sondern für das Gelingen von Davidsons Programm von zentraler Bedeutung. Zunächst soll Frage nach der Rolle von Ursachen beantwortet werden. Dazu ist es erforderlich, sich klar zu machen, was eine Interpretationstheorie nach Davidson genau zu leisten hat. Ihre methodische Bestimmung lässt sich anhand von Davidsons holistischer Annahme, dass Bedeutungen nicht unabhängig von Überzeugungen und umgekehrt spezifiziert werden können, genauer fassen: »Die Interdependenz des Glaubens und der Bedeutung läßt sich wie folgt erkennen: Für wahr hält der Sprecher einen Satz aufgrund dessen, was der Satz (in seiner Sprache) bedeutet, und aufgrund dessen, was er glaubt. Wenn wir wissen, daß er den Satz für wahr hält, und überdies die Bedeutung des Satzes kennen, können wir erschließen, was er glaubt; wären genügend Informationen über seine Überzeugungen gegeben, wären wir vielleicht imstande, die Bedeutung zu erschließen. Die radikale Interpretation sollte sich jedoch auf Belege stützen, die weder Kenntnis der Bedeutungen voraussetzten noch detailliertes Wissen mit Bezug auf Überzeugungen.«21 19 Vgl. auch die treffende Formulierung bei Röska-Hardy: »Wenn wir den erkenntnistheoretischen Dualismus verabschieden, entpuppt sich die radikale Interpretation als naturalisierte Erkenntnistheorie ohne das letzte Dogma des Empirismus« (Louise Röska-Hardy: »Interpretation und Erste-Person-Autorität«, in: Wolfgang R. Köhler (Hg.): Davidsons Philosophie des Mentalen, Paderborn 1997, S. 139-169, hier S. 161). 20 Eine genauere Formulierung dieses Gedankens bei Davidson lautet: »I have the Problem [...] of explaining how external features of the world cause us, through the medium of the senses, to form largely correct beliefs« Vgl. D. Davidson: »Appendix: Replies to Rorty, Stroud, McDowell, and Pereda«, in: ders.: Truth, Language and History, Oxford 2005, S. 315-327, hier S. 321. Undogmatisch ist dieser Empirismus also nicht nur, weil er herkömmliche Dualismen aufgibt, sondern auch, weil er die »cartesische« Privilegierung des subjektiven Standpunkts zugunsten der Intersubjektivität relativiert. 21 D. Davidson: »Radikale Interpretation«, in: ders.: Wahrheit und Interpretation, S. 183-203, hier S. 196. Vgl. auch Donald Davidson: »Eine Kohärenztheorie der

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Weder können Überzeugungen oder Bedeutungen einzeln zugeschrieben werden, noch können, wie Davidson in anderen Zusammenhängen hervorhebt, Gedanken unabhängig von einem Hintergrund miteinander verknüpfter Überzeugungen identifiziert werden. Angesichts dieser zirkulären Struktur kann keiner der beiden Aspekte in einer Interpretationstheorie einfach vorausgesetzt werden, sondern sie muss gleichermaßen eine Theorie der Überzeugungen bzw. des Glaubens (belief) und eine Theorie der Bedeutung liefern.22 Für die Methode der Interpretation heißt das, dass der Interpret angesichts von Sätzen, die ein Sprecher für wahr hält, herausfinden muss, was seine Überzeugungen sind und was seine sprachlichen Äußerungen bedeuten.23 Möglich wird das bekanntlich durch Anwendung des principle of charity, das verlangt, dasjenige, was ein Sprecher für wahr hält, als Beleg dafür aufzufassen, dass es tatsächlich wahr ist.24 Eine Konsequenz dieses Ansatzes ist es, die Beziehungen zwischen Sprache und Beobachtung als semantische Relation zu konzipieren: Nicht Sinnesdaten oder Sinnesreize, wie im herkömmlichen Empirismus bis Quine, bilden die Grundlage der Erkenntnis, sondern Überzeugungen. Nur Überzeugungen können Überzeugungen rechtfertigen, denn etwas nicht selbst propositional Strukturiertes wie Sinnesreize kann nicht herangezogen werden, um etwas propositional Strukturiertes zu begründen. Sinnesreize können Überzeugungen verursachen, einen Sprecher dazu veranlassen, etwas für wahr zu halten, aber sie können es nicht rechtfertigen.25 Die Frage nach der Konstitution von Bedeutung und deren Rolle beim Für-Wahr-Halten von Sätzen wird auf diese Weise zu einem erkenntnistheoretischen Thema. Nach Davidson ist es nun so, dass der Interpret in grundlegenden Fällen die Bedeutungen von Wörtern und Sätzen aus den Gegenständen,

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Wahrheit und der Erkenntnis«, in: ders.: Subjektiv, Intersubjektiv, Objektiv, Frankfurt/Main 2001, S. 233-269, hier S. 251. Vgl. D. Davidson, »Der Begriff des Glaubens und die Grundlage der Bedeutung«, in: ders.: Wahrheit und Interpretation, S. 204-223, hier S. 208. Vgl. hierzu und zum Folgenden L. Röska-Hardy: »Interpretation und Erste-Person-Autorität«, S. 145f. Vgl. D. Davidson: »Denken und Reden«, S. 234. Vgl. D. Davidson: »Der Begriff des Glaubens«, S. 220. Darin besteht ein grundlegender Unterschied zwischen Quine und Davidson, denn bei Quine dienen Sinnesreize nicht nur als Ursachen, sondern auch als eine Überzeugung rechtfertigende Belege. Vgl. D. Davidson: »Eine Kohärenztheorie«, S. 256 sowie ders.: »Externalisierte Erkenntnistheorie«, in: ders.: Subjektiv, Intersubjektiv, Objektiv, S. 321-358, hier S. 322ff. Auch hinsichtlich der Frage, was als Ursache bei einer Interpretation in Frage kommt, unterscheiden sich Quine und Davidson. Während Quine die Bedeutungsrelevanten Ursachen an die Reizungen von Sinnesrezeptoren bindet und damit eine proximale Theorie vertritt, geht Davidson von einer distalen Theorie aus, nach der nur dem Sprecher und Interpreten gemeinsame Gegenstände und Ereignisse als Bedeutungsrelevante Ursachen in Frage kommen. Vgl. dazu grundsätzlich Donald Davidson: »Bedeutung, Wahrheit und Belege«, in: ders.: Der Mythos des Subjektiven. Philosophische Essays, Stuttgart 1993, S. 40-64. Zu Davidsons Lösung des Problems der Ermittlung bedeutungsbestimmender Ursachen vgl. auch Jasper Liptow: »Semantischer Externalismus und Triangulation«, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 61 (2007/4), S. 439-457.

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Ereignissen und Umständen ableiten soll, wodurch sie verursacht wurden. Denn in diesen Fällen kann man es als Indiz für die Richtigkeit oder Falschheit einer Interpretationstheorie nehmen, wenn ein Sprecher etwas für wahr hält aufgrund eines Ereignisses oder Gegenstandes, der diese Überzeugung verursacht hat. Damit wird zugleich behauptet, dass »Worte und Gedanken in den besonders grundlegenden Fällen notwendig von den sie verursachenden Arten von Gegenständen und Ereignissen handeln«.26 Die Gegenstände einer Überzeugung sollen als ihre Ursachen aufgefasst werden, umgekehrt ist das, wovon eine Überzeugung handelt, in solchen elementaren Fällen durch ihre Gegenstände verursacht worden. Die bedeutungsbestimmenden Ursachen, die einen Sprecher veranlassen, einen Satz für wahr zu halten, müssen freilich eigens ermittelt werden. Es ist nach Davidson sogar unerlässlich, nach den Ursachen zu suchen, denn es ist »uns im allgemeinen eben nicht möglich, zuerst die Überzeugungen und die gemeinten Bedeutungen zu ermitteln und anschließend nach ihren Ursachen zu fragen.«27 Man muss daher bei der Ermittlung von Bedeutungen und Überzeugungen immer auch auf die Geschichte ihres Erwerbs in der kausalen Interaktion eines Sprechers mit anderen Sprechern und Gegenständen und Ereignissen in der Welt zurückgehen.28 Mit diesem Schritt wird die Relevanz von Interaktion und Kommunikation deutlich, die Davidson im Zusammenhang mit seinem Modell der Triangulation näher erörtert. Die zentrale Rolle der Kausalgeschichte des Spracherwerbs sowie der Interaktion von Sprechern untereinander und mit der Welt muss vor allem deshalb betont werden, weil sie für das richtige Verständnis der Triangulation und damit der vorgängigen Sozialität der Sprache, also der Intersubjektivitätsthese, bedeutsam ist. Zu so einem richtigen Verständnis gehört, dass erst die Einbeziehung der Kausalgeschichten deutlich machen kann, inwiefern der Externalismus für das gelingen von Interpretationen verantwortlich ist. Das von einem Interpreten mit der Methode der Interpretation Aufgedeckte ist nämlich nichts anderes als der empirische Gehalt wie er sich in elementaren Situationen der Interaktion zwischen Sprechern und der Welt konstituiert.29 26 D. Davidson: »Der Mythos des Subjektiven«, in: ders.: Der Mythos des Subjektiven, S. 84-107, hier S. 94. 27 D. Davidson: »Eine Kohärenztheorie«, S. 256. 28 Vgl. L. Röska-Hardy: »Interpretation und Erste-Person-Autorität«, S. 148f.: »Diese Auffassung von Bedeutung und Inhalt hat zur Folge, dass in den einfachen Fällen die Situationen, Gegenstände und Ereignisse, welche in regelmäßiger Weise die Überzeugungen bewirken, auch die Wahrheitsbedingungen, d.h. den Inhalt dieser Überzeugungen bestimmen.« 29 Vgl. ebd., S. 149. Wenn man diesen Zusammenhang übersieht, läuft man Gefahr, die soziale Struktur sprachlicher Praxis, so wie sie von Davidson gedacht wird, zu missverstehen. Vgl. Meredith Williams: »Wittgenstein and Davidson on the Sociality of Language«, in: Journal for the Theory of Social Behaviour, 30 (2000/3), S. 299-318. Williams neigt dazu, die Rolle von kausal rekonstruierbaren Lerngeschichten von Wortverwendungen zu unterschätzen, und schlägt daher vor, die Triangulation ganz von der angeblich dem Wittgensteinschen Regelparadox zum Opfer fallenden Interpretationstheorie zu lösen. Vgl. ebd. vor allem S. 311ff. Diese von

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Abgesehen von diesem eher für das richtige Verständnis der Systematik von Davidsons Theorie relevanten Gesichtspunkt gibt es noch zwei weitere Gründe für die Berücksichtigung von Kausalität im Zusammenhang mit Davidsons Externalismus. Zum einen sind Kausalbeziehungen – zumindest dann, wenn man wie Davidson von einer distalen Auffassung ausgeht – zwischen Sprechern und der Welt deshalb so wichtig, weil sie öffentlich zugänglich sind. Damit liefern sie nicht nur Anhaltspunkte für eine empirisch gehaltvolle Interpretation, sondern bilden auch eine Grundlage für Kommunikation: »Kommunikation setzt dort ein, wo die Ursachen konvergieren: Deine Äußerung bedeutet das gleiche wie meine, wenn der Glaube an ihre Wahrheit systematisch durch dieselben Ereignisse und Gegenstände verursacht wird.«30 Zum anderen liefern kausale Beziehungen den Gehalt von Überzeugungen, ohne ihnen gleichzeitig auch Rechtfertigungslasten aufzuerlegen. Das ist nach Davidson ein Vorteil gegenüber begründungslogisch operierenden Versionen des Empirismus. Es wurde bereits erwähnt, dass nach Davidsons Kohärenztheorie nur Überzeugungen als Rechtfertigungsinstanz für Überzeugungen kommen, denn eine »kausale Erklärung zeigt [...] nicht, inwiefern oder warum die Überzeugung begründet ist.«31 Davidson schlägt daher vor, kausale Vermittlungsinstanzen zwischen unseren Überzeugungen und der Welt von epistemischen Vermittlungsinstanzen scharf zu trennen und auf epistemische Instanzen sowie den daran geknüpften Dualismen von Subjektivem und Objektivem, von Begriffsschema und uninterpretiertem Inhalt ganz zu verzichten. Wenn man das tut, ist man wieder beim Externalismus und damit auch bei der wechselseitigen Zuschreibung von Überzeugungen in Situationen der Triangulation. Denn die Basis für die Zuschreibung einer Überzeugung oder die Überprüfung einer Überzeugung durch eine andere Überzeugung ist wiederum die Interaktion im Sinne von Verständigung und wechselseitiger Korrektur bei der Ermittlung von relevanten Belegen für die Zuschreibung von Überzeugungen und Bedeutungen. Davidsons Differenzierung zwischen den Rollen, die Gründe oder Ursachen bei der Rechtfertigung von Erkenntnis spielen können oder auch nicht, steht im Zusammenhang mit seiner Strategie im Umgang mit dem Skeptizismus. Nur eine externalistische Erkenntnistheorie in Verknüpfung mit einer Kohärenztheorie der Wahrheit und Erkenntnis, die auf epistemische Vermittlungsinstanzen wie sinnlich Gegebenes als Erkenntnisgrund oder auf Wahrheit als epistemische Kategorie konsequent verzichtet, kann ihm zufolge der Herausforderung des Skeptizismus begegnen und damit auch die Bestimmtheit unseres Wissens sichern.32 Diesem Thema soll hier nicht weiter nachgegangen werden. An dieser Stelle genügt

einer bestimmten Lesart Wittgensteins inspirierte Kritik scheint mir, wie noch zu zeigen sein wird, nicht stichhaltig. 30 D. Davidson: »Eine Kohärenztheorie«, S. 258f. 31 Ebd., S. 243. 32 Vgl. ebd., S. 249ff.

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es festzuhalten, dass mit Davidsons Kombination von Externalismus, Kohärenztheorie und interpretationistischer Methode der Begriff einer Überzeugung als fundamental bei der Erklärung der Möglichkeit von Gedanken und damit auch von Sprachfähigkeit aufgefasst werden kann. Der Zusammenhang von Überzeugung, Bedeutung und Einstellungen des Für-Wahr-Haltens bildet demnach einen Komplex, von dem aus Davidson den Prozess der Erkenntnis fassen und in sozialer Interaktion und Kommunikation verankern will. Wenn Davidson Recht hat, würde das auch bedeuten, dass keine der drei grundlegenden Wissensformen – Wissen über die Außenwelt, Wissen über uns selbst sowie Wissen über Fremdpsychisches – eine begriffliche oder auch zeitliche Priorität gegenüber den jeweils anderen genießt. Ob sich Davidsons Grundannahme über die fundamentale Rolle von Überzeugungen halten lässt, hängt also in hohem Maße davon ab, wie man seine Intersubjektivitätsthese plausibel machen kann. Dazu ist es erforderlich, auf das bereits andeutungsweise eingeführte Modell der Triangulation näher einzugehen, das immer wieder Anlass zur Kritik gegeben hat.

4. Es wurde bereits bemerkt, dass Davidson im Unterschied zu Quine die interpretationsbestimmenden Ursachen mit Gegenständen und Ereignissen in der Welt gleichsetzt, die Sprechern und Interpreten gleichermaßen öffentlich zugänglich sind. Die interpretationsbestimmenden Ursachen werden damit vom einzelnen Subjekt losgelöst und in einen öffentlichen Raum gestellt, in dem mehrere Subjekte interagieren und kommunizieren können. Es stellt sich dann die Frage, inwiefern dieser Raum ein gemeinsamer Raum ist und worin die relevanten Gemeinsamkeiten bestehen. Daran schließt sich die weitergehende Frage an, wie Interpret und Sprecher wissen können, dass die verschiedenen Gegenstände und Ereignisse, auf die sie sich beziehen, tatsächlich gleich sind und auch in regelmäßiger Weise gleiche Reaktionen auslösen. Aus diesen Gründen muss Davidson eine andere Antwort als Quine auf die Frage nach dem sozialen Aspekt der Sprache geben. Da Quine nämlich die bedeutungsbestimmende Ursache an die Sinnesrezeptoren des einzelnen Subjekts bindet, kann er die Frage nach der Gleichheit der Ursachen auch aus der Perspektive des einzelnen Subjekts konsequent naturalistisch beantworten: Ob Ursachen gleich sind, bestimmt sich anhand eines Maßstabs wahrnehmbarer Ähnlichkeit, der biologisch im einzelnen Subjekt verankert ist.33 Für Davidson hingegen steht dieser Weg nicht offen. Dementsprechend stellen sich ihm auch ganz andere Probleme. Aus der Perspektive des Sprechers stellt sich das Problem, worin für ihn selbst der Unterschied zwischen beobachteten Ähnlichkeiten und dem bloßen Glauben, es handle sich um Ähn-

33 Vgl. Willard v. O. Quine: Die Wurzeln der Referenz, Frankfurt/Main 1989, S. 33ff.

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lichkeiten, besteht. Man kann die Frage aber auch für den Interpreten formulieren: »Wenn du (der Interpret) nicht weißt, wie ein Sprecher fortfahren wird, weißt du auch nicht, welche Sprache er spricht – einerlei, wieviel dieser Sprecher schon gesagt hat. Es wird auch nichts helfen, wenn du darauf hinweist, der Sprecher habe sich bis jetzt den Erwartungen entsprechend verhalten, er sei auf dieselbe Schule gegangen wie du selbst oder gehöre derselben Kultur oder Gemeinschaft an, denn die Frage betrifft nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft.«34

Davidsons Lösungsweg für diese Fragen, die Wittgenstein bereits als Problem des Regelfolgens analysiert hat, ist durch die im vorherigen Abschnitt zitierte Stelle aus dem Aufsatz Denken und Reden vorgezeichnet. Obwohl Davidsons Argumentation in diesem Aufsatz etwas umrisshaft bleibt, hat er daran festgehalten. Eine spätere Formulierung dieser bemerkenswerten These findet sich in dem Aufsatz Locating Literary Language: »We would not have a language, or the thoughts that depend on that language (which comprise all beliefs, desires, hopes, expectations, intentions and other attitudes that have propositional content), if there were no others who understood us and whom we understood, and such mutual understanding requires a world shared both causally and conceptually.«35

Davidson hat seine Argumentation für diese These weiter verfeinert und zu ihrer Erläuterung das Modell der Triangulation eingeführt. Wie bereits angedeutet, ist dieses Modell nicht unumstritten geblieben. Nicht nur wurde kritisiert, dass Davidsons Argumente in einen vitiösen Zirkel führten, sondern es wurde auch die Kohärenz zwischen dem erst später eingeführten Modell der Triangulation, der erkenntnistheoretischen Seite von Davidsons Projekt, mit der Theorie der radikalen Interpretation, sozusagen der hermeneutischen Seite dieses Projekts, in Frage gestellt.36 Es wurde daher vorgeschlagen, Interpretation und Triangulation voneinander zu trennen und je nach theoretischem Hintergrund und Interesse eine

34 D. Davidson: »Die zweite Person«, in: ders.: Subjektiv, Intersubjektiv, Objektiv, S. 186-210, hier S. 192f. 35 Donald Davidson: »Locating Literary Language«, in: ders.: Truth, Language and History, S. 167-181, hier S. 176. 36 Der Zirkelvorwurf, der zu einem Scheitern des Triangulationsarguments zugunsten der Interpretation führen soll, findet sich ausführlich bei Kathrin Glüer: Sprache und Regeln. Zur Normativität von Bedeutung, Berlin 1999, S. 69-79 und neuerdings wieder in dies.: »Triangulation«, in: Ernest Lepore/Barry Smith (Hg.): The Oxford Handbook of Philosophy of Language, Oxford 2006, S. 1006-1019. Kritisch gegen Davidson argumentieren auch Ernie Lepore/Kirk Ludwig: Donald Davidson. Meaning, Truth, Language, and Reality, Oxford 2005, vor allem im letzten Kapitel ab S. 387ff.

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Entscheidung zugunsten der Interpretation oder der Triangulation gefällt. In der Diskussion um die Normativität des Bedeutungsbegriffs haben solche Weichenstellungen zu einer meinem Verständnis nach ungerechtfertigt scharfen Stilisierung des Gegensatzes zwischen Davidson und Wittgenstein geführt.37 Eingeführt hat Davidson den Terminus »Triangulation« in seinem Aufsatz über Rationale Tiere, der einen Grundgedanken von Denken und Reden fortführt. Er geht dort von der Voraussetzung aus, dass ein Wesen über den Begriff der objektiven Wahrheit verfügen muss, um propositional strukturierte Gedanken haben zu können. Um diesen Begriff zu erwerben, muss es nicht nur mit Ereignissen und Gegenständen in der Welt, sondern mit anderen, mit ihm selbst hinreichend ähnlichen Wesen interagieren. Die einfachste Interaktionssituation ist aber ein Dreieck, bei dem zwei Wesen untereinander und mit einem Gegenstand bzw. Ereignis in der Welt interagieren. Daher ist diese Dreieckssituation eine notwendige Bedingung für Gedanken. Nur wenn die Interaktion, die die Grundlinie des Dreiecks bildet, sprachlicher Art ist, ist diese Triangulation auch eine hinreichende Bedingung: »Wenn ich an den Erdboden geschmiedet wäre, stünde mir kein Verfahren zu Gebote, um den Abstand zwischen vielen Gegenständen und mir selbst zu bestimmen. Ich wüßte lediglich, daß sie auf einer Linie lägen, die sich von mir zu ihnen ziehen ließe. Ich könnte zwar erfolgreich mit Gegenständen interagieren, doch ich wäre außerstande, der Frage, wo sie sich befinden, Inhalt zu verleihen. Da ich nicht festgeschmiedet bin, steht es mir frei, das Verfahren der Triangulation zu benutzen. Unser Gefühl für Objektivität ist das Resultat einer anderen Art von Triangulation, zu der zwei Lebewesen nötig sind. Jedes der beiden Wesen interagiert mit einem Gegenstand, doch was jedem von ihnen den Begriff von einem objektiven Sosein der Dinge vermittelt, ist die durch Sprache geformte Grundlinie zwischen diesen Wesen. Einzig, daß ihnen ein Wahrheitsbegriff gemeinsam ist, macht die Behauptung verständlich, daß sie Überzeugungen haben und Gegenständen einen Ort in der öffentlichen Welt zuordnen können.«38

Der propositionale Gehalt von Gedanken oder sprachlichen Äußerungen ist dieser Überlegung zufolge von einem intersubjektiven Zusammenhang, wie er durch 37 Zugunsten der Interpretation argumentiert Glüer in ihrem in der vorherigen Fn. genannten Buch. Sie plädiert dafür, die Interpretierbarkeit von Sprache durch eine individualistische Konzeption von Wortverwendungspraxis zu erklären, ohne diese Praxis durch den interaktionistischen Fehlerbegriff und durch die durch ihn gesetzte Norm erklären zu müssen: Vgl. dort S. 79. Für die Triangulation optiert dagegen Williams (vgl. Fn. 29). C. Demmerling: Sinn, Bedeutung, Verstehen, behandelt hingegen Triangulation und radikale Interpretation als unterschiedliche Strategien bei der Erläuterung des sprachlichen Verstehens: vgl, S. 56. Ich werde hier von der Annahme ausgehen, dass Triangulation die Grundlage für die Interpretation darstellt, es also auch keinen Grund gibt, beide Szenarien zu trennen. Vgl. dazu Vgl. L. Röska-Hardy: »Interpretation und Erste-Person-Autorität«, S. 149f. 38 D. Davidson: »Rationale Tiere«, in: ders.: Subjektiv, Intersubjektiv, Objektiv, S. 167-185, hier S. 184f.

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die geschilderte Dreieckssituation vorgezeichnet ist, abhängig. Kein einzelner Sprecher kann Gedanken haben oder etwas mit seinen sprachlichen Äußerungen meinen: »[D]as angedeutete Dreieck [ist] für die Entstehung des Denkens wesentlich. Es gibt nämlich zwei Aspekte des Denkens, die ohne das Dreiecke nicht erklärt werden können. Diese beiden Aspekte sind zum einen die Objektivität des Denkens und zum anderen der empirische Inhalt der Gedanken über die Außenwelt.«39

Die beiden diesem Zitat zu entnehmenden Behauptungen, nämlich dass die Triangulation für die Bestimmung des empirischen Gehalts sowie für die Objektivität des Denkens notwendig ist, können einzeln bzw. aufeinander aufbauend betrachtet werden. Dabei soll von Davidsons oben zitierten Gedanken ausgegangen werden, dass zu den Voraussetzungen des Verstehens eine kausal und eine begrifflich geteilte Welt gehören. Es kommt also auch hier auf die richtige Verhältnisbestimmung von kausalen Überlegungen an und solchen, die die Rolle des begrifflichen Denkens betreffen. Dass die Unterstellung einer kausal und einer begrifflich geteilten Welt zu den Voraussetzungen des Verstehens gehört, lässt sich dann auch so formulieren, dass wir uns ohne Triangulation nicht als denkende Wesen, also als Wesen mit Überzeugungen verstehen könnten. Wir könnten uns dann überhaupt nicht verstehen. Der Aspekt der Gehaltsbestimmung wurde bereits angesprochen. Dabei wurde deutlich, dass es nach Davidsons externalistischem Ansatz darauf ankommt, bei der Ermittlung von Bedeutungen und Überzeugungen immer auch auf die Geschichte ihres Erwerbs in der kausalen Interaktion eines Sprechers mit anderen Sprechern und Gegenständen und Ereignissen in der Welt zurückzugehen. Das heißt: An irgendeinem Punkt muss es im Netz der Annahmen und Überzeugungen eines Sprechers eine kausale Beziehung zwischen Geist und Welt geben. Diese Beziehung erstreckt sich in einer Weise über das Überzeugungsnetz, die durch den Interpreten festzulegen ist. Dabei liefern die Umstände, unter denen eine Äußerung für wahr gehalten wird einen Schlüssel zu dem, was die Äußerung bedeutet. Die Kausalbeziehung ist daher eine erste notwendige Vorbedingung für Verstehen. Um deutlich zu machen, was an weiteren Voraussetzungen fehlt, führt Davidson die Triangulation ein. Denn es ist noch nicht klar, wie man im Rahmen eines distalen Verständnisses von Kausalität die richtigen Ursachen ermittelt. Um dies tun zu können, werden Begriffe benötigt, die selbst nicht aus einem kausalen Zusammenhang abgeleitet sein können. Um bestimmte Aspekte der Außenwelt voneinander unterscheiden zu können, müssen noch keine Begriffe unterstellt werden. Um aber dem Sprecher eine spezifische Überzeugung unterstellen zu können, beispielsweise, dass es regnet, muss man auch die Fähigkeit unterstellen, 39 D. Davidson: »Die Entstehung des Denkens«, in: ders.: Subjektiv, Intersubjektiv, Objektiv, S. 211-229, hier S. 220.

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dass er über den Begriff des Regens verfügt und mit ihm die Fähigkeit, zwischen korrekten und falschen Anwendungen dieses Begriffs zu unterscheiden. Deshalb konnte Davidson auch in Denken und Reden behaupten, dass »die Begriffe der objektiven Wahrheit und des Irrtums mit Notwendigkeit im Kontext der Interpretation zum Vorschein kommen.«40 Man kann von einer Person nicht behaupten, sie glaube etwas, wenn sie nicht den Begriff des Glaubens oder einer Überzeugung hat, als etwas, das wahr oder falsch sein kann. Damit sind wir aber noch nicht bei der Notwendigkeit von Interaktion und Kommunikation oder anders formuliert: bei der notwendigen Voraussetzung einer zweiten Person. Davidsons Behauptung ist nun, dass eine zweite Person notwendig ist, um den Begriff eines Gegenstandes haben zu können. Warum? Wenn der Interpret erkennen will, was der Sprecher mit seinen Äußerungen meint, muss eine Situation gegeben sein, die es ihm erlaubt, dem Sprecher überhaupt so etwas wie eine Überzeugung bzw. seinen Äußerungen Bedeutung zuschreiben zu können. Eine solche Situation ist notwendigerweise eine der Interaktion. Bei ihr kommt es nicht nur auf kausale Beziehungen an, sondern auf die wechselseitige Koordination des Verhaltens, das Wechselspiel von Aktion und Reaktion, von gegenseitiger Korrektur und Bestätigung. Diese Situation ist durch das Dreieck beschrieben. Es muss etwas öffentlich Zugängliches vorhanden sein, auf das sich Sprecher und Interpret beziehen können, dem sie einen Namen geben können, so dass sie auch dann noch davon sprechen können, wenn es nicht da ist. Erst diese Interaktion erlaubt es dem Interpreten, vom Sprecher nicht einfach nur zu behaupten: »er unterscheidet rot von gelb«, sondern sie ermöglicht es ihm auch, von sich selbst zu sagen: »Ich sehe Rotes«, oder ich »denke Röte«. Umgekehrt benötigt der Interpret eine zweite Person, um ihm die Vorstellung vom Gegenstand als einem äußeren Objekt zu vermitteln, das sich aus verschiedenen Perspektiven betrachten lässt und das er richtig oder falsch erfassen kann. Der in der Interpretation zum Vorschein gekommene Begriff der Überzeugung und mit ihm die der Wahrheit und Falschheit setzen daher den Begriff einer objektiven Welt voraus, auf den die eigenen Überzeugungen gerichtet sind. Um diesen Begriff auszubilden, braucht es aber – wie gesehen – nicht etwas anderes, sondern Interaktion im Sinne der Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung mit einer zweiten Person. Mit der Einbeziehung einer zweiten Person ist allerdings erst eine notwendige Bedingung dafür gegeben, dass jemand einen Begriff von etwas hat und damit auch eine Antwort darauf, was durch diese Begriffe begrifflich erfasst wird.41 Denn bisher ist erst klar geworden, dass die Identifizierung von Gedankeninhalten und sprachlichen Äußerungen einer intersubjektiven Grundlage bedarf. Als hinreichende Bedingung muss nun noch hinzukommen, dass die Interaktionen den daran Beteiligten als solche bewusst werden. Es ist mit anderen Wor40 D. Davidson: »Denken und Reden«, S. 245. 41 D. Davidson: »Die zweite Person«, S. 206.

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ten erforderlich, dass es zwischen ihnen zur Kommunikation kommt. In Die zweite Person erläutert Davidson den gesamten Vorgang am Beispiel des Sprachunterrichts eines Kleinkindes. Um die Reaktionen des Kindes auf den Lehrer von denen eines trainierten Hundes unterscheiden zu können, muss der Lehrer die Reaktionen des Kindes als sprachliche Deuten, also dem Kind die Absicht unterstellen, es wolle mit ihm kommunizieren. Das Kind muss absichtlich auf einen Reiz reagieren und es muss wissen, dass der Lehrer auf denselben Reiz reagiert wie es selbst. Sie müssen aber nicht nur gemeinsam auf einen Gegenstand reagieren, sondern darüber hinaus darauf achten, dass sie dies tun. Man kann das auch so formulieren, dass nun von beiden verlangt wird, dass sie auf eine Ursache als eine bestimmte Ursache reagieren. Das ist nur möglich, wenn sie miteinander als Wesen kommunizieren, die bereits über begriffliche Fähigkeiten verfügen. Diese Überlegung lässt sich nach Davidson auch über die Lernsituation hinaus verallgemeinern: »Daß der zweite Scheitelpunkt, also das zweite Lebewesen oder die zweite Person, auf denselben Gegenstand reagiert wie man selbst, kann man nur dadurch in Erfahrung bringen, daß man herausbekommt, ob die andere Person denselben Gegenstand im Sinn hat [...]. Damit zwei Personen voneinander wissen können, daß sie – daß ihre Gedanken – in einer solchen Beziehung zueinander stehen, ist erforderlich, daß es zwischen ihnen zur Kommunikation kommt. Jede dieser beiden Personen muß mit der jeweils anderen reden und von der anderen verstanden werden.«42

Wichtig ist also die Dreieckssituation selbst, und nicht die Reize, die jeweils Reaktionen auslösen. Aus diesem Grund kann Davidson behaupten, dass wir weder Sprache noch Gedanken hätten, wenn es nicht noch andere Lebewesen gäbe, die unsere Gedanken und unsere Sprache verstehen und deren Gedanken und Sprache wir unsererseits verstehen. Sprachliche Bedeutung hat demnach ihre Wurzel in sozialer Interaktion, sie konstituiert sich in Situationen erfolgreicher Kommunikation. Davidsons externalistische These, dass eine objektive Zuschreibung von Gedanken nicht möglich wäre, ohne dass beide Teilenehmer an der Triangulation über begriffliche Fähigkeiten verfügen müssen, kann man plausibel machen, indem man zwischen der epistemischen Rolle von Kausalität bei der Herstellung eines Zusammenhangs zwischen Geist und Welt und der Rolle von Kausalität bei der Zuschreibung von Gedanken unterscheidet. Akzeptiert man Davidsons Kritik am Dualismus von Begriffsschema und uninterpretiertem Gehalt, ist die Behauptung konsequent, dass eine kausale Verbindung mit der Welt erforderlich ist, um an wenigstens einem Punkt im Netz der Überzeugungen eines zu interpretierenden Sprechers eine Verbindung seiner Überzeugungen mit der Wirklichkeit herstellen zu können. Diese epistemische Funktion kann Kausalität allerdings nicht 42 Ebd., S. 208f.

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haben, wenn es darum geht, einem Sprecher Gedanken zuzuschreiben. Denn um Überzeugungen zu haben und um solche zuschreiben zu können, braucht man Begriffe, und Begriffe lassen sich nicht aus einer Kausalbeziehung herleiten. Dies geschieht durch wechselseitige Kommunikation zwischen Sprecher und Interpret und einem Gegenstand oder Ereignis in der Welt. Jeder muss mit dem anderen sprechen und von ihm verstanden werden. Dazu genügt nicht eine kausal geteilte Welt, sondern es ist überdies eine begrifflich geteilte Welt erforderlich, die von den beteiligten als eine gemeinsame gewusst wird. Mit der Verabschiedung des dritten Dogmas rückt die Praxis der wechselseitigen Zuschreibung und Prüfung von Überzeugungen in den Vordergrund, da es kein uninterpretiertes Gegebenes mehr gibt, das es einem Subjekt erlaubt, seine Überzeugungen isoliert zu rechtfertigen.43 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen erscheint es wohl auch nicht mehr als eine unbegründete Voraussetzung, ob man eine Außenwelt annimmt, mit der unsere Gedanken verbunden sind, sondern, folgt man Davidson, als eine Notwendigkeit. Ohne diese Annahme könnte man nicht ermitteln, was jemand für wahr hält. Die Interpretation hätte keinen Anhaltspunkt. Und in letzter Konsequenz würde es bedeuten, dass wir uns nicht als Wesen mit Überzeugungen und damit auch mit Begriffen und Sprache verstehen könnten.

43 Nach K. Glüer: Sprache und Regeln, S. 77f., ist Davidsons Argumentation gescheitert. Dieses Verdikt beruht auf ihrer Annahme, Davidsons These müsse als genetische These verstanden werden. Sie läuft darauf hinaus, dass nur die Kausalgeschichte des Erwerbs von Überzeugungen den Begriff der Objektivität liefert. Damit begeht er aber, so Glüer, den Fehler, eine begriffliche Frage mit Hilfe von empirischen Spekulationen beantworten zu müssen. Meine Darstellung sollte zeigen, dass dem keineswegs so ist. Man muss sich im Klaren darüber sein, dass Kausalität eine epistemische Funktion nur bei der Verbindung von Geist und Welt hat. Die Beispiele aus dem Umfeld des Spracherwerbs sind keine genetische Argumentation, sondern sollen an einem elementaren Beispiel veranschaulichen, dass ein Sprecher seine Überzeugungen an wenigstens einem Punkt über eine kausale Verknüpfung mit der Welt verbunden haben muss. Trivialerweise muss er sie erworben haben, und die Triangulation ist ein Modell, das notwendige Bedingungen für diesen Erwerb namhaft machen soll. Vgl. D. Davidson: »Wissen, was man denkt«, in: ders.: Subjektiv, Intersubjektiv, Objektiv, S. 40-78: »Es ist die Bedingung der Lernbarkeit, der Interpretierbarkeit, die den irreduziblen sozialen Faktor beisteuert, und das zeigt, warum man mit seinen Worten nichts meinen kann, was von einer anderen Person nicht richtig entschlüsselt werden kann.« (S. 62). Ob Davidson Annahmen über den Spracherwerb tatsächlich auch empirisch zutreffen, ist – da hat Glüer selbstverständlich Recht – eine völlig andere Frage. Dass sie zumindest nicht völlig abwegig sind, kann man neueren Ergebnissen der Kognitionsforschung entnehmen: Vgl. Michael Tomasello: Constructing a Language. A Usage-Based Theory of Language Acquisition, Cambridge/Mass., 2003.

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5. Abschließend soll noch ein weiterer, die Frage nach der sozialen Struktur sprachlicher Praxis betreffender Punkt angesprochen werden. Davidsons These, dass Bedeutung und Verstehen sich in Fällen gelungener Kommunikation konstituieren scheint paradoxe Konsequenzen zu haben: Sprecher müssen einander schon verstanden haben, um einander verstehen zu können. Oder anders formuliert: Es kann keinen, den Einzelfall gelingender Kommunikation übergreifenden Standard für das Gelingen von Kommunikation zu geben: »Du und ich, wir können uns nicht über die Interpretation unserer Sätze einigen und uns damit darauf vorbereiten, diese Sätze zur Interpretation anderer Personen zu benutzen, denn der Prozeß, durch den man zu einer solchen Einigung gelangt, beinhaltet eine Interpretation eben jener Art, auf die wir uns vorzubereiten gedachten. Es hat keinen Sinn, um einen gemeinsamen Standard der Interpretation einzukommen, denn die wechselseitige Interpretation liefert den einzigen Standard, über den wir verfügen.«44

Das Problem ist hier, dass das Gelingen von Verständigung nicht einem bloßen Zufall überlassen sein kann. Man wird jemandem, der nur zufällig eine richtige Interpretation gelingt, nicht nachsagen können, er habe die fragliche Äußerung verstanden. Es verhält sich hier ganz ähnlich wie beim Wissen. Von jemandem, der nur zufälligerweise eine wahre Meinung hat, wird man nicht behaupten können er wisse, was er behauptet, solange er nicht auch selbst seine Behauptung begründen kann. Beim Verstehen muss es ebenfalls möglich sein, zufällig richtige Interpretationen von gelingender Kommunikation und dauerhaftem Missverständnis zu unterscheiden. Verschärft wird diese Frage noch durch die Tatsache, dass Davidson bekanntlich die Relevanz einer gemeinsamen Sprache oder sprachlicher Konventionen für das Gelingen von Interpretation bestritten hat.45 Diese kontroverse These hat eine Diskussion um den sozialen Aspekt der Sprache ausgelöst, bei der es üblich geworden ist, zwei Weisen, die Sozialität der Sprache zu thematisieren, zu unterscheiden: Kollektivistische Ansätze und solche, die von einem methodischen Individualismus ausgehen.46 Kollektivistische Ansätze, die mit dem späten Wittgenstein in Verbindung gebracht werden, betonen die konstitutive Rolle des Gemeinsamen an einer Praxis. Typischerweise begreifen sie Sprachfähigkeit als Teil einer dem individuellen Sprecher vorgängigen gemeinsamen, regelgeleiteten Praxis. Die Vorgängigkeit kollektiver Muster in Gestalt von sprachlichen und nicht sprachlichen Gepflogenheiten, Konventio44 D. Davidson: »Indeterminismus und Antirealismus«, in: ders.: Subjektiv, Intersubjektiv, Objektiv, S. 127-151, hier S. 151. 45 Vgl. D. Davidson: »A Nice Derangement of Epitaphs«, in: ders.: Truth, Language and History, S. 89-107. 46 Vgl. Jasper Liptow: Regeln und Interpretation. Eine Untersuchung zur sozialen Struktur sprachlicher Praxis, Weilerswist 2004, S. 81f.

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nen, Institutionen und Regeln sind für solche Ansätze charakteristisch, obwohl sie sich im Detail darin unterscheiden, welche kollektiven Strukturen in welchem Maße für die Erklärung der spezifisch sprachlichen Praxis besonders relevant sind. Demgegenüber ist für individualistische Modelle das Sprachverhalten von miteinander kommunizierenden und interagierenden Sprechern der methodische Ausgangspunkt. Sprachfähigkeit erscheint in erster Linie als Fähigkeit, die Äußerungen, Absichten und Überzeugungen anderer Sprecher zu interpretieren. Diesem Ansatz wird vor allem Donald Davidsons Theorie der radikalen Interpretation zugeordnet. Der soziale Aspekt der Sprache besteht bei ihm nicht mehr in der Verhaltenskonformität von Sprechern, sondern ist eine Bedingung für wechselseitige Interpretierbarkeit von Individuen. Zur Diskussion steht also die Differenz zwischen dem, was Sprecher gemeinsam tun, wenn sie an einer Praxis teilhaben, und dem Verhältnis zwischen zwei Sprechern, die wechselseitig ihre Äußerungen interpretieren. Diese Unterteilung ist als Beschreibung entgegengesetzter methodischer Ansätze bei der Klärung der Frage nach der Sozialität von Sprache sicherlich hilfreich, aber sie verleitet dazu, Gemeinsamkeiten zwischen den Positionen zu unterschlagen und Unterschiede, die über das bloß Methodische hinausgehen zu übersehen. So hat beispielsweise Meredith Williams, die Wittgenstein und Davidson entlang dieser Differenz gegenüberstellt, gefordert, man müsse die Triangulation ganz von der Interpretation ablösen. Während die Methode der radikalen Interpretation Wittgensteins Regressvorwurf für die Determination von Regeln durch Interpretationen zum Opfer falle,47 so könne die Triangulation mit Hilfe einer kollektivistischen Lesart gerettet werden. Williams setzt sich vor allem mit Davidsons Beispiel des Spracherwerbs auseinander.48 Das bietet sich schon deshalb an, weil auch Wittgenstein mit Lernsituationen operiert. Wenn ich ihren Einwand richtig verstanden habe, dann macht sie geltend, dass die von Davidson für Interpretationen und Triangulationen als methodischen Ausgangspunkt bevorzugte Ich-Du Relation eine Ich-Wir Relation voraussetzt. Vor allem die von Davidson analysierten asymmetrischen Lernsituationen verschleiern diese Tatsache. So kann Davidson nicht mehr klar machen, was er klar machen will, nämlich wie der Sprung vom kausalen Training und dem bloßen wechselseitigen Reagieren zu einer rationalen Form von Kommunikation möglich ist. Der gesuchte Maßstab für das Gelingen von Kommunikation ist in der Übereinstimmung in einer den einzelnen Interpretations- und Kommunikationsversuchen vorgängigen, gemeinsamen Praxis zu suchen. In ihr liegen nach Williams auch die Quellen für die Normativität des Verstehens.49 47 Vgl. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/Main 2003, §§ 198, 201. 48 Vgl. M. Williams: »Wittgenstein and Davidson«, S. 312ff. 49 Vgl. ebd., S. 314f. Wie auch Glüer sieht Williams ein Problem darin, dass Davidson das Verhältnis zwischen der kausalen Genese von Überzeugungen und der normativen Struktur einer bereits bestehenden sprachlichen Praxis im Unklaren lässt. Zu ei-

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Nun kann es nicht darum gehen, die unbestreitbaren Unterschiede zwischen Wittgenstein und Davidson zu leugnen. Der Gegensatz von individualistischen und kollektivistischen Ansätzen scheint mir für diese Diskussion allerdings nicht geeignet. Dass die von Davidson herangezogenen Lernsituationen zu keinem Konflikt zwischen Interpretation und Triangulation führen, ist bereits gezeigt worden. Es wurde dabei auch deutlich, dass Davidson die Sozialität von Sprache nicht einfach leugnet. Er spricht ausdrücklich von einer begrifflich geteilten Welt als Voraussetzung von erfolgreicher Kommunikation. Ein Sprecher kann – das sollten die Dreieckssituationen zeigen – nicht alleine zwischen scheinbarer und richtiger Fortsetzung seiner eigenen artikulierten Reaktionsmuster auf Gegenstände und Ereignisse in der Welt unterscheiden. Es bedarf der Interaktion mit einem Interpreten, der Ähnlichkeiten zwischen den artikulierten Reaktionsmustern und den vorliegenden, ihnen beiden gemeinsamen Gegenständen und Ereignissen beobachtet und diese Ähnlichkeitsrelationen als Hinweis auf gleiche Bedeutung interpretiert. Erst mit der zweiten Person ist eine Instanz gegeben, die es ermöglicht zwischen falschen und richtigen Relationen zu unterscheiden. Die Möglichkeit der Korrektur durch Kommunikationspartner muss gegeben sein. Allerdings setzt diese Korrekturmöglichkeit nicht, wie Anhänger des kollektivistischen Ansatzes meinen, geteilte Sprachen voraus. Interpretierbarkeit verlangt, dass der Sprecher auf eine Weise kommuniziert, die es seinem Interpreten ermöglicht, ihn so zu verstehen, wie er verstanden werden will. Dazu muss er eine Praxis gelungener Kommunikation etablieren, indem er seine Sprache hinreichend oft tatsächlich erfolgreich kommunikativ einsetzt. Nur das regelmäßige Gelingen kann dem Begriff der Bedeutung Gehalt verleihen: »[T]he concept of meaning would have no application if there were no endless cases of successful communication, and any further use we give to the notion of meaning depends on the existence of such cases.«50 Kommunikation, mithin Korrigierbarkeit verlangt also eine Regelmäßigkeit im Sprachegebrauch. Davidson will diese gemeinsame Praxis der Kommunikation, die als Maßstab der Korrektheit auch auf andere, bisher gelungene Fälle von Kommunikation Bezug nehmen kann, um von dort aus auf zunem ganz ähnlichen Ergebnis kommt auch Demmerling: Sinn, Bedeutung, Verstehen, S. 60, wenn er behauptet, dass Davidsons Überlegungen zur Triangulation auf Annahmen zur Sozialität von Sprache hinauslaufen, von denen er sich in anderen Zusammenhängen abgegrenzt hatte. Davidson war im Übrigen seinerseits der Auffassung, dass es für die Frage nach dem Zusammenhang von kausaler Genese und Normativität keine philosophische Antwort geben könne, sondern allenfalls eine empirische: Vgl. D. Davidson: »Externalisms«, in: Petr Kotatko/Peter Pagin/Gabriel Segal (Hg.): Interpreting Davidson, Stanford 2001, S. 1-13 sowie ders.: »The Perils and Pleasures of Interpretation«, in: E. Lepore/B. C. Smith (Hg.): The Oxford Handbook of Philosophy of Language, S. 1056-1068. 50 D. Davidson: »The Social Aspect of Language«, in: ders.: Truth, Language and History, S.109-125, hier S. 122. J. Liptow: Regeln und Interpretation, hat diesen Gedanken im Sinne eines case-law-Modell der Praxis sprachlicher Verständigung im Sinne Davidsons ausgearbeitet, vgl. dort S. 220-227.

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künftige Fälle im Modus der Wahrscheinlichkeit vorzugreifen, allerdings nicht als geteilte Praxis verstanden wissen: »Those who insist that shared practices are essential to meaning are half right: there must be an interacting group for meaning – even propositional thought, I would say – to emerge. Interaction of the needed sort demands that each individual perceives others as reacting to the shared environment much as he does; only then can teaching take place and appropriate expectations be aroused. It follows that meaning something requires that by and large one follows a practice of one’s own, a practice that can be understood by others. But there is no fundamental reason why practices must be shared.«51

Man könnte den Eindruck haben, dass es bei dieser Differenz – Gemeinsame Praxis und die Annahme, dass es sich bei dieser Praxis um eine geteilte Praxis (Williams’ Übereinstimmung) handelt – um eine bloße Spitzfindigkeit geht. Ausgangspunkt ist für Davidson das sprechende Individuum, das auf eine bestimmte Weise verstanden werden will, sowie ein Interpret, der seine Äußerungen so verstehen soll, wie der Sprecher verstanden werden will. Außerhalb von durch diese Ausgangslage vorgezeichneten Kommunikationssituationen gibt es für Davidson keinen Maßstab für das Gelingen von Verständigung. Man kann dieses Ergebnis Davidsons sowie den methodischen Ausgangspunkt bei individuellen Sprechern, der zu diesem Ergebnis führt, durchaus akzeptieren. Vielleicht könnte man jedoch aus der Perspektive des späten Wittgensteins eine andere Frage aufwerfen als die nach der Priorität des einzelnen Sprechers oder der Sprachgemeinschaft: Es ist die bei Wittgenstein so wichtige Frage nach der gemeinsamen menschlichen Handlungsweise als »das Bezugssystem, mittels welches wir uns eine fremde Sprache deuten.«52 Davidson scheint sich auf etwas ganz ähnliches zu berufen, wenn er festhält, dass für das Gelingen der Triangulation, also für die erfolgreiche Korrelation von ähnlichen Reaktionsmustern und Äußerungen auf ähnliche Gegenstände und Ereignisse hinreichend ähnliche Lebewesen mit hinreichend ähnlichen Reaktionsmustern miteinander interagieren müssen. Während Davidson diese Ähnlichkeitsbedingungen eindeutig naturalistisch versteht, scheint Wittgenstein – so muss man wohl die vage Kategorie der Lebensform verstehen – auch kulturelle Praktiken zu meinen. Ihre Bedeutung scheint Davidson zu unterschätzen.

51 D. Davidson: »The Social Aspect of Language«, S. 125. 52 L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 206.

Die Positivierung des Negativen GERNOT BÖHME

1. Dialektik Dem Dialektiker dürfte die Denkfigur geläufig sein, zumindest dem Dialektiker hegelscher Prägung. Von der Negation über die Aufhebung zu neuerer, zu höherer Position zu schreiten, ist sein liebstes Geschäft, dabei wird er sich nicht ungern auf der einen Seite der Hilfe Platons versichern, auf der anderen Seite seine höhere Legitimation in der christlichen Versöhnungslehre erblicken. Platon hat in seinem Dialog Sophistes eindringlich gezeigt, dass das Nichtseiende und damit Falschheit, Lüge, Täuschung nur denkbar sind, wenn das Nichtseiende ein Anderes, das Heteron, und damit seinerseits ein Seiendes ist. Das mag für die bestimmte Negation gelten, doch den Christen ist gar die absolute Negation, nämlich der Tod Gottes, das höhere Sein, »dieser Tod ist zugleich… die höchste Liebe«, sagt Hegel1, denn diese ist Hingabe und im Äußersten Hingabe des Lebens. Es geschehe daher in dieser Hingabe die Überwindung der natürlichen Endlichkeit und damit die Rückkehr des Geistes, seine Versöhnung mit sich.2 Wir haben es in diesem Typ Dialektik mit einer Versöhnungsphilosophie zu tun, die insbesondere die Versöhnung des Menschen mit seinem hinfälligen Dasein, mit seiner ephemeren Existenz, aber auch mit seiner Schuld in Aussicht stellt. Es ist nicht nur die Endlichkeit überhaupt, sondern auch die Zerrissenheit menschlicher Existenz und ihre Verderbnis, die damit aufgehoben wird, wohlgemerkt aufgehoben, nämlich in einer höheren Existenz, der Existenz des Geistes oder des Reiches Gottes, in dem wir, wie Jesus sagt, weder freien noch gefreit werden, sondern sein werden wie die Engel Gottes. Die natürliche Existenz bleibt

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Die absolute Religion, Hamburg 1966, S. 158. Ebd.

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dabei was sie ist, Jammertal, Sünde, Reich des Todes; keineswegs ist in dieser dialektischen Rekonstruktion des Versöhnungsgedankens schon der Geist des Ressentiments, wie Nietzsche meinte, am Werke. Freilich merkt Hegel an, dass Christi Tod am Kreuz, der als Verbrecher zum Positivum erhoben wird, zugleich die Devaluierung von Staat und bürgerlicher Existenz bedeutet: »Wenn dies Symbol der Entehrung zum Panier […] gemacht ist, […], so ist (das Gegenteil) die innere Gesinnung in ihrem tiefsten Grunde dem Staatsleben und bürgerlichem Sein entzogen«3. Das ist sicherlich die Stelle, an der die Erniedrigten und Beleidigten frohlocken können, weil das Himmelreich ihrer ist. Und doch ist die Dialektik Hegels nicht die Positivierung des Negativen als solchen, sondern vielmehr seine Aufhebung, wie es in den letzten Kapiteln der Phänomenologie des Geistes heißt, d.h. die Bewegung, in der der absolute Geist in Erscheinung tritt und damit zu sich selbst kommt. Das gilt auch für die einzelnen Stationen, die immer wieder als Beispiele für die Dialektik eingeführt werden, wie die Dialekt der sinnlichen Gewissheit und der von Herr und Knecht. Was jetzt ist, ist nichtig, wird aber aufgehoben in Gewesen-Sein, aber auch dieses ist nichtig, insofern es gewesen ist, und es wird nur in das Sein eingeholt durch die synthetische Bewegung, die die vielen verschwindenden Jetzte zu einem machen, nämlich dem Tag: »Und dies ist das wahrhafte Jetzt, das Jetzt als einfacher Tag, das viele Jetzt in sich hat, Stunden«4. Der Geist hat mit dieser Bewegung sich aus der Verfallenheit an die sinnliche Gewissheit im Jetzt gelöst und ist als Tagesbewusstsein zumindest einen Schritt seiner Selbständigkeit nähergerückt. Die Verhältnisse scheinen auf den ersten Blick in der Dialektik von Herr und Knecht anders zu liegen, insofern sich das knechtische Selbstbewusstsein am Ende als das wahre erweist. Zwar erscheint das Selbstbewusstsein zunächst im Herrn, insofern er im Kampf sein Leben eingesetzt hat, doch das ist nichts im Verhältnis zum Knecht, bei dem das »absolute Flüssigwerden alles Bestehens im Dienen, vollzogen und auf Dauer gestellt ist«5. Entscheidend ist aber, dass er im Gegensatz zum Herrn, der nur konsumiert und insofern das Dingliche vernichtet, in der Arbeit einen Widerstand erfährt, an dem er sich bildet: »Die Arbeit hingegen ist gehemmte Begierde, aufgehaltenes Verschwinden oder sie bildet«6. Man sieht, wie die erfahrenen Negativitäten, nämlich der Furcht des Dienstes und der Arbeit, dem Knecht zum Positiven ausschlagen, insofern sie alles Bestehende an ihm selbst vernichten, er in der Furcht sich selbst gegeben ist und im Arbeitspro-

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Ebd., S. 161f. G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Hamburg 61952, S. 86. Ebd., S. 148. – Das ist übrigens der Grund, aus dem heraus Marx im Kapitalismus die Aneignung des Arbeitsproduktes durch den Kapitalisten als Entfremdung des Arbeiters kritisiert. Ebd., S. 149.

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dukt zur Anschauung seiner selbst gelangt: »Das arbeitende Bewusstsein kommt also hierdurch zur Anschauung des selbständigen Seins als seiner selbst.«7 Diese Art der dialektischen Versöhnung scheint nun allerdings aus dem Geist des Ressentiments geboren. Die paradoxe Erhebung der Knechtschaft zum wahren Selbstbewusstsein gelingt wohl nur, weil Hegel insgeheim durch die Rede vom absoluten Herrn und der Furcht des Herrn8 christliche Vorstellungen einfließen lässt und damit die Knechtschaft als anthropologische Stellung des Menschen gegenüber Gott erscheinen lässt. Damit wird die für das subjektive Selbstbewusstsein konstitutive Erfahrung der Negativität zum Vehikel auf dem Wege zur Erscheinung des Geistes, der ja schließlich nicht im Individuum, sondern in den Institutionen und in den Produkten der Kunst sich manifestiert. Dagegen hat nicht nur Marx protestiert, indem er die Entfremdung des Menschen unter den objektiven Bedingungen des Kapitalismus aufzeigte, sondern etwa zur selben Zeit Sören Kierkegaard, der auf der Subjektivität des Geistes beharrte und damit in der philosophische Anthropologie gegenüber der Geschichtsphilosophie ein Gegengewicht schuf. Da Kierkegaard von Hegel herkommt, ist es nicht überraschend, dass diese philosophische Anthropologie sich als eine Ausgestaltung der Theorie des subjektiven Geistes darstellt. Das bedeutet ein undialektisches Festhalten des Negativen als solchen. Rosenkranz folgend macht Kierkegaard die Angst zum Kern des Selbstbewusstseins. Was in Hegels Dialektik von Herr und Knecht die Furcht des Herrn war, wird in seinem subjektiven Moment die Angst um mich, in der Angst bin ich mir selbst, wie in keiner anderen Regung, gegeben als der Gegenstand, mit dem es mir ernst ist; Kierkegaard hat in seiner Schrift Der Begriff Angst den Ernst als das Paradigma der Existenzbegriffe eingeführt, nämlich solcher Begriffe, in deren Inhalt das Subjekt selbst involviert ist. Es sind solche Inhalte, bei denen immer zugleich mitgedacht werden muss, dass es um mich geht. »Diesen Gegenstand (des Ernstes) hat jeder Mensch« – sagt Kierkegaard – »denn es ist er selbst«9. Kierkegaard hat die Positivierung des Negativen ursprünglich in seiner Dissertation als ein Festhalten an der sokratischen Position gegenüber seiner Aufhebung in der platonischen ausgearbeitet.10 Er bestimmt den Standpunkt des Sokrates als den der Ironie, wobei Ironie die Infragestellung oder Vernichtung alles Bestehenden, insbesondere alles Wissens in der Perspektive einer höheren Wirklichkeit oder eines Wissens im eigentlichen Sinne darstellt, ohne doch an die Stelle des vermeintlichen Wissens und der vermeintlichen Wirklichkeit dieses Höhere oder Andere zu setzen. Das geschieht erst durch Platon. Es sei, behauptet Kierkegaard, Sokrates mit seiner Unwissenheit ernst gewesen: 7 8 9

Ebd., S. 149. Ebd., S. 148. Sören Kierkegaard: Der Begriff der Angst (Übersetzung Lieselotte Richter), Reinbek 1960, S. 136. 10 Sören Kierkegaard: Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates, Düsseldorf/Köln 1961.

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»Sokrates ist, wenn er erklärte nichts zu wissen, gleichwohl wissend gewesen, da er von seiner Unwissenheit ein Wissen hatte, obwohl auf der andren Seite dies Wissen doch kein Wissen von etwas war, das will heißen, keinerlei positiven Inhalt hatte, und insofern also ist seine Unwissenheit ironisch gewesen.«11

Mit Platon geht die sokratische Negation alles Bestehenden bekanntlich in das höhere Wissen der Ideen und des wahren Staates über. Damit geht aber zugleich die Subjektivität verloren, die Kierkegaard im ironischen Standpunkt des Sokrates identifizierte. Wir wollen nun Kierkegaard folgend im sokratischen Standpunkt das Paradigma einer Positivierung des Negativen aufsuchen.

2. Sokrates – der weiseste aller Menschen Sokrates gilt bis heute als eine paradoxe Gestalt. Landläufig ist er mit dem Diktum Ich weiß, dass ich nichts weiß bekannt, und gleichzeitig weiß man, dass er seinen Zeitgenossenen als der weiseste aller Menschen galt. Ist nicht Philosophie das Streben nach Weisheit und Weisheit eine Form des Wissens? Tatsächlich hat Chairephon, der Freund des Sokrates, vom Orakel von Delphi diese Mitteilung erhalten, dass Sokrates der weiseste aller Menschen sei. Sokrates hat nach Aussage Platons in der Apologie dieses Orakel benutzt, um seine Praxis der Wissensprüfung bei seinen Zeitgenossen zu legitimieren. Ironisch bezeichnet er diese Praxis als den Versuch, den Gott Apollon mit seiner Aussage empirisch zu widerlegen – nämlich wenn er einen Menschen träfe, der weiser wäre als er. Im Zuge dieser Wissensprüfung traf Sokrates nun bei den Athenern allenfalls auf Meinungen, auf Für-Wahr-Halten, bestenfalls auf handwerkliche Kompetenzen, niemals jedoch auf wohlbegründetes und aussagefähiges Wissen. Vor diesem Hintergrund nahm sich Sokrates’ skeptische Sicht seiner selbst allerdings als Weisheit aus, indem er nämlich von sich selbst nicht behauptete, dass er über eine positives Wissen verfügte. Dieses skeptische Selbstbewusstsein hatte, wie Kierkegaard mit Recht bemerkt, auch selbst nicht die Form des positiven Wissens, vielmehr lautet die authentische Formulierung, wie sie sich ebenfalls in Platons Apologie des Sokrates findet: »Ich bin mir dessen bewusst, weder viel noch wenig zu wissen.«12 Der entscheidende Terminus ist hier der Ausdruck synoida, was so viel heißt: Ich bin Zeuge meiner Selbst, Mitwisser, ich bin mir dessen bewusst. Die Weisheit des Sokrates ist also kein inhaltliches, kein positives Wissen, sondern vielmehr ein Reflexionswissen, Bewusstsein oder besser Bewusstheit. Dagegen ist für den Philosophen bei Platon charakteristisch, dass er in den Ideen das wahre Wissen über die Dinge erreicht und von den obersten Wis11 Ebd., S. 274. 12 Platon, Apologie 21.

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sensinhalten, nämlich der Idee des Guten und des Einen her den Wissenschaften Begründung geben kann und ihn erst dann ihren eigentlichen Wissenschaftscharakter verleiht. Warum aber galt dieses Bewusstsein, nichts zu wissen, bei Sokrates bereits als Weisheit? Es ist Weisheit sicher im Sinne einer Erfüllung der delphischen Forderung der Selbsterkenntnis, Sokrates gibt sich keiner Selbsttäuschung hin. Doch das sokratische Wissen des Nichtwissens, das sich genauer besehen als ein Zustand des Bewusstseins erweist, ist mehr; es ist eine besondere oder, besser gesagt, die Handlungskompetenz. Auf diesem Standpunkt der Bewusstheit hat Sokrates nämlich eine Distanz zu den Anmutungen und Zumutungen – den Lüsten, wie es damals hieß –, die die Menschen sonst umtreiben. Von diesem Standpunkt her kann er gelassen und rational entscheiden und ausführen, was ihm jeweils als das Richtigste erscheint. Von daher erhält die ebenfalls paradoxe sokratische These, dass Tugend eigentlich Wissen sei, einige Plausibilität. Der tugendhafte also der moralisch kompetente Mensch ist eigentlich derjenige, der fähig ist, auch das auszuführen was er als das Wichtigste eingesehen hat. Nach Sokrates ist also Weisheit qua Selbsterkenntnis und moralischer Kompetenz durchaus auch ohne positives Wissen möglich. Es reicht dazu, die skeptische oder ironische Haltung zu sich selbst zu entwickeln, also den Standpunkt der Bewusstheit zu erreichen. Das bedeutet aber keineswegs, dass man nach Sokrates in der Philosophie auf die Bemühung um positives Wissen verzichten müsste. Im Gegenteil kann man wohl sagen, dass Sokrates’ kritische Wissensprüfung, seine Einforderung von Rechtfertigungen und insbesondere seine berühmte Grundforderung nach Definitionen also die Beantwortung der Frage nach dem, was etwas ist, tì êsti, das Wissen in Europa erst auf den Königsweg der Wissenschaft gebracht hat. Insofern ist Platons Weg durchaus eine genuine Fortsetzung des Sokratischen. Zwar hört man in der von Platon im Dialog Phaidon mitgeteilte intellektuelle Biographie des Sokrates, dass er sich einst von seinen naturphilosophischen bzw. naturwissenschaftlichen Bemühungen im Gefolge von Anaxagoras getrennt hat, um sich ethischen Fragen zuzuwenden, und dass er sich ferner irgendwann entschlossen hat, nicht mehr die Dinge selbst zu untersuchen, sondern vielmehr ihre Darstellung in den logoi, also in der Sprache, so war eben doch auch bei Sokrates Philosophie ein Bemühen um Wissen. Von einem Festhalten des sokratischen Standpunktes der Ironie in der selbstbewussten Indifferenz im Bezug auf Wissen und Nichtwissen kann für die Philosophie in der Folge keine Rede sein, vielmehr haben in Europa alle Wissenschaften als Kinder oder Enkel der Philosophie von ihr her ihre Würde erhalten. Das Bemühen um Wissen, der Wille zur Wahrheit sind von philosophischer Dignität und gelten als solche als gut. Diese fraglose Akzeptanz des Wissen-Wollens, diese Einschätzung von Wissen als ein menschliches Gut, hat nun in jüngster Zeit Risse bekommen. Wissensverzicht scheint in manchen Fällen geboten, ein Nichtwissen gegenüber dem Wissen moralisch vorzuziehen. Ein Wissen des Nichtwissens, also ein Festhalten

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am sokratischen Standpunkt, scheint uns heute zur Bewahrung der Menschenwürde in vielen Fällen nötig. Damit kehren wir im Blick auf unsere historische Lage zur Frage der Positivierung des Negativen zurück.

3. Nihilismus ist ein Glücksgefühl Gottfried Benns Diktum Nihilismus ist ein Glücksgefühl13 zeigt eine fundamentale Wende im Verhältnis zur Erfahrung des Negativen an und verweist sie zugleich auf bestimmte historische Randbedingungen. Nihilismus bezeichnet eine nachnietzschesche Epoche der Geistesgeschichte, als Lebensgefühl die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg; dass das Glück nicht mehr in der Erfüllung des Lebensvollzuges gesucht wird, sondern im Durchgang durch die Melancholie14, hat Randbedingungen, die Nihilismus heißen können, aber auch Massengesellschaft, Großstadtleben, technische Zivilisation. Genauer gesehen geht es um den Verlust von einbettenden Situationen, wie Hermann Schmitz sagen würde, oder auch um den Verlust des metaphysischen Horizontes. Versuchen wir, diese Situation konkreter zu bestimmen und dadurch die für die Gegenwart relevante Positivierung des Negativen zu verstehen. Auf dem Feld der Befindlichkeiten hatten wir schon in Erinnerung gebracht, was im Übergang von der Furcht des Herren, in der sich die Kinder Gottes finden, zur Angst um mich, die das Individuum konstituiert, vollzieht. Das war zwischen Hegel und Kierkegaard nur Vorspiel und sollte dann im 20. Jahrhundert mit dem Existenzialismus geistesgeschichtliche Allgemeinheit erreichen. Auf dem Gebiet der Moral können wir ein Auseinanderfallen des Allgemeinen und des Guten, deren Einheit für die kantische Ethik noch zentral war, konstatieren. Selbst Habermas, eben ein Kantianer, konstatiert das Auseinanderfallen von Individualmoral und Sozialmoral, das moralische Verhalten des Einzelnen wird zum Dissens gegenüber dem, was man tut, dem Üblichen. In Bezug auf Wissenschaft und Technik kann man von einem Ende des Baconschen Zeitalters15 reden. War im Sinne der Baconschen Ideologie bis ins 20. Jahrhundert hinein wissenschaftlich-technischer Fortschritt eo ipso als gesellschaftlicher und humaner Fortschritt angesehen worden, wird heute der Wissensfortschritt eingeschränkt, um die Menschen zu bewahren, und der Einzelmensch

13 Gottfried Benn: Sämtliche Werke Bd. I-VII. Stuttgarter Ausgabe. Stuttgart 19862003, »Rede auf Heinrich Mann«, Bd. III S. 320; »Lebensweg eines Intellektualisten«, Bd. IV, S. 185; »Entwürfe zu einem fragmentarisch gebliebenen Opernlibretto V: Prolog«, Bd. VII/2, S. 50. 14 »den Reigen sehen und das Leben formend überwinden, würde da der Tod nicht sein der Schatten, blau, in dem die Glücke stehen?« In: G. Benn: »Das moderne Ich«, Sämtliche Werke, Bd. III, S. 101. 15 Gernot Böhme: Am Ende des Baconschen Zeitalters. Studien zur Wissenschaftsentwicklung, Frankfurt/Main 1993.

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mag sich für ein menschlicheres Leben entscheiden, gerade durch Verzicht auf ein mögliches Wissen von sich. Beginnen wir mit der Erläuterung wegen der Nähe zum Paradigma Sokrates mit dem dritten Feld der Positivierung des Nichtwissens. Hier scheint sich zu unseren Lebzeiten gegenüber der gesamten europäischen Geistesgeschichte ein tiefer Einschnitt vollzogen haben. Dass man auf Wissensfortschritt verzichten sollte, wirkt noch heute paradox und ist gesellschaftlich schwer durchsetzbar. Gleichwohl hat sich doch ein Bewusstsein durchgesetzt, dass der Wille zur Wahrheit auch ein Wille zur Macht ist und das Wissen-Wollen mit einer Brutalität des Aufdeckens, der Aneignung des Gegenstandes des Wissens und seiner Beherrschung verbunden ist. Der Baconschen Glaube, der Wissensfortschritt mit Nützlichkeit verband, hat an Grenzen geführt, an denen die Vernutzung und Funktionalisierung des Gegenstandes sich aus Sicht der Ethik und der Menschenrechte verbietet. Dieser Hintergrund trägt heute die Einschränkungen, die etwa durch das Embryonenschutzgesetz und das Stammzellengesetz dem Wissensfortschritt auferlegt werden. Im Bereich der Individualethik ist der Einschnitt noch deutlicher, hier geht es geradezu um eine Aufhebung oder zumindest um eine Einschränkung der Forderung, sich selbst zu erkennen. Das genetische Wissen, das heute schon möglich ist, würde den einzelnen Menschen in seiner Handlungsfreiheit bedrohen und sein Lebensgefühl, d.h. das Gefühl in eine offene Zukunft hineinzuschreiten, erheblich einschränken. Das klassische Beispiel dafür ist die genetische Veranlagung zum Mamakarzinom; hier haben viele Frauen, insbesondere in den USA durch prophylaktische Sektionen der Brüste in der Perspektive der Krankheitsvermeidung sich um Lebensmöglichkeiten gebracht und ihr leibliches Selbstbewusstsein beschädigt. Aber nicht nur zum Schutz des Einzelnen, sondern zur Bewahrung von Egalität und der Vermeindung von Diskriminierung muss auf genetisches Wissen verzichtet werden. Sonst würde die Gefahr bestehen, dass etwas im Versicherungssystem oder auf dem Arbeitsmarkt Träger von bestimmten genetischen Anlagen diskriminiert würden. Man hat hier über das Recht auf informationelle Selbstbestimmung hinaus geradezu ein Recht auf Nichtwissen gefordert; der Einzelne muss das Recht haben, vieles über sich nicht zu wissen und anderen den Zugang zu seine Person betreffendem Wissen zu verweigern. War bei Sokrates nach unserer Analyse das Bewusstsein des Nichtwissens Weisheit, so hieß das noch nicht unbedingt, dass es ihm nicht um Wissen gegangen wäre. Für uns dagegen stellt sich die Frage, ob es nicht weise ist, in bestimmten Fällen und in bestimmter Hinsicht auf Wissen zu verzichten. Das wäre die Positivierung des Nichtwissens. Der Status des Nichtwissens kann unter Umständen der Würde des Menschen eher entsprechen, die Führung des Lebens unter der Bedingung des Nichtwissens menschlicher sein, als unter der Bedingung des Wissens; das hieße mit der Philosophie Kierkegaards den Standpunkt des Sokrates festzuhalten.

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Das zweite von uns genannte Feld der Positivierung des Negativen war das Feld der Moral: hier ist die charakteristische Erfahrung des 20. Jahrhunderts, dass das Ganze das Falsche sein kann, konkret, dass der Staat also, mit Hegel, die umfassendste Instanz substanzieller Sittlichkeit, eine verbrecherische Organisation sein kann. Damit ist das Vertrauen in eine moralische Weltordnung, die noch Kants Identifizierung des Guten mit dem Allgemeinen getragen hatte, zerbrochen. Das hat dazu geführt, dass neben der Prinzipienethik noch eine Situationsethik entstand, nach der was gut ist, sich nicht aus allgemeinverbindlichen Regeln, sondern vielmehr aus den jeweiligen Bedingungen des Handelns ergibt. Im Horizont entmündigender Sozialverhältnisse, entfremdender Lebensbedingungen und invasiver Technisierungen aller menschlichen Verhaltensweisen und Verhältnisse hat sich die Fähigkeit, Nein zu sagen, zur grundlegenden moralischen Kompetenz entwickelt. Nicht erst der Entwurf vernünftiger Verhältnisse wie die Kritische Theorie es wollte, sondern bereits die Verweigerung ist der moralische Akt. Die Refutation dient der Bewahrung der Humanität, nicht der Revolutionär, sondern der Dissident ist die paradigmatische Figur einer politisch-moralischen Existenz. War die klassische Ethik durch eine Gleichsetzung von Tugend und Tapferkeit geprägt und leitete sich so aus dem Kanon kriegerisch-männlichen Handelns her, so wird in der gegenwärtigen Ethik Zivilcourage unter den Bedingungen des Friedens als höherer Wert angesehen; war die klassische Tugend der Tapferkeit mit dem Ausführen und dem Festhalten des Gebotenen verbunden, so ist die moderne Tugend der Zivilcourage gerade durch den Mut, sich Geboten zu verweigern, bei dem was üblich ist, nicht mitzumachen, gekennzeichnet. In der Form des zivilen Ungehorsams kann Moralität sich geradezu in der Nichtbeachtung von Anordnungen und der Übertretung von Gesetzen manifestieren. Auch hier eine Positivierung des Negativen, Moralität hat weniger mit der Wahl zwischen Handlungen, sondern in der Verweigerung von Handlungen ihren Ort. Das bedeutet, dass gegenüber der bisher dominanten Ethik des Handelns eine Ethik des Leidens an Gewicht gewinnt. Moralische Vorbilder sind nicht Helden, die bedeutende Taten ausführen, sondern Menschen, die bereit waren, Leiden aufzunehmen, wie Janusz Korczak, der die ihm anvertrauten Kinder in die Vernichtung begleitete, oder Ernst Wiechert, der freiwillig ins KZ ging. Er fühlte sich in einer Situation, in der er sein moralische Selbstbewusstsein nur bewahren konnte, indem er sich auf die Seite der Leidenden stellte. Ich komme zu dem zuerst genannten Feld, in dem wir in unserer Situation von einer Positivierung des Negativen reden müssen – es ist das Feld der Befindlichkeiten. Schon bei Kierkegaard wurde festgestellt, dass Angst für Subjektivität konstitutiv ist, insofern der Mensch darin auf den Gegenstand verwiesen ist, mit dem es ihm ernst ist, nämlich auf sich selbst. Im 20. Jahrhundert hat Heidegger die Angst als die Grundbefindlichkeit des Daseins ausgemacht. Das mag historische Rahmenbedingungen haben, insofern in der Zwischenkriegszeit die Erfahrung von Unheimlichkeit und Entwurzelung, Sinnlosigkeit auf der einen Seite

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und Flucht in Betriebsamkeit und Lebenslust auf der anderen Seite, für viele Menschen das Lebensgefühl bestimmte. Heidegger jedoch erkennt in der Angst ein anthropologisch grundlegendes Moment, das den Menschen – bei Heidegger Dasein genannt – sein eigentliches Sein erschließt. Heidegger unterscheidet Angst von der Furcht dadurch, dass die Furcht immer Furcht vor etwas innerweltlich Seiendem ist, während das Wovor der Angst das In-der-Welt-Sein als solches ist: »Wovor die Angst sich ängstigt, ist das In der Welt sein selbst«16. Von der Angst her erweist sich die Verfallenheit des Daseins in der Betriebsamkeit und dem Gerede als Flucht vor dem eigentlich Sein-Können, die Angst holt das Dasein quasi aus dieser Flucht zurück und erschließt es »als Möglichsein und zwar als das, das es einzig von ihm selbst her als vereinzeltes in der Vereinzelung sein kann«17. Ist die Angst als solche als das Gefühl, zu Nichts und Niemanden zu gehören, das Gefühl der Unheimlichkeit und Unbehaustheit, durchaus eine negative Erfahrung, so wird sie doch gerade als Zurückgeworfensein des Daseins auf sich selbst zum Positivum, zum Ursprung von Freiheit und Selbstsein: »Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Seinkönnen, d. h. das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-Wählens und Ergreifens«18. Diese von Kierkegaard über Heidegger führende Linie ist von Schmitz fortgesetzt worden, indem er der Analyse der Befindlichkeit die Analyse der Leiblichkeit hinzufügt. Es ist neben der Angst der Schmerz, der für das Sichfinden des Menschen in der Welt und die Konstitution seines Selbstseins die zentrale Rolle übernimmt. Hermann Schmitz’ phänomenologische Analysen muss man im Zusammenhang der Frage nach dem Subjekt seit Descartes sehen, dann entdeckt man, dass bereits in Descartes’ cogito ergo sum das Subjekt sich einer Erfahrung des Negativen bzw. einer negativen Erfahrung verdankt. Die Gewissheit seiner Selbst findet Descartes im Zweifel: Weil ich an allem zweifle, bin ich mir zumindest als Zweifelnder bewusst. Die weitergehenden Gewissheiten, die der Mathematik, werden allerdings nach wie vor metaphysisch, nämlich durch die Idee Gottes, abgesichert. Hermann Schmitz hat nun mit Recht darauf hingewiesen, dass die Infragestellung seiner selbst, mit der Descartes anfängt, noch keine existenzielle, sondern eine intellektuelle ist. In der Folge hat sich auch das kartesische Subjekt zum transzendentalen bei Kant oder zur absoluten Identität bei den Idealisten fortentwickelt. Das empirische Subjekt des einzelnen Menschen hat mit dieser abstrakten Gewissheit intellektueller Identität nichts gewonnen. Deshalb lässt sich Schmitz auf die viel fundamentalere Infragestellung des Menschen in seiner Existenz durch Angst und Schmerz ein. Er hebt auf die radikal engende Tendenz dieser Befindlichkeiten bzw. dieser leiblichen Regungen ab, eine Engung, die zugleich die einer Fluchttendenz, nämlich aus dem Hier und Jetzt, verbunden ist. Gerade durch diese Fluchttendenz ist um so deutlicher zu 16 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 61949, S. 187. 17 Ebd., S. 188. 18 Ebd.

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spüren, dass der Mensch in Angst und Schmerz an die Gegenwart gebunden ist, dass er hier und jetzt das Ich, dieses Dasein, zu übernehmen hat. Schmitz nennt diese Gegenwart die primitive Gegenwart, weil sie die fünf Momente des Ich, Jetzt, Hier, Dieses, Dasein ungeschieden enthält, aus der heraus gerade durch die in Angst und Schmerz angelegte Fluchttendenz schrittweise die einzelnen Elemente sich ausdifferenzieren. Entscheidend dabei ist, dass das Ich in der fundamentalen Erfahrung von Angst und Schmerz sich in seiner betroffenen Selbstgegebenheit erfährt. Wir können deshalb von einer Geburt des Ichs aus dem Schmerz sprechen. Das Ich wird aus der Quelle der negativen Erfahrung in Angst und Schmerz nicht wie in der Spiegeltheorie als ein nacktes Subjekt der Reflexion konstituiert, sondern mit einem Fundus der Selbstgegebenheit beschwert – also mit allem, was man im Weiteren zur Natur des Menschen zählen kann. Es ist dies, was Nietzsche das tiefe oder das eigentliche Selbst genannt hat: der Leib. Ferner konstituiert sich die Subjektivität des Subjektes auf diese Weise nicht als irgendeine logisch kaum einholbare Singularität, sondern durch die affektive Betroffenheit: Es geht mir in diesen Erfahrungen und Inhalten um mich selbst, ich bin der Betroffene. Diese Positivierung des Negativen ist im Falle von Angst und Schmerz ganz besonders anstößig, paradox im strengen Sinne des Wortes, nämlich allen Vorurteilen und Vormeinungen widersprechend. Ist der Mensch nicht ein Wesen, das nach Glück strebt? Bezieht er nicht sein Selbstbewusstsein gerade aus dem Positiven? Dem Erfolg? Der guten Tat? Ist nicht Lust der Zustand, in dem er eigentlich sein will? Diese Einwände übersehen, das die positiven Erfahrungen des Sich-ausleben-Könnens zugleich die Einladung sind, sich im Spannungslosen zu verlieren und dass die Fälle von Anerkennung, Erfolg und Bestätigung, niemals das Maß an Unvertretbarkeit erreichen, das mit der Betroffenheit von Angst und Schmerz gegeben ist. Man sollte daran erinnern, dass der frühneuzeitliche Arzt und Mathematiker Girolamo Cardano berichtet, dass er seine Beine geschlagen habe, um sich zu spüren und das Kierkegaard in seinem Buch über die Angst darauf hinweist, dass Kinder gerne das Gruselige aufsuchen. Angst und Schmerz sind solche Erfahrungen, die ganz anders als die positiven mich auf mich selbst zurückwerfen und unwidersprechlich deutlich machen, dass ich es bin, um den es hier geht. Diese Art von Positivierung sollte nicht verwechselt werden mit der Positivierung von Krankheitserfahrungen, wie sie sich etwa bei Victor von Weizsäcker oder Victor Frankl thematisiert finden. Zwar können sie auch die Momente der Selbstgewissheit enthalten, wie Angst und Schmerz, weil sie mit dieser Erfahrung verbunden sind, doch was von Weizsäcker und Frankl meinen, ist etwas anderes. Bei ihnen geht es um die Chance von Persönlichkeitsbildung und biographischer Entwicklung, die Krankheiten enthalten; diese dürften eher eine Verwandtschaft haben mit dem, was man dialektisch als Aufhebung bezeichnet, während Angst und Schmerz unmittelbar, ohne weitere Vermittlung das Positive

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enthalten oder sind, dass ich mir darin betroffen und unvertretbar selbst gegeben bin.

4. Schluss Das Beharren auf Nichtwissen als zeitgenössische Form von Besonnenheit, ja Weisheit, das Neinsagen-Können als Grundkompetenz moralischen Verhaltens, Angst und Schmerz als Quelle von Selbstbewusstsein – diese Befunde haben nach wie vor etwas Befremdendes, doch es hilft wohl nichts, ihre Herkunft in den sich verdüsternden Horizonten des 20. Jahrhunderts zu lokalisieren, sie bezeichnen unverlierbare Resultate der Selbstbesinnung des Menschen auf sich im nachmetaphysischen Zeitalter.

Negativität der Rede – Unmöglichkeit der Kommunikation ANDREAS HETZEL

Im Gegensatz zu Parmenides und Platon, die den lógoV in einem zeitlosen Kosmos zu verankern und darauf zu verpflichten suchen, von einem mit sich identischen und vollkommenen Sein Rechenschaft abzulegen, zeichnet sich alles Reden für die antiken Rhetoriker durch eine intrinsische Negativität und eine ihr korrespondierende Wirksamkeit aus.1 Bereits in den ältesten überlieferten Dokumenten der rhetorischen Tradition, den Reden des Gorgias über das Nichtsein und über Helena2, wird dieser Zusammenhang deutlich. Während die Rede über das Nichtsein zeigt, dass die lógoi nicht auf eine ihnen vorgängige, an sich seiende Welt zurückgeführt werden können, veranschaulicht die Helena-Rede, wie der lógoV gerade aus dieser Autonomie und Ungegründetheit seine Kraft bezieht und zu einem »großen Bewirker« werden kann, der Welt nicht nur zu repräsentieren sondern auch zu gestalten vermag. Da er nicht vollständig von der Welt determiniert wird, vermag der lógoV auf sie einzuwirken, sie zu entdeterminieren und zu verändern. Gegen den repräsentationalistischen Mainstream der abendländischen Sprachphilosophie wird die Wirksamkeit der Rede in der Moderne, etwa von Nietzsche und Peirce, wiederentdeckt und dann unter dem von John L. Austin bereitgestellten Titel der Performativität breit thematisiert.3 Im vorliegenden Beitrag möchte ich fragen, ob auch die Figur der Negativität, die uns im Kontext der

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Vgl. hierzu ausführlicher Andreas Hetzel: Rhetorisches Sprachdenken. Eine Pragmatik jenseits der Handlungstheorie (erscheint 2009). Vgl. Gorgias von Leontinoi: Reden, Fragmente und Testimonien, Griechisch/Deutsch, hg. u. übers. v. Thomas Buchheim, Hamburg 1989. Vgl. hierzu Andreas Hetzel: Das Rätsel des Performativen. Sprache, Kunst und Macht, in: Philosophische Rundschau, 51. Jahrgang, Heft 2, 2004, S. 1-28.

