Arbeitsleben und Rechtspflege: Festschrift für Gerhard Müller [1 ed.] 9783428448241, 9783428048243

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Arbeitsleben und Rechtspflege: Festschrift für Gerhard Müller [1 ed.]
 9783428448241, 9783428048243

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ARBEITSLEBEN UND RECHTSPFLEGE Festschrift für Gerhard Müller

Arbeitsleben und Rechtspflege Festschrift für Gerhard Müller

Herausgegeben von Theo Mayer-Maly, Reinhard Richardi Herbert Schambeck, Wolfgang Zöllner

DUNCKER & HUMBLOT · BERLIN

Redaktion: Dr. Dorothea Mayer-Maly

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Belträge vorbehalten @ 1981 Duncker & Humblot, Berlln 41 Gedruckt 1981 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 04824 5

GELEITWORT

Mit diesem Band soll eine hervorragende Richterpersönlichkeit der deutschen Arbeitsgerichtsbarkeit geehrt werden. Gerhard Müller war im Bundesarbeitsgericht ein Mann der ersten Stunde. Seit 1954 gehörte er ihm alil, seit 1963 wirkte er als sein Präsident. In dieser Funktion einem so kraftvollen und dynamischen Mann wie Hans Carl Nipperdey nachzufolgen, war gewiß nicht leicht. Gerhard Müller aber ist es gelungen, in seiner Weise dem für den sozialen Frieden so wichtigen Gericht vorzustehen, das Vertrauen der am Arbeitsleben beteiligten Gruppen zu gewinnen und immer wieder die Grundlinien der Rechtsprechung "seines" Gerichts gegenüber der Fachjurisprudenz und den Medien würdig und eindrucksvoll ·ZU vertreten. In die Ära seiner Präsidentschaft fallen bedeutun.gsvolle Entscheidungen, an deren Vorbereitung und Begründung er maßgeblichen Anteil hatte; so- um nur einige Schwerpunkte zu bezeichnen- die Weiterentwicklung des Arbeitskampfrechts, die Anerkennung gewerkschaftlicher Rechte auf Information und Werbung in den Betrieben und die Bemühungen um eiiile präzisere Abgrenzung des Kreises der leitenden Angestellten. Alle diese Themen standen und stehen im Interessenstreit. In einer wahrlich vorbildhaften Weise hat Gerhard Müller gezeigt, wie ein in hoher Verantwortung stehender Richter die an sein Gericht herangetragenen Probleme analysieren und bewältigen kann. Er hat stets das freimütige Gespräch mit den Exponenten gegensätzlicher Positionen gesucht, sich unzähligen öffentlichen Diskussionen gestellt und gerade auf diese Weise das Vertrauen in die Objektivität, aber auch in das soziale Denken der Richter von Kassel gestärkt. Für das Verständnis des v.erfassungsgebotes, nach dem unser Staat ein sozialer Rechtsstaat ist, hat das richterliche Wirken von Gerhard Müller bleibende Bedeutung. Die Wirkkraft, die Gerhard Müller in seinem Richteramt entfaltet hat, geht auf mehrere Ursachen zurück. Wie stark die Ausstrahlung seiner Persönlichkeit ist, weiß jeder, der ihm auch nur einmal begegnet ist. Dazu kommt, daß ihn vielfältige rechtswissenschaftliche Aktivitäten zu

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Geleitwort

einer Auseinandersetzung mit Problemen geführt haben, an die er später als Richter herantreten mußte. Die Verbindung von Praxis und Theorie ist Gerhard Müller besonders eindrucksvoll ,gelungen. Hinter den Leistungen von Gerhard Müller steht ein gefestigtes Bild vom Menschen, ein starker und nachhaltig gelebter Glaube, der auch bei denen Respekt gefunden hat, die ihn nicht teilen. Gerhard Müller hat aber auch gezeigt, daß gerade der, der in seinen Grundsätzen fest und in ihrer Anwendung tatkräftig ist, über viel Herzlichkeit und Güte, viel Aufgeschlossenheit und Toleranz verfügen kann. So sei ihm heute für das Vollbrachte gedankt, für alle Zukunftspläne - die wissenschaftlichen, aber auch die übrigen - das Beste gewünscht. Karl Carstens

VORWORT

Diese Festschrift ist Gerhard Müller gewidmet, einem Mann, der das Arbeitsrecht geprägt hat wie nur wenige in unserer Zeit. Er hat dies nicht nur mit fleißiger und oft engagierter Feder getan, sondern vor allem vom Stuhl des Richters aus, als Vorsitzender zunächst des 2. Senats, später in der Zeit seiner Präsidentschaft als Vorsitzender des 1. und des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts. Siebzehnjähriges Wirken als Präsident eines oberen Bundesgerichts formt das Bild dieses Gerichts und seine Grundhaltung im Gefüge der sozialgestaltenden Kräfte. Auch wenn die Rechtsprechung sich nicht sprunghaft ändert, wird man gleichwohl von einer Ära Müller im Bundesarbeitsgericht sprechen können. Dieses Wirken gerade in dem Zeitpunkt zu ehren, in dem es zu Ende geht, ist die Aufgabe, die sich diese Festschrift gesetzt hat. Sie vereint unter ihrem Dach neben einigen Richtern des Gerichts, neben Freunden und Weggenossen des zu Ehrenden vor allem Wissenschaftler. Sie statten mit ihren Beiträgen den Dank nicht nur einem der ihren ab, der selbst zur wissenschaftlichen Entwicklung vieles Wichtige und Weiterführende 'beigetragen hat, sondern auch dem Richter, der für wissenschaftliche Gedanken und Überlegungen immer offen war, und der die Grundfunktion, die der Rechtswissenschaft bei der Vorbereitung ebenso wie bei der Kritik gerichtlicher Entscheidungstätigkeit zukommt, auch in seiner richterlichen Funktion anerkannt und respektiert hat. Die Ehrung gilt einer großen Persönlichkeit, in der die Verbindung von Gegensätzlichem Spannung und Strahlkraft zugleich bewirkt. Tief verwurzelt im katholischen Glauben, verkörpert Gerhard Müller phänotypisch einen renaissancehaften Menschen. Obgleich ein Mann der Tat und Gestaltung, ist er der Philosophie ebenso wie der Geschichtswissenschaft eng verbunden. Aktion und Reflexion vereinigen sich in ihm ebenso zu Höherem wie Genuß und Askese. Am 10. Dezember 1912 in Limburg an der Lahn geboren, hat Gerhard Müller nach nur drei Jahren Grundschule und neun Jahren Gymnasium das Abitur gemacht, von 1931 bis 1935 Philosophie, Geschichte und

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Vorwort

Rechtswissenschaft studiert und 1935 sein 1. Juristisches Staatsexamen, vier Jahre später nach der Referendarzeit das 2. Juristische Staatsexamen abgelegt. Der Wehrdienst hat den gesundheitlich immer schon Beeinträchtigten nur zweimal vorübergehend erfaßt, aber in einer Tätigkeit als Assessor bei der Kreisverwaltung in Limburg konnte er nur weniger als zwei Jahre verbleiben. Statt dessen hat er die Zeit des Nationalsozialismus als Anwalts- und Notarvertreter verbracht. Sofort beim Zusammenbruch wurde er, mit noch nicht 32 Jahren, Leiter des Arbeitsamts Limburg, mit noch nicht 34 Jahren Präsident des Landesarbeitsgerichts Frankfurt. Im Jahre 1954 wurde er Senatspräsident beim BAG, damals 41 Jahre alt, um dann am 26. 2. 1963 die Nachfolge Hans Carl Nipperdeys als Präsident des höchsten deutschen Arbeitsgerichts anzutreten. 1941 hat er sich mit der ein Jahr jüngeren Maria Anna geb. Schnädter ver'heimtet. Aus der Ehe ist 1942 der Sohn Hans-Peter hervorgegangen, der an dieser Festschrift 21u Ehren seines Vaters mitwirkt. Die öffentliche Beachtung und Anerkennung von Geriliard Müllers Wirken wird durch nicht wenige Orden symbolisiert, aus denen das Komturkreuz des päpstlichen Gregorius-Ordens, das Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, das große silberne Ehvenzeichen am Bande für Verdienste um die Republik Österreich und das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse der Republik Österreich genannt seien. Die be~den Österreichischen Auszeichnungen belrunden das hohe Ansehen, das Müller in diesem Staat genießt, zu dem er seit Jahrzehnten ein "besonderes Verhältnis" hat. Der Wissenschaft ist Gerhal"'d Müller in allen Jahren eng verbunden gewesen. Seit 1948 hat er regelmäßig publiziert: ca. 20 Bücher und selbständige Schriften, ungefähr 200 Zeitschriftenaufsätze und Beiträge zu Sammelwerken sowie fast 100 Buch- und Urteilsrezensionen. Das meiste ist dem Arbeitsrecht und der Gesellschaftspolitik gewidmet, mit oft weit ausgreifenden Bee;ügen. Auch als Herausgeber und Mitherausgeber wichtiger Publikationsorgane trägt Gerhard Müller seit Jahrzehnten wissenschaftliche Lasten und mit der Präsidentschaft des Deutschen Arbeitsgerichtsverbandes sowie dem Vorsitz der Deutschen Sektion der Internationalen Gesellschaft für das Recht der Arbeit und der sozialen Sicherheit zwei Wissenschafts- und rechtspolitisch ebenso verantwortungs- wie mühevolle Ämter. Die Universität Köln hat ihn 1967 mit der Verleihung des Titels eines Honorarprofessors geehrt und seine reiche Erfahrung für die Lehre an dieser Universität gewonnen.

Vorwort

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Für seinen Ruhestand hat Gerhard Müller viele Pläne. Sein lange gepflegtes Interesse für die Militärgeschichte, die in ihm einen Experten von hohen Graden besitzt, wird seine aus der Amtsübergabe ihm zuwachsende Muße füllen. Dazu seien ihm Freude und Gesundheit gewünscht! Die Herausgeber

INHALT I. Arbeitsrecht Fritz Auffarth Neuerungen im arbeitsgerichtliehen Beschlußverfahren nach d3m Arbeitsgerichtsgesetz 1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Volker Beuthien Sozialplanzwangsschlichtung und Konkursgläubigerschutz . . . . . . . . . .

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Rolf Birk Die betriebliche Altersversorgung bei Auslandsbeziehungen. Eine kollisionsrechtliche Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wolfgang Blomeyer Die zulässige Ungleichbehandlung im Arbeitsrecht. Dargestellt am Beispiel der betrieblichen Ruhegelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gerhard Boldt Der Anspruch des Inhabers eines Bergmannsversorgungsscheins auf Hausbrandkohlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Herbert Buchner Die persönliche Verantwortlichkeit der Betriebsratsmitglieder für rechtswidrige Betriebsratsbeschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Gerhard Dapprich Der soziale Charakter des Arbeitsrechts im mittelalterlichen deutschen Bergbau ........................................................... 115 Wilhelm Dütz Vertragliche Spruchstellen für Arbeitsrechtsstreitigkeiten. Zum Verhältnis von Schiedsgericht, Schiedsgutachten und außergerichtlichem Vorverfahren in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts 129 Franz Gamillscheg Kirchliche Schulen in der amerikanischen Betriebsverfassung. Zum Urteil des Obersten Gerichtshofes NLRB v. The Catholic Bishop of Chicago 149

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Inhalt

Wolfgang Gitter Frauenarbeitsschutz und Gleichberechtigungsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Peter Hanau Analogie und Restriktion im Betriebsverfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . 169 Wilhelm Hersehe! Gedanken zur Theorie des arbeitsrechtlichen Kündigungsgrundes .. 191 Marie-Luise Hilger und Hermann Stumpf Ablösung betrieblicher Gratifikations- und Versorgungsordnungen durch Betriebsvereinbarung 209 Paul Hofmann Zur wiederholten Arbeitsunfähigkeit im Recht der Lohnfortzahlung 225 Horst Konzen Gleichbehandlungsgrundsatz und personelle Grenzen der Kollektivautonomie ......................................................... 245 Alfons Kraft Die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats während des Arbeitskampfes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Otto Kunze Die Mitbestimmung in Personalunternehmen ...................... 285 Manfred Löwisch Sozialplanleistungen und Gleichbehandlungsgebot .................. 301 Oswin Martinek Zum Zeitmoment im Österreichischen Arbeitsvertragsrecht . . . . . . . . . . 309 Theo Mayer-Maly Das Gewissen und das Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Hans-Peter Müller Zur Situation der leitenden Angestellten de lege ferenda . . . . . . . . . . . . 333 Dirk Neumann Zum Schrankenvorbehalt der Kirchenautonomie .................. 353

Inhalt

XIII

Thilo Ramm Die richterliche Gewalt in der deutschen Arbeitsverfassung . . . . . . . . . . 369 Dieter Reuter Gewerkschaftliche Präsenz im Betrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Reinhard Richardi Die Rechtsstellung der Gewerkschaften im Betrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Bernd Rüthers Nachwirkungsprobleme bei Firmentarifen desselben Arbeitgebers mit verschiedenen Gewerkschaften ...................................... 445 Ursula Schlochauer Zugangsrecht von Betriebsratsmitgliedern zu den Arbeitsplätzen einzelner Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Ludwig Schnorr von Carolsfeld Über die Aufhebung eines Rechtsverhältnisses, insbesondere die Kündigungsgründe eines Arbeitsvertrages als Probleme der Humanisierung des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 Rupert Scholz Rechtsfragen zur Verweisung zwischen Gesetz und Tarifvertrag ..... 509 Walter Schwarz Probleme des Österreichischen Insolvenz-Entgeltsicherungsgesetzes ... 537 Peter Schwerdtner Individualarbeitsrechtliche Probleme des Betriebsüberganges. Versuch einer Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 HugoSeiter Unternehmensmitbestimmung und Tarifauseinandersetzungen ....... 589 Rudolf Strasser Zur Mitbestimmung bei KontrolLeinrichtungen nach österreichischem und deutschem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 609 Günther Wiese Zur Zuständigkeit der Einigungsstelle nach § 85 Abs. 2 BetrVG . . . . . . 625

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Inhalt

Otfried Wlotzke Zur Neuordnung des Revisionszuganges im arbeitsgerichtliehen Verfahren o o oo o oo o 647 0

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Wolfgang Zöllner Auswahlrichtlinien für Personalmaßnahm.eno Betriebsverfassungsrechtliche Bemerkungen unter besonderer Berücksichtigung der durch die elektronische Datenverarbeitung aufgeworfenen Probleme 665 0

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II. Ubergreifende Probleme und Grenzbereiche des Arbeitsrechts

Hans Floretta Die familienangehörigen Arbeitnehmer im Österreichischen Arbeits-, Sozial-, Versicherungs- und Steuerrecht o 691 0

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Heinrich List Steuerrecht und Arbeitsverhältnis

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J ohannes Messner Lohngerechtigkeit heute

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Oswald von Nell-Breuning Das Lohnarbeitsverhältnis in der Sicht der katholischen Soziallehre 731 Franz-Jürgen Säcker Rechtsprobleme beim Widerruf der Bestellung von Organmitgliedern und Ansprüche aus fehlerhaften Anstellungsverträgen 745 0

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Herbert Schamheck Der Behinderte und das Verfassungsrechto Ein Beitrag zum Verständnis österreichischer Sozialstaatlichkeit . o o 765 0

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Arthur Fridolin Utz Wirtschaftsethische Überlegungen über Leistung und Verteilung im marxistischen Verständnis o 779 0

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Georg Wannagat Der Anwalt und das Sozialrecht ..

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Herbert Wiedemann "Wirtschaftliche Vernunft" als Maxime sozialer Mitverwaltung

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Inhalt

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111. Staatsordnung, Reclltsordnung, Richteramt Klaus Adomeit Nietzsches "Blick auf den Staat". Versuch einer systematischen Ordnung .............................................................. 823 ErnstBenda Grundwerte -

Grundgesetz -

Richteramt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 837

Otto Rudolf Kissel Minima non curat praetor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 849 Ernst Wolf Der Kampf gegen das BGB ......................................... 863

Veröffentlichungen von Gerhard Müller

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Herausgeber und Mitarbeiter

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I. Arbeitsrecht

NEUERUNGEN IM ARBEITSGERICHTLICHEN BESCHLUSSVERFAHREN NACH DEM ARBEITSGERICHTSGESETZ 1979 Von Fritz Auffarth

Das arbeitsgerichtliche Beschlußverfahren ist schon im ArbGG 1926 ein Stiefkind der Gesetzgebung gewesen und es im ArbGG 1953 und im ArbGG 1979 geblieben. Dieses Verfahren, das sich auch heute noch in seinen maßgeblichen Grundsätzen vom Urteilsverfahren unterscheidet, ist dem Gesetzgeber nur wenige Bestimmungen Wert gewesen. Die gesetzliche Regelung ist lückenhaft. Deshalb werden durch Verweisungen auf entsprechend anwendbare Vorschriften des arbeitsgerichtliehen Urteilsverfahrens diese Lücken geschlossen, obwohl sich das Beschlußverfahren grundlegend durch andere Verfahrensprinzipien vom Urteilsverfahren unterscheidet (darüber unten I 2, 3}. Wenn man bedenkt, daß aber auch das arbeitsgerichtliche Urteilsverfahren im weiten Umfang der ergänzenden Regelung durch die ZPO bedarf, verwundert es nicht, daß nach mehr als 50 Jahren immer noch zahlreiche prozessuale Fragen des Beschlußverfahrens nicht befriedigend gelöst sind. Allerdings hat das ArbGG 1979 einige bisherige Streitfragen, zum Teil entgegen der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts geklärt (vgl. unten 1}, andere aber offengelassen, obwohl auch deren gesetzliche Regelung dringend erwünscht gewesen wäre (vgl. unten II}. Auf einige besonders wichtige Probleme sollte in den folgenden Ausführungen eingegangen werden (Paragraphenbezeichnungen ohne weitere Zusätze beziehen sich auf das ArbGG 1979}. Das Prozeßrecht und damit auch das arbeitsgerichtliche Beschlußverfahren gehörten gewiß nicht zu den bevorzugten Themen des scheidenden Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts. Er hat diese Fragen aber deshalb keineswegs als zu vernachlässigende Größe angesehen und sich in einer größeren, viel beachteten Abhandlung, "Die Ausformung des arbeitsgerichtliehen Beschlußverfahrens durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts" 1 mit diesem Thema beschäftigt. Zweck dieses Beitrags ist es, die wesentlichsten Veränderungen nachzuzeichnen, die das ArbGG 1979 für das Beschlußverfahren gebracht hat und die zwangs1

Jahrbuch des Arbeitsrechts, 1972, Bd. 9, S. 23 ff.

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Fritz Auffarth

läufig auch zu einer Änderung auf Teilgebieten der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts führen müssen2 •

I. 1. Abgrenzung des Urteils- vom Beschlußverfahren

Das ArbGG 1979 bringt zu dieser Frage keine erheblichen Änderungen. Immerhin ist bemerkenswert, daß nunmehr§ 2 a die Zuständigkeit der Arbeitsgerichte im Beschlußverfahren in einer besonderen Vorschrift aufzählt. § 2 a Abs. 1 Nr. 1 entspricht wörtlich§ 2 Abs. 1 Nr. 4 ArbGG 1953. Der Gesetzgeber sah keinen Anlaß, die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts im Gesetz festzuschreiben, daß Streitigkeiten nach § 37 Abs. 7 (und nach § 3 Abs. 2) BetrVG 1972 nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts von den Arbeitsgerichten und nicht etwa von den Verwaltungsgerichten zu entscheiden sind3 • Auch § 2 a Abs. 1 Nr. 2 und 3 und Abs. 2 bringen inhaltlich nichts Neues, wohl aber § 3. Dort wird gegenüber § 2 Abs. 4 Satz 1 ArbGG 1953 nunmehr ausdrücklich auch für das Beschlußverfahren ausgesprochen, daß diese Zuständigkeit auch in Fällen der Rechtsnachfolge oder der befugten Prozeßführung für den sachlich Berechtigten oder Verpflichteten besteht. Damit wird die bisherige Praxis des Bundesarbeitsgerichts ausdrücklich bestätigt, daß auch nach Abtretung betriebsverfassungsrechtlicher Ansprüche des Betriebsrates der Zessionar diese im Beschlußverfahren gegen den Arbeitgeber geltend zu machen hat4. Überhaupt stellt § 2 a wie früher§ 2 Abs. 1 Nr. 4 ArbGG 1953 nicht auf die Geltendmachung durch Organe der Betriebsverfassung ab, sondern auf den betriebsverfassungsrechtlichen Charakter der Angelegenheit als solcher. Auch im neuenGesetz ist nicht die Frage der Verbindung von Urteilsund Beschlußverfahren geregelt, worüber das Bundesarbeitsgericht bisher noch nicht zu befinden hatte 5, und nicht das Problem der Abgabe (Verweisung) der einen in die andere Verfahrensart, die das Bundesarbeitsgericht bejaht hat6 • Jedenfalls schließen sich beide Verfahrensarten gegenseitig aus, d. h. ein Anspruch kann nur im Urteilsverfahren 2 Zum arbeitsgerichtliehen Beschlußverfahren nach dem ArbGG 1979 vgl. auch Dütz, RdA 80, 97; Fenn, Festschrift Bundesarbeitsgericht, S. 9·1 ff.; Philippsen I Schmidt I Schäfer I Busch, NJW 79, 1335; Stahlhacke, RdA 79, 401 (406); Wenzel, ArbuR 79, 225 (233). 3 Vgl. BAG AP Nr. 7, 23 zu§ 37 BetrVG 1972. 4 BAG AP Nr. 3, 5 zu § 40 BetrVG 1972. 5 Bejahend für Verbindung im Beschlußverfahren bei gleichen Rechtsfragen, z. B. Lohnfortzahlung und Erstattung von Schulungskosten: Etzel, RdA 74, 221. 8 BAG AP Nr. 1 und 2 zu§ 8 ArbGG 1953; Lepke, RdA 74, 226.

Neuerungen im arbeitsrechtlichen Beschlußverfahren

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oder nur im Beschlußverfahren geltend gemacht werden, nicht nach Wahl des Klägers (Antragstellers). 2. Dispositionsgrundsatz, kein Offizialgrundsatz

Dieses Begriffspaar wird in der Rechtsprechung und -lehre vielfach mit dem Problem vermengt, ob für das Beschlußverfahren der sogenannte Verhandlungs-(Beibringungs-)grundsatz oder derUntersuchungs(Inquisitions-)grundsatz gilt. Beides ist aber getrennt zu sehen, mögen auch zwischen den Verfahrensmaximen Berührungspunkte bestehen. Es ist das Verdienst von Fenn1 , der Begriffsverwirrung ein Ende bereitet zu haben. Der Dispositionsgrundsatz betrifft die Frage, ob und inwieweit die Beteiligten eines Beschlußverfahrens über Einleitung, Gegenstand, Fortführung und Beendigung eines arbeitsgerichtliehen Beschlußverfahrens bestimmen können, oder dies etwa dem Gericht obliegt (Offizialgrundsatz), der Verhandlungsgrundsatz bzw. Untersuchungsgrundsatz (darüber unter 3.), inwieweit die Beteiligten den Tatsachenstoff selbst zu beschaffen haben oder das Gericht zu Ermittlung der maßgeblichen Tatsachen berufen und verpflichtet ist. Zu beiden Problemkreisen enthält das neue Gesetz wichtige Aussagen. Der Dispositionsgrundsatz wird zum Teil im Gegensatz zur früheren Rechtsprechung und in Angleichung an das arbeitsgerichtliche Urteilsverfahren in verschiedenen Vorschriften festgeschrieben. a) Antragsrücknahme

Der Antragsteller bestimmt durch seinen Antrag den Streitgegenstand des Verfahrens und damit auch den Antra:gsgegner; er ist nicht verpflichtet, etwa alle bestehenden betriebsverfassungsrechtlichen Streitigkeiten der gerichtlichen Entscheidung zu unterbreiten8 • Demgemäß bestimmt § 83 Abs. 1 jetzt ausdrücklich, der Sachverhalt sei "im Rahmen der gestellten Anträge" von Amts wegen zu erforschen. Der Antragsteller kann im ersten Rechtszug nach neuem wie nach altem Recht seinen Antrag jederzeit zurücknehmen(§ 81 Abs. 2 Satz 1). Systemwidrig im Verhältnis zum Urteilsverfahren und zum 2. und 3. Rechtszug im Beschlußverfahren (§ 87 Abs. 2 Satz 3, § 92 Abs. 2 Satz 3) ist offenbar eine Zustimmung der übrigen Beteiligten nicht erforderlich. In der Beschwerdeinstanz und in der Rechtsbeschwerdeinstanz kann entgegen der bisherigen einschränkenden Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts mit 7 Festschrift Schiedermaier, 1976, S. 117 ff. und Festschrift Bundesarbeitsgericht 197·9, S. 91 ff.; vgl. auch schon Dütz, Anm. AP Nr. 1 zu § 20 BetrVG 1972 unter III 2 d, e. s So bisher schon das Bundesarbeitsgericht, vgl. AP Nr. 4 zu § 94 ArbGG 1953 und AP Nr. 2 zu § 2 BetrVG 1972.

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Fritz Auffarth

Zustimmung der anderen Beteiligten jederzeit der Antrag zurückgenommen werden mit der Rechtsfolge, daß das Verfahren als nicht anhängig geworden anzusehen ist. Der Vorsitzende des Gerichts hat dann das Verfahren durch förmlichen Beschluß ohne weitere Prüfung einzustellen.

b) Antragsänderung Die Antragsänderung, die das Bundesarbeitsgericht im Beschwerdeverfahren bisher nur innerhalb der Beschwerdefrist zugelassen hat9, wird nunmehr für die 1. und 2. Instanz ausdrücklich geregelt. § 81 Abs. 3 und § 87 Abs. 2 Satz 3 Halbs. 2 sehen ausdrücklich eine Antragsänderung als zulässig an, wenn die übrigen Beteiligten zustimmen oder das Gericht die Änderung für sachdienlich hält. Für die Rechtsbeschwerdeinstanz schweigt das Gesetz nach wie vor. Ebenso wie für das Revisionsverfahren wird man eine Antragsänderung nur unter eng begrenzten Voraussetzungen zulassen können, insbesondere etwa bei zwischenzeitlicher Änderung der tatsächlichen Verhältnisse10 •

c) Vergleich, Erledigung des Verfahrens Der weiteren Angleichung des Beschlußverfahrens an das Urteilsverfahren- ganz im Sinne des Dispositionsgrundsatzes- dient die neue Vorschrift des§ 83 a. Zum Vergleich im Beschlußverfahren hat sich das Bundesarbeitsgericht bisher zurückhaltend, aber nicht grundsätzlich verneinend geäußert11 • § 83 a, auf den in den Bestimmungen über die Rechtsmittelverfahren verwiesen wird (§ 90 Abs. 2, § 95 Satz 4) sieht vor, daß die Beteiligten vor Gericht einen Vergleich schließen können, "soweit sie über den Gegenstand des Vergleichs verfügen können". Aus derartigen Vergleichen kann auch die Zwangsvollstreckung betrieben werden, soweit sie eine Verpflichtung zum Gegenstand haben{§ 85 Abs. 1 Satz 1). Hier zeigt sich eine Einschränkung des Dispositionsgrundsatzes im Beschlußverfahren. Die Beteiligten müssen nämlich nach materiellem Betriebsverfassungsrecht über den Gegenstand des Vergleichs verfügungsbefugt sein (vgl. ebenso § 106 VwGO, § 101 Abs. 1 SGG). Die Grenzen dieser Verfügungsbefugnis dürften sich mit denen der Zuständigkeit der Einigungsstelle decken12• Ein wirksamer Vergleich kann danach 8 Eine .Änderung dieser Rechtsprechung begann aber bereits im Geltungszeitraum des ArbGG 1953, vgl. BAG AP Nr. 10 zu § 89 ArbGG 1953 und AP Nr. 3 zu § 43 BetrVG 1972. 10 z. B. Übergang von einem Leistungs- zu einem Feststellungsantrag, aber nicht umgekehrt; vgl. zu diesem Problemkreis BAG AP Nr. 104 zu§ 242 BGB Ruhegehalt, AP Nr. 27 zu § 620 BGB Befristeter Arbeitsvertrag, AP Nr. 22 zu § 74 HGB, AP Nr. 8 zu§ 630 BGB, AP Nr. 17 zu§ 611 BGB Bergbau; offenbar weitergehend Dütz, RdA 80, 100. 11 AP Nr. 8, 9 zu § 81 ArbGG 1953; AP Nr. 8 zu § 37 BetrVG 1972. 12 Lepke, DB 77 1 629 (633).

Neuerungen im arbeitsrechtlichen Beschlußverfahren

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z. B. nicht abgeschlossen werden, soweit es um die Organisationsvorschriften des BetrVG geht, z. B. den Betriebsbegriff, die Arbeitnehmereigenschaft i. S. des BetrVG, die Wirksamkeit einer Betriebsratswahl13 • Über den außergerichtlichen Vergleich sagt das Gesetz nichts. Auch ein derartiger Vergleich dürfte zulässig sein, soweit die Beteiligten über den Verfahrensgegenstand disponieren können. Allerdings muß dann das Beschlußverfahren noch durch eine prozessuale Erklärung, z. B. eine Antragsrücknahme, formell beendet werden14• Die Beteiligten können auch das Verfahren für erledigt erklären(§ 83 a Abs. 1 und 2), auch im Beschwerde- und Rechtsbeschwerdeverfahren (§ 90 Abs. 2, § 95 Satz 4). Allerdings bedarf die Erledigungserklärung der Zustimmung der "übrigen Beteiligten". Hier werden Schwierigkeiten auftreten, weil der Begriff des Beteiligten nach wie vor unklar ist (vgl. unten II 2). Im Gegensatz zum Vergleich kommt es nicht darauf an, ob die Beteiligten verfügungsbefugt über den Verfahrensgegenstand sind, denn es geht nur um prozessuale Positionen, nicht eine materielle Erledigung des Verfahrens 15• Deshalb haben die Arbelitsgerichte auch nicht nachzuprüfen, ob das Verfahren wirklich erledigt ist. Eine einseitige Erledigungserklärung wird trotz Schweigens des Gesetzgebers unter den seihen Grundsätzen wie Urteilsverfahren in Betracht kommen1il. Auf Einzelheiten kann hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden. d) Anerkenntnis, Verzicht

Eine den §§ 306, 307 ZPO vergleichbare Bestimmung enthält für das Beschlußverfahren weder das ArbGG 1953 noch das ArbGG 1979. Anerkenntnis und Verzicht wird man im Rahmen der Dispositionsbefugnis der Beteiligten (vgl. oben Buchst. c) für möglich ansehen können17• 3. Beibringungs- und Untersnchungsgrundsa.tz

§ 83 Abs. 1 bestimmt in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts18 nunmehr ausdrücklich, daß zwar das Gericht den Sachverhalt im Rahmen der gestellten Anträge von Näheres vgl. Lepke, a.a.O. Dütz, RdA 80, 99. 15 Dütz, a.a.O.; Fenn, Festschrift Bundesarbeitsgericht, S. 1\l2. te Dütz, a.a.O.; Fenn, a.a.O., S. 112 f.; Grunsky, ArbGG, 3. Aufl. § 83 a, Anm. 9; ausführlich Lepke, DB 78, 1989; vgl. auch BAG AP Nr. 2 zu § 101 13 14

BetrVG 1972. 17 Fenn, Festschrift Schiedermair, S. 137 ff., Festschrift Bundesarbeitsgericht, S. 113 f.; Dütz, a.a.O.; Grunsky, a.a.O., § 80 Anm. 30. 18 Vgl. aus neuerer Zeit BAG AP Nr. 1, 3 zu § 20 BetrVG 1972, AP Nr. 20, 21 zu § 37 BetrVG 1972, AP Nr. 7 zu § 103 BetrVG 1972, AP Nr. 3 zu § 97 ArbGG 1953.

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Amts wegen zu erforschen, die am Verfahren Beteiligten aber an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken haben. Demnach gilt für die Beibringung des Tatsachenstoffes sowohl der Untersuchungs- als auch der Beibringungsgrunsatz, also eine Mischform. Außerdem läßt sich dem Gesetzestext entnehmen, daß ein Sachvortrag nur in dem Rahmen er~ folgen kann, in dem der Antragsteller eine gerichtliche Entscheidung erstrebt (vgl. oben I 2 a). Zunächst einmal sind die Beteiligten, insbesondere der Antragsteller, verpflichtet, dem Gericht vollständig die Tatsachen zu unterbreiten, die ihren Antrag rechtfertigen sollen. Dann sind aber die Gerichte im Ge~ gensatz zum Urteilsverfahren ihrerseits verpflichtet, von Amts wegen weitere Tatsachen zu ermitteln, die im Rahmen der gestellten Anträge erheblich sein können und im Bestreitensfall Beweise zu erheben. Diese Pflicht wird wiederum dadurch begrenzt, daß Anhaltspunkte für eine weitere Aufklärungsbedürftigkeit vorliegen müssen. Die Gerichte sind auf Kosten der Verfahrensdauer nicht dazu da, "ins Blaue hinein" Tatsachen festzustellen. Im Beschwerdeverfahren dürften aber die §§ 56 Abs. 2, 67 im Hinblick auf den Untersuchungsgrundsatz nicht entsprechend gelten19 • Im Rechtsbeschwerdeverfahren kommt die Ermittlung und Feststellung neuer Tatsachen nur in dem eingeschränkten Umfang in Betracht wie im Revisionsverfahren, also insbesondere hinsichtlich der Prozeßvoraussetzungen. 4. Recbtsmitteleinlegung und -begründung

Auch hinsichtlich der Formalien der Einlegung und Begründung von Beschwerde und Rechtsbeschwerde ist das Verfahren an das Urteilsverfahren angeglichen worden. Zunächst hat die Einreichung der entsprechenden Schriftsätze stets beim Rechtsmittelgericht zu geschehen (§ 87 Abs. 2 Satz 1, § 92 Abs. 2 Satz 1}. Beschwerde und Beschwerdebegründung müssen von einem Rechtsanwalt oder einem Verbandsvertreter unterzeichnet sein20 • Die Beschwerdefrist und die jetzt zusätzlich eingeräumte Beschwerdebegründungsfrist betragen je einen Monat. Während wie bisher gegen jeden arbeitsgerichtliehen Beschluß Beschwerde eingelegt werden kann, bedarf die Rechtsbeschwerde nach altem und neuem Recht grundsätzlich der Zulassung im Beschluß des Landesarbeitsgerichts wegen grundsätzlicher Bedeutung oder wegen Divergenz. In Angleichung an die Bestimmun~en über die Nichtzulassungsbeschwerde in § 72 a sieht 19 2

Anderer Meinung Dütz, RdA 80, 98.

° Für die Beschwerdebegründung sagt dies allerdings § 89 Abs. 1 nicht aus-

drücklich; dieses Erfordernis ergibt sich aber aus der Entstehungsgeschichte und der Verweisung auf das Urteilsverfahren; so auch Dütz, RdA 80, 100; StahZhacke, RdA 79, 406; WZotzke I Schwedes I Lorenz, ArbGG, § 89 Anm. 1; offengelassen Phitippsen I Schmidt I Schäfer I Busch, NJW 79, 1335.

Neuerungen im arbeitsrechtlichen Beschlußverfahren

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das Gesetz nunmehr in§ 92 a ebenfalls eine Nichtzulassungsbeschwerde im Beschlußverfahren vor, in Rechtssachen von grundsätzlicher Bedeutung allerdings nur, wenn Streitigkeiten über die Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit einer Vereinigung (§ 97) in Rede stehen. Rechtsbeschwerdefrist und Rechtsbeschwerdebegründungsfrist betragen jetzt wie für die Revision je einen Monat(§ 92 Abs. 2 Satz 1). Beide Schriftsätze müssen von einem Rechtsanwalt unterzeichnet sein (§ 94 Abs. 1). Infolge Bezugnahme auf das Urteilsverfahren dürfte jetzt auch die Begründungsfrist für die Rechtsbeschwerde bis zu einem Monat verlängert werden können (§ 74 Abs. 1 Satz 2).

n. Zwei Problemkreise werden im neuen ArbGG ebensowenig geregelt wie im ArbGG 1953, obwohl sich das Bundesarbeitsgericht fast in jeder Entscheidung im Beschlußverfahren damit beschäftigen muß, nämlich die Frage des Rechtsschutzinteresses und die Frage der Beteiligten. 1. Rechtsmutzinteresse

Das (allgemeine) Rechtsschutzinteresse oder Rechtsschutzbedürfnis findet allerdings auch in der ZPO keine ausdrückliche Erwähnung, sondern lediglich für die Feststellungsklage nach § 256 Abs. 1 ZPO wird verlangt, daß der Kläger ein rechtliches Interesse an der alsbaldigen Feststellung hat. Es entspricht aber allgemeiner Meinung und einem allgemeinen Rechtsgedanken, daß jede Rechtsverfolgung ein Rechtsschutzbedürfnis voraussetzt. Fehlt diese Prozeßvoraussetzung, die in jeder Instanz von Amts wegen zu prüfen ist, so ist eine Klage oder ein Antrag als unzulässig abzuweisen. Niemand soll die Gerichte unnütz in Anspruch nehmen dürfen. Bei Gestaltungsklagen liegt das Rechtsschutzbedürfnis regelmäßig auf der Hand, bei Leistungsklagen liegt das Interesse in der Nichtbefriedigung des sachlich-rechtlichen Anspruchs, der geltend gemacht wird. Von hier aus gesehen ist es verständlich, daß im Beschlußverfahren Fragen des Rechtsschutzinteresses häufiger auftreten als im Urteilsverfahren, insbesondere wenn infolge des längeren Instanzenzuges der betriebsverfassungsrechtliche Anlaß für den Streit der Beteiligten durch Zeitablauf überholt ist. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts muß auch im Beschlußverfahren der Antragsteller ein Rechtsschutzinteresse an der Durchführung des Verfahrens haben; dabei ist gegenüber dem Urteilsverfahren eine "gewisse Großzügigkeit" bei der Bejahung des Rechtsschutzinteresses am Platze, da weniger persönliche Rechtspositionen zu klären sind als betriebsverfassungsrechtliche Fragen kollektiv-rechtlicher Art. Es geht um die Abgrenzung gegenseitiger Korn-

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petenzen im Bereich der Betriebsverfassung21 • Deshalb wird das Hechtsschutzinteresse regelmäßig auch noch bejaht, wenn das konkrete Ereignis zwar inzwischen der Vergangenheit angehört, aber die Wiederherstellung des Betriebsfriedens noch eine gerichtliche Entscheidung erfordert, insbesondere weil die Möglichkeit nicht auszuschließen ist, daß sich ein gleichartiger Vorgang in Zukunft wiederholen wird. Andererseits sind die Arbeitsgerichte auch im Beschlußverfahren nicht dazu da, für die Beteiligten abstrakte Rechtsfragen zu klären bzw. Rechtsgutachten zu erstellen, die keinen konkreten Bezug zum betriebsverfassungsrechtlichen Geschehen (mehr) haben. Die Voraussetzungen des Rechtsschutzinteresses sind wegen des Charakters betriebsverfassungsrechtlicher Streitigkeiten eher zu bejahen als im Zivilprozeß. Über diesen Grundsatz besteht weitgehend Einigkeit22 • Die Schwierigkeiten liegen wie so oft in der Beurteilung des Einzelfalles. Deshalb lassen sich aus der umfangreichen Entscheidungspraxis des Bundesarbeitsgerichts zu Fragen des Rechtsschutzinteresses außer den wiedergegebenen allgemeinen Rechtssätzen keine genaueren, allgemeingültigen Beurteilungsmaßstäbe ableiten. Es ist daher auch verständlich, daß der Gesetzgeber zu dieser Frage geschwiegen hat. 2. Beteiligte

Außerordentlich bedauerlich ist es aber, daß der Kreis der Beteiligten und deren jeweiligen Befugnisse auch nach dem ArbGG 1979 nur sehr verschwommen abgegrenzt werden. Am Gesetzeswortlaut (§ 83 Abs. 3) hat sich gegenüber dem ArbGG 1953 nichts geändert. Dabei spielt die Beteiligtenstellung u. a. für die Frage, wer Rechtsmittel einlegen kann und ob eine Entscheidung rechtskräftig wird, wenn nicht alle Beteiligten gehört worden sind, eine entscheidende Rolle. Hinzu kommt, daß eine Antragsänderung (§ 81 Abs. 3) und eine übereinstimmende Erledigungserklärung (§ 83 a Abs. 3) von der Zustimmung der "übrigen Beteiligten" abhängt. Wer sind im konkreten Fall die "übrigen Beteiligten"? Aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes läßt sich nur entnehmen, daß im Vermittlungsausschuß von Bundestag und Bundesrat§ 83 Abs. 2 Satz 2 wieder gestrichen wurde, der vorsah, daß die Beteiligten als Zeugen vernommen, also auch vereidigt werden konnten. Zur Begründung wurde angegeben, Zeuge könne nur ein am Verfahren nicht beteiligter Dritter sein23 • Daraus ist zu schließen, daß alle Beteiligten nur als Partei vernommen und ggf. vereidigt werden können24 • Aber auch das ist streitig26 • 21 Vgl. eingehend Herschel, BB 77, 1161; Lepke, DB 75, 1938 (1940); Wichmann, ArbuR 74, 10. 22 Vgl. Grunsky, ArbGG, 3. Aufl., § 80 Anm. 20- 22m. w. N. 23 Bundesrat Drucks. 74/79 (Beschluß). u Dütz, RdA 80, 98.