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antiken Rhetorik in Gestalten wie dem mĂ Òn, dem kairóV und der grundlosen Kraft des peíjein begegnet4, ihre Spuren in der Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts hinterlassen hat. Zunächst stelle ich mit Klaus Heinrich und Thomas Rentsch zwei Autoren vor, die sich explizit um die Ausformulierung einer negativistischen Sprachtheorie bemühen (1). Im Anschluss daran zeige ich, dass auch objektivistische sprachtheoretische Projekte wie der Strukturalismus, die generative Transformationsgrammatik und die analytische Philosophie in letzter Konsequenz bei negativistischen Annahmen landen (2). Abschließend rekonstruiere ich Georges Batailles negativistische Kommunikationstheorie als vielleicht konsequentesten Versuch, die Negativität der Rede zu denken (3).

1. Negativität als Neinsagen Eine Familie bekommt ein Kind, das zunächst normal heranwächst. Nach einem Jahr, zu einem Zeitpunkt also, an dem andere Kinder beginnen, einfache Worte zu bilden, spricht es nicht. Die Eltern sorgen sich. Als es zwei Jahre alt ist, spricht es immer noch kein Wort, auch nicht mit drei und auch nicht mit vier Jahren. Doch eines Tages, die Familie sitzt am Mittagstisch, sagt es zur Überraschung aller: »Die Suppe ist kalt!« »Aber Kind, Du kannst ja sprechen, warum hast Du bisher nichts gesagt?«, fragen die besorgten Eltern. »Bisher war alles in Ordnung.« – Dieser Witz kann uns einen ersten Hinweis darauf liefern, was Negativität der Sprache bedeuten könnte. Jede Rede hat einen Mangel, eine Störung, ein Problem zur Voraussetzung. Im Paradies, in einer Welt also, die den Menschen vollkommen gemäß wäre, so gemäß, dass sich letztlich nicht zwischen Mensch und Welt unterscheiden ließe, wäre Sprache nicht nötig. Das Wort repräsentiert keine fertige und vollständige Welt, sondern wird von der Offenheit und Unvollständigkeit von Situationen provoziert. Es steht weniger für etwas, für ein Signifikat, als für die Abwesenheit eines Signifikats. Wir heben erst dann zu sprechen an, wenn es darum geht, einen Mangel oder eine Abwesenheit zu kompensieren, eine Distanz zu überbrücken. Zugleich perpetuieren und erzeugen wir mit unserem Sprechen einen Mangel, öffnen die Welt, nehmen den Dingen etwas von ihrer Faktizität und Fatalität. Das mĂ Òn des Gorgias erscheint von hier aus als Voraussetzung und Folge allen Redens. Was die These von einer Negativität der Sprache näherhin bedeuten könnte, lässt sich zunächst über eine Reihe einfacher Negationen umkreisen: Sprache hat kein Fundament außerhalb ihrer selbst, aus dem heraus sie vollständig erklärt werden könnte; Sprache ist weder etwas Vorliegendes bzw. gegenständlich Seiendes, noch liegt sie hinter der Welt bzw. hinter dem Rücken unseres Bewusst4

Vgl. Andreas Hetzel: »›Die Rede ist ein großer Bewirker.‹ Performativität in der antiken Rhetorik«, in: Dieter Mersch/Jens Kertscher (Hg.): Performativität und Praxis, München 2003, S. 229-246.

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seins; da wir mitten in ihr stehen, kann sie von keinem Ort aus vollständig überblickt werden; Sprache ist niemals nur eine, sondern ein allenfalls über Familienähnlichkeiten verbundenes Ensemble von Dia-, Sozio- und Idiolekten5; Sprache kann von ihrem Anderen, von der Welt, auf die sie sich bezieht wie von ihren Sprechern, niemals eindeutig unterschieden werden. – Wollten wir all diese Negationen positiv fassen, könnten wir auch sagen: Sprache ist nicht gegründet, steht von sich selbst ab, verschwindet in der Vermittlung ihres Anderen, ist permanenter Übergang und erfüllt sich in ihrer Wirksamkeit. Der Name, den ich im Anschluss an die rhetorische Tradition für diese positivierten Negationen vorschlagen möchte, lautet Rede. Das Anerkennen einer Negativität der Sprache nötigt uns dazu, die parole vor der langue, das Performative vor dem Konstativen, die Performanz vor der Kompetenz und die Pragmatik vor der Semantik zu denken. Die Theorie einer Negativität der Sprache erstmals explizit entfaltet zu haben, ist das Verdienst des Berliner Religionswissenschaftlers Klaus Heinrich. Der Autor geht davon aus, dass wir mit jedem Wort eine doppelte Negation vollziehen. Zunächst negieren wir im Sprechen und Schreiben unser Einssein mit der Welt, bringen die Welt überhaupt erst in eine reflexive Distanz und damit als Welt hervor. In einem zweiten Schritt negiert das Wort für Heinrich aber auch diese Trennung von der Welt: »Sprechend sagen wir zur Trennung ›nein‹. Jedes Wort, auch wenn es uns aus einer Situation wortlosen Einsseins zu reißen scheint, ist ein ›nein‹ zur Trennung. Wir sind nicht eins.«6 Sprechend eröffnen wir uns einen dritten Raum jenseits von Kontinuität wie von Diskontinuität, eine Praxis, die zugleich von der Welt unterschieden ist wie mit ihr identisch. Heinrichs Thesen sind im besten Sinne dialektisch: »Nur der hat Sprache, der getrennt ist vom Sein. Nur dort ist Sprache, wo Trennung überwunden ist. Sprache ist Neinsagen zum Nichtsein.«7 Darüber hinaus hat die Formel von einer Negativität der Sprache bei Heinrich auch eine politische Dimension. Die Negativität der Sprache zeigt sich in privilegierter Weise im Neinsagen. In Sprechakten der Verweigerung artikulieren sich Freiheitsansprüche und Widerstände gegen Macht: »Neinsagen ist die Formel des Protests.«8 Wenn das Versprechen als Sprechakt der Performativität schlechthin gelten kann, dann wäre der Einspruch der Sprechakt der Negativität. So wie Sprache nach Derrida wesentlich mit einem Versprechen einhergeht, so geht sie für Heinrich mit einem Einspruch einher, einem Einspruch sowohl gegen die 5

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Von Max Weinreich stammt die Bemerkung: »A shprakh iz a dialekt mit an armey un flot [Eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee und einer Marine]« (Max Weinreich: »der yivo un di problemen fun undzer tsayt«, in: yivo bletter, yanuaryuni 1945, S. 3-18, hier: S. 13). Klaus Heinrich: Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, Frankfurt/Main 2002 [1964], S. 99. Ebd., S. 100. Ebd., S. 11.

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Entzweiung wie gegen die Versöhnung. Im Sprechen konvergieren Entzweiung und Versöhnung, hier verlieren und gewinnen wir einander, uns selbst und die Welt, wobei nie ausgemacht ist, ob am Ende die Entzweiung oder die Versöhnung steht. Anders gewendet erscheint die Schwierigkeit nein zu sagen »als das Problem der Identität unter der Drohung des Identitätsverlustes. Neinsagen ist schwierig, denn es ist ein Protest gegen Identitätsverlust, der die Identität des Protestierenden selbst bedroht«9. Mit mir identisch werde ich nur, wenn ich mich weder mit allem und jedem, noch mit nichts und niemandem identifiziere. Sprache vermag die Balance zwischen diesen beiden Polen auszutarieren, indem sie beide Formen des Verlustes negiert: das sich-Verlieren an andere und die Welt wie die Erstarrung in einer solipsistischen Bezugslosigkeit. So wie sich das Subjekt nach Hegel, Adorno und Bataille nur dann zu konsolidieren vermag, wenn es sich entäußert, aufs Spiel setzt, sich selbst anders wird, so gewinnt es sich für Heinrich nur in und über ein Sprechen, das sowohl den Selbst- wie den Weltverlust negiert. Sprechend setzen wir zugleich uns und die Welt aufs Spiel. Wir setzen uns aufs Spiel, indem wir uns radikal an die Welt entäußern, uns ihr mimetisch gleichmachen. Wir setzen die Welt aufs Spiel, indem wir sie unter unsere Begriffe subsumieren bzw. in unseren Begriffen recodieren, sie um ihre Andersheit bringen. Sprache wird nur dann ihren Möglichkeiten gerecht, wenn es ihr gelingt, wie ein Seiltänzer die Mitte zwischen diesen beiden drohenden Verlusten zu halten, die Möglichkeiten des Verlustes gegeneinander auszuspielen. Frei nach Hegel vermittelt sich im Sprechen ein Sich-anders-Werden mit sich selbst; nur in dieser Vermittlung sind (sich) Welt und Selbst gegeben. Sprache wird so »die friedensstiftende Macht unter den Mächten. [Sie ist] [...] die mächtige Struktur in ihnen allen, an der teilhabend sie dem Nichtsein widerstehen [...]. In den Aktionen, die wir Sprechen nennen, vereinigen wir uns mit dem, wovon wir getrennt sind [...]. Sprache gelingt, wo die Vereinigung gelingt, ohne die Struktur zu zerstören. Sprachloses Einssein und sprachloses Getrenntsein sind die zerstörerischen Pole, zwischen denen sich unser Sprechen bewegt.«10

In diesem Sinne ist alles Sprechen Protest, doppeltes Neinsagen, Nein zum Chaos der Differenz wie zum Terror der Identität. Norbert Bolz fasst die sprachphilosophischen Thesen von Heinrich treffend zusammen: »1) Es gibt ein Wesen, das Sprache hat (zoon logon echon). 2) Das sprechende Wesen ist vom Sein getrennt. 3) Sprache ist die vereinigende Macht. Demnach ist das Nein (zur

9 Ebd., S. 41. 10 Ebd., S. 42.

NEGATIVITÄT DER REDE | 79 Trennung, zum Nichtsein) der wesentliche Vollzugsmodus der Sprache oder die Vollzugsform der Versöhnung: Und folglich ist das Nein das eigentliche Ja zum Sein.«11

Thomas Rentsch, der einen instruktiven Vergleich der Sprachtheorien Wittgensteins und Adornos unter den Titel Negativität der Sprache gestellt hat, zielt zunächst auf einen anderen Umstand als Heinrich (den er im Übrigen nicht rezipiert): auf eine radikale Unselbständigkeit der Sprache. Deren Negativität erweist sich für Rentsch in ihrer »Kontextgebundenheit, ihrer Vermitteltheit durch soziale Praxis, ihre Einbezogenheit in außerpraktische Bedingtheiten – kurz: in ihrer Schwäche«12, die von Wittgenstein wie von Adorno überzeugend herausgearbeitet wurde. Rentsch interpretiert beide Klassiker der modernen Philosophie als Sprachkritiker. Während Adorno den Begriff problematisiere, der alles Nichtidentische identisch zu machen suche und im Dienst einer instrumentellen Rationalität stehe, hebe Wittgenstein auf die geistigen Verwirrungen ab, in die uns ein falscher Sprachgebrauch vor allem in der Philosophie führe. Sprache kann sich für Rentsch nicht aus sich selbst heraus stabilisieren, sondern findet ihre Mitte und ihren Halt in ihrem Anderen, das sie allerdings niemals adäquat trifft. Auch Rentsch weist darauf hin, dass Sprache in diesem ihrem Anderen nicht in einem logischen oder gar kausalen Sinne gründet: »Negativität der Sprache, das bedeutet: Es gibt keine Referenz, keine Repräsentation, keine Korrespondenz, keine Abbildverhältnisse zwischen Sprache und Welt – zumindest nicht im simplen und schematischen Verständnis.«13

2. Grenzen des sprachtheoretischen Objektivismus Ansätze zu einem negativistischen Sprachverständnis finden sich auch in Sprachtheorien, die zunächst zum genauen Gegenteil neigen, zu einer positiven oder gar positivistischen Interpretation, die mit dem Anspruch einhergeht, Sprache vollständig erklären zu können. Am Beginn des Strukturalismus, der generativen Transformationsgrammatik und der analytischen Philosophie stehen stark objektivistische Erkenntnisansprüche; doch die Theoriegeschichten aller drei theoretischen Projekte münden letztlich in einer negativistischen Ernüchterung. So tritt der Strukturalismus mit dem Anspruch einer vollständigen und objektiven Beschreibung von Sprache an. Die frühen Arbeiten des Prager funktionalen Strukturalismus (Nikolai Trubetzkoy, Roman Jakobson, Jan Mukarovský)14 speisen sich 11 Norbert Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die Neuen Kommunikationsverhältnisse, München 1993, S. 80/81. 12 Thomas Rentsch: »Die Negativität der Sprache. Bemerkungen zu Adorno und Wittgenstein«, in: Wittgenstein Studies, 1/1996 (http://sammelpunkt.philo.at:8080/471/1/071-96.txt), S. 9. 13 Ebd., S. 10. 14 Vgl. Lothar Fietz: Funktionaler Strukturalismus, Tübingen 1976.

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aus der Hoffnung, die auf dem Gebiet der Phonetik anfänglich erreichte Präzision und Objektivität – jedem Laut konnte ein eindeutiger Ort seiner physiologischen Artikulation zugewiesen werden, der sich in einem binären Code ausdrücken lässt (so ist etwa der stimmhafte Konsonant »w« im Deutschen labio-dental, da er mit bzw. zwischen Lippen und Zähnen artikuliert wird) – auch auf den anderen Gebiete der Sprachforschung, d.h. der Morphologie, Syntax, Semantik und Pragmatik, erreichen zu können, eine Hoffnung, die sich allerdings bald zerschlug und einer Einsicht wich, die schon für Saussure leitend war: Alles, was die Sprache betrifft, bewegt sich in Übergängen und Differenzen. Auf der diachronen Ebene drückt sich diese Übergängigkeit für den Strukturalismus darin aus, dass sich Sprachen permanent entwickeln, auf der synchronen Ebene darin, dass alle Bedeutungen und bedeutungstragenden Elemente nur negativ, in ihren Differenzen zu anderen, bestimmbar sind. Am konsequentesten wurde diese doppelte Differenzialität von Derrida gedacht, der Sprache mit Differenz und der Kraft der Generierung von Differenzen identifiziert. Identitäten und Kontinuitäten in der Sprache gelten aus der Perspektive eines radikalisierten (oder Post-) Strukturalismus immer nur auf Zeit. Sie werden durch letztlich kontingente Vernähungen und Diskursregeln gestiftet, die ihren Ort eher im Politischen haben als in einem wie auch immer gearteten Wesen der Sprache selbst. Einen vergleichbaren Prozess der theoretischen Ernüchterung hat auch die neuere Syntaxtheorie durchgemacht, die noch beim frühen Chomsky von der Hoffnung besessen war, einzelsprachlich invariante grammatische Tiefenstrukturen hinter dem je aktualen Sprachgebrauch freilegen zu können.15 Chomsky gliedert das sprachliche Geschehen insgesamt in einen einzelsprachlich invarianten Erzeugungsteil (oder eine Basis), der wiederum Tiefenstrukturen hervorbringt, die im sogenannten Transformationsteil entlang von einzelsprachlich variierenden Transformationsregeln in Oberflächenstrukturen (die Performanz oder den je aktuellen Sprachgebrauch) überführt werden. Das linguistische Unternehmen der Transformationsgrammatik ermittelt für jeden Satz, eine Tiefen- und eine Oberflächenstruktur. Die syntaktischen Tiefenstrukturen regieren sowohl die Bedeutung wie die lautliche Realisation des Satzes. Sie sollen im neuronalen Apparat des Menschen lokalisiert werden können. Der linguistischen Feldforschung hielten die objektivistischen Hoffnungen Chomskys allerdings nicht lange stand. Es konnten keine universellen grammatischen Kategorien, Erzeugungs- oder Tiefenstrukturen ermittelt werden, nach denen alle Sprachgemeinschaften ihre jeweiligen Welten strukturieren. Zu groß ist die Vielfalt des grammatisch Möglichen, zu gering sind die Gemeinsamkeiten. Als einzige, höchst abstrakte, fast tautologisch anmutende metagrammatische Regel blieb den Transformationsgrammatikern

15 Zur zunehmenden Bescheidung in der Theorieentwicklung Chomskys vgl. seine drei Monographien: Rules and Representations, New York 1980; Lectures on Government and Binding, Dordrecht, 1981; The Minimalist Program, Cambridge MA, 1995.

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nur die sogenannte »move-alpha-Regel« (»Bewege irgendetwas irgendwo hin«), die besagt, dass wir, wenn wir eine Bedeutungsveränderung herbeiführen wollen, eine sprachliche Struktur verschieben müssen.16 Darüber hinaus neigen die Grammatiker unserer Tage generell zu einem bescheideneren, stärker heuristischen Syntaxverständnis. Auch die analytische Philosophie ist nach einer objektivistischen Anfangsphase längst auf dem Weg zu einem Negativitätsdenken der Sprache, welches sich etwa in Davidsons Maxime, »daß es so etwas wie eine Sprache gar nicht gibt«17, ausdrückt. Die analytische Philosophie befreit Sprache zuerst vom Repräsentationalismus, etwa bei Austin, der den deskriptivistischen Fehlschluss der logischen Positivisten kritisiert, bei Quine, der mit der Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen und dem korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff zwei Dogmen des Empirismus dekonstruiert, und bei Davidson, der als drittes Dogma die Möglichkeit einer Unterscheidung von Schema und Inhalt zerstört, ein Dogma, das den beiden von Quine verabschiedeten Dogmen noch zugrunde liegt.18 Der Bruch mit dem Repräsentationalismus und dem Standardmodell der Protokollsätze entgründet Sprache. So wie der Strukturalismus mit Derrida in einen Poststrukturalismus übergeht, der das Prinzip der Struktur selbst in Frage stellt, so verwandelt sich die sprachanalytische Philosophie mit Quine und Davidson in eine postanalytische, die dem Konzept der Sprache den Status einer positiven, in der Welt gegründeten Entität abspricht. Negativistische Momente lassen sich schließlich auch bei Autoren festmachen, die ein fundationalistisches Theorieprogramm und -interesse verfolgen. Das zeigt sich beispielsweise an Jürgen Habermas.19 Einerseits möchte Habermas Sprechakte begründungslogisch auf universelle Geltungsansprüche und Weltbezüge zurückführen, andererseits bezeichnet er Sprechakte aber auch als »selbst16 Vgl. Helen Leuninger: Reflexionen über Universalgrammatik, Frankfurt/Main 1979. 17 Donald Davidson: »Eine hübsche Unordnung von Epitaphen«, in: Eva Picardi/Joachim Schulte (Hg.): Die Wahrheit der Interpretation. Beiträge zur Philosophie Donald Davidsons, Frankfurt/Main 1990, S. 203–227, S. 227. – Diese Maxime hat natürlich Vorläufer. So schreibt Fritz Mauthner bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts: »Was ist das Wesen der Sprache? In welcher Beziehung steht ›die Sprache‹ zu den Sprachen. Die einfachste Antwort wäre: ›die Sprache‹ gibt es nicht; das Wort ist ein so blasses Abstraktum, dass ihm kaum mehr etwas Wirkliches entspricht.« (Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Wesen der Sprache, Erster Band, Zur Sprache und Psychologie, Stuttgart 21906 [1901], S. 3). Und bei Wittgenstein heißt es: »Statt etwas anzugeben, was allem, was wir Sprache nennen, gemeinsam ist, sage ich, es ist diesen Erscheinungen gar nicht Eines gemeinsam, weswegen wir für alle das gleiche Wort verwenden.« (Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt/Main 1984, S. 65). 18 Vgl. Donald Davidson: »Was ist eigentlich ein Begriffsschema?«, in: ders.: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt/Main 1986, S. 261-282, hier: S. 269ff. 19 Vgl. hierzu Gerhard Gamm: Eindimensionale Kommunikation. Vernunft und Rhetorik in Jürgen Habermas’ Deutung der Moderne, Würzburg 1987

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identifizierend« und räumt der illokutionären Rolle eine Autonomie ein: Sprechhandlungen »identifizieren sich selbst. Weil der Sprecher, indem er einen illokutionären Akt ausführt, zugleich sagt, was er tut, kann der Hörer, der die Bedeutung des Gesagten versteht, den vollzogenen Akt ohne weiteres als eine bestimmte Handlung identifizieren. [...] Die in einer natürlichen Sprache ausgeführten Akte sind stets selbstbezüglich. Sie sagen zugleich, wie das Gesagte zu verwenden und wie es zu verstehen ist.«20

Was hier als Selbstbezüglichkeit bezeichnet wird, ist ein anderer Name für Negativität. Eine illokutionäre Rolle gründet in sich selbst und kann gerade nicht im naturwissenschaftlichen Sinne erklärt werden.

3. »Starke« Kommunikation Den radikalsten Bruch mit einem repräsentationalistischen, begründungslogischen und transzendentalphilosophischen Modell der Sprache vollzieht der französische Philosoph Georges Bataille. Er rekurriert nicht explizit auf die rhetorische Tradition, trifft sich in seinem Negativismus, der stark von Hegel und der negativen Theologie geprägt ist, aber sehr wohl mit den rhetorischen Klassikern. Bataille gilt vor allem als Philosoph einer Überschreitung, die sich an religiöse Ekstasen und erotische Exzesse bindet. In Ekstase und Exzess erblickt er Manifestationen einer souveränen Existenz, die sich nicht den bürgerlichen Imperativen der Selbsterhaltung und der Arbeit unterstellt. Die moderne bürgerliche Welt der Arbeit und Vernunft interpretiert Bataille als ein System von Verboten und Ausgrenzungsmechanismen. Erst in der Überschreitung dieser Verbote vermögen wir, in einen Weltinnenraum der Immanenz zurückzukehren, eine durch Arbeit und Reflexion verlorene Kontinuität mit dem Sein wiederherzustellen. Das Verbot, und hier hebt sich Bataille von jedem Gestus einer naiven Rückkehr zur Natur ab, bleibt dem Akt der Überschreitung allerdings nicht äußerlich: »Das Verbot vergöttlicht dasjenige, dessen Zugang es verwehrt.«21 Nur in der Perspektive des Verbotes, also in der Perspektive von Vernunft und Arbeit, wird jene Sphäre denkbar, auf die hin das System der Verbote überschritten werden soll. Auf Reflexion und Arbeit kann also keineswegs verzichtet werden: »Die Überschreitung

20 Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt/Main 1988, S. 65, 86 u. 113ff. – In vergleichbarer Weise erwähnt Quine eine »Selbstbewahrheitung« performativer Äußerungen; Davidson spricht von ihrem »tendenziell(en) Selbsterfüllungscharakter«. Vgl. Willard Van Orman Quine: Theorien und Dinge. Frankfurt/Main 1991, S. 116; D. Davidson: Wahrheit und Interpretation, S. 161. 21 Georges Bataille: Die Literatur und das Böse, übers. v. Cornelia Langendorf u. Gerd Bergfleth, hg. v. Gerd Bergfleth, München 1987, S. 20.

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unterscheidet sich von der ›Rückkehr zur Natur‹: sie hebt das Verbot auf, ohne es zu beseitigen« 22. Die Überschreitung bleibt konstitutiv auf das System der zu überschreitenden Verbote verwiesen. Letztlich ist es erst der Akt oder Vollzug der Übertretung, der das Jenseits der Verbote performativ konstituiert. Bataille versteht unter diesem Jenseits keine Substanz, keine Präsenz und keinen Rousseauschen Naturzustand, sondern eine immanente Grenze der Reflexion, die dem Lacanschen Realen oder der Peirceschen Firstness entspricht. Erst im souveränen Akt stellt sich der Weltinnenraum einer Kontinuität von Subjekt und Objekt ein und her: »Das Kontinuum ist die privilegierte Erfahrung eines die Grenze der diskursiven Differenz überschreitenden souveränen Tuns.«23 Derrida zieht zur Bestimmung des Batailleschen Kontinuums den Schellingschen Begriff des Ungrundes heran: »Dieses Kontinuum ist nicht die Sinnfülle oder die volle Präsenz, wie die Metaphysik sie ins Auge faßte. Die Erfahrung des Kontinuums, die auf den Un-Grund der Negativität und der Verausgabung hinstrebt, ist [...] die Erfahrung der absoluten Differenz«24, wie sie nur in der Erfahrung des Anderen als Anderen möglich wird. Die hier angesprochene Differenz fasst Bataille in das Bild einer »starken Kommunikation«. Diese »kann nicht zwischen vollkommenen und unberührten Wesen stattfinden: sie verlangt Wesen, die ihr inneres Sein aufs Spiel gesetzt, es an die Grenze des Todes und des Nichts gebracht haben«25. Nur an dieser Grenze, die wir im starken Sinne kommunizierend abschreiten, scheint die Kontinuität des Seins auf. Batailles Kontinuität lässt sich nicht im Denken stabilisieren. Erst ausgehend von der Erfahrung einer diskontinuierlichen Welt kann Kontinuität als solche gedacht werden. Maurice Blanchot rückt Batailles »starke Kommunikation« insofern in eine Nähe zum Hegelschen Konzept der Anerkennung, einer »Anerkennung der gemeinsamen Fremdheit, die es uns nicht erlaubt, von unseren Freunden zu sprechen; die uns gebietet, aus ihnen keinen Gesprächsgegenstand [...] zu machen, sondern die Bewegung des Einverständnisses zu vollziehen, in der sie, zu uns sprechend, noch in der größten Vertrautheit die unendliche Distanz aufrechterhalten, jene fundamentale Trennung, in der das Trennende zur Beziehung selbst wird.«26

Im Motiv eines Trennenden, das zur Beziehung selbst wird, kommuniziert Bataille mit Hegel und der rhetorischen Tradition.

22 23 24 25 26

G. Bataille: Die Erotik, übers. v. Gerd Bergfleth, München 1994 [1957], S. 38. J. Derrida: Die Schrift und die Differenz, S. 399. Ebd. G. Bataille: Œuvres complètes, 12 Bde., Paris 1970-1988, hier: Bd. VI, S. 44. Maurice Blanchot: »Die Freundschaft. Zum Tod von Georges Bataille«, in: Georges Bataille: Abbé C., München 1990, S. VII-XIV, hier: S. XII/XIII)

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So wie Zygmunt Bauman zufolge die Ethik in Form eines Regelsystems den moralischen Impuls abtötet27, zerstören die soziologischen und sozialphilosophischen Theorien, die sie in transzendentalen Bedingungen ihrer Möglichkeit zu verankern suchen, die Kommunikation selbst. Die etablierten philosophischen Konzepte von Kommunikation, ich denke hier insbesondere an Niklas Luhmann und Jürgen Habermas, verstoßen in einem wesentlichen Sinne gegen den Begriff der Kommunikation. Für beide Autoren erschöpft sich Kommunikation in der Partizipation der Kommunizierenden an einem ihnen vorgängigen, gesellschaftlichen oder transzendentalen Geschehen. Der Systemtheoretiker Luhmann beginnt mit einer Beobachtung, die Batailles Negativismus recht nahe kommt: »Kommunikation«, so Luhmann, »entsteht ja nur unter der Voraussetzung wechselseitiger Intransparenz, die auch Intransparenz der Systeme für sich selber einschließt. Man kennt sich mit sich selbst und mit anderen nicht aus, deshalb wird geredet, geschrieben, gedruckt, gefunkt.«28 Der Negativität dieser doppelten Kontingenz wird von Luhmann allerdings längst nicht in gleichem Maße Rechnung getragen wie von Bataille. Der Systemtheoretiker reduziert Kommunikation in letzter Konsequenz auf eine Koordination von Selektionsleistungen, die das Wesen der Systeme, die diese Leistungen vollziehen, nicht tangiert. Die Information, dass es gerade regnet, vollzieht z.B. insofern eine Selektion, als sie andere mögliche Informationen ausschließt. Das Gesamt der möglichen Bedeutungen, aus denen Informationen selegiert werden können, ist – in Gestalt der Gesellschaft – vorgegeben. Darüber hinaus zieht Luhmann die Subjekte der Kommunikation in den Prozess der Kommunikation selbst ein. Mit anderen Worten: Nur die Kommunikation kommuniziert, sie bildet ein geschlossenes System ohne Alterität – erneut die Gesellschaft. In Luhmanns Systemtheorie kommuniziert letztlich niemand. Ähnliches ließe sich gegen Habermas einwenden. Seine Theorie des Kommunikativen Handelns wird ihrem Titel nicht wirklich gerecht. Sie beschränkt Kommunikation darauf, über strittige Geltungsansprüche zu verhandeln, die letztlich transzendental verankert sind. Kommunikation im Habermasschen Sinne erschöpft sich darin, sich ständig ihrer eigenen transzendentalen Möglichkeitsbedingungen zu vergewissern. Für Kommunikation im Sinne von Habermas und Luhmann gilt das gleiche, wie für den Igel im Märchen vom Hasen und dem Igel: Beide sind »immer schon da«. Doch eine Kommunikation, die sich immer schon ereignet hätte, wäre keine. Bataille macht uns darauf aufmerksam, dass Kommunikation in actu erfolgt, dass sie mit ihrer eigenen Unmöglichkeit, ihrem eigenen Scheitern verschwistert ist. Nur rückhaltlos, vom Anderen zum Anderen, wäre Kommunikation möglich. Andersheit als Voraussetzung der Kommunikation bekommen Habermas und Luhmann noch nicht einmal in den Blick.

27 Vgl. Zygmunt Bauman: Postmoderne Ethik, Hamburg 1995 [1993], S. 26. 28 Niklas Luhmann: Organisation und Entscheidung, Opladen 2000, S. 377.

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Wenn Levinas, nach einem Diktum Baumans, als der einzige Ethiker des 20. Jahrhunderts gelten kann29, dann wäre Bataille vielleicht als der einzige Philosoph der Kommunikation zu bezeichnen. Bataille denkt die Kommunikation von ihrer Unmöglichkeit her und begibt sich damit in einen performativ-pragmatischen Selbstwiderspruch, den er zugleich als konstitutiven Zug jedes Kommunizierens begreift. Erst die von Habermas und Apel als pathologisch ausgegrenzten Fälle von Kommunikation – ein Reden etwa, dass gegen die es ermöglichenden kommunikativen Regeln verstößt – würden für Bataille ihrem Begriff gerecht. Ihre Unmöglichkeit begreift er als Aufgabe der Kommunikation, sie muss sich, um Kommunikation zu sein, ihrer eigenen Unmöglichkeit stellen. »Kommunikation ist«, um John Dewey, der zu vergleichbaren Ergebnissen kommt, zu zitieren, »die wunderbarste Sache der Welt. [...] [Sie ist] ein Wunder, neben dem das Wunder der Transsubstantiation verblasst. Wo Kommunikation besteht, sind alle [...] Ereignisse der Überprüfung und Überarbeitung unterworfen«30, auch und gerade diejenigen Ereignisse, von denen Kommunikation in anderen theoretischen Entwürfen abhängig gemacht wird. Bataille möchte der »Philosophie der Arbeit« eine »Philosophie der Kommunikation«31 entgegenhalten, eine negative Theorie des kommunikativen Handelns, die ohne transzendentalen Rahmen, ohne Sinnhorizont und ohne vorgängiges Medium auskommt. Das Medium der Kommunikation wäre hier das Nichts, die Negativität, die Nacht der Welt. An das so umrissene Denken einer »starken Kommunikation« bindet Bataille sein antibürgerliches Konzept der Souveränität. Er bezweifelt die Möglichkeit, dass einer allein souverän sein kann: »Für sich allein ist jedes Wesen unfähig [...] bis zum Äußersten des Seins zu gehen.«32 Die Unverfügbarkeit der Souveränität ist immer auch gekoppelt an die Unverfügbarkeit des Anderen in seiner Andersheit und damit an eine im radikalen Sinne kontingente Kommunikation: »Es gibt keinerlei Unterschied zwischen der so definierten starken Kommunikation und dem, was ich Souveränität nenne. Die Kommunikation setzt im Augenblick selbst die Souveränität der Kommunizierenden voraus, umgekehrt erfordert die Souveränität Kommunikation.«33 Die starke Kommunikation geht den kommunizierenden Instanzen voraus: »Die Menschheit ist nicht aus Einzelwesen gemacht, sondern aus der Kommunikation zwischen ihnen. Niemals sind wir gegeben, nicht einmal uns selbst, es sei denn in einem Kommunikationsnetz mit den anderen: wir sind in Kommunikation gehüllt, wir sind auf diese unaufhörliche Kommunikation angewiesen, deren Fehlen wir bis in die tiefste

29 Vgl. Zygmunt Bauman: Tod, Unsterblichkeit und andere Lebensstrategien, Frankfurt/Main 1994 [1992], S. 61. 30 John Dewey: Erfahrung und Natur, Frankfurt/Main 1995 [1925], S. 167. 31 G. Bataille: Die innere Erfahrung, München 1999 [1954], S. 114. 32 Ebd., S. 62. 33 G. Bataille: Die Literatur und das Böse, S. 182.

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Einsamkeit hinein als Suggestion zahlreicher Möglichkeiten, als die Erwartung eines 34 Augenblicks erfahren, in dem sie zu einem Schrei wird, den andere hören« .

In der Kommunikation erst setzen wir uns als Selbst, indem wir uns zugleich aufs Spiel setzen: »Die ›Kommunikation‹ findet nur zwischen zwei Wesen statt, die sich aufs Spiel gesetzt haben – zerrissen und in der Schwebe, beide über ihr Nichts gebeugt.«35 Diese Kommunikation, die den kommunizierenden Instanzen vorausgeht, berührt sich eng mit Bubers Dialogik, die Theunissen wie folgt charakterisiert: »Anstatt daß Ich und Du als schon fertig Seiende die Begegnung zustande bringen, müssen sie nach dem Ansatz der Dialogik selbst erst dem reinen Geschehen der Begegnung entspringen. Nur so kann sich das Zwischen gegenüber der ›Sphäre der Subjektivität‹, der meinen wie der fremden, als das ursprünglichere behaupten.«36 Sowenig sie sich auf vorab bestehende Subjekte stützen kann, sowenig entspannt sich die Kommunikation im Raum einer vorab bestehenden Kontinuität; im Gegenteil, Kontinuität entfaltet sich vielmehr erst in der Kommunikation als deren Innenraum. Erst wo sich Kommunikation ereignet, ereignet sich auch eine Kontinuität. Kommunikation wäre insofern »ein Tatbestand, der nicht zum Dasein hinzukommt, sondern der es konstituiert«37, man müsste ergänzen: es performativ, in ihrem Vollzug konstituiert, ohne auf ein Voraussetzungssystem zurückgreifen zu können. Kommunikation erfindet sich, wenn sie gelingt, ein je eigenes Voraussetzungssystem. Sprache ist, wenn sie denn ist, immer auch eine singuläre Äußerung, die sich keinem Regelsystem restlos fügt. Sie funktioniert, wenn sie denn funktioniert, nach dem Modell des Lacanschen Briefes, der notwendig ankommt, weil er seinen Adressaten erst unterwegs, aus dem Nichts heraus, erfindet.38 Batailles Denken kreist um Paradoxien oder Antinomien der Kommunikation, die von Habermas noch nicht einmal wahrgenommen werden. An dieser Stelle kann ich diese Paradoxien nur stichpunktartig andeuten:



Kommunikation setzt den Einen und den Anderen, Ego und Alter, voraus, die eine gesonderte Existenz haben. Ohne deren wechselseitige Entzogenheit oder Alterität wäre Kommunikation weder notwendig noch möglich. Doch zugleich würde diese gesonderte Existenz jede Kommunikation unmöglich machen. Kommunikation muss die gesonderte Existenz also, wir erinnern uns

34 Ebd., S. 179. 35 G. Bataille: Die innere Erfahrung, S. 45. 36 Michael Theunissen: Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin/New York 21977, S. 269. 37 G. Bataille: Die innere Erfahrung, S. 42. 38 Vgl. Jacques Lacan: »Das Seminar über E. A. Poes ›Der entwendetet Brief‹«, in: ders. Schriften, Bd. 1., Olten/Freiburg 1973, S. 7-60.

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an die diesbezüglichen Überlegungen Klaus Heinrichs, zugleich aufheben und erhalten, uns zugleich trennen und verbinden.39 Die Existenz des Individuums ist an Sprache gebunden40, doch kommuniziert es gerade über die Partizipation an Sprache nicht. Wie Schiller bemerkt: »Spricht die Seele, so spricht, ach! schon die Seele nicht mehr«41, sondern die Sprache. Doch wenn nur »die Sprache spricht«42, spricht nichts. Der Mensch kommuniziert für Bataille also nur gegen die Sprache. Mindestens ebenso wie auf die Sprache verweist die Kommunikation auf den Sprachabbruch oder das Schweigen: »Die tiefe Kommunikation will das Schweigen«43. Kommunikation ist auf Medien verwiesen, in denen sie sich vollzieht, doch jedes Medium droht die Kommunikation zu supplementieren, selbst zur Botschaft zu werden. Für Bataille kann »die tiefe Kommunikation der Wesen« also nur »unter Ausschluß der diskursförmigen Verbindungen, die für die Projekte erforderlich sind«44 stattfinden. Die Rede muss sich immer wieder gegen die Sprache bewähren. Kommunikatives Handeln ist notwendig intentional, doch würde sich die Kommunikation im Transport von Intentionen oder Geltungsansprüchen erschöpfen, die der Andere entweder akzeptieren oder verwerfen kann, würde sie sich auf ein abstraktes Kalkül reduzieren. Etwas an der Kommunikation geht jeder Intention voraus, ereignet sich zwischen uns. In Bezug auf die Kommunikation kann Bataille schreiben: »Je suis agi [ich werde gehandelt]«45.

Zusammenfassend wäre Kommunikation nur als unmögliche möglich, sie ist an ein Nichtverstehen gebunden, erfolgt immer auch außerhalb des Raumes der Gründe. In den Worten von Derrida: »Würde der Andere mit uns seine Gründe teilen, indem er sie uns erläutert, würde er mit uns die ganze Zeit ohne irgendein Geheimnis sprechen, so wäre er nicht der Andere, wir wären in einem Element der Homogenität.«46 Sowenig in der Kommunikation auf das Geben und Nehmen von Gründen verzichtet werden kann, so wenig erschöpft sich Kommunikation in deren rationalistischer Ökonomie.

39 G. Bataille: Die innere Erfahrung, S. 88. 40 Ebd., S. 118. 41 Friedrich Schiller: »Sprache«, in: ders.: Gedichte, Erzählungen, Übersetzungen, hg. v. Helmut Koopmann, München 1993, S. 305. 42 Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, S. 32. 43 G. Bataille: Die innere Erfahrung, S. 131. 44 Ebd., S. 131. 45 Ebd., S. 89. 46 J. Derrida: »Den Tod geben«, in: Anselm Haverkamp (Hg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida-Benjamin, Frankfurt/Main 1994, S. 331-445, hier: S. 384.

II. Negativität als Unbestimmtheit in Kunst und Wissenschaften

Ding, Gabe und die Praxis der Künste DIETER MERSCH

1. Ding und Sprache Dinge sind Rätsel per se. Rätsel sind sie durch ihre Alterität, die sie bleiben, auch wenn sie von uns zum Objekt gemacht, bestimmt, bearbeitet, als Waren verkauft, weggeworfen oder zu Fetischen erhoben, idolisiert und mit einem Nimbus des Heiligen und Unberührbaren versehen. Stets verweisen sie auf sich selbst, blicken stumm zurück oder saugen sich sekundär mit Erinnerungen voll, die sie augenblicklich verlieren, wenn sie dem Gedächtnis entzogen werden, wie sie gleichermaßen ihre Magie einbüßen, wo sie erneut in den Kreislauf des Profanen eintreten oder zu Gegenständen einer wissenschaftlichen Untersuchung gemacht werden. Grundlegend für den philosophischen Diskurs ist zudem, dass Dinge in Form abgegrenzter Entitäten auftreten und analytisch auf ihre Elemente, Eigenschaften oder Gebrauchsweisen reduziert werden. Dass sie gleichwohl in allen diesen verschiedenen Operationen ihre Undurchdringlichkeit und Fremdheit bewahren, liegt vor allem an ihrer hartnäckigen Differenz zu Denken und Sprache. Buchstäblich entzieht sich ihre Dinglichkeit und Materialität dem Zugriff des Diskurses. Zwar schafft ganz offensichtlich »die Welt der Worte«, wie sich Jacques Lacan ausdrückte, »die Welt der Dinge«,1 doch bleiben die Dinge in ihrer »Dingheit« darin ebenso fern, wie Begriff und Sprache sie immer schon als Bestimmte festgelegt und damit als interpretierbare Zeichen aufgefasst haben. Das bedeutet auch: In intentionaler Absicht der Rede gelangen wir nirgends, wie Edmund Husserl es forderte, zu ihnen selbst; vielmehr »erscheinen« sie bestenfalls als dasjenige, was sperrig bleibt und sich »in Reserve« hält und dabei nicht zeigt, sondern stets nur in anderen Masken und Verkleidungen manifestiert, so-

1

Jacques Lacan: »Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse«, in: ders.: Schriften 1, Olten/Freiburg 1973, S. 73-169, hier: S. 117.

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dass wir es mit einer grundlegenden Negativität zu tun bekommen, die den Vorrang von Wort und Sprache, ihre konstitutive Transzendentalität ebenso bestätigt wie bricht. Deswegen hatte Martin Heidegger, vor allem Im Ursprung des Kunstwerkes, zwischen Ding, Zeug und Werk unterschieden und eine negative Bestimmung des Dinglichen vorgeschlagen, soweit Dinge nur als Dinge auffällig werden, wo sie fehlen, stören oder nicht »zuhanden« sind, während sie in dem, was sie für uns sind oder wofür sie genommen werden, durch ihre Bedeutung überformt bleiben. Dann ist Abwesenheit das Kennzeichen der Dinglichkeit des Dings und seines Denkens und gerade nicht ihre Anwesenheit oder Gegenwärtigkeit: Dingen eignet diese genuine Ambiguität – sie oszillieren zwischen Erscheinen und Verbergen, zwischen Vertrautheit und Andersheit, zwischen Verfügung und Widerständigkeit oder Präsenz und Nicht-Präsenz. Kein Ding kann daher in seiner Symbolisierung aufgehen, weil dies schon implizierte, es durch ein anderes ersetzt zu haben, das seinen Abstand, seine wesentliche Differenz zur Sprache tilgt, sowenig wie es durch eine »Leere« markiert werden kann, wie Lacan weiter vorschlug, weil dieses bereits sein Erscheinen negierte. »Als« Dinge kommen sie je schon in einer Ordnung oder einem Ensemble anderer Dinge vor, worin sie sich ebenso eingliedern wie abheben und unterscheiden, sodass sie von Anfang an durch eine Relationalität gekennzeichnet sind, die sie einem Raum zuordnen, worin sie platziert sind. Dinge können deshalb auf paradoxe Weise sowohl nur dort auftauchen, wo die Sprache bereits jenes »Als« in Anschlag gebracht hat, das sie »als diese« bezeichnet, ohne bereits ihre Bestimmung »als etwas« präjudiziert zu haben, als auch, wo sie sich eben dieser Zuschreibung widersetzen und ihre Aufsässigkeit bezeugen. »Dieses« meint dabei schon ein Zeichen, das eine Grenze und damit auch eine »DeMarkation« gezogen hat, deren »Be-Dingung« die sprachliche Benennung ist, die ihm durch die Setzung eines Namens den Raum von Bezügen ebenso streitig macht wie in seiner Besonderheit auszeichnet. »Kein ding sei wo das wort gebricht«, lautet eine Zeile in Stephans Georges Dichtung Das Wort von 1919, die Heidegger in Unterwegs zur Sprache zitiert und mal um mal wiederholt, um darin den ursprünglich »seins-vergebenden« Akt der Sprache zu lesen, der dem Ding allererst seinen Ort, seine Gegenwart und seinen Bezug »gibt«.2 Vermöge den elementaren performativen Akten der Nennung, der Bezeichnung und Unterscheidung, die gleichfalls Niklas Luhmann als Markierung und Beobachtung eines noch unbestimmten Territoriums an den Anfang aller sozialen und damit auch kulturellen Systeme stellte, bringt die Sprache folglich Seiendes »als« Seiendes hervor und konstituiert so die Phänomenalität des Phänomens. Sprechen und Erscheinen, Sagen und Sichzeigen bedeuten dann dasselbe, wobei nach Heidegger die Dichtung Georges insgesamt von ihrer ersten bis zu ihrer letzten Zeile eine Transformation vollzieht, die vom klassischen Vorrang des 2

Martin Heidegger: »Wesen der Sprache«, in: ders.: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 51975, S. 159-216, hier: S. 168ff.

DING, GABE UND DIE PRAXIS DER KÜNSTE | 93

Dings zum konstruktiven Primat der Sprache übergeht, wobei die Verwandlung auf dem rhetorischen Wechsel vom genitivus objectivus zum subjectivus beruht, der im Mittelteil des Gedichts durch die Erfahrung des Scheiterns in Gestalt des »ausbleibenden Wortes« nahe gelegt wird. Wenn auch diese Deutung insgesamt anfechtbar bleibt und George nicht gerecht zu werden vermag,3 deckt sich deren Anliegen mit dem Gedanken Lacans; doch bleibt demgegenüber die Dingheit des Dings konträr und eigensinnig, sofern von ihr wiederum Heidegger in seinem Aufsatz Das Ding nichts anderes sagen konnte, als dass es »dinge« – eine Formulierung, die in der Auszeichnung des Prozesshaften durch das Verbum andeuten soll, dass etwas am Ding dem Denken vorgängig bleibt, das es, buchstäblich, »be-dingt«, wie umgekehrt nichts zum Vorschein gelangen kann ohne die »Wachsamkeit des Menschen«, die es »als solche« in die Aufmerksamkeit dessen stellt, was »ist«:4 »[D]ie Sprache bringt das Seiende als ein Seiendes allererst ins Offene«, heißt der entsprechende Bescheid im Ursprung des Kunstwerks: »Wo keine Sprache west [...], da ist auch keine Offenheit [...].«5 Heidegger hat immer wieder mit diesem Zwiespalt gerungen, ohne ihn in eine angemessene Auflösung gebracht zu haben – eine Unversöhnlichkeit, die zuletzt zu der dialektischen Konstruktion eines gegenseitigen Brauchens von Mensch und zuvorkommendem Sein führte: »Das Seyn braucht den Menschen, damit es wese, und der Mensch gehört dem Seyn, auf daß er seine äußerste Bestimmung als Da-sein vollbringe.«6 Darum vermöge das Denken, wie es mit erklärter Volte gegen den Idealismus heißt, »für sich über die Wahrheit nichts«; es beginne vielmehr »vom Anderen seiner selbst«, das es erst in seine eigentliche Betroffenheit versetzt: »Der Mensch ist der in das Wesen der Wahrheit Gebrauchte.«7 Dem Ding wäre demnach in seiner Dinglichkeit eine eigene Kraft beizumessen, die in seiner nicht zu negierenden Existenz zum Ausdruck kommt und folglich auch in dem, was man gleichermaßen seine Ekphanes wie Exzedenz, sein Hervortreten wie seine nicht zu tilgende Überschüssigkeit nennen könnte, die sein Denken und dessen sprachliches Konstituens durchkreuzt. Wie das Wort dem Ding einen Namen und damit eine Bezeichnung wie durch einen Stempel, dem Gewalt anhaftet, erteilt, verdeckt er dieses auch, weil Name und Zeichen bereits seine Verrückung bedeuten, die dessen Widerständigkeit bricht. Erscheinung und Sprache gehören demnach ebenso zusammen, wie Bestimmung und

3

4 5 6 7

Vgl. dazu Dieter Mersch: »Sprache und Aisthesis. Heidegger und die Kunst«, in: Sibylle Peters/Martin Jörg Schäfer (Hg.): ›Intellektuelle Anschauung‹. Figurationen der Evidenz zwischen Kunst und Wissen, Bielefeld 2006, S. 112-133. M. Heidegger: »Das Ding«, in: ders.: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 41978, S. 157-175, hier: S. 173ff. M. Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«, in: ders.: Holzwege, Frankfurt/Main 51972, S. 7-68, hier: S. 60. M. Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Gesamtausgabe Bd. 65, Frankfurt/Main 1989, S. 251. M. Heidegger: Gelassenheit, Pfullingen 61979, S. 63, 51, 64.

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Unbestimmbarkeit, und es ist diese Dialektik, worin sich die ganze Rätselhaftigkeit des Dings versammelt.

2. Duplizität des »Als« Das Rätsel ist demnach das »Als« und seine ganze Unmöglichkeit oder Negativität, welche hier eine doppelte Kontur annimmt. Zunächst betrifft es die Auszeichnung selbst, das Hervorheben und Erscheinen »als dieses« in Differenz zu anderem – Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat deren Verschränkung in seiner Wissenschaft der Logik die Kapitel sowohl über das »Dasein« als auch über den »Schein« und die »Bestimmung« gewidmet.8 Die Wiederholung der Reflexion in den verschiedenen Passagen des Werkes spiegelt die Problematik aufs Genaueste wider: das »Als dieses« grenzt ein einzelnes von einem Anderen ab, ohne es bereits als ein »bestimmtes Etwas« zu terminieren und es nach Form und Stoff oder unterschiedlichen Eigenschaften gegliedert zu haben. Vielmehr genügt zunächst und als erstes seine Abhebung von einem Hintergrund, wie sie dem Akt der Deixis als Geste einer Feststellung oder Identifizierung korrespondiert, um die ganze Paradoxalität und Ermächtigung des Manövers der Benennung zu offenbaren: Ein Ding, das »als dieses« ausgesondert und herausgehoben worden ist, um es »als« Ding zu betrachten oder – in Luhmannscher Terminologie – zu »beobachten« und damit analysieren zu können, zieht schon eine Grenze, d.h. auch »Definition« und »Delimitation« von anderen Dingen. Es lässt sich dann in eine Reihe von »X-en« stellen, die eine Menge oder »Versammlung« zwar unbestimmter, aber »wohlunterschiedener Objekte« und damit auch eine »Einteilung« erzeugt, wie sie gleichfalls am Anfang der mathematischen Mengenlehre Georg Cantors steht, die die nämliche Operation vollzieht: {X1, X2, X3, …}. Ohne dass wir bereits wissen müssen, womit wir es im einzelnen zu tun haben und »was« etwas ist, haben wir schon eine Zerlegung vorgenommen, die die Funktion einer Identifizierung beinhaltet. Umgekehrt impliziert jede Identifizierung eine Einteilung, wie jede Einteilung die Möglichkeit ihrer »Wohlordnung«, d.h. auch ihrer Klassifikation, Aufzählung und Summe enthält. Nicht nur »heißt Denken identifizieren«, wie Theodor W. Adorno betonte, sodass bereits »[a]lle Philosophie […], vermöge ihrer Verfahrensweise, eine Vorentscheidung für den Idealismus« trifft,9 sondern Denken und Sprache sind überhaupt von dieser Art, sofern ihre Kennzeichnungen schon Markierungen, ihre Markierungen schon Unterscheidungen und ihre Unterscheidungen bereits Bezeichnungen sind, die nicht anders können als ein »System von Dingen« als »Ordnung von Zeichen« zu installieren.

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik, Teil 1, in: ders.: Werke 5, S. 125ff.; Teil II, S. 32ff. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Gesammelte Schriften 6, Frankfurt/Main 1973, S. 531.

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Anders ausgedrückt: Ein benanntes und unterschiedenes Ding ist von Anfang an ein »Mal«, ein durch eine Differenz gezeichnete »Kerbe«, der ein Riss vorausgeht, den es mit allen anderen Zeichnungen und Kerbungen, die es hervorruft, teilt. Der Riss, die Spaltung ist früher als der Begriff und seine Bestimmungen; es ist die Identität, die Adorno als das ganze Unheil des europäischen Denkens ausmachte und in der Jacques Derrida eine erste Schrift witterte, sofern, wie es in der Grammatologie heißt, »[d]er Ursprung der Spekulation […] eine Differenz« ist,10 denn erst wenn etwas »als dieses« abgeschieden und lokalisiert und damit in einen Zusammenhang gestellt ist, besteht die Möglichkeit seiner Analyse und Interpretation, mithin jener zweiten Form des »Als«, die im Sinne des Aristotelischen tode ti etwas nicht nur als ein Distinktes, sondern zugleich als ein Spezifisches, ein »Wassein« darlegt und in Bezug auf seine Merkmale und Beschaffenheit, seine Quantität und Qualität, seine Zugehörigkeit und Verwendung oder dergleichen mehr erkennbar macht. Es handelt sich dann um einen neuerlichen Riss, eine zweite Spaltung, die der ersten folgt und die Dinge als je schon repräsentierte herausstellt und als Teil einer symbolischen Ordnung manifestiert. Zumeist ist diese, von der klassischen Metaphysik her vollzogene Differenz gemeint, wenn von der Verwicklung zwischen Ding und Sprache die Rede ist und das Ding tendenziell als »Sache«, als »Objekt« einer Erkenntnis oder einer instrumentellen Praxis verhandelt wird, doch ist in diesem Sinne jedes Ding gleichzeitig insofern ein durch die Strukturen des »Als« mehrfach gebrochenes Ereignis, als es einerseits überhaupt schon »als solches« angesprochen sein muss, um andererseits zu einem Gegenstand zu werden, während die Objekthaftigkeit des Objekts eine Reihe weiterer Gegensätze unterstellt, zu denen das Subjekt ebenso gehört wie die Repräsentation, das Auge (die Wahrnehmung) oder der Begriff und seine Determinationen: »All of our knowledge of the object is only knowledge of its modes of representation – or rather of our modes of representation, the ways in which we set forth the object to the understanding, of which language is one«,11 heißt es bei Peter Schwenger in seinem Aufsatz Words and the Murder of the Thing. Wir sind folglich mit einer Serie von Spaltungen und Trennungen konfrontiert, die das Ding in seiner Bestimmtheit konstituiert und die Heidegger in der Vorgängigkeit des »hermeneutischen Als«, das dem »apophantischen Als« zugrunde liegt,12 zusammenfasste: Der Akt der Deutung, der schon Sprache, Dichtung ist, öffnet »Welt« zu dem hin, woraus gleichermaßen Dinge »als« Din10 Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt/Main 1974, S. 17, 65; ferner auch ders.: »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaft vom Menschen«, in: ders.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/Main 1972, S. 422-442, hier S. 440ff. 11 Peter Schwenger: »Words and the Murder of the Thing«, in: Bill Brown (Hg.): Things, Chicago 2004, S. 135-149, hier: S. 137. 12 Vgl. M. Heidegger: Logik. Die Frage nach der Wahrheit, Marburger Vorlesung 1925/26, in: ders.: Gesamtausgabe Bd. 21, Frankfurt/Main 1976, § 12, S. 135ff.

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ge wie ihre Interpretationen »als Bestimmte« hervorgehen können. Dinge »gibt es« daher immer nur als »be-deutete«, wie ihre »Be-deutung« auf elementaren Akten aufruht, um sie als Dinge zu bearbeiten, zu verwenden oder zu erforschen und untersuchen zu können. D.h. jedoch, dass das Ding in seiner Dingheit »ohne als« weder sagbar noch zeigbar ist; doch impliziert das nicht, dass es nicht »sei« oder »existierte«; vielmehr meint »Existenz« etwas, das im Sinne des »exsistere«, des »Heraus-« oder »Hervorstehens« der Möglichkeit des »Als« notwendig noch zuvorkommt. Es wäre der Geste der Spaltung noch vorauszusetzen, wenn auch nicht als ein Positives, so doch als ein Negatives, das seine Bestimmung zurückhält aber als Voraussetzung selbst sich jeder Verneinung verweigert. Dass es solches »Zuvorkommen« gibt, wird wiederum selber deutlich im negativen, d.h. insbesondere in einem Fehlen, einem Zusammenbruch, der Alterung oder Verletzbarkeit und Zerstörung der Dinge; es erscheint zudem auch dort unabdingbar, wo das Ding ein Eigenleben führt, sich seiner Zuschreibung verwehrt und sich den Herrschaftsansprüchen und Verfügungen des Menschen nicht unterwirft. Dann »gibt sich« die Präsenz der Dinge in einer Zurückhaltung, der gleichwohl eine Gegenwart beigemessen werden muss, mit anderen Worten, als eine negative Präsenz, einer Anwesenheit »ohne Als«. Folglich wäre das einzige, was von ihnen zumutbar gesagt werden könnte, dass sie »da« sind, dass sie sich als »unumgänglich« erweisen, dass sie nicht geleugnet werden können: »[The Thing] exists, but in no phenomenal form«, wie Bill Brown es ausdrückte.13 Entsprechend haben wir es nicht länger nur mit einer Nachträglichkeit der Dinge gegenüber der Sprache oder der Dialektik des Begriffs zu tun, wie es der philosophische Diskurs seit Hegel, Heidegger und Ludwig Wittgenstein selbstverständlich zu unterstellen scheint, sondern mindestens umgekehrt auch mit einer Nachträglichkeit der Sprache gegenüber den Dingen. Dingheit und Denken erweisen sich als unwiderruflich disparat, wobei das Denken, das allein ein Denken der Grenze sein kann, zur Einübung in der Erfahrung einer nicht einzuholenden Verspätung avanciert. Die Erfahrung von »Existenz«, wie sie mit den zuvor erwähnten Erfahrungen der Ekphanes und Exzedenz übereinstimmt, ist deren Bedingung; sie ist nicht bereits Begriff oder Sprache, sondern aller Symbolisierung und Figurierung voraus. Sowenig es Dinge ohne ihre Signifikation oder Benennung »als« Dinge gibt, sowenig gibt es Zeichen und Bedeutungen ohne die Vorgängigkeit des »Dass«, der »Existenz«, die nicht anders denn als die Singularität einer »Gabe« gedacht werden kann, die vorbehaltlos »gibt« und woran keine »Be-Deutung« oder Bezeichnung heranzureichen vermag. Sie markiert das Vergessene im abendländischen Diskurs, weil seit je das »Was«, die Bestimmung oder Prädikation wie auch der Sinn, die Zeichen und ihre Interpretation im Zentrum standen. Eine Unbestimmbarkeit geht voran: Sie deutet, gegen alle Mediation, auf die der Mensch angewiesen zu sein scheint, um überhaupt »von etwas« zu handeln oder »mit etwas« umzugehen, auf eine »negative Phänomenologie«, 13 Bill Brown: »Thing Theory«, in: B. Brown (Hg.): Things, S. 1-16, hier: S. 6.

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die von der Negativität des Gegebenen ausgeht, welche die Rätselhaftigkeit, die die Dinge umgibt, gleichzeitig zu wahren wie ihr zu entsprechen trachtet. Sie mündet nicht in Mystik, wie vereinfachend immer wieder unterstellt worden ist, sondern das Mystische, wie es zu einem wesentlichen teil zur Philosophie des 20. Jahrhunderts gehört, ist umgekehrt die Suche nach ihr, sofern die Modalitäten des Denkens und Sprechens »über« oder besser »von« der »Gabe« der Existenz stets nur paradoxe sein können.

3. Strategien des Nichtsprechens Dinge und Worte scheinen mithin das Schicksal zu teilen, einerseits notwendig aufeinander verweisen zu sein, andererseits aber im Wortsinne »ab-solut« verschieden zu bleiben. Gleichwohl erscheint diese Verschiedenheit selbst unaussprechlich – wäre sie es, ließe sich der Abstand, die Differenz zur Sprache und damit auch die Nichtsprachlichkeit der Dinge selber benennen. »Ding« ist vielmehr der Ausdruck für jene Unbestimmbarkeit, die nur indirekt eingekreist werden kann, deren Präsenz sich in einer hartnäckigen Negativität hält, während die Sprache umgekehrt seine Singularität vernichtet. Unvermeidlich scheint dabei jedes Wort bereits zuviel, wie es gleichzeitig die Erscheinung allererst zu sichern vermag, wobei die Dingheit des Dings ebenso verhüllt bleibt, wie es die verborgene »Voraus-Setzung« des Denkens und Sprechens ausmacht, welche selbst ohne jede Ankunft im Denken bleibt. Die Frage weist damit auf jene Möglichkeiten des »Nichtsprechens«, wie sie Jean-Luc Marion gegen Derrida ins Spiel brachte und die auf Strategien eines Erscheinenlassens beruhen, welche zwar auf der Basis des »Als« geschehen und ihrer bedürfen, gleichzeitig aber das »Als« selbst prekär und instabil werden lassen, um es fortwährend durchzustreichen. Der Versuch, der ganz auf die Logik des Paradox setzt, gleicht den Anstrengungen negativen Denkens, die »Sein« (Heidegger), »Differenz« (Derrida), »Alterität« (Emmanuel Lévinas), »Nicht-Identität« (Adorno) oder auch Materialität und »Ex-sistenz« und dergleichen ebenso setzt wie negiert. Es mündet in die Abgründigkeit einer Prädikation, die, um die Phänomenalität des Phänomens, sein bloßes »factum est« zu fassen, der negativen Theologie vergleichbar alle ihre möglichen Determinationen verneinen muss, um sich selbst in eine nicht enden wollende Kette von Negationen aufzulösen. Gilt diese via negationis allein von der Sprache her, weil sie das, was »Ex-sistenz« bezeichnet, notwendig verfehlen muss, zielt ihre Hoffnung dennoch auf die Enthüllung einer Präsenz, die keiner Sprache bedarf. Augenscheinlich sind dazu nur aporetische Konstellationen in der Lage, gleich einer Höhlung, die ihr Inneres allein durch ihren Rand preisgibt, oder auch eines Schattenrisses, der nicht »etwas« zeigt, nicht einmal eine Gestalt oder eine Oberfläche, sondern lediglich die »Spur« dessen, was sich chronisch in Reserve hält, aber dennoch wirkt. Bekundbar allein aus den Überschüssen des »Ex-« der Ex-sistenz oder dem damit verwandten »Ek-« der Ekstatik der Gegen-

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ständlichkeit und ihrer Materialität, die von ihnen kündet, gleicht ihr Aufweis jener Vexierung von Figur und Hintergrund, der es um eine Darstellung des Undarstellbaren gerade durch die »Zwischenräume« oder Brüche der Darstellung, ihr Scheitern und den Frakturen der Repräsentation geht, um immer wieder von Neuem auf eine Negativität zu stoßen, der gleichwohl, wie auch Peter Schwenger konstatiert, nirgends habhaftbar zu werden vermag: »[U]nable to appear, the thing is in the first instance appearance. And beyond that appearance, which represents the thing to us as an object, there is an ineluctable presence – the thingness of the thing – that we can never grasp.«14 So bleibt in Bezug auf das Ding stets ein unnennbarer Rest, ein Unbezeichenbares – oder eine Negation –, die freilich darin ihre Eindringlichkeit und außerordentliche Brisanz besitzt, das sie auf etwas verweist, das nicht einmal ein »Etwas« »ist«, nicht einmal »Eines«, das dennoch aber erst seine Nennung oder Darstellung zu setzen erlaubt. Denn während das Sprechen »über« oder »vom« Ding immer schon eine bestimmte Form von Bezogenheit aufruft, nötigt »es« gleichzeitig zu Bezugsweisen, die die Frage nach dem Bezug selber aufwerfen und ihn durch seine Prekarisierung allererst zum Problem werden lassen.15 Dann »gibt es« nur Absenzen, die freilich eine nicht negierbare Präsenz durch sie hindurch aufscheinen lassen: nicht die Abwesenheit der Anwesenheit ist der Skandal, sondern die Anwesenheit einer Abwesenheit, die daran erinnert, dass alle Konstruktionen oder Verfügungen unablässig durch ein Unverfügbares durchkreuzt werden. Es kommt daher darauf an, nicht das Ding von der Sprache, sondern die Sprache vom Ding her zu erfahren, und die Behauptung ist, dass diese Erfahrung untilgbarer Ex-sistenz im Sinne des Zusammenspiels ursprünglicher Ekphanes und Exzedenz jene Fraglichkeit induziert, die das »Ereignis« des Sprechens allererst ermöglicht. Vom Standpunkt der Sprache erweist sich solche Möglichkeit allerdings als nichtig, weil diese immer schon in die Strukturen des »Als« eingelassen wäre und wir es stets nur wieder mit Prädikationen zu tun bekommen, wohingegen, um solche Strukturen zu evozieren, Andersheit überhaupt unterstellt werden muss – Andersheit, die zwar im Unsagbaren zurückweicht, zu der es jedoch nicht notwendig keinen Zugang gibt, weil ihr eine eigene, nicht zu entschlagende Intensität zukommt. Sie kann nicht schon »als etwas« genommen bzw. mit einer spezifischen Kontur oder Form und Gestalt ausgestattet sein, vielmehr handelt es sich um jene Ekstasen, die sich nur selbst ausstellen oder exponieren können, ohne bereits durch einen Diskurs oder eine Rede zerschnitten und geteilt zu sein. Berührt wird so gleichzeitig jene Frage nach dem »Geschiehtes?«, dem »Augenblick« der »Ereignung«, die ebenfalls Jean-François Lyotard der Bestimmtheit des »Es geschieht« und der »Tatsache« des Ereignisses als ihre

14 P. Schwenger: »Words and the Murder of the Thing«, S. 138. 15 Dies ist im Grunde der Kern der Auseinandersetzung zwischen Jacques Derrida: Wie nicht sprechen. Verneinungen, Neuausgabe Wien 2006, und Jean-Jacques Marion: Dieu sans l’être, Paris 1982.

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mögliche Beantwortung entgegenstellte. Nicht erweist sich diese Fraglichkeit schon als Sprache, eher als Rätsel, das der Rätselhaftigkeit des Dings konform geht, das jedoch zur Sprache drängt, die auf diese Weise aus einer genuinen Responsivität geboren wird.16 Wir sind folglich mit jener »anwesenden Abwesenheit«, der absentia in praesentia konfrontiert, die zugleich in einer praesentia in absentia wurzelt, deren Format der »Chiasmus« ist, der nach einer katachrestischen Figurierung17 oder paradoxen Mediatisierung18 verlangt, um sie hervortreten zu lassen.

4. Paradoxe Strategie der Künste Dazu sind im besonderen Maße die Künste aufgerufen. Dies kann insonderheit anhand des ästhetischen Umgangs mit Sprache selber erläutert werden, der gerade nicht im verzweifelten und stets scheiternden Versuch eines Austritts aus der Ordnung der Prädikation besteht, sondern sie mit solchen Manövern traktiert, die sie zwingt, ihre eigene Medialität zur Schau zu stellen, die nur dort erscheint, wo diese versagt. Das bedeutet zugleich, an die Grenzen des Sprechens zu gehen und den Abstand von Sprache und Ding gerade dadurch zu vergrößern, dass diese tendenziell selber zum Ding wird – etwa durch die dadaistischen Lautdichtungen, die Strategien der konkreten Poesie oder den Textkompositionen John Cages.19 Sie bedeuten eine Unterbrechung von Referenz durch Selbstreferenzialität, um auf die Spur einer anderen, stets noch vorauszusetzenden Präsenz zu kommen, die nicht schon unter das Verdikt von Signifikation fällt, um sich »als« Präsenz sofort wieder zurückzunehmen. Nicht am Ding wird so ein unabdingbares Erscheinen deutlich, sondern an der Rede über es, sofern dieser selber eine Materialität eignet, wie sie im Laut zum Ausdruck kommt, dessen körperliche Präsenz unaufhebbar mitschwingt. Denn wenn Präsenz »als« Präsenz je schon »Nichtpräsenz« bedeutet, wie Derrida behauptet hat, wenn es, wie es in der Grammatologie

16 Zur Umkehrung des ›Was geschieht‹ zum ›Dass geschieht‹ in der Philosophie JeanFrançois Lyotards vgl. auch D. Mersch: »Das Entgegenkommende und das Verspätete. Zwei Weisen, das Ereignis zu denken: Derrida und Lyotard«, in: Dietmar Köveker (Hg.): Im Widerstreit der Diskurse, Berlin 2004, S. 69-108 sowie ders.: »›Geschieht es‹? Ereignisdenken bei Derrida und Lyotard«: www.momo-berlin.de/ mersch_ereignis.html 17 D. Mersch: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002, S. 28ff.. 18 Vgl. dazu vorläufig D. Mersch: »Medial Paradoxes. On Methods of Artistic Production«, in: Claus-Steffen Mahnkopf (Hg.): Critical Composition Today, Hofheim 2006, p. 62-74. 19 Vgl. dazu D. Mersch: »Jenseits des Zeichens. Einige sprachphilosophische Reflexionen zu John Cages Textkompositionen«, in: MUSIKTEXTE, Zeitschrift für Neue Musik 15, 1986, S. 18-22, sowie im näheren zu John Cage ders.: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt/Main 2002, S. 278ff.

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heißt, kein Außerhalb des Textes sowie, im übertragenen Sinne, kein »MedienAnderes« gibt,20 dann erweist sich im Gegenzug die Medialität des Mediums als nicht bewältigbarer Rest oder Ausnahme, die selbst erscheinen muss, um sagbar zu sein. Mediale Präsenz weist darum immer auf den Doppelsinn einer bereits mediatisierten Präsenz, wie sie umgekehrt auf einer Präsenz des Medialen basiert, welche durch sie durchscheint, ohne »als« mediale gegeben zu sein. Strategien solcher Inversion haben vor allem die künstlerischen Avantgarden erprobt. Sie haben an Sprache dadurch ein Nichtsprachliches enthüllt, dass sie ihr ihre semantische Struktur raubten und die Performanz der Stimme gegen die Skripturalität der Zeichen abzusetzen trachteten. Dabei kommt es nicht so sehr auf die Ambiguität der Figur an, als vielmehr auf deren Destruktion, die den Prozess der Rede zu dem hin radikalisiert, was kein Sprechen mehr ist, sondern bestenfalls ein »Rauschen«. Es demonstriert die Aporetik einer Operation, die immer wieder den Sinn zu zerstören trachtet, um gleichsam »hinter ihn« zu gelangen und doch im gleichen Augenblick wieder zu ihm zurückkehren zu müssen. »I made innumerable efforts to make words write without sense and found it impossible. Any human being putting down words had to make sense out of them«,21 notierte Gertrude Stein: Jede Serie von Worten produziert eine Assoziation, eine Trope, die die Unvermeidlichkeit der Bedeutung bezeugt, indem sie selbst noch den Unsinn einer primären Metaphorisierung unterwirft. Offenbar existiert kein leeres Sprechen – wohl aber eine Technik der Entleerung, wie sie vielleicht am entschiedensten John Cage vollzogen hat, wenn er in Empty Words (1973) die Substantialität der Laute solange durch Zufallsreihen zersetzte, bis nurmehr einzelne Vokale und Konsonanten übrig blieben, die jede syntagmatische Verknüpfung mit anderem Lauten zu rudimentären Sinnpartikeln verweigerten: Erfahrung in Sprache mit Sprache, nicht um eine überraschende Bedeutung zu erzeugen, sondern die Stille selbst hervortreten zu lassen: »[I]ch möchte mit meinem Titel auf die Bedeutungsleere anspielen, die für musikalische Klänge charakteristisch ist«, bekannte Cage in seinen Gesprächen mit Richard Kostelanetz: »Daß Worte, wenn sie von einem musikalischen Standpunkt aus betrachtet werden, alle leer sind.« Weiter heißt es: »[I]ch stellte mir Empty Words als einen Übergang von Literatur zu Musik vor. [...] Es war etwas, das laut gelesen werden sollte.«22

20 J. Derrida: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/Main 1976, S. 372ff., ders.: Grammatologie, S. 274. 21 Gertrude Stein: »A Transatlantic Interview 1946«, in: Robert Barlett Haas (Hg.): A Primer for the Gradual Understanding of Gertrude Stein, Los Angeles 1971, S. 18. 22 John Cage in: Richard Kostelanetz: American Imaginations, Berlin 1983, S. 61, 58 passim, S. 74ff. Kostelanetz bezeichnet Cages Poesie aus diesem Grunde als unvergleichbar mit jeder anderen zuvor geschriebenen: Sie existiert »außerhalb, nicht nur der Haupt-, sondern auch der Nebenströmungen zeitgenössischer amerikanischer Poesie«. Ebenda, S. 87, 88. Vgl. dazu auch D. Mersch: »Jenseits des Zeichens«, S. 18-22.

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Weniger entscheidend ist allerdings die Musikalität der Lautstruktur im einzelnen, auch wenn Cage ausdrücklich auf sie abzuheben scheint, als vielmehr jene Differenz oder Lücke, die das Ereignis der Rede erst konstituiert. Ähnliches gilt für die Zufallskompositionen selber: Sie verdanken sich nicht so sehr der Regel des I Ging, als vielmehr der Umwertung der Unterscheidung zwischen Klang und Stille, die der Umwidmung der Differenz von Sein und Nichts entspricht. Wo das Nichts vorangeht, wird Sein zur Ereignung: Schweigen, als »Atemholen« oder »Verklingen«, rührt damit auf indirekte Weise an die »Ex-sistenz« der Sprache, ohne sie »als solche« schon benennen oder anzuzeigen zu müssen. Exemplarisch macht sie im Nichtsprechen die Präsenz der Sprache erfahrbar, und zwar auf eine selbst unsagbare Weise – Sichzeigen ohne zu sprechen, ja selbst ohne Zeigen im Sinne von Deixis, vielmehr »Gabe« oder »Ausstellung«, das nicht umhin kann, »sich« zu geben, »sich« auszustellen und deren Preis-Gabe nicht anders denn als »performativ« beschrieben werden kann.

5. Dingheit der Dinge Als Wendung der Sprache auf ihre eigene Materialität und Präsenz weisen solche Strategien darüber hinaus auf verwandte Methoden der Brechung und Umkehrung in anderen Künsten, die jene »Richtungsänderung« induzieren, die Adorno überhaupt als »Scharnier negativer Dialektik« auswies, nämlich die Einzeldinge selbst »herbeizuschleppen« und gleichsam »in die Texte (zu) kleben.«23 Dazu zählen besonders die vielfältigen Praktiken des Materialshifts oder der Dramatisierung der Zeichen, um sie gerade als Zeichen zu nihilieren, der Verfremdung und Wiederholung bis zur Sinnlosigkeit oder auch der Derangierung und buchstäblichen »Un-Ordnung« der Dinge, um ihre Anwesenheit ins Monströse zu steigern, desgleichen Erosion und Verfall, die ihnen ihren Nutzen entziehen und sie in den Kreislauf des Amorphen, der reinen Stofflichkeit zurückkehren lassen. Die Liste solcher Reflexion ließe sich endlos weiter fortsetzen. Sie gilt gleichfalls für technische Dinge, deren Dysfunktionalität oder Störung ihre Anfälligkeit beweisen und die unwiderrufliche Arbeit der Entropie dokumentieren. Indem künstlerische Strategien derart systematisch auf Gegenfinalitäten setzen, geben sie zugleich den Dingen jenen »Stoß«, wie Heidegger sich im Ursprung des Kunstwerkes ausdrückte, um das Gewöhnliche ins »Ungewöhnliche« oder sogar »Außergewöhnliche« zu »ver-setzen« und sie in ihrer Dinglichkeit allererst exponieren. Dann erscheint, wie es weiter heißt, das, was anders nicht erscheinen kann, nämlich »dass ist« und »nicht vielmehr nichts«.24 Bevorzugt werden solche Stöße durch Widersprüche oder Kombination von Unvereinbarem versetzt. So hat Kurt Schwitters Dinge »aus der Gosse aufgele23 T. W. Adorno: Negative Dialektik, S. 23. 24 M. Heidegger: »Der Ursprung des Kunstwerkes«, S. 53f.

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sen«, um sie als zufällige Tagesreste in seine Merzbilder zu verarbeiten, während die Surrealisten, von denen Walter Benjamin schrieb, sie seien weniger Psychoanalytiker als Anthropologen, aus den Trümmern der Kultur neue, tribale Objekten kreierten.25 Beispielhaft können dafür Man Rays Objects of my affection gelten, etwa Cadeau (1921-1974), ein mit Polsternägeln versehenes Bügeleisen, sowie Perpetual Motif (1923-1971), ein Auge, das im Takt eines Metronoms schlägt – unmögliche Gegenstände, die Träumen anzugehören scheinen, während sie gleichzeitig von der konträren Verbindung von Dingfragmenten zehren, die ihren Gebrauch wie ihre Bedeutung zerstören.26 Ähnliches findet sich in Robert Rauschenbergs Combined Paintings wie Black Market oder Co-Existence (beide 1961), die nicht nur die Gesetze des Marktes karikieren, sondern die Unheimlichkeit der Dinge gerade dadurch manifest werden lassen, dass sie der Zirkulation des Tauschs entzogen werden. Noch weiter geht Claes Oldenburg mit seinen Soft Sculptures und Big Things, die die Dingheit der Dinge selbst ironisch zu thematisieren scheinen – den riesenhaften Toastscheiben aus Kunststoff, die schlaff in sich zusammensinken, oder dem überdimensionalen Eistütchen, das, wie aus einer imaginären Hand gefallen auf einem Kaufhaus klebt und unser Begehren kaum mehr zu entfachen vermag, weil es nicht mit dem Hunger, sondern mit der Überfülle, der Völlerei assoziiert ist. »Ich bin für eine Kunst, die ein Kind schleckt, nachdem es das Einwickelpapier gelöst hat. […] Ich bin für eine Kunst, die man raucht, wie eine Zigarette, die riecht wie ein Paar Schuhe. […] Ich bin für eine Kunst, die man anziehen und ausziehen kann, wie Hosen, die Löcher bekommen […]. Ich bin für eine Kunst, die ihr Haar verliert. Ich bin für eine Kunst, auf der man sitzen kann. […] Ich bin für die Kool-Kunst, 7-UP-Kunst, Pepsi-Kunst, Sunshine-Kunst, 39 Cents-Kunst, […] Feuerschadenverkaufs-Kunst, Letzte-Gelegenheits-Kunst, Einzige Kunst […], Frankfurter Würstchen-Kunst, DucksKunst, Frischfleischabteilungs-Kunst. […] Ich bin für eine Kunst von Teddybären und Gewehren und geköpften Kaninchen, explodierender Schirme, vergewaltigter Betten, von Stühlen, deren braune Knochen zerbrochen sind, von brennenden Bäumen, Kanonenschlagresten, Hühnerknochen, Taubenknochen und Kisten, in denen Männer schlafen. [.] Ich bin für eine von der amerikanischen Regierung zugelassenen Kunst, eine Klasse-A-Kunst, eine Normalpreiskunst, eine gelbreife Kunst, eine besonders ausgefallene Kunst, eine tischfertige Kunst, eine preiswerte Kunst, eine kochfertige Kunst, eine vollgereinigte Kunst, eine Sparkunst, eine Iß-besser-Kunst, eine Schinkenkunst […],«

schreibt Oldenburg begleitend zu seinem Store von 1961,27 der ein ganzes Kaleidoskop von Souvenirs, Emblemen, Maschinen, Geldstücken, Esswaren usw. bis

25 Walter Benjamin: Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz, in: ders.: Gesammelte Schriften II.1, Frankfurt/Main 1977, S. 295-310. 26 Vgl. dazu näher D. Mersch: Was sich zeigt, S. 77ff. 27 Claes Oldenburg: »The Store«, in: Laszlo Glozer: Westkunst. Zeitgenössische Kunst seit 1939, Kat., Köln 1981, S. 263-267 passim.

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zur Registrierkasse aus Gips gegossen versammelt, und sie mitten unter andere Dinge platziert, um sie gegeneinander zu konterkarieren. Die Differenz zwischen Ding und Kunst schwindet, nicht um beide einander anzugleichen oder zu verfremden, sondern um ihre Scheidelinie zu markieren und die Dinghaftigkeit der Kunst auf die Künstlichkeit der Dinge und umgekehrt zu projizieren. Der rohe Zustand ihrer Stofflichkeit dekuvriert dabei zugleich ihre grobe Existenz, die erfordert, sie laufend mit Farben, Etiketten, Sprüchen und Werbe-Imperativen zu übertünchen. Nichts anderes sind die Dinge im Modus des »Als«: Materialien, denen ihre eigene Absurdität und Ekelhaftigkeit anhaftet, die nunmehr schroff und aufsässig im Raum stehen oder herabhängen, ohne irgendeine Funktion zu erfüllen und gerade dadurch monströs werden. Das gilt besonders für die aus Textilien oder Plastikfolie gefertigten Lichtschalter, Musikinstrumente oder Telefonapparate und Toilettenschüsseln (seit 1962), die wie weiche und ausgehöhlte Attrappen an die Wand genagelt sind und dabei wie Ungetüme wirken, denen der Atem ausgegangen ist, wie auch umgekehrt für die gewaltigen, hausgroßen Lippenstifte, Löffel, Maurerkellen und Heftklammern (seit 1969), die in den Boden gerammt ihr Recht fordern, gesehen zu werden. Nicht nur büßen die Dinge auf diese Weise ihren Zweck und ihre gewohnte Form ein, sondern sie drängen sich in ihrer monumentalen Nichtigkeit gleich einer Klage auf, um ihre unwiderrufliches Dasein zu behaupten und doch nichts anderes zu sein, als eine leere und leblose Hülle. Die Dinge ohne den Menschen, ohne ihren Gebrauch, ihre Zuschreibungen sind nichts als eine Fremdheit, die, ihrer Verwertung müde geworden, sich von ihm abwenden und zuletzt, in ihrer schieren Größe und Fülle, ihre Überlegenheit manifestieren. Oldenburgs Projekte verdanken sich damit einer spezifischen Form von Reflexivität, die im Medium von Kunst einen »Diskurs der Dinge« installiert, um ihre buchstäbliche »Selbst-Ständigkeit« bloßzustellen. Es ist das Vorrecht der Kunst, dies durch einen Bruch, einen Riss oder einer schlichten Vergrößerung und Inszenierung von ebenso medialen wie symbolischen Differenzen hervorrufen zu können. Kunst findet darin ihr eigenes Metier, ihre besondere Erkenntnisweise. Dabei hantiert sie mit den Mitteln der Dissonanz, des Schocks, der Fraktur oder der Paradoxie, die jenseits der Reihe expliziter Verneinungen, zu denen allein die Sprache fähig ist, noch einmal die Erfahrung der vergessenen Dimension der »Ex-sistenz« zu evozieren vermögen. Die Negativität ihrer Praktiken erweist sich dabei als Bedingung ihrer Reflexivität. Kunst öffnet durch sie einen Abgrund »in« und »zwischen« den Dingen, der eine ständige, aber vergebliche Bewegung der Annäherung an ihre Andersheit auslöst – und zwar so, dass die Strukturen des »Als«, die ihre Dinglichkeit ebenso zu konstituieren wie zu verweigern scheinen, durch paradoxe Interventionen oder konträre »inter-mediale« Konstellationen unterlaufen und in einer unauslotbaren Schwebe gehalten werden. Verlangt ist dazu die fortwährende Anstrengung einer – im Wortsinne – experimentellen »Re-Flexion« in der Bedeutung von »Rück-Spiegelung« oder »Wider-Schein«, der nicht diskursiver Natur ist und der Sprache angehört, son-

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dern im Aporetischen des Materials selber operiert, um schließlich, wie es Adorno am Ende seiner Kranichsteiner Vorlesung treffend ausgedrückt hat, lauter Dinge hervorzubringen, »von denen wir nicht wissen, was sie sind«.28

28 T. W. Adorno: »Vers une musique informelle«, in: Musikalische Schriften I-III (= Gesammelte Schriften Bd. 16), Frankfurt/M 2003, S. 493-540, hier: S. 540.