Neuerungen im arbeitsrechtlichen Beschlußverfahren

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Nach§ 83 Abs. 3 sind neben dem Arbeitgeber "die Arbeitnehmer" (in jedem Fall?, wer vertritt sie?) und "die Stellen" zu hören, die u. a. nach dem BetrVG 1972 im einzelnen Fall beteiligt sind. Gemeint ist wohl, daß sich die Beteiligtenstellung für das Beschlußverfahren aus materiellem Betriebsverfassungsrecht ergibt. Damit ist aber nicht viel gewonnen, zumalsich oft erst im Laufe des Verfahrens herausstellt, wessen Rechtsstellung durch die beantragte Entscheidung berührt wird, sei es unmittelbar oder auch nur mittelbar. Neben den übrigen Beteiligten gibt es jedenfalls den Antragsteller, der mit seinem Antrag ein Beschlußverfahren in Gang setzt. Das Gesetz nennt aber nur ausnahmsweise besondere Voraussetzungen für die Antragsbefugnis (vgl. § 19 Abs. 2 BetrVG 1972). Die langjährige Rechtspre, chung des Bundesarbeitsgerichts ging stets, ausgesprochen oder stillschweigend, von der Gleichstellung von Antragsteller und Beteiligtem aus. Hier bahnt sich sowohl in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts wie auch des Bundesverwaltungsgerichts in Personalvertre·· tungssachen ein Wandel an26 • Damit ist aber nicht gesagt, daß die Antragsbefugnis stets der engere Begriff gegenüber der Beteiligungsbefugnis sei. Zwar wird im Regelfall der Kreis der zu Beteiligenden größer sein als der der potentiellen Antragsteller; z. B. ist der Arbeitgeber nach § 83 Abs. 3 immer Beteiligter, auch wenn es um einen Streit zwischen oder innerhalb von Betriebsverfassungsorganen geht, bei dem eine Antragsbefugnis des Arbeitgebers nicht in Betracht kommt. Das muß aber nicht immer so sein, z. B. wenn eine Gewerkschaft einen abgetretenen Anspruch auf Ersatz von Schulungskosten geltend macht (vgl. oben I 1.). Die Gewerkschaft ist zwar antragsberechtigt in diesem Fall, wäre aber mangels Abtretung nicht Beteiligter in einem Beschlußverfahren zwischen Betriebsrat(-smitglied) und Arbeitgeber über die Freistellung bzw. Begleichung von Schulungskosten. Allgemein wird man sagen können, daß eine Antragsbefugnis voraussetzt, daß der Antragsteller vorträgt, unmittelbar in seiner betriebsverfassungsrechtlichen Rechtsposition betroffen zu sein. Er muß eigene, ihm jedenfalls nach seiner Ansicht zustehende Rechte geltend machen. Damit entspricht die Antragsbefugnis im Beschlußverfahren dem sogenannten Prozeßführungsrecht (Sachbefugnis) im Zivilprozeß27• Ob der Antrag begründet ist, ist eine weitere, anschließend zu prüfende Frage. Der Kreis der Beteiligten als der u. U. nur mittelbar Betroffenen wird im allgemeinen weiter zu ziehen sein, wobei die Grenzen fließend sind. 25 Philippsen I Schmidt I Schäfer I Busch, NJW 79, 1335; Wlotzke I Schwedes I Lorenz, § 83 Anm. 8.

28 Vgl. Beschluß des Bundesarbeitsgerichts vom 15. August 1978, AP Nx. 1 zu § 23 BetrVG 1972 und BVerwGE 49, 342. 27 -Dütz, Anm. AP Nr. 1 zu§ 20 BetrVG 1972; Etzel, RdA 74, 215 (224).

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Die umfangreiche Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts läßt keine klare Linie erkennen und kann dies, weil einzelfallbezogen, wohl auch nicht tun. Die Beteiligungsfähigkeit entspricht der Parteifähigkeit im Urteilsverfahren (§ 50 ZPO). Sie kommt auch den in§ 10 genannten "Personen und Stellen" zu. Nicht jeder, der abstrakt gesehen beteiligungsfähig ist, ist aber auch beteiligungsbefugt. Die Beteiligungsbefugnis setzt eine zumindest mittelbare Betroffenheit von der begehrten Entscheidung voraus. Aus Raumgründen ist es nicht möglich, die besonderen Probleme einzelner Gruppen von möglichen Beteiligten, z. B. der Gewerkschaften oder der Einigungsstelle bei Anfechtung ihres Spruches, hier näher zu erörtern28.

28 Eingehend zum Beteiligtenbegriff Dunkl, Der Begriff und die Arten der Beteiligten im arbeitsgerichtliehen Beschlußverfahren, Duncker & Humblot, Berlin 1979; vgl. auch Etzel, a.a.O. und Wichmann, ArbuR 75, 294.

SOZIALPLANZWANGSSCHLICHTUNG UND KONKURSGLÄUBIGERSCHUTZ Von Volk er Beuthien I. Richtigkeitsgewähr durch Abwägungspflicht und paritätische Besetzung der Einigungsstelle In der Sozialplanpraxis werden Sozialpläne zunehmend von der Einigungsstelle1 aufgestellt. Der Spruch der Einigungsstelle ersetzt schuldrechtlich die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat und hat betriebsverfassungsrechtlich die Wirkung einer Betriebsvereinbarung (§ 112 I 3 und 4 BetrVG). Diese rechtliche Zwangseinigung ist für die ihr Unterworfenen nur tragbar, soweit die Einigungsstelle eine inhaltlich ausgewogene Entscheidung trifft. Das Betriebsverfassungsrecht sucht das auf zwei Wegen sicherzustellen, und zwar durch die paritätische Besetzung der Einigungsstelle sowie durch die inhaltliche Entscheidungsbin. dung dieses Zwangsschlichtungsorgans. Formell wird die Richtigkeit des Einigungsstellenspruches dadurch gewährleistet, daß die Einigungsstelle aus der gleichen Anzahl von Beisitzern, die vom Arbeitgeber und Betriebsrat bestellt werden, und einem unparteiischen Vorsitzenden besteht, auf dessen Person sich beide Seiten einigen müssen (§ 77 II 1 BetrVG). Materiell hat die Einigungsstelle im Sozialplan sowohl die sozialen Belange der betroffenen Arbeitnehmer zu berücksichtigen als auch auf die wirtschaftliche Vertretbarkeit ihrer Entscheidung für das Unternehmen zu achten(§ 112 IV 2 BetrVG). Im Unternehmenskonkurs droht diese rechtliche Balance zwischen den Unternehmensinhaberinteressen und den Belangen der Arbeitnehmer mehrfach gestört zu werden. Der Unternehmer hat gemäß § 6 I KO die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Unternehmensvermögen verloren. Er ist daher im Einigungsstellenverfahren weder Be1 Der JubilaT hat diesem Betriebsverfassungsorgan mehrfach sein auf umfassende richterliche Erfahrung gegründetes wissenschaftliches Interesse zugewendet, vor allem in seinem Beitrag über "Rechtliche Konzeption und soziologische Problematik der Einigungsstelle nach dem BetrVG 1972", in Betr. 1973, 76 ff. Sowohl der rechtliche als auch der soziologische Aspekt haben jüngst durch die vieldiskutierten Sozialpläne im Konkurs neue Dimensionen erhalten. Deshalb besteht besonderer Anlaß, ihnen in dieser Festschrift weiter nachzugehen.

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teiligter noch kann er Mitglied einer Einigungsstelle werden. Vielmehr wird er im Einigungsstellenverfahren vom Konkursverwalter vertreten. Dieser ist zwar kraft seines konkursrechtlichen Amtes verpflichtet, die Masse bestmöglich zu verwerten (§ 117 I KO) und insoweit die Eigentümerinteressen zu wahren. Der Konkursverwalter muß ferner die zur Konkurstabelle angemeldeten Gläubigeransprüche prüfen und unberechtigte Ansprüche von der Masse abwehren(§§ 141 ff. KO). Also hat der Konkursverwalter auch einem zu weitgehenden Sozialplanregelungsanspruch der Arbeitnehmer entgegenzutreten. Auch damit dient er dem Eigentümerinteresse. Dennoch ist der Konkursverwalter bei den Soziaiplanverhandlungen in seiner Rolle als Gegenspieler des Betriebsrates überfordert. Ihm persönlich kann es eher gleichgültig sein, wie die Masse im Konflikt der Gläubigerrechte letztlich verteilt wird. Deshalb vermag er dem sozialen Druck der Arbeitnehmer schwerer zu widerstehen als der Eigentümer selbst2 • II. Gläubigerbeteiligung in der Einigungsstelle 1. Scb.wäclle der derzeitigen Gläubigerbeteiligung

Angesichts der Gegenspielerschwäche des Konkursverwalters muß den Unternehmenseignern daran gelegen sein, daß ihre Interessen im Einigungsstellenverfahren über die Mitwirkung des vielfältig interessegebundenen Konkursverwalters hinaus unmittelbar zur Geltung gebracht werden. Eine solche Hilfe kann dem Gemeinschuldner im Verhältnis zu dem Sozialplanregelungsanspruch der Arbeitnehmer von Seiten der Unternehmensgläubiger zuteil werden. Denn die Unternehmenseigner- und die Unternehmensgläubigerinteressen decken sich im Unternehmenskonkurs insofern, als beiden an einem möglichst niedrigen Sozialplan gelegen sein muß. Denn je schmaler der Sozialplan ist, desto mehr Masse steht für die Tilgung der Unternehmensverbindlichkeiten bereit und desto stärker wird der Gemeinschuldner von seinen Schulden (für die er als natürliche Person gemäß § 164 I KO forthaftet) entlastet. Insofern hat der Große Senat des BAG3 in seiner Entscheidung vom 13. 12. 19784 in bezug auf die Abwägungsklausel des § 112 IV 2 BetrVG 2 An dieser tatsächlichen Besorgnis führt auch nicht die juristische Überlegung vorbei, daß der Konkursverwalter in bezug auf den Sozialplan nicht die Eigentümerbelange, sondern die Interessen der Unternehmensgläubiger zu vertreten habe (dazu sogleich näher unten II). Denn, sofern der Konkursverwalter insoweit überhaupt Gläubigerinteressen zu wahren hat, gilt das in bezug auf alle Gläubiger, die Ansprüche an die Konkursmasse stellen können. Dazu aber gehören grundsätzlich auch die Arbeitnehmer mit ihrem Sozial· planregelungsanspruch. s Künftig als GS bezeichnet. 4 Betrieb 1979, 261 ff.

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zu Recht betont, daß im Unternehmenskonkurs die Interessen der Konkursgläubiger funktional an die Stelle der Interessen des Unternehmens (d. h. der im Unternehmen den Arbeitnehmerbelangen gegenüberstehenden Unternehmenseigentümerinteressen) treten6 • Folgerichtig hat der GS auch hervorgehoben, daß der Einigungsstelle mindestens ein Konkursgläubigervertreter angehören müsse und daß der Spruch der Einigungsstelle fehlerhaft sei, wenn an ihm kein Gläubigervertreter mitgewirkt habe6 • Wie aber sieht es mit der Unternehmensgläubigervertretung tatsächlich aus? Die Arbeitsverwaltung als Großgläubiger der ersten Rangklasse des § 61 I Nr. 1 a KO lehnt es durchweg aus "sozialen Gründen" ab, als Gläubigervertreter in der Einigungsstelle mitzuwirken. Auch das Finanzamt(§ 61 I Nr. 2 KO) ist oft ebenfalls wenig geneigt, Vertreter in die Einigungsstelle zu entsenden. Die große Gruppe der einfachen Konkursgläubiger(§ 61 I Nr. 6 KO) schließlich istangesichtsder verbreiteten Massearmut wenig an einem Sitz in der Einigungsstelle interessiert, weil sie meist ohnehin leer ausgehen oder als Großgläubiger darauf sehen, möglichst schnell ihren endgültigen Konkursausfall bestätigt zu bekommen, damit sie ihre Kreditorenversicherung in Anspruch nehmen können! Das nämlich bringt ihnen mehr Geld ein als langwierige Sozialplanverhandlungen, die sich für sie bestenfalls in einer geringfügig verbesserten Konkursquote niederschlagen. Deshalb bleibt dem Konkursverwalter oft notgedrungen nichts anderes übrig, als bestimmte Unternehmensgläubiger zu veranlassen, pro forma als Gläubigervertreter in die Einigungsstelle einzutreten und sich dort ständig durch einen von ihm benannten Fachkollegen vertreten zu lassen. So treten als Gläubigervertreter in der Einigungsstelle de facto vorwiegend auf Konkursverwaltungen spezialisierte Rechtsanwälte auf, und zwar praktisch weithin eigenverantwortlich. Auf diese Weise kommt zwar deren hoher Sachverstand und große Sozialplanerfahrung in der Einigungsstelle zum Tragen. Aber mit einer Gläubigervertretung im ursprünglichen und unmittelbaren Sinne hat dieses Benennungsverfahren von Anwalt zu Anwalt nur noch bedingt zu tun. Die Folge ist, daß sowohl dem persönlichen Schuldenthaftungsinteresse des Gemeinschuldners als auch den wirtschaftlichen Deckungsinteressen der Unternehmensgläubiger oft nicht hinreichend Genüge getan wird. Die Folge ist ferner, daß der Sozialplan letztlich nicht aus der Unternehmenssubstanz, sondern auf Kosten der infolge des Sozialplans ausfallenden Konkursgläubiger der Rangklassen des§ 61 I Nr. 1 und 2 KO gemacht wird. Wirtschaftlich betroffen sind insofern in bezug auf 5 8

Teil II B 6 e der Gründe. Teil II B 6 d der Gründe.

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§ 61 I Nr. 1 a und e KO diejenigen Personen, welche die Bundesanstalt für Arbeit durch Beiträge tragen (d. h. andere Arbeitgeber und betriebsfremde Arbeitnehmer) sowie in bezug auf § 61 I Nr. 2 KO die steuerzahlende Allgemeinheit. Die Sozialplanlast ist indes eine Angelegenheit derer, die sich mit unternehmerischem Risiko an der Privatwirtschaft beteiligen. Deshalb geht es jedenfalls nicht an, die Sozialplankosten über den Ausfall von Steuerforderungen mittelbar der Gesamtheit der Steuerzahler aufzuerlegen. Die Gesamtheit der Arbeitgeber und die Gesamtheit der Arbeitnehmerschaft zu belasten, ist dagegen im Sinne einer allseitigen Insolvenzsicherung der Arbeitnehmer nicht unvernünftig, aber nur dann gerechtfertigt, wenn sich der Sozialplan in Grenzen hält. Insofern aber liegt es in der derzeitigen Sozialplanpraxis im Argen. Denn die Sozialplanleistungen pflegen vielfach weithin nachteilsfrei in nicht selten fünfstelliger Höhe pauschaliert zu werden. Sie drohen dabei über ihren sozialen Hilfszweck hinaus Vermögensumverteilungsdimensionen zu erreichen. Eine Vermögensbeteiligungsfunktion hat aber der Sozialplan nach geltendem Betriebsverfassungsrecht nicht. 2. Wahlrecht der Gläubigerorgane

Die derzeit nicht selten unkontrollierte Sozialplanhöhe rührt daher, daß in der Einigungsstelle gegenwärtig das Gegengewicht der Konkursgläubiger nicht hinreichend gewährleistet ist. Deshalb gilt es, die Vertretung der Konkursgläubiger in der Einigungsstelle institutionell zu verstärken. Das wiederum hat in einer Art und Weise zu geschehen, welche zum Ausdruck bringt, daß der Sozialplan auf die Interessen sämtlicher Konkursgläubiger und nicht nur derjenigen Konkursgläubiger Rücksicht nehmen muß, die ohne den Sozialplan tatsächlich etwas aus der Masse erhalten hätten. Dazu muß dasjenige konkursrechtliche Gremium eingeschaltet werden, in dem sämtliche Konkursgläubiger vertreten sind. Das ist die Gläubigerversammlung {§ 87 II KO). Der Gläubigerversammlung ist also das Recht einzuräumen, Gläubigervertreter für die Mitwirkung in der Einigungsstelle zu wählen. Der Konkursverwalter wiederum muß verpflichtet sein, für die Einigungsstelle nur Gläubigervertreter zu benennen, die von der Gläubigerversammlung dazu ausgewählt worden sind. Soweit die Gläubigerversammlung einen Gläubigerausschuß gewählt hat (§ 87 II 1 KO), könnte auch diesem das Benennungsrecht gegenüber dem Konkursverwalter zustehen; ähnlich wie dieser auch dafür zuständig ist, den vom Konkursverwalter abgeschlossenen Sozialplan entsprechend § 133 Nr. 2 KO zu genehmigen7 • 7 Vgl. BAG (GS) Teil II B 6 c der Gründe. Mißlich an dieser Kompetenzkonzentration auf den Gläubigerausschuß ist freilich, daß die Gläubigerversammlung auf diese Weise allein aus mitbestimmungsrechtliehen (also nicht konkurseigentümlichen) Gründen gezwungen ist, einen Gläubigerausschuß zu bil-

Sozialplanzwangsschlichtung und Konkursgläubigerschutz

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Bleiben freilich Gläubigerausschuß und Gläubigerversammlung untätig, so darf der Konkursverwalter eigenständig Gläubigervertreter auswählen und als Mitglied der Einigungsstelle benennen. 3. Weisungsgebundenheit des Gläubigervertreters?

Der Einfluß der Gläubigergesamtheit auf den Entschei.dungsprozeß in der Einigungsstelle wäre besonders stark, wenn der Gläubigervertreter gegenüber Gläubigerausschuß oder Gläubigerversammlung weisungsgebunden wäre. Indes steht einem solchen Weisungsrecht von Gläubigerausschuß oder Gläubigerversammlung entgegen, daß die Einigungsstelle insgesamt ein eigenverantwortlich entscheidendes Betriebsverfassungsorgan ist. Eigenverantwortlich aber handelt nur, wer weisungsfrei ist, und die Eigenverantwortlichkeit der Einigungsstelle insgesamt ist nur gewährleistet, wenn alle ihre Mitglieder weisungsfrei sind. Da die Gläubigerversammlung unter der Leitung des Konkursgerichts stattfindet (§ 94 I KO), fehlt ihr auch eine gruppenautonome Verwaltungsspitze, die das Weisungsrecht gegenüber dem Gläubigervertreter in der Einigungsstelle ausüben könnte. Und daß sich das Konkursgericht mittels einer Weisung gegenüber einem Einigungsstellenmitglied in das Einigunsstellenverfahren einschaltet, wäre unangebracht. Auch würde sich das Einigungsstellenverfahren verzögern, wenn der Gläubigervertreter bei jeder inhaltlich unvorhergesehenen Abstimmung nähere Weisung von Gläubigerausschuß oder Gläubigerversammlung einholen müßte. Schließlich werden sich Gläubigerausschuß und Gläubigerversammlung, in der Gläubiger mit unterschiedlichsten Interessen vereint sind, sehr vielleichter auf einen Gläubigervertreter als auf bestimmte Weisungsinhalte verständigen können. Nach alledem muß der Gläubigervertreter in der Einigungsstelle weisungsfrei sein. 4. Persönliche Amtshaftung des Gläubigervertreters

Der Gläubigervertreter sollte aber (ähnlich wie der Konkursverwalter nach § 82 KO und wie die Mitglieder des Gläubigerausschusses nach § 89 KO) allen Beteiligten (d. h. dem Gemeinschuldner und den Konkursgläubigern) für die Erfüllung der ihm obliegenden Pflichten in der Einigungsstelle haftungsrechtlich verantwortlich sein. Zur ordnungsgemäßen Erfüllung der ihm zugunsten der Konkursgläubiger obliegenden Interessenwahrnehmungspflicht gehört, daß der Gläubigervertreter die Vorstellungen von Gläubigerausschuß oder Gläubigerversammlung über die Art und den Umfang des Sozialplans in das Einigungsstellenden. Aber daran ist, solange nicht die konkursrechtlichen Befugnisse der Gläubigerversammlung im Rahmen des § 134 KO erweitert werden, nichts zu ändern. 2 Festschrift f. G. Müller

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verfahren einbringt. Zu seinen Pflichten gehört ferner, daß er dort gemäß § 112 IV 2 BetrVG darauf drängt, daß der Sozialplan die wirtschaftliche Vertretbarkeit für den Gemeinschuldner und die Unternehmensgläubiger nicht übersteigt. Auch hat er darauf zu achten, daß der Sozialplan nicht entgegen § 112 I BetrVG Leistungen zum Ausgleich nichtwirtschaftlicher Arbeitnehmernachteile oder gar nachteilsfreie Pauschalleistungen vorsieht.