Zur Unbestimmtheitssemantik der Einbildungskraft in der Moderne MARC ZIEGLER

»I have nothing to say, and I am saying it« John Cage1

Die Einbildungskraft oder das Imaginäre spielt in den unterschiedlichen philosophischen und künstlerischen Diskursen der Moderne bis heute eine signifikante, wenngleich auch grundlegend heterogene Rolle. Eine erste Zugangsweise wertet die Einbildungskraft unendlich auf. Zu denken wäre hier an jene Diskurse, die sich von der Frühromantik Schlegels und Novalis’ sowie dem Deutschen Idealismus über Heidegger bis zu Cornelius Castoriadis und Slavoj Žižek erstrecken. Erst vermöge der Einbildungskraft kann, diesem Denken gemäß, Subjektivität und Intersubjektivität in einem umfassenden Sinn verstanden werden. Die Einbildungskraft wird hier zu einem, wenn nicht gar dem entscheidenden Moment innerhalb des reflexiven Konstitutionsprozesses der modernen (Inter-)Subjektivität. In seinen extremen Artikulationen, wie z.B. in Fichtes Wissenschaftslehre,2 fällt die Konstitution des Subjekts mit der des Objekts zusammen, mit anderen Worten, die Einbildungskraft wird zur Welt erzeugenden Kraft schlechthin erklärt. Der Psychoanalyse kann diesbezüglich eine besondere Rolle zugesprochen werden, lässt sich ihre Theorie von Freud bis Lacan über weite Strecken doch als eine Theorie über die Einbildungskraft lesen.

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John Cage: »Lecture on Nothing«, in: ders.: Silence. Lectures and Writings, Middletown, Conn. 1961. Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), in: I.H. Fichte (Hg.): Fichtes Werke, Bd. 1, Berlin 1971.

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Eine zweite moderne Erzählung der Einbildungskraft rekurriert vor allem auf ihre Eigenschaft, Neues in die Welt zu bringen. Es handelt sich dabei um einen zunächst im Bereich des Ästhetischen angesiedelten Diskurs, der im Umfeld der Querelle des Anciens et des Modernes3 anhebt und über die Binnenkritiken der Aufklärung bis hin zur Romantik und schließlich zu Baudelaire reicht, ein Diskurs, der vor allem auch die künstlerische Avantgarde in ihrem unentwegten Rekurs auf Nietzsche einerseits, dem immanenten Zwang zur (ästhetischen) Abgrenzung andererseits, durchstrukturiert. Gleichwohl hat sich der Diskurs über die Einbildungskraft und das Neue in den vergangenen Jahrzehnten vervielfältigt und wird heute unter den Begriffen der Kreativität und Innovation auf breiter Ebene verhandelt.4 Vor allem im Zuge des linguistic turns lässt sich die Wirkungskraft des Imaginären in den gleichermaßen performativen wie rhetorischen Registern von Metapher, Metonymie und Katachrese neu bestimmen. Die Einbildungskraft lässt sich so als ein durchweg sprachlich strukturiertes Imaginäres auffassen, von dem her sprachliche Formen der permanenten Transformation, Überschreitung und Veränderung sowie die Hervorbringung eines vorbildlosen Neuen bestimmbar werden.5 Das Aufsuchen der auf die Hervorbringung des radikal Neuen ausgerichteten Imagination in den performativen Gestalten und Gesten der sprachlichen Vermittlung verweist dabei auf eine grundlegend medial verfasste Einbildungskraft, die ihre (künstlerische) Produktivität hauptsächlich an den reflexiven Rändern, Brüchen und Paradoxien des Materiellen zu entwickeln weiß.6 Ein dritter Ansatz unternimmt den Versuch, die Einbildungskraft weder im Sinne einer starken reflexionstheoretischen Begründungsfigur von Subjektivität im Sinne des deutschen Idealismus noch als primärer Garant für das strikt Neue auszudeuten. Vielmehr wird die Einbildungskraft hier einer aristotelischen Tendenz gemäß als ein zumeist auf Vermittlung ausgerichtetes Erkenntnisvermögen des Subjekts verstanden. Von Aristoteles7 über Pico della Mirandola8 bis hin zu Wittgenstein9, Sartre10 oder auch Colin McGinn11 stellt sich im Rahmen dieser 3 4

Vgl. Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt/Main 1970. Vgl. Günter Abel (Hg.): Kreativität. Sektionsbeiträge des XX. Deutschen Kongresses für Philosophie, Berlin September 2005, Berlin 2005. 5 Vgl. Andreas Hetzel: Rhetorisches Sprachdenken. Eine Pragmatik jenseits der Handlungstheorie, unveröffentlichtes Manuskript, Darmstadt 2008. 6 Vgl. Dieter Mersch: »Imagination, Figuralität und Kreativität. Zur Frage der Bedingungen kultureller Produktivität«, in: Sic et Non. zeitschrift für philosophie und kultur. im netz. http://www.sicetnon.de, Zugriff im Oktober 2008. 7 Aristoteles: Über die Seele, Hamburg 1995. 8 Gianfrancesco Pico della Mirandola: Über die Vorstellung, München 1984. 9 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt/Main 1984. Vgl. ders.: Das blaue Buch. Eine philosophische Betrachtung, Frankfurt/Main 1970. 10 Jean-Paul Sartre: Das Imaginäre, Frankfurt/Main 1971. 11 Colin McGinn: Das geistige Auge. Von der Macht der Vorstellungskraft, Darmstadt 2007.

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Auseinandersetzung die Frage nach dem epistemologischen Status von Wahrnehmungen, Vorstellungen, Träumen, Halluzinationen und Wahnsinn im Hinblick auf den Gesamthaushalt des Bewusstseins. Ein vierter Verhandlungsort der Einbildungskraft stellt eine Art philosophischer Richtbank des Imaginären dar. Die Einbildungskraft wird hier auf ihre gefährlichen Tendenzen hin untersucht. Sie ist nicht allein Stifterin der Wirklichkeit, sondern gleichwohl auch jene Kraft, die dem Subjekt die Wirklichkeit zu entziehen vermag: Phantasmagorien, das Verschweben in Möglichkeitswelten, der Somnambulismus oder auch wilde Leidenschaften und übermäßige Empathie werden der ungezügelten Einbildungskraft ebenso zur Last gelegt wie jener Überschuss an nichttilgbarer Subjektivität, die dem positivistischen Geist der Wissenschaften seit eh und je den direkten Zugriff auf die Gegenständlichkeit der gegebenen Welt verweigert hat. Im Rahmen von Naturalisierungstendenzen des Denkens ist ein weiterer philosophischer Standpunkt einnehmbar geworden. Er besteht in der vollständigen Außerachtlassung der Einbildungskraft. Gemeinsam mit Geist und Subjektivität wird die Einbildungskraft aus dem philosophischen Nachdenken über Mensch und Welt verabschiedet: Gemäß dieser Betrachtungsweise haftet der Einbildungskraft der unaufhebbare Makel der Metaphysik und ein an Veralterung erkrankter Humanismus an. Die Einbildungskraft fällt hier schlicht unter ein Denkverbot, sie wird zum Anathema der Philosophie. Wovon spricht diese Aufzählung, wenn nicht (auch) von der Schwierigkeit, eine (kohärente) Geschichte der Einbildungskraft zu erzählen? Die Einbildungskraft ist möglicherweise zu disparat, um in den Guss einer Geschichte gefasst zu werden. Vor dem Hintergrund ihres Spannungsverhältnisses zur Vernunft wäre eine Geschichte der Einbildungskraft, wie Dietmar Kamper bemerkt, womöglich schon »aufgrund ihrer Diskontinuitäten ein Ding der Unmöglichkeit«12. So ließe sich beispielsweise vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund des 20. Jahrhunderts und der verstärkten Bedeutung der Technik für die Arbeit (an) der Einbildungskraft gleichermaßen eine Verlustgeschichte der Einbildungskraft in dem Sinne erzählen, wie Horkheimer und Adorno dies in der Konzeption der Kulturindustrie als eine Gestalt der totalen Vergesellschaftung unternehmen, indem sie den »traumlosen Traum« Hollywoods als letztes Sinnresidual einer verkümmerten Individualität herausstellen;13 als es auch andererseits ebenso gut möglich ist, im Zuge einer umfassenden Informatisierung der Gesellschaft die Geschichte einer Feier der (digitalen) Bilder zu rekonstruieren.14 12 Dietmar Kamper: Zur Geschichte der Einbildungskraft, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 8. 13 Vgl. das Kapitel zur Kulturindustrie in: Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, in: Gunzelin Schmid Noerr (Hg.): Max Horkheimer: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt/Main 1987. 14 Zu dem letztgenannten Punkt siehe vor allem Vilém Flusser: Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen 1999.

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Im Folgenden soll es demgegenüber darum gehen, einige Aspekte essayistisch zu verhandeln, die das Verhältnis der Einbildungskraft zu Bestimmtheit und Unbestimmtheit betreffen. Die folgenden Skizzen bewegen sich dabei in gleicher Weise zwischen makrologischer Gegenwartsanalyse und mikrologischer Lektüre wie zwischen begriffs- und performativitätstheoretischen, phänomenologischen und sprachphilosophischen Überlegungen.

1. Die Frage nach Stellung und Bedeutung der Einbildungskraft wird in der Moderne nicht nur unterschiedlich beantwortet, vielmehr entfaltet sie ihre Virulenz vor dem Hintergrund einer prinzipiellen Unentscheidbarkeit: Es ist nicht klar, ob es Einbildungskraft überhaupt gibt. Sowohl ihr epistemologischer als auch ontologischer Status ist, in einem vielleicht nur auf den ersten Blick wagemutigen Vergleich, in etwa so (un-)gesichert wie derjenige Gottes. Es verwundert nicht, dass die Einbildungskraft in den Bewertungen der Philosophen und Künstler, die sie zu ihrem Thema gemacht haben, zwischen höchster Anerkennung und gänzlicher Verwerfung changiert. Gleichwohl – und das wäre die These dieses Aufsatzes – lässt sich die Einbildungskraft als Ausgangspunkt einer spezifischen philosophischen Erfahrung verstehen, die ihre Markierungen durch eine Semantik des Unbestimmten in jenem konzisen Sinn erhält, den Gerhard Gamm ihr durch die paradoxe Figur einer »bestimmten Unbestimmtheit«15 verleiht. Die Einbildungskraft hat Teil an jener »janusköpfige[n] Problemlage von reiner Innerlichkeit und absoluter Kontingenz«16, die für die Selbstverständigungspraktiken moderner Subjektivität grundlegend geworden ist: zugleich in einen Prozess der unendlichen Vertiefung als auch der Haltlosigkeit verstrickt zu sein. Wir verdanken es über weite Strecken dem Wirken der Einbildungskraft, dass die modernen Bestimmungsversuche der Subjektivität von einem nichtreduzierbaren und nicht eliminierbaren Moment von Freiheit durchzogen sind. Die Abgründigkeit der Freiheit, wie sie nicht nur von Fichte, Kierkegaard und Nietzsche diagnostiziert wurde, korrespondiert dabei mit der modernen Aufdeckungsgeschichte einer grundlegenden Entzogenheit des menschlichen Selbst. Am Höhepunkt der modernen Subjektphilosophie steht die Diagnose einer nicht zu beschwichtigenden sowohl praktischen als auch theoretischen Unruhe, die einerseits die Subjektivität überhaupt erst in Gang setzt, sie andererseits aber auch schon wieder in ihrem Machtanspruch generell in Frage stellt: Der für die Moderne grundlegende

15 Gerhard Gamm: Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang aus der Moderne, Frankfurt/Main 1994, passim. Vgl. ders.: Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten, Frankfurt/Main 2000, passim. 16 G. Gamm: Flucht aus der Kategorie, S. 34.

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Anspruch nach einer durchgängigen Bestimmung von Selbst und Welt verbindet sich mit der Einsicht in eine vorgängige Dezentrierung und Risshaftigkeit des Subjekts. Von Schellings ekstatischen Subjekt bis hin zu Plessners »exzentrischer Positionalität«17 des Menschen entwickelt die Moderne ein Denken von Subjektivität, das sich von jeglicher Innerlichkeit löst und an die Stelle der intimen Vertrautheit des Subjekts mit sich das Denken eines »extimen Zentrums« (Lacan) setzt. Die Wahrheit findet das Subjekt nicht in sich: »Nicht das in sich hinein, das außer sich Gesetztwerden ist dem Menschen Noth«18, schreibt Schelling 1821. Damit wird zugleich eines der zentralen Kriterien der Einbildungskraft auf den Plan gerufen: Die Fähigkeit, die Grenzen, die sich das Subjekt setzt, auf ein Offenes hin zu überschreiten. Diese Überschreitungslogik der modernen Subjektivität mündet in der Erfahrung einer Grundlosigkeit des Selbst: »Die Macht des absoluten Ichs, alles zu konstruieren, und die Erfahrung, daran buchstäblich nichts mehr zu haben, kennzeichnet das radikale Kontingenzbewußtsein im Blick auf die Subjektivität in der modernen Welt«19. Der vielfach konstatierte Freiheitssinn moderner Subjektivität wird innerhalb einer philosophischen Rhetorik des Risses und der Brüchigkeit ausbuchstabiert, dem die Einsicht zugrunde liegt, dass die »Grundbegriffe eines Handelns aus Freiheit wiederum Bestimmtheit und Unbestimmtheit«20 sind, mit anderen Worten: dass die sich wechselseitig bedingenden und steigernden Erfahrungen von Freiheit und Kontingenz in der enttraditionalisierten und radikalisierten Moderne einem begrifflichen »Zentraldispositiv« (Gamm) unterstellt werden müssen, das sich in der paradoxen Redeweise einer bestimmten Unbestimmtheit am zweckmäßigsten zur Darstellung bringen lässt. Versucht wird hierbei, in der philosophischen Analyse weder einem naturalistischen Reduktionismus noch einem auf absolute Selbsttransparenz gründenden Idealismus zu folgen.21 Vielmehr geht es der Philosophie der bestimmten Unbestimmtheit um die Ausgestaltung so unterschiedlicher als auch gleichzeitig aufeinander verweisender Gegenwartserfahrungen, wie sie sich aus dem Ende der großen Systeme und Erzählungen und dem Reflexivwerden des Wissens ergeben.22 Ausgestattet mit einem erhöhten Gespür für Nichtidentisches in den unterschiedlichen Gestalten der Identitätslogik, erteilt sie dem philosophischen Versuch, das Ordnungsgefüge der Welt vollständig am Leitfaden der Prädikation zu entfalten, eine Absage.23 Ihr Bestreben geht darauf, die durch die Moderne auf-

17 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), Berlin/New York 1975. 18 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: »Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft (1821)«, in: F.W.J. Schelling: Ausgewählte Schriften in sechs Bänden, Bd. 4, 1807-1834, Frankfurt/Main 1985, S. 392. 19 G. Gamm: Flucht aus der Kategorie, S. 32. 20 Ebd., S. 34. 21 Vgl. ebd., S. 25. 22 Vgl. ebd., S. 19. 23 Vgl. ebd., S. 41ff.

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gedeckte Negativität von Welt und Selbst an ihren extremen Punkten aufzunehmen – nicht um an ihnen den modernen Gesang vom Endspiel aller Dinge um eine weitere Variation zu bereichern, sondern um die Positivierung des Unbestimmten in unterschiedlichen Denkmodellen gleichsam auszuprobieren.24 Der Einbezug der Einbildungskraft in ein solcher Art informiertes philosophisches Formular ist dabei augenfällig: Eignet der Einbildungskraft doch wie kaum einem anderen philosophischen Sujet jener Entzugscharakter des Unbestimmten, der sich erst ex post aus den unterschiedlichen Bestimmungen heraus entwickelt und der dazu geneigt macht, die Einbildungskraft eher zwischen Schein und Nichtsein denn im durchgängig bestimmten Sein zu verorten.

2. Die Schwierigkeit mit der Einbildungskraft besteht darin, dass die Einbildungskraft eine reine Vermittlungsinstanz der Subjektivität zwischen Erscheinung und Verstand, Empirie und Geist, Subjekt und Objekt, Sinnlichkeit und Sinn, Ding und Denken, Begriff und Bild, Mensch und Welt darstellt. Kants gesamter Schematismus der reinen Verstandesbegriffe nimmt seinen Ausgang von der Frage, wie der kategorial verfasste Verstand es vermag, die von ihm bereitgestellten Begriffe auf konkrete einzelne Erscheinungen in der Welt zur Anwendung zu bringen, mit anderen Worten: wie es überhaupt möglich sei, eine konkrete, in (theoretischen, praktischen, ästhetischen ...) Urteilen eingeformte Erfahrung von der Welt zu machen, wenn doch die Charakteristik des Verstandesapparats auf der Ausbildung einer gänzlich unspezifisch verfassten Allgemeinheit auffußt. Kant führt an dieser Stelle die Einbildungskraft unter Zuhilfenahme der Figur des Dritten ein.25 Die Einbildungskraft bestimmt er als eine zwischen (allgemeingültigen) Verstand und (einzelner) Erscheinung »vermittelnde Vorstellung«26. Von dieser wird verlangt, dass sie »einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß, und die Anwendung der ersteren auf die letzte möglich«27 mache. Die Einbildungskraft wird von Kant exakt an jene äußerst heikle architektonische Stelle der Transzendentalen Analytik verlegt, an der die in kritischer Absicht sorgsam errichtete Dichotomie von Sinnlichkeit und Verstand droht, in den reflexiven Abgrund einer grundlegend grundlosen Haltlosigkeit zu fallen. Denn weder sind gemäß der Architektonik der kritischen Vernunft die Kategorien des Verstandes in den empirischen Anschauungen vorgegeben, noch partizipiert

24 Vgl. ebd., S. 296ff. 25 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: ders.: Werke in sechs Bänden (hg. v. Wilhelm Weischedel), Bd. II, Darmstadt 1998, S. 187 (A 138, B 178). 26 Ebd., S. 188. (A 138, B 178). 27 Ebd., S. 187f. (A 138, B 178).

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Sinnlichkeit in irgendeiner Weise an den, von Kant daher auch rein genannten, Verstandesbegriffen. Im konkreten Urteil jedoch findet in der (von Kant subsumtionslogisch gedachten) Anwendung der Verstandeskategorien auf empirisch gegebene Anschauungen notwendig eine Vermischung zwischen den Bereichen statt. Die Konzeption der Einbildungskraft unterstellt dieser somit einen grundlegend hybriden Charakter. Kant weist der Einbildungskraft die doppelte Aufgabe zu, in den abstrakt arbeitenden Verstand Sinnlichkeit einzuführen und die Sinnlichkeit dem Regelwerk des Verstandes gemäß zu strukturieren. Allerdings gibt die Einbildungskraft dem Verstand Sinnlichkeit lediglich im Modus des Unsinnlichen: als bloße »formale Bedingungen der Sinnlichkeit [...] a priori«28. Kant nennt diese reine und formale Bedingung der Sinnlichkeit, auf die der Verstandesbegriff in seinem Gebrauch (als subsumierende, urteilende Kraft) verwiesen bleibt, das Schema des Verstandesbegriffs. Der Einbildungskraft kommt eine regelgeleitete, rein synthetische Funktion zu, womit Kant einerseits es vermeidet, die Einbildungskraft zur Gänze dem Bereich des Sinnlichen zuzuschreiben, andererseits das transzendentale Ordnungsgefüge des Verstandes in der ebenso transzendentalen Struktur der (sinnlichen) Empfindung zu verankern. So nennt er beispielsweise das Schema der Substanz die Beharrlichkeit des Realen in der Zeit, das Schema der Wirklichkeit wird von ihm als das Dasein in einer bestimmten Zeit definiert, und das Schema der Notwendigkeit bestimmt Kant als das Dasein eines Gegenstandes zu aller Zeit.29 Grundlegend für die synthetische Funktion der Einbildungskraft wird ihr Produzieren auf der Folie der Zeit: »Die Schemate sind daher nichts als Zeitbestimmungen a priori nach Regeln, und diese gehen, nach der Ordnung der Kategorien, auf die Zeitreihe, den Zeitinhalt, die Zeitordnung, endlich den Zeitbegriff in Ansehung aller möglichen Gegenstände«.30 Ebenso – und dies unterscheidet den Kantischen Ansatz von anderen Tendenzen des Philosophierens, welche die Einbildungskraft mit bildhaften Vorstellungen unumwunden gleichsetzen31 – differenziert Kant explizit zwischen Schema und Bild, wobei das Schema noch als dem Bilde vorrangig gedacht wird. Mit Žižek lässt sich ein Schema (im Sinne Kants) als die gleichsam sinnliche und entmaterialisierte »phantasmatische Repräsentation« einer abstrakten Vorstellung verstehen.32 So kann beispielsweise das Bild eines Dreiecks nie dem Begriffe des Dreiecks adäquat sein, da jedes Bild eines Dreiecks dieses nur als ein Bestimmtes 28 29 30 31

Ebd., S. 189. (A 140, B 179). Ebd., S. 191f. (A 144f., B 183f.). Ebd., S. 192f. (A 145, B 184f.). Auch die sog. »Imagery-Debate«, die unter kognitionswissenschaftlichen Vorzeichen geführte Auseinandersetzung über die Frage, ob unser Geist über mentale Vorstellungsbilder verfügt, könnte von einem Rekurs auf Kant diesbezüglich noch etwas lernen. Vgl. die sehr instruktive Übersicht über diese Debatte in: Howard Gardner: Dem Denken auf der Spur. Der Weg der Kognitionswissenschaft, Stuttgart 1989. Hier vor allem Kapitel 11, »Vorstellungsbilder: Erfindungen der Phantasie?«, S. 339-355. 32 Vgl. Slavoj Žižek: Die Tücke des Subjekts, Frankfurt/Main 2001, S. 36.

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vorstelle, die (mit Unbestimmtheit überdeterminierte) Allgemeinheit des Begriffes vom Dreieck damit aber nie erreicht werde. Der Begriff des Dreiecks bedarf, um auf ein wirkliches Dreieck beziehbar zu sein, jener synthetischen Tätigkeit der Einbildungskraft im Sinne einer schematischen Vermittlung, die noch dem Bild eines Dreiecks vorausgeht: »Diese Vorstellung nun von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen, nenne ich das Schema zu diesem Begriffe. [...] Das Schema des Triangels kann niemals anderswo als in Gedanken existieren, und bedeutet eine Regel der Synthesis der Einbildungskraft, in Ansehung reiner Gestalten im Raum«.33

Die synthetische Funktion der Einbildungskraft hat eine doppelte Konsequenz: Durch sie wird die Realisation der Kategorien des Verstandes – wie Kant das nennt – überhaupt erst möglich. Nur durch diese Konfrontation des Verstands mit der Sinnlichkeit werden die Kategorien zu mehr als bloß logischen Funktionen. Es ist die Einbildungskraft, welche an den Kategorien gleichsam eine Bildungsarbeit leistet und sie, vergegenständlicht, zu einem Objekt einer möglichen Erfahrung werden lässt. Das Schema bildet gleichsam aus der bloß logischen Funktion eine Begriffsgestalt.34 Auf der anderen Seite übt die Einbildungskraft auch einen nicht unerheblich zu nennenden einschränkenden, wie Kant sagt: restringierenden, Einfluss auf den Verstand aus. Es ist, so könnte man sagen, überhaupt erst die Einbildungskraft, die die Kategorien des Verstandes gleichsam von außen begrenzt und sie der Herrschsaft der Zeit aussetzt. Alles Denken unter dem Einfluss der Einbildungskraft ist je immer schon ein verzeitlichtes, in der Zeit ablaufendes und ebenso ein verzeitlichendes Denken. Das heißt aber nichts anderes, als dass der Einbildungskraft eine grundlegende Performativität eignet: Sie erweist sich ausschließlich in ihrem Vollzug.

3. Die (philosophischen) Reden über die Einbildungskraft des Menschen verdanken sich allesamt einer sie begründenden chiastischen Struktur. Diese Struktur manifestiert sich da, wo die gegenläufigen Semantiken der Negativität und des Affirmativen sich berühren, verschlingen oder aneinander brechen. So ist, nach der 33 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 189. (A 140f., B 179f.). 34 Dass diesem Zug der synthetischen Einbildungskraft eine nicht zu vernachlässigende Gewalt zugrunde liegt, hat Slavoj Žižek sehr eindringlich nachgewiesen. Mit Rekurs auf Hegels Denkfigur der »Nacht der Welt« macht Žižek demgegenüber eine im Medium reiner Negativität gehaltene »präontologische« und »präsynthetische« Einbildungskraft geltend. Vgl. S. Žižek: Die Tücke des Subjekts, S. 15-168.

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sowohl schlichten als auch berühmten Definition Kants, die Einbildungskraft »ein Vermögen der Anschauungen auch ohne Gegenwart des Gegenstandes«35 – eine Bestimmung, welche ein Negativitätsmerkmal in jegliche Tätigkeit der Einbildungskraft einschreibt, sei diese nun produktiv oder reproduktiv. Gleichgültig also, wo und in welchen anthropologischen, ästhetischen, sozialen oder auch technischen Formen die Einbildungskraft eine konkrete Gestalt annimmt, stets wird mit ihrem Auftreten zumindest virtuell eine Negativität im Sinne einer Abwesenheit angezeigt. Phänomenologisch gewendet: Gleichgültig, was zur Erscheinung gelangt, sei es nun Wahrnehmung oder Vorstellung, Sprach- oder Kunstprodukt, technische Innovation oder soziale Phantasie – man wird immer von der Einbildungskraft sagen müssen, dass sie aus ihren Erscheinungen, Entäußerungen, Artikulationsformen und Objekten je immer schon verschwunden sein wird. Was dank der Einbildungskraft zur Erscheinung gelangt, ist stets Etwas, doch nie, zu keinem Zeitpunkt, die Einbildungskraft selbst als ein bestimmtes oder bestimmbares Etwas. Die Einbildungskraft muss abtreten, um hervortreten zu lassen, was allein durch sie den Weg gebahnt bekommt. In ihrem Hervorbringen befindet sie sich immer schon auf dem Rückzug, stets dazu genötigt, sowohl ohne ein phänomenales als auch ohne ein sprachliches Äquivalent ihr äußerst produktives Dasein zu fristen. Dietmar Kamper fasst diesen Umstand in dieses Bild: »Die Einbildungskraft ist kein Welt-Ding, kein Gegenstand, der zu fischen wäre, sondern bestenfalls das Wasser, das immer durchläuft – oder gar das Netz ...«.36 Positiv formuliert: Die Einbildungskraft erfüllt exakt jene Funktion, die Gerhard Gamm überhaupt der Subjektivität zuschreibt: eine Mitte zu sein, die gleichermaßen unausdeutbar wie sich selbst zersetzend verfährt.37 Das Substantiv Einbildungskraft verweist in diesem Zusammenhang auf ein nicht zu vernachlässigendes vorsprachliches Moment. Im Unterschied zu dem lateinischen Wort imagination einerseits und dem griechischen Ausdruck phantasia andererseits benennt das Wort Einbildungskraft eine (ursächliche) Kraft des Einbildens. Darüber hinaus kann das Verb einbilden transitiv gebraucht werden: Die Kraft bildet sich in etwas ein, das etwas anderes ist, als sie selbst. Was bedeutet, dass die Kraft der Einbildung, die Einbildungskraft, überall dort, wo sie sich entfaltet, nur an ihren Spuren ablesbar ist.

35 I. Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Werke in sechs Bänden, Bd. VI, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Darmstadt 1998, S. 466 (A 67, B 68). Siehe ebenso ders.: Kritik der reinen Vernunft, § 24, S. 148 (B 151). 36 D. Kamper: Zur Geschichte der Einbildungskraft, S. 10. 37 Vgl. G. Gamm: Nicht nichts, passim.

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4. Die zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit, Affirmation und Negation, Mangel und Überschreitung, Weltbindung und Weltflucht (W. Schulz)38 schwebende Einbildungskraft erhält ihre eminent praktische Relevanz in der Bezugnahme auf den Faktor der Zeit, genauer im Hinblick auf das Denken der Endlichkeit in einer hochsäkularen Gesellschaft. Wir befinden uns heute jenseits des Endes (des Subjekts, der Geschichte, der großen Erzählungen etc.). Angesichts einer posthistorischen Erfahrung, deren Brisanz darin besteht, nicht nur am Ende angelangt zu sein, sondern über es hinaus gegangen zu sein, ohne dessen Schatten abwerfen zu können, stellt sich die Frage nach dem Charakter des Endlichen heute neu. Unser größtes Problem diesbezüglich lautet: Wie machen wir mit dem Ende Schluss? Wie schaffen wir es, unsere Fixierungen an das Endliche überwinden – oder besser: verwinden zu können? Es ist Hegels in der Wissenschaft der Logik durchgeführte Analyse der Endlichkeit, die unter Zuhilfenahme des Überschreitungscharakters der Einbildungskraft ein verwindendes Absehen von der Endlichkeit lehrt. Hegel lässt seine Analyse der Endlichkeit damit beginnen, dass er das Endliche als dasjenige bestimmt, was vergeht: »Das Endliche verändert sich nicht nur, [...] sondern es vergeht, und es ist nicht bloß möglich, daß es vergeht, so daß es sein könnte, ohne zu vergehen. Sondern das Sein der endlichen Dinge als solches ist, den Keim des Vergehens als ihr Insichsein zu haben; die Stunde ihrer Geburt ist die Stunde ihres Todes«.39

Der Gedanke an die Endlichkeit der Dinge, so Hegel weiter, führe eine Trauer mit sich, da im Angesicht der Endlichkeit es für die Dinge kein »affirmatives Sein unterschieden von ihrer Bestimmung zum Untergange«40 gäbe. Hegel wirft nun aber dem Verstand vor, dass dieser dazu neige, das Endliche als ein Absolutes zu setzen und in der Bestimmtheit der Endlichkeit zu verharren. Was der Verstand dabei nicht zu leisten vermag, ist von der Bestimmtheit des Daseins, ein Endliches zu sein, ablassen zu können. Die Endlichkeit sei daher die »hartnäckigste Kategorie des Verstandes«, eine »an sich fixierte Negation«41. Der Verstand, so lautet Hegels Vorwurf, macht »das Vergehen zum Letzten des Endlichen«42. Hegel kritisiert die auch im heutigen Bewusstsein anzutreffende Gegenüberstellung von Endlichkeit und Unendlichkeit, in der Endlichkeit und Unendlich38 Walter Schulz: Ich und Welt. Philosophie der Subjektivität, Pfullingen 1979. 39 G.W.F. Hegel: Wissenschaft der Logik I, in: ders.: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 5, Frankfurt/Main 1986, S. 138f. 40 Ebd., S. 139. 41 Ebd. 42 Ebd., S. 140.

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keit als einander entgegen gesetzte Bestimmungen sich wechselseitig ausschließen. Seine Kritik umfasst ebenfalls religiöse Vorstellungen von einem ontologisch abgewerteten (endlichen) Diesseits gegenüber einem ontologisch vollen (unendlichen) Jenseits. In einem weiteren Schritt setzt Hegel der Negativität des Endlichen das Unendliche als ein Affirmatives entgegen. Hegel versteht das Vergehen des Endlichen nicht als dessen letzte Bestimmtheit. Das Endliche als ein Letztes zu denken, hat nach Hegel den Widerspruch in sich, dass die Endlichkeit einerseits nur Nichts sein soll – denn alles Daseiende ist endlich, vergänglich und darum ein Nichtiges –, und dass dem Endlichen andererseits auch eine bestimmte Existenz in Denken, Vorstellen und Sprechen zugebilligt werden soll. Das Endliche ist nicht nur Nichts, sondern es ist ein daseiendes, endliches Etwas, das seinen Charakter als Endliches nicht zu leugnen vermag. Das heißt, es ist gerade die Endlichkeit, die sich in sich selbst widerspricht. Indem die Endlichkeit absolut gesetzt wird, kann das Vergehen seinerseits nicht vergehen. Hegel – so lautet hier die These – plädiert vor diesem Hintergrund emphatisch für das Leisten einer Trauerarbeit am Endlichen. Für ihn besteht die Aufgabe darin, zu Bewusstsein zu bringen, »daß das Vergehen, das Nichts, nicht das Letzte ist, sondern vergeht«43. In diesem Sinn sollte die doppelte Negation des Daseins als ein Vergehen des Vergehens verstanden werden. Die Wahrheit der Endlichkeit findet diese nicht in ihr selbst, sondern ist in dem Unendlichen als dem Vergehen des Vergehens zu suchen. Aus diesem Grund identifiziert Hegel in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften das Verharren des Verstands bei der Endlichkeit mit dem Bösen: Die Eitelkeit des Verstandes, bescheiden das Endliche als ein Letztes festzuhalten, »wird sich in der Entwicklung des Geistes selbst als seine höchste Vertiefung in seine Subjektivität und innerster Widerspruch und damit [...] als das Böse [...] ergeben«44. Mit diesen Bestimmungen von Endlichkeit und Unendlichkeit als des Übersichhinausgehens des Endlichen steht Hegel quer zu der für die weitere Moderne typischen Interessenverlagerung auf alles Diesseitige und Vorübergehende: Die Erfahrung von Endlichkeit wird in der sich radikalisierenden Moderne zu jener Erfahrung, gegen die Hegel angeschrieben hat, und in welcher der eigene Lebensvollzug zu jenem Verzweiflungszusammenhang einer »letzten Gelegenheit« (Marianne Gronemeyer) gerinnt, der um die Unausweichlichkeit des eigenen Todes kreist. In dieser modernen Verzweiflung wird die für Hegel spezifische Form einer »bestimmten Unbestimmtheit« des Unendlichen diskreditiert. Was Hegel demgegenüber anbietet, ist die Einsicht in die Möglichkeit, die Endlichkeit, auf die wir unrettbar verwiesen sind, zu verwinden, indem wir den 43 Ebd., S. 141. 44 G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, in: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 10, Frankfurt/Main 1986, S. 35.

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symbolischen Ort unseres auf uns selbst fixierten Selbstverhältnis aufgeben und uns in das flüssige Medium eines sprachlich-diskursiv strukturierten Allgemeinen hinein entäußern. Dieses Medium des Allgemeinen stellt die zur Sprache geschickte Einbildungskraft dar, deren aufsprengende Tätigkeit hier im »Vernichten des Nichtigen« und im »Vereiteln des Eitlen« besteht.45 Hegel verlangt in normativer Absicht eine radikale Dezentrierung des Subjekts. Sein Rekurs auf die Unendlichkeit ist kein Ruf nach einer metaphysischen Hinterwelt. Ihm geht es um die umfassende Anerkennung des symbolischen Mandats, an dem die Menschen durch die Sprache hindurch partizipieren. Allein durch einen solchen Akt der Anerkennung wäre der gleichermaßen versteinernde als auch versteinerte Blick auf die eigene sterbliche Verfasstheit zum Aufbruch zu bringen. An die von jeglicher Bestimmtheit trennbare Einbildungskraft könnte ein neues Verständnis von Autonomie geheftet werden: Diesmal nicht im Sinne einer auf Herrschaft und Kontrolle basierenden Selbstbestimmung sondern vielmehr im Hinblick auf eine Ethik der Freiheit von sich selbst.

5. Während die Romantik im einsamen Subjekt die Subjektivität bis ins Unendliche hinein vertieft, redet sie zur gleichen Zeit einem verstärkten Verlangen nach Mitteilung und Darstellung, also der Diskursivierung des Geistes, das Wort. Der vertiefte Geist ist zugleich auch der Geist der Darstellung oder auch der zur Darstellung gebrachte Geist. Dieser exoterische Zug hat sich als ein Prinzip diskursiver Praxis nicht nur in die Grundkonzeption von Hegels Phänomenologie des Geistes46 eingeschrieben. Von heute aus betrachtet lässt sich konstatieren, dass gegen den antihegelianischen und antiidealistischen Weltlauf des 19. und 20. Jahrhunderts stets noch in den unterschiedlichen dialogischen Praktiken von Hermeneutik und Psychoanalyse ein Anspruch auf eine gelingende Selbstentäußerung des in und mit sich verstrickten Subjekts als ein stets prekäres Unterfangen bestehen bleibt. Sämtliche Theorien, die auf der praktischen Relevanz der Versprachlichung des Subjekts aufbauen, bleiben dabei an die starke Annahme einer produktiven Einbildungskraft zurückgebunden. Wenn aber die produktive Einbildungskraft die Subjektivität in ihrer grundlegenden Paradoxie darstellt, bestimmte Unbestimmtheit zu sein, fällt die – unmögliche – Geschichte der modernen Einbildungskraft mit jener der modernen Subjektivität überhaupt zusammen. Das heißt aber auch, dass die Moderne jenes geistesgeschichtliche Szenario darstellt, innerhalb dessen die in ihren unterschiedlichen Bestimmungen je unbestimmt/unbestimmbar bleibende Subjektivi45 Ebd. 46 G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, in: Werke in zwanzig Bänden, Bd. 3, Frankfurt/Main 1986.

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tät qua Einbildungskraft geschieht. Die Einbildungskraft, so ließe sich – wenn auch nur vorübergehend – schließen, wird dergestalt zum Ereignis der Moderne schlechthin.

Die Positivierung des Unbestimmten in den nachmodernen Naturwissenschaften JAN C. SCHMIDT

1. Einleitung »Das Unbestimmt- und Reflexivwerden aller Bestimmungen des Wissens und Handelns«, so Gerhard Gamm einleitend zu seinem Buch Nicht nichts, »scheint eine wichtige Dimension moderner Selbst- und Weltverhältnisse zu sein. Unbestimmtheit läßt sich am Scheitern aller anthropologischen Versuche, das Wesen des Menschen zu bestimmen, ebenso demonstrieren wie an den antinomischen Strukturen moralischer Prinzipien oder auch an den Schwierigkeiten, die sich für die Naturwissenschaften (bis hin in die Grundlagenreflexionen der einzelnen Disziplinen hinein) aus der prinzipiellen Unbestimmtheit ihrer Gegenstände ergeben.«1

Was für Mensch und Moral, für Technik und Gesellschaft, für Kultur, Kunst und Körper gezeigt wurde, ist für die engere Naturwissenschaft programmatisch geblieben. Doch auch hier gilt Gerhard Gamms Diagnose: Gegenstände, Wissenstypen und Methoden werden immer unbestimmter und ungreifbarer – allerdings mit neuen wissenschaftlichen Perspektiven. Ähnlich wie Gamm meint Jean Baudrillard: »Heute geben unsere Wissenschaften das Verschwinden des Objekts [...] zu: das Objekt ist fortan nicht mehr greifbar.«2 Allerdings verschwimmen und verschwinden nicht nur die Objekte der Naturwissenschaften. Auch die Naturwissenschaften selbst, ihre Wissenstypen und Methoden, ihr Inneres und Äußeres verlieren Konturen und Kanten. Wenn überhaupt, so Michel Serres, ist nur noch eine »pluralistische Epistemologie« möglich. Nur sie könne der »materialen 1 2

Gerhard Gamm: Nicht nichts, Frankfurt/Main 2000, S. 7. Jean Baudrillard: Passwörter, Berlin 2002, S. 47.

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Unbestimmtheit« der Objekte Rechnung tragen.3 Eine solche pluralistische Epistemologie, die es ernst meint mit der »Flucht aus der Kategorie« und sich doch nicht auflöst im Patchwork konzeptarmer science studies, ist bislang ein Desiderat geblieben. Nun sind Unbestimmtheit und Nichtwissen Kern negativer Beschreibungen und relativierender Bezichtigungen: sie weisen auf Grenzen hin. Mitunter waren und sind sie eng verbunden mit post-, radikal- oder spätmoderner Pluralisierung, Perspektivierung, Partikularisierung. Dennoch, trotz aller Unbestimmtheit und aller Negativitätssemantik: von einem »Ende der Naturwissenschaft« – John Horgan sprach in den 1990er Jahren davon4 – kann keine Rede sein. Allen Unkenrufen zum Trotz, Naturwissenschaft schreitet voran, wenn auch in veränderter Formation. Denn es gibt, wie zu zeigen sein wird, modifizierte Zugänge positiver (affirmativ-qualitativer) Geltungsausweisung. Neben die (negative) Unbestimmtheit stellt sich das (positiv) Affirmative – als Korrelat und Korrektiv der Unbestimmtheit, als modifizierte Bestätigungsform zur Geltungsausweisung. Gamms Unbestimmtheits-Philosophie ist somit auch als ein Beitrag für eine spät- oder nachmoderne Wissenschaftsphilosophie zu lesen. Das ist selten getan worden. Ein gutes Beispiel bildet nun das Feld, das man als nachmoderne Physik bezeichnen kann – als Physik, die historisch nach der modernen Physik (Quantenphysik, Relativitätstheorie) auftritt, ohne diese zu ersetzen oder zu verdrängen. Nachmoderne Physik umfasst allgemein die Chaos-, Katastrophen-, Selbstorganisations- und Komplexitätstheorien sowie die Fraktale Geometrie und die Synergetik; das sind Theorien, die sich ab den 1960er Jahren etabliert haben. Unbestimmtheit tritt hier, so wird zu zeigen sein, in doppelter Hinsicht hervor. Sie betrifft einerseits die Objekte oder Gegenstände, also das Natur- und das Technikverständnis (objektseitige oder ontologische Unbestimmtheit). Andererseits findet sich die Unbestimmtheit auch im Wissen und in den Methoden, also im Wissenschaftsverständnis (methodologische und epistemologische Unbestimmtheit). Das fordert die Wissenschaftsphilosophie heraus. Stets hatte sie mehr Homogenität unterstellt, mehr Einheitlichkeit konstruiert und mehr Bestimmtheit erzeugt als den Dingen angemessen war. So wird sich zeigen, nicht nur das Naturund das Technikverständnis sind unbestimmt und fraktal, das Wissenschaftsverständnis ist es gleichermaßen. Für unsere Analyse ist Gamms Hinweis entscheidend: »der Begriff des Unbestimmten muß selbst nicht unbestimmt bleiben.«5 Das Differenzdenken bleibt notwendig, um analytisch die Auflösung der Differenzen zu diagnostizieren.

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Vgl. Michel Serres: Hermes II, Interferenz, Berlin 1992. Vgl. John Horgan: An der Grenze des Wissens, München 1997. G. Gamm: Nicht nichts, S. 7.

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2. Diagnostische Differenz Die nachmoderne Physik heranzuziehen ist nicht selbstverständlich. Denn Unbestimmtheitssignaturen finden sich vielfach in den Naturwissenschaften des 20. Jahrhunderts. Beispiele sind (1) die Unbestimmtheitsrelation im Mikrokosmos durch die Quantenmechanik, (2) die Unbestimmtheit der Raumzeitwelten (jenseits des eigenen Lichtkegels) und der Anfangsbedingungen durch die Allgemeine Relativitätstheorie, (3) der Unvollständigkeitssatz formaler Systeme durch die Metamathematik, und sodann eben (4) die Unbestimmtheit, Unberechenbarkeit und Unzugänglichkeit in der nachmodernen Physik, insbesondere in der Chaostheorie und Nichtlinearen Dynamik. Doch so verblüffend die Breite, so verschwindend ist die Breitenwirkung. Durchschlagend waren die ersten drei Unbestimmtheitssignaturen nicht. Zu wenig haben sie das lebensweltliche Objekt-, Natur- und Technikverständnis berührt, zu wenig haben sie das Wissenschaftsverständnis tangiert. Sie blieben offensichtlich exzentristisch: Unbestimmtheit im ganz Kleinen, im ganz Großen, im ganz Abstrakten. Quantenmechanik und Relativitätstheorie mögen im Mikround Makrokosmos exzentristische Unbestimmbarkeiten gezeigt haben. Der Mesokosmos blieb weitgehend unberührt. Der lebensweltliche Kosmos der mittleren Größenordnung konnte weiterhin als bestimmbar und berechenbar angesehen werden. Mechanistische Natur-, Welt- und Selbstbilder konnten sich halten. Und ein modifiziertes Wissenschaftsverständnis haben Quantenmechanik, Relativitätstheorie und Metamathematik kaum erreicht. – Anders ist das in der nachmodernen Physik. Hier wird das etablierte Wissenschaftsverständnis problematisiert und pluralisiert, wie zu belegen ist. Gleiches gilt für das mesokosmische Naturverständnis. So macht es Sinn, die nachmoderne Physik heranzuziehen. Die nachmoderne Physik kann als grundlegend für das Wissenschaftsverständnis sowie für ein lebensweltlich-mesokosmisches Naturverständnis angesehen werden. Quantenmechanik, Relativitätstheorie und Metamathematik sollen zurückgestellt werden. Nun war die Erkenntnis der Unbestimmtheit, von der hier die Rede sein soll, nicht schon immer da. Die Unbestimmtheit wurde durch die Entwicklung der Physik offengelegt. Die Erkenntnisse der letzten 40 Jahre sind entscheidend: Instabilität und Nichtlinearität; Komplexität und Fraktalität; Chaos und Katastrophen; Kritikalitäten und Kipppunkte. Mit Gerhard Gamm kann von einem »Unbestimmtwerden« gesprochen werden. Die Anerkennung der Unbestimmtheit ist etwas historisch Gewordenes. Sie liegt im Kern der nachmodernen Physik. Gerhard Gamm hat schon frühzeitig, Anfang der 1990er Jahre, Chaostheorie und Unbestimmtheit zusammengesehen. Er schreibt: »[E]ine [...] aktuelle Vorstellung verknüpft das Unbestimmte eng mit dem Chaotischen, das in sich selbst wieder-

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um mehrdeutig ist.«6 Spezieller meint Gamm: »Gegen den Laplaceschen Traum einer streng deterministischen Vorhersage zukünftiger Naturverläufe [...], gegen diesen Traum revoltiert die Chaostheorie. Sie geht davon aus, daß trotz deterministischer Naturgesetze in ursprünglich geordneten Systemen Abweichungen und Irregularitäten auftreten können, bei denen kleinste Ursachen sich zu (unvorhersehbar) großen Wirkungen aufschaukeln können auf der Basis hochkomplexer Rückkopplungen. Wieder bleibt eine Unbestimmtheit der Systeme zurück [...].«7 Chaos und Unbestimmtheit sind verschwistert. Mit Chaos ist allerdings nicht Ordnungs- oder Strukturlosigkeit gemeint. Sondern, wie es Martin Heidegger vorausahnend formulierte, meint Chaos »jenes Drängende, Strömende, Bewegte, dessen Ordnung verborgen ist, dessen Gesetz wir nicht unmittelbar kennen.«8 Die nachmoderne Physik nimmt, wie Gamm in anderem Zusammenhang sagt, »eine Positivierung des Unbestimmten« vor.9 Das gilt zunächst für das, was Natur ist. Ohne Unbestimmtheit in der Natur, so kann man sagen, gäbe es kein Wachsen und Werden. Ohne Unbestimmtheit wäre Neues unmöglich. Unbestimmtheit ist die Quelle für Variationen der Natur, für Spielerisches und Suchbewegungen. Kurzum: Natur ist Natur, insofern sie (auch) unbestimmt ist.10 Unbestimmtheit charakterisiert nicht nur Natur. Sie findet sich auch nicht nur als äußere Reflexion über, sondern in der Physik. Eine neue Physik emergiert, ohne alles Alte hinter sich zu lassen. Das herkömmliche, das klassisch-moderne

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G. Gamm: Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang aus der Moderne, Frankfurt/Main 1994, S. 14. 7 G. Gamm: Flucht aus der Kategorie, S. 10. 8 Martin Heidegger: »Das Drängen der werdenden Welt als Chaos und das praktische Bedürfnis nach Erkenntnis und Wahrheit«, in: ders.: Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis, Frankfurt/Main 1989, S. 133f. 9 G. Gamm: Flucht aus der Kategorie, S. 212f. 10 Unbestimmtheit wird durch Instabilität erzeugt. Die Positivierung der instabilitätsbasierten Unbestimmtheit war inhaltlich notwendig, um einen Zugang zu Selbstorganisationsphänomenen – zu Werden und Wachsen – in der (und der) Natur zu finden. »Selbstorganisation wird in der Regel durch eine Instabilität der ›alten› Struktur gegenüber kleinen Schwankungen eingeleitet. […] Aus diesem Grunde ist das Studium der [...] Instabilitäten von hohem Interesse«, so die Physiker Werner Ebeling und Rainer Feistel (Chaos und Kosmos – Prinzipien der Evolution, Heidelberg 1994, S. 46). Auch Gregory Nicolis und Ilya Prigogine verstehen »Instabilitäten« als »eine notwendige Bedingung der Selbstorganisation« (Gregory Nicolis/Ilya Prigogine: Self-Organization in Nonequilibrium Systems. From Dissipative Structures to Order through Fluctuations, New York/London 1977, S. 3f.). Und Wolf Krohn und Günter Küppers heben hervor, dass »Instabilitäten [...] der Motor der Systementwicklung [sind].« (Wolf Krohn/Günter Küppers: Selbstorganisation. Aspekte einer wissenschaftlichen Revolution, Wiesbaden 1992, S. 3) Neben der Neuartigkeit und dem Entwicklungsmotor wird auch auf Zeitlichkeit bezug genommen. »[D]ie ›normale› Newtonsche oder Hamiltonsche Mechanik [ist] nicht in der Lage, den Widerspruch zwischen Reversibilität und Irreversiblität aufzuklären. Es bedurfte der Einführung des neuen Konzeptes, das der Instabilität [...].« (Werner Ebeling/Rainer Feistel: Chaos und Kosmos, S. 197)

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Physikverständnis – das auf Bestimmung zielte und Bestimmbarkeit unterstellte (Prognostizierbarkeit, experimentelle Reproduzierbarkeit, empirische Prüfbarkeit, deduktive Reduzier- und Erklärbarkeit) – wird nicht verabschiedet, wohl aber problematisiert und pluralisiert, ergänzt und erweitert. Michel Serres sagt, dass die klassisch-moderne »Physik des Falls, der Wiederholung, der rigorosen Verkettung ersetzt [wird] durch die schöpferische Wissenschaft des Zufalls und der Umstände.«11 Serres mag hier zu weit gehen – denn die klassisch-moderne Physik besteht weiterhin. Doch: dass wir durch einen derartigen Wandel, so Karl Popper in anderem Zusammenhang, »nicht nur [auf] neue und ungelöste Probleme [stoßen], sondern [auch ...] entdecken, daß dort, wo wir auf festem und sicherem Boden zu stehen glaubten, in Wahrheit alles unsicher und im Schwanken begriffen ist«, gilt heute mehr denn je.12 Der stabil-bestimmende Boden der klassisch-modernen Physik stellt sich rückblickend als eine wissenschaftshistorisch glückliche Ausnahme bestimmter Objektsysteme dar.

3. Quellen des Unbestimmten: Instabilitäten Das Unbestimmte liegt nicht nur im Diskurs, sondern in den Dingen. In Gegenständen und Phänomenen kann eine wesentliche Quelle des Unbestimmten lokalisiert werden: in Instabilitäten. Das wurde auch auf Seiten der Philosophie gesehen, etwa von Jean-François Lyotard. Lyotard begreift gar »die postmoderne Wissenschaft als Erforschung der Instabilitäten«.13 Lyotards ahnende Ausführungen haben allerdings die Scientific Community der Wissenschafts- und Technikphilosophen wegen begrifflicher Verwirrungen und unsystematischer Verirrungen nicht erreicht. Eine belastbare Bruch- und Erweiterungsthese zum Unbestimmten findet man bei Lyotard nicht. Doch wegweisend hat Lyotard Instabilitäten als Quelle des Unbestimmten und als Kern einer veränderten Wissenschaft identifiziert. Was meint Instabilität? – Wo Instabilitäten dominieren, steht es »auf des Messers Schneide«. Aus der Lebenswelt bekannt sind statische oder Wasserscheiden-Instabilitäten. Eine Kugel auf einem Berggrat wird beim kleinsten Windstoß auf der einen oder anderen Seite des Hanges herunterlaufen. Gleiches gilt für ein Pendel im obersten instabilen Punkt der maximalen potentiellen Energie. In Glücksspielen, etwa dem Flipper, trifft die Kugel auf scharfe Kanten und 11 Michel Serres (La naissance de la physique dans le texte du Lucrèce; Paris 1977) zitiert nach: Ilya Prigogine/Isabelle Stengers: Dialog mit der Natur, München 1990 (1980), S. 292. 12 Karl R. Popper: Logik der Forschung, Tübingen 1989 (1934), S. 103. 13 Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz/Wien 1986, S. 157ff. Auch wenn der »harte« wissenschaftliche Realist Bernulf Kanitscheider spricht ebenfalls von »postmoderner Physik« (Bernulf Kanitscheider: Von der mechanistischen Welt zum kreativen Universum, Darmstadt 1993, S. 163).

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spitze Keile, an denen sich entscheidet, ob sie nach rechts oder links springt. Das Galtonsche Brett, bei welchem eine Kugel durch einige gegeneinander versetzte Nagelreihen fällt, stellt eine Hintereinanderreihung statischer Instabilitäten dar. An Punkten statischer Instabilitäten liegt eine sensitive Abhängigkeit vor. Hier entscheidet sich der weitere Verlauf: Zwei benachbarte Startpunkte entfernen sich unter Zeitentwicklung voneinander, ohne sich jemals wieder anzunähern. Diese können, obwohl dicht beieinander, so doch diesseits und jenseits der Wasserscheide liegen. An einer Wasserscheide trennen sich zwei nahe benachbarte Regentropfen: einer gelangt ins Mittelmeer, der andere in die Nordsee. Mitunter wurde von einem Schmetterlingseffekt gesprochen. Nicht nur zwei, sondern vielfache Wasserscheiden treten beim Würfeln auf. Fällt ein Würfel auf eine seiner Kanten, kippt er in die eine oder andere Richtung. Würfeln geschieht durch eine Aneinanderreihung von Instabilitäten. Für Jakob Bernoulli war das Werfen idealisierter Münzen und die daraus entstehende Binär-Folge von 0 (»Kopf«) und 1 (»Zahl«) paradigmatisch für die Entwicklung seiner klassischen Wahrscheinlichkeitstheorie und für den unbestimmten Zufall. Grundlegender sind dynamische Instabilitäten. Sie weisen kontinuierliche Wasserscheiden auf. Hier steht das System kontinuierlich auf des Messers Schneide. Dynamische Instabilität wird oft als regelbehaftetes Chaos bezeichnet. Das chaotische Doppelpendel – ein Pendel am Arm eines anderen Pendels – ist ein gutes Beispiel dafür. Abrupt bleibt es stehen, ändert seine Drehrichtung oder seine Geschwindigkeit. Die Dynamik erscheint wirr und zufällig. Von »schwacher Kausalität« oder auch von »schwachem Zufall« wurde gesprochen. Unbestimmtheit, so kann man vielleicht sagen, liegt zwischen der blinden zufälligen Kontingenz und dem strengen regelhaften Determinismus. Die dynamische Instabilität ist nicht neu – auch wenn die Breiten-Anerkennung seit den 1960er Jahren neu ist. James Clerk Maxwell nahm in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Wissenschaftsverständnis der Physik in den Blick: »›Ähnliche Ursachen erzeugen ähnliche Wirkungen.‹ Das ist aber nur dann wahr, wenn kleine Veränderungen in den Anfangsbedingungen lediglich kleine Veränderungen in den Endzuständen des Systems verursachen. [...] Das ist aber nur insofern wahr, als Stabilität herrscht.«14 Die auf Ähnlichkeit von Zustandsentwicklungen basierende »allgemeine Maxime der Physik« sei jedoch nicht anders als eine »metaphysische Doktrin«15 – eine starke Voraussetzung oder Unterstellung. So spricht man von »starker Kausalität« oder auch »starkem Determinismus«. Maxwell ist es zu verdanken, das Amalgam aus Metaphysik und Methodologie offengelegt zu haben. Dass hierzu der Begriff »Instabilität« verwendet wird, ist ein Novum. Einige Jahre später dachte Poincaré ebenfalls über Instabilität, Zufall und Gesetzmäßigkeit nach. Bei Instabilität gelte: »Eine sehr kleine Ursache, die für uns unbemerkbar bleibt, bewirkt einen beträchtlichen Effekt, den wir unbedingt bemer14 James Clerk Maxwell: Matter and motion, New York 1991 (1877), S. 13f. 15 J. C. Maxwell: Matter and motion, S. 13.

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ken müssen, und dann sagen wir, dass dieser Effekt vom Zufall abhänge.«16 Instabilitäten stellen für Poincaré die Quelle der unbestimmbaren Zufälligkeit dar. Maxwell und Poincaré wirkten Ende des 19. Jahrhunderts. Das ist eigentlich lange her, gemessen an der rasanten Entwicklung der Wissenschaften im 20. Jahrhundert. Doch die Erstentdeckung von Instabilität hat keineswegs eine Welle der Breitenanerkennung nach sich gezogen. Offenbar war ein tief in unserer Kulturtradition verwurzeltes methodologisch-metaphysisches Amalgam wirkmächtig. Pierre Duhem will Instabilitäten – sollten sie doch einmal auftreten – aus der Physik verbannen. Er spricht gar von der »Nutzlosigkeit instabiler Deduktionen«.17 Die Physik sei auf den Bereich der stabilen Objekte zu beschränken. Ähnlich hat der russische Physiker und Mathematiker Alexander Andronov in den 1930er Jahren eine strukturelle Stabilitätsanforderung an Objekte und an Modelle (Theorien, Gesetze) formuliert.18 Heutzutage wird man sagen müssen, dass die Natur- und Wissenschaftsgeschichte seit dem Beginn der Moderne von einem impliziten »Stabilitätsdogma« bestimmt war.19 Das Stabilitätsdogma war prägend. Es diente der Wahrnehmung von Natur, der Konstruktion von Wirklichkeit, der Selektion der Objekte sowie der Entwicklung der Methodologie. Dabei portraitiert das Stabilitätsdogma Natur implizit als (ontologisch) bestimmt und (methodologisch) bestimmbar. Die instabilitätsbasierte Unbestimmtheit wurde nicht nur verdrängt und vernachlässigt – sie war kein Thema.

4. Typen des Unbestimmten: Grenzen der klassisch-modernen Physik Die Moderne zielte auf Verfügungswissen und damit auf Bestimmung: auf die Transformation des Unbestimmten in Bestimmtes. Bestimmbarkeit und Begreifbarkeit wurden unterstellt; Bemächtigung und Bestimmung erschienen als synonym. So wird Unbestimmtheit zunächst mit dem Negativen in Verbindung gebracht. Das gilt auch für die Naturwissenschaften. Zu Recht, denn es zeigen sich prinzipielle Grenzen der klassisch-modernen Physik. Bestimmungsvisionen scheitern an Unbestimmtheitsrealitäten instabiler Objektsysteme der nachmodernen Physik. In welcher Hinsicht sind instabile Objektsysteme als unbestimmt zu bestimmen? Was ist das Unbestimmbare am Instabilen?

16 Hénri Poincaré: Wissenschaft und Methode, Leipzig 1914, S. 56. 17 Pierre Duhem: Ziel und Struktur der physikalischen Theorien, Hamburg 1978 (1906), S. 186. 18 Alexandre Andronov/Lev S. Pontryagin: »Systèmes Grossiers«; in: Dokl. Akad. Nauk. (Doklady) SSSR (1937), 14, S. 247-251; Alexandre Andronow et al.: Theorie der Schwingungen, Teil I. u. II., Berlin 1965/1969. 19 John Guckenheimer/Philip Holmes: Nonlinear oscillations, dynamical systems, and bifurcations of vector fields, New York 1983, S. 259.

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Erstens: die Unbestimmtheit der Reproduktion der Objektsysteme (ontologische Unbestimmtheit) – Grenzen der Wiederholbarkeit. Instabile Objektsysteme sind sensitiv abhängig von Start- und Anfangsbedingungen. Kleinstes ist von größter Bedeutung. Das bringt Probleme für die klassisch-moderne Physik mit sich. Denn kein Objekt lässt sich von der Umgebung vollständig separieren. Gleiche Start- und Anfangsbedingungen lassen sich experimentell niemals einstellen. So zeigen instabile Objekte eine eigene unbestimmte Dynamik. Überraschungen sind unvermeidbar. Intentionales Herstellen und Handeln ist bei Instabilität limitiert. Das instabile Objekt ist dem Experimentator entzogen. – Demgegenüber geht die klassisch-moderne Physik davon aus, durch technisches Handeln Objekte zu konstituieren, zu konstruieren und zu kontrollieren. Reproduzierbarkeit wird als her- und sicherstellbar angesehen. Jürgen Mittelstraß glaubt, die Reproduzierbarkeit sei »eine allgemeine wissenschaftliche Norm«. Die »Reproduzierbarkeitsforderung« ist »als Rationalitätskriterium im Wissenschaftsprozeß« unverzichtbar.20 Gernot Böhme und Wolfgang van den Daele meinen, dass das »methodische Ideal [der Physik ...] die regelmäßige Tatsache [ist], die die Bedingungen enthält, unter der ihre Beobachtung für jedermann und jederzeit wiederholbar ist.«21 Friedrich Hund sieht gar die Physik als »die Lehre vom Wiederholbaren.«22 So hat die klassisch-moderne Physik in ihrer historischen Entwicklung instabile Objekte konsequent vernachlässigt und verdrängt. Das ist verständlich. Denn instabile Objekte entziehen sich einer experimentellen Herrichtung und Herstellung. Empirisch bleiben sie unbestimmt und unkontrollierbar. Insofern kann von einer ontologischen Unbestimmtheit instabiler Objekte gesprochen werden. Zweitens: die Unbestimmtheit der Zukunft – Grenzen der Prognostizierbarkeit. Auf die »immensen mathematischen Schwierigkeiten«, die mit Nichtlinearität und Instabilität verbunden sind, hat Mario Bunge hingewiesen.23 Sieht man genauer hin, finden sich die Schwierigkeiten schon bei Newton in seiner Mondtheorie und bei Henri Poincaré in seiner Himmelsmechanik. Nichtlinearität ist notwendige Bedingung für Instabilität. Nichtlineare Gleichungen können mit Papier und Bleistift nicht gelöst werden. Eine Lösung ist jedoch notwendig, um Prognosen anzustellen. In einigen Fällen hilft heute die Computernumerik. Allgemein gilt das allerdings nicht. Denn Instabilitäten erzeugen Sensitivitäten. Selbst wenn man die Laplacesche Weltformel und ihre Lösung in Händen hätte, wäre die Zukunft unbestimmt. – Für das klassisch-moderne Physikverständnis 20 Jürgen Mittelstraß: Die Häuser des Wissens, Frankfurt/Main 1998, S. 107. 21 Gernot Böhme/Wolfgang van den Daele: »Erfahrung als Programm. Über Strukturen vorparadigmatischer Wissenschaft«, in: Gernot Böhme et al.: Experimentelle Philosophie, Frankfurt/Main 1977, S. 189. 22 Friedrich Hund: Geschichte der physikalischen Begriffe, Mannheim 1972, S. 274; vgl. auch: Friedrich Hund: Physikalische Erkenntnis zwischen Theorie und Erfahrung, Wiesbaden 1966, S. 12f. 23 Vgl. Mario Bunge: Kausalität, Geschichte und Probleme, Tübingen 1987, S. 188.

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mag die Unbestimmtheit eine Provokation darstellen. Oftmals wird im »Schluß auf die Zukunft« die »eigentliche Pointe der Physik« gesehen, wie bei Carl Friedrich v. Weizsäcker.24 Ähnlich meint Michael Drieschner: »Wir finden also ›Voraussage‹ als Schlüsselbegriff zum Verständnis von Physik.«25 Als Realitätstest haben Einstein, Podolsky und Rosen die Prognosefähigkeit herangezogen. »Wenn wir den Wert einer physikalischen Größe, ohne das System in irgendeiner Weise zu stören, mit Gewißheit voraussagen können, dann gibt es einen Bestandteil der physikalischen Realität, der dieser Größe entspricht.«26 »Die Voraussagekraft«, so Herbert Pietschmann, »bestimmt wesentlich über Anerkennung oder Ausschluß einer Theorie.«27 Wo jedoch allzu viel Instabilität herrscht, sind Voraussagen schwer möglich. Die Zukunft bleibt unbestimmt. Sie ist offen, aber nicht beliebig. Von einer methodologischen Unbestimmtheit könnte hier die Rede sein. Drittens: die Unbestimmtheit der Objektivität – Grenzen der Prüfbarkeit. Jede Prüfung basiert auf einem konstanten Zusammenhang zwischen Modell (Gesetz, Theorie) und empirischer Beobachtung (Daten). Gerade dieser Zusammenhang ist bei Instabilitäten nicht gegeben. Kein einzelner Orbit eines mathematischen Modells, so Henry Abarbanel et al., »can be compared with experiment, since any orbit is effectively uncorrelated with any other orbit, and numerical roundoff or experimental precision will make every orbit distinct.«28 Ähnlich Rueger und Sharp: »If we test a theory in this [classical modern] way we will not find a precise quantitative fit, and this is to be expected if the theory is true of the system.«29 Theorie und Experiment liegen in zwei disjunkten Welten. So bleibt die Theorie nicht nur experimentell unter-, sondern auch unbestimmt. – Das problematisiert das klassisch-moderne Physikverständnis. Heinrich Hertz etwa meinte, dass eine »gewisse Übereinstimmung vorhanden sein [muss] zwischen der Natur und unserem Geiste. Die Erfahrung lehrt, daß die Forderung erfüllbar ist [...].«30 Pierre Duhem stellt heraus: »Die Übereinstimmung mit der Erfahrung ist das einzige Kriterium der Wahrheit für eine physikalische Theorie.«31 Und 24 Carl Friedrich v. Weizsäcker: Die Einheit der Natur, München 1974, S. 122. 25 Michael Drieschner: Moderne Naturphilosophie. Eine Einführung; Paderborn 2002, S. 90. 26 Albert Einstein et al.: »Can quatum-mechanical description of physical reality be considered complete?«, in: Phys. Rev. 47 (1935), S. 777f. 27 Herbert Pietschmann: Phänomenologie der Naturwissenschaft, Berlin 1996, S. 166. 28 Henry D.I. Abarbanel et al.: »The Analysis of Observed Chaotic Data in Physical Systems«, in: Rev. Mod. Phys. 65 (1993), S. 1331-1392, hier: S. 1334; vgl. allg. Henry D.I. Abarbanel: Analysis of observed chaotic data, New York 1996. 29 Alex Rueger/W.D. Sharp: »Simple Theories of a Messy World: Truth and Explanatory Power in Nonlinear Dynamics«, in: Brit. J. Phil. Sci. 47 (1996), S. 93-112, hier: S. 103. 30 Heinrich Hertz: Die Prinzipien der Mechanik. In neuem Zusammenhang dargestellt, Darmstadt 1963 (1894), S. 1. 31 Pierre Duhem: Ziel und Struktur der physikalischen Theorien, Hamburg 1978 (1906), S. 22.

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Ernst Mach fordert, dass dort, »wo weder eine Bestätigung noch eine Widerlegung ist, [...] die Wissenschaft nichts zu schaffen [hat].«32 Instabile Objekte führen zu Grenzen der Prüfbarkeit. Prüfbarkeit allerdings gilt als Kern von wissenschaftlicher Objektivität. Die Grenzen der Prüfbarkeit legen dann ein Unbestimmtwerden wissenschaftlicher Objektivität nahe. So sind die Objektivität des Wissens instabiler Systeme, die Theorien, Gesetze und Modelle, kaum mehr ausweisbar. Von einer epistemologischen Unbestimmtheit könnte gesprochen werden. Viertens: die Unbestimmtheit der Reduzierbarkeit – Grenzen der Erklär- und Verstehbarkeit. Instabilitäten weisen ferner Grenzen der Beschreib- und Erklärbarkeit aus. Redundanzen können bei Instabilitäten nicht eliminiert, kompakte Gesetze und komprimierte Bildungsregeln nicht gefunden werden. Eine Abkürzung einer gegebenen instabilen Datenreihe ist unmöglich: Instabilität erzeugt effektive Irreduzibilität. So sehen es Chaos- und Informationstheorien. James Clerk Maxwell hatte schon 1877 beispielhaft gesagt: »In so far as the weather may be due to an unlimited assemblage of local instabilities, it may not be amenable to a finite scheme of law at all.«33 James Crutchfield et al. meinen: »The hope that physics could be complete with an increasingly detailed understanding of fundamental physical forces and constituents is unfound. The interaction of components on one scale can lead to complex global behavior on a larger scale that in general cannot be deduced from knowledge of the individual components.«34

– Der mikroreduktive Zugang, der instabilitätsbasierte Phänomene auf einfache Gesetze reduziert und Vereinheitlichungen vorantreibt, ist begrenzt. Das problematisiert die normative Aufforderung der klassisch-modernen Physik: Finde eine minimale, nicht-redundante Beschreibung der Welt; entdecke Regelmäßigkeiten.35 Redundanzeliminierung gilt auch als Voraussetzung für die über den Beschreibungserfolg hinausgehende anspruchsvollere Erklärungsleistung. Heinrich Hertz meint: »Alle Physiker sind einstimmig darin, daß es die Aufgabe der Physik sei, die Erscheinungen der Natur auf die einfachen Gesetze [...] zurückzuführen.«36 Instabilitäten führen zu effektiven Grenzen der Redundanzeliminierung. Vielfach gilt: Um zu erkennen, muss man geschehen lassen. Zwar mag Nietzsche zu weit gehen, wenn er sagt: »Hüten wir uns, zu sagen, daß es Gesetze in der Na-

32 Ernst Mach: Die Mechanik in ihrer Entwicklung, Leipzig/Darmstadt 1988 (1921), S. 465. 33 J.C. Maxwell: Matter and motion, S. 14. 34 James P. Crutchfield et al.: »Chaos«, in: Scientific American, 12 (1986), S. 46-57, hier S. 56. 35 Vgl. Gerhard Vollmer: Was können wir wissen? Die Erkenntnis der Natur, Stuttgart 1988, S. 167ff. 36 H. Hertz: Die Prinzipien der Mechanik, S. XXV.

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tur gebe.«37 Doch deutet Nietzsche an, dass eine Welt, die von Instabilitäten beherrscht ist, Grenzen der Verstehbarkeit aufzeigt. Eine instabile Welt ist nur teilweise zugänglich. Erklärungen bleiben unbestimmt. Insofern könnte ebenfalls von einer epistemologischen Unbestimmtheit gesprochen werden. Die vierfache Unbestimmtheit mag auch dazu dienen, klassisch-moderne Positionen der Wissenschaftsphilosophie zu hinterfragen. Pointiert kann man sagen: (a) Die Objekt-Unbestimmtheit problematisiert den methodologischen Konstruktivismus und den neuen Experimentalismus, – möglicherweise sogar traditionelle Handlungs- und Planungstheorien. (b) Die Prognose-Unbestimmtheit hinterfragt instrumentalistische und pragmatistische Wissenschaftsphilosophien. (c) Die Objektivitäts-Unbestimmtheit kann als Herausforderung gleichermaßen an Traditionslinien des wissenschaftlichen Realismus und Empirismus verstanden werden. (d) Die Theorien-Unbestimmtheit problematisiert rationalistische Schulen. – Angesichts des Unbestimmtwerdens der (und in der) nachmodernen Physik werden auch diese etablierten Positionen der Wissenschaftsphilosophie selbst unbestimmt. Wie die Physik, so wird die Wissenschaftsphilosophie plural, partikulär und perspektivenabhängig. Das ist von den inhaltsfernen und konzeptarmen Science and Technology Studies oft beschrieben, selten aber begründet worden.

5. Unbestimmtheit: Technik und Gehirn/Geist Unbestimmtheit liegt nicht nur im Begrifflichen, in Zweck-Mittel-Relationen und Handlungen, sondern auch im technisch-naturwissenschaftlichen Kern selbst. Bestes Beispiel ist die Nanotechnologie. Die Nanoforschung zielt auf Kleines und Kleinstes. Kleinstes ist von großer Bedeutung. Hier treten Instabilitäten auf; sie sind konstitutiv und konstruktiv. Kleinste Veränderungen vermögen (und sollen!) (kontrolliert) große Wirkungen nach sich ziehen. Das ist der bekannte Schmetterlingseffekt, die sensitive Abhängigkeit von Start- und Randbedingungen. Es steht »auf des Messers Schneide« – und ist gerade deshalb eine Quelle für Neues. Die Nanotechnologie erfordert hohe Genauigkeit und extreme Präzision. Instabilitäten, so weiß man von der nachmodernen Physik, sind allerdings prinzipiell schwer zu handhaben und noch schwerer zu kontrollieren. Das kennt man schon aus groben technischen Prozessen von Werkzeugmaschinen, aber auch aus der Biologie. Schwankungen, Störungen und Streuungen, die in technischen Situationen aus praktischen Gründen häufig und aus thermodynamischen Gründen prinzipiell auftreten, können nicht kompensiert werden. Grenzen des Nanowissens und der Nanokontrolle sind zwangsläufig. Instabile Systeme lassen sich kaum vorausberechnen. Ein theoretisch fundiertes Prognosewissen ist selten zu erlangen. Wo allzu viel Instabilität herrscht, da ist die experimentelle Reprodu37 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Leipzig 1930, S. 127.

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zierbarkeit, die apparative Präparierbarkeit und die technische Produzierbarkeit reduziert.38 Selbst präzise Interventionen sind nanotechnologisch zu ungenau. Die Hinweise auf technikimmanente Grenzen der Kontrolle werden gestützt von Nanoforschern wie Richard Smalley und Michael L. Roukes. – Nun ist Richard Smalley kein notorischer Nanokritiker. Er ist Chemie-Nobelpreisträger, Pionier einiger Nanomaterialien und Mit-Entdecker der Buckybälle (»Buckminster-Fullerene«), einem Makromolekül, das aus 60 Kohlenstoffatomen besteht. Smalley hat den (biologistisch-naturalistisch argumentierenden) Nanovisionär Eric Drexler kritisiert – insbesondere Drexlers Maschinen- und Selbstorganisations-Paradigma. Ein selbstreplizierender Nanobot werde, so Smalley gegenüber Drexler, »niemals mehr sein als ein futuristischer Traum.«39 In »dicken und klebrigen Fingern« sieht Smalley physikalische und chemische Grenzen der Atom-für-Atom-Manipulationen. Die Manipulationsarme der physikalischen Apparate sind ihrerseits aus Atomen aufgebaut. Die experimentellen Finger sind zu dick, um präzise Manipulationen durchführen zu können. Nun spielen hier verschiedene physikalische Fundamentalkräfte herein. Die Finger sind nicht nur dick, sondern auch »klebrig«. Somit haften die Atome des Manipulatorarms und die bewegten, manipulierten Atome aneinander. Es ist nicht realisierbar, ein Atom dort loszulassen, wo man es platziert haben möchte. Für Smalley ist eine klare Trennung zwischen dem Manipulationsapparat und dem manipulierten Objekt unmöglich. Hintergrund bilden auch hier Instabilitäten (und Quanteneffekte), die einen Holismus der Objekte nahe legen. »Der Elektronen-›Leim‹«, so Smalley, »ist nicht lokal auf die einzelne Bindung beschränkt, sondern reagiert empfindlich auf die exakte Position und Art sämtlicher Atome in der Nachbarschaft.«40 Ähnlich wie Smalley sieht auch Michael Roukes im Nanokern der Technik eine Unbestimmtheit. Dabei bezieht er sich auf den Bereich der Nanoelectronics und Nanocomputing, auf einen Bereich, der als bodenständig gilt. Doch auch hier gilt: »The instability may pose a real disadvantage for various types of futuristic electromechanical signal-processing applications.«41 Kleinste Schwankungen können größte unkontrollierbare und unbestimmbare Wirkungen nach sich ziehen. Das kann eine Signalverarbeitung verhindern. Denn Schwankungen sind in allen physikalischen Prozessen (jenseits des absoluten Nullpunktes der Temperatur) vorhanden. Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik beschreibt dieses thermische Rauschen – und damit die Grenzen der Kontrolle.

38 Vgl. Jan C. Schmidt: Instabilität in Natur und Wissenschaft. Eine Wissenschaftsphilosophie der nachmodernen Physik, Berlin 2008. 39 Rick E. Smalley: »Chemie, Liebe und dicke Finger«, in: Spektrum der Wissenschaft Spezial (Nanotechnologie) 2 (2001), S. 66-67. 40 Ebd, S. 66. 41 Michael L. Roukes: »Unten gibt’s noch viel Platz«, in: Spektrum der Wissenschaft Spezial (Nanotechnologie), 2 (2001), S. 32-39, hier S. 37.

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So zeigen sich physikalische Grenzen der technischen Konstruierbarkeit und Kontrollierbarkeit von Nanoobjekten: Nanotechnologie ist in ihrem technischnaturwissenschaftlichen Kern unbestimmt. Eine nüchterne Einschätzung technischer Möglichkeiten erscheint dringend notwendig, um wissenschaftspolitische Weichen zu stellen; unsere Gesellschaften können es sich kaum leisten, mit Milliardenbeträgen Forschung zu fördern, deren Erkenntnisse minimal und deren Nutzen gering ist. Vielleicht wäre hier eine reflexive Kultur der Anerkennung der technisch-naturwissenschaftlichen Unbestimmtheit hilfreich. Die Unbestimmtheit lässt sich auch, so Gerhard Gamm, am Scheitern anthropologischer Versuche zeigen, das Wesen des Menschen zu bestimmen.42 Dazu hat Gamm einen Band mit dem Titel Der unbestimmte Mensch. Zur medialen Konstruktion von Subjektivität vorgelegt.43 »Es ist beruhigend zu wissen«, so heißt es dort, »dass das Bewusstsein der Menschen (noch immer) nicht mit einer Stimme (über sich) spricht.«44 Vielmehr weise der Mensch eine »Fraktale Existenz« auf, so Gamm. Damit verwendet Gamm einen Schlüsselbegriff der nachmodernen Physik (s.u.) – wenn auch im metaphorischen Sinne. Mit der nachmodernen Physik und der Fraktalen Geometrie könnte man sagen: Nicht erst die großen Fragen nach Geist, Bewusstsein, Freiheit, Subjektivität sind ungelöst und bleiben unbestimmt. Unbestimmt ist auch, was unter dem Gehirn, dem Materiellen, Physischen, Neuronalen zu verstehen ist. Trotz atemberaubender Erkenntnisse der Neurowissenschaft bleibt das Gehirn heute im Ganzen ebenso ungedacht und undenkbar wie der »Geist«, wie vielleicht der ganze Mensch. Eine erfolgreiche Reduktion des Geistes auf das Gehirn scheint also weder bevorzustehen noch ist sie in Reichweite. Eine notwendige Bedingung hierfür wäre, dass eine Reduktion und hinreichende Erklärung des neuronalen komplexen Systems »Gehirn« gelingt. Doch komplexe dynamische Systeme weisen unlösbare Reduktionsprobleme auf – Instabilitäten verhindern dies. Und das Gehirn ist sicherlich das komplexeste System im Kosmos, das wir kennen. Um wie viel mehr noch gelten die instabilitätserzeugten Reduktionsprobleme für die großen Mental-Neuronal-Reduktionen! Eine unified science of brain/mind, von der P.S. Churchland in den 1980er Jahren sprach,45 erweist sich dabei ebenso als eine nicht erreichbare Illusion wie eine einheitliche Gehirn-Theorie mit universellem Geltungsanspruch. Die erste umfassende Arbeit zum Themenfeld Neurophysiologie, Willensfreiheit und Instabilität geht auf James Clerk Maxwell in den 1870er Jahren zu-

42 G. Gamm: Nicht nichts, S. 7. 43 G. Gamm: Der unbestimmte Mensch. Zur medialen Konstruktion von Subjektivität. Berlin 2004. 44 G. Gamm: Der unbestimmte Mensch, S. 63. 45 P.S. Churchland: Neurophilosophy. Towards a Unified Science of Mind-Brain, Cambridge/Mass. 1988.

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rück.46 In seinem Essay Does the progress of Physical Science tend to give any Advantage to the Opinion of Necessity (or Determinism) over that the Contingency of Events and the Freedom of the Will? argumentiert Maxwell gegen einen materialistischen Universaldeterminismus. Er bezieht sich dabei auf Instabilitäten. »Much light«, so Maxwell, »may be thrown on some of these questions by the consideration of stability and instability.«47 So gelte: »In the course of this our mortal life we more or less frequently find ourselves on a watershed, where an imperceptible deviation is sufficient to determine into which of two valley we shall descend.« Instabilitäten lassen somit Maxwell an der »doctrine of determinism« zweifeln.48 Die Doktrin des Determinismus und die Metaphysik der Stabilität bedingen einander. Fällt die Stabilitätsmetaphysik, so zeige sich die Brüchigkeit der Determinismusdoktrin. In der heutigen Diskussion könnte Maxwells Essay mit der Bezugnahme auf Instabilitäten durchaus klärend sein – insbesondere für philosophische Zugänge. Schließlich scheint einiges für Geert Keils und Herbert Schnädelbachs Einschätzung zu sprechen: »Nicht zuletzt aufgrund mangelnder Vertrautheit mit den Naturwissenschaften neigen viele Philosophen zur Überschätzung der Erklärungsleistung naturwissenschaftlicher Theorien.«49 Keil und Schnädelbach kritisieren vielfältige naturalistische Reduktionsansprüche. So sind es, wie Oswald Schwemmer zuspitzt, »nicht allein Wissenschaftler, sondern [insbesondere] Philosophen [, die] denn auch häufig bis nahezu ausschließlich [...] die triumphale Auflösung der Rätselfrage Mensch feiern möchten.«50 Dabei könnte die Erkenntnis der instabilitätsbasierten Unbestimmtheit neuronaler Prozesse zur Anerkenntnis der grundlegenden Unbestimmbarkeit des Menschen beitragen. Um mit Gerhard Gamm zu sprechen: es bleibt bei der »Unbestimmtheit der Natur der Menschen« und insbesondere bei der »Unausdeutbarkeit des menschlichen Selbst«.51

6. Perspektiven: Affirmatives und Qualitatives in der nachmodernen Physik? Instabilitäten scheinen unvermeidlich zu sein – trotz epistemologischer und methodologischer Probleme. Sie sind unvermeidlich, weil es in der Natur Werden und Wachsen gibt. Dass Selbstorganisation möglich ist, kann als der entschei-

46 J.C. Maxwell: »Does the progress of Physical Science tend to give any Advantage to the Opinion of Necessity (or Determinism) over that the Contingency of Events and the Freedom of the Will?«, in: L. Campbell/W. Garnett (Hg.): The Life of James Clerk Maxwell, New York 1969 (1873/1882), S. 434-444, hier S. 434ff. 47 Ebd., S. 440. 48 Ebd, S. 441. 49 Geert Keil/Herbert Schnädelbach (Hg.): Naturalismus, Frankfurt/Main 2000, S. 7. 50 Oswald Schwemmer: Die kulturelle Existenz des Menschen, Berlin 1997, S. 18. 51 G. Gamm: Der unbestimmte Mensch, S. 15/11.