111. Arbeitsgerichtliche Sozialplankontrolle 1. Art der Ermessenskontrolle

Der Sozialplanspruch der Einigungsstelle ersetzt nach § 112 IV 3 BetrVG die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat. In Fällen, in denen der Spruch der Einigungsstelle die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat ersetzt, faßt die Einigungsstelle ihre Beschlüsse gewöhnlich gemäß § 76 V 3 BetrVG unter angemessener Berücksichtigung der Belange des Betriebs und der betroffenen Arbeitnehmer nach billigem Ermessen. Diese allgemeine Abwägungsklausel des § 76 V 3 BetrVG wird für den Sozialplan durch die besondere Abwägungsklausel des § 112 IV 2 BetrVG ersetzt. Dabei fällt auf, daß in § 112 IV 2 BetrVG im Gegensatz zu § 76 V 3 BetrVG nicht von Billigkeit die Rede ist. Vielmehr hat die Einigungsstelle nach § 112 IV 2 BetrVG, wenn sie einen Sozialplan aufstellt (wie schon oben I gezeigt) sowohl die sozialen Belange der betroffenen Arbeitnehmer zu berücksichtigen als auch auf die wirtschaftliche Vertretbarkeit ihrer Entscheidung für das Unternehmen zu achten. Das bedeutet, daß die Einigungsstelle ihre Sozialplanentscheidung nicht auf Grund allgemeiner Billigkeitserwägungen treffen darf, sondern daß Inhalt und Grenzen ihres Entscheidungsspielraums kraft Gesetzes umschrieben sind, und zwar enger als in§ 76 V 3 BetrVG8 • Entsprechend konkret ist die arbeitsgerichtliche Sozialplankontrolle. Das durch Einspruch angerufene Arbeitsgericht unterzieht die Entscheidung der Einigungsstelle einer umfassenden rechtlichen Überprüfung, und zwar (wie § 76 V 4 BetrVG ausdrücklich klarstellt) grundsätzlich auch das von der Einigungsstelle gemäß § 112 IV 2 BetrVG auszuübende Ermessen. Allerdings können der Arbeitgeber (bzw. im Unternehmenskonkurs der Konkursverwalter) oder der Betriebsrat (wie § 76 V 4 s Anders freilich Fabricius, Betriebsverfassungsgesetz, Gemeinschaftskommentar § 112 Rdn. 84, wonach die Bestimmung des § 76 V 3 BetrVG in § 112 IV 2 BetrVG "inhaltsgleich konkretisiert" sein soll. Auch Dietz I Richardi, Betriebsverfassungsgesetz, Kommentar, 5. Auflage 1973, § 112 Rdn. 68 sehen in der Abwägungsklausel des § 112 IV 2 BetrVG nur "Elemente des billigen Ermessens" nach Art des § 76 V 3 BetrVG.

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BetrVG zugleich anordnet) nur binnen einer Frist von zwei Wochen beim Arbeitsgericht geltend machen, daß die Einigungsstelle ihr Ermessen überschritten hat. Arbeitsgerichtlich überprüfbar ist zudem (wie wiederum§ 76 V 4 BetrVG zeigt) nur die Rechtmäßigkeit, nicht aber die Zweckmäßigkeit des von der Einigungsstelle ausgeübten Ermessens. Damit fragt sich, welche Teile der Abwägungsklausel des § 112 IV 2 BetrVG der arbeitsgerichtlich voll überprüfbaren Rechtsanwendung und welche Teile der arbeitsgerichtlich nur begrenzt überprüfbaren Ermessensausübung der Einigungsstelle zuzuordnen sind. Nichts mit Ermessen haben unbestimmte Rechtsbegriffe zu tun, die im Gegensatz zum Ermessen nicht mehrere, sandem nur eine rechtmäßige Entscheidung gestatten. Solche unbestimmten Rechtsbegriffe enthalten die Tatbestandsmerkmale "wirtschaftliche Vertretbarkeit für das Untemehmen" und "soziale Belange der betroffenen Arbeitnehmer" 9 • Sie gestatten der Einigungsstelle zwar einen verhältnismäßig weiten Beurteilungsspielraum, aber keine Ermessensfreiheit. Deshalb steht es nicht etwa im Belieben der Einigungsstelle festzulegen, was ein "wirtschaftlicher Nachteil" der Arbeitnehmer im Sinne des § 112 I 2 BetrVG ist. Es steht ihr ferner nicht frei, etwa im Sozialplan auch eine Entschädigung für vom Arbeitnehmer eingesetztes nichtwirtschaftliches "Humankapital" vorzusehen 1'0 , Was überhaupt ein "Nachteil" ist und welcher "Nachteil" im Sinne des § 112 I 2 BetrVG "wirtschaftlich" ist, ist objektiv feststellbar und nicht lediglich subjektiv zu bewerten. Auch was "soziale Belange der betroffenen Arbeitnehmer" im Sinne des§ 112 IV 2 BetrVG sind, ist eine Frage der 9 Zutreffend Gerhard Müller (oben Fn. 1), S. 78. Dabei bleibt freilich offen, ob es sich im Sinne der Entscheidung des Gemeinsamen Senates der obersten Gerichtshöfe des Bundes zu § 131 I 1 AO a. F. (BGHZ 58, 399 = JZ 1972, 655) um "eine Koppelung zwischen unbestimmtem Rechtsbegriff und (sich daran anschließender) Ermessensausübung" oder um die "Ermächtigung zu einer Ermessensausübung handelt, die sich an (vorgeschalteten) unbestimmten Rechtsbegriffen zu orientieren hat". Für die Deutung der §§ 76 V 3 und 112 IV 2 BetrVG im letzteren Sinne offenbar Dütz (Zwangsschlichtung im Betrieb, Kompetenz und Funktion der Einigungsstelle nach dem BetrVG 1972, Betr. 1972, 383 [389] sowie ausdrücklich Fabricius [GK-BetrVG § 76 Rdn. 111 u. § 112 Rdn. 90]). Das trifft indes jedenfalls für § 112 IV 2 BetrVG nicht zu. Denn hier geht es für den Unternehmer um Entscheidungen von ganz besonderer wirtschaftlicher Tragweite, die eine entsprechend weitgehende (d. h. möglichst umfassende) gerichtliche Rechtskontrolle erfordern. Dafür spricht auch, daß die auf ausschließliche Ermessensausübung hindeutenden Worte "nach billigem Ermessen" in § 112 IV 2 BetrVG fehlen. Schließlich bleibt in § 112 IV 2 BetrVG (wie sogleich zu zeigen sein wird) nach der Ausfüllung der unbestimmten Rechtsbegriffe (soziale Belange und wirtschaftliche Vertretbarkeit) genügend Raum für ein Ausübungsermessen. Darin liegt der entscheidende Unterschied zwischen § 131 I 1 AO a. F. (wo es nur um die 'fatbestandsmerkmale "unbillig" und "absehen können" ging) und § 112 IV 2 BetrVG. 10 Dazu Dorndorf, Sozialplan im Konkurs, 1978, S. 12 ff. Dagegen Beuthien, Sozialplan und Unternehmensverschuldung, Schriftenreihe "Der Betrieb", 1980, s. 27 ff.

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objektiven FeststelLung, nicht lediglich der subjektiven Überzeugung der Einigungsstelle. Der Sache nach geht es dabei um die Frage, welche grundsätzlich im Sinne des § 112 I 2 BetrVG ausgleichsberechtigten wirtschaftlichen Arbeitnehmernachteile innerhalb dieses Betriebes sozial ausgleichswürdig sind. Beim Tatbestandsmerkmal "wirtschaftlich vertretbar" fragt sich dann, welche grundsätzlich sozial ausgleichswürdigen Arbeitnehmernachteile innerhalb der Wirtschaftlichkeitsgrenzen des Unternehmens ausgeglichen werden können, d. h. welche Mittel innerhalb der Wirtschaftlichkeitsgrenzen des Unternehmens überhaupt für einen Sozialplan zur Verfügung stehen könnten. Um Ermessen geht es erst bei der Frage wieviel von diesen höchstens zur Verfügung stehenden Mitteln in Abwägung des sozialen Gewichts der Arbeitnehmernachteile und des Finanzbedarfs der unternehmerischenPlanung (insbesondere in bezug auflnvestitionen) vom Arbeitgeber letztlich für einen Sozialplan bereitzustellen ist. Innerhalb der gesetzlichen Abwägungsklausel des§ 112 IV 2 BetrVG sind der Ermessensausübung der Einigungsstelle also nur die Worte "sowohl- als auch zu berücksichtigen" zugänglich. Ermessensfreiheit genießt die Einigungsstelle mithin nur bezüglich der Frage, wie sie die grundsätzlich ausgleichswürdigen sozialen Belange der betroffenen Arbeitnehmer zur Finanzkraft des Unternehmens ins Verhältnis setzen soll. Das wiederum bedeutet für die umstrittenen Sozialpläne im Konkurs: Ob und inwieweit für das in Konkurs geratene Unternehmen angesichts seiner Verschuldung Sozialplanleistungen überhaupt noch wirtschaftlich vertretbar sind, ist eine bereits anhand des unbestimmten Rechtsbegriffes "wirtschaftliche Vertretbarkeit für das Unternehmen" zu entscheidende und der vollen rechtlichen Nachprüfung vonseitender Arbeitsgerichte unterliegende Rechtsfrage und keine tatsächliche Ermessensentscheidung der Einigungsstelle! Das gilt entsprechend für das vom GS an die Stelle des gesetzlichen Tatbestandsmerkmals "wirtschaftliche Vertretbarkeit für das Unternehmen" gesetzte Richterrechtsmerkmal "Rücksicht auf die Interessen der Konkursgläubiger". Für Ermessen im Sinne der wechselseitigen Abwägung der wirtschaftlichen Deckungsinteressen der Konkursgläubiger und der sozialen Ausgleichsbelange der Arbeitnehmer ist erst an zweiter Stelle Raum. In diesem Bereich aber geht es nicht mehr um eine wie auch immer geartete Rücksicht der Arbeitnehmer gegenüber den Konkursgläubigern, sondern um die subjektiv-vernünftige (d. h. nach Überzeugung der Einigungsstelle möglichst sachgerechte) Zuweisung der grundsätzlich (d. h. bis zur Grenze des wirtschaftlich Unvertretbaren) für einen Sozialplan verfügbaren Mittel an die Konkursgläubiger einerseits und die Arbeitnehmer andererseits. Dabei kann hier die wirtschaftlich-soziale Ermessensentscheidung der Einigungsstelle im Einzelfall dahin ausfallen, daß sämtliche innerhalb der wirtschaft-

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liehen Vertretbarkeit verfügbaren Mittel für Sozialplanleistungen an die sozial als besonders schutzwürdig angesehenen Arbeitnehmer verwendet werden sollen, die Gläubigerinteressen also zurückzutreten haben. 2. Begründung des Einigungsstellenspruclles?

Die arbeitsgerichtliche Sozialplankontrolle ist desto wirksamer, je deutlicher der angefochtene Beschluß die Gründe erkennen läßt, von denen sich die Einigungsstelle bei der Ausfüllung der ihr gemäß § 112 IV 2 BetrVG zustehenden Beurteilungs- und Ermessensspielräume hat leiten lassen. Deshalb liegt es nahe, daß die Einigungsstelle ihre Soziaiplanbeschlüsse zu begründen hat, und zwar im Interesse der Beweissicherung möglichst schriftlich. Dennoch bestimmt § 76 III 3 BetrVG lediglich, daß die Beschlüsse der Einigungsstelle schriftlich niederzulegen und vom Vorsitzenden zu unterschreiben sind. Daß sie auch mit einer Begründung versehen werden müßten, sieht das Gesetz dagegen nicht ausdrücklich vor. Jedoch folgt allein daraus noch nicht, daß eine solche Begründung (wie kürzlich das BAG gemeint hat) 11 verfahrensrechtlich entbehrlich sei. Vielmehr könnte sich aus allgemeinen Grundsätzen ergeben, daß die Einigungsstelle wenigstens ihre Sozialplanentscheidungen zu begründen hat. Diese Ansicht hat jüngst das Arbeitsgericht Hamburg12 vertreten und wie folgt begründet: Es sei nicht die Aufgabe der Einigungsstelle, über zwei bereits vor der Sitzung formulierte, meist gegensätzliche Anträge der Arbeitgeberseite und der Arbeitnehmerseite abzustimmen. Der unparteiische Vorsitzende könne und solle sich nicht lediglich dahin entscheiden, einem der beiden Anträge seine Zustimmung zu geben. Vielmehr müsse sich die Einigungsstelle der übernommenen Aufgabe stellen, einen Sozialplan zu machen, der sowohl die sozialen Belange der Arbeitnehmer berücksichtige als auch auf die wirtschaftliche Vertretbarkeit für das Unternehmen achte. Die Einigungsstelle könne aber ihren Sozialplan schlechterdings nur dann als in dem aufgezeigten Rahmen nach billigem Ermessen entschieden bezeichnen, wenn sie ihre Erwägungen auch kundtue. Ob dieses Kundtun im Anschluß an den Spruch der Einigungsstelle mündlich in Gegenwart der Beteiligten oder anläßlich der Zustellung der Entscheidung schriftlich geschehe, möge die Einigungsstelle für sich entscheiden. Es gehe aber nicht an, die am Einigungsstellenverfahren Beteiligten praktisch darauf zu verweisen, durch die Befragung der Einigungsstellenmitglieder herauszubekommen, welche Erwägungen angestellt und warum welche Maßstäbe angewendet worden seien, damit sie überhaupt darlegen könnten, daß die Einigungsstelle ihr Ermessen überschritten habe. Ebenso sei zu vermeiden, daß die am Zwangseinigungsverfahren Beteiligten die Ermessensüberschreitung einfach durch Vermutungen dartun könnten, obwohl sie lediglich nicht mit dem Ergebnis des Einigungsstellenspruches einverstanden seien. 11 12

Betr. 1980, 548 (549). Beschluß vom 23. 1. 1980-9 Bv 7/79; Betr. 1980, 884.

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Diese Erwägungen klingen beachtlich. Dennoch ist zweifelhaft, inwieweit sie rechtlich stichhaltig sind. Für die Pflicht der Einigungsstelle, jedenfalls ihre Sozialplanentscheidungen zu begründen, könnte sprechen, daß der Einigungsstellenspruch in der Wirkung einem belastenden Verwaltungsakt gleichkommt und daß schriftliche Verwaltungsakte nach § 39 I 1 VwVerfG schriftlich zu begründen sind. Dabei sind in der Begründung die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe mitzuteilen, welche die Behörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben (§ 39 I 2 VwVerfG). Die Begründung von Ermessensentscheidungen soll auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist(§ 39 I 3 VwVerfG). Entsprechend könnte angesichts der in § 112 IV 2 BetrVG enthaltenen Beurteilungs- und Ermessensspielräume auch bei der im Zwangsschlichtungsverfahren von der Einigungsstelle zu treffenden Sozialplanentscheidung zu verfahren sein13 • Jedoch ist die Einigungsstelle weder eine Verwaltungsbehörde noch ein sonstiger mit hoheitlicher Gewalt beliehener Entscheidungsträger. Vielmehr ist sie ein privatrechtlich verfaßtes Betriebsverfassungsorgan, dessen Entscheidungen nicht die Qualität von Verwaltungsakten haben14• Deshalb ist§ 39 I VwVerfG eindeutig nicht unmittelbar anwendbar. In Betracht kommt freilich die analoge Anwendung dieser Vorschrift oder der Rückgriff auf allgemeine Rechtsprinzipien, die in dieser Norm zum Ausdruck kommen. Bei einer Analogie müßte der Normzweck des § 39 I VwVerfG auch im Rahmen des § 112 BetrVG passen und die jeweils zu bewertende Interessenlage müßte gleich sein. Die Regelung des § 39 I VwVerfG geht in ihrem Grundgedanken auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts15 zurück. Danach entspricht es rechtsstaatlichen Grundsätzen, daß der Staatsbürger, in dessen Rechte eingegriffen wird, einen Anspruch darauf hat, die Gründe des Eingreifens zu erfahren. Nur dann vermag er seine Rechte sachgemäß zu verteidigen1e und ist nicht gezwungen, Rechtsmittel auf Verdacht einzulegen. Das gilt insbesondere, wenn die getroffene Entscheidung wie bei § 112 IV 2 BetrVG auf unbestimmten Rechtsbegriffen und auf Ermessensausübung beruhtl 7 • Auch im verwaltungsrechtlichen Schrifttum wird § 39 I 13 Für eine solche Begründungspflicht der Einigungsstelle in Regelungsfragen Fabricius, GK-BetrVG § 76 Rdn. 86. 14 So freilich Obermayer, Verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Regierungsentwurf eines Betriebsverfassungsgesetzes, Betr. 1971, 1715 (1720). Dagegen zu Recht Dietz I Richardi, § 76 Rdn. 22 m. w. N. 1s BVerfGE 6, 32 (44). 16 Im einzelnen dazu Stelkens I Bonk I Leonhardt, Kommentar zum Verwaltungsverfahrensgesetz, 1978, § 39 Rdn. 3 unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien. 17 Aufschlußreich ist insoweit, daß die herrschende Verwaltungsrechtslehre schon vor Erlaß des § 39 VwVerfG jedenfalls begründungslose Ermessensent-

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VwVerfG auf Verfassungsgrundsätze zurückgeführt, so auf den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, auf den Anspruch auf rechtliches Gehör und auf Art. 19 IV GG 18• Indes ist für das verwaltungsbehördliche Verfahren kennzeichnend, daß der betroffene Staatsbürger der Verwaltungsbehörde als Außenstehender gegenübersteht. Das ist im Verhältnis des Unternehmers zur Einigungsstelle nicht, jedenfalls nicht in gleicher Weise der Fall. Vielmehr wird der Unternehmer außerhalb des Unternehmenskonkurses in der Einigungsstelle (also im Entscheidungsträger selbst!) durch die von ihm gemäß § 76 II 1 BetrVG zu bestellenden Vertreter repräsentiert. Diese üben zwar ihr betriebsverfassungsrechtliches Amt in fremdem Interesse, aber letztlich eigenverantwortlich aus; sie unterliegen daher in bezug auf ihre Tätigkeit in der Einigungsstelle nicht den Weisungen des Unternehmers19 • Sie sind aber andererseits gegenüber dem sie entsendenden Unternehmer nicht zur Verschwiegenheit verpflichtet. Vielmehr müssen sie diesem alle gewünschten Auskünfte über Gang und Inhalt des Einigungsstellenverfahrens (insbesondere auch über die tragenden Gründe der Entscheidungen, welche die Einigungsstelle innerhalb der ihr zustehenden Beurteilungs- und Ermessensspielräume trifft) geben. Und sie müssen sich auf Wunsch mit dem Unternehmer beraten. In aller Regel werden sie sich dabei dessen Anregungen beugen. Der Unternehmer hat also (anders als der Staatsbürger im Verwaltungsverfahren) wirksame tatsächliche Informations- und Einflußmöglichkeiten. Deshalb ist die Begründung von Entscheidungen der Einigungsstelle nicht so unabweisbar dringend wie bei verwaltungsbehördlichen Entscheidungen. Im Unternehmenskonkurs wird das Informationsinteresse des Unternehmer-Gemeinschuldners vom Konkursverwalter wahrgenommen(§ 6 II KO). Mit dieser konkursrechtlichen Interessenvertretung muß sich der Gemeinschuldner wie auch sonst begnügen. Schwerer könnte freilich das persönliche Informationsinteresse der Konkursgläubiger wiegen, weil sich deren Interesse nicht vollends mit denen des Gemeinschuldners decken. So hat etwa eine in Konkurs geratene juristische Person zwar rechtlich ein Interesse daran, nicht noch durch zusätzliche Sozialplanscheidungen, bei denen die Motive der Behörde eine wesentliche Rolle spielen, für fehlerhaft gehalten hat (Nachweise bei Schick, Notwendigkeit und Funktion der Begründung von Verwaltungsakten, JuS 1971, 1 ff. in Fn. 25). 1s Schick, JuS 1971, 1 ff. Weitere Nachweise bei Stelkens I Bonk I Leonhardt, a.a.O. 19 So Fabricius, GK-BetrVG § 76 Rdn. 58 im Anschluß an Leipold, Die Einigungsstelle nach dem neuen Betriebsverfassungsgesetz, Festschrift Schnorr v. Carolsfeld, 1973, S. 277. Völlig eindeutig ist die Rechtslage freilich insoweit nicht. Denn, wenn sich der Unternehmer selbst zum Mitglied der Einigungsstelle benennen darf, so trägt ein Weisungsrecht des Unternehmers gegenüber dem von ihm benannten Vertreter nicht mehr Streit in die Einigungsstelle hinein als die Mitwirkung des Unternehmers selbst.

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schulden belastet zu werden. Aber tatsächlich wird diese Sorge, weil die juristische Person durch den Konkurs aufgelöst wird (§§ 60 I Nr. 4 GmbHG; 62 I Nr. 2 AktG; 101 GenG) nicht so stark ins Gewicht fallen wie das Bemühen nächstrangiger Konkursgläubiger, noch etwas aus der Konkursmasse zu erhalten. Aber auch die Konkursgläubiger sind in der Einigungsstelle (gemäß der Rechtsprechung des GS) mit mindestens einem Gläubigervertreter vertreten. Sieht man diesen als gegenüber der Gläubigerversammlung auskunftspflichtig an20, so besteht auch für die Konkursgläubiger die Möglichkeit, sich über die tragenden Gründe von Sprüchen der Einigungsstelle zu unterrichten. Zwar sind die Informationen, die sie auf diese Weise erlangen, nur mittelbar und nicht so verläßlich wie eine amtliche Begründung der Einigungsstelle selbst. Aber sie gehen doch deutlich über die Informationsgrenzen hinaus, denen sich ein Staatsbürger als Außenstehender im Verhältnis zur Verwaltungsbehörde gegenübersieht. Den Konkursgläubigern kommt auch zur Hilfe, daß das Arbeitsgericht den Sachverhalt im Beschlußverfahren im Rahmen der gestellten Anträge von Amts wegen erforscht(§ 83 I 1 ArbGG) und die Einigungsstelle vor der Kammer mündlich zu hören hat (§ 83 111 ArbGG). Dabei kommt dann auch der Gläubigervertreter als Mitglied der Einigungsstelle zu Gehör. Deshalb liegen die Voraussetzungen einer Analogie zu§ 39 I VwVerfG nicht vor. Aus denselben Gründen dürfte auch der unmittelbare Rückgriff auf den Grundsatz des rechtlichen Gehörs und die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG, die im Verwaltungsrecht als Grundlage des Begründungszwanges herangezogen werden21, kaum weiterführen. Andererseits läßt sich die Pflicht der Einigungsstelle, ihre Entscheidungen zu begründen, schwerlich damit abtun, daß das Fehlen einer schriftlichen Begründung die arbeitsgerichtliche Nachprüfung nicht unmöglich mache und daß es letztlich auf den sachlichen Inhalt des Spruches der Einigungsstelle ankomme22 • Denn, wenn das richtig wäre, so könnte man die Notwendigkeit von Entscheidungsbegründungen allgemein leugnen. Vielmehr geht es gerade darum, dem Betroffenen mittels der Entscheidungsbegründung den sachlichen Entscheidungsinhalt zu verdeutlichen und ihm Ansätze für eine etwaige Entscheidungskritik zu liefern. Das gilt insbesondere für so komplexe Entscheidungen wie einen Sozialplanausspruch der Einigungsstelle. Immerhin räumt auch das BAG-23 ein, daß Sozialpläne der Einigungsstelle im Interesse eines wirksamen Rechtsschutzes (insbesondere zur Vorbereitung und Durchführung des Rechtsmittels gemäß § 76 V 3 BetrVG) grundsätzlich begründungs20 21

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Siehe oben I. Im einzelnen dazu Schick, JuS 1971, 1 (3) m. w. N. So ausdrücklich BAG, Betr. 1980, 548 (549); oben Fn. 11. Oben Fn. 11.

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bedürftig sind24 und daß das Fehlen einer Begründung die arbeitsgerichtliche Nachprüfung von Sprüchen der Einigungsstelle erschwert. Zur Gewährleistung rechtlichen Gehörs zählt aber gerade, daß Erschwernisse der richterlichen Entscheidungskontrolle abgebaut werden. Deshalb enthält§ 76 III 3 BetrVG insoweit eine rechtspolitische Lücke. Diese Regelungslücke sollte dahin geschlossen werden, daß die Einigungsstelle zumindest ihre Sozialplanentscheidungen auf Wunsch eines der Verfahrensbeteiligten (Unternehmer bzw. Konkursverwalter und Betriebsrat) schriftlich zu begründen hat. Im Unternehmenskonkurs sollte der Konkursverwalter verpflichtet sein, eine solche Sozialplanbegründung jedenfalls dann zu fordern, wenn Gläubigerversammlung oder Gläubigerausschuß dies mehrheitlich verlangen. Für eine solche Begründungspflicht der Einigungsstelle spricht vor allem auch, daß die Begründung dazu dient, den oder die Betroffenen von der Richtigkeit der Entscheidung zu überzeugen und damit die Entscheidung zusätzlich durch Konsens zu legitimieren25 • Das gilt vor allem im Betriebsverfassungsrecht, zu dessen obersten Grundsätzen es gehört, daß das wechselseitige Vertrauen der betrieblichen Partner und der Betriebsfrieden gewahrt bleiben(§§ 2 I, 74 II 2 BetrVG). In jedem Fall ist das Fehlen der Sozialplanbegründung ein Indiz dafür, daß die Einigungsstelle die ihr kraft Gesetzes (§ 112 IV 2 BetrVG) obliegende Pflicht zu Ermessensausübung nicht oder nicht ordnungsgemäß wahrgenommen hat. Eine Ermessensüberschreitung im Sinne des§ 76 V 3 BetrVG ist auch der Nichtgebrauch des Ermessens. In der verwaltungsrechtlichen Terminologie wird zwar zwischen Nichtgebrauch, Überschreitung und Mißbrauch des Ermessens unterschieden (vgl. § 114 VwGO). Es gibt aber keinen sachlich einleuchtenden Gesichtspunkt, der es erklären und rechtfertigen könnte, die arbeitsgerichtliche Ermessenskontrolle von Sprüchen der Einigungsstelle auf eine bestimmte Ermessensfehlerart zu beschränken. Deshalb sind die Worte "Überschreitung der Grenzen des Ermessens" in§ 76 V 3 BetrVG untechnisch zu verstehen26 • In diesem Sinne liegt ein Ermessensfehler vor, wenn in der Einigungsstelle ohne nähere Debatte abgestimmt wird oder wenn in dem Sozial24 Dieser Begründungsbedürftigkeit steht nicht entgegen, daß die Sprüche der Einigungsstelle Vergleichscharakter haben. Gewiß gehört es zur Eigenart eines Prozeßvergleichs, daß er das Verfahren als in sich selbst ruhende Entscheidung befriedend abschließen soll und deshalb keiner Begründung bedarf. Aber der Sozialplanzwangsspruch der Einigungsstelle ist im Gegensatz zum Prozeßvergleich gerichtlich anfechtbar(§ 76 III 3 BetrVG)! 25 Vgl. Ule-Laubinger, Verwaltungsverfahrensrecht, 2. Auflage 1979, S. 6 in bezugauf die Begründung von Verwaltungsakten. Auch das BAG (oben Fn. 11) erwähnt diesen Gesichtspunkt. u Im Ergebnis ebenso Fabricius, GK-BetrVG § 76 Rdn. 108. Zur Anwendbarkeit der verwaltungsrechtlichen Ermessenslehre im Privatrecht im einzelnen Dütz, Rechtsstaatlicher Gerichtsschutz im Privatrecht, 1970, S. 215.

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plan ohne eingehende Berücksichtigung der betrieblichen Besonderheiten standardisierte Pauschalen eingesetzt werden. 3. Einspruchsrecht der Konkursgläubiger?

Bei Unternehmenskonkurs fragt sich, wer anstelle des Arbeitgebers, der gemäߧ 6 I KO im Hinblick auf alle massebezüglichen Rechtshandlungen entmachtet ist, Einspruch einlegen darf. Einspruchsberechtigt ist sicher der Konkursverwalter als betriebsverfassungsrechtlicher Funktionsnachfolger des Arbeitgebers. Wie aber, wenn dieser zur Enttäuschung der Konkursgläubiger keinen Einspruch einlegt? Vermögen die Konkursgläubiger dann selbst das arbeitsgerichtliche Kontrollverfahren auszulösen? Indes untersteht der Konkursverwalter lediglich der Aufsicht des Konkursgerichts (§ 83 KO): Den Konkursgläubigern und deren konkursrechtlichen Selbstverwaltungsorganen gegenüber ist der Konkursverwalter grundsätzlich weisungsfrei, mag er auch zu bestimmten Geschäften der Genehmigung von Gläubigerausschuß oder Gläubigerversammiuhg bedürfen(§§ 129 II 2, 132 -134 KO). Deshalb können weder die Gläubigerversammlung noch der Gläubigerausschuß noch einzelne Konkursgläubiger den Konkursverwalter dazu zwingen, gemäß §76V 4 BetrVG das arbeitsgerichtliche Beschlußverfahren gegen einen ihrer Ansicht nach überhöhten Sozialplan einzuleiten. Deshalb bleibt zu fragen, ob nicht der Gläubigerausschuß, die Gläubigerversammlung oder einzelne Konkursgläubiger im Auftrag von Gläubigerausschuß oder Gläubigerversammlung unmittelbar beim Arbeitsgericht Einspruch gegen den Sozialplananspruch der Einigungsstelle erheben dürfen. Dafür könnte sprechen, daß nach Ansicht des GS27 im Konkursfall an die Stelle der Interessen des Unternehmens die der Konkursgläubiger treten, und daß der GS es nicht für ausreichend gehalten hat, wenn die Konkursgläubiger im Einigungsstellenverfahren durch den Konkursverwalter vertreten werden, sondern dort ausdrücklich eigenständige Konkursgläubigervertreter in der Einigungsstelle selbst gefordert hat28 • Denn, wenn die Konkursgläubiger im Einigungsstellenverfahren verfahrensrechtlich zu beteiligen sind, so müßten sie folgerichtig auch selbst Zugang zum arbeitsgerichtliehen Beschlußverfahren haben. Aber dem stehen entscheidende verfahrensrechtliche Hindernisse entgegen. Weder die Gläubigerversammlung noch der Gläubigerausschluß ist parteifähig. Die Gläubigerversammlung wird zudem vom Konkursgericht geleitet (§ 94 KO); sie hat also von Rechts wegen schon keine gruppenautonome Verwaltungsspitze, die dazu fähig und befugt wäre, arbeitsgerichtliche 27 2B

Teil II B 6 e der Gründe. Teil II B 6 d der Gründe.

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Rechtsbehelfe für die Konkursgläubigergesamtheit einzulegen. Auch für den Gläubigerausschuß sieht die Konkursordnung keine besondere Organisation vor, so daß auch hier von Rechts wegen die einspruchsfähige und einspruchsbefugte Verwaltungsspitze fehlt. Die einzelnen Konkursgläubiger wiederum sind zwar parteifähig, aber sie haben grundsätzlich keine stellvertretungsrechtliche Legitimation, für die Gesamtheit der Konkursgläubiger zu handeln. Ihnen eine solche Legitimation konkursrechtlich zu verleihen, wäre unangebracht, weil die Konkursgläubiger wegen der Rangklassen des§ 61 I KO nicht in gleicher Weise am Einspruch gegen den Sozialplan der Einigungsstelle interessiert sind. So bliebe als letzte Möglichkeit, daß sich die Konkursgläubiger außerhalb der derzeitigen konkursrechtlichen Regelungen als nichtrechtsfähiger Verein organisieren und als solcher Einspruch einlegen. Jedoch ist eine solche Vereinsgründung umständlich; die prozeßrechtliche Bewegungsfreiheit eines solchen Rechtschutzvereins ist wegen der bekannten Schwierigkeiten aus § 253 ZPO i. V. m. §§ 80 II, 46 II ArbGG (fehlender Gesamtname) begrenzt. Vor allem würde einem solchen nichtrechtsfähigen "Prozeßverein" immer schon dann die erforderliche Gesamtlegitimation fehlen, wenn auch nur ein einzelner Konkursgläubiger nicht beitritt oder später austritt. Ein arbeitsgerichtliches Einspruchsrecht einzelner Konkursgläubiger oder Konkursgläubigergruppen aber kommt (wie gezeigt) nicht in Betracht. Daran wird praktisch auch scheitern, daß sich die Konkursgläubiger im arbeitsgerichtliehen Beschlußverfahren im Wege der gewillkürten Prozeßstandschaft durch einen einzelnen Konkursgläubiger vertreten lassen. Insgesamt zeigt sich also, daß die verfahrensrechtlichen Möglichkeiten der Konkursgläubiger, die arbeitgerichtliche Sozialplankontrolle auszulösen, nach geltendem Recht äußerst begrenzt sind und daß sich diese verfahrensrechtlichen Zugangsschranken auch künftig nur unvollkommen beseitigen lassen. Um so dringlicher ist es, den Konkursgläubigerschutz materiellrechtlich zu verstärken. IV. Konkursgläubigerschutz durch betriebsverfassungsrechtliche Rechtsfortbildung Materiellrechtlich läßt sich die vom GS geforderte "Rücksicht auf Dritte" (insbesondere auf die Konkursgläubigerinteressen) am wirksamsten durch die Entwicklung sachlicher Bewertungskriterien und Höchstgrenzen innerhalb des§ 112 IV 2 BetrVG gewährleisten. Gewiß werden die zu entscheidenden Einzelfälle durchweg verschieden liegen. Dennoch wäre vor allem ein Katalog ausgleichswürdiger Arbeitnehmernachteile, verbunden mit einer Regelstaffel von Grund-, Steigerungs- und Höchstbeträgen, die grundsätzlich im Sozialplan für die einzelnen typisierten

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Arbeitnehmernachteile auszuwerfen sind, hilfreich29 • Solche Maßstäbe ließen sich am besten in Betriebsvereinbarungen sowie in Rahmentarifverträgen entwickeln, an denen sich dann wiederum eigenverantwortlich die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung ausrichten könnte. Was den Sozialplangesamtumfang angeht, so könnte der Konkursgläubigerschutz wirksam durch konkurseigentümliche Sozialplanhöchstgrenzen verstärkt werden. Sozialplanhöchstgrenzen sind zwar, solange das sozialplanpflichtige Unternehmen wirtschaftlich gesund ist, unangebracht. Denn dann sollte den Arbeitnehmern die Chance erhalten bleiben, ihrer betrieblichen Leistung entsprechend an höheren Sozialplanleistungen teilzuhaben. Eine solche Chance besteht aber bei Unternehmensverschuldung nicht. Denn man kann schwerlich Gründe und Maßstäbe dafür entwickeln, daß die Gläubiger eines verschuldeten Unternehmens stärker hinter den sozialen Belangen der Arbeitnehmer zurücktreten müssen als die Gläubiger anderer verschuldeter Unternehmen. Vielmehr ist die Sozialwertung gegenüber den Unternehmensgläubigern in allen verschuldeten Unternehmen gleich. Daher ist für den Fall der Unternehmensverschuldung eine zwingende gesetzliche Sozialplanhöchstgrenze sinnvoll. Sie könnte etwa in folgenden §§ 112 IV 3 BetrVG n. F. eingehen: "Bei Unternehmensinsolvenz darf der Sozialplan für jeden einzelnen Arbeitnehmer nur Leistungen bis zur Höhe von drei Monatsbezügen vorsehen." Das gegenwärtige verfahrensrechtliche Rechtsschutzdefizit der Konkursgläubiger im Sozialplanzwangsschlichtungsverfahren und im arbeitsgerichtliehen Beschlußverfahren wäre dann weithin schon betriebsverfassungsrechtlich überwunden. V. Zusammenfassung 1. Die Vertretung der Konkursgläubiger in der Einigungsstelle ist institutionell zu verstärken. Dazu ist der Gläubigerversammlung das Recht einzuräumen, Gläubigervertreter für die Mitwirkung in der Einigungsstelle zu wählen. Der Konkursverwalter wiederum muß verpflichtet sein, für die Einigungsstelle nur Gläubigervertreter zu benennen, die von der Gläubigerversammlung dazu ausgewählt worden sind.

2. Ein Weisungsrecht von Gläubigerversammlung oder Gläubigerausschuß gegenüber dem Gläubigervertreter in der Einigungsstelle besteht nicht. Es wäre auch nicht sinnvoll. Der Gläubigervertreter sollte freilich allen am Konkursverfahren Beteiligten (d. h. dem Gemeinschuldner und den Konkursgläubigern) für die Erfüllung der ihm obliegenden Pflichten in der Einigungsstelle haftungsrechtlich verantwortlich sein. 29 Zur praktischen Notwendigkeit und grundsätzlichen Möglichkeit solcher Typisierungen Gerhard Müller (oben Fn. 1), S. 78/79.

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3. Die Abwägungsklausel des § 112 IV 2 BetrVG ist gegenüber § 7ö V 3 BetrVG die besondere und engere Regelung. Die Einigungsstelle darf ihre Sozialplanentscheidung nicht aufgrund allgemeiner Billigkeitserwägungen treffen. Vielmehr sind Inhalt und Grenzen ihres Entscheidungsspielraums durch § 112 IV 2 BetrVG gesetzlich umschrieben. Die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale "wirtschaftliche Vertretbarkeit für das Unternehmen" und "soziale Belange der betroffenen Arbeitnehmer" enthalten unbestimmte Rechtsbegriffe. Insoweit steht der Einigungsstelle zwar ein verhältnismäßig weiter Beurteilungsspielraum, aber keine Ermessensfreiheit zu. Der Ermessensausübung der Einigungsstelle sind im Tatbestand des§ 112 IV 2 BetrVG nur die Worte "sowohlals auch zu berücksichtigen" zugänglich. Ob und inwieweit für ein in Konkurs geratenes Unternehmen angesichtsseiner Verschuldung überhaupt noch Sozialplanleistungen i. S. des § 112 IV 2 BetrVG wirtschaftlich vertretbar sind, ist daher schon eine anband des unbestimmten Rechtsbegriffes "wirtschaftliche Vertretbarkeit für das Unternehmen" zu entscheidende und der vollen rechtlichen Nachprüfung von Seiten der Arbeitsgerichte unterliegende Rechtsfrage und keine recht1ich nur begrenzt überprüfbare tatsächliche Ermessensentscheidung der Einigungsstelle. 4. Die Einigungsstelle ist nach geltendem Betriebsverfassungsrecht nicht verpflichtet, ihre Entscheidungen zu begründen.§ 76 III 3 BetrVG enthält insoweit eine rechtspolitische Lücke. Diese sollte dahin geschlossen werden, daß die Einigungsstelle jedenfalls ihre Sozialplanentscheidungen auf Wunsch eines der Verfahrensbeteiligten (Unternehmer bzw. Konkursverwalter und Betriebsrat) schriftlich zu begründen hat. 5. Den Konkursgläubigern selbst steht nicht das Recht zu, gegen einen von der Einigungsstelle verfügten Sozialplan gemäß § 76 V 4 BetrVG das arbeitsgerichtliche Beschlußverfahren einzuleiten. 6. Am wirksamsten läßt sich der Konkursgläubigerschutz durch die Entwicklung sachlicher Bewertungskriterien und Höchstgrenzen innerhalb des§ 112 IV 2 BetrVG steigern.