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dende Hinweis auf die Existenz und Relevanz von Instabilitäten angesehen werden. So wird durch die nachmoderne Physik – um Gerhard Gamms Formel zu verwenden – eine »Positivierung des Unbestimmten als Ausgang aus der Moderne« vorgenommen.52 Wie aber geht die nachmoderne Physik mit dem Unbestimmten und Instabilen um? Wie ist Physik möglich an instabilen Objekten? Eine Antwort kann nur angedeutet werden.53 Vielleicht könnte man – ein wenig spekulativ und unbestimmt, allerdings auf das Rahmenthema dieses Buches bezogen – sagen: Affirmatives spielt in der nachmodernen Physik eine zentrale Rolle. Es ist verbunden mit dem Morphologischen. Affirmatives ist ein Typ phänomenologischmorphologischer Gewissheit, nicht ein Typ deduktiv-nomologischer Sicherheit. Eine stärkere Phänotyp-Orientierung tritt in der nachmodernen Physik hervor, verbunden mit einer geringeren Genotyp-Orientierung. Das liegt auf der Linie des Konzepts einer Phänomenologie der Natur, welches Gernot Böhme entwickelt hat.54 Es gibt Seitenarme der nachmodernen Physik, die als morphologisch oder phänomenologisch bezeichnet werden können. Die Fraktale Geometrie und die Katastrophentheorie – zwei Teiltheorien der nachmodernen Physik – präsentieren sich explizit als Theorien des Morphologischen. Benoit Mandelbrot zielt mit seiner Fraktalen Geometrie auf eine »Morphologie des ›Amorphen‹«.55 Von einer »morphology of a process« und »a theory of morphogenesis« spricht René Thom, der Begründer der Katastrophentheorie.56 Andere haben prozessmorphologische Zugänge entwickelt;57 von Alfred Gierer liegt ein Konzept zu einer Physik der biologischen Gestaltbildung vor.58 Erstens: Die Fraktale Geometrie (Fraktalmorphologie) stellt sich dezidiert als eine geometrische Morphologie dar. Mandelbrots Ausgangspunkt liegt in einer Kritik. Die Phänomene der mesokosmischen Natur, so Mandelbrot, kommen in moderner Physik und Mathematik nicht mehr vor. Die geometrische Form sei durch die mathematische Funktion ersetzt worden. »Durch die Entwicklung von Theorien, die keine Beziehung mehr zu sichtbaren Dingen aufweisen, haben sie

52 Z.B. G. Gamm: Flucht aus der Kategorie, S. 212ff. 53 J.C. Schmidt: Instabilität in Natur und Wissenschaft. Berlin 2008. 54 Z.B. G. Böhme: »Phänomenologie der Natur – ein Projekt«; in: Gernot Böhme/Gregor Schiemann (Hg.): Phänomenologie der Natur, Frankfurt 1997, S. 11-43. 55 Benoit Mandelbrot: Die fraktale Geometrie der Natur, Basel 1991 (1977), S. 13. 56 René Thom: Structural Stability and Morphogenesis. An Outline of a General Theory of Models, Masschusetts 1975 (zuerst: Stabilité structurelle et morphogénèse; Paris 1972), S. 38/8. 57 Z.B. Hans Meinhardt: The algorithmic beauty of sea shells, Berlin 1995; Peter H. Richter/Heinz Otto Peitgen: Morphologie komplexer Grenzen. Bilder aus der Theorie dynamischer Systeme, Bremen 1984. 58 Alfred Gierer: »Physik der biologischen Gestaltbildung«, in: Naturwiss., 68 (1981), S. 245-251.

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[= Mathematiker und Physiker] sich von der Natur entfernt.«59 So ist der Titel seines begriffsschöpferischen Werkes Die fraktale Geometrie der Natur programmatisch zu verstehen – als Wiedergewinnung der geometrischen Natur der mittleren Größenordnung. Mandelbrots Zugang zur mesokosmischen Natur basiert, wie man sagen könnte, auf lebensweltlicher Anschaulichkeit, nämlich darin, dass »Wolken [...] keine Kugeln, Berge keine Kegel, Küstenlinien keine Kreise [sind ...], [Baum-] Rinde [...] nicht glatt [ist], und ein Blitz [...] nicht entlang gerader Linien [verläuft].«60 Mit Hilfe seiner »gegenüber Euklid« »neuen Geometrie«, der »gebrochenen« Fraktalen Geometrie, lassen sich diese »unregelmäßigen«, »unordentlichen« und »zersplitterten« Naturphänomene, Gestalten und »Formen um uns herum« nachzeichnen und konstruieren: die Verzweigungen und Verästelungen von Bäumen und Sträuchern, von Blättern und Federn, das Netz von Adern im menschlichen Körper, der Weg von Blitzen, der Verlauf von Flüssen, die Struktur von Gebirgen, Muscheln, Seepferdchen, Schneeflocken oder Blumenkohl. Dass in der Natur nicht nur geometrische Formen mit ganzzahligen Dimensionen wie Linie, Quadrat und Rechteck, Würfel und Kugel existieren, sondern oftmals feine Verästelungen, poröse Oberflächen, asymmetrische Gestalten, hatte Mandelbrot durch seine alltäglich-sinnliche Wahrnehmung der Natur erkannt. Fraktale Gebilde sind solche Gestalten, die sich darstellen als »faltig, gewunden, körnig, picklig, pockennarbig, polypenförmig, schlängelnd, seltsam, tangartig, verzweigt, wirr, wuschelig«.61 Sie weisen gebrochene Dimensionen auf, womit diese Formen »qualitativ streng« untersucht werden können. Das Qualitative spielt eine entscheidende Rolle in der Form-Klassifikation wie auch in der Überprüfung und im Evidenzausweis der durch Modelle erzeugten Formen an der empirischen Wirklichkeit. Methodisch gelingt dies dadurch, dass die Fraktale Geometrie Natur in ihrer Formvielfalt »nachzuahmen« versuche.62 Modelle werden mittels visueller Ähnlichkeit von Computer-generierten und Natur-vorfindlichen Formen qualitativ validiert. Damit modifiziert sich, was unter Erkenntnis und deren Geltung verstanden werden kann. Visuelles und Affirmatives wird entscheidend. Wie bei Goethe so ist auch bei Mandelbrot das wahrnehmende Auge entscheidend. »Für mich ist das wichtigste Denkwerkzeug das Auge. Es sieht Ähnlichkeiten, noch bevor eine Formel geschaffen worden ist, um [Formen und Gestalten ...] zu identifizieren.« Mandelbrots morphologischer Naturzugang unterscheidet sich von der Wissenschaftshaltung der Molekulargenetik. Die Genetik ist Prototyp einer technisierten reduktiv-analytischen Wissenschaft. Im Sinne Goethes wird in der Genetik hinter den Phänomenen nach etwas, nach dem genetischen Code gesucht. Da-

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B. Mandelbrot: Die fraktale Geometrie der Natur, S. 13. Vgl. ebd., S. 13. Vgl. ebd., S. 17. Vgl. ebd., S. 16.

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gegen ist das Ziel der Fraktalen Geometrie nicht die Entschlüsselung eines genetischen Codes, sondern der Entdeckung von Gestalten. Goethes Forderung – Suche nichts hinter den Phänomenen! – wird von der Fraktalen Geometrie erfüllt. Sie bleibt bei der Formnachbildung der Phänomene stehen. Man wird somit den Anspruch Mandelbrots, Natur wieder mesokosmisch, qualitativ, visuell in den Blick genommen und die Physik für Affirmatives geöffnet zu haben, nicht leichtfertig von der Hand weisen können. Zweitens: Als weiteres Beispiel einer nachmodernen Morphologie kann die Katastrophentheorie angesehen werden (Strukturmorphologie). Sie wurde von René Thom in seinem Buch Structural Stability and Morphogenesis begründet.63 Katastrophen werden bei Thom keineswegs, wie das Wort nahelegen mag, negativ bewertet. Vielmehr werden sie als Bedingungen des Wandels und Werdens verstanden. Thom zielt auf »a very general classification of these changes of form, called catastrophes [...].«64 Die Entstehung neuer Formen, die »Morphogenese« und die »Dynamics of Forms«65 wird durch strukturelle Instabilitäten induziert. Thom denkt an »phenomena of common experience«, wie etwa »the shape of a cloud« oder the »path of a falling leaf«.66 Derartige »homely phenomena« sind von der klassischmodernen Physik und auch von einer gen- und molekularorientierten Biologie unberücksichtigt geblieben. Sie fielen in ein disziplinäres Niemandsland. Thom sieht den Grund der Nichtbeachtung darin, dass »these phenomena are highly unstable, difficult to repeat, and hard to fit into a mathematical theory, because the characteristic of all forms, all morphogenesis, is to display itself through discontinuities of the environment [...].«67 Damit sind methodologische Probleme der klassisch-modernen Physik, insbesondere die der instabilitätsbasierten Unbestimmtheit, in den Blick genommen. Die Katastrophentheorie tritt an, Abhilfe zu schaffen.68

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R. Thom: Structural Stability and Morphogenesis. Vgl. ebd., S. 8. Vgl. ebd., S. 124ff. Vgl. ebd., S. 8/9. Vgl. ebd., S. 9. Topologische Darstellbarkeit, mathematische Anschaulichkeit und intuitive Zugänglichkeit rechtfertigen es, so Thom, von der Katastrophentheorie als »Morphology«, spezieller als »General Morphology«, zu sprechen (ebd., S. 101ff). Der katastrophentheoretische Ansatz bezieht sich auf allgemeine Strukturen, welche von den jeweiligen materiellen Trägern absehen. Thom zielt auf eine »purely geometrical theory of morphogenesis, independent of the substrate of forms and the nature of the forces that create them [...].« (ebd., S. 8) Gerade durch (substanzenthobene) topologische Strukturen kann das lebensweltlich Gegebene qualitativ beschrieben werden.

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Drittens: Von einer Prozessmorphologie könnte gesprochen werden, insofern sich im Morphologischen die Prozesshaftigkeit ekstatisch zeigt. So ist der Biophysiker Hans Meinhardt durch sinnliche Wahrnehmung von phänomenaler Natur – jenseits einer technisch geprägten Labornatur – auf sein Forschungsfeld gestoßen:69 durch die »Schönheiten von Muscheln«, ihrer Schalenpigmente und Wachstumsfalten. Einmaligkeit und Geschichtlichkeit zeigen sich. Die Pigmentmuster verweisen auf das Werden der Muscheln. Sie zeigen gefrorene Zeitlichkeit. Im Sinne einer Morphologie wird ein überindividuell Allgemeines erkennbar. Meinhardt meint, dass »[t]he shell patterning appeared to be just another realization of a general pattern forming principle.«70 In Anlehnung an Goethes Morphologie kann ein Urphänomen oder eine Urform lokalisiert werden. Das ist nicht als Reduktion auf ein Gesetz zu deuten. Schließlich gilt: »These patterns are not explicable on the basis of the elementary mechanisms in a straight forward manner.«71 Eine reduktive Erklärung materiell wirkender Entitäten auf molekularbiologischer oder physikalischer Basis misslingt wegen der instabilitätsbasierten Unbestimmtheit.72

7. Schlussbemerkung Die Stabilitätsannahme – vielleicht wäre von Stabilitätsmetaphysik zu sprechen: Natur ist Natur, insofern sie stabil ist – hat sich tief in die methodologischen Fundamente der klassisch-modernen Physik eingeschrieben. Die Stabilität der Welt war eine metaphysisch-methodologisch wirkmächtige Konstruktion von Antike und Moderne gleichermaßen. Mit der Stabilitätsannahme wurde die Welt als Bestimmbare konstituiert und konstruiert: Was derzeit unbestimmt erscheine, werde zukünftig bestimmt werden. Temporäre Bestimmungslücken können durch den wissenschaftlichen Fortschritt geschlossen werden: eine prinzipielle Bestimmbarkeit ist gegeben. Unbestimmbarkeit sei nichts anderes als ein Defizitindikator eines Noch-Nicht(-Wissens). Das war die moderne Wissenschaftshaltung. Aus der nachmodernen Physik der Instabilitäten heraus folgen Problematisierungen einst hochgesteckter Ansprüche der Bestimmbarkeit: Prognostizierbarkeit, Reproduzierbarkeit, Prüfbar69 70 71 72

Vgl. H. Meinhardt: The algorithmic beauty of sea shells, S. vii. Vgl. ebd., S. vii. Vgl. ebd. Unter Verwendung von ad hoc-Modellen, von Computernumerik und Simulationen sowie Visualisierungsmethoden in einem »virtuellen Labor« (ebd., i) wird eine »Morphologie der Formbildung« möglich. Methodisch nimmt Meinhardt keine quantitative, sondern eine qualitativ-affirmative Prüfung der Modelle vor. Als Prüfargument wird das photographische Bild einer Muschel einem modellbasierten, computernumerisch generierten Bild der Pigmentstruktur visuell gegenübergestellt (ebd., S. 31/81/ 87/149). Augenfällige Ähnlichkeiten sind entscheidend. Das Auge bildet das unumgehbare Mittel und Medium des Evidenzausweises.

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keit und Reduzierbarkeit. Angesichts der Instabilitäten setzt sich in der Physik das durch, was Hermann Bondi in den 1960er Jahren vorwegnahm, nämlich dass »der größte Teil der Wissenschaft nicht dem Newtonschen Sonnensystem [ähnelt], sondern eher der Wettervorhersage. [...] Auf einem so schwierigen Feld wie der Wettervorhersage wird aller Wahrscheinlichkeit nach niemals mehr als ein begrenzter Erfolg möglich sein. [...] Dieses Beispiel verdeutlicht den Zustand eines großen Teils der Wissenschaft: Die Wissenschaft schreitet nicht insgesamt fort zu der Perfektion, Unangreifbarkeit und Bestimmtheit des Newtonschen Uhrwerks, sondern zu etwas viel Begrenzterem.«73

Ab den 1960er Jahren wurde von vielen Physikern anerkannt, dass »Newtons Art der Lösung [...eine] Rarität« darstellt, die in »vielen Fällen der Natur« nicht gegeben ist.74 So beginnt sich im Rahmen der nachmodernen Physik herauszukristallisieren, was Gerhard Gamm mit Michel Serres sagt, nämlich dass »Schwankungen, Unordnung, Unschärfe und Rauschen keine Niederlagen der Vernunft [sind ...]. [Sie] sind es nicht mehr.«75

73 Hermann Bondi: Mythen und Annahmen in der Physik, Göttingen 1993 (1971), S. 308. 74 Vgl. ebd. 75 G. Gamm: Flucht aus der Kategorie, S. 14.

Das »Ich deute nicht« am Grund des Urteilens: Michael Frayns Copenhagen als Beitrag zur Gewissheitsthematik DORIS VERA HOFMANN

»Es gibt freilich Rechtfertigung; aber die Rechtfertigung hat ein Ende.«1 »Heisenberg: Now we’re all dead and gone, yes, and there are only two things the world remembers about me. One is the uncertainty principle, and the other is my mysterious visit to Niels Bohr in Copenhagen in 1941. Everyone understands uncertainty. Or thinks he does. No one understands my trip to Copenhagen. Time and time again I’ve explained it. (…) The more I’ve explained, the deeper the uncertainty has become. Well, I shall be happy to make one more attempt. Now we’re all dead and gone. Now no one can be hurt, now no one can be betrayed.«2

Von Werner Heisenbergs wissenschaftlichen Arbeiten wird gemeinhin erwartet, die Gewissheit zum Thema der Ungewissheit zu vergrößern. In dem 1998 erschienenen Drama Copenhagen des britischen Autors Michael Frayn nimmt die Figur Heisenbergs – posthum – einen Punkt in den Blick, über den tiefe Ungewissheit herrscht, und versucht ein letztes Mal, mehr Gewissheit über ihn zu gewinnen. Es handelt sich dabei nicht um die theoretische Thematik möglicher Ungewissheit, sondern um den wirklichen, und das heißt praktischen Zustand der 1 2

Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit 192, in: ders.: Werkausgabe Bd. 8, [= ÜG], Frankfurt/Main 1984. Michael Frayn: Copenhagen, New York 2000 [= Cop], S. 4.

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Ungewissheit in einer praktisch relevanten Frage. Damit die Gegenwart der beteiligten Beobachter bei diesem »Versuch«, anders als bei wissenschaftlichen Experimenten, nicht mit dem Ergebnis interferiert3, lässt Frayn Heisenberg, Bohr und dessen Frau Margrethe in einem Reigen unruhiger Geister auftreten. Um das rätselhaft gebliebene Geschehen zu rekonstruieren, spielen sie die lange zurückliegenden Ereignisse wiederholt in alternativen Versionen von Selbstbeobachtung und -beschreibung durch und versuchen dabei, im nachhinein Gründe für ihre jeweiligen Handlungen zu finden. Die von ihnen umkreiste Frage hat ebenfalls geisterhaften Charakter, denn »some questions remain long after their owners have died. Lingering like ghosts. Looking for the answers they never found in life.«4 Ob eine solche Distanzierung bis ins Geisterhafte ausreicht, um das Geschehen klar und deutlich in den Blick zu bringen, muss sich im Verlauf des Theaterstücks zeigen. Dieser soll jedoch zunächst einmal skizziert werden. Die Ausgangsfrage »Why did he come to Copenhagen?«5, die Frage nach Grund und Ablauf von Heisenbergs Besuch bei seinem Lehrer Bohr im besetzten Dänemark des Jahres 1941, stellt die dramaturgische und systematische Kernfrage dar, um die sich die gesamte Konversation dreht. In diesem Kern fallen all die Dimensionen zusammen, die in den verschiedenen Rekonstruktionsversuchen immer wieder als Alternativen thematisiert werden, ohne dass sie sich jemals scharf voneinander trennen ließen. Geht es um Physik oder um Politik? Wird ein persönliches oder ein politisches Abkommen angestrebt? Ist das Vater-SohnVerhältnis zwischen Bohr und Heisenberg wissenschaftlich oder persönlich? Im Rückblick auf einzelne Stationen wird die Geschichte dieser Beziehung konstruiert. Schon die erste Begegnung war geprägt vom Thema der Rolle der Mathematik in der Wissenschaft und in ihrem Verhältnis zueinander: »Rows of eminent physicists and mathematicians, all nodding approval of my benevolence and wisdom. Suddenly, up jumps a cheeky young pup and tells me that my mathematics are wrong.«6 Bohr hatte sich verrechnet, und seine mathematische »Schwäche« wird in einem späteren Pokerspiel dazu führen, dass er seine Mitspieler auf der Grundlage einer eingebildeten »Straße« erfolgreich überbietet und in der Folge gewinnt: »I thought I had a straight! I misread the cards! I bluffed myself!«7 Anders als Bohr, der an jeder Stelle eine Reflexionspause einzulegen schien, suchte Heisenberg Gewissheit aus seinen überwältigenden mathematischen Fähigkeiten zu gewinnen, die es ihm erlaubten, in schnellem Ablauf zu wissen-

3

4 5 6 7

Im Ausgang von der Bedeutung, die der Beobachter in Einsteins Theorie der Beobachtung als »human act, carried out from [...] the one particular viewpoint of the one observer« erhält, konzipieren die Kopenhagener Interpreten der Quantenmechanik die Existenz des Universums »only as a series of approximations, only within the limits determined by our relationship with it«. (Bohr in Cop, S. 71f.) Margrethe in Cop, S. 3. Margrethe in Cop, S. 3. Bohr in Cop, S. 22. Bohr in Cop, S. 23.

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schaftlichen Ergebnissen zu gelangen. Der unterschiedliche Denk- und Wissenschaftsstil wird beim Vergleich mit dem Skifahren demonstriert: »Heisenberg: Your skiing was like your science. What were you waiting for? [...] Bohr: At least I knew where I was. [...] You never cared what got destroyed on the way, though. As long as the mathematics worked out you were satisfied. […] But the question is always, What does the mathematics mean, in plain language? What are the philosophical implications? Heisenberg: I always knew you’d be picking your way step by step down the slope behind me, digging all the capsized meanings and implications out of the snow.«8

Dass die Mathematik eine so unterschiedliche Rolle im Denken Heisenbergs und Bohrs spielt, ist für das Drama und seine philosophischen Implikationen relevant. Im Unterschied zum bedächtigen Bohr, dessen persönliche und wissenschaftliche Rolle sich als ein »Not so fast, Heisenberg...«9 beschreiben lässt, verlässt sich Heisenberg auf die rasanten mathematischen Prozesse und lässt sich von ihnen mitreißen, so dass innerhalb ihrer keine Entscheidungen mehr zu fällen sind: »Decisions make themselves«10. Doch ausgerechnet Heisenberg wird es sein, der Bohr auf die Notwendigkeit der Entscheidung aufmerksam machen will, die Wissenschaftler zu fällen und zu verantworten haben. »If I manage to remain in control of our programme, the German government is going to come to me! They will ask me whether to continue or not! I will have to decide what to tell them!«11 Nun ist es der Schnelldenkende, der gemahnt anzuhalten, um nachzudenken: »Did a single one of them [i.e. Wissenschaftler der Alliierten in Los Alamos] stop to think, even for one brief moment, about what they were doing?«12 Heisenberg behauptet, nach Kopenhagen gekommen zu sein, um mit Bohr ein solches »Anhalten« auf beiden Seiten zu vereinbaren, denn wenn nur die Deutschen überzeugt würden, dass die Bombe technisch nicht machbar sei und daher keinen ernsthaften Forschungsaufwand lohne, dann hätten die Amerikaner trotzdem weitergemacht und die Bombe womöglich auf »my fellow-countrymen. My wife. My children«13 geworfen. Dass dieser Vorschlag zu fragil und zu verrückt ist, um »Plan« genannt werden zu können, gibt Heisenberg zu: »It’s a hope. Not even a hope. A microscopically fine thread of possibility. A wild improbability. Worth trying, though, Bohr! Worth trying, surely!«14 Die Sicherheit, an die er hier appelliert, ist jedoch keine mathematische mehr. Der Ernst der Lage hat dazu geführt, dass die normalerweise angewandten Gewissheitsmethoden nicht mehr

8 9 10 11 12 13 14

Cop, S. 24f. Cop, S. 26. Vgl. Heisenberg in Cop, S. 25. Heisenberg in Cop, S. 41. Heisenberg in Cop, S. 43. Heisenberg in Cop, S. 43. Heisenberg in Cop, S. 44.

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greifen und – beispielsweise zugunsten dieser »wild improbability« – außer Kraft gesetzt werden: »But, Bohr, we’re not skiing now! We’re not playing table-tennis! We’re not juggling with cap-pistols and non-existent cards! [...] You play happily with your toy cap-pistol. Then someone else picks it up and pulls the trigger ... and all at once there’s blood everywhere and people screaming, because it wasn’t a toy at all…«15

Copenhagen inszeniert das Außerkraftsetzen der mathematischen Gewissheit zweifach, denn Heisenbergs Vorstoß, auf diese Gewissheit versuchsweise zu verzichten, war das noch grundlegendere Versäumnis vorausgegangen, die kritische Masse des atombombenfähigen Uranisotops 235 zu berechnen: »Bohr: The critical mass. That was the most important thing. The amount of material you needed to establish the chain-reaction. […] The figure for the Hiroshima bomb … Heisenberg: Was fifty kilograms. Bohr: So what was the figure you gave Hahn? Fifty kilograms? Heisenberg: I said about a ton. [...] The one thing I was wrong about. [...] As soon as I calculated the diffusion I got it just about right. Bohr: You mean … you hadn’t calculated it before? You hadn’t done the diffusion equation? Heisenberg: There was no need to. [...] Bohr: So, Heisenberg, tell us this one simple thing: why didn’t you do the calculation? […] Heisenberg: Because I wasn’t trying to build a bomb.«16

Doch warum er hier auf seine üblicherweise angewandte und meisterhaft beherrschte Methode zur Gewissheitssuche verzichtet, weiß er letztlich ebenso wenig wie er den wirklichen Grund angeben könnte, warum er die rätselhafte Reise zu Bohr nach Kopenhagen unternimmt. Das eigene Handeln und seine Motive stellen den jeweiligen blinden Fleck dar, und mit diesem dunklen Punkt, mit dieser Ungewissheit in bezug auf sich selbst und seine dem Kopenhagener Treffen vorausgegangene Entwicklung, tritt er vor seinen Lehrer und Mentor. Hätte dieser sich nicht im Ärger von ihm abgewandt, sondern sich stattdessen dem im Ungewissen belassenen Aspekt zugewandt, dann hätte die Weltgeschichte womöglich eine andere Wendung genommen, die Bohrs und Heisenbergs Geister in einem kurzen Gedankenexperiment durchspielen: »Bohr: Let’s see what happens if instead I remember the paternal role I’m supposed to play. If I stop, and control my anger, and turn to him. [...] Why are you confident that it’s going to be so reassuringly difficult to build a bomb with 235? Is it because you’ve done the calculation? Heisenberg: The calculation? Bohr: Of the diffusion in 235. No. It’s because you haven’t calculated it. You haven’t considered calculating it. […] Heisenberg: And of course now I have realised. In fact it wouldn’t be all that difficult. Let’s see… The scattering cross-section’s about 6x10^-24, so the free path would be ... Hold 15 Heisenberg in Cop, S. 45f. 16 Cop, S. 81-86.

MICHAEL FRAYNS COPENHAGEN | 143 on … Bohr: And suddenly a very different and very terrible new world begins to take shape…«17

Dass die Ungewissheit hier bewahrt blieb, hat die alte Welt – möglicherweise – vor dieser neuen Welt bewahrt und nicht nur Heisenberg und Bohr einen großen Dienst erwiesen: »That was the last and greatest demand that Heisenberg made on his friendship with you. To be understood when he couldn’t understand himself. And that was the last and greatest act of friendship for Heisenberg that you performed in return. To leave him misunderstood.«18

»Why did he come to Copenhagen?« Diese Frage bildet zugleich den Rahmen für die philosophisch relevanten Themen: die Konzeption des Urteils, seine Grundlagen und Folgen, Gewissheit und ihre Rechtfertigung. Damit geht es aber auch um das Verhältnis wissenschaftlicher Theorien zum Leben: Frayn gestaltet das Ringen von Heisenberg, Bohr und Margrethe, im nachhinein Gewissheit über das unauflösbar rätselhafte Kopenhagener Treffen zu erlangen, als Demonstration der in der Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik herausgearbeiteten Struktur von Unschärfe und Komplementarität. Und da es diese Theorien sind, die den Bau der Atombombe ermöglichen, stellt sich die Frage nach den ethischen Implikationen der wissenschaftlichen Forschung. Frayn gibt ihr insofern die Rolle des geheimnisvollen Zentrums des Dramas, als sich das geheime, unbeobachtete und unbelauschte Gespräch im Dunkel eines kurzen Spaziergangs um Heisenbergs Frage dreht »if as a physicist one had the moral right to work on the practical exploitation of atomic energy«19. Indem Frayn Heisenbergs Urteil zu dieser Frage als eine Enthaltung inszeniert, als weltgeschichtlich relevantes Versäumnis, die Möglichkeit einer nuklearen Kettenreaktion mathematisch zu ergründen, macht er Copenhagen für die philosophische Urteilsthematik relevant. Das von Frayns Interesse an der Philosophie angeregte Drama erregt nunmehr das Interesse der Philosophie an Frayns Drama. Die folgenreiche Unterlassung Heisenbergs, die für die Atombombenherstellung benötigte kritische Masse selbst auszurechnen, um sich stattdessen auf seinen Glauben an eine viel zu hoch veranschlagte Schätzung zu verlassen, bildet den Dreh- und Angelpunkt des Dramas. Was hat es mit Heisenbergs Verzicht auf die mathematische Methode auf sich? Ist er deshalb denkwürdig und bühnenreif, weil ein Urteil, das seine Gewissheit auf eine Unterlassung gründet, einzigartig ist, oder weil die Unterlassung immer Grundlage wissenschaftlicher Urteile oder gar des Urteilens überhaupt ist, so dass sich das in Copenhagen dramatisierte Beispiel zum exemplari-

17 Cop, S. 89. 18 Margrethe in Cop, S. 89. 19 Cop, S. 36.

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schen Aufweis dieser allgemeinen Struktur anbietet? Um diese Frage zu beantworten, soll das Kopenhagener Beispiel in den Zusammenhang philosophischer Urteilskonzeptionen gestellt werden. Dazu scheint uns der von Kant und Wittgenstein aufgespannte Rahmen besonders geeignet, da beide Philosophen zum einen die verschiedenen Arten von Gewissheit auf das unterschiedliche Zuendekommen des Urteilsprozesses gründen und zum anderen der Handlung durch Aufweis der praktischen – sowohl pragmatischen als auch ethischen – Dimension der Gewissheit eine konstitutive Rolle zuteilen, ohne die sich Copenhagen nicht angemessen interpretieren ließe. Wegen des physikalischen Kontextes von Heisenbergs Verzicht bietet sich Kants Konzeption insofern an, als er in seiner systematischen Abgrenzung der vielfältigen »Modi des Fürwahrhaltens« der wissenschaftlichen Hypothese einen besonderen Platz einräumt. Und Wittgensteins Analysen der Inkommunikabilität des Zuendekommens sogar in der Praxis der Mathematik sind für den Zusammenhang von Rechnen, Glauben und Handeln im mathematischen Kontext ohnehin einschlägig. Dass Epistemologie nicht nur eine Angelegenheit der theoretischen Philosophie ist, stellt sowohl für Kant als auch Wittgenstein eine grundlegende Einsicht dar. In Wittgensteins Betrachtungen zum Verhältnis von Wissen und Handeln, aber auch schon bei Kant zeigt sich, dass die Frage des Handelns sich gar nicht aus dem Bereich des Wissens heraushalten lässt. Beide Philosophen haben sich in ihrer Kritik am Primat des Wissens um eine entscheidende epistemologische Horizonterweiterung verdient gemacht, indem sie die philosophische Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Gewissheitsmodi mit sehr verschiedenartigen Rechtfertigungsdiskursen quer zur Dichotomie zwischen Wissen und Nichtwissen lenkten und die praktische Grundlage der Rechtfertigung herausarbeiteten. Wenn Wittgenstein das jeweilige Ende der Begründung auf eine unbegründete Handlungsweise20 gründet, heißt dies für die Rechtfertigungsdiskurse, dass man ihnen auf den Grund kommt, indem man ihr Ende untersucht, und nicht, indem man ihre Begründungen analysiert. Grundlegend für die Konstitution diverser Rechtfertigungstypen sind also weniger die verschiedenen Begründungsmodi als vielmehr ihre Art und Weise, zu Ende zu kommen. Die vorliegende Untersuchung bezieht sich somit auf die philosophischen Ansätze Kants und Wittgensteins, um die verschiedenen Spielarten der Rechtfertigung von Gewissheit aus dem jeweiligen Ende der Begründung herauszuarbeiten. Die von beiden Philosophen mit besonderer Aufmerksamkeit bedachten Fälle mathematischer Gewissheit und vor allem der Abbruch mathematischer Begründung beim Handeln, wie sie sich in Kants eher systematischen Konstruktionen und in Wittgensteins philosophischen Kurzfiktionen prägnanter Sprachspiel-

20 ÜG 110: »Was gilt als seine Prüfung? – ›Aber ist dies eine ausreichende Prüfung? Und, wenn ja, muss sie nicht in der Logik als solche erkannt werden?‹ – Als ob die Begründung nicht einmal zu Ende käme. Aber das Ende ist nicht die unbegründete Voraussetzung, sondern die unbegründete Handlungsweise.«

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situationen darstellen, sollen ergänzt werden durch den Blick auf die Inszenierung ebendieses Themas in Copenhagen. Von der zentralen Frage, ob und wie man wissen kann, was man tut, thematisiert das komplexe Stück das weltgeschichtlich relevante Versäumnis Heisenbergs, die Möglichkeit einer nuklearen Kettenreaktion mathematisch zu ergründen. Diese zugespitzte Situation einer Technik, an der höchste wissenschaftliche Theorie mit größter praktischer Relevanz zusammentrifft, eignet sich in geradezu exemplarischer Weise, die vielfältigen Dimensionen der auf Abbruch gegründeten menschlichen Gewissheit darzustellen. Wann ein Urteil als ausreichend begründet und gerechtfertigt angesehen wird, ist nach Wittgenstein bekanntlich eine »psychologische« und keine logische Frage21 bzw. diese beiden Ebenen lassen sich gar nicht sauber voneinander trennen. Dass die Reihe der Rechtfertigung an ihr Ende gekommen ist, bedeutet nicht, dass etwas prinzipiell nicht weiter deutbar wäre, »sondern: ich deute nicht.«22 Kant und Wittgenstein holen die Urteilsthematik aus dem ausschließlichen Zuständigkeitsbereich reiner Logik heraus, indem sie die Entscheidung, auf weitere Deutungsversuche zu verzichten, am Grund des Urteilens ansiedeln. Beim »Ich denke«, auf das jedes Urteil bezogen ist, handelt es sich um ein »Ich deute«, das auf einem »Ich deute nicht« ruht: Ich deute, indem ich nicht mehr weiterdeute. In diesem Sinne stellt jedes Urteil einen Abbruch dar, mit dem es in unterschiedlicher Weise markiert, dass der Urteilende sich nun in mehr oder minder endgültiger Weise weiterer Deutungsversuche enthält. Diese Notwendigkeit, auf die eine oder andere Art zu Ende zu kommen, beruht auf dem beschränkten Urteilsvermögen endlicher Wesen, die nicht über unendlich viel Zeit zur Urteilsfindung verfügen. Dieses potentiell tragische Dilemma entwickelt sich als Dialektik zwischen der sich in endlichen Urteilsformen manifestierenden Gewissheit und dem unendlichen Anspruch an sie, als Stütze im unendlichen Risiko des Lebens zu fungieren, bei dem möglicherweise unendlich viel auf dem Spiel steht. Auf die Parallele zu den Strukturen negativer Theologie in jeder Sprache, deren unendlicher Gegenstand sich in endlichen Formen manifestieren muss, kann hier lediglich hingewiesen werden. Besonders systematisch stellt die Kantische Trinität des Fürwahrhaltens, i.e. Meinen, Glauben und Wissen, die Negativität jeden Urteils dar. Wir wollen zunächst diese Modi als Modifikationen des Sich-Enthaltens aufweisen und sie in den Rahmen von Wittgensteins Denken über Gewissheit stellen, das einerseits die duale Struktur von Glauben und Wissen, andererseits aber unendlich verschiedenartige Töne aufweist. Im Urteil wird der in den Kategorien von Quantität, Qualität und Relation bestimmte Gegenstand in der Kategorie der Modalität bezüglich seiner Gewissheit

21 Vgl. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Grammatik 98 [= PG], in: Werkausgabe Bd. 4, Frankfurt/Main 1984; Ludwig Wittgenstein: Zettel 231 [= Z], in Werkausgabe 8, Frankfurt/Main 1984. 22 PG 99.

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modifiziert, indem das Urteil auf die jeweilige subjektive Beschränkung reflektiert und diese als Horizont des Urteils markiert. Die Beschränkung manifestiert sich als Enthaltung vom Fortschreiten zu weiteren Urteilen. Die Wahrheitssuche kommt in den Formen des Ansehens als bestimmt zu einer vorläufigen Ruhe, in der die durch »Affection«23 in Gang gesetzte Bewegung mehr oder weniger angehalten wird. Die Suspension der Bereitschaft, für weitere Affektion offen zu stehen, gebietet der eigenen Affizierbarkeit Einhalt und bietet dadurch dem Urteil Halt. Ein Urteil erhält seinen Halt weniger durch die Haltbarkeit seiner Gründe und Argumente als vielmehr durch diese Haltefunktion, in der es sich der Affizierbarkeit durch weitere Gründe und Argumente verschließt. Es ist dieser Grad der Öffnung für das, was mich affizieren und zu einer Änderung meines Urteils führen könnte, der meinen Modus der Gewissheit bestimmt. In welchem Maße sich jemand möglichen weiteren Begründungen und Deutungen öffnet oder verschließt, beruht letztlich auf seiner Einschätzung der praktischen Situation, wie sie sich im Entwurf seiner Urteilskraft jeweils darstellt. Als moralische und pragmatische Frage beruht die Wahl des Gewissheitsmodus auf dem Willen: »Was will ich? (frägt der Verstand)«, und zwar im Sinne von »Was will ich als wahr behaupten?«24 Kant zufolge beeinflusst der Wille mittelbar, was jemand für wahr hält, nicht indem er bestimmt, was für wahr gehalten wird, sondern wozu, zu welchem Zweck jemand hier und jetzt urteilen will. Die zeitlich begrenzte Haltbarkeit eines Urteils, sein Verfallsdatum sozusagen, beruht auch bei Wittgenstein auf einer praktischen Haltung: Das Weiterdenken und Weiterdeuten wird so lange suspendiert, wie mich »seine weitere Deutbarkeit« nicht »beschäftigt (und beunruhigt)«25. Die Gewissheit eines Entschlusses, mit dem Deuten zum Schluss zu kommen, »daß es so ist«, ist nicht das Resultat einer theoretischen Einsicht, sondern ein praktischer Zustand der Beruhigung auf Zeit: »Ich bin beruhigt, daß es so ist.«26 Die Zeitlichkeit erstreckt sich bei Wittgenstein, anders als bei Kant, sogar auf mathematische Techniken: »Nicht die ewige Richtigkeit des Kalküls soll gesichert werden, sondern nur die zeitliche, sozusagen.«27 Sowohl für Kants als auch für Wittgensteins Konzeption der Gewissheitsmodi ist die Unterscheidung zwischen begründbarer und unbegründbarer Gewissheit, zwischen kommunizierbarer und inkommunikabler Rechtfertigung von entscheidender Bedeutung. Während der Glaube seine Gewissheit selbst dann nicht deuten könnte, wenn er wollte, müssen Meinung und Wissen jederzeit bereit sein, Gründe für ihren gegenwärtigen Verzicht auf weitere Deutungsversuche anzugeben, d.h. den Deutungsabbruch letztlich doch zu deuten. Da sie dies nicht 23 Beispielsweise Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft [= KrV], B 309. 24 Immanuel Kant: Anthropologie, Akademieausgabe Bd. VII, Berlin 1968, S. 227 und 227 Anm. 25 PG 99; Z 235. 26 ÜG 278. 27 Ludwig Wittgenstein: Grundlagen der Mathematik [= GM] III, 84, in: Werkausgabe Bd. 6, Frankfurt/Main 1984, S. 215.

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immer wollen, obgleich sie es könnten, müssen sie aufgefordert werden, Rechenschaft abzulegen. Diese Aufforderung ereignet sich als Herausforderung: Nur wenn man sich in seiner Gewissheit herausgefordert fühlt, kommt man der Aufforderung zur Rechtfertigung nach, und zwar gegenüber sich selbst, falls man sich in der eigenen Gewissheit herausgefordert fühlt, und/oder gegenüber Anderen, denen man Rechenschaft ablegt, ohne selber verunsichert worden zu sein. Der Modus des Meinens28 gewährt einen temporären Halt auf einem Grund, der für gut genug gehalten wird, um auf ihm eine erste Rast einzulegen. Die spezifische Haltefunktion der Meinung zeichnet sich zwar einerseits durch prinzipielle Offenheit aus, die sich andererseits jedoch gegen die Affektion durch diejenigen Gründe verschließt, die nicht für besser gehalten werden als diejenigen, bei denen man zur Zeit zu einem Aufenthalt angehalten hat. Um sich den Zugang zu möglicherweise besseren Gründen offen zu halten, benötigt und sucht der Meinende den Austausch mit Anderen, die sich ebenfalls noch nicht endgültig festgelegt haben. Die Offenheit für weitere Gründe liegt darin, dass die Urteilenden sich eines endgültigen Urteils enthalten, während sie dennoch urteilen, d.h. sich mit diesem Urteil zu dieser Zeit festlegen. Das »Ich deute nicht« am Grund, an dem die Gründe enden, ist qua Meinung ein »Ich deute nicht endgültig«. In der Vorläufigkeit des Endes liegt zugleich ein Versprechen zum Weiterdeuten, eine Einladung an neue und bessere Gründe. Da dieses temporäre Anhalten bereits seine Aufhebung im Fortgang enthält, bringt es den Deutungsprozess nicht wirklich zum Halten und bietet insofern auch keinen wirklichen Halt. Wenn das Leben eines festeren Halts bedarf, ist dieses spielerische Stehenbleiben aus Mangel an besseren Gründen demzufolge nicht der angemessene Modus. Die vorläufige oder zurückhaltende Gewissheit durch Suspension eines endgültigen Denkens ist nach Kant indes als Motor der Wissenschaften unverzichtbar. Eine für den wissenschaftlichen Diskurs relevante Form der Meinung stellt die Hypothese dar. Kant bestimmt sie als Meinung, die mit der Wirklichkeit durch Angabe ihrer möglichen »Beglaubigung«29 verknüpft ist. Durch Bestimmung der Methode ihrer Beglaubigung markiert die Hypothese somit nicht nur ihre Offenheit für weitere, bessere Gründe, sondern legt zugleich offen, welcher Art von Gründen, welcher möglichen Rechtfertigung sie offen steht. Die Art der Beglaubigung einer Hypothese kann allerdings nie zu einer apodiktischen Gewissheit führen, denn ihre Evidenz beruht auf einem Grund, der von seinen Fol28 Das Meinen als Gewissheitsmodus ist bei Wittgenstein weniger gründlich und systematisch herausgearbeitet als bei Kant, doch in seiner Abgrenzung des Glaubens einerseits von Meinung, Hypothese, Wahrscheinlichkeit und Wissen andererseits wird deutlich, dass er wie Kant die Meinung als theoretischen und insofern kommunikablen Modus ansieht. Vgl. dazu beispielsweise Ludwig Wittgenstein: Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben, hg. v. C. Barett, Düsseldorf/Bern 1994, S. 82. 29 KrV B 802.

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gen gestützt wird: »Eine Hypothese ist ein Fürwahrhalten des Urtheils von der Wahrheit eines Grundes um der Zulänglichkeit der Folgen willen.«30 Je besser die Folgen abschätzbar sind, desto sicherer wird der Grund, doch da wir »nie alle möglichen Folgen bestimmen können, (müssen) Hypothesen immer Hypothesen bleiben, das heißt: Voraussetzungen, zu deren völliger Gewissheit wir nie gelangen können.«31 Dabei geht es aber nicht nur um theoretische Folgen etwa als Vorhersagbarkeit bestimmter Effekte in Experimenten, sondern vor allem um praktische – d.h. pragmatische, politische und moralische – Folgen. Damit wird es zum einen unübersichtlich, weil wir uns aus dem, was beurteilt wird, nicht herauszunehmen und als theoretische Beobachter von dem Geschehen abzutrennen vermögen. Zum anderen wird es risikoreich, weil die Unmöglichkeit, sein Urteil auf rein theoretische Folgen zu beschränken, dazu führt, dass bei hypothetischen Abschätzungen möglicherweise das ganze Leben auf dem Spiel steht. In zugespitzter Form demonstriert die Quantenmechanik die Unmöglichkeit, Gewissheit rein theoretisch in unbeteiligter Betrachtung zu erlangen, indem sie aufweist, dass der Gegenstand allererst durch das Faktum des Beobachtens bestimmt wird. Copenhagen thematisiert dieses Verhältnis nicht nur als grundlegend für unsere Gewissheit in bezug auf Elementarteilchen, sondern für Denken und Gewissheit insgesamt. Die Gewissheit stützt sich auf die Folgen, aber diese werden von der »theoretischen Tat« des Hinschauens und Forschens beeinflusst, so dass wir es mit der paradoxen Struktur zu tun haben, dass die Gewissheit, auf die man sich stützt, sich zugleich auf die Tat(-Sache) stützt, dass man sich auf sie stützt. Die Struktur, sich auf eine Verbindung – wie diejenige, etwas als Grund von antizipierten Folgen anzusehen – zu verlassen, die dadurch bindet, dass man sich auf sie als gebunden verlässt, ist uns von Wittgenstein als Paradox des Regelfolgens bekannt. Seine imaginierte Notwendigkeit beruht darauf, dass jemand im Hinblick auf die Idee, der Übergang sei bereits vollzogen, diesen – mit der Sicherheit eines Blinden – allererst vollzieht. Copenhagen richtet den Blick auf das aus solchen Sehbehinderungen resultierende unkalkulierbare Risiko, keine scharfe Sicht auf die Folgen zu haben, aber trotzdem so mit ihnen kalkulieren zu müssen, dass wir ihnen durch Zuordnung von Gründen Wirklichkeit verschaffen. Hier stellt sich die Frage, wann mögliche Folgen ausreichend konstruiert, gedeutet und bewertet sind, um jede weitere theoretische Verdeutlichung abzubrechen und den entscheidenden Schritt von der Imagination zur Wirklichkeit zu gehen. Das Vertrauen in die Produkte meiner jeweiligen Deutungstätigkeit erstreckt sich dabei nicht nur auf die (theoretische) Einschätzung, wie wahrscheinlich meine Antizipation der Folgen ist, sondern es geht auch um die (praktische) Frage, ob ich den Folgen durch die methodische Verknüpfung mit einem Grund Wirklichkeit verleihen will. Indem sich in der Hypothese die von der mathematischen Methode erzeugte Gewissheit von der Subjektivität vorausgesetzter Interessen leiten lässt, 30 Immanuel Kant: Logik [= Logik], Akademieausgabe Bd. IX, Berlin 1968, S. 84. 31 Logik, S. 85.

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beendet sie hypothetisch jede Reflexion über Nutzen und Nachteil dieser versuchsweisen Verknüpfung. Der Schritt, die wissenschaftliche Methode hier und jetzt anzuwenden, überlässt das Feld der Rechtfertigung der von der methodischen Beglaubigung erzeugten Gewissheit. Sobald man das Vorfeld der Folgenabschätzung verlassen hat, muss man sich auf die methodisch rechtfertigende Gewissheit verlassen. Die für die wissenschaftliche Hypothese so fruchtbare und gefährliche Mischung formt sich demzufolge in dem folgenreichen Schritt, nicht mehr zu denken und zu deuten, sondern zu rechnen. Da aber kein Wissenschaftler zu diesem Abbruch des Deutungsprozesses gezwungen wird, sondern den Schritt, sich von der Methode zwingen zu lassen, selber vollziehen muss, ist es keineswegs notwendig, dass der Abbruch in dieser Mischung aus Deuten und Rechnen immer zugunsten des letzteren vollzogen wird. Der Schritt in die spezifische Gewissheit der Mathematik ist selbst keine mathematische Operation, sondern eine Handlung des Lebens32 und gründet damit auf der unbegründbaren33, ungerechtfertigten34 Sicherheit des Glaubens. »Die Begründung aber, die Rechtfertigung der Evidenz kommt zu einem Ende; – das Ende aber ist [...] unser Handeln.«35 Der Hybridform der wissenschaftlichen Hypothese stehen also beide Möglichkeiten des Abbruchs offen: Ich rechne und höre damit auf zu deuten. Oder aber ich rechne aufgrund meiner Deutung (der Folgen) nicht. Für die Entscheidung, das Rechnen zugunsten des Deutens abzubrechen, ist Frayns Darstellung von Heisenbergs Verzicht auf die mathematische Methode so einschlägig, dass die philosophische Analyse zugunsten dieses dramatischen Fallbeispiels zwar nicht abgebrochen, aber noch einmal unterbrochen werden soll. Bei den epistemologischen, psychologischen, moralischen und politischen Dimensionen des physikalischen Urteils über Möglichkeit und Unmöglichkeit einer zum Atomwaffenbau nötigen Kettenreaktion bei der Kernspaltung geht es nicht um die Anwendung bereits vorhandener Forschungsergebnisse, sondern um die Entscheidung zu forschen, d.i. Mathematik anzuwenden. Die Mathematik soll den Grund für die möglichen Folgen bereitstellen, und zwar soll sie entweder die Möglichkeit erfolgreicher Atomspaltung in atombombenfähiger Konzentration und Reaktionsgeschwindigkeit demonstrieren oder dem Glauben daran die Grundlage entziehen. Die rechnend bereitgestellte Grundlage verändert aufgrund der Verknüpfung mit den jeweiligen Folgen die Welt. Da die Mathematik sich

32 »Der mathematische Satz wurde durch eine Reihe von Handlungen erhalten, die sich in keiner Weise von Handlungen des übrigen Lebens unterscheiden und die gleichermaßen dem Vergessen, Übersehen, der Täuschung ausgesetzt sind.« (ÜG 651) 33 Vgl. ÜG 166: »Die Schwierigkeit ist, die Grundlosigkeit unseres Glaubens einzusehen«, sowie ÜG 173: »Und könnte ich nicht auch an meinem Glauben festhalten, was immer ich später erfahre?! Aber ist nun mein Glaube begründet?« 34 »›Ich weiß es‹, sage ich dem Andern; und hier gibt es eine Rechtfertigung. Aber für meinen Glauben gibt es keine.« (ÜG 175) 35 ÜG 204.

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nicht selber anwendet, muss entschieden werden, unter welchen Umständen und im Hinblick auf welche Folgen sie angewendet werden soll. Die Folgen jedoch bleiben unvermeidlich unscharf, weil sie sich nicht von der Perspektive des Beobachters abstrahieren lassen. »Everything is personal«36, und daher produziert auch die Mathematik unvorhersagbare Ergebnisse: »Mathematics becomes very odd when you apply it to people. One plus one can add up to so many different sums...«37. Die Folgen des Rechnens werden unberechenbar und potentiell gefährlich, denn »that final core of uncertainty at the heart of things...«38 macht selbst vor der Mathematik nicht halt. Heisenberg, der virtuose Mathematiker, ist während des Krieges nicht bereit, sich auf die Mathematik zu verlassen und den Zustand des Glaubens an mögliche Ergebnisse mit dem Schritt in die Berechnung der kritischen Masse zu beenden.39 Aufgrund der antizipierten Folgen glaubt er vor dem, was er errechnen könnte, zurückschrecken zu müssen. Diesen Glauben stützt die grund-, aber nicht folgenlose Gewissheit der Tat nicht zu rechnen, und nicht eine begründbare Gewissheit als Resultat einer bewussten Entscheidung.40 Frayns Interpretation zufolge sucht Heisenberg die Rechtfertigung, die er seiner Tat nicht geben konnte, in dem Kopenhagener Gespräch bei Bohr. Wäre Bohr auf den Rechtfertigungsmodus eingegangen, hätte Heisenberg womöglich während des Rechtfertigungsprozesses seinen unberechneten und insofern ungerechtfertigten Glauben an die zur Herstellung zu große kritische Masse aufgegeben und angefangen zu rechnen. Bohrs Abbruch des Gesprächs beraubt Heisenberg der Möglichkeit, durch die Herausforderung, Bohr Rede und Antwort stehen zu müssen, mehr Klarheit über seinen eigenen Gewissheitszustand zu erhalten und damit den blinden Fleck des Glaubens zu verlassen, in welchem man sich selbst nicht sieht und hört41. Aufgrund seiner Weigerung, mit Heisenberg weiterzureden, belässt Bohr ihn im Dunkel seines Glaubens, d.h. er hilft ihm, diesen zu bewahren und erweist ihm – und der Welt – dadurch letztlich einen Dienst. Erst rückblickend erkennt Heisenberg, was sein Versäumnis zu rechnen bewirkt hat, während der Moment der Tat ihm diese Einsicht verwehrt, d.i. eine Sicht auf sich selbst und seine Rolle. »Two thousand million people in the world, and the one who has to decide their fate is the only one who’s always hidden from me.«42

36 37 38 39

Margrethe in Cop, S. 73. Heisenberg in Cop, S. 29. Heisenberg in Cop, S. 94. Vgl. Bohr in Cop, S. 82: »You needed to calculate the figure for pure 235.[…] And you didn’t? – and that’s why you were so confident you couldn’t do it until you had the plutonium. Because you spent the entire war believing that it would take not a few kilograms of 235, but a ton or more.« (Hervorhebungen, D.V.H.) 40 Vgl. Bohr in Cop, S. 89: »You hadn’t consciously realized there was a calculation to be made.« 41 Vgl. L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen [= PU], in: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt/Main 1984, S. 515. 42 Heisenberg in Cop, S. 87.

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Der Modus des Abbruchs par excellence ist der Glaube. Im Gegensatz zum temporären Halt der Meinung hält der Glaube zu einem endgültigeren Halt an, indem er sich gegenüber allem, was ihn in Bewegung versetzen könnte, verschließt. Bedeutsam für seine Art der Sicherheit ist lediglich die eigene Zufriedenheit, nicht aber die der Anderen. Da seine Gewissheit nicht von Anderen abhängt, sucht der Glaube nicht nur keine Zustimmung und Bestätigung, sondern blendet sie in der Beschränkung seines Blicks und Interesses aus.43 Die Sicht ist beschränkt, weil sie aus der eigenen Perspektive heraus und nicht auf dieselbe blickt. Die Blindheit des Glaubens ist unheilbar, denn ausgerechnet der Punkt der subjektiven Gewissheit, auf den sich der Glaube stützt, indem er von ihm aus »zufrieden« in seine Welt blickt, ausgerechnet dieser berühmte Fleck, auf dem man »hier steht und nicht anders kann«, bleibt notwendigerweise unsichtbar. Innerhalb der vom Glauben gestützten Welt gibt es keinen möglichen Ort, von dem aus sich auf diesen Fleck blicken ließe. Eine Perspektive, aus der ein Glaube Untersuchungsobjekt sein könnte, würde zugleich das Ende seiner grundlegenden Gewissheit bedeuten.44 Der Abbruch ist insofern endgültig, als er Zweifeln keinen Raum gewährt45, der Trieb zur Fortentwicklung aber aus dem Zweifel erwachsen würde. Die Inkommunikabilität des Glaubens besteht also zum einen darin, dass er sich argumentativ nicht rechtfertigen will, und zum anderen, dass er es nicht kann, weil er sich nicht einzelnen Sätzen gegenüber befindet46, sondern vielmehr in einem »Nest von Sätzen«47. Wenn die Gewissheit des Glaubens nicht darauf beruht, was Andere – oder ich selbst – theoretisch für wahr halten, sondern worauf ich mich in meiner Handlung stütze, kann ein Rechtfertigungsdiskurs – anders als bei Meinung und Wissen – gar nicht stattfinden. Entscheidend, ob jemand etwas glaubt, ist nicht, dass er denkt und sagt, »daß es sich so und so verhält«48, sondern »welche Konsequenzen dieser Glaube hat, wozu er uns bringt«49. Alles, was in der Rede ausgedrückt werden kann, ist für die Rechtfertigung des Glaubens demnach irrelevant. Die Tatsache des Handelns allein rechtfertigt, dass die Gewissheit offenbar hinreichte, um den Prozeß weiterer Deutung und Begründung abzubrechen. Die Gewissheit zeigt sich in der negativen Bewegung, auf die Rede mitsamt ihren Rechtfertigungsmöglichkeiten zu verzichten und auf der Grundlage dieses Verzichts zu handeln. Damit stützt er sich auf eine Grundlage, die nicht mehr sprachlich vermittelbar ist. Er gründet sich auf das, was nicht gesagt werden kann. Das Urteil im Modus des Glaubens

43 Vgl. Immanuel Kant, R 2498: »Man kann einem andern seinen Glauben nicht mittheilen.« 44 Vgl. ÜG 248: »Von dieser Grundmauer könnte man beinahe sagen, sie werde vom ganzen Haus getragen.« 45 »Ich habe noch gar kein System, worin es diesen Zweifel geben könnte.« (ÜG 247) 46 Vgl. ÜG 141. 47 ÜG 225. 48 GM Anhang II, 12, S. 115. 49 PU 578.

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manifestiert sich als Rede, die sich selber zugunsten der Tat als Rede negiert. »Hier stehe ich. Ich kann nicht anders« oder »So handle ich eben«50 am Ende der Rechtfertigung kann zwar, muss aber nicht mehr eigens gesagt werden. Die Rede, die mitteilt, nicht mehr weiterreden zu wollen oder zu können, ohne die Gründe für diesen Abbruch mitzuteilen, markiert den von Wittgenstein beschriebenen Ort, an dem »der Spaten sich umbiegt«51. Um das Ende des Grabens nach Gründen zu thematisieren, muss man daher die Singularität des Ortes beschreiben, an dem der Spaten den Grund nicht weiter deutend durchdringen kann, weil sich ihm unvermittelt der »harte Fels« der Handlung entgegenstellt, die Singularität dieses Ortes zu dieser Zeit: Kopenhagen 1941.

50 PU 217. 51 Vgl. PU 217.

III. Negative Anthropologie

Mensch ohne Bild. Grenze n der Bestimmung des Unbestimmten GEORG ZENKERT

›Du sollst dir kein Bildnis machen‹ lautet das Gebot der negativen Anthropologie. Was Menschsein bedeutet, lässt sich per definitionem nicht festlegen. In der These, dass der Mensch ein Mängelwesen sei, findet diese Auffassung ihre klassische Ausprägung. Die Exemplare der Gattung Mensch sind nach diesem Theorem im Vergleich zu anderen Lebewesen defizitär ausgestattet. Das biologische Defizit birgt jedoch auch ungeheure Möglichkeiten. Der griechische PrometheusMythos veranschaulicht, wie sich der Mangel des Menschen, seine Bestimmungslosigkeit, in die freilich prekäre Überlegenheit einer Existenz verwandelt, die sich ungebunden weiß und deshalb eine gottähnliche Seinsweise erreicht. Platon legt diesen Mythos dem Sophisten Protagoras in den Mund, der die Unbestimmtheit konsequent als Inbegriff offener Chancen interpretiert.1 Der nicht festgelegte Mensch wird zum Kulturwesen, das sich nicht mehr in eine natürliche Ordnung fügt, sondern in ein Verhältnis zu seiner Umgebung tritt, das zu pflegen seine Aufgabe und Herausforderung wird. Platon erkennt darin eine absolute Selbstermächtigung, von der er sich distanziert, denn sofern die Macht als Inbegriff von Möglichkeit vorgestellt wird, muss sie sich sub specie der Idee des Guten einer mäßigenden Ordnung fügen. Tatsächlich verkörpert der prometheische Mensch den Inbegriff der Macht. Was er ist, verdankt er sich im Wesentlichen selbst. Die stellvertretend für den Menschen von Prometheus unternommene Revolte gegen die etablierte Ordnung ist Ausdruck einer bedingungslosen Freiheit, die sich gegen jede Festlegung sperrt. Der Preis der Freiheit ist die latente Unsicherheit, der Bruch mit der Ordnung, die spannungsvolle und risikobelastete Beziehung zur Welt und die Notwendigkeit, die eigenen Lebensbedingungen selbst zu regeln. Die Auffassung des Menschen als Mängelwesen setzt eine emanzipa1

Platon: Protagoras 320ff.

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torische Dynamik frei, in der zugleich die Gefahr der Hybris liegt, sofern der freigesetzte Mensch sich der unbegrenzten Möglichkeiten bedient und dabei haltlos wird. Im Menschenbild der Renaissance findet dieser Typus eine neue Gestalt. Platons Bedenken gegen die Verabsolutierung des einzelnen scheinen nun gegenstandslos, weil der Mensch seine Rolle gleichsam mit göttlicher Billigung ergreift. Die Selbstermächtigung des unbestimmten Menschen findet jetzt ihre Zuspitzung unter der Prämisse, dass der Mensch Ebenbild eines absoluten Gottes ist, der sich in seiner Vollkommenheit jeder Attribuierung entzieht, ein Wesen, von dem kein Bild zu machen ist. So kommt Nikolaus von Cusa zu der keineswegs ketzerischen Behauptung, der Mensch sei, aufgrund seiner Gottesebenbildlichkeit, gewissermaßen selbst Gott.2 In seiner am Ende des 15. Jh. konzipierten Rede De hominis dignitate versucht Pico della Mirandola im Rückgriff auf die antike Tradition den Status des Menschen so zu deuten, dass dieser, anders als alle sonstigen Wesen der Schöpfung, seine Natur selbst zu bestimmen berufen ist. Er ist von Gott in die Mitte der Welt gestellt, weder als göttliches noch als sterbliches Wesen geschaffen, um sich »als frei waltender Bildner seiner selbst« die gewünschte Form zu geben.3 Im Schöpfungsakt ist für den Menschen kein Archetypus mehr übrig. Der Mensch ist nicht nur ohne bestimmte Ausstattung, sondern auch ohne Charakteristik und ohne Vorbild; deshalb muss er sich dieses selbst geben. Die darin begründete menschliche Würde ist Geschenk und Aufgabe gleichermaßen. Aber dieser Prozess ist nicht normativ vorgezeichnet. Die Gottesebenbildlichkeit verpflichtet nicht auf ein bestimmtes Modell, sondern bezieht sich lediglich auf die absolute Freiheit zur Selbstkonstitution. In der Tat ist der Mensch dadurch zur causa sui, zur Ursache seiner selbst erklärt. Von allen Verpflichtungen entbunden besitzt er anstelle einer ihn prägenden Natur die Freiheit der Selbstbestimmung. Das Prometheus-Motiv kehrt hier mit bemerkenswerten Modifikationen wieder. Pico folgt dem Mythos insofern, als der Mensch im Vergleich zum Tier nur mangelhaft ausgestattet wird. Seine besondere Fähigkeit besteht darin, den Mangel der Natur zu kompensieren. Während die griechische Erzählung den Menschen noch mit der göttlichen Seinsweise kontrastiert, wird nun die Nähe zu Gott hervorgehoben. Die Gottesebenbildlichkeit legt den Menschen nicht fest, sondern setzt ihn vielmehr frei und entlässt ihn als Schöpfer seiner selbst, weil das Urbild selbst sich durch das Bilderverbot gegen jede Festlegung verwahrt. In der Paradoxie der Abbildung dessen, was nicht auf ein Bild zu reduzieren ist, steht dem

2 3

Nikolaus von Cusa: De coniecturis, Hamburg 1971, II, 3. »Nec te caelestem neque terrenum, neque mortalem neque immortalem fecimus, ut tui ipsius quasi arbitrarius honorariusque plastes et fictor, in quam malueris tute formam effingas« (Giovanni Pico della Mirandola: Über die Würde des Menschen/De hominis dignitate, Hamburg 1990, § 5).

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Menschen das ganze Spektrum der Existenzmöglichkeiten offen vom Status des Göttlichen bis zur Entartung. Diese Tradition liefert nicht nur das Modell für das säkularisierte Menschenbild, sondern bildet auch die Argumentationsbasis für die Abwehr aller Versuche, den Begriff des Menschen dogmatisch zu besetzen. Teleologische Moralkonzeptionen, soziale Utopien und deterministische Modelle der Naturwissenschaften bilden ein unerschöpfliches Reservoir für Invektiven, die das Menschenbild zu vereinnahmen suchen. Insbesondere die naturalistischen Tendenzen der Gegenwart stellen das überlieferte Menschenbild in Frage und berühren damit auch das moralische und rechtliche Koordinatensystem der modernen Lebenswelt. Sie konstatieren unter Verweis auf objektive Grenzen des Denkens und Handelns die Unmöglichkeit der Selbstbestimmung in der paradoxen Erwartung, dass die Gemeinten diese Einsichten ihrem Selbstbild einverleiben und ihr Handeln daran orientieren. Freilich ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Möglichkeiten menschlicher Selbstentfaltung eng begrenzt sind. Natur und soziale Umgebung ziehen enge Grenzen für die menschliche Selbstbestimmung. Insofern sind natur- und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse für das Selbstverständnis des Menschen von Belang. Die Kränkungen, die das Selbstbild des Menschen durch die Wissenschaften erfahren hat, sind längst ein produktiver Bestandteil desselben geworden. Nach dem Verständnis der Lebenswissenschaften jedoch scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis das wissenschaftliche Menschenbild und das lebensweltliche Selbstbild um den Preis der Absorption des letzteren koinzidieren. Mit der Beschwörung traditioneller Werte kann dieser Tendenz nicht Einhalt geboten werden. Die Einwände müssen von grundsätzlicher Natur sein und nicht nur die Inhalte der Bestimmung betreffen, sondern das Prinzip der Bestimmung selbst. Der Unterschied zwischen externer Zuschreibung von Prädikaten und der Selbsteinschätzung des Menschen betrifft das Menschsein im Ganzen. Erstens ist die Differenz zwischen Beobachterstandpunkt und Ich-Perspektive nicht aufzuheben. Zweitens ist der Unterschied zwischen theoretischer und praktischer Bestimmung, zwischen der Feststellung von Sachverhalten und dem Vollzug der Selbstbestimmung zu berücksichtigen. Praktisch ist eine Bestimmung nicht nur dann zu nennen, wenn sie aus dem Handeln heraus oder in der Absicht, zu handeln, veranschlagt wird, sondern grundsätzlich dann, wenn sie das Selbst betrifft. Selbstbestimmung ist ein Modus des Handelns, denn mit ihr verändert sich das Selbst. Diese Möglichkeit der Bestimmung zur Handlung markiert die Grenze zwischen freiwilligem Handeln und bloßem Verhalten. Die Kontroverse über den freien Willen muss dabei nicht entschieden werden. Auch ohne die Unterstellung absoluter Willensfreiheit ist es möglich und sinnvoll, Handlungen, die nach traditionellem Vokabular als freiwillig eingeschätzt werden, moralisch und strafrechtlich anders zu sanktionieren als unabsichtliche Verhaltensweisen. Diese Differenz absichtlichen Handelns und unabsichtlichen Verhaltens hat eine nicht nur psychologische Bedeutung. Freiwilligkeit verbindet sich mit einer bestimmten

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Selbsteinschätzung, die in einer deskriptiven Sprache nicht erschöpfend wiedergegeben und insofern nicht als psycho-physisches Ereignis dargestellt werden kann. Um dem Phänomen der Handlungsbestimmung näher zu kommen, ist nach dem Subjekt des Handelns zu fragen. In den Begriffen der Subjektphilosophie markiert das reflexive Ich die Instanz, deren Spontaneität sich nicht in einem naturalistischen Kalkül wiedergeben lässt. Das Modell egologisch konzipierten Bewusstseins fällt indessen seiner Zirkularität zum Opfer. Entweder setzt der Selbstbezug das Selbst, worauf er sich bezieht, bereits voraus und kann folglich, im Widerspruch zu den Prämissen einer Logik der Subjektivität, dieses nicht konstituieren. Oder das Bewusstsein, auf das sich das Denken bezieht, zeigt sich erst mit der Reflexion; so muss als Vollzugsorgan dieses Aktes ein weiteres Bewusstsein vorausgesetzt werden und so weiter ad infinitum. Auch nachkantische Reformulierungsversuche von Selbstbewusstsein können dieser vitiösen Zirkularität der Reflexionsstruktur nicht entkommen.4 Es wäre jedoch voreilig, deshalb den normativen Anspruch aufzugeben, der mit dem Begriff des freien Subjekts verbunden ist. Zwar ist die metaphysische Hypothek, die mit der Annahme eines unabhängig vom Kausalzusammenhang sich spontan bestimmenden Ich verbunden ist, beträchtlich. Die dualistische Konzeption von kausal determinierter Erscheinungswelt und noumenaler Welt, die Kants Transzendentalphilosophie vorsieht und bis heute die attraktivste Alternative zum naturalistischen Menschenbild darzustellen scheint, durchzieht das menschliche Dasein im Ganzen. Nicht nur das Verhältnis von Körper und Geist wird problematisch, auch das Phänomen des Handelns erscheint dadurch verzerrt. Handlungen gelten so einerseits als vollkommen determinierte Prozesse und sollen doch zugleich in moralischer Hinsicht auf den Anstoß eines autonomen Subjekts zurückgeführt werden können. Der Hinweis auf die Kompatibilität beider Ansichten ist ein schwacher metaphysischer Trost, der dem distanzierten Beobachter zweiter Ordnung, dem Beobachter des wissenschaftlichen Beobachters genügen mag, aber mit dem Selbstbild eines Menschen nicht verträglich ist. Den Menschen als moralisches Wesen anzusprechen, ohne das Auseinanderklaffen von kausalanalytischer Beschreibung und moralischer Selbstinterpretation des Handelns in Kauf zu nehmen, heißt, ihn als Person aufzufassen. Damit ist der Mensch als verantwortlich Handelnder, als moralische Existenz thematisiert. Das Konzept der Person, das auch in den gegenwärtigen Debatten der Ethik von fundamentaler Bedeutung ist, verdankt sich einer anderen Tradition als der Subjektbegriff. Damit ist der Mensch jenseits eines Dualismus als freie Existenz im Gefüge der praktischen Welt situiert. Eine Person ist kein Kompositum, sondern ein Ganzes, ein Aktzentrum, das sich in der empirischen Realität behauptet. ›Per4

Zur Kritik des Subjektbegriffs s. Manfred Frank: »Subjekt, Person, Individuum«, in: Manfred Frank/Anselm Haverkamp (Hg.): Individualität. Poetik und Hermeneutik XIII, München 1988.

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son‹ ist primär eine Statusbestimmung. Qualifikationsmerkmal von Personen ist die Fähigkeit, eine normativ signifikante Rolle übernehmen zu können. Deshalb kommen als Personen nicht nur Menschen in Betracht, sondern auch juristische Gebilde, rechtsfähige Körperschaften und politische Organe. Der gegenwärtige Gebrauch des Personbegriffs in der Moralphilosophie ist darüber hinaus mit dem Anspruch verbunden, dass ein Wesen, das als Person ausgezeichnet wird, fundamentale Rechte genießt. Strittig ist dabei, welche Voraussetzungen dabei erfüllt sein müssen, um den Personstatus zu besitzen. Die kontroverse Debatte darüber, ob dieser Status dem einzelnen Menschen qua Gattungszugehörigkeit zukommt oder ob dieser aufgrund bestimmter Fähigkeiten und Leistungen zuerkannt wird, ist unausweichlich in eine aporetische Situation geraten. Anders als das Subjekt, dessen Negativität als reine Reflexionsinstanz sich einer inhaltlichen Bestimmung sperrt, scheint sich die Person nur als Produkt einer Bestimmung identifizieren zu lassen. Diese bezieht sich entweder auf die Gattung oder auf den Einzelnen. Allein beide Alternativen dieser Konstellation, die generische sowohl als die leistungsabhängige Zuschreibung des Personstatus sind gleichermaßen unbefriedigend. Weder ist, wie das traditionalistische Lager unterstellt, der Mensch kraft seiner Natur eine Person, noch ist es sinnvoll, nur denjenigen Wesen den Status zuzubilligen, die bestimmte Kriterien erfüllen. Dabei ist weniger die kontraintuitive Konsequenz irritierend, dass unter Umständen Tiere und Maschinen als Personen zu behandeln wären, manche lebensfähige Exemplare der Gattung Mensch jedoch nicht.5 Disqualifizierend ist für diese Auffassung vielmehr erstens, dass diese Kriterien eine willkürliche Bestimmung darstellen und zweitens, dass für die so gefassten Personen ein normativer Anspruch erhoben wird, ohne diese selbst als normative Instanzen zu begreifen, als Wesen, die sich selbst verpflichten und normengerecht zu handeln vermögen. Diese Bedingung ist für einen normativ signifikanten Personbegriff jedoch unverzichtbar. Nur unter der Prämisse der Gattungszugehörigkeit ließe sich eine Art moralischer Ausfallbürgschaft für diejenigen Individuen übernehmen, die dem Standard nicht genügen. In der Opposition generischer und individueller Zuschreibung scheint sich der Sinn des Personbegriffs aufzulösen. Beide Ansichten sind notorisch schief und verfehlen den semantischen Kern des Konzeptes. Diese lassen sich nur im Blick auf die begriffsgeschichtlichen Implikationen fassen. Aus der griechischrömischen Tradition, um diese Vorgeschichte wenigstens anzudeuten, stammt die Bedeutung von persona, als Übersetzung von ʌȡȩıȦʌȠȞ und bezeichnet zunächst nur die Maske des Schauspielers im Theater. Von dieser Vorstellung ausgehend wird der Begriff übertragen auf die Rolle eines Menschen im gesellschaftlichen

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Dieter Birnbacher: »Das Dilemma des Personenbegriffs«, in: ders.: Bioethik zwischen Natur und Interesse, Frankfurt/Main 2006.

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Kontext.6 Auch die Gerichtsrhetorik nimmt in Analogie zum Theater den Begriff auf. Ganz generell werden damit dann im Weiteren handlungsbezogene Funktionen bezeichnet, die nicht mit dem Träger derselben identisch sind. Prägnant ist die durch Cicero überlieferte Rollentheorie des Stoikers Panaitios.7 Zwei Rollen, so heißt es, sind uns von Natur aus gegeben, das generelle Menschsein kraft unserer Vernunftnatur und die dem Einzelnen zugeteilte konkrete Rolle, sein Charakter. Eine dritte Rolle wird durch Zufall und äußere Umstände bestimmt wie Ämter und sozialer Stand und ähnliche Faktoren; die vierte geben wir uns selbst durch unsere eigene Einschätzung. Diese eher unsystematische Aufzählung benennt die Momente, die im späteren Personbegriff wieder auftauchen. Die generische Bestimmung des Menschen und die Individualität sind dabei auf eine schwer durchschaubare Weise verschränkt. Die moralische Qualität einer Person scheint indes gerade auf dieser Auszeichnung eines Einzelnen als eines Repräsentanten der Gattung zu beruhen. Der Zusammenhang dieser Momente kann freilich in dieser kursorischen Erwähnung nicht als geklärt gelten. Die moralphilosophisch entscheidende Prägung des Begriffs erfolgt erst in der christlichen Theologie.8 Hier liegen die Wurzeln des Begriffs als nomen dignitatis, der seinem Träger ein besonderes normatives Gewicht gibt. Bemerkenswert an dieser Vorgeschichte ist, dass im Brennpunkt der Auseinandersetzung nicht der Status des Menschen, sondern die Interpretation des Gottesbegriffs steht. In der Verlegenheit, der paradoxen Trinitätslehre eine rationale Fassung zu geben, greifen christliche Theologen auf den Begriff der Person zurück. »Eine Substanz in drei Personen« lautet die Formel, die einen gemeinsamen Nenner und eine Basis für weitere Auseinandersetzungen bis in die Spätscholastik bietet. Auch in der Frage nach der Doppelnatur des Gottessohnes erweist sich der Begriff der Person als nützliches Interpretament. Die Vagheit des Personbegriffs stellt jedoch eine große Herausforderung für die Theologie dar. Die sich daran entzündenden theologischen Auseinandersetzungen sind entscheidend für die weitere Begriffsbildung und die in der Konsequenz der Gottesebenbildlichkeit erfolgende Rückübertragung der neu gewonnenen Bestimmungen auf den Menschen. Die antike Auffassung der Person als Rolle tritt in der theologischen Rezeption in den Hintergrund. Ausgehend vom Begriff einer Person als »naturae rationabilis individua substantia«,9 als der vernünftigen Substanz einer individuellen Natur, gibt Boethius dem Konzept eine grundlegend neue Bedeutung. In Absetzung von der substanzontologischen Lesart spricht dann Richard von St. Viktor

6 7 8 9

Manfred Fuhrmann: »Persona, ein römischer Rollenbegriff«, in: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hg.): Identität, München 1979. Cicero: De officiis, I, 107ff. Hervorzuheben sind die Untersuchungen von Robert Spaemann, Personen, Stuttgart 2 1998, und Theo Kobusch, Entdeckung der Person, Darmstadt 1997. Boethius : Contra Eutychen et Nestorium, III, 1-5.

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von einer Person als einzigartiger, nicht mitteilbarer Existenz.10 Fragt man nach einer Person, sei es Gott, ein Engel oder ein Mensch, so fragt man nicht nach einem ›was‹, nach allgemeinen Eigenschaften, sondern man erfragt das ›wer‹ in Gestalt singulärer Eigenheit, die um dieser Individualität willen nicht begrifflich erschlossen, aber dennoch als einzigartige, aus sich selbst bestehende Existenz ansprechbar ist. Daraus zieht schließlich Alexander von Hales die Konsequenz, dass diese singuläre Existenz eine besondere Seinsweise verkörpert. Auf der Grundlage der ontologischen Differenzierung der Disziplinen Physik, Logik und Ethik weist er die Begriffe ›subiectum‹ dem Bereich der Natur, ›individuum‹ dem Bereich der Logik und ›persona‹ dem Bereich des Moralischen zu.11 Die Person gehört nicht zu den Substanzen der Natur, sondern besitzt einen ganz eigenen Status, den eines moralischen Wesens, das durch eine besondere Würde ausgezeichnet ist.12 Der Begriff der Würde wird damit zum herausragenden Merkmal nicht des Menschen, sondern der Person. In der Übertragung auf den Menschen, das heißt, auf endliche, aus Körper und Seele zusammengesetzte Wesen, sind jedoch Abstriche zu machen. Hier ist zu berücksichtigen, dass bei geschaffenen Wesen nicht, wie bei Gott, von der Subsistenz ausgegangen werden kann. Der Mensch ist nicht durch sein Menschsein individuiert, wie Thomas von Aquin feststellt, sondern durch seine kontingente materielle Existenz. Das Wesen des Menschen, die humanitas als Gattungsbestimmung, und das Personsein eines einzelnen Menschen sind nicht identisch. Nur für Gott gilt, dass ›Wesen‹ und ›Person‹ deckungsgleich sind.13 Die aus der Trinitätslehre und der Christologie gewonnenen Definitionen des Personbegriffs können nur analog und nicht ohne Einschränkungen auf den Menschen bezogen werden. Personsein ist weder identisch mit der Essenz des Menschen, kann also nicht mit dem Gattungsbegriff gleichgesetzt werden, noch bringt es das individuelle Dasein eines einzelnen Menschen zum Ausdruck. Der Begriff bezeichnet ein unbestimmtes Mittleres, das als »individuum vagum« logisch zwischen Gattungsbegriff und Eigennamen anzusiedeln ist.14 Eine Person ist weder bloß individuelle Substanz noch eine Gattungsbezeichnung, sondern bestimmt sich über die Relation zu anderen Personen. Dies gilt für das Ensemble der Transzendenz, dessen Rollen im göttlichen Schauspiel mit dem Personbegriff charakterisiert werden, und per analogiam für die Menschen im Verhältnis untereinander. Personsein ist eine Auszeichnung eines Individuums, die diese nicht aufgrund ihrer Gattungszugehörigkeit erlangt, die aber auch nicht ohne Bezug auf die Gattung konzipiert werden kann. Nicht das Menschsein

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Richardus a Sancto Victore: De trinitate, IV, 5. Alexander de Hales: Glossa in I sententia, 25, 4f. Alexander de Hales: Glossa in I sententia, 23, 9 a. b. Thomas von Aquin: Summa theologica, III, 2, 2c. Thomas von Aquin: Summa theologica I, 30 4c.

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macht die Person aus, sondern das Wissen davon, dass man Individuum einer Gattung ist. Wer sich so begreift, spielt eine Rolle, die sich zwar nicht einem konkreten Publikum, aber dem Blick der unbestimmten anderen präsentiert, die ihrerseits als Akteure wahrgenommen werden. Der eigene Personstatus kann nur beansprucht werden, wenn zugleich die anderen bedingungslos in ihrem Personsein anerkannt werden. Damit ist die Abstraktion eines Gattungsbewusstseins erreicht, das einzuschränken auch dann ein Akt der Willkür wäre, wenn sich diese Begrenzung des Personenkreises durch Kriterien moralischer Handlungsfähigkeit auszuweisen suchte. Das heißt, nicht die Gattungszugehörigkeit als solche garantiert den Personstatus, sondern Personsein bedeutet im Falle des Menschen, dass er diejenigen Wesen, die der Gattung zuzurechnen sind, als im Prinzip normativ gleichrangige Spieler moralischer Rollen behandelt, unerachtet ihrer tatsächlichen Fähigkeiten. Der Speziezismusvorwurf, der Einspruch gegen die normative Auszeichnung einer Gattung,15 geht deshalb ins Leere. Die Personalität des Menschen ist nicht aus der biologischen Gattungsbestimmung abgeleitet. Vielmehr impliziert Personsein das Bewusstsein der Gattungszugehörigkeit und bedeutet, sich als moralisches Wesen in Relation zu anderen moralischen Wesen zu verstehen. Damit verbindet sich die Unterstellung, dass die anderen im Prinzip sich selbst als moralische Wesen begreifen können. Zumindest als Mitglieder der Gattung sind sie dazu in der Lage, auch wenn sie aktualiter dieses Potential nicht nutzen oder nicht nutzen können. Die philosophische Rezeption des Personbegriffes wird dieser Beziehung von Einzelnem und Gattung, die mit dem Status der Person verbunden ist, selten gerecht. Entweder dominiert, wie in der angelsächsischen Tradition seit Locke, die individualistische Lesart, die sich in der Frage nach der Identität verliert, oder der Begriff wird, insbesondere in der kantischen Philosophie, primär unter dem Gesichtspunkt der generischen Dimension verstanden. Die gegenwärtige, von Locke inspirierte Diskussion um personale Identität leidet daran, dass sie das Personsein lediglich als ein Bewusstseinsphänomen begreift. Ihre teils absurden Problemstellungen, die der Vorstellungswelt der science fiction entstammen, lassen sich nicht mit der Perspektive des alltäglichen Verständnisses vermitteln. Der Vorschlag, die Vorstellung einer transtemporalen Identität ganz aufzugeben,16 ist deshalb abwegig, weil er das Beharren des natürlichen Bewusstseins als pathologisch disqualifiziert, ohne es in seinem eigenen Anspruch verstehen zu können. Die Verengung des Blickwinkels auf eine psychologisch aufgefasste Identität unterbietet die Komplexität des Selbstverständnisses der Wesen, die als Träger des Titels ›Person‹ in Frage kommen. Aber auch die Grundlage des Personbegriffs wird von der auf Bewusstseinsphänomene konzentrierten Betrachtung nicht registriert. 15 Peter Singer: Practical Ethics, Cambridge 1979, Kap. 3. 16 Derek Parfit: Reasons and Persons, Oxford 1984.

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Die moderne Debatte wird diesem Zusammenhang auch dann nicht gerecht, wenn sie den Personbegriff zu retten sucht. Strawsons Dogma konstatiert, dass die Person eine nicht analysierbare, logisch primitive Einheit sei, auf die sowohl Prädikate, die Körpereigenschaften bezeichnen, als auch Prädikate, die Bewusstseinszustände zuschreiben, anwendbar sind.17 Seine Position scheint auf den ersten Blick gegen reduktionistische Tendenzen gefeit zu sein, doch stellt dieser Zugang in der Tat eher ein Sprechverbot dar, das weder die Auflösung des Personbegriffs in eine Reihe von Bewusstseinszuständen verhindern noch an den Diskussionsstand der praktischen Philosophie anknüpfen kann. Für eine klare Abgrenzung zum Psychologismus empfiehlt es sich zunächst, auf Kants Analyse der Paralogismen der reinen Vernunft zurückzugreifen. Sie entzieht der Vorstellung eines substantiellen Ich den Boden und markiert zugleich eine deutliche Grenze gegenüber der empirischen Auflösung des Bewusstseins.18 Ohne dass daraus theoretisches Wissen abgeleitet werden könnte gilt im Praktischen, dass der Mensch eine Vorstellung des Ich haben kann. Dadurch ist er Person. Damit ist weder eine substantielle Bestimmung vorgenommen noch eine empirisch verifizierbare Aussage getroffen. Personsein ist eine normative Statusbestimmung, kein Prädikat eines Subjekts. Nur unter dieser normativen Voraussetzung kann menschliche Tätigkeit als Handlung begriffen und dem Akteur zugerechnet werden. Kants Gebrauch des Personbegriffs ist prägend für die Auffassung, dass die moralische Dignität des Menschen auf der Fähigkeit beruht, sein Handeln von einem neutralen Standpunkt aus zu betrachten. Kriterium ist die Verallgemeinerbarkeit des eigenen Wollens. Damit eignet sich das Individuum die anonyme Rolle eines unbestimmten und nicht mehr empirisch identifizierbaren, weil austauschbaren Subjekts an, das seine besondere Charakteristik abgelegt hat. Und doch ist es ein konkreter Einzelner, der diese Rolle übernimmt und mit Leben füllt. Für diese Verbindung zwischen der empirischen Bestimmung zur Handlung, die sich in der Maxime niederschlägt, und der formalen Bestimmung, die sich der reinen Vernunft verdankt, gibt es in Kants praktischer Philosophie jedoch keine Grundlage. Der Dualismus von phänomenaler und noumenaler Welt lässt keine einheitliche Beschreibung von Handlungsvorgängen zu. Dabei ist augenfällig, dass von einer Gattungsidentität im eigentlichen Sinne nicht die Rede sein kann, sofern nicht die Menschheit, sondern die idealisierte Person Referenzsubjekt der moralischen Vernunft ist. Das Gedankenexperiment der Verallgemeinerung individueller Maximen besteht in der Ausrichtung der eigenen Entscheidung an einem neutralen Standpunkt. Es wäre deshalb ein Missverständnis, die Person als Individuum zu apostrophieren, sofern unter Individualität doch eine unverwechselbare und nicht mit allgemeinen Prädikaten zu erschließende Einheit angesprochen wird. Die Persönlichkeit im Kantischen Sinne 17 Peter Strawson: Individuals, London 1959. 18 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 362ff.