DIE BETRIEBLICHE ALTERSVERSORGUNG BEI AUSLANDSBEZIEHUNGEN

Eine kollisionsrechtZiehe Skizze Von Rolf Birk

I. Einleitung Die betriebliche Altersversorgung spielt in der BR Deutschland eine große Rolle. Dies dokwnentieren nicht nur der Erlaß des Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung (BetrAVG) am 14. Dezember 1974, sondern auch die jüngst vom Deutschen Gewerkschaftsbund erhobene Forderung 1 nach ihrer Ausweitung auf alle Arbeitnehmex-2. Es ist klar, daß das Recht der betrieblichen Altersversorgung auch eineReihe vonFragen bei grenzüberschreitenden Sachverhalten aufwirft, die beim Auslandseinsatz von Mitarbeitern große praktische Relevanz besitzen3 • In- und ausländische Entscheidungen belegen dies mit Nachdruck4. 1 Vgl. die Meldung "DGB: Betriebsrente für alle" in FAZ v. 15. 4. 1980, Nr. 88, S. 13. 2 In Frankreich erfolgte diese durch die Loi 72 - 1223 du decembre 1972. Dazu unten (II 2 a, aa). 3 Praktiker der betrieblichen Altersversorgung haben darauf schon öfters aufmerksam gemacht, wenngleich die kollisionsrechtlichen Probleme nicht angesprochen wurden. Vgl. Haigh, Betriebliche Altersversorgung- international, in: Betriebe helfen das Alter sichern, 1965, S. 65 ff.; Heissmann, Die betrieblichen Ruhegeldverpftichtungen, 6. Aufl., 1967, S. 548 ff.; Kresser, Personalwirtschaftliche Probleme internationaler Unternehmungen, dargestellt am Beispiel des Hauses Siemens, in: Borrmann (Hrsg.), Managementprobleme internationaler Unternehmungen, 1970, S. 115 f.; Rössler, Erfahrungen bei deutschen Töchtern ausländischer Unternehmen und Anregungen für deutsche Versorgungspläne, in: Betriebliche Altersversorgung an der Schwelle der 70er Jahre, 1970, S. 109 ff.; Fürer, Zur Versorgung von Mitarbeitern im Ausland, in: Perspektiven der betrieblichen Altersversorgung nach dem Betriebsrentengesetz, 1976, S. 201 ff. 4 Belgien: Arbeidsrechtbank Brussel, 28. 3. 1977 Journal des tribunaux du travail 1978, 337; England: Sayers v. International Drilling Co N. V. [1971] 3 AllE. R. 163; Frankreich: Cour de cassation, Chambre civile, 9. 11. 1959 Droit social 1960, 238, weitere französische Entscheidungen bei G. Lyon-Caen, La convention collective en droit international prive, Clunet 1964, 247 ff. sowie Doublet, Le regime de retraites des cadres et la jurisprudence, Paris 1971, S. 109 ff.; BR Deutschland: BAG AP Nr. 17 zu§ 2 ArbGG, Nr. 4 zu§ 242 BGB Ruhegehalt (Beitzke); SAE 1959, 203 (Beitzke); Nr. 411 zu !PR-Arbeitsrecht

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Ähnlich wie bei anderen Regelungen im Bereich des Arbeitsrechts sind vom Gesetzgeber diese Fragen überhaupt nicht angesprochen worden. Kaum anders stellt sich die Lage bei der literarischen Durchdringung dieser Fragen dar: es besteht ein fast vollständiges Vakuum, selbst umfangreiche Kommentare5 zum BetrAVG begnügen sich mit unzureichenden, minimalen Bemerkungen6 • Es erscheint daher angemessen und an der Zeit, sich etwas ausführlicher mit dieser Problematik auseinanderzusetzen. Gerade unser Jubilar hat sich stets in Praxis und Theorie neuen Herausforderungen gestellt; wir verdanken ihm auch eine eingehende Studie zum internationalen Arbeitsrecht7. Unser Beitrag fügt sich deshalb in den literarischen Schaffensbereich des Jubilars nahtlos ein. Die nachfolgenden Überlegungen können freilich nur skizzenhaft einige Probleme aufzeigen und mögliche Lösungen andeuten. Aus Raumgründen müssen wir uns auf die Perspektive des deutschen Rechts beschränken und auf rechtsvergleichende Ausführungen weitgehend verzichten8. Auf der anderen Seite geht es aber nicht allein um die kollisionsrechtliche Beurteilung des BetrAVG. Denn dieses Gesetz regelt bekanntlich nur einige, wenn auch wichtige Fragen aus dem Bereich der betrieblichen Altersversorgung. Die übrigen Probleme bedürfen indes genauso der kollisionsrechtlichen Durchdringung wie das BetrAVG. Damit ist bereits die sachliche Gliederung vorgezeichnet. Das deutsche Recht beschränkt sich im übrigen nur auf eines von mehreren Regelungsmodellen, nämlich auf die betriebliche Altersversorgung ohne Beitragsleistung (Beitzke); Nr. 159 zu § 242 BGB Ruhegehalt (Grunsky I Wuppermann); KG AP Nr. 40 zu § 242 BGB Ruhegehalt (Beitzke). 5 Vgl. Heubeck I Höhne I Paulsdorff I Rau I Weinert, Kommentar zum Betriebsrentengesetz 1976, § 17 Anm. 3; Höfer, Gesetz zur Verbesserung derbetrieblichen Altersversorgung, 1976, § 17 Anm. 9. 8 Aus dem Schrifttum: Gamillscheg, Internationales Arbeitsrecht, 1959, S.l83 FN 229; ders., Die Entwicklung des internationalen Arbeitsrechts 1959 -1964, in: Das Arbeitsrecht der Gegenwart 2 (1965), 19 (37); Doublet (FN 4), S. 109 ff., 157 ff., 239 ff.; Fenge, Die betriebliche Altersversorgung im Internationalen Privatrecht, DB 1976, 51- 53; Birk, Tarifverträge über Sozialleistungen in rechtsvergleichender und internationalrechtlicher Sicht, Vierteljahresschrift f. Sozialrecht 5 (1977), 1 (20 ff.); aers., Die multinationalen Korporationen im internationalen Arbeitsrecht, Berichte d. Deutschen Gesellschaft f. Völkerrecht Heft 18 (1978), S. 263 (318 ff.); ders., Internationales Tarifvertragsrecht, in: Festschr. f. G. Neitzke, 1979, S. 831 (857); Hosking, Pension Schemes and Retirement Benefits, 4th ed., London 1977, S. 132 ff.; Schaden, Die betriebliche Altersversorgung, 1978, S. 181 f. - s. auch die in FN 4 aufgeführten Anmerkungen von Beitzke. 7 G. Müller, Die rechtliche Behandlung abhängiger fremdbestimmter Arbeit bei Berührung mit Deutschland und Italien, RdA 1973, 137 ff. s Echte rechtsvergleichende Analysen fehlen. Vgl. aber die überblicke wenn auch teilweise überholt - bei Heissmann, Die betrieblichen Ruhegeldverpflichtungen, 5. Aufl., 19ti3, S. 536 ff. sowie Dorow, Alterssicherung international, 1970.

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des Arbeitnehmers9 • Daß die "Versorgungszusage" im Rahmen derbetrieblichen Altersversorgung schuldrechtlich gesehen Entlohnungscharakter trägt, steht auf einem anderen Blatt.

n.

Die allgemeine kollisionsrechtliche Problematik der betrieblichen Altersversorgung

Die besondere Schwierigkeit der kollisionsrechtlichen Beurteilung der betrieblichen Altersversorgung liegt vor allem darin begründet, daß sich hier zahlreiche Rechtsmaterien - vom Steuerrecht ganz abgesehen überlagern und auch gegenseitig durchdringen: so z. B. individuelles und kollektives Arbeitsrecht, Handelsrecht, Insolvenzrecht, Sozialversicherungsrecht. Für all diese Materien gibt es andererseits jeweils mehr oder weniger ausgearbeitete und angewandte Kollisionsnormen, die aber bei einer komplexen, mehrschichtigen Fragestellung wie unsere nicht einfach durch eine Addition zu vertretbaren Lösungen führen. Vielmehr bedarf es, wie etwa im Bereich des Konkursausfallgeldes10 , der Herausarbeitung eigener gegenstandsadäquater Anknüpfungskriterien. Im wesentl.ichen kann man die Problematik der betrieblichen Altersversorgung in dem vom BetrAVG erfaßten Umfang als eine solche des Arbeitsrechts betrachten, auch wenn § 17 I 2 BetrAVG die Anwendung des Gesetzes auf andere Personen ausdehnt, die nicht als Arbeitnehmer angesehen werden können (z. B. Handelsvertreter). Daraus läßt sich aber für die Frage nach dem bei grenzüberschreitenden Sachverhalten maßgebenden Recht noch kaum eine brauchbare Antwort ableiten. Jede zu große Vereinfachung wird ohnehin der diffizilen Problematik nicht gerecht. Eine bloße Heranziehung des ebenfalls nicht ohne weiteres feststellbaren Arbeitsvertrags- bzw. Arbeitsverhältnisstatuts 11 führt nicht notwendig zu brauchbaren Lösungen, weil nämlich das Recht der "betrieblichen Altersversorgung" zeitlich gesehen zwei völlig verschiedene Phasen aufweist: zum einen die Phase der Begründung einer Anwartschaft auf eine Betriebsrente durch eine Versorgungs"zusage" 12 , zum anderen die Phase des Ruhestandsverhältnisses, das zeitlich an das beendete Arbeitsverhältnis anschließt. Es kommt hinzu, daß die vorhandene gesetz9 Beitragsleistungen der Arbeitnehmer sind häufig in den USA und auch in Großbritannien. 10 Dazu Birk, Das Konkursausfallgeld, RabelsZ 39 (1975), 605 (642 ff.). 11 Statt vieler Gamillscheg, Internationales Arbeitsrecht, S. 100 ff. und zuletzt Martiny, in: Reithmann (Hrsg.), Internationales Vertragsrecht, 3. Aufl., 1980, s. 427 ff. 12 Der Begriff "Versorgungszusage" umfaßt ja nicht nur die Begründung einer Versorgungsverpflichtung durch Rechtsgeschäft, sondern auch durch Kollektivvertrag oder Gesetz.

3 Festschrift f. G. Müller

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liehe Regelung im wesentlichen zwingendes, nicht dispositives Recht enthält und damit die Frage nach der möglichen Reichweite des Vertragsbzw. Arbeitsverhältnisstatuts aufwirft. Ähnliche Erwägungen gelten aber auch für die richterliche Rechtskontrolle. Die Situation weist gewisse Ähnlichkeit mit derjenigen nach dem Anwendungsbereich des AGBG bei grenzüberschreitenden Sachverhalten auf 13• Schließlich ist die betriebliche Altersversorgung als Zusatzversorgung im Zusammenhang mit der sozialen Rentenversicherung zu sehen; bei letzterer übt der Parteiwille im allgemeinen keinen kollisionsrechtlichen Einfluß aus. Wann und unter welchen Umständen das inländische oder ausländische Recht der betrieblichen Altersversorgung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten Anwendung findet, läßt sich mithin nicht mit einer einfachen Verweisung auf das Arbeitsvertrags- bzw. Arbeitsverhältnisstatut beantwortent4. Wenden wir uns hier zunächst der .Anknüpfung der Versorgungsverpflichtung und des Ruhestandsverhältnisses unter dem Blickwinkel der einschlägigen deutschen Regelung zu. 1. Die Anwendbarkeit deutseben Rechts auf Versorgungsverpflicbtung, Ruhestandsverhältnis und Durehführungseinricbtungen

a) Die Versorgungsverpflichtung Die Begründung einer Versorgungsverpflichtung-seies des Arbeitgebers oder einer anderen Institution - beruht im wesentlichen entweder auf einer einseitigen bzw. vertraglichen Zusage, auf kollektivvertraglicher Norm oder auf sonstiger normativer Grundlage (betriebliche Übung15 , Gleichbehandlungsgrundsatz). Einen gesetzlichen Anspruch gibt es gegenwätig jedenfalls nicht. Beide Begründungsmodalitäten dürfen kollisionsrechtlich aber nicht über einen Kamm geschoren werden: individuelle und kollektive Zusage folgen nicht notwendig dem gleichen Statut. aa) Die einseitige und vertragliche Zusage Gibt der Arbeitgeber unmittelbar eine Versorgungszusage, so erfolgt sie entweder einseitig (individuell oder als Gesamtzusage, etwa in Form einer Ruhegeldordnung oder Ruhegeldrichtlinien) oder durch vertragliche Vereinbarung. Ihre gesonderte Stellung wird meist bereits durch den Zeitpunkt ihrer Begründung deutlich. Denn in vielen Fällen erfolgt Vgl. Martiny (FN 11), S. 105m. zahlr. Nachweisen. So aber im wesentlichen Fenge (FN 6), passim. 15 Die h. M. sieht den Einzelarbeitsvertrag als Geltungsgrundlage der betrieblichen Übung (anders Seiter, Die Betriebsübung, 1967, passim; Birk, Die arbeitsrechtliche Leitungsmacht, 1973, S. 236 ff.). 13

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die Zusage nicht bereits bei Abschluß des Arbeitsvertrages, sondern später im Verlaufe des Arbeitsverhältnisses oder gar erst nach dessen Beendigung; die dem Arbeitsvertrag vorangehende Versorgungszusage erscheint lediglich theoretisch denkbar16. Bereits äußerlich wird demnach die rechtliche Selbständigkeit der Zusage deutlich, auch wenn sie natürlich im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis17 steht. Aus der Sicht des Kollisionsrechts stellt sich damit die Frage, ob die Zusage selbständig anzuknüpfen ist, was freilich nicht ausschließt, daß weitgehend das gleiche Recht Anwendung findet wie auf den Arbeitsvertrag, oder ob stets die Zusage dem Arbeitsverhältnisstatut folgt und deshalb akzessorisch, also unselbständig angeknüpft werden soll. In Verbindung mit der zusätzlich aufzuwerfenden Frage nach der Zulässigkeit der Rechtswahl stellt sich das weitere Problem, ob für die Zusage ebenfalls Rechtswahlfreiheit gilt, wie dies für den Arbeitsvertrag vertreten wird und ob für den Arbeitsvertrag wie für die Zusage der betrieblichen Altersversorgung verschiedene Rechtsordnungen gewählt werden dürfen; darf es also ein Zusagestatut geben, das vom Arbeitsvertragsstatut abweicht? Oder handelt es sich etwa im Fall der nach Abschluß des Arbeitsvertrages erfolgten Zusage unter Wahl eines bisher nicht auf diesen anwendbaren Rechts um eine nachträgliche Veränderung des Arbeitsverhältnisstatuts? Rein abstrakt betrachtet kommen von der Rechtswahlproblematik aus gesehen etwa folgende Fallkonstellationen in Betracht: (1) Rechtswahl im Arbeitsvertrag, keine besondere Rechtswahl bei der

Zusage; (2) keine Rechtswahl im Arbeitsvertrag, keine Rechtswahl bei der Zusage; (3) Rechtswahl im Arbeitsvertrag; besondere, abweichende Rechtswahl bei Zusage; (4) keine Rechtswahl im Arbeitsvertrag, aber eigene Rechtswahl bei Zusage. Daß prinzipiell die einseitige wie die vertragliche Zusage einer vom Arbeitsvertrag divergierenden Anknüpfung und damit auch Rechtswahl unterliegen kann, erscheint nicht nur rechtlich wenig zweifelhaft, sondern auch in bestimmten Fällen (z. B. bei konzerneinheitlichem Versorgungswerk18) zweckmäßig zu sein. Zeitlich entsteht die VersorgungsverVgl. aber Heubeck I Höhne I Paulsdorff I Rau I Weinert, § 1 Anm. 41. Eine Ausnahme bildet § 17 I 2 BetrAVG, wo auch ein anderer Vertrag ausreicht. 18 Ein solches wirft vielfältige Probleme auf, erst recht wenn es grenzüberschreitend konzipiert ist. Die damit zusammenhängenden Probleme hoffe ich später an anderer Stelle darlegen zu können. Vgl. im übrigen noch Heissmann, Betriebliche Unterstützungskassen, 2. Aufl., 1962, S. 59 f. lG

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pflichtung meist erst nach Abschluß des Arbeitsvertrages. Es kommt hinzu, daß das weitere Schicksal der vorn Arbeitgeber begründeten Versorgungsverpflichtung häufig nicht mehr in dessen Händen, sondern in denen anderer Institutionen liegt (Lebensversicherung, Pensionskasse). Die individualrechtliche Zusage erhält ein institutionales, (formal) arbeitsvertragsfremdes Element. Eine durchgehend akzessorische Anknüpfung der Zusage an das Arbeitsverhältnisstatut- gleichgültig, ob auf Rechtswahl oder objektiver Anknüpfung beruhend - ist abzulehnen. Sie wird den vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten auf diesem Gebiet nicht gerecht. Der sachliche Zusammenhang von Arbeitsverhältnis und Versorgungszusage 19 schlägt sich nicht notwendig kollisionsrechtlich in einer einheitlichen Anknüpfung nieder, wenngleich in Fällen ohne besondere institutionelle Anhindung für ein gesondert zu bestimmendes Statut der betrieblichen Altersversorgung kein Bedürfnis ersichtlich ist; die Zusage ist ja keine notwendige Folge des Arbeitsverhältnisses. Sobald jedoch die Durchführung der betrieblichen Altersversorgung rechtlich vorn Arbeitgeber getrennt wird, kann eine andere Anknüpfung sinnvoll und praktikabel sein. In solchen Fällen (Konstellationen 3 und 4) muß die Möglichkeit einer besonderen und damit auch vorn Arbeitsverhältnisstatut divergierenden Anknüpfung bestehen. Dies gilt in gleicher Weise für die einseitige wie die vertragliche Zusage. Einer gesonderten Regelung für die einseitige Zusage bedarf es nicht. In beiden Fällen geht es um die Begründung einer mehr oder weniger gesicherten Rechtsposition, nämlich einer Anwartschaft auf eine Betriebsrente nach Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis. bb) Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung Obwohl etwa§ 1 I BetrAVG ungenau von Versorgungszusage in allen Fällen einer auf welche Weise auch immer begründeten Versorgungsverpflichtung spricht, müssen doch die verschiedenen rechtlichen Begründungsmodalitäten auseinandergehalten werden. Gerade kollisionsrechtlich lassen sie sich nicht einfach über denselben Leisten schlagen. Neben einseitiger Zusage und schuldrechtlichem Vertrag spielt die Gesamtvereinbarung als Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung eine nicht zu unterschätzende Rolle. Vor allem im Bereich der Bauwirtschaft besteht seit langem eine Zusatzversorgung aufgrund eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrags, die von einer gemeinsamen Einrichtung der Tarifvertragsparteien verwaltet wird20 • Aber die Versorgungsverpflichtung beruht nicht selten auf einer freiwilligen Betriebsvereinbarung nach 18

Die Versorgungszusage besitzt ja Entgeltcharakter.

1o Einzelheiten bei Sperner I Brocksiepe I Egger I Henrich I Unkelbach, Die

Sozialkassen der Bauwirtschaft, 1976.

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§ 88 Nr. 2 BetrVG. Wie sind solche Kollektivnormen kollisionsrechtlich

anzuknüpfen?

inzipiell gegenüber jedermann, d. h. im kollektiven Arbeitsrecht gegenüber den koalitionsrechtlich Organisierten ebenso wie den koalitionsrechtlich NichtOrganisierten gegenüber. Soweit es sich bei solchen Gesetzen aber um Normen mit Eingriffscharakter handelt, gelten die vorgenannten rechtsstaatlichen Voraussetzungen, d. h. der Gesetzgeber ist nicht berechtigt, Eingriffsnormen im Wege selbständiger "dynamischer Verweisung" zu erlassen, gleichgültig ob diese auf andere staatliche oder auf private Rechtsetzungen {Tarifverträge) verweisen. Rechtliche Verweisungen sind dem staatlichen Gesetzgeber aus rechtsstaatliehen Gründen nur insoweit gestattet, wie es um entweder "statische Verweisungen" oder doch (zumindest) um unselbständige "dynamische Verweisungen" geht. 3. Um einen Falllegitimer "statischer Verweisung" geht es, wie bereits erwähnt, im Falle der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen gemäߧ 5 TVG 73 • Die Allgemeinverbindlicherklärung bildet einen staatlichen "Rechtsetzungsakt eigener Art", der deshalb unproblematisch Vgl. auch BVerfGE 44, 347 ff. Vgl. z. B. BVerfGE 50, 290 (370); BAGE 20, 175 (214 ff.); Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, GG, Art. 9 Rdnr. 169, 226 ff. m. w. Nachw. 1s Vgl. BVerfGE 44, 352; Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, GG, Art. 9 Rdnr. 238; vgl. auch Badura, Arbeitsrecht der Gegenwart, Bd. 15, S. 31; zur parallelen Konstellation der Festsetzungen der Heimarbeitsausschüsse nach dem HAG vgl. entsprechend BVerfGE 34, 307 (316 ff.). 7t

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Rechtsfragen zur Verweisung zwischen Gesetz und Tarifvertrag

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ist, weil er nicht auf beliebige (jeweilige) Tarifverträge verweist, sondern seinen geltungsvermittelnden Normbefehl auf einen bestimmten, bereits existenten Tarifvertrag beschränkt. Als weiteres rechtsstaatliches Korrektiv ist der zuständige Minister gemäß § 5 TVG im übrigen zur Kontrolle dahin verpflichtet, ob eine konkret beantragte Allgemeinverbindlicherklärung dem "öffentlichen Interesse" entspricht; und im Rahmen dieser Kontrolle hat der Minister namentlich auch die wirtschaftlichen wie sozialen Interessen der von der Allgemeinverbindlicherklärung betroffenen Außenseiter mit zu berücksichtigen; ein Interesse allein der Tarifvertragsparteien oder der bereits nach § 3 I TVG tarifgebundenen Verbandsmitglieder an einer Allgemeinverbindlicherklärunggenügt hier anerkanntermaßen nicht74• Problematischer sind demgegenüber die Verweisungskonstellationen der §§ 3 II, 4 I 2 TVG sowie des § 3 111 TVG: a) Nach §§ 3 II, 4 I 2 TVG gelten Tarifnormen über betriebliche und betriebsverftassungsrechtliche Fragen für alle Betriebe, deren Arbeitgeber tarifgebunden ist, ohne Rücksicht also auf die arbeitnehmerische Tarifbindung. Gegen die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelungen, die die Geltung des Tarifvertrages über das Prinzip der mitgliedschaftliehen Bindung hinaus erweitern, sind folgerichtig erhebliche Bedenken geltend gemacht worden75 . Begründet sind diese Bedenken zumindest insoweit, wie das Prinzip der privatautonom-mitgliedschaftliehen Koalitionseinigung, wie es Art. 9 111 GG als Ordnungsprinzip vorgibt, eine Regelung nach Art der §§ 3 II, 4 I 2 TVG nicht zu legitimieren vermag. Es handelt sich insofern vielmehr um eine einfach-gesetzliche Regelungsermächtigung der Tarifvertragsparteien, die als besondere Rechtsverweisung neben die verfassungsrechtlich gesicherte Tarifautonomie und ihre mitgliedschaftlieh gebundene Normgeltung kraft "dynamischer Verweisung" tritt. b} Den zweiten Fall problematischer Tarifvertragszuständ~gkeit verkörpert die Regelung des § 3 111 TVG, derzufolge die Tarifgebundenheit bis zum Ablauf eines Tarifvertrages bestehen bleibt. Denn auch diese Bestimmung verfügt ein Maß an Tarifgebundenheit unabhängig vom (Fort-)Bestand der Zugehörigkeit zum tarifvertragssch.Heßenden Berufsverband. Aus diesem Grunde ist die Bestimmung des § 3 111 TVG teilweise als mit Art. 9 111 GG unvereinbar und damit verfassungswidrig angesehen worden7e.