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als der rationale Kern der Person wird gerade durch die Unabhängigkeit von jeder individuellen Prägung bestimmt. Der Personbegriff, das bestätigt auch die Kantische Analyse, ist eine Statusbestimmung, aber kein Terminus, der den Handelnden kennzeichnet. Um diesen zu identifizieren, muss über Kant hinausgegangen werden. Ein Handelnder begreift sich über ein Konzept des Selbst, das in der Kantischen Systematik keinen Ort findet. Mit dem Begriff des Selbst verbindet sich die Vorstellung, dass die Identität eines Menschen praxeologisch, als Handlungsvollzug aufzufassen ist. Das Selbst ist weder ein ablösbares Ergebnis eines äußerlichen Werdens, noch eine unveränderliche Substanz unter veränderlichen Umständen, sondern das sich in der Brechung des Bewusstsein erfahrende Individuum, das sich als zeitlich erfasst und das heißt, erinnernd und vorgreifend den Handlungsraum erschließt, in dem es sein Leben führt. Mit diesem Vorbegriff des Selbst gewinnt die Konzeption der Selbstbestimmung eine andere Ausrichtung als der Autonomiebegriff. Selbstbestimmung zielt nicht nur auf die moralische Zulässigkeit von Handlungsintentionen angesichts gesetzesförmiger Normen, sondern auf die Identität im Sinne der praktischen Bestimmung dessen, was für ein Mensch man ist und sein will. In dieser Perspektive erscheint Kants Auskunft, dass alles, wozu Neigungen und Antriebe motivieren, vom reinen Willen nicht verantwortet und damit dem eigentlichen Selbst nicht zuzuschreiben ist,19 als unzureichend. Es kommt vielmehr darauf an, die Zusammenhänge zwischen vernünftiger Willensbestimmung und charakterlichen Eigenschaften, zwischen subjektiver Absicht und sozialen Verbindlichkeiten, zwischen eigener Vernunft und kulturellem Wissen wahrzunehmen. Die entscheidende Frage jedoch ist, von welchem Selbst dabei die Rede ist. In der Tat ist die Korrektur der dualistischen Prämissen mit dem terminologischen Wechsel von der Person zum Selbst allein nicht vollzogen. Das unbewältigte Problemerbe macht sich dadurch bemerkbar, dass die Semantik der Selbstbestimmung oszilliert zwischen einer Willensbestimmung Kantischer Façon und einer trivialen Vorstellung von rationalem Interessehandeln. Die systematischen Ursachen dieser Verwirrung liegen in der ungeklärten Beziehung zwischen Gattungsidentität und der Universalität der moralischen Normen einerseits und dem einzelnen Handelnden andererseits. So wenig es überzeugt, dass der Einzelne im Stadium moralischer Willensbildung von seiner Individualität vollständig abstrahiert, so schal bleiben alle Versicherungen, dass die universalistische moralische Reflexion auch die besondere Stellung des Individuums berücksichtigt und insofern immer auch fallbezogen ist. Der begriffsgeschichtlichen Prägung ist nur bei Strafe der Selbsttäuschung zu entkommen. So birgt der Begriff der Person die Gefahr, dass er mit zusätzlichen 19 Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 457f. Kant gebraucht den Begriff der »Selbstbestimmung« nur im Sinne der Autonomie, der objektiven Willensbestimmung kraft reiner Vernunft (S. 427).

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Bedeutungen aufgeladen wird, die keinen semantischen Anschluss an seinen Bedeutungskern finden. Eine Person im Sinne eines rationalen und selbstbewussten Wesens, das aufgrund dieser Fähigkeiten einen besonderen normativen Status besitzt, wird gewiss auch individuell sein, doch diese Qualität ist nicht Attribut des Personbegriffs. Auch in seinem universalistischen Zuschnitt bleibt der Personbegriff einem Rollenkonzept verhaftet. Diese Rolle ist nicht durch individuelle Eigenschaften definiert, sondern allein durch die Fähigkeit, sich als Gattungswesen zu begreifen. Das bedeutet, der Mensch ist nicht deshalb Person, weil er als token der allgemeinen Gattungsbestimmung anerkannt wird, sondern insofern, als er sich als Gattungswesen versteht. Seine Selbstdeutung macht ihn zum Gattungswesen. Noch die Kritik an speziezistischen Gattungsbestimmungen zehrt von den Prämissen einer Gattungsidentität. Damit sind mittelbar auch diejenigen Individuen der Gattung als Person betrachtet, die nicht zu dieser Reflexion in der Lage sind. Für diese Erweiterung des Personenkreises muss nicht die Heiligkeit des menschlichen Lebens beschworen werden, denn mit dem Selbstverständnis derer, die sich als Personen begreifen, ist gesetzt, dass sie alle Individuen einer Gattung als Kandidaten für diese Rolle behandeln, insofern sie sich als Gattungswesen betrachten. So ist es nicht den Gattungsqualitäten des Menschen zuzuschreiben, dass Menschen Personen sind, sondern umgekehrt können Menschen nur Person sein, wenn sie zugleich alle Individuen ihrer Gattung bedingungslos in dieses Rollenverständnis einschließen. Willkürlich ist nicht die Auszeichnung der Gattung, sondern der Ausschluss einzelner Mitglieder derselben. Der Kreis der Personen definiert sich nicht über das Kriterium, sich selbst als Person begreifen zu können, noch sind andere Bedingungen, weder angeborene gattungsspezifische noch leistungsbezogene personenspezifische Voraussetzungen legitim. Dies wäre gleichbedeutend mit einer Definition des Menschseins oder Personseins, eine Festlegung, die nicht anders als willkürlich und somit unbegründet sein kann. Lediglich das Gattungsbewusstsein des Menschen bietet eine Grundlage für die Selbstzuschreibung des Personstatus im Sinne einer unbestimmten Rolle, deren einziger Inhalt die Bestimmbarkeit ist. Personsein ist somit in der Tat Produkt einer Selbstdeutung, die jedoch keine willkürliche Selektion erlaubt, sondern den Horizont der negativ bestimmten Gattungsidentität voraussetzt. Diese Gattungsidentität basiert auf der kulturellen Leistung der Selbstidentifikation. Dabei muss nicht per se ausgeschlossen werden, dass auch andere Gattungen zu dieser Leistung fähig sein könnten. Die Gattungsidentität der Menschen als Personen verdankt sich nicht einem biologischen Sachverhalt, sondern ist Resultat einer kulturell geprägten Zuschreibung. Im Unterschied zu reziproken Anerkennungsverhältnissen kennzeichnet die Gattungsidentität eine Asymmetrie. Ich verstehe mich als eine Person unter Personen, aber die Anerkennung des anderen als Person hängt nicht von dessen konkreten Leistungen ab, sondern von seiner Zuordnung zur Gattung. Diese folgt weder konkreten Handlungen oder Fähigkeiten noch biologischen

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Kriterien, sondern ist Resultat der Selbstinterpretation einer Gattung, die nicht definitiv festgelegt, aber auch nicht willkürlich ist. Diese Zuschreibung lässt sich nicht beliebig ändern. Die Gattungsidentität kann nicht per Dekret modifiziert werden, ohne damit den normativen Anspruch, der mit dem Personstatus verbunden ist, aufzukündigen. Sich als Mensch zu verstehen heißt, ein Selbstbild zu entwickeln unter der Bedingung der generischen Unbestimmtheit. Dem entspricht die Fähigkeit, seine Lebensführung unter der Perspektive normativer Erwartungen zu betrachten, die sich auch auf die Grenzfälle des werdenden und eingeschränkten menschlichen Lebens beziehen. Die menschliche Gattung ist ethisch definiert, nicht biologisch. Die Gattungsqualität des Menschen bleibt damit letztlich unbestimmt.20 Mehr als die Bestimmbarkeit dessen, was Menschsein heißt, ist nicht vorausgesetzt. Die Kategorie der Unbestimmtheit bezieht sich jedoch auf das praktische Dasein und schließt natürliche oder soziale Bedingtheit nicht aus. Diese sind indessen in der Regel, das heißt, so lange überhaupt personale Existenz noch möglich ist, keine Kausalfaktoren mit eindeutigen Wirkungen, sondern Momente, die bestimmte Handlungsmöglichkeiten eröffnen und andere verschließen. Ebenso verhält es sich mit den bereits zurückliegenden Entscheidungen, die den Handlungshorizont begrenzen und zugleich für bestimmte Handlungsoptionen konstitutiv sind. Nur wer auch bestimmt ist, bestimmte Voraussetzungen vorfindet, kann sich zum Handeln bestimmen. Gerade auf diese Bestimmung, die der Mensch selbst vollzieht, kommt es an. Das Selbst dieser Bestimmung ist mit dem Konzept der Person nicht erschöpfend erfasst. Dafür ist vielmehr das Individuum in Betracht zu ziehen als dasjenige Ich, das die Rolle ausfüllt, die mit dem Begriff der Person umrissen ist. Personalität ist nicht Individualität. Während die Konzeption der Person und die damit verbundenen Spielregeln wie etwa die Strukturen des Rechts den Spielraum der Selbstbestimmung vorzeichnen, ist der Vollzug der Bestimmung der Instanz zuzuschreiben, die als Individualität in ihren einzelnen Akten erfahrbar, aber nie als Ganzes identifizierbar ist. Das Paradigma der Individualität ist die Sprache als Inbegriff aller Sprechakte, wie Wilhelm von Humboldt eindrücklich darlegt.21 Hier findet auf exemplarische Weise die Konkretisierung des eigenen Daseins statt, die nach gegebenen Regeln und im Rahmen des semantischen Repertoires verfährt und dabei Neues hervorbringt. Ein Sprecher ist an enge Grenzen gebunden und doch gibt es keine festgelegte Sprecherrolle. Der Sprecher schreibt seine Rolle gewissermaßen selbst.

20 S. dazu Gerhard Gamm: Der unbestimmte Mensch, Berlin/Wien 2004, S. 55ff. 21 Georg Zenkert: »Fragmentarische Individualität: Wilhelm von Humboldts Idee sprachlicher Bildung«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52.5 (2004), S. 691707.

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Analoges gilt für das ethische und politische Selbstverständnis des Menschen. Nur aufgrund seiner Unbestimmtheit ist der Mensch ein zu ethischer Verantwortung und politischer Selbstbestimmung fähiges Wesen, aber nur kraft seiner Selbstbestimmung realisiert er diese Möglichkeiten. Dementsprechend erschöpft sich Ethik und Politik nicht in der Anwendung von Regeln und Gesetzen, sondern ist immer verbunden mit der Freisetzung von Kräften, die humanistische und naturalistische Menschenbilder gleichermaßen sprengen.

Der unbestimmte Mensch und der Übermensch JUTTA GEORG-LAUER

Keep on running

2004 hatte Gerhard Gamm eine Publikation veröffentlicht, die nach den ethischen Implikationen einer medialen Konstruktion von Subjektivität fragt und damit seine Studien zu einer Semantik des Unbestimmten fortschreibt. In »Der unbestimmte Mensch« formuliert er zwei Anliegen, die er über diese Publikation diskutieren möchte: »Das erste lässt sich von der Forderung leiten, dass die unterschiedlichen Problemlagen des kognitiv instrumentellen Diskurses ihre wirkliche Aufklärung erst im Übergang zur praktischen Vernunft erfahren […]. Das zweite […] sucht – unter Anerkennung pragmatischer Lösungsversuche – sich der totalisierenden Vereinnahmung der praktischen Vernunft durch den Pragmatismus zu erwehren.«1

Zu prüfen ist, ob Nietzsches ›höhere Moral‹, die im Gleichnis vom Übermenschen den Fluchtpunkt seiner strebensethischen Figur der »tragischen Bejahung« plastisch macht, für eine Ethik, die von der Unbestimmbarkeit des Menschen ausgeht, fruchtbar zu machen ist. Wie bekannt lotet Nietzsche über diesen Topos Übermensch den Horizont bejahender Existenzweisen aus und stellt sie antithetisch zu denen des Humanismus, der für ihn ein reaktiver Diskurs ist, weil er sich negierend zur Leiblichkeit des Menschen stellt. In Nietzsches Schriften gibt es 20 Stellen, in denen er sich explizit auf den Übermenschen bezieht und viele andere, wo er mit anderen Worten diesen Terminus umkreist. Dabei klassifiziert er den Übermenschen nicht nur als »Sinn der Erde«, sondern er will mit ihm »der Menschheit den Sinn ihres Seins lehren«. Der Übermensch steht für das, was am 1

Gerhard Gamm: Der unbestimmte Mensch. Zur medialen Konstruktion von Subjektivität, Berlin/Wien 2004, S. 10.

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Menschen überwunden werden muss; deshalb sind die Leibverächter keine »Brücken zum Übermenschen.« Durch die Herrschaft der Übermenschen, so Nietzsches Hoffnung, können wir Dekadenz, Nihilismus, Leibverachtung, Moral, Metaphysik und Religion überwinden und die Verneinung von Sinnen und Leib definitiv und endgültig zerstören. Die Figur Übermensch ist Nietzsches philosophischer Beitrag zur Weiterführung des abendländischen Humanismus, indem er ihn dementiert, überbietet, untergräbt und damit dem Anspruch nach erodiert. Eine Übernatur, deren Botschaft nicht jenseits der Semantik des Humanismus situiert ist, denn ein Übermensch ist keine absurde Figur, wie wir sie aus Becketts Dramen kennen, er ist kein Tarzan, Terminator, Spider-Man, kein Batman. Nietzsches antihumanistischer Einspruch, den seine Übermenschkonzeption plastisch macht, formiert sich antithetisch; nun werden die Vorzeichen umgestellt und die Werte umgeschaffen: Positive Werte sind jetzt Unglaube, Krieg, Grausamkeit, Spiel, Leibvernunft, Opfer fordern und vor allem besonnen Gewalt ausüben und darüber, souverän werden. Diese Topoi orientieren sich am Ideal des humanen Menschen, weil Nietzsche das zusammenträgt, was nicht humanitätskonform ist. Im Topos vom Übermenschen lässt er den humanen Menschen wie in einem Zerrspiegel vorbeiziehen und erkennt dessen Ideale als erodierte, zerrüttete Glaubenssätze, als eine kraftlose und längst erschöpfte Ideologie. Nichts, so Nietzsches Resumée, von euren Hoffnungen ihr Priester, Nihilisten und Christen aller Zeiten, hat sich erfüllt, denn durch euer sinnenfeindliches Reglement ist der Mensch zu einem kranken, von Moral und Metaphysik vergifteten Tier verkümmert, das sich in den Klauen einer nihilistischen Ideologie befindet. Es misstraut seinen ureigensten sinnlichen Potenzen und glaubt an abstrakte und übersinnliche Wahrheiten. Wenn wir Nietzsche bei dieser dekonstruktiven Arbeit folgen, überrascht es, dass er als Attribute des Übermenschen nur die Inversion humanistischer Ideale anbietet. Das zeigt wie er – contre coeur – noch im humanistischen Diskurs befangen ist. Ist das nicht einen Mangel an Fantasie? Könnte das Über des Übermenschen nicht gerade darin bestehen, keine Botschaft zu haben, nichts als ein Spieler zu sein, ohne damit wiederum einen Auftrag zu verbinden? Nein, denn in Nietzsches philosophischen Diskurs ist der Übermensch höchst besetzt. Er nimmt die Leerstelle ein, die sich nach Gottes Tod aufgetan hat. Damit steht er an der Spitze einer Diskursformation und hat eine Botschaft, die er braucht, sonst könnte er nicht der Erlöser des Menschen sein. Nietzsche behält die tradierte, hierarchische Diskursstruktur bei und setzt anstelle Gottes den Übermenschen. Auf die Diskursstruktur bezogen, ist das seine Kritik am Humanismus. Vielleicht ist es aber auch eine Verhöhnung des Humanismus, die wir aus Nietzsches Semantik des Übermenschen herauslesen können? Nietzsche braucht die Kunstfigur Übermensch, um der für ihn unabdingbaren Überwindung des Menschen ein Wohin zu geben, um eine Figur zu haben, die radikal gegen die Tradition steht. Der Übermensch muss als Nietzsches visionärer Gegenentwurf zur aufziehenden Moderne, zu Demokratie und Sozialismus,

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zum Ideal egalitärer Gesellschaften und der modernen, europäischen Kultur begriffen werden: »Diese ›Werkzeuge der Kultur‹ sind eine Schande des Menschen, ein Gegenargument gegen ›Kultur‹ überhaupt! – dass das Gewürm Mensch im Vordergrund ist und wimmelt; daß der ›zahme Mensch‹, der Heillos-Mittelmäßige und Unerquickliche bereits sich als Ziel und Spitze der Geschichte, als ›höheren Menschen‹ zu fühlen gelernt hat, ja dass er ein gewisses Recht darauf hat, sich so zu fühlen. Insofern er sich im Abstande von der Überfülle des Missratenen, Kränklichen, Müden, Verlebten fühlt, nach dem Europa heute zu stinken beginnt, …«2

Deshalb ist der Übermensch radikaler Verneiner und Zerstörer des zahmen und kleinmütigen, des kultivierten Menschen. Dadurch erlöst er ihn, denn der Mediokre kann sich nur so zu seinen leiblichen Potenzen bekennen. In einer sehr großen Anzahl von Textstellen, die den humanen Menschen negativ beschreiben, kulminiert Nietzsches Bewertung des bisherigen Menschen in der radikalen Forderung: Der Mensch muss überwunden werden. Das Telos seiner Überwindung und Selbstüberwindung ist der Übermensch, der mit dem zu Überwindenden den Namen teilt, um sein Woher anzuzeigen. Demnach trägt der alte, humane Mensch Segmente des Über in sich. Sein Wohin aber, die ›Menschen-Zukunft‹, teilt nichts mehr mit dem menschlich-allzumenschlichen des Herdentieres. Seit dem Zarathustra drängt sich in Nietzsches Reflexion über den Menschen verstärkt der Aspekt über die ›Menschen-Zukunft‹, die aber – so seine Befürchtung – von den ›Guten und Gerechten‹ zerstört werden könne. Hier zeigt sich eine ambivalente Konstruktion in Nietzsches Vision: Einerseits ist er ganz sicher, dass der Übermensch kommen wird, er muss kommen, sagt er beschwörend. Andererseits fürchtet er, dass dieser Prozess aufgehalten, gar zerstört werden kann. Damit würde es keine Wiederanknüpfung an die aristokratische ›Erhöhung des Typus Mensch‹ geben, vielmehr hätte die nihilistische Erniedrigung des Menschen durch Religion, Kultur und Moral final reüssiert. Dieser Prozess kann nur durch aktive Selbstüberwindung, durch ein aktives über sich hinaus Wachsen und Wollen, aufgehalten werden. In der Vorrede zu Also sprach Zarathustra lesen wir: »Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, um ihn zu überwinden?«3 Das Ziel der Menschheit, die als Ensemble betrachtet keines hat, liegt, wie es eine Passage aus der Frühschrift Vom Nutze und Nachtheil der Historie für das Leben ausführt, in ihren ›höchsten Exemplaren‹. Das impliziert freilich auch, dass zu deren vollkommener Lebensentfaltung und -steigerung die Menschheit geopfert werden darf. Für Nietzsche ist das ein Trost: 2 3

Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe (= KSA), hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Berlin/New York 1967-1977, Bd. 5, S. 277. KSA 4, S. 14.

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»Es ist mir ein Trost zu wissen, daß über dem Dampf und Schmutz der menschlichen Niederungen es eine höhere, hellere Menschheit gibt, die der Zahl nach eine sehr kleine sein wird (– denn alles, was hervorragt, ist seinem Wesen nach selten); man gehört zu ihr, nicht weil man begabter oder tugendhafter oder heroischer oder liebevoller wäre als die Menschen da unten, sondern – weil man kälter, heller, weitsichtiger, einsamer ist, weil man die Einsamkeit erträgt, vorzieht, fordert als Glück, Vorecht, ja Bedingung des Daseins…. Die Urwald-Vegetation ›Mensch‹ erscheint immer, wo der Kampf um die Macht am längsten geführt worden ist. Die großen Menschen.«4

Der zahme, mittelmäßige, der domestizierte Mensch verleugnet und verrät seine Instinkte, deshalb muss er überwunden werden. Ergo, so Nietzsche, muss die religiös moralische Ideologie überwunden werden, die den Menschen zähmt. In Nietzsches Semantik ausgedrückt: Gott ist der größte Einwand gegen das Leben. »Tot sind alle Götter: nun wollen wir, dass der Übermensch lebe« – dies sei einst am großen Mittag unser letzter Wille.«5 Am großen Mittag wird uns einst der Übermensch vom Nihilismus erlösen. In dieser Perspektive stattet Nietzsche den Übermenschen mit messianischeschatologischen Attributen aus: Er wird kommen und muss kommen, um den Sinn der Erde einzulösen, damit erlöst er sie und die Menschengattung. Der Antichrist ist der Heiland. Der erlösende Übermensch ist aber keine Figur, zu der sich der humane Mensch entwickeln kann. Vielmehr ist der kommende Erlöser von einer ganz anderen Art. Seine Botschaft ist an die großen Naturen gerichtet, die noch genug Chaos in sich tragen, um diesen »tanzenden Stern zu gebären«. Durch ihre Selbstentgrenzung könnte der Verlauf der Evolution transzendiert und der »Schaffende« als neuer Typus der Bejahung kreiert werden: Weil der Humanismus überwunden werden muss, ist der humane Mensch ein Übergangswesen. »Der Mensch ist an ein Seil geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde. Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches auf dem Wege, ein gefähr6 liches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben.«

Als das nicht ›festgestellte Tier‹ hat der humane Mensch Potenzen, die in seinem metaphysischen Korsett nicht ausgeschöpft werden konnten und verkümmert sind, deshalb ist der Mensch für zukünftige Entwicklungen offen und hat eine unbestimmte Anzahl von Entwicklungsperspektiven. Gerhard Gamm klassifiziert diese Offenheit des Menschen als ›Unbestimmtheit‹, für ihn das Signum des anthropologischen Diskurses der späten Moderne:

4 5 6

Friedrich Nietzsche: Werke, hg. v. Karl Schlechta, Berlin 1976, Bd. IV, S. 461f. KSA 4, S. 102 KSA 4, S. 16

DER UNBESTIMMTE MENSCH UND DER ÜBERMENSCH | 173 »Mit der Unbestimmtheit als Signatur unseres Zeitalters läuft ein Unwahrscheinlichwerden der menschlichen Dinge einher. Die in der Semantik unbestimmte Bestimmtheit ausgearbeiteten Teile, tragen nicht nur Bruchstücke zu einer Theorie residualer Subjektivität zusammen, sie legen auch dar, dass in der Unwahrscheinlichkeit und Unbestimmtheit des Menschen (und seiner Stellung in der Welt) negativ grundierte, ambivalente, melancholische und komödiantische Artikulationsmöglichkeiten liegen, sich gegen die anthropologischen Reduktionen des Naturalismus und Szientismus, aber auch gegen die Anthropopolitiken und Anthropotechniken zur Wehr zu setzen.«7

Nietzsches Übermensch als Übernatur folgt der höheren, bejahenden Moral, weil er anders wertet, fühlt und schätzt als das Subjekt der philosophischen Tradition. Durch seine tragische Lebenseinstellung hat er einen autarken Selbstbezug, mit dem er nicht melancholisch sein kann. Für ihn gibt es kein Ideal mehr, an dem gemessen er die Widrigkeiten des Lebensvollzugs defizitär erlebt oder klassifiziert. Sein Über steht für das Nichtmetaphysische und Antihumane und gibt damit keine Auskunft über Gamms Frage nach einer Ethik, »…die in der Unbestimmtheit des Menschen ihren Ausgang hat.«8 Nietzsches Übernatur ist aus Besonnenheit grausam und darin nicht nur asozial, sondern radikal anti-human und bereit, für sein großes Spiel die Gattung zu opfern. Für Nietzsche ist das sein Auftrag, weil nur so die kreativ schaffenden Potenzen des Übermenschen realisiert werden können. Nietzsche behauptet, er sei: »… völlig über die bisherige Tugend hinaus, h a r t aus Mitleid, – der Schaffende, der ohne S c h o n u n g seinen Marmor s c h l ä g t. – Das große Spiel zu spielen – die Existenz der Menschheit dransetzen, um vielleicht etwas Höheres zu erreichen als die Erhaltung der Gattung.«9

Diese entgrenzende, inhumane, höhere Moral des Übermenschen als erlösende Übernatur, wird nur dann verständlich, wenn man sie im Kontext von Nietzsches Konzeption des Willens zur Macht als ewige Wiederkehr des Gleichen begreift. Dass alles wiederkehrt, hat Nietzsche als ›Gipfel der Betrachtung‹ klassifiziert. Diese Betrachtung ist die höchstmögliche, kraftvollste Perspektive und sie ist synonym mit den Gesamtperspektiven der Bejahung. Zugleich ist sie aber auch die gefährlichste Einsicht und damit die eigentliche Prüfung für den Jasager. Denn nur der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen als Wille zur Macht, fasst die Dimension des tragischen Auftrags der Übernatur: Das Dasein in seinem tragischen und leidvollen Charakter nicht nur umfassend zu bejahen, sondern die Bejahung vielmehr in die Perspektive des noch einmal, vielleicht viele Male, gar unendlich viele Male zu stellen. Dieses noch einmal muss ernst genommen werden, weil es Nietzsches Imperativ für die höchste Weise des Handelns ist, eine, 7 8 9

G. Gamm: Der unbestimmte Mensch, S. 11. Ebd, S. 13. KSA 10, S. 372.

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die ausschließlich im Dienst des Willens zur Macht und seiner steigernden Kräfte steht. Der Imperativ der höheren Moral lautet: Handle immer so, dass du die Wiederkehr deiner Handlungen und die Wiederkehr der Konsequenzen, die mit ihnen verbunden sind, wollen kannst. Das bedeutet auch, dass der Akteur unendliche Male mit den Folgen seiner Handlungen konfrontiert werden kann. Der Imperativ des Handelns ist bei Nietzsche als Selbstverpflichtung vollständig dem starken Ich überantwortet, somit fordert er die starke Natur geradezu auf, keinerlei Rücksicht auf andere zu nehmen. Nicht zuletzt in ihrem Pathos der Distanz zu den Mediokren zeigt sich ihre Überlegenheit. Damit ist die Verpflichtung die das Ich übernimmt – entgegen der Sollensethik des kantischen Imperativs – nur der individuellen, autonomen Selbstgesetzgebung geschuldet. Der Imperativ des Übermenschen kann jetzt differenzierter reformuliert werden: Handle so, dass deine Handlungen die Potenz der Willen zur Macht stärken und dass du wollen kannst, dass deine Handlungen und deren Folgen unendliche Male wiederkehren. Eine differenzierte Betrachtung zeigt, dass auch Nietzsches elitäre Übermenschkonzeption den Bezug zur Allgemeinheit nicht vollständig abschneiden kann, weil jede potente Handlung mittelbar auch der Allgemeinheit zugute kommt, indem sie das Gesamtniveau der Lebensbejahung anhebt. Nietzsches Imperativ der höheren Moral hat gewollte Auswirkungen auf die Verankerung und Verbreitung bejahender Willen zur Macht Potenzen. Aus der Selbstverantwortung der Handelnden, die Wiederkehr ihrer Handlungen unendliche Male zu wollen, muss in pragmatischer Hinsicht folgen, dass man anderen nur das aufbürdet, was man selbst bereit ist zu ertragen. Für die pragmatische Handlungsorientierung in der Lebenswelt kann daraus folgen, dass man selbstdestruktive Handlungen vermeidet oder sie modifiziert, um nicht von ihren negativen Auswirkungen verschont zu werden. Nietzsche interessiert sich erklärtermaßen nicht für diese Relation, aber sie ist in seinem Imperativ autonomer Selbstgesetzgebung mittelbar angestimmt. Es handelt sich dabei nicht um eine reziproke Relation zwischen Akteur und den passiv Betroffenen. Nietzsche kann den egoistisch elitären Selbstbezug nicht so kreieren, dass die Masse davon vollkommen untangiert bleibt. Damit wird zwar von den Starken keine Verantwortung gegenüber der Masse eingenommen; aber ihr autarkes Handeln schließt im Strukturgeflecht der Willen zur Macht, in Nietzsches ›höherer‹ Moral, unabwendbar die Betroffenheit der Mediokren ein. Ich behaupte, dass die Autarkiekonzeption von Nietzsches Übermensch mit seiner Konzeption des Willens zur Macht unvereinbar ist. Hätte die autarke Übernatur einen stabilen Machtstatus und stünde außerhalb des Werde-Modus und der agonalen Struktur der Machtbezüge, wäre sie aus der Dynamik der Steigerung herausgetreten. In Nietzsches Übermenschkonzeption finden sich in verschiedenen Hinsichten widersprüchliche und sich widersprechende Aussagen. Ist er nun mutiertes Herdentier oder Übernatur? Zudem widerspricht es Nietzsches Klassifikation der Herdentiere, selbst wenn sie zu Umwertenden würden, dass sie Material für das Über in sich tragen können. Nietzsche konzipiert den Übermen-

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schen nicht als ein humanes Wesen, aber er bindet die Entfaltung seines Über an existierende Strukturen und Techniken: An die Bejahung des Willens zur Macht, an Autarkie, Leibvernunft, Erdverbundenheit. Diese Beispiele zeigen, dass Nietzsche gegenläufig zu seiner These vom Chaoscharakter der Welt, sie gleichwohl als eine hierarchisch strukturierte sieht. Vielleicht ist das der Grund, dass Nietzsches Übermensch einen Auftrag hat, er soll die unterdrückten Machtpotenziale freisetzen. Wird er damit aber nicht zu einem besonders verantwortungsvollen Menschen, einem Vorbild, Verkünder, Propheten, einem Führer? Er ist nicht nur der Befreier des Menschen, er ist auch der Befreier der Erde. Er scheint zu wissen, was Mensch und Erde entspricht. Er ist kein Kritiker wie der »freie Geist«, er steht jenseits von Gut und Böse und damit auch jenseits von Kritik. Dass er Verkünder und Erlöser ist, macht Nietzsches Übermensch Konzeption nicht zuletzt so fragwürdig. Wieso verfügt der Übermensch über ein Wissen, das mit Erlösung und Heilung gleichgesetzt werden kann? Warum kann Nietzsche Zarathustra verkünden lassen, der Übermensch sei der ›Sinn der Erde‹? Und weiter: »Ich will den Menschen den Sinn ihres Seins lehren; welcher ist der Übermensch, der Blitz aus der dunklen Wolke Mensch.«10 Sieht man von der metaphysikkritischen Ausrichtung der Botschaft ab, die man aus der Beschwörung der Erde treu zu bleiben, nicht nach dem Jenseits zu schielen, herauslesen kann, wird deutlich, dass Nietzsche hier mit einem Begriff von Weisheit operiert, der nicht aus den mundanen Erfahrungen abgeleitet werden kann: Sinn der Erde, Sinn des menschlichen Seins. Wer, wenn nicht ein Metaphysiker, oder ein Allwissender könnte sagen, was der Sinn der Erde, und was der Sinn des Seins ist? Warum argumentiert Nietzsche, wenn er sich programmatisch maximal von der abendländischen Metaphysik entfernt, an diesem Ort seiner Philosophie, die mit dem Topos Übermensch besetzt ist, in der Figur eines Offenbarungswissens über Erde und menschliches Sein? Will er mit »Sinn der Erde« ausdrücken, dass es kein Jenseits gibt, dann ist der Begriff Sinn unangemessen, weil er andere Bedeutungen umfasst. Nietzsche formuliert hier eine Forderung, die einen strebensethischen Auftrag an die Individuen richtet. Dem historisch und terminologisch belasteten Terminus Erdentreue widerspricht dann wieder diametral eine Stelle aus dem Nachlass der 80. Jahre: »… die Erde selbst wie jedes Gestirn ein Hiatus zwischen zwei Nichtsen, eine Ereignis ohne Plan, Vernunft, Wille, Selbstbewußtsein, die schlimmste Art des Notwendigen, die dumme Notwendigkeit…«11 Anders als in der Koppelung Erde und Sinn können wir diese Textstelle in einen Zusammenhang mit der schon erwähnten These vom Chaoscharakter der Welt setzen und werden darüber erneut mit Nietzsches eigentümlichem Oszillieren zwischen entschiedener Abgrenzung und affirmativer Übersteigerung von Denkfiguren philosophischer Begriffe und Topoi konfrontiert. Im Zarathustra 10 KSA 4, S. 14ff. und 23. 11 F. Nietzsche: Werke, Bd. III, S. 836.

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und in Nietzsches ambivalenter Semantik des Übermenschen ist der Gestus des Verkündens, des Offenbarens, der Apokalypse, ja sogar der des erlösenden Heilens, dominant und dominiert zuweilen auch den Text. Zarathustra als Lehrer und Verkünder hat Botschaften mit nebulöser, eschatologischer Semantik. Im Namen dieser ominösen Überfigur fordert Nietzsche die Selbstopferung der humanen Menschen. Aus dieser Perspektive bekommt der Topos Sinn der Erde eine neue Bedeutung: der Übermensch als Überwinder des Humanismus ist das Telos des Ensembles Menschheit und kann damit jedes Opfer rechtfertigen. Jetzt wird plausibel, was Nietzsche unter Sinn des Seins versteht; es ist der Übermensch, denn er kann die Potenzen der Erde von den Verneinungsideologien (Moral, Metaphysik, Religion) befreien und damit den Menschen erlösen. Diese beiden Aktionen müssen als eine begriffen werden, denn nur so können sie die Forderung nach Selbstopferung der Masse rechtfertigen. Für eine Erlösungsbotschaft also, die aber, anders als die christliche, nicht die Erlösung des Menschen im Jenseits, als Gnadenakt eines gerechten Gottes begreift, der über die Vergebung der Sünden die Auferstehung der Toten in Aussicht stellt. Sondern um einer menschenähnlichen Figur Leben einzuhauchen und sie herrschen zu lassen. Diese Figur darf die Ausrottung der Menschheit deshalb verlangen, weil ihr bejahendes Dasein dem Sinn der Erde und dem Sinn des Seins gerecht wird. Ist der Übermensch aber – noch einmal gefragt – eine Ausnahmenatur oder können wir Herdentiere uns auch zu ihm entwickeln? In Nietzsches Philosophie gibt es auf diese Frage keine eindeutige Antwort. Der autarke Selbstbezug von Nietzsches Übermensch kennt keinen Hiatus zwischen Ich und Nicht-Ich, Individualität und Sozialität. Eine Orientierung, gar eine Lösung für die Relation zwischen Ich und Nicht-Ich, ist das freilich nicht. In diesem Mangel ähnelt der Übermensch den populären künstlichen Überfiguren; den Cyborgs, Hybriden, den Untoten und Supermännern – von King Kong bis Lord Valdemort –, die zu Verkaufsschlagern der Massenmedien geworden sind. Sie haben übermenschliche Züge und es sind gerade ihre »Charaktereigenschaften« – Spider-Man behauptet »… with great power comes great responsibility« – die eine verblüffende Analogie zu Nietzsches Übermenschsemantik haben: Nur der Starke kann eine besondere Verantwortung übernehmen. Heute dienen diese Kunstfiguren als Identifikationsfolien und haben eine gewaltige kompensatorische Bedeutung für die allfällige und notwendige Affektabfuhr in der Lebenswelt. Virtuell befriedigen diese Kunstfiguren die libidinösen Bedürfnisse einer Spezies, die ich Haustiere nenne, und kalmieren damit ihre aggressiven Affekte. Wie Nietzsches Übermensch kennen auch die Klone keine zweckrationale Moral. Vielmehr agieren sie in einem rechtsfreien Raum oder folgen dem Recht des Stärkeren und des Klügeren. Ihr individuelles Gesetz ist die unbedingte Aktion, und sie müssen sich nur am Ergebnis ihres Aktionismus messen lassen. Die Spezies der Haustiere, die sich transnational, transindividuell und transsexuell ins Internet installiert hat, und die in fiktiven Räumen, ortlos miteinander kommuniziert ist zum Appendix ihrer Netzanschlüsse und Konfigurationen geworden. Die Haustiere organisieren

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sich Nahrung, Beziehungen, Kommunikation, Lust, »Lüstchen« und Leid über die Maschine und holen sich so frei Haus die Welt heim. Diese Haustiere als Resonanzkörper der Supermänner können als lineare, degenerative Weiterentwicklung der »Herdentiere«, der alten Antipoden von Nietzsches Übermensch, angesehen werden. Das gezähmte Tier Mensch hat damit wohl seine vorläufige Vollendung erreicht. Als Menschentier durch die Moral dressiert zu versprechen, wurde es Herdentier und damit präpariert, sich nun vollständig domestizieren zu lassen. Das gelang nicht zuletzt deshalb, weil das Haustier keine Träume und Bedürfnisse mehr zu haben scheint, die musste es sich als Herdentier über viele Jahrhunderte durch schmerzhafte und langwierige Prozeduren abtrainieren. Und nun kann es seine Bedürfnisse, draußen in der realen Welt – außerhalb seiner maschinellen Behaustheit – kaum noch artikulieren und einlösen. So lebt das Haustier im Zoo maschineller Überwachung und Versorgung, und je besser die Maschine seine Bedürfnisse befriedigt und seine Ängste beruhigt, um so abhängiger ist es von ihr; freiwillig und gerne! Was jetzt an (Weiter-)Entwicklung noch aussteht, ist der Roboter, der als Leibloser nicht mehr zu verletzen ist, der keine Last der Träume und Sehnsüchte und der Erinnerungen mehr kennt und dennoch herrschen und beherrschen kann. Paul Virilio fasst diese Entwicklung in die provokante These: »›Es gibt keinen Sex mehr, die Angst hat ihn ersetzt.‹ Die Angst vor dem Anderen, dem Ungleichen hat über die sexuelle Anziehung obsiegt. Nach dem Kampf gegen die Schwerkraft der Körper, den Forschungsarbeiten über die Techniken des Schwebezustandes und der Schwerelosigkeit beginnt nun ein analoger Kampf gegen die universelle Anziehung, die der menschlichen Gattung das Überleben sichert: Gentechnologie, künstliche Befruchtung usw., und für diese lebensfeindliche Versuchung gibt es zahlreiche Beispiele […] Neben den unterschiedlichen ›widernatürlichen‹ Perversionen zeichnen sich hier also andere alternative Liebespraktiken ab, andere komplexe Diversionen, die nicht mehr »tierischer‹ oder zoophiler, sondern ›maschineller‹ und offen ›technophiler‹ Natur sind [...] ›Es handelt sich […] um die Niederlage der Tatsache des Liebemachens hier und jetzt zugunsten einer maschinellen Täuschung, […] wobei das Liebesspiel und das Spiel des Zufalls zu einem gewöhnlichen Gesellschaftsspiel werden, zu einer Art virtuellem Kasino«12

Die Kybernetik, so Virilio, opfere die Menschengattung in ihrer geschlechtlichen Fortpflanzungsfunktion und verwirkliche dabei virtuell die »Metaphysik der Liebe«. Damit wäre gleichsam eine Vision Nietzsches, die er an die Herrschaft der Übermenschen bindet, erfüllt: Folgt man Virilios Szenario, dann sind wir als Gattungswesen schon untergegangen, nicht zuletzt weil unser Fortpflanzungsauftrag vom Labor übernommen werden kann. Wir haben es nicht gemerkt, weil wir uns kompensatorisch in virtuelle Realitäten flüchten, in denen es keine Furcht vor

12 Paul Virilio: Fluchtgeschwindigkeit, Frankfurt/Main 2001, S. 156f

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Ansteckungen gibt und keine Gefahr von Verletzungen. Mit Nietzsche könnte man sagen, dass die Triebunterdrückung durch die technologische Entwicklung so intensiviert und perfektioniert wurde, dass die Haustiere – auch ohne metaphysische Hoffnung auf Erlösung –, bereit sind, für ihre maschinelle Triebbefriedigung freiwillig ihren Leib zu opfern. Eine andere, gleichsam kybernetisch weniger radikale Zukunftsvision, auf die sich auch Gamm bezieht, ist der Prototyp eines menschlichen Wesens, das bestückt ist mit neuronalen Implantaten und Suchmaschinen. Ob dieses Mischwesen keine Ängste mehr haben und ob es weniger verletzlich sein wird, ist beim heutigen Stand der Wissenschaft noch nicht zu entscheiden. Damit wir unsere intellektuelle Überlegenheit gegenüber diesem Mischwesen hinsichtlich seiner natürlichen und seiner künstlichen Komponenten bewahren und behaupten können, rekurriert Gamm auf Fichtes produktive Einbildungskraft.13Mit Fichte hat sich Nietzsche nicht intensiv auseinandergesetzt. In seinen veröffentlichten Schriften findet sich eine erste Erwähnung, im zweiten Band von MenschlichesAllzumenschliches, im Aphorismus 216, der sich mit der »deutschen Tugend« beschäftigt. Am Ende des 18. Jahrhunderts, so Nietzsche, habe ein »Strom moralischer Erweckung« Europa überflutet, der seine Quellen in der Philosophie Rousseaus und in der »Wiederauferstehung des stoisch – großen Römertums« hatte. In diese Tradition stellt er auch den »Moralismus« Kants, Schillers, Fichtes und Schleiermachers. »Damals gewöhnte man sich daran zu verlangen, daß beim Worte »deutsch« auch noch so nebenbei die Tugend mitverstanden werde; und bis auf den heutigen Tag hat man es noch nicht völlig verlernt.«14 Auf Fichtes produktive Einbildungskraft zur Rettung unserer Fantasie und unserer Imagination hätte sich Nietzsche angesichts einer Bedrohung durch Kybernetik und Cyberspace also nicht verlassen können. Als Bürger des 19. Jahrhunderts reicht seine visionäre Kraft nur soweit, zu erkennen, dass durch die Revolutionierung der Verkehrsmittel im 20. Jahrhundert die Bedeutung der Technik für menschliches Dasein sich bedrohlich steigern wird. Nicht imaginieren konnte er, dass im 20. Jahrhundert eine revolutionäre Veränderung der Übertragungstechniken stattfinden wird, die aus seinen Herdentieren Haustiere gemacht hat. Diese letzten Menschen, die noch keine Mischwesen sind, blinzeln aber nicht, wie es sich Nietzsche für die Spezies der bewusster gewordenen Herdentiere vor13 »Was, nach allem was man hört und liest, noch immer anders oder spezifisch ist für die sprachlich – natürliche Intelligenz und Kompetenz von Menschen und genauer: welche Rolle die produktive Einbildungskraft, die Imagination, dabei spielt, insbesondere in der Gestalt, wie sie – von Fichte expliziert – für den philosophischen Diskurs der Moderne Hintergrund, das Interesse aber ist ein systematisches: was können wir lernen über die Einheit und Differenz zwischen den, wie es bei Fichte heißt, »endlichen, vernünftigen Naturen« auf der einen Seite und den algorithmisch operierenden Automaten auf der anderen Seitebedeutsam geworden ist. Fichtes Überlegungen zur (produktiven) Einbildungskraft stehen im Hintergrund, das Interesse ist ein systematisches.« G. Gamm: Der unbestimmte Mensch, S. 119 14 F. Nietzsche: Werke, Bd. I, S. 965.

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stellte: Denn die Herdentiere sind nicht bewusster geworden, sondern zu Haustieren degeneriert und können weder gestisch noch mimisch dokumentieren, dass sie auf den »alten Zauber« von Religion, Metaphysik und Moral nicht mehr hereinfallen. Vielmehr scheint es so zu sein, dass sie sich willenlos dem Diktat eines maschinellen Zaubers unterworfen haben, den sie weder durchschauen, noch kontrollieren und schon gar nicht beherrschen können. Diese Gefahr sieht auch Gamm: » … dieses Problem der Unterscheidung und Vermischung von Künstlichem und Natürlichem, Technischem und Lebendigen, Automatenhaftem … wirft nicht nur die Frage auf, wie die Entstehung, Erschaffung und Vermehrung einer Welt von Mischwesen, von Cyborgs und Hybriden, von Mensch/Maschine-Verbindungen, von Natur/Kultur – Gemengelage, von Verkoppelungen zwischen Bioethik und Elektronik verstanden und beschrieben werden können, mehr noch, welche Möglichkeiten bleiben, auf diese durch Wissenschaft und Technik geänderter Welt zu reagieren.«15

Unabhängig davon, welches der Zukunftsszenarien sich einst realisieren wird, bleibt fraglich, ob die nachfolgenden Generationen noch über die mentalen Potenzen verfügen und den gesellschaftlich geschützten Freiraum haben werden, um zu reagieren. Angesichts des profitabhängigen Forschungsinteresses muss eine pessimistische, kulturwissenschaftliche Prognose bezweifeln, dass den Mischwesen, als nicht festgestellten Tieren, dieser Raum für Kritik und kritische Einwände erhalten bleibt, in dem sie sich sowohl öffentlichkeitswirksam als auch effizient artikulieren können. Nietzsches Vision des Übermenschen, bleibt eine kryptische Figur in seinem Denken. Als postmetaphysisches Telos seiner Philosophie füllt der Übermensch die Leerstelle aus, die sich nach dem Tod Gottes aufgetan hat. Damit wird die gottlos gewordene Leerstelle der Ewigkeit, durch die ewige Wiederkehr des Gleichen, die der Übermensch bejaht, neu besetzt. Für eine Ethik der Unbestimmtheit des Menschen liefert Nietzsches Übermensch keinen relevanten Beitrag, weil er für Stärke und Autarkie steht und keine Konzeption ist, die einer zukünftigen Entwicklung des Humanismus zuarbeitet. Ich glaube, dass Nietzsche als sensibler Visionär und Kritiker zukünftiger kultureller Entwicklungen, mit dem Übermenschen einen provokanten Einspruch 15 Ebd, S. 12. Hierzu nocheinmal Paul Virilio: »Gegenwärtig bereitet man hinter den verschlossenen Türen der Labors die Revolution der Transplantationstechniken vor bei der es nicht mehr nur um die Transplantation von Leber, Nieren, Herz oder Lungen geht, sondern um die Implantierung neuer Stimulatoren, die sehr Fehlleistung stärker sind als Herzschrittmacher. Es geht um die bevorstehende Transplantation von Mikro-Motoren wieder zu in der Lage sind, die fehlerhafte Funktionsweise des einen oder anderen natürlichen Organs zu ersetzen und bei vollkommen gesunden Personen sogar das vitale Leistungsvermögen des einen oder anderen physiologischen Systems mithilfe von unmittelbar aus der Ferne abfragbaren Detektoren zu verbessern.« (P. Virilio, Fluchtgeschwindigkeit, S. 75).

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gegen die fortschreitende Dekadenz formuliert hat. Dieser stellt er die höhere Moral der leiblich Starken entgegen. Sie kann weder auf Herdentiere noch auf Haustiere appliziert werden. Jedoch, die Klone und Supermänner aller Länder und Kulturen haben keine Befreiung der unterdrückten Potenziale des Menschen bewirkt, sondern bis auf weiteres nur ihre stetige Domestizierung.

Homo absconditus. Das Subjekt als Projekt und offene Frage 1 REINHARD HEIL

»Die Frage nach einer möglichen Erbsubstanz überlebt die dilettantischen Theorien aus der Zeit der letzten Jahrhundertwende und die verbrecherische Praxis des Dritten Reiches. Ja, man kann sagen, daß der Gedanke der Planung durch die Entwicklung der wissenschaftlichen Genetik nun erst unausweichlich zu werden beginnt. [...] In ein, zwei Dezennien wird es der schöpferische Eingriff in das Leben selbst sein, der die Politik zu Entscheidungen zwingt.«2

Helmuth Plessner war mit diesen einführend zitierten Gedanken von 1962 nicht der Einzige, den die künftige technologische Planbarkeit des Menschen schon früh zu theoretischen Überlegungen veranlasste. Seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts wird – hauptsächlich in der Biologie und in der sich auf sie berufenden Eugenik – verstärkt die Frage nach der Zukunft des Menschen gestellt, eine Frage, die nach der Entdeckung der Struktur der DNA 1953 durch Watson/Crick weiter an Bedeutung gewann. Das Human Genome Project löste dann Ende des 20. Jahrhunderts eine weitere Welle von Diskussionen aus. Das Klonschaf Dolly3 erblickte 1996 das Licht der Welt. Im neuen Jahrtausend wurde die Genhysterie dann von der Neurohysterie abgelöst. Egal, welche Zeitung oder Zeitschrift man heute aufschlägt: Die Bilder und Thesen der Neurowissenschaf1 2 3

Für Hinweise und Kommentare danke ich Christopher Coenen, Andreas Hetzel, Heike Kämpf und Annette Ripper. Helmuth Plessner: Die Emanzipation der Macht (1962), in: ders.: Gesammelte Schriften V, Frankfurt/Main 1983, S. 259-282, hier: 271f. Vgl. Ian Wilmut/Keith Campell/Colin Tudge (Hg.): Dolly – Der Aufbruch ins biotechnische Zeitalter, Darmstadt 2001.

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ten sind allgegenwärtig. Fast amüsiert kann man mitverfolgen, wie wieder mal der »freie« Wille zu Grabe getragen wird, ohne dass darauf hingewiesen würde, dass man dessen Leichnam dazu vorher exhumieren musste. Autoren wie Jürgen Habermas4 und Francis Fukuyama5 sehen mit jedem weiteren Schritt zur naturwissenschaftlich-technischen Verfügbarmachung des Menschen das Abendland aufs Neue untergehen und machen mobil gegen Menschenparks6 und Transhumanismus7. Philosophie und Sozialwissenschaften sehen sich ihrer Legitimität beraubt, da letzte Wahrheiten über den Menschen nun von den Neurowissenschaften und der Gentechnik verkündet werden. Wir scheinen nicht nur im informationstechnologischen Zeitalter, sondern auch im Zeitalter der Biotechnologie zu leben.

1. Der Begriff »Der Mensch« oder auch »Die Menschheit« ist ein hart umkämpftes Terrain und es ist von nicht geringer praktischer Bedeutung, wer auf diesem Schlachtfeld die Hegemonie erringt. »Wir haben die Gefahren einer Ideologie erlebt, welche den Menschen rein biologisch definieren wollte. Andere Ideologien, die ihn anders definieren, aber genau so festlegen, werden ebenso verhängnisvoll sein. Eine Erkenntnis, welche die offenen Möglichkeiten im und zum Sein des Menschen, im Großen wie im Kleinen eines jeden einzelnen Lebens verschüttet, ist nicht nur falsch, sondern zerstört den Atem ihres Objekts: seine menschliche Würde. Der homo absconditus, der unergründliche Mensch, ist die ständig jeder theoretischen Festlegung sich entziehende Macht seiner Freiheit, die alle Fesseln sprengt, die Einseitigkeiten der Spezialwissenschaften ebenso wie die Einseitigkeiten der Gesellschaft.«8

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Vgl. Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 4. erw. Aufl. Frankfurt/Main 2002. Vgl. Francis Fukuyama: Das Ende des Menschen, Stuttgart 22002. Nennen bietet eine detaillierte Rekonstruktion der Sloterdijkdebatte. Vgl. HeinzUlrich Nennen: Philosophie in Echtzeit. Die Sloterdijk-Debatte: Chronik einer Inszenierung, Würzburg 2003. Vgl. zum Transhumanismus: Reinhard Heil: »Trans- und Posthumanismus – Begriffsbestimmung«, in: A. Hilt/A. Frewer/I. Jordan (Hg.): Endlichkeit, Medizin und Unsterblichkeit: Geschichte – Theorie – Ethik, Reihe Medizin und Menschenrechte, Bd. 1, Göttingen 2008; Reinhard Heil: »Transhumanismus, Nanotechnologie und der Traum von Unsterblichkeit«, in: Arianna Ferrari/Stefan Gammel (Hg.): Visionen der Nanotechnologie – Zur (Selbst-)Fiktionalisierung der Wissenschaft, in Vorbereitung. H. Plessner: Über einige Motive der Philosophischen Anthropologie (1956), in: ders.: Gesammelte Schriften VIII, Frankfurt/Main 1983, S. 117-135, hier: 134.

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Gerhard Gamm spricht im Anschluss an Plessner, Fichte und Hegel von der »Unausdeutbarkeit des menschlichen Selbst«9. Die prinzipielle Unausdeutbarkeit des Menschen leitet sein gesamtes Denken. Obwohl gerade diese Unausdeutbarkeit die wesensmäßige Bestimmung des Menschen eigentlich unmöglich macht, lädt sie doch zu beliebigen Wesensbestimmungen (Feststellungen) ein. Unsicherheit ist dem Menschen ein Gräuel; wird er dann auch noch in die Verantwortung gestellt und soll verantworten, was sich nicht verantworten lässt, bietet sich die Flucht in die Renaturalisierung des Menschen an. Die einen naturalisieren, um mit der Rückbindung an die unverfügbare Natur des Menschen, beispielsweise in der Form der »ursprünglich betroffene[n] Selbstgegebenheit«, dessen Würde zu retten, die anderen folgen dem klassischen naturwissenschaftlichen Naturalismus10. Beide Strategien, die nostalgische, wie die szientifische, verfehlen dabei den Status des Subjekts. »Das Schwerwiegendste scheint auf der einen wie auf der anderen Seite ihre Vermittlungsvergessenheit zu sein. Die Ein- oder Rückbettung menschlicher Natur – sei es der inneren, sei es der äußeren – in den Naturzusammenhang nimmt eine Denkfigur in Anspruch, die vorkritisch ist, sie spricht offen oder verdeckt im Namen eines Totums: der ›Gattung‹, der ›Generationenfolge‹ usf. Die Endlichkeit des Menschen wird als Teilsein einer naturalen Größe gedacht. Sie erlaubt es nicht, die schlechte Unendlichkeit der Natur, das heißt ihren relativen Unfreiheitszusammenhang, auf ein Allgemeines hin zu transzendieren, welches in intersubjektiven Anerkennungsprozessen erst geschaffen/erhandelt werden muss.«11

Zu den szientifischen Naturalisten zählen viele Neurowissenschaftlicher und Biologen, Gamm nennt explizit Hubert Markl, während er unter anderem die Leibphänomenologen (Gernot Böhme) zu den nostalgischen Naturalisten zählt. Gegen die diagnostizierte Vermittlungsvergessenheit führt Gamm die dialektische Figur eines sich je immer schon selbst entzogenen und sich in intersubjektiven Vermittlungsprozessen konstituierenden Subjekts ins Feld. »Was im Prinzip gegen die Möglichkeit einer vollständigen bio-technischen Programmierung spricht, ist dies Moment des Selbstentzugs oder der Selbstverrückung in jeder Setzung, das radikal unbestimmbare x, das in seiner für uns abgedunkelten Es-Funktion alles Wissen und Können in ein Unverständliches taucht und aus eben diesem Grunde sich jeder objektivierbaren Praxis entzieht. Alles Wissen ist im Grunde codierbar, das Nichtwissen (in seinen unterschiedlichen Formen) ist es nicht. Dass wir auf den ver-

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Gerhard Gamm: Der unbestimmte Mensch. Zur medialen Konstruktion von Subjektivität, Berlin/Wien 2004, S. 11. 10 G. Gamm: »›Aus der Mitte denken‹ – Die ›Natur des Menschen‹ im Spiegel der Bio- und Informationstechnologien«, in: ders.: Der unbestimmte Mensch. Zur medialen Konstruktion von Subjektivität, Berlin/Wien 2004, S. 15-39. 11 Ebd., S. 21.

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schiedenen Ebenen nicht durch uns selbst, sondern immer auch durch (etwas) Vorausliegendes mitgesetzt sind, ist nur ein anderer Ausdruck für diesen Sachverhalt.«12

Diese Art des Denkens, welches sich nicht am »Gängelwagen der Prädikation« (Gamm) bewegt, steht quer zu unserem Alltagsverständnis. Es geht Gamm bei dieser Abwehr der biologischen Naturalisierung nicht darum, einen wie auch immer gearteten, unvermittelten Selbst-, Leib- oder Körperbezug an ihre Stelle zu setzen, sondern darum, deutlich zu machen, dass das Subjekt sich immer entzogen bleibt, sich gleichzeitig vor- und nachläuft, es mit Plessner gesprochen exzentrisch ist. Gerade dieses seltsame Welt- und Selbstverhältnis des Menschen erzwingt zu seiner Beschreibung paradoxe sprachliche Figuren. Das unbestimmbare X, welches den Menschen zum Menschen macht, ist keine positive Eigenschaft, nichts, das sich messen ließe; es ist aber genauso wenig irgendeine vitalistische Kraft, sondern ein »Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält« (Kierkegaard), letztendlich eine Identität erzeugende Nichtidentität. Die Annahme, dass der Mensch sich nicht feststellen lässt und für das, was er tut, selbst verantwortlich ist und diese Verantwortung nicht an andere Instanzen (Natur/Gott) abgeben kann, hat Vorläufer im christlichen Humanismus der Renaissance. Pico de la Mirandola (1463-1494) schreibt in Die Würde des Menschen: »Daher ließ sich Gott den Menschen gefallen als ein Geschöpf, das kein deutlich unterscheidbares Bild besitzt, stellte ihn in die Mitte der Welt und sprach zu ihm: »Wir haben dir keinen bestimmten Wohnsitz, noch ein eigenes Gesicht, noch irgendeine besondere Gabe verliehen, o Adam, damit du jeden beliebigen Wohnsitz, jedes beliebige Gesicht und alle Gaben, die du dir sicher wünschst, auch nach deinem Willen und nach deiner eigenen Meinung haben und besitzen mögest. Den übrigen Wesen ist ihre Natur durch die von uns vorgeschriebenen Gesetze bestimmt und wird dadurch in Schranken gehalten. Du bist durch keinerlei unüberwindliche Schranken gehalten, sondern du sollst nach deinem eigenen freien Willen, in dessen Hand ich dein Geschick gelegt habe, sogar jene Natur dir selbst vorherbestimmen. Ich habe dich in die Mitte der Welt gesetzt, damit du von dort bequem um dich schaust, was es alles in der Welt gibt. Wir haben dich weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen, weder als einen Sterblichen, noch einen Unsterblichen geschaffen, damit du als dein eigener, vollkommen frei und ehrenhalber schaltender Bildhauer und Dichter dir selbst die Form bestimmst, in der du zu leben wünschst. Es steht dir frei, in die Unterwelt des Viehes zu entarten. Es steht dir ebenso frei, in die höhere Welt des Göttlichen dich durch den Entschluß deines eigenen Geistes zu erheben.«13

12 Ebd., S. 27. 13 Giovanni Pico della Mirandola: Die Würde des Menschen, 2. Aufl. Fribourg/Frankfurt/Main/Wien o.J., S. 52f.

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Mirandola beruft sich im Anschluss an diese oft zitierte Passage auf den Psalm 82,6 »Wohl habe ich gesagt: Ihr seid Götter / und allzumal Söhne des Höchsten«14. Man kann Mirandola als einen frühen Vorläufer der Idee des nicht festgestellten Subjekts fassen, insofern er den Menschen aus der Kette des Seins befreite. Er kannte aber sehr wohl noch eine Mitte, nämlich Gott und den mit dem christlichen Glauben verbundenen Ordo, der dem Menschen seinen Platz in der Welt anweist. Auch handelt es sich bei der schrankenlosen Natur Mirandolas nicht um Biologie, sondern um Moral. Noch ist die Mitte nicht überall, die Erde nicht losgekettet von der Sonne (Nietzsche), die Auflösung des Kosmos als fest gefügtem Ganzen nicht vollzogen. Erst mit Hegel findet die Bewegung der Desubstanzialisierung auch der Substanz ihren nie wieder erreichten Höhepunkt: Der Kosmos verliert seine Konsistenz, der Glaube an die Hinterwelten (Nietzsche) scheint bezwungen. Doch steht das Denken der Dialektik15 quer zum Alltagsdenken, obschon es gerade aus diesem Denken abgeleitet wird. Die von Gamm ins Feld geführte prinzipielle Unbestimmbarkeit des Menschen darf nicht als positive Eigenschaft missverstanden werden: Sie ist in ihrer vollständigen Negativität vielmehr überhaupt erst die Bedingung der Möglichkeit von Eigenschaften (s.u.).

2. Helmuth Plessner hat in seinem Werk immer wieder die Exzentrizität16 des Menschen hervorgehoben und – in Anlehnung an den protestantischen Gottesbegriff – den Menschen als homo absconditus »bestimmt«. 1937 diagnostizierte er: »Ein neuer sozialer Zustand drängt ans Licht. In der Auflösung einer von Christentum und Antike bestimmten Welt stellt sich der Mensch, nun völlig von Gott verlassen, gegen die Drohung, in der Tierheit zu versinken, erneut die Frage nach Wesen und Ziel des Menschseins.«17

14 Ego dixi, die estis et filii excelsis omnes. Mirandola zitiert nur die Hälfte des Verses, er lässt das »aber ihr werdet sterben wie Menschen/und wie ein Tyrann zugrunde gehen« weg. Die Interpretation dieser Bibelstelle ist umstritten. Sie wird in Joh 10,34 wieder aufgenommen: »Jesus antwortet ihnen: Steht nicht geschrieben in eurem Gesetz: ›Ich habe gesagt: Ihr seid Götter‹?«. 15 Vgl. zur Hegelschen Dialektik G. Gamm: Der Deutsche Idealismus – Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling. Stuttgart 1997, S. 77-178. 16 Vgl. zum Denken Plessners: Heike Kämpf: Helmuth Plessner – Eine Einführung, Düsseldorf 2001; Gerhard Gamm/Mathias Gutmann/Alexandra Manzei: Zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie – Zur Renaissance Helmuth Plessners im Kontext der modernen Lebenswissenschaften, Bielefeld 2005. 17 H. Plessner: »Die Aufgabe der Philosophischen Anthropologie (1937)«, in: ders.: Gesammelte Schriften VIII, Frankfurt/Main 1983, S. 33-51, hier: S. 35.

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Dieser neue soziale Zustand – der immer noch andauert – lässt sich nicht mehr sinnvoll mit den traditionellen (metaphysischen) Begrifflichkeiten fassen. Die Aufklärung und der damit verbundene Siegeszug der Naturwissenschaften zwingen dazu, den heute überstrapazierten Begriff der menschlichen Würde neu zu denken. »Dieser Würde kann sich der Mensch heute nicht mehr aus einer fraglosen Überlieferung heraus versichern. So ist ihm, wenn er den Zweifel an der erschütterten Überlieferung so ernst wie nur möglich nimmt, sein Menschsein als Tatsache und als Aufgabe zum Problem geworden. Und zwar, wenn wir recht sehen, in einem Umfang und einer Tiefe, die keine Steigerung mehr zulassen. Es handelt sich nicht mehr um Fragen, wie die Kreatur Gottes sündig werden konnte oder der endlich-sündige Mensch das Unendliche göttliche Wesen denken kann, oder ob und wie der Kausalgesetzen unterworfene Mensch gegen ihre Determination seine Freiheit behauptet. Es handelt sich um das Menschsein als solches und um das Recht zugleich seiner theoretischen Abgrenzung und praktischen Verbindlichkeit, um die Frage, was es bedeutet und wie es möglich ist: ein Mensch zu sein.«18

Menschsein ist keine Selbstverständlichkeit mehr, »Hominitas ist nicht mehr gleich Humanitas«19, die letzten natürlichen Grenzen sind gefallen und lassen sich nicht wieder aufrichten. Plessner beschreibt den Menschen als prinzipiell grenzenlos, aber dennoch beschränkt. Der Mensch wird beschränkt von der Sprache, seinen Sinnen, seiner Art des Denkens. Diese Schranken können zwar nicht überwunden werden, sie entziehen sich aber nicht der Reflexion, es lässt sich Einblick in sie gewinnen20. Gerade diese (beschränkte) Einblicksmöglichkeit erlaubt es, vom homo absconditus21 zu sprechen: »Die Verborgenheit des Menschen für sich selbst wie für seine Mitmenschen – homo absconditus – ist die Nachtseite seiner Weltoffenheit. Er kann sich nie ganz in seinen Taten erkennen – nur seinen Schatten, der ihm vorausläuft und hinter ihm zurückbleibt, 18 Ebd., S. 43. 19 H. Plessner: »Über einige Motive der Philosophischen Anthropologie«, S. 134. 20 Vgl. H. Plessner: »Homo absconditus«, in: ders.: Gesammelte Schriften VIII, Frankfurt/Main 1983, S. 353-366. 21 »Obwohl auch auf dieser Stufe das Lebewesen im Hier-Jetzt aufgeht, aus der Mitte lebt, so ist ihm doch die Zentralität seiner Existenz bewußt geworden. Es hat sich selbst, es weiß um sich, es ist sich selber bemerkbar und darin ist es Ich, der ›hinter sich‹ liegende Fluchtpunkt der eigenen Innerlichkeit, der jedem möglichen Vollzug des Lebens aus der eigenen Mitte entzogen den Zuschauer gegenüber dem Szenarium dieses Innenfeldes bildet, der nicht mehr objektivierbare, nicht mehr in Gegenstandsstellung zu rückende Subjektpol. Zu immer neuen Akten der Reflexion auf sich selber, zu einem regressus ad infinitum des Selbstbewußtseins ist auf dieser äußersten Stufe des Lebens der Grund gelegt und damit die Spaltung in Außenfeld, Innenfeld und Bewußtsein vollzogen.« (H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Gesammelte Schriften IV, Frankfurt/Main, S. 290.)

HOMO ABSCONDITUS | 187 einen Abdruck, einen Fingerzeig auf sich selbst. Deshalb hat er Geschichte. Er macht sie, und sie macht ihn. Sein Tun, zu dem er gezwungen ist, weil es ihm erst seine Lebensweise ermöglicht, verrät und verschleiert sich ihm in einem. Seine Geschichte hat keinen Anfang und kein Ende. Denn die Deutung der Ereignisse hängt nicht nur von irgendeiner Ausgangskonstellation ab, sondern ebenso sehr von ihren Wirkungen – offen zu unabsehbarer Zukunft.«22

Der Mensch steht für Plessner weiter im Zentrum und ist das Zentrum, doch ist dieses Zentrum selbst ex-zentrisch verfasst (mit Lacan gesprochen »ex-tim«); es ist eine sich selbst zersetzende Mitte, entzieht sich der positiven Bestimmung und wird immer gerade dann verfehlt, wenn man meint, es bestimmt zu haben. Eindringlich formuliert Plessner 1956 Fragen, deren Beantwortung heute immer drängender und gleichzeitig immer schwieriger wird: »Die wissenschaftliche Behandlung des Menschen wirft aber dadurch, daß sie ihn zu einem Gegenstand macht, über unsere Bedenken zu Anfang hinausgehende grundsätzliche Fragen auf, Fragen, die an das Verhältnis von Wirklichkeit und Selbstverantwortlichkeit oder, wenn man es anders formulieren will, an die Grenzen der Vergegenständlichung menschlichen Wesens rühren. Inwieweit ist der Mensch überhaupt gegenständlich zu machen? Erschließt er sich bis in seine letzten Falten wissenschaftlichen Erkenntnisbemühungen oder ist diese Objektivierung aus Gründen seiner Wesenseigentümlichkeit bzw. aus Gründen moralischer Art begrenzt? Selbsterkenntnis – wenn Erkenntnis in wissenschaftlicher Weise zustandekommen soll – bedeutet notwendig Selbstobjektivierung. Kann bzw. darf sie so weit vorangetrieben werden, daß dem Selbst damit sein Subjektcharakter verloren geht? Bedroht damit nicht die Erkenntnis jenes Element menschlicher Würde, ohne das er im Verhältnis zu seinen Mitmenschen wie zu sich selbst nicht auskommt: die Unnahbarkeit? Ertragen wir die Durchbrechung auch noch der letzten Schutzschicht, die uns vor uns selbst und vor dem Blick der Anderen verbirgt und bringt sie uns damit nicht um die letzte Sicherheit, das letzte Selbstvertrauen, ohne das wir nun einmal nicht zu leben vermögen? Gibt es nicht so etwas wie ein wohltätiges Dunkel, in dem wir für andere wie für uns selbst bleiben müssen? ›Doch rühre niemals an den Schlaf der Welt‹, hat Hebbel gesagt. Verstoßen wir nicht gegen die Weisheit des Schlafs, wenn wir uns rücksichtslos dem Richtstrahl der Erkenntnis aussetzen? Oder sorgt unsere eigene Wesensnatur selber dafür, daß ihr Kern im Dunkel bleibt? Ist uns die Verantwortung in diesem Punkt abgenommen?«23

Gerade die abschließende Bemerkung ist interessant. Bestimmt man das Subjekt (und mit ihm den Menschen) als prinzipiell unbestimmbar, so könnte man – dieser Schluss drängt sich auf – auf die von der Biotechnologie und anderen Wissenschaften aufgeworfenen Herausforderungen ganz gelassen reagieren: Ihre Bestimmungs- und Festschreibungsversuche wären damit aufgrund der sich aller wesensmäßigen Bestimmung entziehenden Wesensnatur des Menschen von vor22 Ebd., S. 359f. 23 H. Plessner: »Über einige Motive«, S. 128f.

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neherein zum Scheitern verurteilt. Alle Festlegungen des Subjekts werden von diesem subvertiert. Das trifft zwar zu, die Reduktion gelingt niemals vollständig, der unbestimmbare Anteil des Subjekts entzieht sich der Anrufung. Aber um welchen Preis?

3. Gerade aus der vollständigen Freistellung des Menschen haben beispielsweise Evolutionstheoretiker wie Julian Sorell Huxley, John Burdon Sanderson Haldane, Joseph Muller, aber auch der Jesuit Teilhard de Chardin schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Pflicht des Menschen zur Übernahme seiner eigenen, zukünftigen Evolution abgeleitet. Gerade aus der Unverfügbarkeit dessen, was den Menschen zum Menschen macht, folgt für diese Theoretiker seine vollständige Verfügbarkeit. Julian Huxley schreibt: »It is as if man had been suddenly appointed managing director of the biggest business of all, the business of evolution – appointed without being asked if he wanted it, and without proper warning and preparation. What is more, he can’t refuse the job. Whether he wants to or not, whether he is conscious of what he is doing or not, he is in point of fact determining the future direction of evolution on this earth. That is his inescapable destiny, and the sooner he realizes it and starts believing in it, the better for all concerned.«24

Es handelt sich hierbei um eine Position, die von Gamm vehement kritisiert wird, da hier gerade das der Kontrolle unterworfen wird – meist im Namen der Gattung –, was unverfügbar ist: die menschliche Würde. Wenn uns die Natur nicht vorgibt, was ein Mensch ist, dann stellte sich aufs Neue die Frage: Wer ist Mensch? Und: Wer kann diese Würde zu- oder absprechen? Für Gamm verfehlt bereits die Frage das, worum es geht. Mensch-Sein konzeptualisiert er nicht als ein zu- oder absprechbares Prädikat. »Es [das Mensch-Sein, RH] gehört gleichsam zur ursprünglichen Normalausstattung dieses Wesens. Weder einem unumschränkten Monarchen noch Gott und schon gar nicht einem sozialen Kollektiv oder einer Kultur (die es als eine gar nicht gibt) steht es zu, über die Vergabe dieses Status’ oder Titels zu verfügen. Des Menschen unveräußerliche Würde besteht ja gerade darin, niemanden zu gehören (vielleicht nicht einmal sich selbst). Autonomie ist der Begriff, der genau daran erinnert. Selbstbestimmung heißt nicht Selbstbesitz, bedeutet nicht, wie es heute vielfach verstanden wird, ganz und nach Belieben über sich selbst verfügen zu können. Das hat wesentlich damit zu tun, dass

24 Julian Huxley: »Transhumanism«, in: ders.: New Bottles for New Wine. Essays by Julian Huxley, London o.J., S. 13-17, hier: S. 13f.

HOMO ABSCONDITUS | 189 Subjektivität nicht in etwas eingeschlossen werden kann, was man ›hat‹. Zu- oder absprechen kann man Prädikate, die man hat oder nicht, die zutreffen oder nicht.«25

Für Gamm ist von entscheidender Bedeutung, dass die Menschenwürde »kein von sozialer Zurechnung abhängiger Begriff«26 ist. Seine Semantik lässt sich nicht auf seinen Gebrauch und seine Geltung nicht auf seine Genese zurückführen. Gamm sieht deutlich, dass gerade die Ablehnung jeglicher substantialistischer Definition des Menschen, also auch seine eigene Philosophie, dem Relativismus scheinbar Tür und Tor öffnet. Menschliche Würde als ein Produkt der kulturellen Evolution zu begreifen, so Gamm, verfehlt aber das mit diesem Begriff zusammenhängende konstitutive Moment: Der Begriff der menschlichen Würde ist für ihn eine transzendentale Bedingung dafür, dass wir überhaupt in der Lage sind »ein System selbstbestimmter symbolischer Repräsentationen für unser Selbst- und Weltverhältnis zu entwickeln und auszubreiten«27. Sie gehört, ähnlich wie die Begriffe Verstehen und Sinn, zu den Bedingungen der Möglichkeit von Attribution. Anders gesagt: Nicht die kulturelle Evolution ist Ursache der menschlichen Würde, sondern die menschliche Würde ermöglicht überhaupt erst die kulturelle Evolution. Des Weiteren begreift Gamm die Menschenwürde nicht nur als Bedingung, sondern auch als Schranke: »Sie nennt den Grund dafür, hinter jeder Identifikation, jeder Verhaftung der Subjektivität in einem faktischen: ›So bin ich eben‹, ›So bist du‹, ›Der Embryo erwirbt den menschlichen Würdestatus mit der dritten, fünften, zehnten Woche nach der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle‹, ein Fragezeichen setzen zu müssen.«28

Das Moment der Unausdeutbarkeit der menschlichen Würde muss normativ verstanden werden. Gamm leitet aus ihr die Pflicht ab, nur solche Vorhaben zu verwirklichen, die »die Gewähr dafür bieten, dass Irrtümer revidiert werden können und die prinzipielle Unverfügbarkeit des beziehungsweise der anderen wie unserer selbst, die ja gerade die Ermöglichungsbedingung allen bestimmten [...] Sprechens und Handelns darstellt, gewährleistet bleibt«29. Er versteht Menschenwürde homolog zu Verstehen, Sinn und Gerechtigkeit als einen Begriff, dessen normative Verbindlichkeit man je immer schon voraussetzen muss, wenn man ihn verstehen möchte. Sprechen wir von Menschwürde, so setzen wir diesen Begriff voraus. Damit benennt die Menschenwürde »die intersubjektiv geteilten Voraussetzungen, dass Personen überhaupt urteilen und handeln können und sich dafür

25 G. Gamm: »Der unbestimmte Mensch. Die gebrochene Mitte des Selbst als irreduzible Lücke im Sein«, in: ders.: Der unbestimmte Mensch, S. 40-62, hier: S. 57. 26 Ebd., S. 58. 27 Ebd., S. 59. 28 Ebd., S. 59f. 29 Ebd., S. 60.

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moralisch verantworten müssen«30. Die menschliche Würde, verstanden als »Unerreichbarkeit des Selbst« (ebd.), eröffnet überhaupt erst den Raum der praktischen Vernunft. In diesem Raum lässt sich laut Gamm eine Antwort auf die »zugleich objektivistischen und kulturrelativistischen Herausforderung[en]«31 der technischen Verfügbarmachung des Menschen formulieren. »Die gebrochene Mitte des Selbst, [...] verweis[t] auf eine irreduzible Lücke im Sein, die zwar unablässig nach technischen und symbolischen Auffüllungen [...] verlangt, sich aber nicht theoretisch schließen lässt. Die theoretisch anthropologische Frage erfährt ihre Aufklärung erst durch die praktische Vernunft. [...] Ich denke, dass die ethischen Fragen einzig in der Unausdeutbarkeit des Selbst ihren argumentativen Halt finden [...]. Ohne die exzentrische Offenheit des Menschen anzusetzen, ist keine Begründung der praktischen Vernunft möglich. Menschenwürde ist in diesem Zusammenhang somit der Begriff, der aufgrund seiner Unbestimmbarkeit und Vagheit gute Aufklärungs- und Orientierungsarbeit leistet.«32

Damit ist zwar der Begriff der Menschenwürde selbst dem Relativismus mehr oder weniger entzogen und erhält transzendentale Würde, aber es stellt sich weiterhin die Frage, inwiefern ein solcher Begriff von Würde sich gegen die vollständige Verfügbarmachung des menschlichen Körpers ins Feld führen lässt. Die von Gamm aufgestellte Schranke, dass nur solche Vorhaben verwirklicht werden dürfen, die revidierbar sind, erscheint nicht stark genug, da man dies meist erst nach Durchführung des Vorhabens wissen kann. Ob wir, wie von Habermas befürchtet, mit der Keimbahnmanipulation unser Menschsein bzw. das Menschsein der ersten genetisch veränderten Menschen, aufgeben oder nicht, lässt sich vorab nicht feststellen. Plessners Fragen (»Oder sorgt unsere eigene Wesensnatur selber dafür, daß ihr Kern im Dunkel bleibt? Ist uns die Verantwortung in diesem Punkt abgenommen?«) scheinen damit noch nicht beantwortet.

4. Slavoj Žižek beantwortet Plessners Frage nach der Verantwortung mit einem zögernden »ja« und kritisiert Positionen, wie sie beispielsweise von der katholischen Kirche (aber längst nicht nur von dieser) in Bezug auf das Klonen vertreten werden: »Das Argument der Gegner des Klonens lautet: Wir sollten es deshalb nicht tun, weil es nicht möglich ist, einen Menschen auf den Status einer positiven Entität zu reduzieren, 30 Ebd. 31 Ebd., S. 61. 32 Ebd., S. 61f.

HOMO ABSCONDITUS | 191 deren innerste psychische Eigenschaften man manipulieren kann. Ist dies nicht lediglich eine andere Variante von Wittgensteins ›Wovon man nicht sprechen kann, davon muß man schweigen‹? In diesem Verbot kommt die Furcht zum Ausdruck, daß die Ordnung der Vernunft in Wirklichkeit umgekehrt funktioniert, also die ontologische Unmöglichkeit auf der Ethik basiert. Wir müssen die Behauptung aufstellen, dass wir es nicht tun können, da wir es andernfalls womöglich sehr wohl tun würden und zwar mit katastrophalen ethischen Folgen.«33

Žižek fasst diese Argumentation knapp zusammen: »Die biogenetische Manipulation kann dem Kern der menschlichen Persönlichkeit nichts anhaben, und daher sollten wir sie verbieten«34. Es ist sehr schwer, dies wird weiter unten anhand der Argumentation von Jürgen Habermas noch verdeutlicht, von etwas am Menschen Unverfügbaren auszugehen und trotzdem an der Möglichkeit festzuhalten, dass die menschlichen Würde durch Eingriffe in das Genom verloren gehen könnte. Es lässt sich argumentieren, dass der Mensch, folgt er den Verheißungen der Biotechnologie, sich selbst als Biomat konzeptualisiert und damit seine Würde aufgibt. Nicht die Biotechnologie selbst wäre also das Problem, sondern das mit ihr zusammenhängende menschliche Selbstverständnis. Der Mensch wird zur Maschine, sobald er sich selbst als eine solche beschreibt. Allerdings ist diese Schlussfolgerung nur eine mögliche und keine notwendige: »Warum sollten wir die genetische Manipulation nicht gutheißen und zugleich darauf insistieren, daß Menschen freie verantwortliche Agenten sind, da wir ja den Vorbehalt akzeptieren, daß diese Manipulationen den Kern unserer Seele nicht affizieren?«35 Žižek verstärkt diesen Einwand noch entlang seiner Kritik von Habermas’ Überlegungen zur Gentechnik36. Seines Erachtens bekommt Habermas nicht in den Blick, dass seine Argumentation letztendlich auf folgendes hinausläuft: Entweder unser Genom determiniert uns vollständig, dann wäre jedes Verbot der Gentechnik nur ein Versuch, »an dem falschen Schein unserer Freiheit festzuhalten«, indem wir unser Wissen beschränken, um Platz für den Glauben zu schaffen. Oder unser Genom determiniert uns nicht völlig und jeder Grund zur Besorgnis entfällt.37 Mit dieser Kritik trifft er wohl den Kern der katholischen und auch der Habermasschen Argumentation, doch trifft sie auch auf die Position Gamms zu? Geht es Gamm und – wie zu zeigen sein wird, eingeschränkt auch Habermas – denn nicht eher um die Art und Weise (s.o.), wie das Subjekt sich selbst verortet? Für Habermas liegt das Problem der Akzeptanz der Gentechnik wohl weniger darin, dass sich letztendlich herausstellen könnte, dass wir unser Genom sind, 33 Slavoj Žižek: Liebe deinen Nächsten? Nein, danke! – Die Sackgassen des Sozialen in der Postmoderne, Berlin 1999, S. 251. 34 Ebd., S. 252 35 Ebd. 36 Vgl. J. Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. 37 Vgl, S. Žižek: Liebe deinen Nächsten?, S. 254.

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sondern darin, dass wir dann auch glauben, lediglich unser Genom zu sein und sich damit die Art und Weise, wie sich Subjekte zueinander verhalten, ändert; und zwar so, dass sie einander nicht mehr wechselseitig anerkennen könnten. Für Habermas ist es ein Unterschied ums Ganze, ob mein Genom Produkt des Zufalls ist, oder ob ein Mensch planend in es eingegriffen hat. Dieser Unterschied ist mit Sicherheit von einiger Relevanz, er wird aber von Habermas überstrapaziert, da sich aus dieser Annahme nicht notwendig der Verlust der Möglichkeit von Anerkennung ableiten lässt und außerdem bereits die theoretische Möglichkeit eines Eingriffs in das menschliche Genom (ohne dass ein solcher faktisch stattfinden muss – das Wissen38 darum reicht aus) die Koordinaten verschiebt. Gerade weil Habermas dies weiß, sieht er sich, um den Keimbahneingriff kritisieren zu können, gezwungen, den Pfad der Diskursethik zu verlassen, die, in der kantischen Tradition stehend, jenseits aller Gattungsbegriffe operiert. Er zieht sich auf eine gattungsethische Position zurück: Damit spricht er allerdings wieder für ein Totum, für die Gattung, und sieht sich dem – begründbaren – Verdacht der Naturalisierung ausgesetzt. Geht man nur den ersten Schritt seiner Argumentation mit – die durch die mit dem Eingriff in das Genom einhergehende Folgen für die Anerkennungsverhältnisse verbundene Gefährdung dessen, was den Menschen ausmacht, – so reduziert man die menschliche Würde letztendlich wieder auf ein Produkt der Kultur. Gerade diese Abhängigkeit des Begriffs menschlicher Würde vom kulturellen Umfeld hat Gamm aber als eine dem Begriff nicht gerecht werdende Definition ausgeschlossen (s.o.). Die menschliche Würde öffnet überhaupt erst den Raum, innerhalb dessen Menschen sich anerkennen können: Die Möglichkeit von Anerkennung setzt Anerkennung je immer schon voraus. Folgt man auch noch dem zweiten Schritt Habermas’, so sieht man sich gezwungen, im Namen eines Totums, der Gattung, zu argumentieren. Diese Strategie läuft letztendlich wieder auf die bereits kritisierte Naturalisierung des Menschen hinaus.39 Slavoj Žižek schlägt einen anderen argumentativen Weg ein: Für ihn steht außer Frage, dass wir den Weg der Aufklärung bis zu seinem Ende gehen müssen. Dem Hegelschen unendlichen Urteil »Der Geist ist ein Knochen« müsse »Du bist dein Genom« hinzugefügt werden. Nur auf diese Art und Weise tritt das Subjekt als das hervor, was es ist: reine Form. Das Akzeptieren des »Du bist dein

38 Žižek geht, ähnlich wie Plessner, davon aus, dass es unter den veränderten Bedingungen keinen Sinn mehr mache, die alten Begriffe von Würde, Mensch etc. zu verteidigen, sondern dass die eigentlich Aufgabe für die Philosophie darin liege, sie neu zu denken. Natürlich ist hier die Gefahr groß, dass man sich einfach der überwältigenden Macht des Faktischen beugt, aber Wissen, das einmal aus der Büchse der Pandora entkommen ist, lässt sich nur unter totalitären Bedingungen unterdrücken. Wissen verwandelt oft Fatum in Risiko und kann Freiheiten eröffnen, die bedrohlich wirken. Sich dem Wissen zu verweigern hilft nur in den seltensten Fällen. Das Beispiel schlechthin ist hier das Wissen der Genetik. 39 Vgl. G. Gamm: ›Aus der Mitte denken‹, S. 21.

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Genom« zerstört alle »phantasmatischen Schleier«, die mich davor schützen, dem Realen zu begegnen. Žižek möchte sogar eine »ethische Notwendigkeit geltend machen, die Objektivierung des Genoms vollständig zu akzeptieren: Diese Reduktion meines substanziellen Wesens auf die sinnlose Formel des Genoms löscht den phantasmatischen étoffe du moi aus, den Stoff, aus dem unsere Egos bestehen, und reduziert mich auf das reine Subjekt. Denn wenn ich mit dem Genom konfrontiert bin, bin ich nichts, und dieses Nichts ist das Subjekt selbst.«40

In dem »›postsäkulare[n]‹ Bemühen, die ›Grenzen der Desillusionierung‹ zu benennen« werde viel zu schnell die These akzeptiert, dass die mit der aufklärerischen Wissenschaft einhergehende Objektivierung die Menschen auf Objekte unter Objekten reduziere und damit der Verlust von Würde und Freiheit einhergehe. Die Aufklärung müsse vielmehr zu ihrem Ende geführt werden »und dieses Ende ist nicht die absolute wissenschaftliche Selbstobjektivierung, sondern, davon sollte man ausgehen, eine neue Figur der Freiheit, die nur dann in Erscheinung treten wird, wenn wir der Logik der Wissenschaft bis an ihr Ende folgen«41. Dies ist eine konsequent dialektische Position. Mit ihr ist aber auch ein moralischer Freibrief verbunden, der folgende Frage aufwirft: Wie ist es möglich von hier aus die Begriffe »Menschenwürde« und »Mensch« weiter als normative zu fassen? Gerhard Gamm ist nicht bereit, diesen letzten Schritt Žižeks mitzugehen. Reicht jedoch sein Bestehen auf einer notwendigen Reversibilität allen Handelns als normative Grenzziehung aus? Was bedeutet es konkret hinter jede mögliche Bestimmung des Menschen ein Fragezeichen setzen zu müssen? Versteht man den Menschen als homo absconditus, als Projekt und offene Frage, so lassen sich diese Fragen wohl nur post festum beantworten.

40 Slavoj Žižek: Körperlose Organe – Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan, Frankfurt/Main 2005, S. 183f. 41 Ebd.

»Wie ein Bogenstrich, der aus zwei Saiten eine Stimme zieht...«. Was im Tier blickt uns an? MECHTHILD HETZEL

Der Blick des Schimpansen, der im Zoologischen Garten in einen Wassergraben gefallen ist, bewegt einen Passanten dazu, in das Tiergehege zu springen, entgegen der Warnung des Wärters: eindringliche Worte, vorgebracht, um den engagierten Mann davon abzuhalten, sich einer Gefahr auszusetzen. Doch der verantwortet sein spontanes Eingreifen mit der Begründung, das Tier habe ihn angeblickt, flehentlich, was ihm keine Wahl ließ. Es betrifft uns. Aber was ist »es«, und wer sind »wir«? Was im Tier blickt uns an? Meine Überlegungen zielen nicht unvermittelt auf eine Beantwortung dieser Frage, sondern darauf, ihre Implikationen zu entfalten und ihre Architektur zu verschieben. In einem ersten Abschnitt wird dabei zweierlei entscheidend: zum einen der Umstand, dass das Subjekt des Blicks fraglich bleibt (Was im Tier...?); zum anderen, dass es sich bei jenen, die durch das Verb anblicken gefordert werden, um uns handelt. Wir sind betroffen, angesprochen, in die Verantwortung genommen, vielleicht sogar: gemeint. Der Status dieser Ersten Person Plural ist alles andere als selbstverständlich. Indem ich die Titelfrage Wort für Wort abschreite, ihren erkenntnistheoretischen, anthropologischen und ethischen Implikationen folge, formuliere ich die leitende Frage neu. Sie lautet nun: Was ist der Grund für den Blick, der uns mit dem Tier verbindet? Welcher Raum eröffnet die Begegnung, wer legt seine Grenzen fest? In einem zweiten Schritt werde ich zu erläutern suchen, wie die Verschiebung der Worte und ihrer Bedeutungen (von Was im Tier blickt uns an zu Was ist der Grund für den Blick, der uns mit dem Tier verbindet?) motiviert ist. In einem dritten Abschnitt schließlich suche ich nach einer Antwort auf die präzisierte und neu formulierte Frage, aus welchem Grund ein Blick uns mit dem Tier eingenommen haben wird.

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1. Was im Tier blickt uns an? So formuliert, liegt dem Anblicken etwas zu Grunde, das fraglich wird, ein Subjekt, dessen Status für uns zwiespältig bleibt. Ein »Offenes«1, das sich womöglich im Fraglichsein zu erkennen gibt, uns anhält, seinen Anspruch als eine Anfrage ernst zu nehmen, die letztlich auch unser eigenes Subjektsein betrifft. Der Wortlaut der Frage verweist uns auf die Unbestimmtheit dessen, wen oder was der Blick trifft. In der Frage wird ausdrücklich, dass ich vom Blicken werde am ehesten im Blicken reden können, stärker noch: im Angeblicktwerden. Das Angeblicktwerden bindet sich irreduzibel an eine ErstePerson-Perspektive, es lässt sich nicht von außen beobachten, ist reiner Innenraum, erschließt sich keinem Dritten. Im Angeblicktwerden werde ich radikal individuiert, als ich selbst in die Verantwortung genommen: Ich werde die Warnungen des Wärters in den Wind schlagen müssen, mich in das Gehege begeben. Doch zugleich knüpft sich an die Perspektive der Ersten Person die Erwartung ihrer Verallgemeinerbarkeit. Wir werden nur »ich« sagen können, insofern wir wissen, dass alle anderen dies auch können. »Ich« ist, mit Hegel gesprochen, »ein Allgemeines«2. Wohl zielt die Perspektive auf das individuelle Erleben, doch gilt das Interesse weniger dem Einzelnen, als vielmehr dem, worüber wir uns verständigen können. Es geht uns etwas an. Die Frage, was im Tier anblickt, betrifft uns, die Erste Person Plural. Zugleich geht es um das, worüber sich Einvernehmen herstellen lässt oder, zurückhaltender formuliert, was kommunizierbar sein wird. Das Tier fragt nicht: »wer bist du?«, sondern »wer seid ihr?« Es fragt nach dem Menschen und weist, indem es anblickt, diese Frage zugleich zurück. Sein Blick problematisiert jede Anthropologie, radikalisiert deren erste Frage, »Was ist der Mensch?«, bis zu einem Punkt, an dem sie nicht mehr positiv, über Kriterien (Reflexivität, Intentionalität, Sprachfähigkeit, Werkzeuggebrauch, Leidensfähigkeit usf.) zu beantworten sein wird.3 In seinem Blick erkennen wir uns als 1 2 3

Vgl. Giorgio Agamben: Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt/M. 2003. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 1973, S. 85 Jacques Derrida schreibt in diesem Zusammenhang: »Die ›Animalitätsfrage‹ ist selbstverständlich nicht eine Frage unter anderen. Wenn ich sie seit langer Zeit für entscheidend halte, wie man sagt, an sich selbst sowie ihres strategischen Wertes wegen, so tue ich dies, weil sie – schwierig und rätselhaft an sich – auch die Grenze darstellt, von der sich all die anderen großen Fragen und all die Begriffe abheben und bestimmen lassen, die ›das Eigene des Menschen‹, das Wesen und die Zukunft der Menschheit, die Ethik, die Politik, das Recht, die ›Menschenrechte‹, das ›Verbrechen gegen die Menschlichkeit‹, den ›Genozid‹ usw. einkreisen sollen. Überall, wo etwas wie ›das Tier‹ genannt wird, beherrschen die schwerwiegendsten, hartnäckigsten und auch naivsten und voreingenommensten Voraussetzungen das, was man die menschliche (und nicht nur die abendländische) Kultur nennt, und auf jeden Fall den philosophischen Diskurs, der seit Jahrhunderten vorherrscht.« – Jacques Derrida/Elisabeth Roudinesco: Woraus wird Morgen gemacht sein? Ein

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Menschen und verlieren zugleich die Gewissheit, was uns als Menschen von dem unterscheide, was uns anblickt. Welche Bedeutung ist damit verbunden, wenn vom Tier zu sprechen sein wird? Verschärft die Rede von »uns«, verstanden im Sinne einer exklusiven Verwandtschaftsbeziehung der Menschen untereinander, eine Abgrenzung zum Tier? – gemäß der Auffassung, dass Menschen mit allem auf eine tiefere Weise verbunden seien als alles andere, was es gibt, jeweils untereinander verbunden ist? Ist der expliziten Frage nach dem Tier die Behauptung einer Überlegenheit des Menschen implizit? Der Frage, was im Tier anblickt, entspricht die Überzeugung, dass wir den Blick auf uns gerichtet sehen. Wir nehmen eine Gerichtetheit an, zu der nicht stets alle menschlichen wie nichtmenschlichen Lebewesen für fähig erachtet werden. Wir räumen dem Tier etwas ein, was zugleich in der Gefahr steht, aberkannt zu werden, indem wir es als Tier ansprechen. Wir sind gewohnt zu fragen: »Wer blickt uns an?« Ein vertrauter Blick scheint eine gemeinsame Ebene vorauszusetzen, Kompetenzen, die wir uns wechselseitig unterstellen, eine Sprachfähigkeit etwa, die uns erlaubt, dem Blick mit Gesten und Worten zu antworten, mit einem Gruß etwa oder einer Frage. Doch genau diese Ebene steht im Blick des Tiers zur Disposition; vielleicht »sagt« uns der Blick des Tieres nichts anderes als: Da ist etwas jenseits der Ebene, jenseits des Plateaus der Konventionen, auf dem wir uns tagtäglich begegnen und zugleich nicht begegnen; dass wir den Blick des Tieres als Blick verstehen können, sagt, dass da noch etwas anderes ist. Nun lautet die Frage anders, so, als ob da etwas im Verborgenen läge im Tier. Der Intuition folgen, die in der Titelfrage ihren Niederschlag findet, heißt, vom Anblicken als etwas sprechen, das seinen Grund im Tier hat. – Was es ist, bleibt fraglich, aber nicht vollkommen unbestimmt.

2. Der Gegenstand meiner bisherigen Überlegungen wird vor allem durch das Verb näher charakterisiert. Den verschiedenen Implikationen des Prädikats anblicken nach zu gehen, erscheint insofern aussichtsreich. Stärker noch als schauen, setzt blicken eine Intensität frei. Was einmal, mehr oder weniger zufällig, vor die Linse gerät, ist nicht stets und unverzüglich Gegenstand der Betrachtung. Und dies in einem doppelten Sinne. Zum einen korrespondiert nicht alles Sehen der theoria, dem Erkennen der Welt, das im Dienst ihrer Bewältigung steht.4 Zum ande-

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Dialog, Stuttgart 2006, S. 110; eine vergleichbare Perspektive eröffnet Dona Haraway: The Companion Species Manifesto: Dogs, People, and Significant Otherness, Chicago 2003. Emmanuel Lévinas spricht von einem Sehen, dass nicht in der theoretischen »Gier des Blicks« aufgeht: »Denn die Gegenwart vor einem Antlitz, meine Orientierung auf den Anderen hin, kann die Gier des Blickes nur dadurch verlieren, dass sie sich

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ren geht alles Sehen mit einem Übersehen einher, antwortet jeder Ein-Sicht eine Blendung. Wir können blinden Auges sehen, sehen und doch nicht sehen – und umgekehrt. »Lösch mir die Augen aus«, wie der Dichter der Geliebten anvertraut, »ich kann dich sehn«5. Für einen Moment angespannter Stille, indem alles um uns her innehält; dann, wenn die gegenständliche Welt nicht weiter ›vorübergeht‹. Die bloßen Dinge werden zu Bildern, die ich aufnehme. Das bloße Objekt wird zu meiner Interpretation der Welt. Bis es bewahrt wird, bis es aufzuhören beginnt, ein Bild zu sein. »O, dass mein Sinn ein Abgrund wär und meine Seel ein weites Meer, dass ich dich möchte fassen.« Wie mit dem Wort ›ansprechen‹, das stärker noch als ›sprechen‹ eine Gerichtetheit und Adressierung betont, verhält es sich auch mit ›anblicken‹. Beide Verben entgründen das Subjekt im Sinne der Urheberin und der Autorin ihrer Gesten. ›Ansprechen‹ und ›Anblicken‹ haben ihren Ursprung weniger im Selbst als im Anderen, der sie aus dem Selbst hervorbringt. Ein Blick ruht auf uns, hält uns fest, schlägt uns in seinen Bann. Von einer aufregenden Farbe, einer eleganten Bekleidung, einem wohnlichen Ambiente sagen wir: Meine Aufmerksamkeit wird gefesselt, ich fühle mich angezogen. Genau besehen aber bleibt diese ›Ansprache‹ einseitig. Bin ich es doch, die blickt. Wird uns überhaupt »etwas« in einem empathischen Sinn anblicken können? – oder allein »jemand«6, von Angesicht zu Angesicht? Ein Blick heftet sich uns an, nötigt uns, ihn auszuhalten, zieht uns auf sich. Sich in einer beziehungsreichen Konstellation vorzufinden, wie »blicken« vielleicht zu charakterisieren wäre, diese Wechselseitigkeit macht deutlich, dass die Frage nach dem, wer oder was anblickt, mehr verwirren als klären würde. Wird nicht vielmehr im Anblicken eine Einheit gestiftet, die jenen vorgängig ist, die sich schließlich identifizieren als die eine, die angeblickt hat und die andere, die angeblickt worden ist? ›Nimmt‹ nicht der Blick ›zusammen‹, was erst im Zuge einer nachgetragenen Bewusstwerdung distinkt wahrgenommen wird? Blicke aufnehmen und aussenden, geben und empfangen, fallen in eins. Jedes Blicken

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in Großmut verwandelt, unfähig, den Anderen mit leeren Händen anzusprechen. [...] Die Weise des Anderen sich darzustellen, indem er die Idee des Anderen in mir überschreitet, nennen wir nun Antlitz. Diese Weise besteht nicht darin, vor meinem Blick als Thema aufzutreten, sich als ein Ganzes von Qualitäten, in denen sich ein Bild gestaltet, auszubreiten. In jedem Augenblick zerstört und überflutet das Antlitz des Anderen das plastische Bild, das er mir hinterläßt, überschreitet er die Idee, die nach meinem Maß und nach dem Maß ihres ideatum ist – die adäquate Idee.« – Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg/München 1987, S. 63. Zu den Gedichten, auf die hier wie im Folgenden Bezug genommen wird, vgl. Rainer Maria Rilke: Werke, Frankfurt/M 31984 (Der Panther, Liebes-Lied, Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn); die Zeile Paul Gerhardts ist dem Weihnachtslied Ich steh an deiner Krippen hier entnommen (EG 37). Vgl. Robert Spaemann: Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹, Stuttgart 32007.

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antwortet, erwidert bereits. Wer blickt, wurde immer schon von einem Blick gemeint; mein Blicken wird erwartet worden sein. Blicke koinzidieren in einer Bewegung ohne Anfang. Es blickt; hier lässt sich kein Anfang bestimmen. Es rührt uns an. Dass es so ist, davon spricht der Blick. Was aber ist es? – Was ist der Grund für den bzw. im Blick, der uns mit dem Tier verbindet?, formuliere ich und verschiebe die Worte. Wie mag jener verschobenen Bedeutung gemäß die Antwort auf die Titelfrage lauten?

3. So wenig uns etwas anblickt, sondern jemand, dem wir uns vis-à-vis vorfinden, so sehr geht blicken und angeblickt werden in diesem empathischen Sinn eine wechselseitige Bezugnahme voraus. Das Verbindende, das im Blicken gestiftet wird, hebt beide aus der Verlegenheit, bloß etwas unter vielem anderen zu sein. Wenn ein Impuls uns beide rührt, uns beide zugleich, enthebt uns die Einheit der gegenständlichen Welt; wir finden uns vor in einer Beziehung mit jemandem. Ein Blick, der uns wird mit dem anderen eingenommen haben. Irritation der Diachronie. Paradoxe Zeitstruktur. Vorursprüngliche Vergangenheit im gegenwärtigen Moment. Erst im nachhinein konturiert sich aus der anonymen Logik dieser andere. Der unendlich anders sei, Tier vielleicht, und zugleich jede Andersheit dementiert. Der sich an mich wendet und sich absetzt von mir. Wie ich mich absetze von ihm, Empfangende dieses Blicks. Jemand, die sich nicht verweigerte, hineingezogen worden zu sein. Die sich dem Blick nicht entzieht. Die es zulässt, gemeint zu sein. Das besagt, etwas im Tier blickt uns an. Was motiviert den Blick? Was ist der Auslöser? Was steht am Anfang? So zu fragen bedeutet, den Beweggrund des Blicks wie seine Bedingung in Erfahrung bringen zu wollen, die die Grenzen der Erfahrung überschreiten. So, wie wir, wenn es uns ›erwischt‹ hat, letztlich nicht angeben können, was es gewesen sei, das uns beide in Liebe zueinander entflammt; – ebenso uneinholbar ist der Grund des Blicks, den Mensch und Tier tauschen. Die Pointe meiner Überlegung ist, dass sich das Vertrauen in eine Mensch und Tier gemeinsame Basis erst in actu rechtfertigen wird. Was das Fundament gewesen sei, das uns untergründig mit dem Tier verbindet, entzieht sich letztlich. Dass es trägt, davon zeugt der Blick.

IV. Entzugsfiguren der Normativität

Kant über den Wert des Glücks PETER NIESEN

Kant wird vorgeworfen, dass er dem Streben nach Glück nicht den ihm angemessenen Rang zuweist. Adorno formuliert es schärfer als andere, vertritt aber eine verbreitete Ansicht, wenn er sagt, dass bei Kant »im Namen der Freiheit, also im Namen der Kontrolle über die Affekte durch das Bewusstsein, die Befriedigung der Instinkte, überhaupt also schließlich jede Art von Glück, einer Art von Tabu verfällt und von dem Denken verbannt wird«.1 Das Argumentationsziel meines Beitrags liegt darin, dieses Bild zumindest für einen Teilbereich von Kants praktischer Philosophie zu korrigieren. Vergleichsweise unumstritten dürfte sein, dass zumindest das Glück anderer Menschen eine zentrale Rolle in Kants später Moralphilosophie, der Tugendlehre, spielt. Aber mir geht es hier um etwas anderes, um die Beziehung auf das eigene Glück. Dabei versuche ich weniger, einige in den vergangenen Jahren betonte Linien nachzuziehen, die auf den instrumentellen Wert des Glücks für unsere moralische Integrität oder den Stellenwert des Glücks am Ende der Geschichte, innerhalb einer erfolgreich moralisierten Welt, oder in der nächsten Welt, setzen. Ich möchte vielmehr ein Argument Kants herauspräparieren, das dem diesseitigen eigenen Glück einen zwar nicht unbedingten, wohl aber intrinsischen und schutzwürdigen Wert einräumt. Dazu will ich im ersten Teil meines Beitrags zunächst vier Weisen unterscheiden, in denen Glück in Kants praktischer Philosophie affirmativ besetzt wird. Dann will ich diejenige der vier Weisen auswählen, auf die systematisch bisher weder für die Kantische Deontologie noch für seine Theorie des Glücks großer Wert gelegt wurde; das ist die Lehre vom angeborenen Menschenrecht auf die Freiheit, eine eigene Konzep-

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Theodor W. Adorno: Probleme der Moralphilosophie, Vorlesung v. 1963, Frankfurt/Main 1996, S. 178. Adorno dehnt seine These, die er für das Freiheitsverständnis der Moralphilosophie entwickelt, auch auf die rechtliche Freiheit aus, vgl. ebd., S. 182.

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tion des Glücks zu verfolgen. Die Reichweite meiner These vom Wert des Glücks beschränke ich daher ausschließlich auf Kants Rechts- oder politische Philosophie; ich behaupte nicht, dass sie für die Moralphilosophie im engeren Sinn Relevanz hat. Um die These dieses Beitrags formulieren und verteidigen zu können, muss ich in einem zweiten Schritt rekonstruieren, was Kant über das Glück sagt. Zwar macht Kant keine substanziellen oder umfassenden Annahmen darüber, worin nun inhaltlich das Glück der Menschen liegt und wie sie es erreichen können, allerdings lässt sich ein notwendiges, strukturelles Element des glücklichen Lebens herausarbeiten. In einem dritten Schritt versuche ich, die normative und die die Wirklichkeit des Glücks betreffenden Positionen bei Kant zusammen zu führen zu einer These, die der Nicht-Verfehlung des eigenen Glücks einen nicht-abgeleiteten Stellenwert einräumt. Im Zentrum dieser Rekonstruktion steht der hedonistische Charakter von Kants Auffassung des Glücks. Wie zu zeigen sein wird, übernehmen Kant zufolge hedonische Erfahrungen, also Empfindungen von Lust oder Unlust, notwendige, prägende Funktionen innerhalb des Verlaufs eines Lebens. Meine These wird sein, dass hedonische Elemente auf mindestens zwei Weisen auf Konzeptionen des Glücks Einfluss nehmen: kausal, in ihrer Ausbildung, und Anhaltspunkte für ihre Korrektur liefernd, in ihrer Überprüfung. Diese deskriptive These über das Wesen des Glücks unterliegt, so werde ich argumentieren, auch Kants Reflexionen über die Grundlage menschenrechtlicher Freiheit. Ein wesentlicher Grund, der Recht und Politik abverlangt, die freie Verfolgung des jeweils eigenen Glücks zu respektieren und zu schützen, ist demnach der Umstand, dass Konzeptionen des Glücks auf hedonistische Beglaubigung angewiesen sind.

1. Der Wert des Glücks Kants Bezugnahme auf das Glück der Menschen, in seinen Worten auf ihre »Glückseligkeit«, ist vorrangig polemisch. Gegen die aristotelische Tradition, ebenso wie gegen die moral sense-Theorie der schottischen Aufklärung oder gegen die Wohlfahrtsethik Christian Wolffs betont Kant vor allem eines: dass die Rechtfertigung von Normen nicht davon abhängen kann, dass durch die Befolgung dieser Normen Glück erzeugt wird. Die dominierende Lektüre von Kants Moralphilosophie behauptet demnach, dass weder individuelle noch kollektive Glücksinteressen, weder das eigene noch das fremde Glück, eine unverzichtbare Rolle in der Grundlegung der praktischen Philosophie spielen. Bereits in seiner Auseinandersetzung mit Christian Garve greift Kant 1793 diesen Einwand auf, aber wohl erfolglos. Seine Moralphilosophie erfordere gar nicht, so behauptet Kant in Über den Gemeinspruch, der Glücksorientierung unseres Handelns zu »entsagen«; es sei lediglich von ihr zu »abstrahieren«, wenn das Prüfverfahren des kategorischen Imperativs die Maximen unseres Handelns

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auf ihre Verallgemeinerbarkeit untersucht.2 Allerdings wird dies nicht verhindern, dass eben doch dem Glücksstreben entsagt werden muss, wenn die entsprechende Maxime sich als nicht verallgemeinerungsfähig erweist. Kants eigener Versuch einer Versöhnung zwischen Glücksorientierung und Moralprüfung gerät halbherzig und wenig überzeugend. Erst in jüngerer Zeit ist versucht worden, das traditionelle Bild von Kants praktischer Philosophie als insgesamt glücksfeindlich zu modifizieren.3 Es lassen sich drei Dimensionen unterscheiden, in denen das Glück für Kant durchaus normative Bedeutung hat. Bereits in der Moralphilosophie im engeren Sinn würdigt Kant das Glück in zwei voneinander zu unterscheidenden Hinsichten, in instrumenteller oder intrinsischer Bedeutung. Instrumentell gesehen ist auch in der Moral das eigene Glück nicht unwichtig. Ungünstige Lebensumstände, etwa Not, Armut oder Depression könnten uns dazu verleiten, gegen moralische Pflichten zu verstoßen. Eine nicht unglückliche Person ist eher disponiert und in der Lage, die Ansprüche anderer zu ihrem Recht kommen zu lassen. Dem eigenen Glück kommt also in der Moral ein Wert zu, der darin liegt, dass unser Glück die Glückschancen anderer Personen verbessern kann. Eigenes Glück ist Mittel zum moralischen Zweck.4 Aber Glück taucht in Kants Moralphilosophie nicht nur in instrumenteller Funktion auf. Intrinsischen Wert hat das Glück in der Moral in zweierlei Hinsicht. Erstens, so fordert die Tugendlehre, ist die Glückseligkeit anderer ein Ziel, das wir aus moralischen Gründen verfolgen sollen. Dasselbe gilt 2

Gem., S. 131. – Kants Schriften werden zitiert nach der Werkausgabe von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/Main 1977, unter Verwendung der folgenden Siglen: Anfang: Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, Bd. XI. Anthr.: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Bd. XII. Gem.: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, Bd. XI. GMS: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Bd. VII. Idee: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Bd. XI. KpV: Kritik der praktischen Vernunft, Bd. VII. KrV: Kritik der reinen Vernunft, Bd. III-IV. MdS: Die Metaphysik der Sitten, Bd. VIII. Religion: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Bd. VIII. Streit: Der Streit der Fakultäten, Bd. XI.

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In erster Linie ist hier die Studie von Victoria Wike: Kant on Happiness in Ethics, Albany 1994, zu nennen. Umfassender, wenn auch weniger systematisch Beatrix Himmelmann: Kants Begriff des Glücks, Berlin 2003. Zur Bedeutung des Glücks in der Moralphilosophie Kants s. auch Paul Guyer: Kant on Freedom, Law, and Happiness, Cambridge 2000, bes, S. 96-171. GMS, S. 25. Eine weitere positive Funktion hat das Glück in der Moralphilosophie insofern die Vernunft selbst, durch die moralische Entscheidung, ein »Gefühl der Lust oder des Wohlgefallens an der Erfüllung der Pflicht« einzuflößen vermag (GMS, S. 98). Ich zögere aber, hier von einer eigenständigen normativen Bedeutung des Glücks zu sprechen, da die so erzeugte Lust weder Mittel noch Zweck, sondern Epiphänomen ist.

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nicht für das eigene Glück: hier gibt es keine Pflicht, es sich zum Ziel zu machen. Kant hielte dies auch für »ungereimt«, weil wir ohnehin »unvermeidlich« das eigene Glück verfolgen.5 In Tugendsachen hat nicht das eigene Glück, sondern allein die Vollkommenheit des Charakters einen intrinsischen Wert. Zweitens ist das Glück aller ein moralisches Fernziel als ein Bestandteil des »höchsten Gutes«, das man sich als Zustand allgemeiner Moralität und allgemeinen Glücks vorstellen kann: als Zusammenfallen, wie Kant sagt, von Glückseligkeit und Glückswürdigkeit.6 Innerhalb des höchsten Gutes hat nun im Gegensatz zur Fremdbeglückung in der Tugendlehre auch das eigene Glück wieder seinen normativen Stellenwert, einfach weil es im höchsten Gut um das Glück aller geht und ich einer unter allen bin. Allerdings ist dies ein doch sehr vermittelter Stellenwert (ich bin einer unter 6 Milliarden), darüber hinaus von der kollektiven Erreichung des höchsten Guts abhängig, also von einem langfristigen und unsicheren, wenn nicht in dieser Welt völlig unerfüllbaren Projekt.7 Innerhalb von Kants Moralphilosophie im engeren Sinn, so lässt sich zusammenfassen, ist das Glück zwar nicht tabuisiert und verbannt, das eigene Glückstreben allerdings erhält nur auf dem Umwege über das Glück anderer, das Glück aller oder eben in instrumenteller Einstellung, als Flankenschutz der Moral, normative Bedeutung. Mir kommt es nun auf eine vierte Weise an, in der das Glück für Kant normative Bedeutung hat. Im Gegensatz zur Moralphilosophie schreibt Kant dem Streben nach dem eigenen Glück in seiner Rechtsphilosophie einen direkten (d.h. nicht auf dem Umwege über das Glück aller zu verfolgenden) und nichtinstrumentellen (also nicht moralfunktionalen) Wert zu. Der zentrale normative Anspruch im Recht ist das »angeborene« individuelle Freiheitsrecht. Im rechtlichen Sinn bedeutet Freiheit, dass »niemand mich zwingen [darf] auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, ... nicht Abbruch tut«.8 Oder, um es mit den Worten der Vorarbeiten zur Rechtslehre aus den späten 1790er Jahren auszudrücken: Freiheit ist die »Unabhängigkeit seine Glückseligkeit nicht von dem Willen anderer als abhängig anzuerkennen«, sie liegt darin, »dass jeder seine Wohlfahrt nach seinen Begriffen suchen kann und auch nicht einmal als Mittel zum Zweck seiner eigenen Glückseligkeit von andern und nach derer ihren Begriffen gebraucht werden kann, sondern bloß nach dem seinigen«.9

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Religion, S. 653 Fn., MdS, S. 515. KpV, S. 238. Vgl. Wike, ebd., S. 115-147; Guyer, ebd., S. 120-125. Gem., S. 145. Kants Werke (Akademieausgabe), Bd. XXIII, hg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin: Handschriftlicher Nachlass. Vorarbeiten und Nachträge, Berlin 1955, S. 341 u. 129. Vgl. auch den erhellenden Stellenabgleich bei Wolfgang

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Dieser rechtliche Anspruch auf die Verfolgung des eigenen Glücks nach Maßgabe der eigenen Begriffe steht, normativ gesehen, auf eigenen Füßen; er ist völlig unabhängig von der moralischen Akzeptabilität freiheitsrechtlich geschützter äußerer Handlungen. Er kann daher nicht moralinstrumentell verstanden werden wie das Acht geben aufs eigene Glück in der Moral, das uns instand setzen soll, moralisch responsiv zu handeln.10 Ebenso wenig schert sich das Freiheitsrecht um die moralische Verdienstlichkeit von rechtlich zulässigen Handlungen. Auch sie ist irrelevant für ihre Schutzwürdigkeit. Ein Freiheitsrecht lässt sich bei Kant daher verstehen als ein Anspruch auf die Verfolgung von Glückseligkeit ohne Glückswürdigkeit. Heißt das, dass es also so etwas wie ein »Recht auf Glück«11 bei Kant gibt? Ganz unqualifiziert wird man diese These nicht aufrechterhalten können. Aus zwei Gründen wäre eine einschränkungslos bejahende Antwort irreführend. Erstens begründet mein Freiheitsrecht keinen Anspruch darauf, dass andere Leute oder der Staat verpflichtet wären, mir meine Glückserwartung zu erfüllen. Alles, was von ihnen erwartet wird, ist, nach frühliberalem Muster, meine eigene Glücksverfolgung nicht zu sabotieren. Mein Anspruch auf Glück geht also nicht über das hinaus, dessen Realisierung ich selbst in der Hand habe. Aber auch meine eigenen Anstrengungen bei der Verfolgung meines Glücks sind nicht unbedingt (im Sinn von: uneingeschränkt) geschützt. Wenn meine Interessenverfolgung geeignet ist, in die (verträglichen) Glücksbestrebungen anderer einzugreifen und sie zu gefährden oder zu zerstören, so ist dies nicht vom Freiheitsrecht gedeckt. Dies ist der zweite Grund, nicht von einem unqualifizierten Recht auf Glück bei Kant sprechen zu wollen. Es könnte ja sein, um dies an einem Beispiel zu illustrieren, dass mein Glück als frommer Katholik im Wesentlichen darin liegt, dass sich alle Menschen an die moralischen Standards halten werden, die die römische Kirche aufstellt. Diese Konzeption kann ich nicht realisieren, ohne in die gerechtfertigten Freiheitsansprüche anderer einzugreifen. Kant scheint davon auszugehen, dass unsere Präferenzen im Wesentlichen »persönliche« und Kersting: Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, 2. Aufl. Frankfurt/Main 1993, S. 202-205. 10 Allerdings gibt es auch hier wieder Beziehungen zu anderen Argumenten bei Kant, die die vollständige Ausblendung des Abzielens auf einen moralisch verstandenen Weltzustand dementieren – etwa die geschichtsphilosophischen Prognosen, dass sich aus dem freiheitsrechtlich entfesselten Antagonismus in Wirtschaft, Kultur und religiösem Diskurs unwillkürlich und letztendlich eine auch moralisch akzeptable Lebensform aller ergibt (vgl. Idee, Anfang, Religion). Weiterhin muss eingeräumt werden, dass der rechtliche Freiraum von den Subjekten zur tugendhaften Weiterentwicklung genutzt werden kann, wenn sie dies wünschen (Howard Williams: Kant’s Critique of Hobbes, Cardiff 2003, S. 97-99; Katrin Flikschuh: Kant and modern political philosophy, Cambridge 2000, S. 109). Der Unterschied zu einer moralinstrumentellen Bedeutung des rechtlich protegierten Glücksstrebens liegt darin, dass die Freiheit zur Tugendhaftigkeit keine konstitutive Funktion für die Schutzwürdigkeit der Freiheit überhaupt beanspruchen kann. 11 So Luca Scuccimara: Kant e il diritto alla felicità, Rom 1997, S. 116-124.

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nicht »externe« sind, die sich auf Handlungen und Zustände anderer richten.12 Seine Beispiele für die Verfolgung des Glücks betreffen vorrangig auf die eigene Person bezogene Tätigkeiten und Zustände, die in den Grenzen der Kompatibilität mit den Bestrebungen anderer zu verbleiben scheinen: Fisch oder Fleisch, Wein oder Bier, Handwerk oder Handelskarriere.13 Mit diesen beiden Einschränkungen – Glücksverfolgung liegt in der eigenen Verantwortung jeder Person; und sie ist vorgängig auf die Kompossibilität der Glückssphären beschränkt – lässt sich dennoch behaupten, dass das Streben nach einem moralfremden Glück in Kants Rechtsphilosophie denkbar stark abgesichert ist: als Inhalt des einen angeborenen Freiheitsrechts. In scheinbarem Kontrast zur Kritik des Eudaimonismus in seiner praktischen Philosophie insgesamt erkennt Kant in der Rechtslehre eine intrinsische Schutzwürdigkeit des Glücksstrebens nach der individuellen Vorstellung jeder Person an. Die Frage ist nun, was es ist, das dem Freiheitsrecht normative Bedeutung oder Wert verleiht – ist es der Schutz der freien Willkür, sich für eine bestimmte Konzeption des Glücks zu entscheiden, oder ist es die Chance auf Glück, die sich damit verbindet? Kant wendet sich offiziell brüsk gegen die zweite Möglichkeit. »Der Begriff eines äußeren Rechts geht gänzlich aus dem Begriffe der Freiheit im äußeren Verhältnisse der Menschen gegeneinander hervor und hat gar nichts mit dem Zwecke, den alle Menschen natürlicher Weise haben (der Absicht auf Glückseligkeit) ... zu tun.«14 Auch Christine Korsgaard hat Kant so verstanden, dass das, was dem, wonach wir streben, Wert verleiht, der Umstand ist, dass es sich eben um die Wahl eines freien, rationalen Wesens handelt.15 Charles Larmore schließlich liest Kant ganz analog, wenn er betont, dass eine Konzeption des Glücks16 nur dann wertvoll sein könne, wenn wir sie als frei und unabhängig gewählte ansehen: »Die Quelle allen Werts, und somit der höchste Wert, liegt darin, was in der Pose der freien Wahl ausgedrückt wird – unsere Freiheit, uns über empirische Umstände zu erheben.«17 Der Wert des Freiheitsrechts läge dann nicht in der Möglichkeit einer glücksmäßigen Erfüllung der Person, sondern in der Möglichkeit der Verfolgung ihres freien Entwurfs. Was wir schätzen und durch die Rechtsordnung bewahren, wäre die autonome Wahl der Konzeption 12 S. Ronald Dworkin: Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt/Main 1984, S. 443. 13 MdS, S. 581f., S. 541. Auf das Gegenbeispiel des »Menschenfreundes« gehe ich weiter unten ein. 14 Gem., S. 144. 15 Christine Korsgaard: »Kant’s Formula of Humanity«, in dies.: Creating the Kingdom of Ends, Cambridge 1996, S. 106-132, 122. 16 Bei Larmore geht es allgemeiner als in der gegenwärtigen Diskussion um Konzeptionen und Formen des guten Lebens und nicht allein um Konzeptionen des Glücks. Das, was er Kant für den allgemeineren Fall einer Konzeption des Guten unterstellt, muss er auch für den spezielleren Fall einer Konzeption des Glücks unterstellen. 17 »The source of value, and so the supreme value, is what is expressed in this posture of choice: our freedom to rise above empirical circumstance«. Larmore: »Political Liberalism«, in ders.: The Morals of Modernity, Cambridge 1996, S. 121-151, 128.

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des Glücks, nicht ihre Realisierung. Das je verschiedene Glück erschiene als eine belanglose Floskel, die man der Tradition halber mitschleppt, die man aber wegkürzen könnte wie Wittgensteins Käfer in den Schachteln jedes Einzelnen, in die niemals ein anderer hineinblickt und von denen ungewiss ist, ob sie überhaupt etwas enthalten. Der Schaden, der von einer Gesetzgebung ausginge, die das Freiheitsrecht der Menschen nicht respektiert, läge in der Verachtung der autonomen Personen, nicht in der Verhinderung ihres Glücks. Im Blick auf Kants Auffassung des Glücks möchte ich gleichsam eine inoffizielle Seitenlinie eröffnen und zeigen, dass diese Argumentation nicht die Ressourcen seiner Rechtsphilosophie erschöpft. Um zu zeigen, dass dem Glück ein zentraler Stellenwert in der Erläuterung des Freiheitsrechts zukommt, müssen zunächst die Grundlagen von Kants Auffassungen über das Wesen des Glücks skizziert werden. Auf ihrer Grundlage soll dann in einem nächsten Schritt gezeigt werden, dass – unter Voraussetzung dieses Glücksverständnisses – nur die Verleihung und Respektierung von Freiheitsrechten die zuverlässige Hoffnung etablieren kann, dass Personen ein glückliches Leben werden führen können. Meiner Ansicht nach sind der Wert des Glücks, und ebenso die rechtliche Schutzwürdigkeit seiner Verfolgung, nicht unabhängig davon zu verstehen, dass hedonische Empfindungen oder ihr Ausbleiben unsere Konzeptionen des Glücks in Zugzwang bringen.

2. Das Wesen des Glücks Kant setzt voraus, dass alle Menschen aus »Naturnotwendigkeit« einen Zweck miteinander teilen »und das ist die Absicht auf Glückseligkeit«.18 Das so in den natürlichen Weltlauf eingebettete Glücksstreben erscheint daher weniger als ein freiwillig verfolgtes Projekt denn als Hypothek für das Naturwesen Mensch. Das Glück »ist ein durch seine endliche Natur selbst ihm aufgedrungenes Problem«.19 18 GMS, S. 45. Dass Menschen diese Naturabsicht teilen, heißt nicht, dass die Natur die Absicht verfolgte, dass der Mensch glücklich werde, s. KdU, S. 388. Die Ausdrücke »Glückseligkeit« und »Glück« werden bei Kant nicht streng synonym gebraucht, da »Glück« oft, nicht aber stets, den »glücklichen Zufall« oder die »glückliche Episode« bezeichnet. Vgl. MdS, S. 482 (»das Glück des Lebens (unsere Wohlfahrt überhaupt)«) mit MdS, S. 604 (dass »einem das Glück umschlüge«). Dass aber Kant zufolge im Zustand der Glückseligkeit im Gegensatz zu dem des Glücks bereits eine Integration des moralischen Gesollten vorliege (Martin Seel: Versuch über die Form des Glücks, Frankfurt/Main 1995, S. 25, S. 89), ist ein Missverständnis: »Glückseligkeit allein ist für unsere Vernunft bei weitem nicht das vollständige Gut. Sie billigt solche nicht (so sehr als Neigung dieselbe wünschen mag), wofern sie nicht mit der Würdigkeit, glücklich zu sein, d.i. dem sittlichen Wohlverhalten, vereinigt ist.« (KrV, S. 682f. (B, S. 841)) Einzig in Religion (S. 730f.) äußert sich Kant selbst mehrdeutig, indem er moralische von physischer Glückseligkeit unterscheidet und erstere als einen im Sinne von Seel qualifizierten Typ von Glück versteht. 19 KpV, S. 133.

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Insofern er selbst Teil der äußeren Natur ist, ist das Streben nach Glück für den Menschen unentrinnbar. Es ist in der Kantliteratur unumstritten, dass Kant eine subjektivistische und keine objektivistische Auffassung des Glücks vertritt. Damit unterliegt die Behauptung, das eigene Leben sei ein glückliches, vollständig der Autorität der ersten Person. Umstritten ist jedoch, welcher der beiden subjektivistischen Leitkonzeptionen des Glücks er zuneigt, der hedonistischen, nach der Glück in lustvollen Zuständen besteht, oder der präferentialistischen, nach der Glück in der Erfüllung von Wünschen liegt.20 Für beide Richtungen finden sich Belege bei Kant. Eine hedonistische Konzeption wird eingeführt in der Kritik der praktischen Vernunft, die Glückseligkeit als das »Bewusstsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet« (S. 129) definiert. Glück wird hier als Einstellung gedeutet, die sich auf ein Gefühl der Annehmlichkeit richtet, das nicht bloß momentan, sondern zeitlich stabil ist. Aber was bedeutet das? Es ließe zumindest die Möglichkeit offen, dass das beglückende Empfinden als eine Art Grundrauschen unser Leben jederzeit begleitet, 21 ähnlich wie ein Tinnitus, nur eben angenehm. Eine solche rein hedonistische Auffassung kann jedoch kaum beanspruchen, als vollständige Konzeption des Glücks gelten zu können. Ohne den offensichtlichen Neuaufbruch zu kommentieren, erläutert Kant im selben Werk, der Kritik der praktischen Vernunft, Glück ganz entgegengesetzt als »Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht«.22 Diese Bestimmung ist rein präferentialistisch und begrifflich unabhängig von einer hedonistischen Komponente. Ebenso erläutert die späte Tugendlehre Glück als »Zufriedenheit mit seinem Zustande, sofern man der Fortdauer derselben gewiss ist«.23 Entscheidend ist mithin die Fortdauer der Bewertung, nicht die Fortdauer des Zustands oder das Anhalten eines Gefühls.24 Auch in dieser Definition hat sich das Bewusstsein der Wunscherfüllung verselbstständigt gegenüber ihrem hedonischen Inhalt, der vorliegen oder nicht vorliegen mag. Insgesamt ist festzuhalten, dass sich in den späten Schriften die Balance zugunsten einer präferentialistischen, und zuungunsten einer durchgängig hedonistischen Konzeption des Glücks verschiebt, ohne die hedonistischen Elemente jedoch völlig verabschie20 Barbara Merker: Art. Glück/Glückseligkeit, in: Enzyklopädie Philosophie, hg. v. H.J. Sandkühler, Hamburg 1999. 21 Anthony Kenny: Action, Emotion and Will, London 1963, S. 133. 22 KpV, S. 255. 23 MdS, S. 517. 24 Die Verwendung von »Zufriedenheit« in der Definition von »Glückseligkeit« sollten wir nicht als terminologisch gefestigt auffassen. »Zufriedenheit«, »Befriedigung«, »Glückseligkeit« und »Glück« werden von Kant, wie auch bei anderen Autoren des 18. Jahrhunderts, weitgehend austauschbar verwendet – die Unterscheidung zwischen ruhiger Zufriedenheit und ekstatischem Glück spielt keine Rolle. Ebenso werden die Ausdrücke »Vergnügen«, »Annehmlichkeit«, »Freude« und »Lust« von Kant in vielen Kontexten synonym verwendet.

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den zu können. Ein Konflikt zwischen der hedonistischen und der präferentialistischen Lesart ließe sich aber auf folgende Weise inszenieren. Ich habe bereits erwähnt, dass Kant das Streben nach Glück als ein dem Bedürfniswesen Mensch »aufgedrungenes Problem« ansieht. Das »Problem« resultiert aus dem hedonistischen Charakter der »Materie seines Begehrungsvermögens«, nämlich dem, »was sich auf ein subjektiv zum Grunde liegendes Gefühl der Lust oder Unlust bezieht, dadurch das, was es [das Naturwesen] zur Zufriedenheit mit seinem Zustande bedarf, bestimmt wird.«25

Gefühle von Lust oder Unlust bestimmen den Inhalt dessen, was das Naturwesen Mensch braucht, um glücklich zu sein. Dies ist erläuterungsbedürftig. Kant nimmt dazu zwei Anläufe, zunächst in der Kritik der praktischen Vernunft und zwölf Jahre später in seiner Metaphysik der Sitten. In der Kritik der praktischen Vernunft vertritt Kant die These, dass eine Glücksabsicht sich stets auf zukünftige lustvolle Gratifikation richtet.26 Eine solche Auffassung vom Glück ist durch und durch hedonistisch. Handlungen werden hervorgerufen durch die Erwartung lustvoller Erfüllung,27 und im Fall eines Konflikts zwischen Wünschen wird unsere Handlung von der stärksten zu erwartenden Lustempfindung determiniert.28 Für eine Theorie, die das menschliche Glück erschöpfend darstellen soll, erschiene dies reduktionistisch und von den Phänomenen her wenig plausibel. Für unser Interesse ist die Nachfrage entscheidend, was »Lust« hier noch heißen kann, wenn als Beispiele für lustvolle Erfüllung äußerst heterogene Dinge angeführt werden. Neben den unmittelbaren natürlichen Genüssen von Essen, Sex oder sportlicher Betätigung kommen als ihre Gegenstände auch soziales Prestige oder

25 KpV, S. 133. 26 Dabei darf man den funktionalen Sinn solcher Erklärungen in KpV und GMS nicht vergessen: in diesen Schriften geht es darum, ein glücksfreies Moralprinzip zu etablieren. Daher fällt die Charakterisierung dessen, was unter Glück zu verstehen ist, oft schematisch aus, und Kant schreckt auch vor wenig zwingenden Argumenten wie dem aus der »gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis« nicht zurück, dass »je mehr eine kultivierte Vernunft sich mit der Absicht auf ... Glückseligkeit abgibt, desto weiter der Mensch von der wahren Zufriedenheit abkomme« (GMS, S. 21). 27 Samuel J. Kerstein: »Kant’s (Not So Radical) Hedonism«, Akten des int. KantKongresses, Berlin 2000, Bd. 3, S. 247-255, 248. 28 Vgl. insbesondere KpV, S. 130: »[d]ie Vorstellungen der Gegenstände [der Willkür] mögen noch so ungleichartig ... sein, so ist doch das Gefühl der Lust, wodurch jene doch eigentlich nur den Bestimmungsgrund der Willkür ausmachen ... so fern von einerlei Art, dass es ... eine und dieselbe Lebenskraft ... affiziert, und in dieser Beziehung von jedem anderen Bestimmungsgrunde in nichts, als dem Grade, verschieden sein kann. Wie würde man sonsten zwischen zwei der Vorstellungsart nach gänzlich verschiedenen Bestimmungsgründen eine Vergleichung der Größe nach anstellen können, um den, der am meisten das Begehrungsvermögen affiziert, vorzuziehen?«

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die Erweiterung unserer Erkenntnisse in Frage.29 Den von Sympathie und Mitleid für andere angetriebenen Menschenfreund befeuert, so Kant, dasselbe Glücksmotiv.30 Wenn Kant schließlich auch Berufs- und Karriereentscheidungen (»ob es ein Handwerk, oder der Kaufhandel, oder die Gelehrsamkeit sein sollte«) als eine Frage der »Lust der Lebensart« verhandelt, so wird vollends klar, dass er »Lust« in einem sehr breiten und dilatorischen Sinn gebraucht.31 Seine Argumentation scheint daher auf einem völlig abstrakten Begriff von Lust, Annehmlichkeit oder Vergnügen zu beruhen, dessen Verbindung mit der Empfindungsbasis unklar und daher mit dem traditionellen Verständnis von Hedonismus auf den ersten Blick nichts mehr zu tun zu haben scheint. Wenn alles, was man tun will, definitorisch an einen erwarteten Lustgewinn gekoppelt ist, ist die Frage nach dem Stellenwert partikularer hedonischer Gefühlserlebnisse für das übergreifende glückliche Leben nicht zu beantworten. Wie vor allem Andrews Reath herausgearbeitet hat, nimmt Kant in der Metaphysik der Sitten einen neuen Anlauf. Hier widmet er sich zunächst der Unterscheidung zwischen episodischem und habituellem Begehren, also Wunsch und Neigung. Dies ermöglicht ihm, zwischen erlebnishafter Lust und langfristigen Dispositionen und Projekten zu unterscheiden. Neigung charakterisiert er als Typ der Handlungsbestimmung, »vor welcher [...] Lust, als Ursache, notwendig vorhergehen muß«.32 Hier ist Lust nicht Gegenstand, sondern kausale Grundlage der Neigung. Irgendwo in der langen Kette von Erfahrungen und Aktivitäten, die wir in der Ausbildung und Habitualisierung von Neigungen durchlaufen, muss einmal ein Lustgefühl für eine kausale Initialzündung gesorgt haben.33 Ich hätte keine Neigung dazu entwickelt, den Verlauf der Tour de France in jedem Jahr zu verfolgen, wenn nicht wenigstens irgendwann einmal ein erfreuliches Erlebnis damit verbunden gewesen wäre. Lusterfahrung ist damit eine historische, aber nicht notwendig aktuelle Triebkraft in der Verfolgung einer Konzeption des Glücks. Damit ist nicht unverträglich, dass das Glücksstreben sich von seinen empfindungsmäßigen Grundlagen emanzipieren könnte. Neigungen könnten auf der Basis einer anfänglichen kausalen Verknüpfung mit Lustempfindung beibehalten werden, auch wenn sie längst ihre vergnüglichen oder angenehmen Bezü-

29 KpV, S. 130, 132, MdS S. 320. 30 GMS, S. 24. 31 MdS, S. 581f. Insofern unterscheidet sich, nebenbei bemerkt, der moderne Hedonismus vom antiken. Für Aristoteles ist ein der Lust geweihtes Leben stets von einem der politischen Ehre oder der wissenschaftlichen Erkenntnis geweihten verschieden. Hedonische Erfüllung ist eine unter anderen Möglichkeiten. Der von Kant verwendete modernere Begriff von Lust ist so abstrakt, dass alles Mögliche, auch Ehre und Erkenntnis, als lustspendend aufgefasst werden kann. 32 MdS, S. 316. 33 Andrews Reath: »Hedonism, Heteronomy and Kant`s Principle of Happiness«, Pacific Philosophical Quarterly 70, 1989, S. 42-72, 48f.

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ge verloren haben. Der Präferentialismus ist imstande, den Hedonismus zu beerben. Neben dem Verhältnis von Hedonismus und Präferentialismus verdient ein weiteres Element von Kants Glücksbegriff Beachtung. Wir müssen nun fragen, wie die naturhaft-episodische Seite des Glücks in Gestalt lustvoller Ereignisse mit der verständigen Betrachtung des Glücks zusammenhängt. Es ist die Reflexion, die Kant zufolge eine kommensurierende Rolle für unser Glücksstreben übernimmt. Glücklich sein können wir nicht bewusstlos, sondern nur »nach Begriffen«, und zwar unter der Perspektive eines ausgebildeten »Entwurf[s] der Glückseligkeit«34 oder, wie man heute sagt, einer Konzeption des Glücks. Die Notwendigkeit, eine Harmonie in unsere verschiedenen Strebungen hineinzubringen, besteht nicht zuletzt deshalb, weil Ansprüche auf episodisches und übergreifendes Glück in einem Leben integriert werden müssen.35 Kant unterscheidet daher impressionistische Wünsche von stabilen Neigungen. Neigungen äußern sich als habitualisierte, regelhafte Begierden,36 während Wünsche auch sprunghafte und irreguläre Befriedigung verlangen können. Verstand, Einbildungskraft und Vernunft müssen also Kohärenz unter den einzelnen Bestrebungen stiften, so dass sie sich in der Verfolgung nicht wechselseitig blockieren oder zerstören.37 Hatte Kant in Bezug auf die hedonistischen Grundlagen des Glücks bereits von einem »aufgedrungenen Problem« gesprochen, so fällt sein Urteil über das Glücksstreben nach Begriffen, also für die epistemischen Fundamente der Konzeptionen des Glücks, noch schärfer aus. Hier handelt es sich nicht allein um ein Problem, sondern geradezu um »ein Unglück«, das darin liege, »dass der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, dass, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle.« 38 Auch bei idealer Verständigkeit und unter optimalen Erkenntnisbedingungen könne sich ein »endliches Wesen« keinen »bestimmten Begriff von dem mache[n], was es eigentlich wolle.«39 Der Verstand registriert, was uns Freude verursacht, kann aber keine unumstrittenen Folgerungen daraus ziehen. Eine Konzeption des Glücks ist 34 GMS, S. 20. 35 M. Seel: Versuch über die Form des Glücks, S. 62f. 36 MdS. 316, »Die dem Subjekt zur Regel (Gewohnheit) dienende sinnliche Begierde heißt Neigung.« (Anthr., S. 579). Allerdings schreibt Kant Neigungen auch den vernunftlosen Tieren zu (MdS, S. 318). In KpV wird Neigung durchgängig als Oberbegriff zu Wünschen und gewohnheitsmäßigen Dispositionen gebraucht. 37 Dazu ist es erforderlich, dass Verstand und Vernunft sich mit den Begierden befassen, sie bewerten, vergleichen und integrieren (Anthr., S. 599). Es kann Wünsche und Neigungen geben, die aus einer Konzeption des Glücks hinausgedrängt werden, auch wenn sie immer noch einen starken hedonistischen Sog auslösen und in diesem Sinne Wünsche und Neigungen bleiben. 38 GMS, S. 47. 39 Ebd.

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»nicht ein Ideal der Vernunft, sondern der Einbildungskraft«.40 Belastbar wahre prospektive Überzeugungen über das eigene Glück kann es nicht geben. Dieses vermeintliche »Unglück« wird uns schließlich zurück zur Logik des Freiheitsrechts bei Kant führen. Zunächst müssen wir fragen, warum es eigentlich nicht möglich sein soll, definitiv und »mit sich einstimmig« abzusehen, was der Inbegriff des je eigenen Glücks denn in Wirklichkeit ist. Um das zentrale Problem zu identifizieren, sollten wir zunächst festhalten, dass es ein Problem ist, das uns als »endliche« Wesen betrifft. In der Grundlegung heißt es, dass selbst »das einsehendste und allvermögendste, aber doch endliche Wesen« sich keinen bestimmten Begriff davon machen könne, was es eigentlich wolle.41 In der Kritik der Urteilskraft konzediert Kant darüber hinaus, »dass die Natur, wenn sie auch seiner Willkür gänzlich unterworfen wäre, doch schlechterdings kein bestimmtes allgemeines und festes Gesetz annehmen könnte, um mit diesem schwankenden Begriff ... übereinzustimmen.«42 Berücksichtigen wir all diese Idealisierungen eines endlichen Wesens im Hinblick auf seine Rationalität, seine Informiertheit und sein Vermögen, den Weltlauf zu bestimmen, so liegt zumindest nicht auf der Hand, warum ein solches Wesen nicht doch eine wohlumrissene und zutreffende Konzeption des Glücks entwerfen und verfolgen können sollte. Einige der von Kant genannten präsumtiven Gegenbeispiele lassen sich unter diesen Idealisierungen zweifelsfrei ausräumen. Auch der mögliche Einwand klassischer Autoren, Konzeptionen des Glücks seien nicht immun gegen schieres Pech, scheint jedenfalls dann nicht stichhaltig zu sein, wenn wir uns einen ideal vermögenden, also naturbeherrschenden Akteur vorstellen. Vielversprechender erscheint es zunächst anzunehmen, dass die Ungewissheit des Glücks etwas mit unserer sozialen Natur zu tun hat. In der Tat gibt es einen wichtigen Strang in Kants Denken über das Glück, vertreten vor allem in der Religionsschrift, in dem Glücksmotive als »vergleichende Selbstliebe« identifiziert werden, als Wunsch, besser dazustehen als andere Leute.43 Bestünde das Glück darin, zu wissen, dass unser Leben besser verläuft als das anderer Leute, wäre es ein positionales Gut, dessen Zuteilung daher in der Antizipation von Tatsachen die das Subjekt allein betreffen, wie Reichtum, Gesundheit, usw. auch von einem allwissenden und allvermögenden Wesen nicht vorwegzunehmen wäre. Allen Wood hat diese Überlegungen aufgegriffen und die vergleichende Dimension zum zentralen Merkmal von Kants Sicht des Glücks erklärt,44 aber es ist fraglich, ob sie über die Ungewissheit unserer Konzeptionen des Glücks Aufschluss gibt. Zunächst ist unklar, ob Kants Identifizierung von Glück mit Selbstliebe tatsächlich die komparativen und kompetitiven Implikationen bei sich führt, 40 41 42 43 44

GMS, S. 48. GMS, S. 47. KdU, S. 388. Religion, S. 673f. Allen Wood: »Kant vs. Eudaimonism«, in Predrag Cicovacki (Hg.): Kant’s Legacy: Essays Dedicated to Lewis White Beck, Rochester 2000.

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die Wood ihr zuschreibt. Die Rousseausche Projektion vergleichender Selbstliebe im Sinne einer artifiziellen und destruktiven amour propre (im Gegensatz zu einer natürlichen, wohltätigen amour de soi) findet in Kants Verwendung des Ausdrucks »Selbstliebe« in seinen moral- und rechts- bzw. politisch-philosophischen Werken keinen Anhaltspunkt. Weiterhin ist selbst bei Rousseau die komparative Dimension der Selbstliebe Ausdruck einer partikularen kulturellen Entwicklung, die anders hätte ablaufen können. Kants Betrachtung über die notwendige Unbestimmtheit von Konzeptionen des Glücks, die aus der Unwissenheit über die soziale Position und den komparativen Wert von Besitztümern und Status resultierte, wäre somit höchstens als Beobachtung über die gegenwärtige Zivilisation, nicht aber über das Wesen des Glücks, haltbar. Letztlich kann ein Argument gegen die ausschlaggebende Bedeutung des kompetitiven Selbstbezugs sich aber auch auf die von Kant eingeführten Idealisierungen stützen. Ich sehe keinen Grund, warum nicht die relativen Positionen anderer Personen auf der Basis soziologischer Kenntnisse gewusst und von einem allvermögenden Wesen auch fixiert werden könnten. Falls es daher wirklich so ist, dass der Erfolg einer Konzeption des Glücks daran hängt, dass man an der Spitze der sozialen Pyramide steht, wird ein idealisierter, obgleich »endlicher« Designer, dem der Verlauf seines Lebens nach Naturgesetzen gehorcht, auch dafür sorgen können. Anders wäre es, wenn unser Streben nach Glück nicht zentral mit relativem sozialem Status zu tun hätte, sondern mit der Anerkennung durch andere freie Personen. In den freien Handlungen und Einstellungen anderer, die jeweils auch anders ausfallen könnten, könnte ein Element der Kontingenz liegen,45 das ein notwendiges epistemisches Defizit für ein nach Glück strebendes allwissendes und allvermögendes Wesen markiert. Auch das machtvollste Wesen wird nicht in der Lage sein, für das Gelingen intersubjektiver Beziehungen zu sorgen, falls solche in seinem Entwurf der Glückseligkeit vorgesehen sein sollten. Allerdings schweigt Kant sich in seiner Erörterung des Glücks über diese Dimension aus. Das bedeutet nicht, dass er auf andere gerichtete Wünsche und Neigungen als Komponenten des eigenen Glücks völlig ignorieren würde. Aber selbst in seinen bekanntesten Beispielen wie dem des »Menschenfreundes«46, der sich einfach daran erfreut, Gutes zu tun, konzentriert Kant sich auf die subjektive Perspektive des Wohltäters (seine externen Präferenzen) und blendet das mögliche Glück der kontingenten, frei gewährten Zuneigung aus. Doch obgleich die Integration der freien Reaktion anderer ein klares Beispiel für die Grenzen des Vermögens selbst idealisierter Glücks-Designer abgeben mag, sind wir, da wir keine Hinweise da45 Zu den gesellschaftstheoretischen Grundlagen dieser Figur vgl. Gerhard Gamm: Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang aus der Moderne. Frankfurt/Main 1994, S. 246ff.; zu den sozialphilosophischen vgl. Gerhard Gamm: »Zeit des Übergangs. Zur Sozialphilosophie der modernen Welt«, in ders. et al. (Hg.): Hauptwerke der Sozialphilosophie. Stuttgart 2001, S. 7 – 28, S. 25. 46 GMS, S. 24.

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für haben, dass Kant gerade dieses Phänomen vor Augen stand, noch nicht am Grunde des Problems angekommen. Eine radikale Unsicherheit, so Kant, unterliegt unseren Konzeptionen des Glücks: Selbst wenn wir erreichen würden, was wir uns vorgestellt haben, könnten wir noch immer unglücklich sein.47 Welche Erklärung steht uns zur Verfügung, um zum Boden des »Unglücks« vorzudringen? Ein Grund für den Umstand, dass niemand »bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle«, liegt meiner Ansicht nach darin, dass zwischen Vorstellung und Erfüllung einer Konzeption des Glücks das Element ihrer hedonischen Beglaubigung abhanden kommen kann. Kants Beispiele in der Grundlegung beruhen auf der Beobachtung, dass Personen, die erreichen, was sie sich vorgenommen haben, dennoch unter ausbleibender hedonischer Beglaubigung leiden können. Plötzliche und unerklärliche Änderungen des Gefühlslebens ereignen sich und werfen Entscheidungsdruck auf. »Will er ein langes Leben, wer steht ihm dafür, dass es nicht ein langes Elend sein würde?«48 Das in Frage stehende Elend resultiert wohlgemerkt weder daraus, dass unerwartete Umstände eintreten oder unbekannte Alternativen sich auftun, noch daraus, dass das Leben äußerlich scheitert – die Abwendung von prinzipiell vorhersehbaren Übeln dürfen wir unserem idealisierten Akteur durchaus zutrauen. Und in der Tat gäbe es für einen rationalen Akteur, der eine Konzeption des Glücks nach der Art eines Rawlsschen »Lebensplans« verfolgt, keinen prinzipiellen Grund, ein solch »langes Elend« zu vermeiden, handelte es sich doch nach wie vor um eine wohlüberlegte Konzeption.49 Anders im Falle Kants. Hier steht mit ausbleibender hedonischer Beglaubigung ein Grund zur Verfügung, der annehmen lässt, eine Konzeption des Glücks, sei sie auch völlig kohärent und in der Vergangenheit zuverlässig gewesen, sei berechtigterweise, aber erfolglos auf die Zukunft projiziert worden. Die Ungewissheit eines Begriffs des Glücks kann uns zur Anpassung oder Neuorientierung auf der Basis neuer und überraschender hedonischer Information zwingen, das heißt von Faktoren, denen wir als Naturwesen unterworfen sind und die außerhalb unserer Kontrolle liegen. Selbst unter der Annahme idealer Rationalität und idealer epistemischer Positionierung der Person sind unsere Entwürfe des Glücks der Veränderung unterworfen: Die Bewährung von Konzeptionen des Glücks kann also nicht im Rahmen einer rein kohärentistischen Sicht verstanden werden. Eine Konzeption des Glücks erfüllt nicht ihren Zweck, wenn sie sich gegenüber neuen Erfahrungen und Hoffnungen, darunter hedonistischen, prinzipiell unsensibel verhält. Der Unterschied zwischen einem guten Leben (im Sinne eines sinnvollen und erfüllten

47 KdU, S. 388; vgl. Wood, ebd. 48 GMS, S. 48. 49 Vgl. John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1975, S. 445ff., und die treffende Kritik von M. Seel, Versuch über die Form des Glücks.

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Lebensplans) und einem glücklichen Leben scheint darin zu liegen, dass letzteres, nicht aber ersteres, sich dem hedonistischen Typ von »Widerlegung« aussetzen und gegebenenfalls beugen muss. Die hedonistische Dimension von Konzeptionen des Glücks legt nahe, in Anlehnung an sprachphilosophische Debatten über die zukünftige Bedeutung von Ausdrücken von der Nichtprojizierbarkeit des Glücks zu sprechen: obwohl die Zuschreibungsbedingungen von Glück in der Erfüllung eines Systems von Erwartungen liegen, besteht keineswegs die begründete Hoffnung darauf, dass, wenn diese Erwartungen erfüllt sind, Glück tatsächlich die Folge ist.50 Konzeptionen des Glücks gestatten aus dem Grund keine sichere Projektion, weil sie unter Revisionsdruck geraten können, und eine offensichtliche Quelle solchen Revisionsdrucks sind hedonische Erlebnisse. Hedonische Erfahrungen gehen mithin auf mindestens zwei Weisen in den Entwurf von Konzeptionen des Glücks ein: neben dem kausalen Aspekt in der Ausbildung von Neigungen, der anhand von Reaths Reinterpretation des Stellenwerts von Lustempfindung etabliert wurde, kann von ihnen der Anstoß zu ihrer Korrektur ausgehen. Diese Lesart ermöglicht eine nachvollziehbare Erklärung dafür, warum auch das allwissendste und allvermögendste Wesen sich prinzipiell über die Erfüllungsbedingungen einer eigenen Glückskonzeption nicht von vornherein im Klaren sein kann.

3. Der Stellenwert des Glücks in der Begründung des Freiheitsrechts Wenn Kant die Existenz eines Rechts, sein Glück nach eigenen Begriffen zu verfolgen, behauptet, so wendet er sich nicht etwa gegen eine politische und rechtliche Ordnung, die sich das Unglück der Personen zum Ziel gesetzt hätte, sondern gegen eine paternalistische Politik des Glücks in dem Sinne, dass »der Souverän das Volk nach seinen Begriffen glücklich machen« will und damit, Kant zufolge, notwendig zum Despoten wird.51 Kants Kritik richtet sich nicht darauf, dass der Machthaber gar nicht das Glück des Volks im Sinn haben mag. Sein Punkt gilt ausdrücklich auch für den Fall, der »mächtige Nebenmensch« möge »so wohlwollend sein, als man immer will«.52 Prinzipielle Gründe, die den Machthaber daran hindern werden, andere nach seinem Begriffe glücklich zu machen, liegen

50 Der Terminus »Projizierbarkeit« stammt aus der Goodman-Kripke-Debatte über Ausdrücke wie »grue« oder »+«, deren Erfüllungsbedingungen einen Zeitindex haben und zu t1 andere sein können als zu t. Genauer müsste man sagen, dass die Erfüllungsbedingungen von »x ist glücklich zu t1« zu t nicht vorausgesehen werden können. Vgl. Nelson Goodman: Tatsache, Fiktion, Voraussage, Frankfurt/Main 1975; Saul Kripke: Wittgenstein über Regeln und Privatsprache, Frankfurt/Main 1987. 51 Gem., S. 159. 52 Anthr., S. 603f.

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nach der oben etablierten Lesart von Kants Glückstheorie in der hedonistischen Fundierung des menschlichen Glücks. Kants politische Philosophie argumentiert völlig analog seiner Moraltheorie, wenn sie festhält: »materiale« oder »empirische« Prinzipien können nicht der allgemeinen Gesetzgebung dienen: »In Ansehung ... der Glückseligkeit kann gar kein allgemein gültiger Grundsatz für Gesetze gegeben werden. Denn sowohl die Zeitumstände, als auch der sehr einander widerstreitende und dabei immer veränderliche Wahn, worin jemand seine Glückseligkeit setzt (worin er sie aber setzen soll, kann ihm niemand vorschreiben), macht alle festen Grundsätze unmöglich und zum Prinzip der Gesetzgebung für sich allein untauglich.«53

Die beiden Bestandteile dieses Arguments lassen sich nun mit unserer Diskussion in Beziehung setzen. »[W]orin er seine Glückseligkeit setzen soll, kann ihm niemand vorschreiben«: Dies liegt nach unserer Erörterung daran, dass von außen nicht über die kausalen Vorbedingungen verfügt werden kann, die die Ausbildung einer Neigung ermöglichen. Aus der kausalgeschichtlichen These über den Ursprung der Neigungen folgt, dass nicht alle ihr angesonnenen Konzeptionen des Glücks reale Optionen für eine Person darstellen werden. Selbst wenn sie sozusagen probehalber in eine alternative Konzeption hineinschlüpfen sollte, so hängt die Möglichkeit, bestimmte Neigungen zu adoptieren, von kausalen Faktoren ab, die außerhalb ihres Einflussbereichs liegen. Dieser Verweis auf die subjektiven kausalen Vorbedingungen des Glücks enthält gleichzeitig ein machtvolles egalitäres Argument. Weil über die ermöglichenden Bedingungen der eigenen Neigungen nicht willentlich verfügt werden kann, wäre es falsch, verschiedene Typen von Neigungen, die vielleicht gar nicht allen Personen gleichermaßen zugänglich sind, qualitativ zu unterscheiden und politisch verschieden zu gewichten. Wenn das Recht auf die Verfolgung des Glücks ein gleiches für alle ist, dürfen nicht präsumtiv höherwertige Neigungen gegenüber weniger hochwertigen privilegiert werden. Zweitens hätte eine Person, selbst wenn sie sich auf die Konzeption des Glücks, die ihr vom Souverän aufgedrängt wird, einließe, die Stabilität einer einmal gebildeten Konzeption des Glücks nicht in der Hand. Der »immer veränderliche Wahn, worin jemand seine Glückseligkeit setzt«, muss mit Revision rechnen, die nach unserer Diskussion ihrer hedonischen Überprüfbarkeit geschuldet sein kann. Aus der These, dass Konzeptionen des Glücks hedonistisch motivierter Korrektur unterworfen sein können, folgt, dass ohne die »richtigen« Empfindungen in der Überprüfung von einmal adoptierten Neigungen ein Fest53 Gem., S. 154. Vgl. »Wohlfahrt aber hat kein Prinzip, weder für den, der sie empfängt, noch der sie austeilt (der eine setzt sie hierin, der andere darin); weil es dabei auf das Materiale des Willens ankommt, welches empirisch und so der Allgemeinheit einer Regel unfähig ist.« (Streit, S. 360).

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halten an ihnen nicht strikt notwendig sein kann. Also muss bezweifelt werden, dass »jemanden nach anderen Begriffen als seinen eigenen glücklich machen« überhaupt eine konsistente Vorstellung ist. Glücksorientierte Gesetzgebung, selbst wenn sie das Wohl der Bürger zum Ziel hat, kann nicht zuverlässig erfolgreich sein; dies resultiert aus einer strukturellen Eigenschaft von Glückskonzeptionen. Enthielte Kants Glückstheorie keine hedonistischen Momente, so läge die Überzeugungskraft eines solchen Arguments zumindest nicht auf der Hand.54 Das Recht, seine eigene Konzeption des Glücks zu verfolgen, muss also nicht nur als der Würde der Freiheit geschuldet verstanden werden. Es kann sich nicht nur auf autonomietheoretische Grundlagen stützen, sondern wird von Kant auch mit glückstheoretischen Argumenten untermauert. Nur auf der Basis eines individuellen Freiheitsrechts, das die Ausprägung und Revision unserer Konzeptionen des Glücks und ihre Verfolgung schützt, kann auf kausale und korrektive Glücksdaten individuell und flexibel reagiert werden. Diese Daten entspringen nicht unserer Spontaneität als Vernunftwesen, sondern unserer Rezeptivität als Naturwesen. Das Freiheitsrecht feiert und respektiert mithin nicht nur die »Pose der freien Wahl«, die sich in einer bestimmten Konzeption ausdrückt, sondern auch ihre Akkomodation dessen, was das wählende Subjekt nicht kontrollieren kann. Aus dem Befund dieses Beitrags lässt sich folgern, dass eine gewissermaßen »dualistische« Neubewertung von Kants Rechts- und politischer Philosophie, in der neben Freiheits- auch Glücksinteressen eine Rolle spielen, ansteht. Kants theoretische Philosophie ist geprägt von der Dualität der beiden Teile unseres Erkenntnisvermögens: Sinnlichkeit und Verstand. Dass von der Spontaneität des Denkens und der Rezeptivität der Sinne gleich bedeutende Beiträge zu unseren Erfahrungen geliefert werden, ist unumstritten. Die Interpretation von Kants praktischer Philosophie leidet dagegen unter einer Verabsolutierung des Aspekts der Spontaneität, der Entscheidungsfreiheit des souveränen Individuums, und blendet das Material dieser Entscheidungen völlig aus. In Kants Theorie des 54 Allerdings ließe sich einwenden, dass Kant in seiner späten Metaphysik der Sitten den Wohlfahrtsdespotismus als ungerecht, nicht als widersinnig, zurückweist. In einem Regime, das die Untertanen nach seinen Begriffen glücklich zu machen trachte, könne sich viel »behaglicher und erwünschter« leben lassen (MdS, S. 437) – d.h. sowohl die hedonische Komponente (»behaglicher«) als auch die präferentialistische Komponente des Glücks (»erwünschter«) wären in der Despotie erfüllbar. Diese Stelle kann aber schwach gelesen werden als Einräumen der Möglichkeit, dass Glück zufällig auch im despotischen Regime gewährleistet werden mag, indem hedonistische und präferentialistische Bedingungen im Einzelfall einer von außen zugewiesenen Glückskonzeption zusammentreffen, was nach der hier entwickelten Argumentation auch nicht bestritten werden muss. Außerdem wäre zu untersuchen, ob Kant sich in der Metaphysik der Sitten nicht – im Gegensatz zum früheren Gemeinspruch – auf eine Konzeption adaptiver Präferenzen stützt, was den Unterschied zwischen der deutlich hedonistischen Position des Gemeinspruchs und der stärker präferentialistischen Konzeption der MdS (in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten ebenso wie in der Tugendlehre) erklären könnte.

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Glücks ließen sich mit hedonistischen Motiven rezeptive Merkmale aufzeigen, deren Berücksichtigung sich bis in die normativen Prinzipien der Rechtsphilosophie und der politischen Philosophie hinein verfolgen ließ. Wir verfügen daher über starke Anhaltspunkte dafür, dass Kant auch im Praktischen unserer Identität als Naturwesen, die nicht-verstandesmäßigen Einflüssen unterworfen ist, zu ihrem Recht zu verhelfen bereit ist. Das unbeständige, ungewisse Glück erscheint in dieser Rekonstruktion, um die Theoriesprache von John Rawls heranzuziehen, als eine Bürde der Urteilskraft,55 deren Anerkennung der Anwendung der Staatsmacht Grenzen setzt, ihre Ausübung mag so wohlwollend gedacht sein, wie man will. Dabei sind wir nicht genötigt, uns auf einen bestimmten metaphysischen Ursprung dieser Bürde festzulegen. Ob es sich bei der Veränderlichkeit von Konzeptionen des Glücks um ein Faktum handelt, das auf gesellschaftlichen Pluralismus zurückgeht, auf die Erfahrungsbedingungen der modernen Welt, etwa der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, auf die Kant in dem Zusammenhang verweist,56 oder ob es sich um ein Faktum der Natur handelt, dass die Empfänglichkeit für natürliche Stimuli bei verschiedenen Personen, und innerhalb eines Lebens in verschiedenen Phasen, unterschiedlich ausgeprägt ist, soll hier nicht entschieden werden. Beides käme für Unterschiede in der Empfänglichkeit auf, für die Notwendigkeit einer kausalen Einbettung von Glückskonzeptionen und für die Akkomodation von Veränderungen der Empfindsamkeit, bei denen wir uns selbst als passiv und opak erfahren. Beides stellte die materiale Grundlage bereit, um den vom Freiheitsrecht geschützten Aktivitäten auch jenseits eines Eigenwerts der freien Willkür Bedeutung beizulegen.

55 John Rawls: Politischer Liberalismus, Frankfurt/Main 1998, S. 127-132. 56 GMS, S. 12.

Die produktive Unbestimmtheit der pädagogischen Praxis ALFRED SCHÄFER

Vorbemerkung Die gegenwärtige Situation in der Erziehungswissenschaft unterscheidet sich wohl nicht wesentlich von der anderer Sozialwissenschaften: Einer systematischen Reflexion, die zunehmend nicht nur die objektive, sondern auch die soziale Referenz verwendeter Konzepte in Frage stellt, korrespondiert eine sozialwissenschaftlich zu nennende empirische Forschung, die nicht erst die ›Flucht aus der Kategorie‹1 antreten muss, weil sie auf die kategoriale Reflexion ihrer Fragestellungen und Ergebnisse immer schon Verzicht geleistet hat. Während auf der einen Seite die Bedeutung von Konzepten (wie Subjekt, Emanzipation, Autonomie, Person u.ä.) ins Gleiten gerät, wird auf der anderen Seite eine Wirklichkeit untersucht, deren pädagogische Signifikanz kein Thema zu sein scheint. Für beide Näherungen scheint zu gelten, dass eine bestimmbare Bedeutung des Pädagogischen nicht auszumachen ist. Vor diesem Hintergrund muss allerdings erstaunen, dass sich die Wissenschaft von der Erziehung nach wie vor als praktische Wissenschaft, in der geisteswissenschaftlichen Tradition einer ›Wissenschaft von der und für die Praxis‹, bewegt. Eine handlungstheoretisch verstandene pädagogische Wirklichkeit, in der souveräne Erzieher steuernd und verantwortlich Prozesse des Aufwachsens gestalten, scheint damit zu einer objektiven Referenz für die Zuweisung einer pädagogischen Bedeutsamkeit zu werden. Dies ergibt eine eigentümliche Situation: Während also einerseits weder kategoriale Reflexion noch empirische Forschung in der Lage zu sein scheinen, dem, was man als pädagogisch bedeutsam wahrzunehmen gelernt hat, bestimmte Bedeutungen mit 1

Vgl. Gerhard Gamm: Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang aus der Moderne, Frankfurt/Main 1994.

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wissenschaftlichem Geltungsanspruch zuzuweisen, wird andererseits mit der pädagogischen Praxis eine objektive Referenz in der Wirklichkeit postuliert, an der jede mögliche Bedeutungszuweisung sich zu messen habe. Die Signifikanz des Pädagogischen und eine objektive Referenz treten so in einen Verweisungszusammenhang, dessen Mitte, mögliche Signifikate des Pädagogischen, kaum mit Aussicht auf Begründbarkeit bestimmbar erscheint. Eine ›adäquate‹ Bestimmung der ›wirklichen Praxis‹ scheint ebenso wenig aussichtsreich zu sein wie eine definitive Bestimmung der Bedeutung dessen, was pädagogisch bedeutsam ist. Es deutet sich ein Raum von Auseinandersetzungen um die Bedeutungsbestimmung des Pädagogischen an, die weder durch den Verweis auf eine pädagogische Bedeutsamkeit noch durch ein Referieren auf die Wirklichkeit einer pädagogischen Praxis zu entscheiden ist. Die objektive Referenz der pädagogischen Praxis scheint im ›Begriff‹ ebenso wenig aufzugehen wie das, was pädagogisch bedeutsam ist. Die folgenden Überlegungen versuchen, sich dieser eigentümlichen Konstellation von beiden Seiten her zu nähern. In einem ersten Schritt soll gezeigt werden, dass die moderne pädagogische Gegenstandskonstruktion damit anhebt, ihre mögliche Wirklichkeit in Abgrenzung zur funktionalen sozialen Reproduktion zu verorten. Das Pädagogische im modernen Sinne beginnt dort, wo die soziale Wirklichkeit und deren Selbstverständnis im Namen der Differenz im Kind – und nicht traditionell durch ein transzendentales Signifikat – in Frage gestellt wird. Natur und Kultur, die kindliche Fremdheit und die soziale Normalisierung werden einander konfrontiert und die Pädagogik gibt das Versprechen einer durch sie möglichen Versöhnung ab, indem sie eine unwahrscheinliche Geschichte über eine unwahrscheinliche Wirklichkeit erzählt. Das Erzählen solcher Geschichten wird zwar mit der kantischen Differenz von intelligiblem und empirischem Subjekt schwieriger, aber man hält über alle Paradoxien hinweg an der Möglichkeit eines ästhetischen Vorscheins der Versöhnung fest. Von Beginn an scheint also das pädagogisch bedeutsam Erscheinende mit seiner Unbestimmbarkeit verbunden zu sein. Das Pädagogische im modernen Verständnis beginnt dort, wo man weder naiv auf ein transzendentales Signifikat noch auf einen transzendentalen Signifikanten zurückgreifen kann.2 Durch den Bezug auf unbestimmbare Referenzpunkte wie Identität, Autonomie, Natur u.ä. werden Differenzen in die ›Wirklichkeit‹ eingetragen und ein imaginärer Raum eröffnet, jenseits dessen es keine pädagogische Fragestellung zu geben scheint (I.). Mit der Darstellung einer Ermöglichung des Unwahrscheinlichen, der Versöhnung von Natur und Vernunft, der empirisch-sozialen Ermöglichung des Vernunftsubjekts in pädagogischer Verantwortung, wird jede Vorstellung einer pädagogischen Praxis als objektiver Referenz naiv. Trotz der Einführung ›pädago2

Gerhard Gamm hat eben dies als Ausgangspunkt der neuzeitlichen Frage nach der Moral angegeben: Vgl. »Die Unausdeutbarkeit des Selbst«, in: ders.: Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten, Frankfurt/Main 2000, S. 211.

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gischer Institutionen‹ wie etwa der Schule bleibt daher deren ›pädagogischer Charakter‹ umstritten. Wenn nun dennoch die Vorstellung einer ›pädagogischen Praxis‹ als objektiv-realem Bezugspunkt pädagogischen Denkens schließlich einen zentralen Stellenwert für das Selbstverständnis der pädagogischen Wissenschaft gewinnt, so kann man sich fragen, ob dies nicht Ausdruck von Naivität oder metaphysischer Gewissheit ist. Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass damit eben auch die theoretische Bestimmbarkeit des Pädagogischen von dieser Seite her in Frage gestellt wird. In der ›Wirklichkeit der pädagogischen Praxis‹ scheint die Versöhnung von imaginären Bezugspunkten und sozialer Wirklichkeit, die den Raum des Pädagogischen konstituiert, immer schon gelungen zu sein – eine Versöhnung, die in ihrer Bedeutung theoretisch aber nicht zu bestimmen ist. Es scheint also so etwas zu geben wie eine wahre pädagogische Wirklichkeit: Diese findet sich in den steuernden und verantwortlichen Handlungen eines Praktikers und sie scheint zugleich nicht adäquat darstellbar zu sein. Will man nun die ›pädagogische Praxis‹ nicht in einem naiven ontologischen Sinne verstehen, stellt sich die Frage nach ihrer Bedeutsamkeit für die Thematisierung des Pädagogischen – die Frage nach ihrer signifikanten Funktion für den pädagogischen Diskurs. Einer Antwort auf diese Frage werde ich mich im zweiten Teil zu nähern versuchen (II.). Diese Antwort erfolgt dabei in zwei Schritten. Zum ersten werde ich zu zeigen versuchen, dass von einer objektiven Referenz allenfalls in einem metaphorischen Sinne gesprochen werden kann, dass man sich der Wirklichkeit der ›pädagogischen Praxis‹ allenfalls metaphorisch nähern kann: Sie bleibt ein unbestimmbarer Bezugspunkt von Bestimmungen. In einem zweiten Schritt nähere ich mich dann der Frage nach der Bedeutung eines vor diesem Hintergrund erhobenen Wahrheitsanspruchs. Dieser kann sich nur auf den Anspruch einer imaginären Schließung des Pädagogischen durch eine verfügende Pädagogik richten. Imaginär muss ein solcher Anspruch schon deshalb bleiben, weil dessen Referenz allenfalls metaphorisch angebbar ist. Zu fragen bleibt daher eher nach der diskursiven Funktion eines solchen Wahrheitsanspruchs. Unter Rückgriff auf das Konzept des ›leeren Signifikanten‹ (im Sinne von Laclau und Mouffe) werde ich daher die ›pädagogisch-praktische Wirklichkeit‹ als strategischen Einsatz betrachten, mit dessen Hilfe die imaginäre Einheit der Pädagogik als Handlungstheorie gegen die konstitutive Differenz des pädagogischen Raums behauptet und gegen Problematisierungen mit hegemonialem Anspruch verteidigt werden soll. Eine Analyseperspektive beinhaltet zugleich – und das ist die zugrunde liegende These –, dass der imaginäre Raum des Pädagogischen durch den Wahrheitsanspruch einer sich entziehenden ›pädagogischen Wirklichkeit‹ nicht verlassen wird, sondern dass es sich dabei nur um eine hegemoniale Option im Rahmen dieses Raumes handelt.