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Vgl. BVerfGE 44, 348 f.; Wiedemann I Stumpf, TVG, § 5 Rdnr. 30. Vgl. die Nachw. Fn. 21 unter a). Vgl. die Nachw. Fn. 21 unter b).

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c) Als Grundlage der Verfassungskritik an den Regelungen der§§ 3 li, 4 I 2 TVG und des § 3 III TVG dient vor allem die negative Koalitionsfreiheit. Andererseits ist zugunsten dieser Bestimmungen auf die positive (kollektive) Koalitionsfreiheit hinzuweisen, deren Gewährleistung auch einen Schutz der existenznotwendigen Verbandsrechte bzw. koalitionspolitischen Bestandsinteressen impliziert77 • Diese, im Kontext der Koalitionsbestandsgarantie des Art. 9 III GG ressortierenden Gewährleistungen sind mit dem Grundrecht der negativen Koalitionsfreiheit ranggleich, im Falle der Kollision- wie hier- also mit jenem auszugleichen. Ein solcher Ausgleich hat nach den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit zu erfolgen; und im Lichte dieser Abgrenzungsregel erscheinen beide: Regelungskomplexe des TVG noch als verfassungsmäßig. Die Bestim· mung des § 3 III TVG knüpft immerhin an die Tarifgebundenheit des zumindest früheren Mitglieds einer Tarifvertragspartei an; zum anderen verhindert § 3 III TVG sach- und zweckgerecht die spätere Flucht bestimmter Mitglieder von Tarifvertragsparteien aus einem Verbandstarifvertrag78. Die Bestimmung des§ 3 III TVG ist daher mit dieser Maßgabe al's verfassungsgemäß zu erkennen79 - eine Feststellung, die allerdings dann nicht mehr gelten würde, wenn auch zur nachträglichen Änderung von Tarifverträgen mit Wirkung auch gegenüber jenem früheren, jetzt ausgeschiedenen Mitglied einer Tarifvertragspartei ermächtigt würde80 • Im Falle der §§ 3 II, 4 I 2 TVG stellt sich die Situation im Ausgangspunkt entsprechend dar. Denn die nach dieser Bestimmung erlassenen betrieblichen oder betriebsverfassungsrechtlichen Tarifnormen verfügen zwar gegenüber dem nicht berufsverbandsmäßig gebundenen Betriebsmitglied echte Außenseiterbindungen. Da diese inhaltlich aber nicht in jedem Falle einen (unmittelbaren oder mittelbaren) Organisationszwang erzeugen müssen, sind die diesbezüglichen Verweisungstatbestände des TVG nicht etwa eo ipso wegen Verstoßes gegen das Grundrecht der negativen Koalitionsfreiheit nichtig. Ein solcher Verstoß kann sich erst und nur im Einzelfall des konkreten Organisationszwangs ergeben (konkret-übermäßiger Druck auf den Außenseiter zum Koalitionsbeitritt, um den für ihn ggf. nachteiligen Regelungen des Tarifvertrags zu entgehen bzw. um auf die Tarifvereinbarungenkraft Mitgliedschaftsrechts Einfluß zu nehmen) 81 . 77 Vgl. z. B. BVerfGE 28, 295 (304); Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, GG, Art. 9 Rdnr. 249. 78 Vgl. Konzen, ZfA 75, 401 (411); Wiedemann I Stumpf, TVG, § 3 Rdnr. 80. 79 Vgl. auch bereits R. Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 269 f.; Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, GG, Art. 9 Rdnr. 236; vgl. weiter die Nachw. Fn. 21 unter

b).

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Vgl. bereits die Nachw. Fn. 23. Vgl. bereits R. Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 269 f.

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Die Tatbestände der §§ 3 II, 4 I 2 TVG und des § 3 III TVG sind demnach als echte, noch verfassungskonforme Grenzfälle zu erkennen. In beiden Fällen werden zwar selbständige "dynamische Verweisungen" vom Tarifvertragsgesetzgeber zugunsten der jeweiligen Tarifverträge vorgenommen. Diese rechtfertigen sich aber - noch - aus dem Punktionszusammenhang der allgemein-legitimen Tarifautonomie und ihrer verbandspolitischen Effektivität. Es handelt sich in beiden Fällen um echte Annexzuständigkeiten einer Tarifautonomie, die, wenn sie insgesamt in wirksamer Weise die "Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" im Sinne der Koalitionszweckgarantie des Art. 9 III GG wahren und fördern will, auch auf derart zusätzliche Befugnisse angewiesen ist. 4. Für Regelungen nach der Art der §§ 9 I NW. BSVG, 613 a I 2- 4 BGB gilt dagegen nichts Vergleichbares. Beide Vorschriften verkörpern selbständige "dynamische Verweisungen", für die kein koalitionsrechtlich legitimierendes Verbandsinteresse spricht. Um selbständige "dynamische Verweisungen" handelt es sich deshalb, weil§ 613 a I 2-4 BGB auch Änderungen des Tarifvertrages mit Wirkung gegen den Außenseiter (nicht verbandsgebundener Arbeitgeber als Betriebsübernehmer) zuläßt und weil bzw. insoweit wie § 9 I NW. BVSG im weiten Sinne, d. h. nicht nur im Sinne einer bestandserhaltenden Garantie des Anspruchs auf Lieferung von Hausbrandkohle interpretiert wird. In beiden Fällen nutzt der staatliche Gesetzgeber die pauschale, selbständig-"dynamische Verweisung" auf nicht vorher bestimmbare Tarifverträge, um gegenüber arbeitgeberischen Außenseitern belastende Rechtsfolgen zu setzen, die nicht vorher bestimmbar und damit nicht rechtsstaatskonform sind. Zugleich implizieren beide Verweisungstatbestände damit einen Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit gemäß Art. 9 III GG; denn für diese Regelungen streitet kein koalitionspolitisches Verbandsinteresse, das von der grundgesetzliehen Koalitionsbestandsgarantie gedeckt würde 82 • Eine verfassungskonforme Fassung bzw. Interpretation der Regelungen des § 613 a I 2-4 BGB und des § 9 I NW.BVSG fordert demgemäß Folgendes: a) Der nach § 613 a I 2-4 BGB verpflichtete Arbeitgeber, der einen tarifgebundenen Betrieb übernimmt, ohne dem tarifvertragsschließenden Arbeitgeberverband anzugehören, darf lediglich dem Tarifvertrag unterstellt werden, der im Zeitpunkt der Betriebsübernahme gilt; denn nur dann kann er diejenigen Rechtsfolgen bzw. belastenden Rechtswirkungen vorhersehen, die ihn mit der Betriebsübernahme durch das geltende Tarifvertragsrecht treffen. Wäre er dagegen, wie vom Gesetzgeber intendiert, auch der, für ihn belastenden Änderungskompetenz der Tarifvertragsparteien ausgesetzt, so könnte er jene Rechtswirkun82

A. A.

zu § 613 a I 2 - 4 BGB jetzt aber Seiter, DB 80, 882.

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gen bzw. Rechtseingriffe nicht vorhersehen; diese wären für ihn unkalkulierbar, er wäre mit anderen Worten in rechtsstaatswidriger Weise betroffen. Aus diesem Grunde muß der Tatbestand des § 613 a I 2 - 4 BGB im Sinne einer unselbständigen "dynamischen Verweisung" eingeschränkt werden; hiermit wäre nicht nur den legitimen Verbandsinteressen und der einschlägigen EG-Richtlinie hinreichend gedient, hiermit wären vor allem auch die rechtsstaatliehen Anforderungen gewahrt. b) Die Bestimmung des§ 9 I NW. BVSG muß gleichfalls im Sinne einer unselbständigen "dynamischen Verweisung" verstanden werden. Dies bedeutet zwar, daß auch künftige (jeweilige) Tarifverträge zugunsten der Inhaber von Bergmannversorgungsscheinen wirksam werden können, und zwar auch gegenüber dem (jetzigen) Außenseiter. Voraussetzung hierfür ist aber, daß jene Tarifverträge den Anspruch auf Hausbrandkohle nicht in seinem Wesen verändern bzw. an seine Stelle ein aliud setzen, wie im gegebenen Tarifvertragsrecht geschehen. Solange der der Rechtsfolge des § 9 I NW. BVSG unterworfene Außenseiter mit einem Anspruch auf Lieferung von Hausbrandkohle des Inhalts rechnen muß, wie er im traditionell vorgegebenen Wesen dieses Anspruchs begründet liegt (bedarfsabhängiger, persönlicher Anspruch auf Sachleistung), solange sind auch spätere, anspruchsmodifizierende Tarifverträge jedenfalls insoweit in ihren (potentiellen) belastenden Wirkungen vorhersehbar bzw. vorab abschätzbar, daß eine insgesamt rechtsstaatskonforme Eingriffsgesetzgebung erhalten bleibt. In diesem Sinne fordert und erlaubt § 9 I NW. BVSG eine verfassungskonforme Auslegung dahin, daß lediglich solche Tarifverträge-kraft unselbständiger "dynamischer Verweisung" - (auch) gegenüber dem Außenseiter Verbindlichkeit erlangen, die den Anspruch auf Hausbrandkohle in seinen dargestellten Wesensmerkmalen aufrechterhalten. Soweit die Rechtsprechung hierüber hinausgegangen ist und Außenseiter auch solchen tarifvertragliehen Regelungen unterstellt hat, die den Anspruch auf Hausbrandkohle in ein aliud (absoluter und bedarfsunabhängiger Anspruch auf Barleistung"Energiebeihilfe" -) verwandeln, haben sie dem Tatbestand des § 9 I NW. BVSG einen rechtsstaats-und damit verfassungswidrigen Inhalt gegeben.

PROBLEME DES ÖSTERREICHISCHEN INSOLVENZ-ENTGELTSICHERUNGSGESETZES Von WalterSchwarz I. Das Bundesgesetz vom 2. Juni 1977 über die Sicherung von Arbeitnehmeransprüchen im Falle der Insolvenz des Arbeitgebers (InsolvenzEntgeltsicherungsgesetz- IESG) ist am 1. Jänner 1978 in Kraft getreten. Damit wurde eine sozialpolitische Maßnahme von besonderer Bedeutung gesetzt, die in ähnlicher Form in der Bundesrepublik Deutschland durch das Gesetz über Konkursausfallgeld vom 17. Juli 1974 (BGBl. I S. 1481) bereits seit dem 20. Juli 1974 verwirklicht ist. Der gesetzgeberische Grund beider Gesetze ist klar: Der abhängige Arbeitnehmer kann mit seiner Arbeitskraft nicht in dem Maße sensibel operieren, wie dies bei anderen Gläubigern der Fall ist und wird mit seiner Familie durch die Insolvenz seines Arbeitgebers besonders betroffen. Diese Erkenntnis führte zunächst zu einer nicht unerheblichen Privilegierung der Arbeitnehmeransprüche im Insolvenzverfahren. Gleichwohl lösen Schritte in dieser Richtung, so wichtig sie auch sein mögen, das Problem nicht an der Wurzel; wo keine Substanz ist, nützt die schönste Privilegierung nichts. Eine grundlegende Verbesserung der Rechtslage kann nur so bewerkstelligt werden, daß sich die öffentliche Hand oder sonst ein Dritter mit einer entsprechenden Dotierung in die rechtlichen Beziehungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber einschaltet. Die Einschaltung erfolgt nach der Österreichischen Lösung durch die Schaffung des beim Bundesministerium für soziale Verwaltung errichteten und mit Rechtspersönlichkeit ausgestatteten Insolvenz-AusfallgeldFonds (§ 13 IESG), dessen Mittel im wesentlichen aus einem jährlich durch Verordnung festzusetzenden Zuschlag zu dem vom Arbeitgeber zu leistenden Anteil des Arbeitslosenversicherungsbeitrages gespeist werden. Dieser Zuschlag ist vom Arbeitgeber zu bestreiten (§ 12 Abs.1 IESG). Liegt ein anspruchsbegründender Tatbestand vort, so kann der Anspruchsberechtigte beim zuständigen Arbeitsamt den Antrag auf Insol1 Dazu zählt in erster Linie die Konkurseröffnung über das Vermögen des Arbeitgebers im Inland. Dieser stehen die Eröffnung des Ausgleichsverfahrens, die Anordnung der Geschäftsaufsicht und die Abweisung des Antrags auf

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venzausfallgeld stellen (§ 6 IESG), welches nach Art und Umfang den sog. "gesicherten Ansprüchen" des Arbeitnehmers entspricht (§ 1 Abs. 2 und 3, § 3 Abs. 1 IESG). Das Arbeitsamt hat nach entsprechender Beurteilung des Sachverhalts mit schriftlichem Bescheid zu entebeiden (§ 7 Abs. 2 IESG), wodurch die Zahlungspflicht des Insolvenz-AusfallgeldFonds ausgelöst wird. Dieser erwirbt im Wege der Legalzession die ge,. sicherten Ansprüche gegen den Arbeitgeber bzw. gegen die Konkursmasse in der Höhe, in welcher dem Antragsteller ein Anspruch zuerkannt wurde. Mit dem Übergang ist keine Änderung des Rechtsgrundes, des Ranges oder der Bevorrechtung der Forderung verbunden (§ 11 Abs. 1 IESG). Die Legalzession vollzieht sich mit der Zustellung der rechtskräftigen Bescheide an den Arbeitgeber bzw. Masseverwalter gern. § 7 Abs. 4 IESG. Durch die Legalzesion wird daher der Fonds in die Lage versetzt, sich in der nämlichen Rechtsstellung am Insolvenzverfahren zu beteiligen, die dem Arbeitnehmer zugekommen wäre. Ein Zugriff auf künftiges V·ermögen, das der Arbeitgeber nach Beendigung des Konkurses (der anderen rechtserheblichen Tatbestände) erworben hat, ist ausgeschlossen (§ 11 Abs. 3 IESG). II.

Wer sich die so skizzierte Grundstruktur des Österreichischen Rechts vor Augen hält, dem drängt sich wohl zunächst eine Verfahrensfrage auf. Es ist dies die Frage nach der Parteistellung im Verwaltungsverfahren bei den Arbeitsämtern, aus der insbesondere das im§ 10 Abs. 1 IESG vorgesehene Recht der Berufung an das Landesarbeitsamt erfließt und die weitgehend die Legitimation zur Erhebung der außerordentlichen Rechtsmittel an die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts (Verwaltungsgerichtshof, Verfassungsgerichtshof) indiziert. Die Frage ist deswegen von größter Bedeutung, weil die Behörden der Arbeitsmarktverwaltung bislang Arbeitsrecht nicht unmittelbar anzuwenden hatten und die neue Kompetenz zu einer erheblichen und schlagartigen Mehrbelastung führte. Die dadurch bedingten notwendigen Fehlerquellen verlangen im Interesse eines ordnungsgemäßen Vollzugs des Gesetzes nach einem Mehr an Kontrolle. Die Konstruktion eines Einparteienverfahrens - daß dem antragstellenden Arbeitnehmer oder dessen Hinterbliebenen Parteistellung zukommt, steht außer Streit würde sicherlich zu einer durchaus "sozialen Rechtsanwendung" führen 2 , es fragt sich aber, ob eine solche Rechtsanwendung dann auch sozial Konkurseröffnung mangels hinreichenden Vermögens gleich (§ 1 Abs. 1 IESG). 2 Dazu Strasser, Juristische Methodologie und soziale Rechtsanwendung im Arbeitsrecht, DRdA 1979, 85 ff.

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wäre, wenn die Mittel des Fonds aufgestockt werden müßten, weil berechtigte Ansprüche auf Kosten beglichener unberechtigter Forderungen keine Deckung fänden. Dazu kommt, daß gemäߧ 68 Abs. 2 des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes (AVG) Bescheide, aus denen jemandem ein Recht erwachsen ist, nachträglich nicht aufgehoben oder abgeändert werden können. Die vorgesehenen Ausnahmefälle sind auf gravierende Gefährdung des öffentlichen Wohls und auf Nichtigkeitsbzw. Wiederaufnahmegründe beschränkt (§§ 68 Abs. 3 und 4, 69 AVG). Selbst die im § 9 IESG vorgesehene Möglichkeit des Widerrufs und de1· Rückforderung führt nur dann zur Verpflichtung des Ersatzes des unberechtigt Empfangenen, wenn der Bezug durch unwahre Angaben oder durch Verschweigen maßgebender Tatsachen herbeigeführt wurde oder wenn der Berechtigte erkennen mußte, daß die Zahlung nicht oder nicht in dieser Höhe gebührte (§ 9 Abs. 2 IESG). Man wird den materiellen Gesetzesvorschriften in bestimmten Grenzen- insbesondere unter Wahrung des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes - das Recht einräumen müssen, die Parteirolle ausdrücklich zu fixieren (Formalpartei). Dies ist nicht geschehen. Wir sind daher auf ·die Interpretation des § 8 A VG angewiesen, wonach als Partei jeder Beteiligte anzusehen ist, dessen Beteiligung am Verfahren auf einem Rechtsanspruch oder einem rechtlichen Interesse beruht. Die auf dem Bericht des Verfassungsausschusses aufbauende3 weit verbreitete Auffassung, wonach die Beteiligung kraft Rechtsanspruches auf dem Anspruch beruhe, von der Behörde eine Erledigung ganz bestimmter Art zu erhalten, die Beteiligung kraft rechtlichen Interesses hingegen einen formalrechtlichen Anspruch auf Durchführung eines Verfahrens (Erledigung der "Sache") vermittle, wird in zunehmendem Maße als widersprüchlich empfunden. Dies schon deshalb, weil auch dem Träger eines Rechtsanspruches in gleicher Weise ein verfahrensrechtlicher Anspruch zukommt. Man hat daher die formellen Rechte auf den Bereich des Ermessens bezogen, dabei aber übersehen, daß auch im Falle von Ermessensentscheidungen materielle Berechtigungen eine bedeutende, die Rechtsstaatlichkeit fundamental berührende Rolle spielen können 4 • Die Konsequenz hievon ist, daß die Begriffe "Rechtsanspruch" und "recht3 360 Blg NR 2. GP 10. ' Zur Gesamtproblematik vgl.: Adamovich, Handbuch des österr. Verwaltungsrechtes I (1954), 218 ff.; Antoniolli, Allgemeines Verwaltungsrecht (1954), 127 ff.; Hellbling, Kommentar zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen I (1953), 117 ff.; derselbe, Rechtsstaat und Verfahrenspartei, JBl 1976, 349 ff.; Herrnritt, Das Verwaltungsverfahren (1932), 51 ff.; Mannlicher I Quell, Das Verwaltungsverfahren (1975), 165 ff.; Lanzer, Der Begriff der Partei im Verwaltungsverfahren, JBl 1930, 314 ff.; Mayer, Der Parteibegriff im allgemeinen Verwaltungsverfahren, ZfV 1977, 485 ff.; Ringhofer, Zur Frage des Parteibegriffes im Verwaltungsverfahren, ÖJZ 1950, 269 ff.; Walter I Mayer, Grundriß des österr. Verwaltungsrechtes, 38 ff.; Wurst, Zur Problematik des Parteibegriffs im Verwaltungsverfahren, ÖJZ 1964, 199 ff.

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liches Interesse"- eben weil sie anachronistisch sind5 - als Charakteristika der Parteistellung immer mehr zusammenwachsen, wobei m. E. die Formel Ringhoferst allgemeine Anerkennung finden kann: es kommt darauf an, ob die Rechtsstellung einer Person durch das Verfahren tangiert werden könnte. Dieses "Tangieren" bezieht sich gleichermaßen auf eine Berechtigung (Aktivpartei) wie auf eine Verpflichtung (Passivpartei). Meine Mitarbeiter und ich haben die Rolle des Insolvenz-AusfallgeldFonds als Passivpartei darin erblickt, daß er als eigener Rechtsträger durch den Bescheid des Arbeitsamtes unmittelbar zur Zahlung des gesamten gesicherten Anspruchs verpflichtet wird und die Aufgabe hat, die auf ihn übergegangenen Forderungen im Insolvenzverfahren unter Tragung des dadurch bedingten Risikos-zu erstreiten7 • Diese Rechtsmeinung hat der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 22. 6. 1979, Zl 3199/78 8 im wesentlichen mit den nachstehenden Argumenten abgelehnt: 1. Eine Prüfung im Sinne des § 8 A VG ergibt, daß dem Fonds im Verwaltungsverfahren nicht nur kein Mitwirkungsrecht eingeräumt ist, sondern auch kein Anspruch auf Beachtung eines ihm zuerkannten Rechtsgutes erwächst. Dies ist an sich richtig, mündet aber in einen Zirkelschluß: die Mitwirkungsrechte resultieren aus der Parteistellung und nicht umgekehrt. In Zweifelsfällen kann man eben einer wertenden Interpretation nicht entraten.