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1. Probleme mit einer als ›pädagogisch‹ zu qualifizierenden Wirklichkeit Was menschliche Handlungen zu ›pädagogischen‹, was Menschen zu ›Erziehern‹ und andere zu ihren Adressaten oder gar ›Zöglingen‹ macht, sind schwierig zu beantwortende Fragen. Denn immerhin lassen sich Handlungen und Positionen, denen das qualifizierende Attribut ›pädagogisch‹ verliehen wird, auch in einem anderen Vokabular beschreiben. Ein Lob oder eine Ermahnung sind nicht schon per se ›pädagogisch‹ und damit ist der diese Praktiken Artikulierende weder automatisch ein Pädagoge noch sein Adressat ein Zu-Erziehender. Wenn man schon darüber streiten kann, wann eine Handlung als ›Lob‹ oder ›Ermahnung‹ zu qualifizieren ist, dann scheint ein solcher Streit auf jener zweiten Stufe der pädagogischen Qualifizierung solcher Aktionen noch problematischer zu werden.3 Meist behilft man sich an dieser Stelle mit generalisierten Absichten oder quasiobjektiven Prinzipien pädagogischen Handelns4, die ihre Legitimität wiederum von scheinbar unproblematischen Zielvorstellungen (wie Dispositionen, Charaktermerkmalen, Identität usw.) erhalten. Die einzelne Handlung wird zum Moment eines langfristig angelegten Prozesses, der teleologisch als durch ein Ziel integriert vorgestellt wird. Solche Ziele werden dann als generalisierte Absichten postuliert oder in quasi-objektiven Handlungsprinzipien, die die Spezifität des Pädagogischen kennzeichnen sollen, als gegeben behauptet. Das grundsätzlich ungelöste Problem aber besteht darin, dass solche integrierenden Zielvorstellungen selbst riskante Konstrukte darstellen, die zudem plural sind und bleiben. Außerdem scheint es kein Kriterium dafür zu geben, welche konkreten Handlungen denn nun zu einem an solchen Zielvorstellungen aufgehängten Projekt gehören. Theoretisch könnten alle möglichen konkreten Handlungen so verstanden werden, dass sie einen fördernden oder unterdrückenden Charakter im Hinblick auf ein solches vorgestelltes Projekt haben. Da das Projekt einer Erziehung, die 3

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An anderer Stelle habe ich die Logik untersucht, mit deren Hilfe pädagogische Wirklichkeiten in einem solchen zweistufigen Verfahren konstruiert werden. Vgl. Alfred Schäfer: Zur Kritik pädagogischer Wirklichkeitsentwürfe. Möglichkeiten und Grenzen pädagogischer Rationalitätsansprüche, Weinheim 1989. Brezinka hat so aus der Not wechselnder Motivlagen und deren empirischer Identifizierbarkeit, mit der immerhin die Kontinuität eines Erziehungsprozesses in Frage gestellt ist, eine Tugend gemacht: Ein einmal gefasster Beschluss zur Beförderung bestimmter Disposition fungiert gleichsam als eine Dominante, auf der die Spiele unterschiedlicher Motivlagen aufruhen. Vgl. Wolfgang Brezinka: Über Erziehungsbegriffe, in: Zeitschrift für Pädagogik 17 (1971), S. 567-614. Benner entwickelt in seiner »Allgemeinen Pädagogik« konstitutive und regulative Prinzipien, denen pädagogisches Denken und Handeln in der Moderne immer schon gehorchen soll. Vgl. Dietrich Benner: Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns, München 1987. Die letztlich normativ angesetzten Bedingungen der Möglichkeit einer für den Autor sinnvollen Rede von Erziehung werden mit den Bedingungen der Möglichkeit einer sinnvollen Erziehung kurzgeschlossen.

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durch ein allgemeines Ziel bestimmt wird, nicht durch einzelne Handlungen erreicht oder verfehlt werden kann, bleibt die pädagogische Qualifizierung von Handlungen in der eigentümlichen Schwebe einer nicht begründbaren Sinnzuschreibung. Eine empirische Kontinuität und damit die Wirklichkeit des pädagogischen Prozesses kann daher allenfalls postuliert werden.5 Diesen (empirischen) Identifikationsproblemen korrespondiert zugleich ein von Beginn an problematisierendes Wirklichkeitsverständnis: Der pädagogische Diskurs der Neuzeit setzt dort ein, wo eine Differenz in denjenigen eingezogen wird, der sich um die Integration jener fremden Kinder zu kümmern hat, denen gegenüber die Selbstverständlichkeit der sozialen Ordnung nicht gilt. Die Differenz von kindlicher Fremdheit und sozialer Zugänglichkeit im Kind, von ›menschlicher Natur‹ und kultureller Wirklichkeit, findet sich auf der Seite des Pädagogen wieder: Als Mitglied der sozialen Ordnung vertritt er diese gegenüber den Neuankömmlingen von einem Ort aus, der ihrer Fremdheit gerecht werden soll. Es ist dies ein Ort, der zumindest auf der Grenze des Sozialen und seiner symbolischen Repräsentation liegt. Von diesem Ort her sollen nicht nur die interpretierten Zuständlichkeiten des Heranwachsenden und dessen soziale Kontexte aufeinander bezogen werden, sondern auch die Fremdheit des Kindes und eine durch sie zur Disposition gestellte Grundlage des Sozialen. Man findet diese Konstellation in sehr deutlicher Form bei Rousseau. Mit Hilfe der Unterscheidung von Natur und Kultur konstruiert Rousseau auf geradezu paradigmatische Weise eine ›Zwischenwelt‹, einen imaginären Raum des Pädagogischen6: Die bewusst als transzendent gesetzte ›Natur des Menschen‹ jenseits des Sozialen gibt jenes Feld vor, innerhalb dessen dann die Paradoxie möglich erscheint, dass im Rahmen eines sozialen Zusammenhangs natürliche Figuren aufeinander treffen. Es handelt sich um einen Raum, in dem soziale Identität und natürlicher Mensch, soziale Ordnung und deren dieser gerade nicht unterliegende Grundlagen einander kreuzen7. Die Konzeption Rousseaus ist komplex. Sie konstruiert – zum ersten – den Naturzustand einer unmittelbaren Identität mit sich selbst als Transzendenz, als etwas, über das man aus der Perspektive einer verdorbenen Gesellschaft nichts sagen kann. Der natürliche Mensch ist kein gesellschaftliches Wesen. Auf diese Weise wird die Differenz von transzendentem Grund und Gegründetem einge5

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Dies hat Lochner in aufwendigen Reflexionen, die sich dem Interesse an einer empirischen Identifizierbarkeit verdanken, nachgewiesen. Vgl. Rudolf Lochner: Phänomene der Erziehung. Erscheinungsweisen und Ablaufformen im personalen und ethnischen Dasein, Meisenheim 1975. Das Konzept der ›Zwischenwelt‹ deutet auch auf die Probleme empirischer Forschung hin: Als Wirkungsforschung kommt diese sehr schnell an ihre Grenzen, als Diskursanalyse hat sie ihre Zukunft wohl noch vor sich. Vgl. Wilhelm Flitner: Das Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft in der Gegenwart, Heidelberg 1957. Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Emile oder über die Erziehung, Stuttgart 1963 und dazu Alfred Schäfer: Jean-Jacques Rousseau. Ein pädagogisches Porträt, Weinheim 2002.

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führt. Zum zweiten wird dieser transzendente Grund (wohl vor dem Hintergrund einer platonisch-christlichen Tradition) als Möglichkeitsbedingung verstanden, die Wahrheit verbürgt.8 Das gesellschaftliche Sein wie auch das erkennende Verhältnis ihm gegenüber gewinnt durch den Bezug auf die ›Natur‹ einen Grund, der die Perspektive auf Wahrheit in Sein und Erkenntnis eröffnet. Zum dritten weiß aber Rousseau, dass es sich bei einer solchen Perspektive um eine Konstruktion handelt: Der transzendente Grund der möglichen Wahrheit von sozialem Sein und Erkenntnis wird angenommen, um eine rhetorische Konstruktion der Möglichkeit der Versöhnung von Sein und Erkenntnis in der Wahrheit vorführen zu können. Paul de Man hat auf den Charakter des Versprechens hingewiesen, um diese rhetorische Konstruktion näher zu kennzeichnen.9 Ein solches Versprechen kündigt die reale Möglichkeit dessen an, was in der Gegenwart noch nicht geleistet werden kann. Es setzt die Verfügung über die Möglichkeitsbedingung, die transzendente Natur unter gesellschaftlichen Bedingungen voraus. Die Einsicht in die Wahrheit der vorkulturellen Natur wird zur Bedingung der Möglichkeit ihrer realen Erlangung: Metaleptisch wird das Künftige zur Voraussetzung einer erzählten Gegenwart. Das Versprechen verspricht nichts anderes als sich selbst: Es bleibt leer.10 Und dennoch ist ein solches leeres Versprechen mehr als nichts: Es hält die Differenz offen zwischen der sich schließenden Funktionsweise konstativer Wirklichkeitsvergewisserung und den performativen Eröffnungen des Andersmöglichen. Auch wenn man versucht sein mag, in der transzendentalphilosophischen Wende Kants dieses Spannungsverhältnis in der Relationierung von Verstand und Vernunft wieder zu finden, so ist doch auf einen – gegenüber der Rousseauschen Perspektive – bedeutsamen Punkt hinzuweisen. Die Figur des versprechenden Erzählers als transzendentalem Signifikanten wird prekärer: Seine 8

Man könnte am platonischen Höhlengleichnis zeigen, wie jene Konfrontation, die Novizen in traditionellen Initiationszeremonien mit dem fremden Grund ihrer Kultur konfrontiert, von dem her sie selbst eine im Unterschied zu ihrer sozialen eine grundlose Identität erhalten, in eine Logik transformiert wird, in der der Grund nicht mehr das fremde Andere der Kultur ist, sondern als Bedingung von deren Wahrheit eingeführt wird. Vgl. Mary Douglas: Reinheit und Gefährdung, Berlin 1985, S. 222ff. Dass sich diese Wahrheitsbedingung dann doch stärker entzieht, als Platon dies dachte, diese Figur hat das an den Neuplatonismus anknüpfende Christentum dann bis an die Schwelle der Neuzeit mit Macht vertreten. 9 Vgl. Paul de Man: Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust, New Haven, 1979, S. 246ff. Dass de Man diese Figur am Beispiel der Rousseau’schen Konzeption des Sozialvertrags erläutert, wirft die alte Frage nach dem Verhältnis von politischer und pädagogischer Rhetorik auf – danach, ob sich die Figuren, in denen das Imaginäre in beiden Bereichen handhabbar gemacht wird, nicht doch stark ähneln. 10 Werner Hamacher hat diese Figur expliziert und betont, dass sie als solche der Sprachkonzeption de Mans zugrunde liegt. Vgl. Werner Hamacher: »Unlesbarkeit«, in: P. de Man: Allegorien des Lesens, Frankfurt/Main 1988, S. 20f.

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grundlegende Einheit wird selbst zum X, vielleicht sogar zum leeren Versprechen eines grundlosen Grundes der Selbst- und Weltvergewisserung. Um sich zu diesem Ich verhalten zu können, benötigt man Bezugspunkte, die als nicht von diesem Grund gesetzte erscheinen: transzendente Gegenhalte wie metaphysische oder regulative Ideen, die bei aller unerreichbaren Notwendigkeit dennoch immer zugleich als durch das transzendentale Ich gesetzte erscheinen. Die Transzendenz kann kaum noch als sakrale behauptet werden, sondern nur als sakralisierter Gegenhalt, den man braucht, um ›ästhetische‹ Geschichten von der Freiheit, der Vernunft o.ä. zu erzählen. Ein solcher sakralisierter Gegenhalt erlaubt es, die Differenz von intelligiblem und empirischem Ich zu handhaben.11 Er bildet keinen Bezugspunkt, der es gestatten würde, beides unabhängig voneinander zu identifizieren, aber er eröffnet jenen ›Zwischenraum‹, bezogen auf den es möglich wird, schöne Geschichten zu erzählen – zum Beispiel über eine ›pädagogische Wirklichkeit‹, in der es neben sozial beschreibbaren Subjektivierungsprozessen auch noch um das ›autonome Ich‹ geht. Rousseau wusste, dass er eine fiktive Geschichte über das Zwischenreich von Natur und Kultur erzählt, deren theoretisch beanspruchte Konsistenz nur (ästhetisch plausible) Möglichkeiten vorführt. Aber er versprach die Realisierbarkeit dieser Möglichkeiten in einer bestimmten – und zwar handlungstheoretischen – Fassung: Er versprach, dass ein Prozess verantwortlich gesteuert werden kann, in dem Natur und Kultur versöhnt werden können. In dieser Phantasie wird der fiktive Erzieher zum quasi-göttlichen Garanten einer solchen Versöhnung. Die Paradoxien von Freiheit und Abhängigkeit, von Natürlichkeit und Sozialität werden aufgerufen und durch abenteuerliche Konstruktionen neutralisiert: So wird das pädagogische Verhältnis als ein nicht-soziales definiert, die paternalistische Verfügungsgewalt übergreift noch den Gegensatz von Freiheit und Lenkung, die Sprache wird dekontextualisiert und von den Weisen ihrer Verwendung abgekoppelt usw.12 Der Preis für die Phantasie der realisierbaren Versöhnung von (natürlicher) Transzendenz und (sozialer) Immanenz besteht in der Universalisierung und Naturalisierung einer Gewalt, die zunächst vom Adressaten nicht als solche wahrgenommen werden darf und später in freiwilliger Unterwerfung gewollt wird. Vor dem Hintergrund der kopernikanischen Wende Kants sind gegenüber einer solchen Position gewisse Skrupel angebracht. Eine Versöhnung von intelli-

11 Gerhard Gamm hat die unterschiedlichen Formen ausbuchstabiert, in deren Rahmen der Deutsche Idealismus sich zur Grundlosigkeit des transzendentalen Ich zu verhalten versucht. Vgl. G. Gamm: Der deutsche Idealismus. Eine Einführung in die Philosophie von Fichte, Hegel und Schelling, Stuttgart 1997. Für den Einfluss auf die Frühromantik könnte man verweisen auf: Dieter Henrich: Der Grund im Bewusstsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794/95), Stuttgart 1992 oder Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen, Frankfurt/Main 1989. 12 Vgl. dazu A. Schäfer: Jean-Jacques Rousseau.

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giblem und empirischem Ich und die soziale Hervorbringung von etwas, das sich sozial nicht hervorbringen lässt, scheinen von hier aus kaum noch konsistent denkbar zu sein. Die Paradoxien rücken in den Vordergrund: Man soll Freiheit durch Beeinflussung bewirken, moralisch Unvertretbares wie den Eingriff in die Autonomie des anderen als moralische Aufgabe betrachten. Dies bedeutet, dass bei allen Rückgriffen auf sakralisierte Gegenhalte (die Freiheit, die Vernunft, das romantische Erlöserkind usw.) nur noch Erzählungen sinnvoll erscheinen, die im Modus der Möglichkeit (also zumindest mit einer starken Abschwächung, wenn nicht gar ohne Rousseausche Realitätsimplikation) formuliert sind und gerade dadurch die Differenz, den Zwischenraum des Pädagogischen offen halten. Geschlossene Erfolgsgeschichten scheinen wenig sinnvoll zu sein: Eher bieten sich letztlich nicht eindeutig identifizierbare Strukturmodelle wie etwa der Erfahrungsmodus des Humboldtschen Bildungsbegriffs oder das Modell des ästhetischen Zustands zwischen Form- und Stofftrieb bei Schiller an. Dass bildende Erfahrung über die nicht-determinierte vielseitige Auseinandersetzung mit einer Mannigfaltigkeit von Gegenständen in der Welt zu verstehen sei, öffnet einen unendlichen Raum des Streits darüber, wann so etwas denn nun vorgelegen hat; der ästhetische Zustand im Sinne Schillers bildet einen unbegreiflichen Übergang – eine logisch komponierte Möglichkeit, die identifizierend nicht einzuholen ist, einen Vorgriff auf die als allein möglich betrachtete Versöhnung im schönen Schein13. Wenn man eher auf pädagogische Handlungen abhebt, kommen so unterschiedliche Autoren wie Herbart und Schleiermacher darin überein, dass ein solches Handeln nur als Kunst und dementsprechend – so vor allem Schleiermacher – die pädagogische Wissenschaft nur als Kunstlehre möglich sei.14 Versteht man Kunst in diesem Zusammenhang als unregelbares Verhältnis der Regeln zu ihrer Anwendung, dann entsteht ein Szenario notwendiger, aber nicht zu begründender Entscheidungen, das zu aktuellen Perspektiven auf das Theorie-PraxisVerhältnis in der Pädagogik durchaus Nähen aufweist.15 Schleiermacher gibt sich 13 Humboldt führt dieses Erfahrungsmodell in seinem Fragment »Über die Bildung des Menschen« (1794) aus. Vgl. Wilhelm von Humboldt: Theorie der Bildung des Menschen (Bruchstück), in: ders.: Werke in fünf Bänden (hg. von A. Flitner und K. Giel), Bd. 1: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Darmstadt 1969. Die Bezüge auf Schillers ästhetischen Zustand referieren auf die »Briefe über die ästhetische Erziehung« (1795). Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Bildung des Menschen, Stuttgart 1973. 14 Vgl. Johann Friedrich Herbart: Allgemeine Pädagogik aus dem Zwecke der Erziehung abgeleitet, in: ders.: Sämtliche Werke in 19 Bänden (hg. v. K. Kehrbach u. O. Flügel) Aalen 1989, Bd. II, S. 1-139 und Friedrich Schleiermacher: Texte zur Pädagogik. Kommentierte Studienausgabe in 2 Bänden (hg. v. J. Brachmann u. M. Winkler), Frankfurt/Main 2000. 15 Vgl. etwa die ganz unterschiedlichen Ansätze von Ulrich Oevermann: »Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns«, in: Arno Combe/Werner Helsper (Hg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns, Frankfurt/Main 1996, S. 70-182; und Michael Wimmer: »Zerfall des Allgemeinen – Wiederkehr des Singulären. Pädagogische

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in seinen Vorlesungen zur Pädagogik von 1826 alle Mühe, trotz eines doppelten sakralisierten Gegenhalts in ›Dialektik‹ und ›Ethik‹ einen ganzen Strauß unentscheidbarer Dialektiken zu demonstrieren: Da kreuzen sich spekulative und empirische Gesichtspunkte, Rezeptivität und Spontaneität, Faktizität und Normativität, Individualität und Universalität usw.; ethische oder anthropologische Fundierungen pädagogischen Handelns werden ausgeschlossen. Als sakralisierter Gegenhalt mögen so zwar eine letztlich uneinholbare, transzendent gesetzte Erkenntnisperspektive und eine nicht diskursiv zu sichernde Hintergrundgewissheit gehören, dass die Versöhnung von Vernunft und Natur voranschreitet; aber solche Gegenhalte erlauben nur die Vorführung von in sich widersprüchlichen Gesichtspunkten, die als solche Möglichkeiten eröffnen – nicht mehr. Pädagogische Wirklichkeiten erscheinen als sakralisierte Möglichkeitsräume. Auch wenn Schleiermacher mit seinem Diktum von der »Dignität der Praxis« gegenüber der Theorie zu einem Ahnherren der geisteswissenschaftlichen Pädagogik und ihrer handlungstheoretischen Fassung des Pädagogischen geworden ist, wird man daher vorsichtig sein müssen. Damit kann kaum gemeint sein, dass man von ›Praxis‹ als einem objektiven Referenzpunkt ihrer Thematisierung ausgehen kann – so als wäre deren Bedeutung zweifelsfrei gegeben und würde zugleich als ein Geltungskriterium dafür in Anschlag gebracht werden können, was als pädagogisches Wissen gelten kann und was nicht. Und dennoch: Wenn von Pädagogik als ›praktischer Wissenschaft‹ die Rede ist, spielen genau diese beiden Momente eines objektiven Referenzpunktes und des Geltungskriteriums für Theorie – und damit die Rousseausche Überzeugung von der Realitätsimplikation vorgeführter schlüssiger Handlungsmöglichkeiten – eine Rolle. Vor dem Hintergrund des entfalteten Theoriehorizonts einer nur noch sakralisierten Ästhetik muss das einerseits nicht besonders beunruhigend wirken: Man könnte ja sagen, dass ›Praxis/praktische Wirklichkeit‹ selbst zu einem sakralisierten Gegenhalt geworden ist, bezogen auf den sich stimmige Geschichten über alltägliche Bemühungen inszenieren lassen. Die Problematik einer empirischen Identifikation würde dann entstehen, wenn Sakralisierung und Sakralität kurzgeschlossen werden, wenn also metaphysische Anleihen naiv werden – wenn man also naiv an die Realität dieser ›Wirklichkeit‹ glaubt. Doch bleibt die Frage, wie die ›Wirklichkeit selbst‹ zu einem generierenden Prinzip ästhetischer Bedeutungszuweisungen werden kann und was dies heißen kann. Denn immerhin scheint die Besonderheit ihrer Bedeutsamkeit darin zu liegen, dass sie eben nicht nur als ein solches generierendes Prinzip funktioniert, sondern darüber hinaus auch noch als Bezugspunkt für die Kritik am nur ästhetischen Charakter von Bedeutungszuweisungen. Ihre signifikante Funktion für Wirklichkeitsentwürfe scheint auf eigentümliche Weise mit der Wahrheit der Wirklichkeit (jenseits ihrer konkreten Bestimmungen) kurzgeschlossen zu sein. Genau diese Verbindung Professionalität und der Wert des Wissens«, in: Combe/Helsper (Hg.) Pädagogische Professionalität, S. 404-447.

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verweist auf einen Hegemonieanspruch des Signifikanten ›pädagogische Praxis‹ gegenüber dem imaginären Raum des Pädagogischen, der gerade mit seiner Unbestimmtheit, mit seiner Entleerung zu tun hat. Eine Bestimmung des Pädagogischen kann nun nicht mehr nur der Bedeutsamkeit des Pädagogischen nicht gerecht werden, sondern ebenso wenig einer objektiven Wirklichkeit, in der diese Bedeutsamkeit immer schon aufgehoben ist.

2. Die ›Dignität der Praxis‹ als leerer Signifikant in einem agonalen Spiel Dass ›Theorien‹ hinsichtlich einer komplexen und konkreten ›Praxis‹ nur in der Lage sind, Möglichkeiten zu formulieren, stellt einen seit Kierkegaard vertrauten Sachverhalt dar.16 Eine solche Sicht verweist auf die Grenzen theoretischer Erkenntnis angesichts einer unauslotbaren Tiefe der Wirklichkeit, die letztlich jeder diskursiven Vereindeutigung widersteht. Die Funken, die man aus einer solchen Konstellation schlagen kann, sind unterschiedlich. Zum einen kann man sie als Grenzziehung gegenüber jeder Selbstüberschätzung einer rationalistischen Konzeption des Erkenntnissubjekts verstehen. Zum zweiten kann man – in einer existenzialistischen, aber auch im Horizont einer pragmatischen Perspektive – davon ausgehen, dass diese Selbstbeschränkung nicht nur das epistemische, sondern auch das praktische Subjekt betrifft. Die Widerständigkeit der letztlich unzugänglichen Wirklichkeit gegenüber theoretischen und praktischen Verfügungs- und Ordnungsansprüchen gestattet die Rede von einer ›Dignität der Praxis‹ – allerdings in einem ›leeren Sinne‹: Man kann eben nicht sagen, worin diese Dignität besteht, ohne sie zu verfehlen. Wenn man sie also – und das wäre die dritte Variante des Zugangs auf ihre sich entziehende Tiefe – nicht nur als Grenze theoretischen und praktischen Zugriffs, sondern als Positivität, als angebbaren Bezugspunkt anzeigen will, ist dies nicht begrifflich, sondern allenfalls metaphorisch möglich. Die ›Wirklichkeit der pädagogischen Praxis‹ gewinnt dann den Status eines Bildes, das eine unmögliche Referenz aufruft. Nun gibt es eine lange Geschichte der metaphorischen Fassungen der Erziehung, die zwischen ›Führen oder Wachsenlassen‹ oszillieren.17 Lange Zeit schienen solche Metaphern theoretische Konzepte in quasi-ästhetisch verdichteter Form wiederzugeben. Man schien um den metaphorischen Charakter zu wissen, 16 Vgl. Sören Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken (von Johannes Climacus), Gesammelte Werke Abt. 16 (hg. von E. Hirsch und H. Gerdes), Gütersloh 1988. 17 Vgl. Theodor Litt: Führen oder Wachsenlassen, Stuttgart 1949 (4. Aufl.); jüngst hat Anton Hügli seine Betrachtungen zum Verhältnis von ›Philosophie und Pädagogik‹ noch an der ebenfalls metaphorisch zu lesenden Konstellation von Autonomie- und Kontrollpädagogik aufgehängt. Vgl. Anton Hügli: Philosophie und Pädagogik, Darmstadt 1999.

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aber betrachtete ihn als funktionales Veranschaulichungsmittel dahinter stehender begrifflicher Konzepte, denen zugleich eine entsprechende Wirklichkeit korrespondieren sollte. Vor dem Hintergrund der Differenz von ›Theorie‹ und ›Wirklichkeit‹, der Kritik an der objektiven Referenz von theoretisch-begrifflichen wie praktisch-moralischen Näherungen aber ergibt sich ein anderes Bild. Aus dieser Sicht scheint sich das Verhältnis von Metapher und Begriff gleichsam umzukehren: Metaphern erscheinen nun eher als Referenzrahmen für begriffliche Näherungen18. Die sich entziehende Wirklichkeit des Pädagogischen muss demnach zunächst bildhaft zugänglich gemacht werden, damit theoretische und praktische Näherungsweisen Realitätsimplikationen behaupten können. Die ›Erziehung‹ bildet dann selbst eine Metapher einerseits für die Unmöglichkeit einer theoretisch-praktischen Näherung; andererseits eröffnet sie als Bezugspunkt einen Raum für metaphorische Näherungen, die als solche in keinem begrifflichen Bestimmungszusammenhang stehen, sondern eine eher ästhetisch zu verstehende Passung oder Ähnlichkeit andeuten19. Gerhard Gamm weist darauf hin, dass es unzulässig wäre, der Metapher das zuzutrauen, woran die begriffliche Erkenntnis scheitert: Wenn jene die Wirklichkeit ebenso zugänglich macht wie sie diese zugleich verfehlt, so muss auch für die Metapher diese Doppelung von Aufschließung und Verdeckung angenommen werden.20 Fasst man nun die Wirklichkeit der Erziehung, die unauslotbare Tiefe der Praxis, nicht mehr nur als Begrenzung theoretischer oder praktischer Zugriffe, sondern als eine Art ›absolute Metapher‹21, die als solche metaphorische und begriffliche Annäherungen erlaubt, dann stellt sich die Frage, was sich verändert, wenn man dieser Metapher wiederum eine objektive Referenz unterstellt. Auf der einen Seite scheint sich nichts an der generativen Funktion der Erziehungsmetapher zu verändern. Diese eröffnet einerseits einen Raum von zunächst metaphorischen Unterscheidungen (etwa diejenige von ›Führen‹ oder ›Wachsenlassen‹), von dem her sich theoretische, praktische und empirische Forschungsfragen formulieren lassen. Zum anderen aber verdeckt sie auch jene ›Tiefe‹ der Wirklichkeit, die sich in theoretischen Annäherungen als ein Riss in eben dieser Wirklichkeit zeigte, dem man sich nur paradoxal zu nähern vermochte. Auf der anderen Seite wird jedoch das an der Erziehung, was auf diese Weise eröffnet und verdeckt wird, die Unbestimmbarkeit der Wirklichkeit, mit einem Wahrheitsanspruch versehen. Die unbestimmbare Wirklichkeit erscheint zugleich als wahre Wirklichkeit gegenüber allen metaphorischen und begrifflichen Nähe18 Vor allem Hans Blumenberg hat diesen Punkt immer wieder hervorgehoben. Vgl. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt/Main 1999. 19 Gerhard Gamm hat in diesem Zusammenhang den Einsatz des Konzepts der Familienähnlichkeit bei Wittgenstein analysiert. Vgl. G. Gamm: Die Macht der Metapher. Im Labyrinth der modernen Welt, Stuttgart 1992, S. 67ff. 20 Gamm spricht in dieser Hinsicht von einer ›Parallelaktion‹ bezogen auf Begriff und Metapher (vgl. ebd, S. 81). 21 Vgl. H. Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie.

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rungsversuchen. Man weiß nicht wie, aber in ihr scheinen die unauflösbaren Spannungen im Verhältnis der Sozialität zur Individualität, von Faktizität und Normativität, von Freiheit und Determination, von Gegenwart und Zukunft u.ä. praktisch immer schon gelöst zu sein. Die Verbindung der Erziehungsmetapher mit einer objektiven Referenz erzeugt ein unbestimmtes Wahrheitskriterium, gemessen an dem alle Bestimmungsversuche ungenügend erscheinen. Umgekehrt könnte man vielleicht formulieren, dass sich im Scheitern aller metaphorischen und begrifflichen Näherungsversuche an die generative Metapher der Erziehung deren Wahrheit als ›wirkliche Bedeutsamkeit‹ zeigt, die Wahrheit der Erziehungsmetapher als eines transzendentalen Signifikanten. Die Metaphern, die für die pädagogische Wirklichkeit als reale Praxis gefunden werden, beschreiben dann – hart auf der Grenze zur naiven Metaphysik – eine versöhnte Wirklichkeit, die begrifflich nur unvollständig, nämlich paradoxal oder als Kunst des Unentscheidbaren zu fassen ist. Dass für diese metaphorische Wirklichkeit selbst wiederum unterschiedliche Metaphern gefunden werden können, dass sie sich in unterschiedlichen Sprachspielen darstellen lässt, ist dann gerade kein Nachteil dieser ›Wirklichkeit‹. Die Familienähnlichkeit möglicher Beschreibungen verweist darauf, dass unterschiedliche Metaphern und deren begriffliche Fixierungsversuche möglich sind, die sich nicht widersprechen, sondern ›Äquivalenzketten‹ bilden: Die ›absolute Metapher‹ der Erziehung als pädagogischer Praxis rückt in die Funktion eines zentralen Signifikanten, dem unterschiedliche Signifikate zugeordnet werden können22. Die Erhöhung der Bedeutsamkeit dieses Signifikanten geht einher mit einem Prozess seiner Entleerung. Auf die Wirklichkeit der pädagogischen Praxis kann man sich umso zweifelsfreier beziehen, je mehr sie in unproblematisch erscheinenden äquivalenten Fassungen auftaucht. Anders formuliert: Die Identität der Wirklichkeit des Pädagogischen scheint gerade dadurch gestiftet zu werden, dass auf unterschiedlichste Weise über sie geredet werden kann, ohne dass jemandem in den Sinn kommen würde, dass man nicht über das Gleiche redet. Diese Form der Identität verleiht die Gewissheit einer Wirklichkeit, je mehr sie als Identität ungreifbar wird, je mehr sie sich ›entleert‹. Wenn es die Wirklichkeit der pädagogischen Praxis im Sinne einer objektiven Referenz der Rede über diese Praxis nicht in einem verfügbaren Sinne gibt, wenn sich darüber hinaus auch die Bedeutung dieser Rede nur in differenten und different bleibenden Artikulationen zeigt, dann scheint es gerade die Leere des Signifikanten ›pädagogische Wirklichkeit/Pädagogische Praxis‹ zu sein, die es erlaubt, das Feld des Pädagogischen einerseits zu einer imaginären handlungstheoretischen Einheit zu bringen und andererseits mit einer Realitätsimplikation

22 Das Konzept der Äquivalenzkette, die auf eine Entleerung des zentralen Signifikanten verweist, übernehme ich von Laclau und Mouffe. Vgl. Ernesto Laclau/Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 22000.

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zu versehen. Der leere Signifikant der ›pädagogischen Handlungswirklichkeit‹ fungiert nicht als sakralisierter Gegenhalt für ästhetische Möglichkeitsräume, sondern für die Generierung von Geschichten und Identifikationen mit einem Wahrheitsanspruch, der durch sein Scheitern gerade bekräftigt zu werden scheint. Von jenem Wahrheitsanspruch her lassen sich Möglichkeitsentwürfe kritisieren, ohne dass dessen objektive Referenz eingelöst werden könnte. Dies scheint zunächst auf beliebige äquivalente Fassungen ›pädagogischer Wirklichkeit‹ zu verweisen: Die imaginäre Schließung der Identität der pädagogisch-praktischen Wirklichkeit würde dann zu einer Entgrenzung der Rede über diese Wirklichkeit führen, gerade weil deren Fokus leer bleibt.23 Um dies zu verhindern, müsste der ›leere Signifikant‹ der pädagogischen Praxis dennoch über ein hinreichendes Abgrenzungspotential verfügen, was auf die Notwendigkeit seiner positiven Bestimmung zu verweisen scheint. Eine positive Bestimmung aber würde die generierende Funktion der ›leeren‹ pädagogischen Praxis in Frage stellen. Sie wäre leicht als dogmatische Festlegung auszumachen. Ein Ausweg aus dem Dilemma von Leere und Positivierung lässt sich eher vorstellen, wenn man von prozessual und plural zu denkenden Abgrenzungspraktiken ausgeht. Positivierungen dessen, was jeweils als ›praktisch-pädagogische Wirklichkeit‹ zu verstehen ist, ergeben sich dann immer wieder neu als Artikulationen an den unterschiedlichsten Fronten, an denen diese ›praktische Wirklichkeit‹ in Frage gestellt zu werden droht. Auf diese Weise wird – in der Terminologie von Laclau und Mouffe – der Äquivalenzlogik, die von der Leere des Signifikanten ihren Ausgang nimmt, eine Differenzlogik gegenübergestellt. In ihr wird an den unterschiedlichsten Punkten die Möglichkeit einer imaginären Schließung dessen, was man unter der ›pädagogischen Praxis‹ versteht, in Frage gestellt. Die alternativ offerierten Signifikanten dürften dabei ein umso größeres Konfliktpotential haben, je mehr sie sich auf jene Differenz in Subjekt und sozialer Ordnung zurück beziehen, die den pädagogischen Raum als imaginären Möglichkeitsraum eröffneten. Es ergibt sich damit die Perspektive auf ein agonales Konfliktfeld mit je konkreten Positivierungen, die den leeren Signifikanten der ›pädagogischen Praxis‹ fragmentarisch und kontextrelativ artikulieren. Solche Artikulationen bilden äquivalente Ausbuchstabierungen, die auf den jeweiligen Konflikt bezogen bleiben.24 Auf diese Weise eröffnet die Figur des ›leeren Signifikanten‹ nicht nur die

23 Für eine solche Entgrenzung pädagogisch als relevant bestimmter Handlungseinsätze gibt es sicherlich hinreichende empirische Belege: Es scheint nur weniges zu geben, was sich nicht als Problem fassen lässt, das pädagogisch verantwortliches Eingreifen erfordert. 24 Eine übersichtliche Darstellung dieser agonalen Logik von Äquivalenz und Differenz im Hinblick auf die Funktionsweise ›leerer Signifikanten‹ findet sich in einer Darstellung des Ansatzes von Laclau durch Stäheli. Vgl. Urs Stäheli: »Die politische Theorie der Hegemonie. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe«, in: André Brodocz/Gary S. Schaal: Politische Theorien der Gegenwart II, Opladen 2006, S. 253284.

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Perspektive auf ihn ausbuchstabierende Äquivalenzketten, sondern zugleich auf ein agonales Feld, auf dem sich äquivalente Fassungen dieses Signifikanten durch die abwehrende Auseinandersetzung mit Positionen festigen, die die imaginäre Schließung der Identität ›pädagogisch-praktischer Wirklichkeit‹ bedrohen. Solche Auseinandersetzungen gehen um eine hegemoniale Position des ›leeren Signifikanten‹, ohne die eine imaginäre Schließung jenes Feldes, auf dem die ›pädagogisch-praktische Wirklichkeit‹ thematisiert wird, nicht möglich wäre: In diesen Auseinandersetzungen müssen immer aufs Neue notwendig partikulare Sichtweisen mit einem universalisierenden Anspruch vertreten werden. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit soll diese Logik eines Kampfes um die imaginäre Schließung einer handlungstheoretisch verstandenen ›pädagogischpraktischen Wirklichkeit‹ gegen den unabschließbaren Raum des Pädagogischen auf vier Feldern illustriert werden.25 Dabei soll zugleich deutlich werden, dass das, was in diesen Auseinandersetzungen als eben jene ›pädagogisch-praktische Wirklichkeit‹ in den Blick gerät, nicht als etwas verstanden werden kann, was eine logisch-verträgliche Füllung dieses leeren Signifikanten erlauben würde. Äquivalente Füllungen können durchaus widersprüchlich sein, ohne dass dies ihrer ›Familienähnlichkeit‹ abträglich sein müsste. Ein erstes Konfliktfeld kann man da ausmachen, wo es um die Frage geht, ob es auch falsche ›pädagogische Praxen‹ gibt. Es ist dies die Frage danach, ob eine behauptete Wirklichkeit auch dann noch als eine ›pädagogische‹ zu betrachten ist, wenn im Sinne angegebener Metaphern und begrifflicher Ausformulierungen ›alles schief läuft‹. Wenn also etwa die Situation falsch eingeschätzt wurde, der Adressat missverstanden scheint, die beabsichtigten Wirkungen nicht eintreten oder den angegebenen Absichten gar gegenteilige Wirkungen entsprechen, handelt es sich dann um eine falsche pädagogische Praxis oder ist dieser Praxis dann das Prädikat ›pädagogisch‹ abzusprechen? Diese Frage thematisiert zwar einerseits die Legitimität dessen, was als ›pädagogische Praxis‹ verstanden werden kann, aber sie ist nicht durch eine moralische Option zu beantworten. Denn selbst wenn man darauf verweist, dass der Handelnde bei allen möglichen Fehlern dennoch die richtige Absicht gehabt habe, bleibt andererseits das Problem bestehen, ob das denn reicht, um von einer ›pädagogischen Praxis‹ zu sprechen, wenn die ›Wirklichkeit‹ doch anders zu verlaufen scheint. Die Frontlinie ist demnach uneindeutig: Wenn normative Schließungen nicht viel versprechend zu sein scheinen, so wird man sich gedrängt fühlen, die Kriterien der Kritik (adäquate Situationseinschätzung, Verstehen des Adressaten, Korrespondenz von Intention und Wirkung u.ä.) einerseits zu akzeptieren und sie andererseits zu relativieren. Man könnte etwa Ausnahmen von der Regel formulieren. Diese können sowohl auf

25 Eine solche ›Logik von Auseinandersetzungen‹ vermag zwar Fronten und mögliche Konstellationen vorzuführen. Sie ist jedoch zugleich als mögliches Forschungsprogramm zu verstehen, innerhalb dessen konkrete Artikulationen und deren Konfliktlinien untersucht werden können.

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die Typizität der Situation wie auch auf diejenige des (etwa entwicklungspsychologisch oder sozial) vermessenen Adressaten und der statistisch erwartbaren Resultate verweisen. So ließe sich zeigen, dass man auch in dieser Situation von ›pädagogischer Praxis‹ sprechen kann, selbst wenn sie an kontingenten Sonderbedingungen gescheitert sein mag. Als gescheiterte wäre ›pädagogische Praxis‹ dann dennoch nicht in ihrem wirklichen Vorliegen problematisch oder falsch. Der Preis, den man für eine solche Verteidigungslinie zahlt, besteht darin, dass man ein ›technologisches Modell‹ als Kriterium zumindest ein Stück weit akzeptiert. Eben die Zurückweisung dieses Verständnisses aber bildet eine weitere Konfliktlinie. ›Pädagogische Praxis‹ wird in einer langen Traditionslinie gegenüber Phänomenen wie Indoktrination, der kritiklosen und determinierenden Verpflichtung auf gesellschaftliche Erwartungen und anderer Formen direkter Beeinflussung profiliert: ›Pädagogische Praxis‹ wird auf diese Weise (seit Rousseau) als indirekte Beeinflussung verstanden, als Organisation der Umstände – und gerade nicht als eine Technologie, die Absichten und Wirkungen kurzschließt. Die Konfliktlinie um dieses (unterschiedlich ausformulierbare) Verständnis wird dort verlaufen, wo die indirekte Beeinflussung bei aller Indirektheit dennoch als Beeinflussung problematisiert wird. In diesen Konflikten geht es nun nicht mehr primär um eine Wirksamkeit, die den Absichten entspricht, sondern letztlich um die Legitimierbarkeit pädagogischer Beeinflussungsansprüche selbst. Es geht darum, inwiefern eine pädagogische Intentionalität angesichts der gewählten Abgrenzung gegenüber direkten Einflussversuchen überhaupt ein Kriterium für das Vorliegen ›pädagogischer Praxis‹ sein kann. Es ist die Möglichkeit von pädagogischer Intentionalität, die nun als Moment der ›pädagogischen Praxis‹ verteidigt werden muss: Seit Kants ›Vorlesungen über Pädagogik‹26 hilft man sich an dieser Stelle entweder mit Paradoxien oder mit dem metaphorischen Hinweis auf eine gebrochene Intentionalität27. Das Problem besteht dann allerdings darin, dass man sich auf ein theoretisch vermintes Gelände begibt, womit die Gefahr entsteht, dass man die – nicht zuletzt gegen diese Verunsicherungen – unproblematische Sphäre des leeren Signifikanten einer pädagogisch-praktischen Wirklichkeit verlässt. Eine eher unproblematische Rolle spielt die Intentionalität als Konstitutionsmoment der pädagogischen Praxis an einer anderen umstrittenen Front. Überlegungen zur Logik von Interaktion, Kommunikation, Sozialisation, zur Semiologie oder der aktuelle Verweis auf die rekursiven Schleifen der Performativität scheinen (unabhängig von ihrer theoretischen Lokalisierung) eines gemeinsam zu 26 Vgl. Immanuel Kant: »Über Pädagogik«, in: ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2 (Werkausgabe Bd. XII), Frankfurt/Main 1977, S. 691-761. Eine zusammenfassende Analyse paradoxaler Wirklichkeitsvergewisserungen findet sich bei Michael Wimmer: Dekonstruktion und Erziehung. Studien zum Paradoxieproblem in der Pädagogik, Bielefeld 2006. 27 Vgl. etwa Klaus Mollenhauer: Theorien zum Erziehungsprozess, München 1972.

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haben: Sie betrachten ›Intentionalität‹ selbst als Moment, als Effekt eines Prozesses, dessen Logik sich nicht der steuernden und verantwortungsvollen Dramaturgie eines außenstehenden Regisseurs verdankt. Was man seit der sozialwissenschaftlichen Wende der Pädagogik in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts beobachten kann, ist eine Abwehrschlacht an dieser Front. Zu beobachten sind Rückzugsgefechte, die sich auf das vermeintlich Eigene konzentrieren und das Andere den jeweiligen Herkunftswissenschaften überlassen möchten: Soziologen, Sozialpsychologen oder Sprachphilosophen und Kommunikationswissenschaftler haben dann einfach eine andere Perspektive als Pädagogen, die deshalb für diese auch nicht relevant zu sein scheint. Zudem lässt sich hier (seit den Reaktionen auf die Sozialisationstheorien) vor allem eine Strategie beobachten, die man als eine akzeptierende Neutralisierung bezeichnen könnte. Solche Theorieangebote, die die pädagogische Praxis und den sie Verantwortenden als Momente dessen beschreiben, gegen das sich diese Praxis zu qualifizieren versucht (also etwa sozialisierende Integration in das Bestehende), werden dann als hilfreiche Hinweise verstanden, die zu einer erweiterten Reflexion des Eigenen einladen: Pädagogische Praxis impliziert dann, dass der ›Praktiker‹ um diese Implikationen seines Tuns weiß, sie berücksichtigt und in seine nach wie vor intakte pädagogische Intentionalität einbaut. Er rückt damit immer weiter nach ›außen‹, was den prekären Status seiner Position nicht verringert: Er nimmt den sozialisatorischen Kontext, der ihm eine funktionale Rolle zuweist, dann selbst noch in seine Verfügung, was nur geht, wenn er immer mehr jenseits des sozialen Zusammenhangs postiert wird. Damit rückt die Figur des Zwischenreichs des Pädagogischen wieder in greifbare Nähe, gegen die doch gerade der Signifikant der ›pädagogischen Praxis‹ mobilisiert worden war. Eine vierte Konfliktlinie ist diejenige, von der diese Überlegungen ihren Ausgangspunkt nahmen: diejenige gegenüber theoretischen Artikulationen des Pädagogischen, die dessen Wirklichkeit durch einen Riss gekennzeichnet sehen, der durch eine sakralisierte Ästhetik zu schließen versucht wird.28 Solche Ansätze formulieren unmögliche Bezugspunkte (wie Emanzipation, Erfahrung, Subjekt o.ä.), um von ihrer sakralisierten Geltung her ästhetisch offene Darstellungsformen pädagogischer Wirklichkeit zu erlauben. Obwohl sie damit einen Rahmen vorzugeben scheinen, der durchaus ebenfalls ein Konfliktfeld von Äquivalenzund Differenzlogik eröffnet, obwohl oder gerade weil man also ihre quasitranszendentalen Grundlegungsversuche durchaus auch in Analogie zur Konstitution eines leeren Signifikanten betrachten kann29, ergibt sich damit eine neue 28 An anderer Stelle habe ich dies an der Pädagogik Schleiermachers zu zeigen versucht. Vgl. A. Schäfer: »Probleme mit der Wirklichkeit«, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 83 (2007), S. 419-433; Helmer kommt mit Bezug auf den Ansatz Herbarts zu ähnlich gelagerten Ergebnissen. Vgl. Karl Helmer: Ars rhetorica. Beiträge zur Kunst der Argumentation, Würzburg 2006. 29 Vgl. zum Verhältnis von Quasi-Transzendentalität und ›leerem Signifikanten‹: Christiane Thompson: »Wo liegen die Grenzen unmöglicher Identifikation? Über-

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Konfliktlinie gegenüber jenem leeren Signifikanten der ›pädagogisch-praktischen Wirklichkeit‹. Diese Konfliktlinie besteht nun in der Auseinandersetzung um den Status dessen, was ›Wirklichkeit‹ ausmacht: Einer (unter Bezug auf sakralisierte Gegenhalte) möglichen ästhetischen Beschreibung pädagogischer Wirklichkeiten wird nun die ›Objektivität‹ dieser Wirklichkeit selbst als leerer Signifikant entgegengesetzt. Der Streit dreht sich nun an den unterschiedlichsten Fronten um die Frage, ob die ›pädagogische Praxis‹ nur unter voraussetzungsreichen Bezügen als eine ästhetisch darstellbare Möglichkeit zu verstehen ist oder ob nicht vielmehr der leere Signifikant einer unbestimmbaren ›pädagogisch-praktischen Wirklichkeit‹ es noch erlaubt, diese ästhetischen Beschreibungen selbst noch auf eine ›Realimplikation‹ zu gründen. In Frage steht also, ob es nicht hinter jenen quasi-transzendentalen Bezugspunkten ästhetischer Wirklichkeitsvergewisserungen noch einen ›letzten‹ leeren Signifikanten, die pädagogisch-praktische Wirklichkeit, ›gibt‹, der diesen den Status äquivalenter Artikulationsformen zuzuweisen erlauben würde. Auch wenn eine solche Sichtweise hegemonial durch den Verweis auf diskursive und außerdiskursive Selbstverständlichkeiten (wie etwa das Vorhandensein ›pädagogischer Institutionen‹) bekräftigt werden mag, so ist doch nicht zu übersehen, dass die Leere dieses Signifikanten zurückverweist auf jene imaginäre Logik, von der die neuzeitliche Bestimmung des Pädagogischen ihren Ausgangspunkt nahm. Der Streit dreht sich letztlich um die Frage einer Schließung des Pädagogischen, die nur durch eine Aufhebung der imaginären Ordnung ihres Raumes möglich wäre. Auf dem Boden des Pädagogischen aber scheint dies selbst wiederum nur als imaginärer Anspruch möglich zu sein. Ein solcher Anspruch und seine hegemoniale Durchsetzung aber haben einen Preis: Dieser besteht in einer handlungstheoretisch formulierten Verfügungsphantasie, die die Thematisierung des Pädagogischen politisch betrachtet zur einer universalisierbaren Zurechnungsgröße für Verantwortung bringt. Disziplinpolitisch ist mit ihr ein Isolationismus angedeutet, der sich dem interdisziplinären Diskurs verweigert, der in Kulturwissenschaften, Soziologie, politischer Theorie und Philosophie gerade um jene Differenz zu kreisen scheint, von der her die Thematisierung des Pädagogischen ihren Ausgang nahm.

legungen zu ›Quasi-Transzendentalität‹ und ihren pädagogischen Folgen«, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 83 (2007), S. 391-407.

Das Machbare und das Hinzunehmende. Über Unentscheidbares, das entschieden werden muss EVA SCHÜRMANN

1. Negative und positive Philosophien Der Unterschied zwischen negativen und positiven Philosophien ist, folgt man einer älteren Darstellung Odo Marquards, geringer als die Begriffe es nahe legen; lebten doch beide »vom Nein [...], indem sie sich dem Ganzen verweigerten«; beide seien »Komplizen beim Nein« und »Mitglieder eines Verweigerungsvereines«1. Auch den ungleichen positiven Philosophien, nämlich dem Positivismus Auguste Comtes und dem Denken des späten Schelling, bescheinigt Marquard eine grundlegende Übereinstimmung: denselben »Sinn für Tatsächlichkeit und Faktizität«2. Der bedeutende Unterschied bestehe allerdings darin, dass es Schelling dabei um Gott zu tun gewesen sei, Comte hingegen um die Menschheit. Jener ziele auf das Schicksal im Sinne einer Ohnmacht der menschlichen Vernunft, dieser auf das ›Machsal‹ im Sinne einer Macht eben jener Vernunft: Die eine positive Philosophie »favorisiert das Unvordenkliche, die andere das Planbare; die eine das Unverfügbare, die andere das Verfügbare; die eine nimmt hin, die andere sorgt vor«3. Man könne daher Schellings Philosophie eine ›Schicksalsphilosophie‹ nennen, Comtes eine ›Machsalsphilosophie‹ »und dennoch sind sie [...] positive Philosophien: beide.«4 Der widersprüchliche Doppelsinn sei durch die

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Odo Marquard: »Über positive und negative Philosophien, Analytiken und Dialektiken, Beamte und Ironiker und einige damit zusammenhängende Gegenstände«, in: Harald Weinrich (Hg.): Positionen der Negativität, (Poetik und Hermeneutik VI), München 1975, S. 177-199. hier S. 180. Ebd. Ebd. Ebd.

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Ambivalenzen des Positiven selbst gegeben, das als Position, als Gesetztes, »das factum oder das fatum«5 bezeichnen könne. Ich möchte die damit anklingenden Stichworte, die ein philosophiegeschichtlich durchgängiges Motiv zum Ausdruck bringen, aufgreifen, um an die Unterscheidung des menschlich Machbaren und des schicksalhaft Hinzunehmenden anzuschließen, indem ich den Kampf um Gerechtigkeit als Revolte gegen das Gegebene und als Hoffnung auf die Gestaltbarkeit unserer Geschicke erörtere. Wie man sehen wird, sind das Faktische und das Fatale in diesem Kampf oft nur schwer voneinander zu trennen.

2. Die Frage der Fragen Es gibt wahrscheinlich kaum eine Frage, die dringlicher und in ihrer Reichweite umfänglicher ist, und nur wenige, die so omnipräsent sind, wie die nach Gerechtigkeit. Gefordert als individuelle Tugend und als gesetzlich verankerte Institution, im Privatraum persönlicher Beziehungen und in globalen Zusammenhängen der internationalen Politik, maßgeblich zwischen den Geschlechtern und Generationen, bei allem Handeln, Tauschen und Verteilen, ist kein Anspruch umfassender und grundlegender als der auf das Rechte und das Verhältnismäßige. Überall soll es gerecht zugehen: beim Bewerten und Verstehen, beim Belohnen und Bestrafen, in der Besteuerungspolitik und sogar im Krieg. Zur Debatte steht dabei immer etwas, das unter gegebenen Bedingungen als rechtmäßig und gerechtfertigt, verdient und billigungsfähig angesehen werden kann, und zwar in moralischer wie juristischer Hinsicht, normativ wie auch empirisch. Im Umkreis dieses Begriffs geht es zumeist um hart umkämpfte Werte, Weltsichten und Geltungsansprüche; auf dem Spiel stehen die Sinnfälligkeit der Welt oder deren totale Kontingenz, die Möglichkeiten menschlicher Freiheitsfortschritte, technischer Kompensationen und rechtlicher Umverteilung oder die Kapitulation vor deren Versagen. Die aristotelische Unterscheidung zwischen distributiver und kommutativer Gerechtigkeit, also zwischen dem, was durch eine vertikale Bewegung des Umverteilens bestehender Ungleichheiten kompensiert werden kann, und dem, was durch eine horizontale Tauschbewegung wiedergutzumachen ist, ist bei näherem Hinsehen nicht sehr trennscharf, denn auch die ausgleichende Gerechtigkeit verteilt, wenngleich im Negativen, indem sie wegnimmt und umschichtet, was die austeilende Gerechtigkeit jedoch ebenso macht, nur aus der Fülle heraus. Auch die seit der Antike geläufige Formel, gerecht sei, ›suum cuique reddere‹, jedem das Seinige zu geben, nämlich das, was ihm zusteht, lässt viele Fragen offen: Was einem zusteht, kann einerseits das Gleiche im Sinne gleicher Chancen und Rechte, gleicher Berücksichtigung und Gewichtung sein. Oder auch dasjenige, 5

Ebd, S. 182.

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das jemandes Verdienste, Leistungen und Anstrengungen vergilt oder vergütet. Es kann aber auch die seinen Werken angemessene Bestrafung oder Belohnung sein. Oder das seinen Bedürfnissen Entsprechende. Nur Gnade kann das suum, das einem verdienterweise zukommt, nicht sein, denn darauf kann es keinen verbrieften Anspruch geben, Gnade, die einem zusteht, wäre Recht. Schopenhauers mokante Bemerkung: »Ist es das Seinige, braucht man es ihm nicht zu geben«6 dürfte gleichwohl ein ins Leere gehender Sophismus sein, denn natürlich kann einem praktisch verwehrt werden, was einem theoretisch, moralisch oder in der besten aller möglichen Welten zukäme. Es kann jemandem fehlen, was dennoch sein ist. Nur deswegen kann es überhaupt durch kommutative Gerechtigkeit restituiert werden, weil es ursprünglich suum ist, wobei ursprünglich heißt »ex ipsa natura rei«7, einem unabweisbaren Anspruch nach, der nicht an seiner faktischen Befriedigung hängt. Dass es das Seinige ist, ist noch die Bedingung dessen, dass es ihm vorenthalten werden kann. Doch die Schwierigkeiten gehen weiter, wenn man versucht, die Frage, was es denn sei, das einem über gesetzliche Standards, vertragliche Vereinbarungen oder private Abmachungen hinaus zukommt, genauer zu beantworten. Welchen Maßstab kann es für das mir Gemäße geben, was ist das Meinige, mein Anspruch, mein gutes Recht, was habe ich verdient? Dieses positiv und verbindlich zu bestimmen, ist sehr viel schwerer, wenn nicht unmöglich, als zu sagen, was ungerecht ist. Ungerechtes zu diagnostizieren, fällt leichter als eine positive Bestimmung des Gerechten, dessen Nicht-Festlegbarkeit zur Sache selbst gehört. Wir wissen vor allem, dass die Berufung auf Gerechtigkeit der maßgebliche Fluchtpunkt der allermeisten politischen und ethischen Debatten ist. Die Negativität des Ungerechten besteht, wie ich im Folgenden anhand von sozialpsychologischen Studien zeigen werde, häufig im Fehlen einsehbarer Gründe bzw. in einer nicht mehr zu erklärenden Zufälligkeit. Im Erleben kontingenter Ungerechtigkeit macht sich häufig ein moralischer, vielleicht sogar metaphysischer Begründungsanspruch bemerkbar, der sowohl psychologisch wie philosophisch unabweisbar ist. Das normative Verlangen der Vernunft nach Sinn ergebenden Gründen und Rechtfertigungen ist, das das Ungerechte oft so schwer erträglich macht. Zuvor aber möchte ich die Unterscheidung zwischen dem, was als hinzunehmendes Unglück angesehen wird, und dem, was als bekämpfbares Unrecht gilt, als eine Entscheidung ausweisen, die im Negativen, nämlich im Unentscheidbaren getroffen werden muss. Hierzu werde ich zunächst einige aporetische Bestimmungsprobleme nachzeichnen, die sich einstellen, wenn man zu klären ver-

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Arthur Schopenhauer: »Preisschrift über die Grundlage der Moral«, in: ders.: Die beiden Grundprobleme der Ethik, Zürich 1977, S. 256f Th. v. Aquin zit. nach Josef Pieper: Das Viergespann, München 1964, S. 74. Deswegen dürfen bspw. Abmachungen nicht der Natur einer Sache widerstreiten, wie das etwa der Fall ist, wenn Gesetze sittenwidrig sind.

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sucht, wo die Forderung nach Gerechtigkeit anfangen kann oder aufhören muss. Man stößt auf erhebliche Schwierigkeiten, wenn man entscheiden muss, was als verdient gelten kann, und was verteilt oder ausgeglichen werden soll.

3. Unrecht, Unglück und Ungleichheit Das größte und mehrste Elend der Welt, liest man bei Kant, beruht mehr auf dem Unrecht der Menschen als auf dem Unglück. Judith Shklar hat sich dieses Problems angenommen, indem sie den Unterschied bzw. die Unterscheidbarkeit von Unrecht und Unglück einer eingehenden Prüfung unterzog8. Dabei konnte sie zeigen, dass dasjenige, was für einen Einzelnen oder in einer Gesellschaft als Unglück gilt, eine Entscheidung darüber beinhaltet, was man für vermeidbar und politisch bekämpfbar hält im Gegensatz zu dem, was man zu tolerieren bereit ist, weil man es als etwas unabänderlich Hinzunehmendes ansieht. Das Verständnis dessen, was man als Unglück anzusprechen geneigt ist, impliziert damit zugleich die Bereitschaft, sich politisch restaurativ bzw. progressiv zu verhalten. Der Sinn und die Sensibilität für Ungerechtigkeit wirken sich dynamisch auf politische und persönliche Verhältnisse aus, weil sie dazu auffordern, entweder zu revoltieren oder sich abzufinden. Dasselbe gilt in gewisser Weise für das, was man Zufall bzw. emphatischer Schicksal nennt, also für die Frage, ob man die Einflüsse des Unverfügbaren mit allen politischen oder psychologischen Mitteln verringern will oder sie als kontingent oder fatal erduldet. Herrschende Überzeugungen und Begriffe dessen, was als tragisch im Sinne eines Unabänderlichen9 und was als ungerecht gilt, bestimmen die rechtlichen Standards einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit. Rechtswirksam werdendes Unrechtsempfinden ist insofern ein Fortschritt von Demokratie, Sozial- und Rechtsstaatlichkeit. Allgemein lässt sich sagen, dass Ungerechtigkeit eher vonseiten der Opfer und derjenigen, die sich mit ihnen solidarisieren, angezeigt wird, während die verantwortlichen Täter und ihre Sympathisanten dazu neigen, ein Geschehen als – wohlmöglich selbstverschuldetes – Unglück zu deklarieren. Was man als unabänderliches Unglück betrachtet und was als praktisch, sei es politisch, technisch oder medizinisch zu bekämpfendes oder zu milderndes Unrecht, steht und fällt also mit der Bereitschaft und der Fähigkeit, (als Einzelner und als Rechtstaat) aus der Sicht und im Interesse der Opfer zu handeln. 8 9

Judith N. Shklar: Über Ungerechtigkeit, Berlin 1992. Dem, was lebensweltlich als tragisch bezeichnet wird, haftet ein merkwürdiger Doppelsinn an: Eine Naturkatastrophe gilt als tragisch sein, weil sie höhere Gewalt ist, gegen die der Mensch nichts vermag. Ein Unfall kann aber auch als tragisch bezeichnet werden, gerade weil er vermeidbar gewesen wäre, wenn man aufgepasst hätte. In dem einen Fall ist die Notwendigkeit tragisch, in dem anderen der Zufall. Das Gemeinsame besteht darin, dass in beiden Fällen Sinnerwartungen düpiert werden.

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De facto ist das, was Unrecht ist, von dem, was Unglück ist, in vielen Fällen jedoch nicht leicht zu unterscheiden, die Begriffsgrenzen sind füreinander wechselseitig durchlässig. Die gängige Unterscheidung von Unglück als einem natürlich verursachten Widerfahrnis und Unrecht als menschlich verschuldet trägt nicht sehr weit, wie Shklar zeigt, denn meist enthält ein Übel wesentliche Anteile von beiden: Ein Tsunami mag eine rechtlich nicht haftbar zu machende Naturkatastrophe jenseits von Recht und Unrecht sein, ein Tsunamifrühwarnsystem ist das nicht. Meteorologische Kenntnisse konnten den Hurrikan Katrina nicht abwenden, wie schnell aber die Hilfe für seine Opfer in Florida eintraf oder wie lange sie in New Orleans ausblieb, entschieden menschliche Kapazitäten und Intentionen, technische Machbarkeit und finanzielle Mittel. Im Reich der Notwendigkeit mag es widersinnig sein, über Ungerechtigkeit zu klagen, aber was am Naturzustand notwendig ist, was hingegen sehr wohl zu beeinflussen und in rechtliche Zustände zu transformieren wäre, bestimmen historisch wechselnde Tatsachenwahrheiten. Das Unbefriedigende an solchen Tatsachen ist, dass sie immer nur kontingenterweise wahr sind, niemals vernünftiger- oder notwendigerweise. Es ist eine Frage veränderlicher geschichtlicher und gesellschaftlicher Konstellationen, welche Bedrohungen und Verlusterfahrungen Teil der conditio humana sind – als Epiphänomene der Freiheit oder als das prinzipiell Riskante der menschlichen Lebensform – und was hingegen durch Prävention, Wissensfortschritt und politisches Handeln verändert werden kann. Was einst ein Unglück war, kann heute ein Unrecht sein. Säuglingssterblichkeit war in vergangenen Jahrhunderten ein alltägliches und ubiquitäres Leid, dem medizinische Vorsorge heutzutage zumindest hierzulande weitgehend abgeholfen hat. Der soziohistorischen Tendenz nach wird immer mehr Unglück zu Unrecht, so Shklar, weil es so aussieht und nicht nur so aussieht, dass irgendjemand immer irgendetwas falsch gemacht hat, oder zumindest etwas hätte anders machen sollen, und daher zu verantworten hat. Zugleich sind Gesellschaften modernen Zuschnitts so verfasst, dass erhebliche Zurechnungsschwierigkeiten bei der Frage nach den weit verzweigten Folgen menschlichen Handelns bestehen. Die in vielerlei Hinsicht interdependenten Akteure schaffen Situationen, in denen ein einzelnes Schicksal niemandem intentional zuzurechnen ist, die aber dennoch einen Einzelnen ins Unrecht setzen können, sei es durch unerwünschte Nebenwirkungen oder durch Verteilungsprobleme. Prioritätslisten für Organtransplantationen werden notwendig von irgendjemanden als benachteiligend empfunden; Majoritätsbeschlüsse setzen sich notwendig über die Minderheiten hinweg etc. Wenn eine Katastrophe nicht hätte passieren müssen, kann Unglück zu Unrecht werden. Das Unvermeidliche mag tragisch sein, das Vermeidbare ist empörend. »Die Technik«, schreibt Shklar, »hat das Reich des Schicksalhaften beträchtlich verkleinert«10; es gibt eine Menge Sicherheitsfortschritte und Unabhän10 Ebd., S. 92.

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gigkeitsgewinne durch das technisch Machbare, aber gerade dadurch wird dessen Fehlen oder Versagen angesichts der verbleibenden Übel umso unerhörter. Das verheerende Erdbeben von Lissabon11 im Jahre 1755 war für die geistige Elite des alten Europa der Anlass, Gott selbst vor den Richterstuhl der Vernunft zu zitieren und Aufklärung darüber zu erzwingen, wie sich ein solches Übel, die völlig arbiträre Verteilung von Tod und Leben, mit seiner denknotwendigen Güte und Allmacht widerspruchslos vereinbaren lasse. Der Angeklagte überlebte den Prozess nicht, den Klagen auf wohlerwogene Gründe wurde stattgegeben, indem der Mensch die Schuld auf sich nahm, so jedenfalls die Rekonstruktion Susan Neimans in ihrem Buch ›Das Böse denken‹12. Stendhals späteres Wort, Gottes einzige Entschuldigung sei, nicht zu existieren, ist wohl die kühlere Version von Nietzsches volltönender Ausrufung des Todes Gottes, die auch das Ende der Metaphysik besiegeln wollte. Das Problem ist damit indessen weiter als jemals von einer Lösung entfernt. Irgendjemand muss Grund oder Ursache des Übels sein – es sei tragisch oder ungerecht. Wenn es Gott nicht gibt, geht mit ihm nicht nur jede Hoffnung auf kommutative himmlische Gerechtigkeit zuschanden, vielmehr stürzt bereits die diesseitige Welt ins Bodenlose. Die metaphysischen Spekulationen, die die Welt des 18. Jahrhunderts erschütterten, hat die Moderne erschöpft aufgegeben. Aber hinter der zur Disposition stehenden göttlichen Weltordnung steht die Frage nach dem Sinn und der Rechtfertigungsfähigkeit dessen, was uns geschieht, und diese Frage brennt weiterhin unter den Nägeln, ihre Unbeantwortbarkeit ist unerträglich. Der Voltaireschen Schlussfolgerung, die Welt sei nichts als eine Anhäufung zufälliger Übel, sinnlosen Pechs, nicht zu rechtfertigenden Unheils, versucht man nach wie vor zu entkommen, sei es durch die Jagd nach Sündenböcken, oder durch Erweiterung des technisch Möglichen, um Vermeidbares zu vermeiden und um den Glauben an die Gestaltbarkeit unserer Geschicke zu retten. Die entscheidende Frage lautet also: Was ist hinzunehmen, weil alles andere naiv wäre, was ist zu bekämpfen, weil alles andere skandalös wäre? Was an den Lebensbedingungen, unter denen man sich vorfindet, muss man annehmen, was kann man durch Einsicht, Aneignung und Veränderung daraus machen? Anders gefragt: Gibt es einen dritten Weg zwischen resignativer Tragikbejahung und be-

11 Es legte in wenigen Minuten die prächtige Hafenstadt in Schutt und Asche und kostete 15 000 Menschen das Leben. Sämtliche Grundbegriffe der damaligen Welt waren erschüttert; die verstörende Frage lautete, wie Gott so etwas zulassen könne. Am Ende der Debatte, so die Rekonstruktion Susan Neimans, stand der moderne Begriff des Bösen als Resultat absichtsvollen menschlichen Handelns. Ende dieses Begriff des Bösen ist die Judenvernichtung im Nationalsozialismus, die sich – bei aller systematischen Absicht des Hitler-Regimes – doch nicht so reibungslos hätte vollziehen können, wenn es nicht die vielen widerstandslosen Mittäter gegeben hätte, die ohne explizit böse Absichten daran beteiligt waren. 12 Susan Neiman: Das Böse denken, Frankfurt/Main 2004.

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schränkter Tragikverneinung?13 Das Tragische steht und fällt mit dem, was als unabänderlich, unverfügbar, schicksalhaft gilt, also mit dem, was als Unrecht resp. Unglück definiert wird, gleichgültig, ob dabei höhere Gewalt oder dumme Zufälle als tragisch bezeichnet werden. Um nun wieder von den Schwindel erregenden Abgründen metaphysischer Aporien weg und auf irdische Verhältnisse zurückzukommen, welche indes nicht weniger aporetisch sind, ist es wichtig, noch einmal zu betonen, dass das Definitionsproblem kein theoretisches, sondern ein praktisches ist: Um zu wissen, was man politisch ausgleichen und umverteilen soll, muss man wissen, was man für ungerecht und damit satisfaktionsbedürftig hält, und was für natürliches Übel, Pech oder tragische ›Fügung‹. Man muss Entscheidungen treffen hinsichtlich dessen, wo die Fürsorgepflicht des Staates anfangen oder aufhören soll, wann zu handeln ist, und wann Gegebenes hingenommen werden muss. Ähnlich problematisch wie die Grenzziehung zwischen Unglück und Unrecht ist aber auch jene zwischen – natürlich oder zufällig verursachtem – ›bad luck‹ und dem, was an gesellschaftlicher Benachteiligung daraus folgt. Wer in dem, was John Rawls die Lotterie der Natur und der sozialen Stellung genannt hat, gute Karten gezogen hat, partizipiert an Gütern, die nicht sämtlich staatlich zu rekompensieren sind. Güter wie Gesundheit oder Begabung sind weder umverteilungsfähig noch substituierbar, ihr Fehlen ist letztlich nicht wiedergutzumachen, sondern höchstens medizinisch oder pädagogisch abzumildern. Rawls’ maßgebliche Theorie der Gerechtigkeit sieht im Wesentlichen Verteilungsgerechtigkeit vor. Man hat, besonders von kommunitaristischer Seite, dagegen eingewendet, dass man keinen Begriff des Gerechten formulieren könne, ohne einen qualitativen Begriff des Guten implizit oder explizit zugrunde legen zu müssen.14 Gerechtigkeit könne nicht nur nach Maßgabe von Verdiensten verhandelt werden, welche letztlich leistungsförmige Kategorien seien, auch nicht nach Bedürfnisgesichtspunkten, denn sie sei etwas, das jenseits von einklagbarem Recht jedem zusteht.15 Rawls Zurückhaltung gegenüber dem Guten resultierte aus der Einsicht in dessen Relativität.16

13 Zum Begriff des Tragischen als Konflikt zwischen Macht und Freiheit (Schelling), als Grundlosigkeit (Nietzsche) oder als Selbstzerstörung (Simmel) vgl. den Artikel von R. Loock im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Basel 1998. Spalte 1334-1345. 14 Vgl. besonders Alasdair MacIntyre: Verlust der Tugend, Frankfurt/Main 1995. Aber auch Martha Nussbaum: Gerechtigkeit oder das gute Leben, Frankfurt/Main 1999. 15 Rawls wusste sehr genau, was er tat, als er dies zurückwies, denn wenn man Gerechtigkeit nicht als etwas ›mit Fug und Recht‹ Einzuforderndes begreift, gelangt sie in die Nähe zur Gnade, eine einklagbare Gnade aber ist eine contradictio in adjecto. 16 Vgl. hierzu Charles Larmore, der ausführt, die beste Rechtfertigung liberaler Neutralität gegenüber divergierenden Fragen des Guten, basiere auf den beiden Normen des rationalen Dialogs und des gegenseitigen Respekts. In: Axel Honneth (Hg.): Kommunitarismus: Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt/Main 1993.

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Dennoch scheint mir das Argument, die Orientierung an einem allgemeinen Guten sei eine suppositionslogische Voraussetzung jeder Argumentation des Rechten, weil man sich sonst weder auf Verdienst noch auf Schuldlosigkeit berufen kann, schwer zu widerlegen. Auch jeder Auslegung geltenden Rechts gehen moralische Prinzipien voraus. Die Berufung auf Gerechtigkeit bzw. die Anklage von Ungerechtigkeit basiert auf dem Umstand, dass die aleatorischen Ungleichheiten der Anfangsbedingungen des eigenen Lebens niemand verantwortet hat und daher auch niemand verdient haben kann. Das Prinzip Gerechtigkeit ist dadurch in doppelter Hinsicht verletzt: Einmal, weil man die Folgen von etwas, das man nicht verursacht hat, auf sich nehmen muss, ein zweites Mal, weil die basale Forderung nach Chancengleichheit vor den Kopf gestoßen wird. Sämtliche Bestimmungsprobleme kehren mithin wieder, wenn definiert werden soll, welche Ungleichheiten ungerecht sind und welche angenommen werden müssen. Erklärt man, dass natürliche Ungleichheiten deshalb nicht ungerecht seien, weil sie von niemandem intentional verantwortet sind17, müssten sie schlicht hingenommen werden. Zu verantworten aber sind die Folgen, die sich an gesellschaftlicher Benachteiligung daraus ergeben; die durch Körperbehinderungen entstehenden Nachteile dürfen nicht auch noch durch finanzielle Nöte vermehrt werden, Bildungserfolg und Karrierechancen dürfen nicht nur an die soziale Herkunft gekoppelt sein usw.. Man wird folglich die eingangs gestellte Frage nach dem, was das suum sei, das jedem zusteht, nicht los, in der einen oder anderen Gestalt taucht das Problem immer wieder auf. Was im Englischen mit zwei verschiedenen Worten beschrieben werden kann: Verdienste im engeren Sinn von Leistungen ›deserts‹ und im weiteren, moralischen Sinn von ›merits‹ hängt oft eng miteinander zusammen, beide verweisen auf einen gemeinsamen, unverdienten und unverschuldeten Grund. Nun behauptet derjenige, der sich auf egalitaristische Grundsätze beruft, ja keine tatsächliche Gleichheit, sondern ein normatives Gleich-Sein-Sollen, alle Menschen sollen dem Kern der Gerechtigkeitsidee nach hinsichtlich ihrer Grundrechte und Chancen gleich sein, nicht sozioökonomisch oder faktisch.18 Als Individuen mögen sie so different sein, wie sie wollen, gerade deshalb kann das jedem Zustehende überhaupt gemäß je verschiedener Eignung oder Bedürftigkeit verteilt werden, aber sie alle haben die gleiche Würde und verdienen die gleiche

17 Vgl. Julian Nida-Rümelin: Eine Verteidigung von Freiheit und Gleichheit, in: Claus Langbehn (Hg.): Recht, Gerechtigkeit und Freiheit, Paderborn 2006, S. 17-46. 18 Unter Gleichheitsgesichtspunkten, kann auch Ungleichbehandlung wie bspw. die Begünstigung Benachteiligter gefordert werden, wenn sie nämlich bestehende Ungleichheiten ausgleicht, um Gerechtigkeit wiederherzustellen, sei es durch Umverteilung, sei es durch Entschädigung. Gleiche Verteilung unabhängig von Bedürfnis oder Verdienst wäre auch für Egalitaristen ungerecht. Gerechte Ungleichbehandlung schafft Klassen von Berechtigten, berücksichtigt und gewichtet also alle Angehörigen einer Gruppe von Verdienten oder Bedürftigen gleichermaßen.

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Achtung, sie sollten also gleich sein. Sind sie es nicht, muss es dafür Gründe geben, Macht als solche (auch die Macht des Zufalls) ist noch kein Grund, denn Macht ohne Recht bedeutet zumeist Unrecht. Ungleiche – etwa rassistische oder sexistische – Normen sind ebenfalls keine Gründe im rechtfertigungstheoretischen Sinne. Es ist also dasselbe Dringen auf Legitimität und Legitimation, d.h. auf Rechtmäßigkeit und auf Rechtfertigung, das ehedem Gott zur Rechenschaft zog, das im Ruf nach Gerechtigkeit wirksam ist, wenn von den bestehenden Verhältnissen verlangt wird, dass sie auf Gründen beruhen, die der Vernunft standhalten. Kontingenterweise herrschende Machtverhältnisse oder zufällige Verteilung haben solche legitimierende Qualität nicht, die Vernunft braucht Gründe, die Sinnfragen beantworten. Dies alles sollte gezeigt haben, dass die Begriffe, auf die man sich in Fragen der Gerechtigkeit unvermeidlich beruft, auf Unterscheidungen beruhen, die man treffen muss, ohne dass ihre Unterscheidbarkeit ein für allemal feststünde. Die prinzipiellen Bestimmungs- und Grenzziehungsschwierigkeiten dessen, was zu tun ist und was zu leiden, was verdient und was ungerecht, was berechtigt und was grundlos, sind praktische Probleme der Vernunft, die auch dann noch Konzepte für richtiges und gebotenes Handeln benötigt, wenn sie die Frage nach einem letzten, göttlichen Grund verabschiedet hat.

4. Erlebte Ungerechtigkeit Wie substantiell und unabweisbar das Verlangen nach guten und intelligiblen Gründen ist, sie seien rechtlicher, moralischer oder politischer Natur, erweist auch ein Seitenblick auf die empirische Sozialpsychologie. Melvin Lerner hat die untersuchte Beobachtung beschrieben, dass zahlreiche Menschen glauben, sie lebten in einer Welt, in der sie bekommen, was ihnen zusteht. Umgekehrt glauben sie, dass sie verdienen, was sie bekommen. Diese ›just-world-theory‹ sei die Basis für Zuversicht in die Zukunftsaussichten und die Verfolgung langfristiger Ziele. Jede erlebte und beobachtete Ungerechtigkeit stellt eine Bedrohung dieses Weltvertrauens dar. Um ihren Glauben wiederherzustellen oder zu retten, ringen Menschen auf sehr verschiedene Weise mit einer Haltung zu wahrgenommenem Unrecht. Sie forschen nach Erklärungen, bemühen sich um Wiedergutmachung oder beurteilen ihre Lage oder die der Opfer als selbstverschuldet. So hat eine Studie mit Müttern behinderter Kinder und mit Langzeitarbeitslosen ergeben, dass der Glaube an eine grundsätzlich gerechte Welt höchst widersprüchliche Auswirkungen auf die psychische Anpassungsfähigkeit der Befragten an ihre Situation hat.19 Welche Rolle Gerechtigkeitsüberzeugungen beim Umgang mit kritischen Lebensereignissen spielen, wie sie sich auf die Einschätzung der eigenen Verantwortung auswirken und womit sie einhergehen, ist eine Angelegenheit 19 Claudia Dalbert: Über den Umgang mit Ungerechtigkeit, Göttingen 1996.

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komplexer Korrelationen. Die Antworten, die die Betroffenen finden, hängen von den Sichtweisen ab, zu denen sie hinsichtlich dessen, was ihnen widerfuhr, gelangen, und sie entscheiden darüber, wie sie die belastenden Ereignisse verarbeiten. Die prototypische Frage desjenigen, der eine Krise zu verkraften hat, lautet: Warum ich? Das für unseren Zusammenhang Interessante daran ist, dass diese Frage für die wenigsten mit Hinweisen auf faktische Ursachen beantwortet werden kann, sondern nach einer umfassenderen Begründung verlangt. Das Gefühl, im Vergleich zu anderen benachteiligt oder verraten worden zu sein, benötigt Gründe, die auf die eine oder andere Weise als gut gelten können und einen verstehbaren Sinn ergeben. Manche beantworten diese Frage mit einem allgemeinen Glauben an eine gerechte Welt, andere mit produktiven Umdeutungen, wieder andere mit persönlichen Selbstanklagen. »Der gerechte-Welt-Glaube motiviert zu unrealistischen variablen Selbstzuschreibungen«20, so der Befund. Sich selbst als Problemursache anzusehen, kann durchaus Sinn stiften, allerdings auch Schuldgefühle erzeugen, und damit psychisch zuträglich sein oder im Gegenteil Depressionen verursachen. Was hier konkurriert, ist der positive Effekt gefühlter Kontrolle und verdienter Grund-Folge-Verhältnisse mit dem negativen eigener Schuld. Selbstzuschreibungen können zur Adaption in dem Maße beitragen, in dem sie Gefühle des Ausgeliefertseins, des Kontrollverlustes und der Empörung lindern; sie können ihr abträglich sein, in dem sie Scham- oder Schuldgefühle erzeugen. Es gibt keine allgemeine Theorie darüber, wann Selbstanklagen welche Wirkungen haben, noch weniger, wann sie berechtigt oder wahrscheinlich sind. Die Rekonstruktion der eigenen Geschichte als selbstverursacht ist jedenfalls in dem Maße eine Form der Bewältigung, in dem sie den Glauben an Intelligibilität und Begründetheit eines negativen Widerfahrnisses zusammenhält oder absichert. Prospektiv geht damit, so die Meinung der Psychologen, das Gefühl einher, Katastrophen künftig oder prinzipiell meiden zu können, denn Selbstverantwortlichkeit impliziert theoretisch eine gewisse Kontrollierbarkeit des Schicksals. Angebliche oder tatsächliche Vermeidbarkeit ist dabei ein kruzialer Punkt, der es gestattet, den Glauben an die grundsätzliche Gestaltbarkeit des eigenen Fatums aufrecht zu erhalten. Zugleich aber macht der Eindruck, dass man dem Problem hätte abhelfen können, dieses selbst umso weniger akzeptabel. Entsprechend ambivalent fallen die Untersuchungsergebnisse aus. »Man würde erwarten«, schreibt der Psychologe Leo Montada, »daß Opfer belastender Ereignisse sich nicht noch durch Selbstvorwürfe weiter belasten [...]. In mehreren Studien wurde aber nachgewiesen, daß Selbstbeschuldigungen recht häufig sind [...]. Auf

20 Ebd, S. 141. »Je stärker die Opfer von Schicksalsschlägen davon überzeugt sind, dass sie in einer gerechten Welt leben, desto eher sehen sie sich als Mitverursacher/in variabler Aspekte dieses Schicksalsschlags und desto mehr machen sie sich Vorwürfe deswegen.« Ebd., S. 143.

DAS MACHBARE UND DAS HINZUNEHMENDE | 249 den ersten Blick überraschend war die Beobachtung, daß Opfer, die sich selbst Vorwürfe machen, häufig besser mit ihrer Situation zurechtkamen als andere.«21

Das Selbstverschuldete scheint leichter erträglich als das Fremd- oder Weltverschuldete. So berichten Untersuchungen von Unfallopfern mit Querschnittslähmungen, dass sie ihr Schicksal dann besser verkrafteten, wenn sie sich selbst als Unfallverursacher ansahen. Das Positive, wenngleich in dem vom Marquard diagnostizierten zutiefst ambivalenten Sinne positiv, daran besteht in der unterstellten Machbarkeit des eigenen Schicksals. Andere Studien ergaben, dass die Genesung von Unfallopfern ungünstig dadurch beeinflusst wurde, dass sie ihren Unfall als grundsätzlich vermeidbar ansahen. Menschen, die sich danach mit Ungerechtigkeitsgefühlen dergestalt quälten, dass sie sich fragten, warum ausgerechnet ihnen so etwas passiert sei, benötigten längere Zeit zur Gesundung. Erneut ist die Frage der Vermeidbarkeit destruktiv und konstruktiv zugleich: einerseits hätte es nicht sein müssen, aber andererseits ist es immerhin nicht gänzlich unerklärlich oder unverschuldet. Das Unverschuldete ist ein ebenso starker Affront gegen das moralische Gefühl wie das Unverdiente; beides konsterniert die dem Gerechtigkeitsdenken inhärente Verdienstlogik, beides ist gleichermaßen grundlos und kontingent. Sofern sich überhaupt allgemeine Schlüsse aus diesen Befunden, deren prinzipielle Erfassbarkeit im Rahmen von Fragebögen und deren Erhebungsmethoden man im Einzelnen durchaus bezweifeln kann, ziehen lassen, scheinen sie mir darin zu liegen, dass die Frage nach einem zureichenden Grund im Sinne einer befriedigenden Erklärung in jeder Hinsicht charakteristisch und bestimmend für den Umgang mit Ungerechtigkeit ist. Nichts steht bei der Frage nach Gerechtigkeit so sehr auf dem Spiel wie der Sinn des Lebens, nichts wird durch das Ungerechte so durchsichtig wie die Undurchsichtigkeit der Welt. Grundlosigkeit ist für den Begründungsanspruch der Vernunft nachgerade selbst ein Unrecht, man empfindet das Unbegründete als Zumutung, Arbitrarität als nicht billigungsfähig, als Despotie des Unberechtigten, Unausgewiesenen, Sinnlosen. Was sich daran zeigt, ist, wie ich meine, die Unabweisbarkeit von Moral und Metaphysik gleichermaßen: Wie säkularisiert die europäische Moderne auch immer sein mag, wie sehr sie Gott totgesagt oder ermordet hat, die alten Fragen lassen sich nicht mit-begraben; die theologischen Probleme kehren in neuer Gestalt auch da wieder, wo keinerlei Heilserwartung mehr herrscht. Die Absage an die Metaphysik im Sinne einer Anerkennung der Unbehaustheit oder Abgründigkeit menschlicher Existenz bewirkt nicht, dass man aufhören könnte, nach Gründen zu forschen und moralische Forderungen an sie zu stellen. Vom moral point of view lässt sich nicht absehen, weil Willkür die Vernunft in ihrem Ringen um retrospektive Erklärungen und prospektive Konzepte düpiert. Wahrnehmend und 21 Leo Montada: Die Bewältigung von Schicksalsschlägen, erlebte Ungerechtigkeit und wahrgenommene Verantwortung, Trier 1987, S. 11.

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handelnd bewegen wir uns nicht in einem kausal determinierten Naturraum, der unser Glück nun einmal nicht vorgesehen hat, sondern in einem normativ begriffenen Freiheitsmedium und in einem soziokulturellen Raum der Gründe. Die Freiheit könnte und sollte, so die unabweisbare Forderung der Vernunft, bewirken, dass Wahlen und Entscheidungen derart ausfallen, dass das Ungerechte unterbleibt und das Gute getan wird. Geschieht dies nicht, muss es wenigstens transparente Gründe geben. Wir kommen schlechthin nicht umhin, moralische Kategorien zu verwenden, weil wir sie auch dann noch beanspruchen, wenn wir sie infrage stellen oder wenn die Ereignisse sie bestreiten. Die Einsicht in die moralische Indifferenz eines Universums, das für unsere Musik taub ist22, ändert daran nichts, denn der Handlungsraum ist kein Naturzustand, sondern eine Welt von Werten, Sitten und Interpretationen, in der die fatale Macht des Zufalls Anstoß erregt. Die moralische Dimension der Frage nach dem Grund von Übel und Unrecht ist kein Relikt überkommener Zeitalter, welche die Antworten der Religion noch überzeugten, indem sie an eine Berufungsinstanz namens Jüngstes Gericht glaubten. Derlei Antworten mögen unglaubwürdig geworden sein, die Fragen haben darüber nicht aufgehört, existentiell bedeutsam zu sein. Auf dem Spiel stehen immer noch Legitimität und Intelligibilität auch der säkularisierten Welt, die – wie zuvor ihr Schöpfergott – ihre Berechtigung und Verstehbarkeit ausweisen können sollte. »Die Frage ›Warum ich?‹ oder ›Warum wir?‹«, so noch einmal Judith Shklar, »verlangt nach [...] etwas, das einen moralischen Sinn ergibt.«23 Für Skandale aber fehlen zumeist moralisch haltbare Gründe, und das wiederum ist seinerseits ein Skandal: Ein zufällig entstehendes, vergehendes, gelingendes oder scheiterndes Leben ist für die immer schon normativ und moralisch orientierte Vernunft offenbar schwerer zu ertragen als ein Unglück. Um damit fertig zu werden, gibt menschliches Verstehenwollen sich lieber selbst die Schuld als die Kontingenz hinzunehmen, man leidet lieber an dem, was man selbst ist, und sich selbst zuzuschreiben hat, als an dem, was von außen zufällig und zusammenhanglos über einen hereinbricht. Friedrich Nietzsche gab diesem Befund in seiner Deutung des Christentums eine geschichtsphilosophische Wendung: »Nicht das Leiden selbst war sein (des Menschen, E.S.) Problem, sondern dass die Antwort fehlte für den Schrei der Frage: ›Wozu leiden?‹ [...] die Sinnlosigkeit des Leidens, nicht das Leiden, war der Fluch«.24 Darauf geantwortet zu haben bescherte dem Christentum seine jahrhundertelange Überzeugungskraft. »Ein Leiden, das Sinn hat«, so erläutert Neiman den Gedanken Nietzsches,

22 Jacques Monod: Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie, München 1971. 23 J. Shklar: Über Ungerechtigkeit, S. 74. 24 Nietzsche zitiert nach S. Neiman: Das Böse denken, S. 322.

DAS MACHBARE UND DAS HINZUNEHMENDE | 251 »ist nicht schwer zu tragen. Im Leiden Sinn zu finden bedeutete, einen guten Grund für es zu finden, als auch gute Folgen. So erfanden wir die Sünde und die Erlösungen. Die Sünde gab dem Leiden einen Ursprung, die Erlösung gab ihm ein Ziel. [...] Wir nahmen die Schuld für das Leiden auf uns, um dem Leben Sinn zu geben.«25

5. Entscheidungen des Unentscheidbaren Wenn folglich eine der maßgeblichen Problemdimensionen des Ungerechten seine Kontingenz bzw. die Akzeptanz von Grundlosigkeit ist, liegt auf der Hand, dass der Interpretationsanstrengung, die man unternehmen muss, um zu einer Haltung gegenüber Ungerechtigkeitserfahrungen zu finden, eine bedeutende Funktion zukommt. Sicht und Begriff vom Ungerechten sind auf mehreren Ebenen wirksame Modi des Umgangs mit erlebter Ungerechtigkeit: Individuell in dem Reim, den Menschen sich auf das machen, was ihnen geschieht, kollektiv in den Urteilen und Überzeugungen, die dem Handeln vorausgehen und die Politik prägen. Welche Sichtweisen man einnimmt, ist dabei keine Frage kognitiver Optionen, sondern eine unhintergehbare Weise des reflektierten Lebens, sich zu sich selbst zu verhalten. Die psychologische Literatur operiert zumeist so, als gäbe es eine eindeutige Unterscheidbarkeit zwischen einer nüchtern-realistischen Sicht auf die objektive Lage und den subjektiven oder sogar illusionären Strategien ihrer Bearbeitung und Bewältigung. In der Behauptung eines universalisierbaren Beobachterstandpunktes sind die sozialpsychologischen Untersuchungen jedoch alles andere als rein deskriptiv, sondern selbst normativ. Anders gesagt, die objektive Sicht ist keineswegs neutral. Nicht anders als die beschriebenen Personen operieren auch die Beobachter auf der Basis von Voraussetzungen und Überzeugungen hinsichtlich dessen, was ein Unglück ist und was eine realistische Einschätzung. Ähnlich wie das Beharren auf Gleichheit zuweilen etwas Dogmatisches haben kann, indem es nämlich Unvergleichliches vergleicht, und ebenso wie jeder universelle Standpunkt zwangsläufig dem Partikularen gegenüber ignorant ist, ist auch die normative Sicht auf die Lebensgeschichte anderer eine Perspektive, die gleichmacherische Prämissen beansprucht und dadurch mit der Teilnehmerperspektive über weite Strecken inkommensurabel ist. Von außen betrachtet ist Gleichheit die Regel und der objektive Maßstab, jede Abweichung davon erscheint als ungerechte Über- oder Unterprivilegierung. Es könnte aber sein, dass das Besondere eine Abweichung verlangt und rechtfertigt, deren Wert oder Unwert sich erst der Erlebensperspektive erschließt. Die egalitaristische Forderung nach Regelbeachtung unterschätzt nahezu unumgänglich den Eigensinn der Abweichung und die Standpunktabhängigkeit ihrer eigenen Prämissen. Der taxierende Blick, der Gleichheit zur Norm erhebt, und der immer schon entschieden 25 Ebd.

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hat, was gesund oder normal ist, kollidiert mit dem des Teilnehmers, der das Unvergleichliche sieht und erlebt. Seine Wahrnehmung ist keine kognitive Sollensperspektive, sondern ein situiertes, mitmenschliches Innesein, das die Andersheit als unvergleichlich einzigartig erfahren kann. Aus der Perspektive der Beobachtenden sieht eine Behinderung wie eine objektive Benachteiligung aus, die das ganze Leben in seinem Wert infrage stellt, ohne dass die Betroffenen diese Sichtweise notwendig teilten. Mütter behinderter Kinder sehen das nicht selten ganz anders, die Divergenz der Perspektiven ist eine Divergenz des Universellen und des Partikularen, ein Ebenenwechsel, der einen Unterschied ums Ganze macht. Was eine Benachteiligung ist, kann sich zur Erfahrung nicht wie die Wahrheit zu einer Illusion verhalten, sondern verhält sich zu ihr wie eine Sichtweise zum Gesehenen, nämlich so, dass beide einander wechselseitig konstituieren. Der Punkt ist nun, dass beides, das Beharren auf Gleichheit, wie das Erleben der individuellen Andersheit, prämissenabhängige Sichtweisen und relative Standpunkte sind, die jeweils nur eine der beiden Säulen, auf denen die Gerechtigkeit fußt, berücksichtigen. Beide Blicke, der des Beobachters und der des Teilnehmers, sind perspektivische Abschattungen, die für das Verständnis des Gerechten eine vereinseitigende Wahl darstellen: jene nämlich favorisiert das Gleiche, diese das Einzelne. Keine der möglichen Perspektive ist unberechtigt oder beliebig, aber keine trifft das Ganze der unteilbaren Gerechtigkeit, die immer die konträren Ansprüche auszubalancieren hat: allen das Gleiche und jedem das Seine zukommen lassen zu sollen. Jedes Verabsolutieren einer der beiden Seiten wird der Gerechtigkeit selbst nicht gerecht. Ich habe auf der dichten Verzahnung von Ungerechtigkeit und Grundlosigkeit so insistiert, um einen moralischen und sogar metaphysischen Kern der Gerechtigkeitsfrage auszuweisen, der sich psychologisch im unabweisbaren Dringen auf hermeneutische Klärung bemerkbar macht, und moralphilosophisch darin, etwas wesentlich Unentscheidbares entscheiden zu müssen. Das Unentscheidbare beginnt mit den genannten Bestimmungsschwierigkeiten dessen, was das Hinzunehmende, das Machbare oder das jedem Zustehende ist, und es endet mit der Inkommensurabilität der Ansprüche des Gleichen und des Eigenen, jedem gemäß seiner Individualität das Eigene zu geben, während doch auch alle gleich zu behandeln sind. In all diesen Fällen kommt man nicht umhin, Dezisionen vorzunehmen, für die es keine universell gültige kriterielle Absicherung geben kann. Es sind affirmative Entscheidungen zu treffen, von denen man nie letztlich wissen kann, ob sie richtig und gerecht sind. Zum Beispiel mag der Einzelne sich für eine Erzählung entscheiden, die in dem, was ihm an Unglück oder Unrecht geschah, einen Sinn entdeckt, von dem er nicht weiß, ob er ihn angemessen beurteilt. Nichtsdestotrotz leisten Erzählungen etwas, auf das auch die Gerechtigkeit zielt, nämlich Kontingenzbewältigung. Erzählungen bringen Sichtweisen zum Ausdruck, sie geben Rechenschaft ab und kontextualisieren, sie stellen Sinnzusammenhänge

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her und stiften Kontinuitäten, und sei es die Kontinuität von Brüchen. Die Kontingenzbewältigung ist keine handelnd-politische, sondern sie ist erklärend und verstehend; sie beginnt erst ex post auf einer Ebene der sinn-erzeugenden, Gründe findenden, Schlüsse ziehenden Verarbeitung, welche vermutlich nie ganz wahr sein wird, aber auch nur selten völlig arbiträr. Wie fragil oder ausschnitthaft der Sinn auch immer sein mag, der dabei gefunden wird, er eröffnet doch schmale Freiheitsspielräume des Deutens und Neuanfangens. Um die Kronzeugin dieses Gedankens des Neuanfangens, Hannah Arendt, zu zitieren: »Wer es unternimmt zu sagen, was ist – OHJHLWDHRQWD [...] – kommt nicht umhin, eine Geschichte zu erzählen, und in dieser Geschichte verlieren die Fakten bereits ihre ursprüngliche Beliebigkeit und erlangen eine Bedeutung, die menschlich sinnvoll ist.«26 Skeptizisten haben solche Geschichten im Verdacht, nichts als Lebenslüge und Schönfärberei zu sein. Doch erstens verkennen sie dabei, dass es gerade die Anerkennung der unumstößlichen Fakten ist, die die Geschichten bewahren und aufheben, indem sie ihnen eine Bedeutsamkeit verleihen. Und zweitens taumeln sie mit ihren Zweifeln in genau jene schlechte, leer laufende Unendlichkeit, die ein Strukturmoment der Unentscheidbarkeit ist, wenn sie nicht entschieden wird. Das Nicht-Loswerden der Frage nach dem Grund ist sowohl metaphysisch als auch moralisch, metaphysisch im Sinnes eines Bestehens auf einem zureichenden Grund und Sinn des Ganzen, und moralisch, weil Gründe im Reich der Freiheit und der Sitten, moderner gesprochen in der Praxis, dasjenige sind, was Ursachen im Reich der Natur sind. Gründe müssen sich am Maßstab der Vernunft, herrschender juristischer und moralischer Normen und geltender Sitten ausweisen können, sie verdanken sich Prozessen des Erwägens und Aushandelns und führen zu Verantwortung und Verpflichtung. »Um die Welt vernünftig zu machen«, so noch einmal Susan Neiman, »müssen wir glauben, dass sie vernünftig sein soll. Kein politischer Fortschritt ohne metaphysische Bedingungen.« 27 Wenn Zufälligkeit und Verdienstlosigkeit eines widrigen Ereignisses dieses so unerträglich machen, weil sie Sinn zerstören, dann entscheidet die Antwort, die man auf die Warum-Frage findet, über Sinn und Unsinn menschlicher Existenz. Die Schuld auf uns zu nehmen, ist eine mögliche Antwort. Die Grundlosigkeit anzuerkennen ist eine andere. Aber beide Antworten sind nicht in allen Fällen gleich gut. Manche Auffassungen sind, wie Shklar zeigte, politisch schädlich, andere sind psychologisch maladaptiv. Das könnte Grund genug sein, Sinn zu stiften, wo er ›objektiv‹ fehlt, zumal das Objektive auch nur eine von mehreren Hinsichtnahmen ist.

26 Hannah Arendt: Wahrheit und Politik, in: dies.: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München 1994, S. 327-370, hier S. 367. 27 Susan Neiman in einem Interview. Vgl. http://www.uni-potsdam.de/u/einsteinforum/html_docs/stream.htm.

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Es könnte zwar sein, dass phronesis es gebietet, das Beharren auf Gründen auf sich beruhen zu lassen, und die Macht des Unverfügbaren als eine nicht operationalisierbare Größe außerhalb des Handlungsraumes anzuerkennen. Nur ist nicht immer ersichtlich, wo dessen Grenzen verlaufen. Sich darauf zu berufen, das Leben befände sich nun einmal jenseits dessen, was wir berechnen und beherrschen können, kann so fatalistisch und gleichgültig gegen veränderbares Unrecht sein, wie es naiv und vergeblich sein kann, sich dagegen aufzulehnen. »Wahrheit«, schreibt Hannah Arendt, könne man definieren als das, »was der Mensch nicht ändern kann«, Politik aber enthalte das »Versprechen, daß Menschen die Welt ändern können«28. Bleibt noch der Einwand, das Bedürfnis der Vernunft nach Legitimation sei selber legitimierungsbedürftig, weil die Forderung, das Leben solle sinnvoll sein, eine Art ›Kategorienfehler‹ sei, irregeleitete Subsumtion des Natürlichen unter das Sittliche bzw. des Tatsächlichen unter das Vernünftige. Das kann sein. Das ändert aber nichts daran, dass man darauf angewiesen ist, die Version einer Antwort zu finden, die man bejahen kann, weil erst das, was anerkannt wird, abgegolten ist, verziehen und losgelassen werden kann. Dazu sind Interpretationsanstrengungen zu unternehmen und Entscheidungen zu treffen, die einen Sinn bilden, der nicht leugnet, aber auch nicht resigniert, der weder nihilistisch ist, noch blind für die Grenzen des Machbaren und die Notwendigkeit des Hinzunehmenden.

28 H. Arendt: Wahrheit und Politik, S. 370.

Dekonstruktive Sozialtheorie als Ethik jenseits des Sozialen PETER WIECHENS

Aus der Perspektive der Systemtheorie Niklas Luhmanns konstituiert sich das Soziale über eine Auflösung oder Bewältigung einer doppelt kontingenten, d.h. sozial unbestimmten und dadurch Unsicherheit hervorrufenden Situation.1 Der Konstitutionsprozess des Sozialen ist ein Problemlösungsprozess, in dessen Verlauf das Problem der doppelten Kontingenz zwar nicht verschwindet, das aber mittels des durch es in Gang gesetzten Strukturbildungsprozess so weit abgearbeitet wird, dass es nur mehr als produktiv wirksames ›Problem‹ für den Aufbau bzw. die Reproduktion eines sozialen Systems in Erscheinung tritt. Luhmann operiert in diesem Zusammenhang aus der Perspektive einer sich immer schon konstituierenden bzw. konstituierten gesellschaftlichen Wirklichkeit. Das bedeutet, dass das Kontingenz- oder Unbestimmtheitsproblem auf zumindest rudimentäre Weise immer schon gelöst ist, wenn anders es überhaupt zu einer Konstitution des Sozialen kommen soll, wenn anders man überhaupt vom Sozialen sprechen will. Für Luhmann kann es folglich keine Situation mit reiner doppelter Kontingenz, d.h. keine sozial völlig unbestimmte Situation geben. Luhmann kennt reine doppelte Kontingenz lediglich als hypothetische Ausgangssituation, die auf theoretisch experimentelle Weise vor Augen führen soll, auf welche Weise sich soziale Systeme immer schon bilden und ausdifferenzieren. »In ihrer Reinform ist doppelte Kontingenz [...] kein empirisch vorfindbarer Sachverhalt. Schon immer ist [...] die Situation der doppelten Kontingenz in ihrer völlig unbestimmten Variante soweit entschärft, dass ein Mindestmaß an sozialer Ordnung 1

Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/Main 1984, S. 148ff.; vgl. auch Gerhard Gamm: Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang der Moderne, Frankfurt/Main 1994, S. 246ff.

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vorhanden ist.«2 Eine ›Situation‹ radikaler Unbestimmtheit oder Offenheit ist demnach nur unter der Bedingung möglich, dass eben kein Systembildungsprozess zustande kommt bzw. ein solcher Prozess grundsätzlich unterbunden oder unterbrochen wird. Im folgenden wird es zunächst darum gehen, unter Zuhilfenahme einiger grundlegender Reflexionen Ernesto Laclaus zur Systemhaftigkeit des Systems die spezifische Grenze zu bezeichnen, derer ein jedes System für seine Konstitution notwendigerweise bedarf, die jedoch selbst niemals in das System einzutreten vermag, es sei denn um den Preis, dass sich ein Zusammenbruch, ein Absturz des Systems ereignet.3 Durch Einbeziehung von Luhmanns Unterscheidung zwischen Bewusstsein und Kommunikation soll jedoch die Einsicht vorbereitet werden, dass der Zusammenbruch zumindest des sozialen Systems, bei dem es sich Luhmann zufolge immer um ein Kommunikationssystem handelt, nicht schon zwangsläufig zu einem Zusammenbruch der ›Wirklichkeit‹ überhaupt führt, sondern vielmehr einer spezifischen Erfahrung zugänglich ist, die man mit Jacques Derrida, aber auch Georges Bataille, als eine ›unmögliche‹ Erfahrung anzusehen hat, insofern sie sich paradoxerweise gerade nur über einen Zusammenbruch der Kommunikation bzw. über ihre grundsätzliche Inkommunikabilität zu konstituieren vermag.4 Unter Bezugnahme auf Emmanuel Levinas’ Denken des Anderen soll abschließend gezeigt werden, dass allein eine solche – unmögliche – Erfahrung einen Bezug zu dem Anderen in seiner Andersheit zu stiften vermag, der sich den Operationen des Kommunikationssystems immer schon konstitutiv entzieht, ja durch diese prinzipiell ›verunmöglicht‹ wird.5 Herausgestellt werden soll damit letztlich die Existenz einer grundlegenden Differenz zwischen dem Sozialen und dem Ethischen, die innerhalb des Rahmens der Systemtheorie keinen oder nur einen unterirdischen Ort einzunehmen vermag und die letztlich nur durch eine sich dekonstruktiver Verfahrensweisen bedienenden Sozialtheorie auf zureichende Weise erfasst werden kann.

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Rainer Schützeichel: Sinn als Grundbegriff bei Niklas Luhmann, Frankfurt/Main 2003, S. 74. Vgl. Ernesto Laclau: Emanzipation und Differenz, Wien 2002 [1996], S. 65ff. Für den Hinweis auf diesen Text danke ich Markus Lilienthal. Vgl. Jacques Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003 [2001]; Georges Bataille: Die innere Erfahrung nebst Methode der Meditation und Postskriptum 1953 (Atheologische Summe I), München 1999 [1943]. Vgl. Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg/München 1987 [1961].

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1. Der Zusammenbruch des Kommunikationssystems Ernesto Laclau zufolge bildet sich jedes System über eine Ausschließung, über eine ausschließende Grenze. Das, was ausgeschlossen wird, wird dabei »zu reiner Negativität reduziert«, zu etwas, »was jenseits der Grenze der Ausschließung liegt – etwa zur reinen Bedrohung, welche dieses Jenseits für das System darstellt (und es auf diese Weise konstituiert). Wenn die ausschließende Dimension gelöscht wäre oder auch nur geschwächt, dann würde der differentielle Charakter des ›Jenseits‹ schlagend werden – und in Folge würden die Grenzen des Systems verwischt werden.«6

Die Konstitution des Systems geschieht demnach über eine radikale Ausschließung dessen, was aus der Perspektive des Systems immer schon als fundamentale Bedrohung, als absolute Gefahr in Erscheinung tritt.7 Das vom System ausgeschlossene Andere (sein Jenseits) stellt für das System gewissermaßen einen Sprengsatz dar, der – käme er mit dem System in Berührung – letztlich zu einer Explosion oder besser: Implosion des Systems führen würde. Zwischen dem System und seinem Anderen existiert insofern eine radikale Differenz, die sich nur um den Preis eines letztendlichen Zusammenbruch des Systems ›aufheben‹ lässt. Das System kann sich folglich auf keine Weise mit seinem Anderen vermitteln, dieses muss vielmehr grundsätzlich aus dem System herausgehalten werden, wenn es sich selbst erhalten will. Laclau macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass nicht nur das vom System als bedrohlich behandelte und daher auszuschließende Andere, sondern bereits die das System konstituierende ausschließende Grenze selbst niemals Teil des Systems sein kann. Würde diese Grenze dem System angehören, würde sie immer schon im System liegen, so dass sie nicht als Grenze des Systems fungieren könnte, d.h. als eine Grenze, über die sich das System allererst zu konstituieren vermöchte. Die Grenze des Systems muss demnach immer außerhalb des Systems verbleiben, was vor allem bedeutet, dass sie von diesem selbst niemals bezeichnet werden kann. Übertragen auf das soziale System, das Luhmann zufolge immer ein Kommunikationssystem ist, heißt das, dass auch ein Kommunikationssystem nicht dazu in der Lage ist, seine eigene Grenze zu bezeichnen, seine eigene Grenze zu kommunizieren. Eine solche Kommunikation würde darauf hinauslaufen, das zu kommunizieren, was außerhalb oder jenseits der Kommunikation liegt. Dieses Jenseits der Kommunikation ist aber gerade dasjenige, das – würde es in die Kommunikation eintreten – den Einsturz der Kommunikation einleiten würde. Die Grenze der Kommunikation kann sich insofern nur als Zusammenbruch der Kommunikation manifestieren, sie kann sich

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E. Laclau: Emanzipation und Differenz, S. 68. Vgl. G. Gamm: Flucht aus der Kategorie, S. 254ff.

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»nur als Unmöglichkeit der Verwirklichung dessen enthüllen, was innerhalb dieser Grenze liegt«.8 »[D]ie Aktualisierung dessen, was jenseits der Grenze der Ausschließung liegt, [beinhaltet] die Unmöglichkeit dessen, was diesseits der Grenze liegt.«9 Luhmann hat selbst darauf hingewiesen, dass ein Kommunikationssystem seinen eigenen Zusammenbruch nicht kommunizieren kann, denn dies würde voraussetzen, dass es etwas kommunizieren könnte, was den eigenen Kommunikationsprozess beendete.10 Die Kommunikation müsste gewissermaßen eine Unterscheidung verwenden, mittels derer sie das Aufhören dieser Unterscheidung unterscheiden könnte. Dadurch würde jedoch die Kommunikation immer schon fortgesetzt werden, so dass es sich gerade nicht um ein Ende der Kommunikation handelte. Für das Kommunikationssystem gibt es daher nur die Alternative, dass es sich entweder selbst immer schon reproduziert oder aber im Ganzen zum Erliegen kommt. Entweder ein Kommunikationssystem existiert oder es existiert nicht, es kann jedoch nicht als zusammengebrochen existieren. Ein solcher Zusammenbruch beendet vielmehr jegliche Operationen des Kommunikationssystems. Ein Zusammenbruch des Kommunikationssystems beschwört allerdings nicht schon zwangsläufig eine ›Situation‹ absoluter Leere, vollkommener Ungeschiedenheit herauf. Gerade Luhmanns Unterscheidung zwischen Bewusstsein und Kommunikation kann in diesem Zusammenhang darüber belehren, dass das gegenüber der Kommunikation weitaus komplexere Bewusstsein nicht nur dazu in der Lage ist, Kommunikationsprozesse zu beobachten, sondern eben auch ihren Abbruch, ihren Absturz.11 Luhmann zufolge besteht zwischen Bewusstsein und Kommunikation ein asymmetrisches Verhältnis, was sich zunächst daran zeigt, dass ersteres einen weitaus komplexeren Realitätsausschnitt zu erfassen vermag als letztere. Das Bewusstsein beschäftigt sich »mit der ganzen Welt, mit Symbolen und Zeichen, mit Realitäten und Irrealitäten, mit Vermisstem, Verlorenem, Nichtvorhandenem, mit Widersprüchen und Paradoxien, mit Möglichem und

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E. Laclau: Emanzipation und Differenz, S. 66. Ebd., S. 67. – Laclau zieht daraus den Schluss, dass dasjenige, was die Bedingung der Möglichkeit eines Systems bildet, immer zugleich die Bedingung seiner Unmöglichkeit darstellt. Wenn sich ein System nur dadurch zu konstituieren vermag, dass es etwas ausschließen muss, was es in seinem Bestand radikal infragestellt, dann ist es seine eigene Unmöglichkeit, die die Voraussetzung dafür bildet, dass es überhaupt existieren kann. Der Grund des Systems, d.h. dasjenige, was es in seiner Positivität allererst hervorbringt, kann damit selbst nichts Positives sein. Das System kann »keinen positiven Grund haben« (ebd.), vielmehr bildet es sich über einen Nicht-Grund, einen Abgrund, der in das Innerste des Systems eingelassen ist. Mit der Positivität des Systems – seiner Möglichkeit – ist insofern immer schon seine Negativität – seine Unmöglichkeit – mitgegeben. 10 Vgl. N. Luhmann: Soziologische Aufklärung, Bd. 6, Opladen 1995, S. 41. 11 Vgl. exemplarisch ebd., S. 25ff., 37ff., 189ff.; vgl. auch N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1990, S. 11ff.

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Unmöglichem«.12 Im Verhältnis zur Kommunikation ist das Bewusstsein immer schneller und vielseitiger, es kann gleichsam ›mit einem Blick‹, in einem Moment eine Vielzahl von Unterscheidungen erfassen. Demgegenüber muss sich die Kommunikation immer an einer einzigen Unterscheidung, der Unterscheidung zwischen Information und Mitteilung, orientieren.13 Sie muss aus einer Fülle von Möglichkeiten immer schon etwas ganz Bestimmtes als Information auswählen, um es dann über ein Mitteilungsverhalten zu kommunizieren. Dadurch ergibt sich notwendigerweise eine Einschränkung, eine Vereinfachung der dem Bewusstsein zugänglichen Komplexität. Diese wird in eine Sequenz einzelner, aufeinander folgender Kommunikationsereignisse zerlegt, wodurch sich eine völlig andersartige Komplexität aufbaut: das soziale System. Asymmetrisch ist das Verhältnis zwischen Bewusstsein und Kommunikation aber auch aus dem Grund, weil es keine Kommunikation ohne Bewusstsein, wohl aber Bewusstsein ohne Kommunikation geben kann. Kommunikation ist für seine Reproduktion immer darauf angewiesen, dass an ihr Bewusstseinssysteme beteiligt sind. Umgekehrt ist jedoch das Bewusstsein, auch wenn es seine Existenz zunächst der Vorgängigkeit eines sozialen Systems verdankt, durchaus dazu in der Lage, kommunikationsfrei zu operieren. Es kann seine Operationen des Wahrnehmens, Denkens, Fühlens oder Wollens auch dann fortsetzen, wenn keine Kommunikation abläuft. »Ein Bewusstseinssystem kann, wenn es einmal entstanden ist, auch in Momenten ohne Kommunikation tätig sein.«14 Das bedeutet aber dann, dass das Bewusstsein ohne weiteres einen Zusammenbruch der Kommunikation überstehen kann. Ein Ende der Kommunikation führt nicht zwangsläufig auch zu einer Auflösung, zu einem Verschwinden des Bewusstseins. Vielmehr scheint das Bewusstsein der alleinige ›Ort‹ zu sein, an dem sich eine Erfahrung eines aktuellen Zusammenbruchs der Kommunikation und damit des Sozialen überhaupt ereignen kann. Zwar kann ein solches Ereignis auch wiederum Gegenstand oder Thema der Kommunikation werden. Dafür muss aber immer schon neue Komplexität, d.h. ein neues Kommunikationssystem aufgebaut werden, welches den Zusammenbruch der Kommunikation nur mehr als ein bereits verschwundenes Ereignis zu behandeln vermag.

2. Erfahrungen von Inkommunikabilität Der Rekurs auf Luhmanns Unterscheidung zwischen Bewusstsein und Kommunikation sollte verdeutlichen, dass ein Zusammenbruch der Kommunikation nicht schon zwangsläufig zu einer radikalen Auflösung oder Entdifferenzierung der ›Wirklichkeit‹ im Ganzen führt. Im Gegenteil scheint ein solches Ereignis einer 12 N. Luhmann: Soziologische Aufklärung, S. 192. 13 Vgl. N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 191ff. 14 N. Luhmann, Soziologische Aufklärung, S. 39.

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spezifischen Erfahrung zugänglich zu sein, die man zwar als nicht kommunizierbar, also aus der Perspektive Luhmanns als nicht-sozial zu begreifen hat, der man dadurch jedoch nicht schon den Status einer Erfahrung überhaupt absprechen kann. Im folgenden soll daher anhand einiger Beispiele – der Aufrichtigkeit, des Geständnisses, der Vergebung und der Gastlichkeit – gezeigt werden, dass es spezifische Erfahrungen geben kann, die sich, wenn nicht über einen Zusammenbruch der Kommunikation, so doch allein über ihre Inkommunikabilität zu konstituieren vermögen. Dabei handelt es sich um ›unmögliche‹ Erfahrungen im Sinne Jacques Derridas (und Georges Batailles), d.h. um Erfahrungen einer radikalen Öffnung, die durch die Kommunikation mittels keiner Schließung bewältigt werden kann, es sei denn um den Preis, dass ihr dasjenige, was sich in diesen Erfahrungen ankündigt, immer schon entgeht. Sämtliche oben genannte Beispiele stimmen darin überein, dass sich in ihnen ein Paradox der Inkommunikabilität manifestiert. Nimmt man zunächst das Beispiel der Aufrichtigkeit, dann zeigt sich – von Luhmann her gesehen – schnell, dass Aufrichtigkeit nicht kommuniziert werden kann, dass es keine aufrichtige Kommunikation geben kann, und zwar aus dem einfachen Grund, weil eine Kommunikation immer schon die Differenz zwischen Information und Mitteilung aktualisieren muss.15 Eine Information wird durch ihre Mitteilung immer schon verdoppelt, wodurch sich eine Distanz sowohl zu dem herstellt, was mitgeteilt wird, als auch zu dem, wie es mitgeteilt wird. Es hätte immer auch eine andere Information bzw. das Mitgeteilte (die Information) immer auch anders mitgeteilt werden können. Insofern besteht grundsätzlich die Möglichkeit, in der bzw. durch die Kommunikation getäuscht zu werden. Kommunikation setzt damit »einen alles untergreifenden, universellen, unbehebbaren Verdacht frei«16, der sich gerade dann umso mehr verfestigt, je mehr die eigene Aufrichtigkeit beteuert wird, je mehr der Gesprächspartner davon überzeugt werden soll, dass man das, was man sagt, auch so meint, wie man es sagt: »Man kann [...] nicht sagen, dass man meint, was man sagt. Man kann es zwar sprachlich ausführen, aber die Beteuerung erweckt Zweifel, wirkt also gegen die Absicht.«17 Aufrichtigkeit wird also durch den bloßen Versuch ihrer Kommunikation unaufrichtig. Sie wird durch ihre Kommunikation immer schon in ihr Gegenteil verkehrt. Luhmann zufolge müsste man in diesem Zusammenhang zusätzlich »voraussetzen, dass man auch sagen könnte, dass man nicht meint, was man sagt. Wenn man aber dies sagt, kann der Partner nicht wissen, was man meint, wenn man sagt, dass man nicht meint, was man sagt.«18 Die Kommunikation verliert folglich ihren Sinn. Sie bricht in sich zusammen. Das heißt nicht, dass es Auf-

15 Vgl. N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 207f.; vgl. auch N. Luhmann: Soziologische Aufklärung, S. 201f. 16 N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 207. 17 Ebd., S. 208. 18 Ebd.

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richtigkeit prinzipiell nicht geben kann, sondern nur, dass sie eben nicht kommuniziert werden kann. Kommunikation von Aufrichtigkeit ist demnach nur als unmögliche Kommunikation möglich. In ihr kündigt sich etwas an, das durch die Kommunikation immer schon in einen Bereich abgedrängt wird, der als das Andere der Kommunikation in diese niemals einzutreten vermag. Aufrichtigkeit markiert insofern die ausschließende Grenze des Kommunikationssystems. Ähnliches lässt sich auch für das zweite Beispiel – das Geständnis – diagnostizieren. Derrida hat darauf hingewiesen, dass es bei einem Geständnis nicht oder zumindest nicht in erster Linie um die Mitteilung einer Information geht:19 »Ein Geständnis besteht nicht einfach darin, zu sagen, was passiert ist.« Es geht »nicht in der bloßen Information darüber auf, was geschehen ist«. Hier »liegt etwas anderes vor als die bloße Mitteilung oder kognitive Feststellung eines Ereignisses«.20 Ein Geständnis erschöpft sich demnach nicht in der bloßen Mitteilung einer Tat, vielmehr zeichnet es sich gerade dadurch aus, dass über diese Mitteilung hinaus oder besser: durch diese Mitteilung hindurch ein Bekenntnis erfolgt. Wer ein Geständnis ablegt, bekennt sich zu dem, was geschehen ist, er übernimmt die Schuld an einem bestimmten Ereignis, wodurch sich seine Beziehung sowohl zu sich selbst als auch zu den anderen grundlegend verwandelt. Ein Geständnis ist ein performativer Sprechakt, durch den die bis dahin als gültig anerkannte Wirklichkeit radikal transformiert wird: »Im Geständnis gibt es [...] ein Sprechen vom Ereignis, [...] das eine Veränderung bewirkt und das ein zweites Ereignis hervorbringt, das nicht einfach die Mitteilung von Wissen ist. Jedes Mal, wenn das Ereignis auf diese Weise gesprochen wird, wenn das Sprechen die Dimension der Information, des Wissens, der Kognition übersteigt, dann verliert es sich in der Nacht [...], dann bricht es in die Nacht eines Nicht-Wissens auf, die nicht einfach Unwissenheit ist, sondern einer Ordnung angehört, die mit der Ordnung des Wissens nichts mehr zu tun hat.«21

Bei einem Geständnis kann es sich folglich nicht mehr um eine Kommunikation im Sinne Luhmanns handeln. Dadurch, dass im Augenblick seiner Artikulation die Differenz von Information und Mitteilung immer schon ausgesetzt, ja ausgehebelt wird, durchbricht es immer schon die Ordnung der Kommunikation, reicht es in eine Dimension hinein, die außerhalb oder jenseits der Kommunikation liegt. Zwar wird das durch das Geständnis hervorgebrachte zweite Ereignis in der Regel wieder in die Ordnung eines Kommunikationssystems, insbesondere in das Rechtssystem, zurückübersetzt. Die Schuld, die durch ein Geständnis übernommen wird, kann jedoch niemals durch eine kommunikative Verarbeitung abgetragen oder gar getilgt werden. Wer seine Schuld gesteht, bleibt vielmehr auf eine

19 Vgl. J. Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, S. 25ff. 20 Ebd., S. 25. 21 Ebd., S. 26.

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Vergebung angewiesen, die von keiner Operation eines sozialen Systems geleistet werden kann. Damit ist bereits das dritte Beispiel berührt: die Vergebung. Folgt man in diesem Zusammenhang erneut Derrida, dann kann man nicht dort von einer Vergebung sprechen, wo etwas ohne weiteres entschuldbar wäre, wo eine nur geringfügige Schuld getilgt werden könnte.22 Die Vergebung von etwas leicht Verzeihlichem, die Tilgung »eine[r] begrenzte[n] und messbare[n] Schuld in einer begrenzten Angelegenheit«23, ist keine Vergebung. Im Gegenteil: Vergebung kann es nur da geben, »wo es Unverzeihliches gibt. Da, wo Vergebung unmöglich ist. Anders gesagt, muss die Vergebung, wenn es sie gibt, das nicht Vergebungsfähige vergeben, sonst ist sie keine Vergebung. Wenn Vergebung möglich ist, kann sie nur als unmögliche stattfinden.«24 Ebenso wie die Aufrichtigkeit und das Geständnis ist daher auch die Vergebung nicht kommunizierbar. Ebenso wenig wie es möglich ist zu sagen: »dies meine ich aufrichtig« oder: »hiermit teile ich mit, dass ich schuldig bin«, ist es möglich zu sagen: »ich vergebe«, »ich habe vergeben«. Für Derrida handelt es sich hier um unmögliche Sätze, die man zwar aussprechen kann, durch die jedoch das, was man sagen möchte, konterkariert, in ihr Gegenteil verkehrt wird. Im Falle der Vergebung kann man weder mit Sicherheit ausschließen, dass man »tatsächlich vergeben und nicht einfach vergessen, vernachlässigt oder das Unverzeihliche auf eine lässliche Schuld reduziert [hat]«25, noch kann man ganz verhindern, dass man sich selbst letztlich dazu beglückwünscht, das von einem Anderen zugefügte Leid großzügig ›vergeben‹ zu haben. Um einem solchen Verrat an der Vergebung entgegenzuwirken, ist es daher erforderlich, jedem Versuch ihrer Kommunikation zu widerstehen. Die Vergebung muss gewissermaßen in ein Schweigen eingehüllt werden, und zwar nicht zuletzt aus dem Grund, weil man nicht einmal selbst wissen kann, ob man tatsächlich vergeben hat, so dass sich auch die Vergebung auf ihre Weise in einer Nacht des Nicht-Wissens verliert. Über die Vergebung zu schweigen, bedeutet jedoch nicht, ihre prinzipielle Unmöglichkeit zu demonstrieren, vielmehr kann nur so der Boden für eine ›Ankunft‹ des unmöglichen Ereignisses der Vergebung bereitet werden. Dabei darf dasjenige, was vergeben werden soll, in dem, was es an Kränkendem und Verletzendem enthält, gerade nicht zum Verschwinden gebracht werden. Damit es überhaupt vergeben werden kann, muss es in seiner Unverzeihlichkeit gerade aufrechterhalten werden. »Das Unverzeihliche muss [...] in der Verzeihung [immer] unverzeihlich bleiben.«26 Derrida spricht in diesem Zusammenhang mit deutlichen Anklängen an Levinas von einer Heimsuchung 22 Vgl. ebd., S. 29ff.; vgl. auch J. Derrida: »Jahrhundert der Vergebung. Verzeihen ohne Macht – unbedingt und jenseits der Souveränität«, in: Lettre International, S. 10-18. 23 J. Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, S. 29. 24 Ebd., S. 29f. 25 Ebd., S. 30. 26 Ebd., S. 37f.

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durch das Unverzeihliche. Angezeigt wird damit, dass das zu Vergebende in seiner Virulenz grundsätzlich erhalten bleibt und dem allein ein permanent zu erneuernder, ›unendlicher‹ Akt der Vergebung zu entsprechen vermag. Insofern kann man in der Vergebung durchaus das genaue Gegenteil eines immer wieder aufbrechenden Ressentiments, eines immer wieder auftauchenden Wunsches nach Vergeltung sehen. Letztlich geht es bei der Vergebung darum, auf eine erlittene, ja in gewissem Sinne immer wieder zu erleidende Gewalt selbst nicht mit einer sei es auch noch so sublimierten Gewalt zu antworten.27 Durch eine Heimsuchung ist auch das letzte Beispiel – die Gastlichkeit – charakterisiert.28 Derrida zufolge kann man von ›wirklicher‹ Gastlichkeit nur dann sprechen, wenn jemand empfangen wird, der auf völlig überraschende, völlig unvorhersehbare Weise eintrifft, auf dessen Ankunft oder besser Einbruch man daher nicht vorbereitet ist, so dass der Empfang des Ankömmlings nur unter der – unmöglichen – Bedingung möglich ist, dass man ihn gerade nicht zu empfangen vermag. Der Ankömmling ist immer der »absolute Ankömmling«29, »für den es noch nicht einmal einen Horizont der Erwartung gibt, der [...] den Horizont meiner Erwartung sprengt, während ich noch nicht einmal darauf vorbereitet bin, den zu empfangen, den ich empfangen werde.«30 Gastlichkeit ist demnach – wenn es sie gibt – ein im radikalen Sinne kontingentes Ereignis, das sich nur zu konstituieren vermag, wenn jegliche Erwartungsstrukturen außer Kraft gesetzt sind. Dabei bleibt sie gegenüber jedem Aufbau neuer Erwartungsstrukturen grundsätzlich heterogen, die Luhmann zufolge notwendigerweise durch ein solches Ereignis in Gang gesetzt werden. Ein Aufbau neuer Erwartungsstrukturen führt immer, wenn nicht zu einem Verschwinden, so doch zumindest zu einer Überlagerung oder Verdeckung des bedingungslosen, rückhaltlosen Empfangs des Anderen. Auch die Gastlichkeit verweist insofern auf ein Jenseits oder besser: Diesseits der Kommunikation. Sie kann niemals zum Gegenstand oder Thema einer Kommunikation gemacht werden. Man kann dem Anderen nicht sagen: »ich empfange dich«, denn wie kann man davon sprechen, dass man jemanden empfängt, den man gar nicht empfangen kann. Wie im Falle der Kommunikation von Aufrichtigkeit verkehrt sich auch hier die Aussage sofort in ihr Gegenteil, wird auch hier sogleich ein alles untergreifender Verdacht freigesetzt, der sich umso mehr erhärtet, je häufiger die Aussage wiederholt wird. Kommunikation kann demnach niemals als Indikator dafür fungieren, ob der Andere ›wirklich‹ empfangen wird. Das heißt nicht zuletzt, dass der Gast niemals wissen kann, ob man ihn überhaupt empfängt oder nicht vielmehr nur einen zeitlich begrenzten Aufenthalt gewährt.

27 Vgl. Judith Butler: Zur Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt/Main 2003 [2002], S. 99. 28 Vgl. J. Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, S. 33ff.; vgl. auch J. Derrida: Von der Gastfreundschaft, Wien 2001 [1997]. 29 J. Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, S. 33. 30 Ebd., S. 34.

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Es dürfte deutlich geworden sein, dass die hier aus der Perspektive Derridas analysierten Beispiele der Aufrichtigkeit, des Geständnisses, der Vergebung und der Gastlichkeit allesamt an einer Grenze der Kommunikation angesiedelt sind, die von dieser selbst nur um den Preis bezeichnet werden kann, dass sie in sich selbst zusammenfällt, dass sie sich in eine sinnlose, ›unmögliche‹ Kommunikation verwandelt. Insofern markieren die obigen Beispiele, die im Übrigen jederzeit durch weitere ergänzt werden könnten,31 in der Tat die ausschließende Grenze des Kommunikationssystems. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass das Kommunikationssystem – will es sich selbst am Leben erhalten bzw. soll es überhaupt in Gang gesetzt werden – dasjenige, was sich etwa in der Aufrichtigkeit, im Geständnis, in der Vergebung oder der Gastlichkeit als einzigartiges, singuläres Ereignis ankündigt, immer schon in dieser seiner Einzigartigkeit oder Singularität zum Verschwinden bringt. Zwar gesteht auch Luhmann dem Ereignis eine mit einem Überraschungsmoment auftretende Singularität zu, das eine Gesamtveränderung der Horizonte der Zeit (der Vergangenheit, der Zukunft und der Gegenwart) bewirkt.32 Dennoch wird das Unsicherheit hervorrufende Ereignis sofort wieder in ein Element eines Strukturaufbauprozesses transformiert, wodurch es immer schon als ein kommunikatives Ereignis, das heißt für Luhmann: als »sozial kleinstmögliche[s] Temporalatom«33 in Erscheinung tritt. Das Ereignis verliert damit seine Einzigartigkeit und Singularität, »es wird dadurch, dass es eigene Zeithorizonte des (für es) Vergangenen und (für es) Zukünftigen konstituiert, sofort wieder ins Kontinuum der Zeit zurückversetzt. Es wird gewissermaßen wieder verleimt und so behandelt, als ob man es hätte erwarten können«.34 Derrida hat dieses Verschwinden des Ereignisses auf seine Weise beschrieben. Derrida zufolge führt jedes Sprechen vom Ereignis zu einer »unvermeidliche[n] Neutralisierung des Ereignisses«,35 und zwar aus dem Grund, weil die Sprache ein Ereignis immer schon in eine wiederholbare bzw. iterierbare Entität verwandelt. Dadurch wird das Ereignis zwar identifizierbar, verliert aber notwendigerweise seine Einzigartigkeit. Ein wiederholbares Ereignis kann kein Ereignis als solches, eine wiederholbare Einzigartigkeit keine Einzigartigkeit als solche sein. Es kann keine gewissermaßen verdoppelte oder vervielfachte Einzigartigkeit geben. Die Singularität des Ereignisses wird durch die Sprache ausgelöscht.

31 So etwa durch das Versprechen, die Freundschaft, die Trauer bzw. Verlusterfahrung oder aber die Gabe, auf die vor allem die Beispiele der Vergebung und der Gastlichkeit bereits implizit verwiesen haben. Vgl. J. Derrida: Derrida, Jacques 1993 [1991]: Falschgeld. Zeit geben I, München 1993 [1991], J. Derrida: Politik der Freundschaft, Frankfurt/Main 2000 [1994]. 32 Vgl. N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 389ff. 33 Ebd., S. 389. 34 Ebd., S. 391. 35 J. Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, S. 36.

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Derrida zieht daraus jedoch nicht den Schluss, dass das Ereignis »nicht stattfinden kann, dass es nicht existiert«.36 Vielmehr impliziert die absolute Singularität des Ereignisses lediglich, dass es – wenn es sich ereignet – nur in seiner Nichtkommunizierbarkeit, in seiner Inkommunikabilität in Erscheinung treten kann, wodurch es von seiner Möglichkeit, dass es sich ereignen kann, nicht schon prinzipiell abgeschnitten ist. Im Gegenteil, gerade die Tatsache, dass das Ereignis durch seine Wiederholung immer schon zum Verschwinden gebracht werden muss, eröffnet allererst die Möglichkeit, dass es in die dadurch konstituierte Wirklichkeit (der Kommunikation) einbrechen kann, dass es einkehren, wiederkehren, zurückkehren kann. Die Kommunikation des Ereignisses bereitet gewissermaßen den Boden für eine immer mögliche Heimsuchung durch ein für sie unmögliches singuläres Ereignis. Insofern gibt sie einer spezifischen Erfahrung Raum, in der das Ereignis gerade in seiner Unmöglichkeit als mögliches zugänglich wird. Dabei handelt es sich um eine Erfahrung, die selbst nur als unmögliche möglich ist, da auch sie ebenso wenig wie das Ereignis in die Kommunikation einzutreten vermag. Damit stellt sich aber die Frage, welcher ontologische Status dieser – unmöglichen – Erfahrung zugesprochen werden muss, die strenggenommen nicht mehr als eine Erfahrung im gewöhnlichen Wortsinn begriffen werden kann, da hier kein Weg zurückgelegt wird, da hier nichts auf ein wie immer zu bestimmendes Ziel hin durchlaufen wird.37 Mit Georges Bataille könnte man sie als eine bestimmte Form einer »inneren Erfahrung« charakterisieren,38 die sich von außen niemals beobachten oder beschreiben lässt, an der jegliche Versuche scheitern, sie mit den Mitteln der Empathie nachzuvollziehen, von der niemand behaupten kann, dass er oder jemand anderes sie gemacht hätten, ohne sich durch diese Behauptung sofort zu desavouieren. Die unmögliche innere Erfahrung entzieht sich vielmehr grundsätzlich jedem Versuch ihrer Feststellung oder Bestimmung. In diesem ihrem Entzug scheint sie allein ihr eigentliches Wesen verwirklichen zu können. Für Bataille (und Derrida) heißt dies allerdings nicht, dass man auf jegliche Bestimmungsversuche dieser unmöglichen inneren Erfahrung zu verzichten hätte oder gar das Denken zugunsten eines sich konstitutiv Entziehenden von vornherein aussetzen müsste. Batailles Denken der inneren Erfahrung leistet keinem Irrationalismus Vorschub, vielmehr lässt es sich – wenn auch nur bis zu einem gewissen Grad – durchaus in die Tradition insbesondere des französischen Rationalismus einordnen, vor allem aber – ohne dies an dieser Stelle ausführen zu können – vor dem Hintergrund der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants begreifen. Auch für Bataille kann demnach gerade das Wissen einen Weg bahnen,

36 Ebd., S. 35. 37 Vgl. J. Derrida: Gesetzeskraft, S. 33. 38 Vgl. G. Bataille: Die innere Erfahrung; vgl. auch G. Bataille: »La Souveraineté«, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. VIII, Paris 1976, S. 243-456.

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über den sich das erschließen lässt, was man als innere Erfahrung ansprechen kann und in der sich etwas Unbedingtes – bzw. in der Sprache Batailles und Derridas – etwas Unmögliches Geltung zu verschaffen versucht. Dazu ist es allerdings erforderlich, auf denjenigen Moment aufmerksam zu werden, in dem das Wissen – wie etwa bei einem Geständnis – seine eigene(n) Grenze(n) erreicht, in dem es sowohl über seinen Gegenstand als auch über sich selbst letztlich die Kontrolle verliert, in dem es gewissermaßen aus seinen Geleisen springt, wodurch es sich auf sein Anderes hin, das heißt für Bataille: auf ein Nicht-Wissen, ein Nichts hin zu öffnen und zu überschreiten vermag.39 Dabei handelt es sich um einen Moment, der in seiner Nicht-Bestimmbarkeit, in seiner Nicht-Erfahrbarkeit gerade noch gewusst, gerade noch erfahren werden kann. Nur indem sich das Denken diesem Moment anheim stellt, in welchem es sich letztlich selbst verliert und auflöst, ist es überhaupt dazu in der Lage, einer Erfahrung Raum zu geben, die sich immer schon von allem Bedingten abgelöst hat. Der unmöglichen inneren Erfahrung kann also nur ein Denken entsprechen, das eine sich selbst annullierende Bewegung vom Wissen zum Nicht-Wissen zu vollziehen hat, das den prinzipiell scheiternden Versuch zu unternehmen hat, einen Moment festzuhalten, der sich immer schon entzieht, der sich immer schon entzogen hat, demgegenüber das Denken selbst dann zu spät kommt, wenn es dieser gleitenden Bewegung ins Nichts zu folgen versucht. Die innere Erfahrung kann sich demnach immer nur in ihrer Nicht-Fassbarkeit, ihrer NichtRepräsentierbarkeit manifestieren. Der Moment ihres Auftretens kann – wenn er sich ereignet – nicht vorhergesehen werden; er kann nicht antizipiert werden; er lässt sich keiner Berechnung unterstellen; er kann nicht einmal erwartet werden; er ist absolut unverfügbar. Bataille spricht von einer Unmöglichkeit, die sich mit einem Mal in die Wirklichkeit oder besser: in eine Wirklichkeit verwandelt (»une impossibilité qui tout à coup change en réalité«).40 Es handelt sich um einen Moment radikaler Kontingenz, unter der man nicht – wie im Rahmen der Systemtheorie Luhmanns – etwas zu verstehen hat, das »von der Realität aus gesehen anders möglich ist«, das »Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein« bezeichnet.41 Die innere Erfahrung durchkreuzt vielmehr jegliche Formen einer in diesem Sinne in der (sozialen) Welt möglichen Erfahrung. Sie unterbricht jegliche – um mit Alfred Schütz zu sprechen – umweltliche oder mitweltliche Einstellungsweisen.42 Sie kann nur unter der Voraussetzung in die (soziale) Welt eintreten, dass sie sich von allem Innerweltlichen bereits losgelöst oder abgelöst hat. Die innere Erfah-

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Vgl. G. Bataille: »La Souveraineté«, S. 258. Ebd., S. 260. N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 152. Vgl. Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Frankfurt/Main 1974 [1932], S. 227ff., 245ff.

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rung ist nur als unmögliche Erfahrung möglich. Ihre Unmöglichkeit ist die Bedingung ihrer Möglichkeit.43 Dass sie nur unter der Bedingung ihrer Unmöglichkeit statthaben kann, heißt demnach nicht, dass sie nicht existieren würde, dass sie sich in dem Moment, in dem man über sie zu sprechen versucht, nicht schon längst an irgendeinem Ort oder besser: Nicht-Ort ereignen könnte. Gerade ihre absolute Unverfügbarkeit, vor der das Denken letztlich kapitulieren muss, bietet paradoxerweise die Garantie dafür, dass man ihr ein Sein zusprechen kann. Sie ist unmöglich, also existiert sie, könnte man in Anlehnung an René Descartes sagen. Die innere Erfahrung stellt eine niemals in eine äußerliche Form gerinnende Erfahrung dar, die sich folglich weder mittels (allein) positiver noch (allein) negativer Bestimmungen qualifizieren lässt. Sie ereignet sich in einem weder verifizierbaren noch falsifizierbaren Zwischenraum, in einem Intervall, das in seiner Positivität immer schon entgleitet, dessen Entgleiten jedoch diese Erfahrung in ihrer prinzipiellen Möglichkeit ankündigt. Ebenso wenig wie es ein Kriterium dafür gibt, festzustellen, ob diese innere Erfahrung stattfindet, lässt sich ein Kriterium dafür angeben, dass sie nicht stattfindet. Niemals lässt sich mit Sicherheit ausschließen, dass – um auf die obigen Beispiele zurückzukommen – eine Kommunikation von Aufrichtigkeit nicht doch aufrichtig ist, dass etwas Nichtvergebungsfähiges nicht doch vergeben wird, dass der absolute Ankömmling nicht doch empfangen wird. Die innere Erfahrung bleibt unverfügbar aber auch in dem Sinne, dass sie in ihrer unmöglichen Möglichkeit bzw. möglichen Unmöglichkeit durch nichts Innerweltliches, d.h. letztlich auch durch keine Kommunikation im Sinne Luhmanns angetastet oder gar zerstört werden kann. Vielmehr bleibt sie dieser gegenüber grundsätzlich äußerlich und transzendent, wodurch sich überhaupt erst die Möglichkeit eröffnet, dem Anderen in Aufrichtigkeit begegnen, dem Anderen etwas Unverzeihliches verzeihen, den Anderen ohne jede Bedingung aufnehmen zu können. Mit Bataille könnte man hier von einer »authentischen« oder »starken Kommunikation« sprechen, in der sich – im Gegensatz zur »schwachen Kommunikation«, als die man gerade Luhmanns Kommunikation zu begreifen hat, – allererst eine Berührung mit dem Anderen als Anderen zu ereignen vermag.44

3. Das ethische Ereignis diesseits und jenseits der Kommunikation Es scheint also zwei Arten der Kommunikation zu geben, deren eine, von Bataille als »starke Kommunikation« bezeichnete Form merkwürdigerweise keinen oder besser: nur einen unterirdischen Ort in Luhmanns großangelegter Systematik Sozialer Systeme gefunden hat. Abschließend soll daher der Versuch unter43 Vgl. J. Derrida: Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, S. 40ff. 44 Vgl. G. Bataille: Die Literatur und das Böse, München 1987 [1957], S. 179ff.

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nommen werden, diese Form einer »starken« Kommunikation, in der sich ein ausgezeichneter Bezug zum Anderen manifestiert, genauer zu bestimmen. Dabei wird allerdings nicht der zuletzt mit Bataille zurückgelegte Weg weiter verfolgt, und zwar vor allem aus dem Grund, weil die »starke Kommunikation« bei Bataille auf eine Durchdringung, wenn nicht Verschmelzung mit dem Anderen hinauszulaufen scheint, wodurch die Andersheit des Anderen letztlich ebenfalls von einem Verschwinden bedroht ist. Stattdessen soll Emmanuel Levinas’ Denken des Anderen herangezogen werden. Levinas hat nämlich eine sich gerade in der Sprache ereignende Verdoppelung oder Spaltung herausgestellt, in der etwas zum Vorschein kommt, das der »schwachen« Kommunikation (etwa im Sinne Luhmanns) konstitutiv entgeht, in der sich etwas Geltung zu verschaffen vermag, das durch diese Art der Kommunikation niemals erfasst werden kann. Für Levinas erschöpft sich die Sprache nicht in ihrer kommunikativen Funktion. Zwar kann sie in ein kommunikatives System integriert werden, dadurch wird sie jedoch ihres eigentlichen Wesens gerade entkleidet, das sich Levinas zufolge allein in der Stiftung einer Beziehung zu etwas Transzendentem, das heißt für ihn: zum Anderen, zu verwirklichen vermag.45 Dieser ausgezeichnete Bezug zum Anderen kündigt sich gerade dann an, wenn dieser zu einem Thema der Kommunikation gemacht wird: »In der Rede tut sich unvermeidlich ein Abstand auf zwischen dem Anderen als meinem Thema und dem Anderen als Gesprächspartner, der von dem Thema, das ihn einen Augenblick festzuhalten schien, befreit ist; dieser Abstand macht unmittelbar den Sinn, den ich meinem Gesprächspartner verleihe, streitig.«46 Der Andere ist demnach immer ›mehr‹ als das, was von ihm mittels einer Thematisierung festgehalten werden kann, so dass er sich letztlich jedem Versuch seiner Bestimmung oder Identifizierung entzieht. Mit dem Anderen ist von vornherein seine Nichtfassbarkeit, seine Unbegreiflichkeit gegeben, die in allen möglicherweise folgenden Bestimmungsversuchen grundsätzlich erhalten bleibt. Für Levinas heißt dies allerdings nicht, dass der Andere damit in einer absoluten Leere, in einem völligen Nichts verschwände. Der Andere ist »nicht nichts« (Gamm), auch wenn er aufgrund seiner Unfassbarkeit »im Zusammenhang der Welt quasi nichts [ist]«.47 Im Gegenteil eröffnet sich gerade dadurch, dass er jeglichen Bestimmungsversuchen immer schon entgeht, allererst die Möglichkeit, dass er sich in seiner – absoluten – Andersheit, d.h. in seiner Unendlichkeit und Transzendenz, zu ›präsentieren‹ vermag. Der Andere drückt sich als Anderer gerade dadurch aus, dass er jede Form, in die er eingegossen wird, immer schon durchbricht, immer schon zerbricht. Er ist letztlich nichts anderes als dieses Zerbrechen einer Form, das in ausgezeichneter Weise im Antlitz des Anderen in Erscheinung tritt und das eine Art des Bedeutens stiftet, die jeder Sinnbestimmung gegenüber als 45 Vgl. E. Levinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 277ff. 46 Ebd., S. 279. 47 Ebd., S. 285.

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prinzipiell vorgängig angesehen werden muss. Levinas zufolge setzt die Epiphanie des Antlitzes das ursprüngliche Geschehen der Sprache in Gang, das sich in einer Ausdrucksbedeutung manifestiert, die sich radikal von jeder Sinngebung unterscheidet und damit zugleich von jeder kommunikativ erfolgenden Zurechnung, die den Anderen etwa auf den Status einer Person zu reduzieren versucht.48 Die Andersheit des Anderen macht sich also über ein Bedeuten, über ein Ausdrücken geltend, das jeglichen Formen einer Sinnbestimmung oder kommunikativen Verarbeitung auf fundamentale Weise widersteht. Dabei handelt es sich nicht um einen Widerstand, der etwa als Anti-These eines dialektischen Prozesses diesen weiter vorantriebe oder als Widerspruch einen Horizont für eine Anschlusskommunikation eröffnete. Der Widerstand, den der Andere als Anderer leistet, ist kein realer, innerweltlicher Widerstand. Er lässt sich weder mit der (sozialen) Welt vermitteln noch kann ihm eine Funktion für die Reproduktion dieser Welt zugesprochen werden. Vielmehr ist der Widerstand des Anderen ein absoluter Widerstand, der in dessen Unendlichkeit und Transzendenz gründet, so dass sich in ihm jede Horizonthaftigkeit verliert, jedes Wechselspiel von Öffnungen und Schließungen von vornherein unterbunden wird. Der Widerstand des Anderen besteht letztlich darin, dass dieser seine konstitutive Unfassbarkeit und Unbegreiflichkeit ›ins Spiel bringt‹, dass er sich in einer Offenheit präsentiert, die keinerlei Einschnitte erlaubt, keinerlei Haltepunkte bietet. Sein Widerstand beruht nicht auf einem bestimmten Quantum an Macht, mittels dessen er sich etwa als stärkerer Widerpart in der Welt zu behaupten vermöchte, vielmehr ist es gerade seine völlige Machtlosigkeit, die er als Widerstand entgegensetzt. In seinem Antlitz drückt sich immer schon auf ursprüngliche Weise seine prinzipielle Wehrund Schutzlosigkeit, seine absolute Nacktheit und Blöße aus, durch die er sich als der Andere auf bedingungslose, rückhaltlose Weise durchzusetzen vermag. »[D]er Widerstand, hart und unüberwindbar, leuchtet im Antlitz des Anderen, in der vollständigen Blöße seiner Augen ohne Verteidigung, in der Blöße der absoluten Offenheit des Transzendenten«.49 Der Widerstand des Anderen ist letztlich der »Widerstand dessen, der keinen Widerstand leistet«.50 Levinas zufolge handelt es sich bei dieser widerständigen Widerstandslosigkeit, bei diesem widerstandslosen Widerstand von vornherein um einen ethischen Widerstand. Mit der Hilflosigkeit und Not, die sich in der Nacktheit und Blöße des Antlitzes des Anderen manifestiert, artikuliert sich immer schon gleichursprünglich ein Hilferuf, ein Anruf, dem Anderen in seiner Hilflosigkeit entgegenzukommen, dem Anderen in seiner Not Beistand zu leisten. Dieser Anruf, der vom Anderen her auf unmittelbare, direkte Weise ergeht, stellt das eigene Ich

48 Vgl. ebd., S. 298f.; N. Luhmann: Soziologische Aufklärung, S. 142ff. 49 E. Levinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 285f. 50 Ebd., S. 286 – Zitat leicht modifiziert.

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von Grund auf infrage, sucht es heim, lädt es vor,51 verpflichtet es, auf ihn zu antworten, sich vor ihm zu verantworten, ohne dass es sich dieser Verantwortung entziehen könnte. Die Epiphanie des Anderen ist von Beginn an ein ethisches Ereignis, das eine Beziehung zum Anderen stiftet, in der dieser in seiner radikalen Offenheit und Schutzlosigkeit aufgenommen, in der er als absolut Anderer empfangen und willkommen geheißen werden muss, und zwar bevor überhaupt eine Kommunikation in Gang gesetzt werden kann, bevor er überhaupt als ein Partner in der (sozialen) Welt in Erscheinung zu treten vermag. Das ethische Ereignis, das sich mit der Epiphanie des Anderen konstituiert, findet immer schon jenseits oder besser: diesseits jeder Form einer Kommunikation statt, d.h. letztlich auch jeder Form einer moralischen Kommunikation, die Luhmann zufolge immer dann zustande kommt, wenn »es gelingt, [...] die Bedingungen, in denen man sich persönlich und menschlich auf einen anderen einlassen kann, zurückzubinden an den Aufbau eines gemeinsamen Sozialsystems«.52 Das ethische Ereignis zeichnet sich vielmehr durch seine absolute Bedingungslosigkeit aus, so dass es gerade nicht an bestimmte soziale Bedingungen geknüpft werden kann, unter denen »Menschen [überhaupt erst] einander achten oder mißachten«.53 Der Andere begegnet immer schon mit einem unbedingten Anspruch, auf den immer schon ebenfalls auf unbedingte Weise geantwortet werden muss, und zwar unabhängig davon, in welcher Hinsicht bzw. ob dies überhaupt für das soziale Zusammenleben erforderlich ist oder nicht. Zwischen dem ethischen Ereignis im Sinne Levinas’ und dem – sei es nun moralischen, sei es nicht-moralischen – kommunikativen Ereignis im Sinne Luhmanns besteht demnach ein radikal asymmetrisches Verhältnis, in dem sich letztlich eine konstitutive Differenz zwischen dem Ethischen und dem Sozialen ankündigt. Abschließend soll diese Differenz an dem Beispiel der Aufrichtigkeit expliziert werden. Folgt man den Analysen Levinas’, dann tritt der Andere in einer Offenheit, in einer Direktheit, in einer Geradheit entgegen, deren Authentizität durch die Nacktheit und Blöße seines Antlitzes von Anfang an verbürgt ist. Die Hilflosigkeit und Not, die das Antlitz des Anderen ausdrückt, kann von diesem weder vorgetäuscht werden noch kann man selbst über den Anspruch, der von ihm her auf unbedingte Weise ergeht, im Zweifel sein. Der Andere bezeugt sich in seiner Not gerade durch diese seine Not. Er beglaubigt sich gewissermaßen selbst durch das rückhaltlose Bedeuten seines Antlitzes. Insofern begegnet er in einer »ursprünglichen Aufrichtigkeit«,54 die jeder Unterscheidung zwischen Wahrhaftigkeit und Unwahrhaftigkeit prinzipiell vorhergeht. Die Epiphanie des Anderen ist »ein Ehrenwort«,55 das längst ausgesprochen ist, bevor überhaupt ei51 Vgl. E. Levinas: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg/München 1983 [1963], S. 295ff. 52 N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 323. 53 Ebd., S. 318. 54 E. Levinas: Die Spur des Anderen, S. 290. 55 Ebd., S. 291.

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ne Kommunikation von Aufrichtigkeit mit allen sich daraus ergebenden Verdachtsmomenten zu entstehen vermag. Man kann daher zwei unterschiedliche Formen von Aufrichtigkeit diagnostizieren: zum einen eine Aufrichtigkeit, die auf unzweideutige Weise eine Nähe zum Anderen stiftet und letztlich ein ethisches Verhältnis begründet, zum anderen eine Aufrichtigkeit, die, wird sie Gegenstand einer Kommunikation, immer schon in Gefahr steht, in ihr Gegenteil umzuschlagen, so dass sie auf ein soziales Verhältnis verweist, das sich über eine als solche nicht zu behebende Zweideutigkeit reproduziert. Das Beispiel der Aufrichtigkeit macht damit auf paradigmatische Weise eine konstitutive Spaltung sichtbar, die zwischen dem Ethischen und dem Sozialen verläuft und die im Rahmen von Luhmanns allgemeiner Theorie sozialer Systeme nicht oder nur am äußersten Rand in Erscheinung tritt, und zwar aus dem Grund, weil dort ausschließlich eine Analyse der spezifischen kommunikativen Reproduktionsbedingungen des Sozialen im Mittelpunkt steht. Das heißt nicht, dass sie deswegen zugunsten eines Denken des Anderen bzw. des Ethischen vernachlässigt oder gar verabschiedet werden könnte. Vielmehr stellt sie ein unverzichtbares Element einer Theorie dar, die den Versuch unternimmt, die Wirklichkeit in ihrem sozio-ethischen Bruch zu analysieren und in dem man letztlich das Anliegen einer am Denken Levinas’ orientierten dekonstruktiven Sozialtheorie erkennen kann.

Autorinnen und Autoren

Emil Angehrn, Prof. Dr., Studium der Philosophie, Soziologie und Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Leuven und Heidelberg. Promotion 1976 in Heidelberg, Habilitation 1983 an der FU Berlin. 1989 Professor für Philosophie an der Universität Frankfurt/Main. Seit 1991 Professor für Philosophie an der Universität Basel. Wichtigste Publikationen: System und Freiheit bei Hegel, 1977; Geschichte und Identität, 1985; Geschichtsphilosophie, 1991; Die Überwindung des Chaos. Zur Philosophie des Mythos, 1996; Der Weg zur Metaphysik. Vorsokratik – Platon – Aristoteles, 2000; Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik, 2003; Die Frage nach dem Ursprung. Philososphie zwischen Ursprungsdenken und Ursprungskritik, 2007; Wege des Verstehens. Hermeneutik und Geschichtsdenken, 2008. Gernot Böhme, Prof. Dr., Studium der Mathematik, Physik, Philosophie in Göttingen und Hamburg, Promotion Hamburg 1965, Habilitation München 1972, Wissenschaftlicher Assistent an den Universitäten Hamburg und Heidelberg 1965-69, Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt, Starnberg 1970-77, 1977-2002 Professor für Philosophie an der TU Darmstadt, 1997-2001 Sprecher des Graduiertenkollegs Technisierung und Gesellschaft. Seit 2005 Direktor des Instituts für Praxis der Philosophie e.V., IPPh. Mehr als 50 Buchveröffentlichungen, zuletzt u. a.: Leibsein als Aufgabe. Leibphilosophie in pragmatischer Hinsicht, Kusterdingen 2003; Goethes Faust als philosophischer Text, Kusterdingen 2005; Architektur und Atmosphäre, München 2006; Ethik leiblicher Existenz: über den moralischen Umgang mit der eigenen Natur, Frankfurt 2008; Invasive Technisierung: Technikphilosophie und Technikkritik, Zug 2008;

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Reinhard Heil, M.A., promoviert zur Zeit mit einer Arbeit über den Transhumanismus am Institut für Philosophie der Technischen Universität Darmstadt. Weitere Forschungsfelder: zeitgenössische politische Philosophie (Radikale Demokratie, Slavoj Žižek), Social Relations of Science (J. Huxley, J. B. S. Haldane, J. D. Bernal u.a.), Interdisciplinary NanoTechnologyStudies (www.nanobuero.de), Technikphilosophie. Andreas Hetzel, Dr. phil., Lehrbeauftragter für Philosophie an den Universitäten Darmstadt und Innsbruck sowie für Medienwissenschaften in Klagenfurt. Forschungs- und Veröffentlichungsschwerpunkte: Sprachphilosophie, antike Rhetorik, Politische Philosophie, Kultur- und Sozialphilosophie. Habilitationsprojekt zum Sprachdenken der antiken Rhetorik. Mechthild Hetzel, Dr. phil., Wissenschaftliche Assistentin an der LeopoldFranzens-Universität Innsbruck, Lehrbeauftragte für Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt; derzeit Vertretungsprofessur an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt. Jüngste Veröffentlichung: Provokation des Ethischen. Diskurse über Behinderung und ihre Kritik, Reihe: Beiträge zur Philosophie. Neue Folge, Universitätsverlag Winter: Heidelberg 2007. Doris-Vera Hofmann, Dr. phil., Studium der Philosophie in Bonn; von 2004 bis 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der TU Darmstadt. Veröffentlichungen u.a.: Gewissheit des Fürwahrhaltens. Zur Bedeutung der Wahrheit im Fluß des Lebens nach Kant und Wittgenstein, Berlin 2000. Jens Kertscher, Dr. phil., Studium der Philosophie und Romanistik in Köln, Florenz, Tübingen und Heidelberg, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der TU Darmstadt. Arbeitsgebiete: Sprachphilosophie, Hermeneutik und ihre Kritik, Pragmatismus, insbesondere seine Rezeption im heutigen Neopragmatismus. Zuletzt erschien als Mitherausgeber: Pragmatismus – Philosophie der Zukunft? (Weilerswist 2008). Jutta Georg-Lauer, Dr. phil., studierte in Frankfurt Philosophie, Politik und Germanistik und an der dortigen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst. Promotion in Tübingen. Freie publizistische Tätigkeit, Referatsleiterin in der Hessischen Landesregierung, Dramaturgin an der Oper Frankfurt. Lehrbeauftragte an der TU Darmstadt, Habilitationsprojekt zu Nietzsche und Freud. Dieter Mersch, Prof. Dr., studierte Mathematik und Philosophie in Köln und Bochum; arbeitete von 1983 bis 1994 als Dozent für Wirtschaftsmathematik an der Universität Köln; Promotion und Habilitation am Institut für Philosophie der TU Darmstadt. Seit 2004 hat er einen Lehrstuhl für Medienwissenschaft an der Universität Potsdam inne. Publikationen u.a.: Medientheorien zur Einführung,

AUTORINNEN UND AUTOREN | 275

Hamburg 2006; Performativität und Praxis. München 2003 (hg., zus. mit Jens Kertscher); Die Medien der Künste. Beiträge zur Theorie des Darstellens, München 2003; Kunst und Medium, Kiel 2003; Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt/Main 2002; Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002; Zeichen über Zeichen. München 1998. Peter Niesen, Prof. Dr., ist Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Technischen Universität Darmstadt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der zeitgenössischen Demokratietheorie und der politischen Philosophie der Aufklärung (Kant, Bentham). Jüngste Veröffentlichungen: Kants Theorie der Redefreiheit. Baden-Baden 2. Aufl. 2008; »The ›West divided‹? Bentham and Kant on Law and Ethics in Foreign Policy«, in David Chandler/Volker Heins (Hg.), Rethinking Ethical Foreign Policy. London/New York 2007, 93-115; »Die Macht der Publizität. Jeremy Benthams Panoptismen«, in Marc Rölli/Ralf Krause (Hg.), Macht. Begriff und Wirkung in der politischen Philosophie der Gegenwart, Bielefeld 2008. Alfred Schäfer, Prof. Dr., ist Professor für Systematische Erziehungswissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er arbeitet zu Fragen der Bildungs- und Erziehungsphilosophie, darunter insbesondere zum Konstitutionsproblem des Pädagogischen, sowie zu Theorie und Empirie einer kulturwissenschaftlichen Bildungsforschung. Jüngere Buchpublikationen: Kierkegaard. Eine Grenzbestimmung des Pädagogischen (VS Verlag, 2004), Einführung in die Erziehungsphilosophie (Beltz/UTB, 2005) sowie der Sammelband Kindliche Fremdheit und pädagogische Gerechtigkeit (Schöningh, 2007). Jan C. Schmidt, Prof. Dr., Studium der Physik, Philosophie, Soziologie und Pädagogik in Heidelberg, Glasgow, Mainz, Darmstadt. Dr. rer. nat. in theoretischer Physik 1999, M.A. Philosophie 2004, Habilitation in Philosophie 2006. Wiss. Mitarbeiter am Institut für Physik, Universität Mainz 1996-1999, Wiss. Mitarbeiter am Institut für Philosophie und Zentrum für Interdisziplinäre Technikforschung, TU Darmstadt 1999-2006; Professor for Philosophy of Technology am Georgia Tech in Atlanta, 2006-08; seit 2008 Professor für Wissenschafts- und Technikphilosophie/-soziologie/-ethik an der Hochschule Darmstadt. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschafts-, Technik- und Kulturphilosophie, Interdisziplinaritätsphilosophie, Technikfolgenabschätzung, Angewandte Ethik, Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie, Chaos-, Selbstorganisations- und Komplexitätstheorie Veröffentlichungen u. a. Der entthronte Mensch? (hg. mit Lars Schuster, Paderborn 2003); Technik und Demokratie (hg. mit Kirsten Mensch, Opladen 2003); Zukunftsorientierte Wissenschaft (hg. mit Wolfgang Bender, Münster 2003), Instabilität in Natur und Wissenschaft. Eine Wissenschaftsphilosophie der nachmodernen Physik, Berlin 2008.

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Eva Schürmann, PD Dr., studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Komparatistik in Bochum, Paris und Cambridge. 1998 Promotion, seit 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der TU Darmstadt. 2004 Gastprofessur an der University of Chicago, 2007 Habilitation in Darmstadt und Vertretungsprofessur an der Universität Hildesheim. Neuere Veröffentlichungen: Philosophie im Spiegel der Literatur (hg. mit G. Gamm und A. Nordmann), Hamburg 2007; Sehen als Praxis. Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht. Frankfurt/Main 2008. Peter Wiechens, Dr. phil., Studium der Philosophie, Soziologie und katholischen Theologie in Münster; 1992-1998 Mitarbeiter an der Arbeitsstelle Wissenschaft und Praxis: Angewandte Kulturwissenschaften der Universität Münster; 2000-2001 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Münster; 2001 Promotion mit der Arbeit Das Prinzip Überschreitung. Clifford Geertz und die Konstitution der Interpretativen Anthropologie; 2001 bis 2004 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts Dekonstruktion und Sozialtheorie am Institut für Philosophie der Technischen Universität Darmstadt. Veröffentlichungen u.a.: Bataille zur Einführung, Hamburg 1995; Mitherausgeber folgender Bände: Georges Bataille. Vorreden zur Überschreitung, Würzburg 1999; Geschlecht – Ethnizität – Klasse: Zur sozialen Konstruktion von Hierarchie und Differenz, Opladen 2001; Einführung in die Kulturwissenschaft, Münster 1998; Spiel ohne Grenzen? Ambivalenzen der Globalisierung, Opladen 1999; Verstehen und Kritik. Soziologische Suchbewegungen nach dem Ende der Gewissheiten, Opladen 2000. Georg Zenkert, Prof. Dr., Professor für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und Mitglied der Fakultät für Philosophie und Geschichte der Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Politische Philosophie, Ethik, Anthropologie. Neuere Publikationen: Die Konstitution der Macht. Kompetenz, Ordnung und Integration in der politischen Verfassung, Tübingen 2004, Studienausgabe 2007; »Fragmentarische Individualität: Wilhelm von Humboldts Idee sprachlicher Bildung«, in: Dt. Zeitschrift für Philosophie, 52.5, 2004; »Menschenwürde. Zur Ambivalenz eines moralischen Leitbegriffs«, in: Int. Jb. für Hermeneutik, Tübingen 2007; »Der Nationalstaat und seine Verfassung«, Archiv für Rechts- u. Sozialphilosophie, Bd. 93, H. 1, 2007. Marc Ziegler, M.A., ist Lehrbeauftragter und promoviert am Institut für Philosophie der TU Darmstadt. Seine durch ein DFG-Stipendium im Rahmen des Graduiertenkollegs Technisierung und Gesellschaft geförderte Dissertation verhandelt moderne Theorien der Einbildungskraft und des Imaginären. Er ist Mitherausgeber des Tagungsbandes Tensions and Convergences. Technological and Aesthetic Transformations of Society. Weitere Veröffentlichungen in den Bereichen der politischen Philosophie und der Technikphilosophie. Themenschwer-

AUTORINNEN UND AUTOREN | 277

punkte bilden – neben den Imaginationstheorien – vor allem Fragestellungen der praktischen Philosophie, der Ästhetik sowie der Theorien radikaler Demokratie.

Edition Moderne Postmoderne Iris Därmann, Harald Lemke (Hg.) Die Tischgesellschaft Philosophische und kulturwissenschaftliche Annäherungen 2008, 244 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-694-6

Alexander García Düttmann Derrida und ich Das Problem der Dekonstruktion 2008, 198 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-89942-740-0

Martin Gessmann Wittgenstein als Moralist Eine medienphilosophische Relektüre Mai 2009, ca. 216 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1146-5

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Edition Moderne Postmoderne Martin Nonhoff (Hg.) Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie Zum politischen Denken von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe 2007, 250 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-494-2

Claus Pias (Hg.) Abwehr Modelle – Strategien – Medien März 2009, 230 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-876-6

Eckard Rolf Der andere Austin Zur Rekonstruktion/Dekonstruktion performativer Äußerungen – von Searle über Derrida zu Cavell und darüber hinaus April 2009, ca. 146 Seiten, kart., ca. 20,80 €, ISBN 978-3-8376-1163-2

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3) ANZ956.p 199329860152

Edition Moderne Postmoderne Emmanuel Alloa, Alice Lagaay (Hg.) Nicht(s) sagen Strategien der Sprachabwendung im 20. Jahrhundert

Pravu Mazumdar Der archäologische Zirkel Zur Ontologie der Sprache in Michel Foucaults Geschichte des Wissens

2008, 308 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-828-5

2008, 598 Seiten, kart., 45,80 €, ISBN 978-3-89942-847-6

Christian Filk Günther Anders lesen Der Ursprung der Medienphilosophie aus dem Geist der ›Negativen Anthropologie‹

Maria Muhle Eine Genealogie der Biopolitik Zum Begriff des Lebens bei Foucault und Canguilhem

März 2009, ca. 150 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-89942-687-8

2008, 306 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-858-2

Steffen K. Herrmann, Sybille Krämer, Hannes Kuch (Hg.) Verletzende Worte Die Grammatik sprachlicher Missachtung

Andreas Niederberger, Markus Wolf (Hg.) Politische Philosophie und Dekonstruktion Beiträge zur politischen Theorie im Anschluss an Jacques Derrida

2007, 372 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-89942-565-9

2007, 186 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-89942-545-1

Ralf Krause, Marc Rölli (Hg.) Macht Begriff und Wirkung in der politischen Philosophie der Gegenwart

Uli Richtmeyer Kants Ästhetik im Zeitalter der Photographie Analysen zwischen Sprache und Bild

2008, 286 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-848-3

Februar 2009, 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1079-6

Harald Lemke Die Kunst des Essens Eine Ästhetik des kulinarischen Geschmacks

Ludger Schwarte (Hg.) Auszug aus dem Lager Zur Überwindung des modernen Raumparadigmas in der politischen Philosophie

2007, 220 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN 978-3-89942-686-1

2007, 318 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN 978-3-89942-550-5

Hans-Joachim Lenger, Georg Christoph Tholen (Hg.) Mnema Derrida zum Andenken

Jörg Volbers Selbsterkenntnis und Lebensform Kritische Subjektivität nach Wittgenstein und Foucault

2007, 262 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-510-9

Februar 2009, ca. 294 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-89942-925-1

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