2. Aufgrund dieser Umstände werden nach Meinung des Höchstgerichtes nur wirtschaftliche Interessen des Fonds berührt. Es ist zutreffend, daß nach ständiger Judikatur bloß wirtschaftliche Interessen, die im Gegensatz zu rechtlichen Interessen gesehen werden, keine Parteistellung begründen9 • Von wirtschaftlichen Interessen wird man allerdings nur dann sprechen können, wenn neben dem rechtlichen Interessenten ein bloß mittelbar betroffener - wirtschaftlicher Interessent existiert, dessen subjektive Rechtsstellung nicht geschützt erscheint. Der Fonds wird durch einen rechtswidrigen Bescheid in seiner ureigensten Substanz betroffen, die das Wesen seiner Rechtsperson ausmacht: in seinem Vermögen. Diese hat er kraft gesetzlichen Auftrages nicht nur zu verwalten, sondern auch zu erhalten und zu mehren. Da das Arbeitsamt als Verwaltungsbehörde über privatrechtliche Ansprüche zu entscheiden hat, werden diese zur hier relevanten" Verwaltungssache". Wir begreifen • Mayer, a.a.O., 488. 8 Ringhofer, a.a.O., 272. 7 Schwarz I Holzer I Holler, Das Arbeitsverhältnis bei Konkurs und Ausgleich, 1978, 122 ff. 8 9

Vgl. DRdA 1980 E. 17. Judikatur bei Mannlicher I Quell, a.a.O., 655.

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das Vermögen als unkörperliche Gesamtsache im Sinne der Summe der einer physischen oder juristischen Person zugehörigen geldwerten Rechte 10• Ein rechtswidriger Bescheid vermag also in ein ganzes Bündel verschiedenartiger subjektiver Rechte einzugreifen; von bloß "wirtschaftlichen Interessen" kann keine Rede sein. 3. Gemäß § 7 Abs. 4 IESG hat das Arbeitsamt Ausfertigungen der rechtskräftigen Bescheide, tunliehst gesammelt, dem Arbeitgeber (ehemaligen Arbeitgeber), im Falle der Anhängigkeit eines Konkursverfahrens dem Masseverwalter, zuzustellen. Aus dem Fehlen des Fonds in der Aufzählung der Zustellungsberechtigten schließt der Verwaltungsgerichtshof auf den Mangel der Parteistellung. Hier kann man wohl nur fragen: Was soll eine Partei mit einem bereits

rechtskräftigen Bescheid anfangen11 ?

4. Schließlich heißt es in der Entscheidung: "Vielmehr ist aus dem Umstand, daß der Fonds ausdrücklich im § 13 Abs. 4 IESG ermächtigt wird, seine Ansprüche nach§ 11 Abs. 1 dieses Gesetzes im Insolvenzverfahren geltend zu machen, zu schließen, daß der Gesetzgeber, hätte er dem Fonds auch im Verwaltungsverfahren vor den Arbeitsämtern Parteistellung einräumen wollen, dies ausdrücklich gesagt hätte ... " Hier wurde nicht einmal die Rechtslage richtig wiedergegeben. § 13 Abs. 4 IESG ermächtigt den Fonds nicht zur Geltendmachung dieser Ansprüche an sich, sondern dazu, außer der Finanzprokuratur "für die 10 Ehrenzweig, System des allgemeinen Privatrechtes 111, 124 f.; Klang in Klang, Kommentar zum ABGB 2 II, 302 f.; Sörgel I Siebert, BGB 10 II, 533 f.; Enneccerus I Nipperdey, Lehrbuch des bürgerlichen Rechts 15 1/1, 840 f.; Bibergeil, Vermögensübernahme (1931), dazu Carstens, JW 1932, 162; Bartholomä, Vermögensübernahme (1957); Birkmeyer, Das Vermögen im juristischen Sinne (1859); Fischer, Subjekt und Vermögen, Festschrift für Rosenthai (1923); Kohler, Das Vermögen als sachenrechtliche Einheit, ArchBürgR 22, 1; Wellacher, Die Schuldenhaftung des Unternehmers beim Übergang von Vermögen und Unternehmen (1951); Hämmerle, Zur rechtlichen Struktur des Unternehmens, JBl 1966, 445 ff.; Schwarz, Das Arbeitsverhältnis bei Übergang des Unternehmens, 53 ff.; Pisko, Das Unternehmen als Gegenstand des Rechtsverkehrs, 19 f.; Larenz, Schuldrecht I, 367 ff.; Swoboda, Die praktische Auswirkung des Begriffes der Gesamtsache, ·ORZ 1931, 94 ff. 11 Im übrigen läßt die Argumentation des Verwaltungsgerichtshofes den Schluß zu, daß dem Arbeitgeber bzw. Masseverwalter die Parteistellung zugebilligt werden könnte. Gerade diese Konsequenz schließt das Gesetz aus. Der Arbeitgeber bzw. im Konkursfalle der Masseverwalter sind insofern Beteiligte, als sie zu jeder Forderung eine bestimmte Erklärung über ihre Richtigkeit abzugeben haben; Vorbehalte sind unzulässig(§ 6 Abs. 4, 5 und 6 IESG). Mit dieser Rolle als Auskunftsperson ist aber die verfahrensrechtliche Funktion erschöpft. Soweit die Forderung Gegenstand der Anmeldung im Konkursverfahren ·ist, tritt an die Stelle der Erklärung die Übersendung eines Auszuges (einer Abschrift) aus dem Anmeldeverzeichnis (§ 108 KO) durch den Masseverwalter.

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Geltendmachung und weitere Verfolgung seiner Ansprüche im Sinne des § 11 Abs. 1 hiefür geeignete physische und juristische Personen heranzuziehen bzw. zu beauftragen". Daß diese Geltendmachung erfolgen kann, wird auch im § 11 Abs. 1 IESG nicht normiert, sondem als logische Konsequenz der Legalzession vorausgesetzt, indem lediglich gesagt wird,. daß mit dem Forderungsübergang keine Änderung des Rechtsgrundes, des Ranges oder der Bevorrechtung der Forderung verbunden ist. Damit aber schlägt das Argument des Gerichtes ins Gegenteil! Wenn selbst die Geltendmachung der übergegangenen Forderungen im Insolvenzfahren als selbstverständlicher Ausfluß der Rechtspersönlichkeit des Fonds angesehen wird, dann muß erst recht vorausgesetzt werden, daß. der Fonds sich von vornherein gegen verpflichtende Bescheide wehren kann! Alles in allem liegt eine recht oberflächlich begründete Fehlentscheidung vor, was um so mehr zu bedauern ist, als die zur Beurteilung vorliegenden Fragen, insbesondere die Existenz subjektiver Rechte, zu den. wesentlichen Merkmalen des im B-VG verankerten Rechtsstaatsprinzips gehören. Wenn im Interesse der Rechtsstaatlichkeit gesagt wird, daß im Zweifel anzunehmen ist, daß eine Norm des objektiven Rechts auch ein subjektives Recht gewährt12, so heißt dies im Klartext, daß eher zugunsten einer Parteirolle zu entscheiden sein wird. Davon ist im gegenständlichen Erkenntnis nichts zu merken. Es muß jedenfalls dabei bleiben: ähnlich, wie das Verfahren vor dem Arbeitsgericht als Zweiparteienverfahren konstruiert ist, liegen die Dinge im Verwaltungsverfahren nach dem IESG. Die Ausstattung des Fonds mit Rechtspersönlichkeit kann nur den Zweck haben, diesem eine umfassende verfahrensrechtliche Parteistellung einzuräumen, die derjenigen des Anspruchsberechtigten bezüglich des Insolvenz-Ausfallgeldes gegenüberzustellen ist. Da ein Einparteienverfahren rechtspolitisch unerwünscht ist, wäre gegebenenfalls eine Novellierung des Gesetzes anzuregen, wenn die Rechtsmeinung des Verwaltungsgerichtshofes nicht revidiert wird. 111.

Anspruch auf Insolvenz-Ausfallgeld haben Arbeitnehmer, ehemalige Arbeitnehmer sowie ihre Hinterbliebenen (§ 1 Abs.1 IESG) 12 a. Arbeitnehmer von Gebietskörperschaften haben keinen Anspruch(§ 1 Abs. 5 IESG). Das Gesetz hat den Arbeitnehmerbegriff des Arbeitsvertragsrechtes im 12 12 a

Mayer, a.a.O., 488; VwGH 14. 10. 1976, Zl 722176.

Der während der Drucklegung zur Begutachtung versandte Ministerialentwurf einer Novelle zum IESG (ME; Zl 37006/144-3/80) dehnt den Kreis der anspruchsberechtigten Personen auch auf die Rechtsnachfolger dieser Personen aus. Wie aus den Erläuterungen hervorgeht, ist dabei primär an Einzelrechtsnachfolger, wie z. B. Zessionare gedacht.

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Auge13, zumal die "gesicherten Ansprüche" im wesentlichen aus dem Arbeitsvertrag oder aus dessen Verletzung entspringen. Vom Arbeitnehmerbegriff ist sowohl die Anspruchsberechtigung der ehemaligen Arbeitnehmer als auch die der Hinterbliebenen abgeleitet. Ebenso bestimmt der Begriff des Arbeitnehmers als Korrelat den des Arbeitgebers, dessen Konkurs im Inland primäre Anspruchsvoraussetzung ist 14• Da der Arbeitnehmerbegriff des Arbeitsvertragsrechts einen formellen Charakter hat, können von der dienstlichen Stellung her keine Beschränkungen in das Gesetz getragen werden. Eine Ausnahme bilden Vorstandsmitglieder von Kapitalgesellschaften dann, wenn man der jüngsten Judikatur folgt und die weisungsfreie Position dieser Personen mit der Arbeitnehmereigenschaft als grundsätzlich nicht vereinbar betrachtet15 • Leitende Angestellte sind jedenfalls auch dann anspruchsberechtigt, wenn ihnen ein maßgebender Einfluß auf die Führung des Betriebes zusteht und sie demgemäß nicht als Arbeitnehmer im Sinne der Betriebsverfassung gelten(§ 36 Abs. 2 Z 2 ArbVG). Es läßt sich nicht leugnen, daß gerade in diesen Grenzfällen die Gefahr einer Manipulation zu Lasten des Fonds besonders groß ist, so daß eine Ausnehmung bestimmter Arbeitnehmer, die im wesentlichen Dienstgeberfunktionen auszuüben berechtigt sind, erwägenswert wäre. Die Fassung des § 36 Abs. 2 Z 2 ArbVG erschiene mir allerdings zu weit153 • Eine Fleißaufgabe des Gesetzgebers war der Hinweis auf die Anspruchsberechtigung ehemaliger Arbeitnehmer. Der Terminus ist irreführend, weil die Wortauslegung auf Personen einschränken könnte, die überhaupt nicht mehr Arbeitnehmer sind (z. B. Arbeitslose). Diese Auslegung wäre absurd. Gemeint sind klarerweise Personen, die Ansprüche aus einem nicht mehr bestehenden Arbeitsverhältnis besitzen, wenn der "ehemalige" Arbeitgeber in ein Insolvenzverfahren gerät. Dieser Fleißaufgabe des Gesetzgebers steht eine angesichts der wachsenden Kasuistik in der modemen Gesetzgebung kaum faßbare Nonchalance gegenüber: der Hinweis auf die Anspruchsberechtigung von "Hinterbliebenen" des Arbeitnehmers. Wenn von Hinterbliebenen die Rede ist, denkt man primär an Familienangehörige und nahe Verwandte, 13 Floretta I Spielbüchler I Strass er, Arbeitsrecht I, 8 f.; GamiHscheg, Ar-beitsrecht', 20 f.; Hanau I Adomeit, Arbeitsrecht 5, 117 f.; Hueck I Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts 7 I, 34 f.; Martinek I Schwarz, AngG 3, 25 f.; MayerMaly, Osterreichisches Arbeitsrecht, 59 f.; Nikisch, Arbeitsrecht 3 I, 91 f.; Söllner, Arbeitsrecht 6, 25 f.; Tomandl, Wesensmerkmale des Arbeitsvertrages, 20 f.; Zöllner, Arbeitsrecht2 , 28 f. 14 Siehe die weiteren rechtserheblichen Tatbestände unter Fn. 1. 15 OGH v. 3. 7. 1975 EvB11976I66. 15a Der ME versucht diesem Gedanken dadurch Rechnung zu tragen, daß gemäß § 1 Abs. 6 solche Personen ausgenommen werden sollen, denen beherrschender Einfluß auf die Führung des Betriebes zukommt.

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deren Versorgung sicherzustellen ist. Dies ist besonders bei den Hinterbliebenenpensionen der Fall (§ 257 ff. ASVG). Sicher ist daher, daß Personen, zu deren Gunsten durch den Tod des Arbeitnehmers originäre Rechtsansprüche begründet werden (z. B. Betriebswitwenpensionen), anspruchsberechtigt sind. Kann man aber in den anderen Fällen, in denen arbeitsrechtliche Ansprüche des Verstorbenen aushaften, einen von der Erbfolge gelösten Anspruch der "Hinterbliebenen" annehmen? Das Österreichische Arbeitsrecht ist diesen Weg im Falle der Abfertigung gegangen: Wird das Dienstverhältnis durch den Tod des Arbeitnehmers aufgelöst, so beträgt die Abfert1gung nur die Hälfte des für den Verstorbenen vorgesehenen Ausmaßes und gebührt nur den gesetzlichen Erben, zu deren Erhaltung der Erblasser gesetzlich verpflichtet war (§ 23 Abs. 6 AngG 16). Dieser Anspruch steht den Berechtigten kraft eigenen Rechts zu und nicht als Rechtsnachfolger des verstorbenen Arbeitnehmers, welcher Umstand zur Konsequenz führt, daß der Abfertigungsanspruch gemäß § 23 Abs. 6 AngG nicht in den Nachlaß gehört17 • Insoweit also die Abfertigung als "gesicherter Anspruch" durch den Tod eines Arbeitnehmers entstanden ist, hat der Begriff der Hinterbliebenen gemäß § 23 Abs. 6 AngG ausgelegt zu werden. Bezüglich jener gesicherten Forderungen, die in den Nachlaß fallen, scheidet die Annahme eines von der Rechtsnachfolge gelösten Anspruches der "Hinterbliebenen" auf Insolvenz-Ausfallgeld jedoch aus. Angenommen, ein Arbeitnehmer hat über seinen Nachlaß testamentarisch zugunsten einer Person, die zu ihm in keinerlei familiärem Verhältnis steht, verfügt und hinterläßt einen Verwandten als gesetzlichen Erben. Der Testamentserbe könnte aufgrund seines Erbrechtes seine Ansprüche im Insolvenzverfahren verfolgen. Würde dem gesetzlichen Erben das Insolvenz-Ausfallgeld ohne Rücksicht darauf ausbezahlt werden, ob er im konkreten Falle erbberechtigt ist oder nicht- ein Pflichtteilsanspruch genügt nicht-, dann hätte dies eine unvertretbare Doppelgeleisigkeit zur Folge: der Fonds könnte auf Grund der Legalzession gemäß § 11 Abs. 1 IESG, und der Testamentserbe auf Grund seines Erbrechtstitelsam In· solvenzverfahren teilnehmen. Dies hieße im Klartext, daß die Forderungen des verstorbenen Arbeitnehmers doppelt, nämlich auf zwei Rechtstitel gestützt, geltend gemacht werden könnten. Es kommt also darauf an, ob und inwieweit eine Person im konkreten Fall einen Erbrechtstitel ausweisen kann. Dann gilt es, restriktiv zu interpretieren, denn nicht jeder Erbberechtigte ist "Hinterbliebener". Das hiefür in Frage kommende maßgebliche Kriterium ist das Band der im 18 Durch das Arbeiter-Abfertigungsgesetz vom 23. 2. 1979, BGBI. Nr. W7, wurden die Abfertigungsbestimmungen des Österreichischen Angestelltengesetzes auch für die Arbeiter rezipiert. 17 Martinek I Schwarz, AngG 3, 391.

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Familienrecht verankerten Sorgepflicht (insb. §§ 94, 140 bis 143 ABGB), wobei es weder darauf ankommen sollte, ob die Unterhaltspflicht im konkreten Fall bestanden hat oder ihr auch tatsächlich entsprochen wurde 18 • Neben der unmittelbaren Anspruchsberechtigung kennt das Gesetz gern. § 2 IESG noch eine solche kraft sinngemäßer Rechtsanwendung. Diese bezieht sich auf Heimarbeiter, Personen, die den Entgeltschutz für Heimarbeit genießen (§ 3 Heimarbeitgesetz) und auf arbeitnehmerähnliche Personen. Die zuletzt genannte Personengruppe wird im § 2 Abs. 1 des Arbeitsgerichtsgesetzes umschrieben10 • Das Gesamtbild des Typus einer arbeitnehmerähnlichen Person ergibt sich aus einer Reihe von Qualifikationsmerkmalen, welche die bei Arbeitnehmern typischerweise gegebene ökonomische Situation indizieren sollen. Diese Kriterien sind verschiedenartig, erschöpfend nicht faßbar und im Einzelfall in unterschiedlicher Intensität ausg·eprägt. Daraus folgt zweierlei: einmal, daß eine Legaldefinition im Sinne geschlossener Begriffsbildung nicht möglich ist, und zum anderen, daß schon der Terminus "arbeitnehmerähnlich" schief ist, denn die juristischen Hauptkriterien des Arbeitnehmerbegriffes (persönliche Abhängigkeit, Weisungsgebundenheit, Einordnung in den Betrieb) sind gerade nicht für die Annahme der Ähnlichkeit relevant20. Dies wird von der Judikatur nicht scharf genug gesehen21 • Allgemein ist zu sagen, daß der Kern der vorauszusetzenden wirtschaftlichen Unselbständigkeit so formuliert wurde, daß der Verpflichtete in bezug auf die ausgeübte Beschäftigung in seiner Entschlußfähigkeit auf ein Minimum beschränkt sein muß 22 • Dies kann auch bei rechtlich Selbständigen der Fall sein, wie bei bestimmten Handelsvertretern, Wirtschaftsund Steuerberatern bzw. Stundenbuchhaltern23 • Hier hat der Gesetzgeber wohl über das Ziel geschossen. Stellt man in Rechnung, daß nicht nur bestimmte Tankstellenpächter und Tankstellenverwalter24, sondern auch der Alleininhaber einer Mineralölgroßhandlung und mehrerer Tankstellen, der vertraglich verpflichtet war, die Treibstoffe und auch die übrigen Mineralöle ausschließlich von einer Vgl. Schwarz I Holzer I Holler, a.a.O., S. 36 ff. Danach handelt es sich um Personen, die ohne in einem Arbeitsvertragsverhältnis zu stehen, im Auftrag und für Rechnung bestimmter anderer Personen Arbeit leisten und wegen ihrer wirtschaftlichen Unselbständigkeit als arbeitnehmerähnlich anzusehen sind. 20 Vgl. Herschel, Die arbeitnehmerähnliche Person, DB 1977, 1185. 21 Siehe den Katalog positiver und negativer Entscheidungen bei Schwarz I Holzer I Holler, a.a.O., S. 77 ff. 22 OGH v. 16. 11. 1965, ArbSlg 8159. 23 OGH v. 21. 12. 1954, ArbSlg 6133; OGH v. 6. 9. 1955, ArbSlg 6300. 24 LG Wien v. 16. 10. 1969, ArbSlg 8689; OGH v. 6. 4. 1976 ArbSlg 6466. 18

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Firma zu beziehen, als arbeitnehmerähnlich angesehen wurden 25 , so wird die Tendenz der Ausuferung einer durch "wirtschaftliche Unselbständigkeit" charakterisierten Generalklausel offenkundig. Es geht also um Iegistische Eingrenzung. Da eine entsprechende Definition nicht möglich ist, täte der Gesetzgeber gut daran, als Regelungsinstrument zwar eine Generalklausel zu wählen, diese aber durch eine Beispielsaufzählung so zu stilisieren, daß der Richter gebunden wird, in Fällen, die von der Enumeration nicht erfaßt sind, an Hand der aus den Typen der Beispielsaufzählunghervorleuchtenden Wertungen zu entscheiden211 • IV. Die als "gesicherte Ansprüche" bezeichneten Arbeitnehmerforderungen, deren nähere Umschreibung das Insolvenz-Ausfallgeld bestimmt, sind der Höhe nach nicht limitiert und umfassen praktisch alle Ansprüche, die im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis stehen. Voraussetzung ist jedoch, daß es sich um aufrechte, nicht verjährte und nicht ausgeschlossene Ansprüche handelt27 • Ausgeschlossen ist ein Anspruch dann, wenn er durch eine anfechtbare Rechtshandlung erworben wurde; wenn es sich um einen Anspruch auf Abfertigung oder auf Ruhegenuß handelt, ist der Anspruch soweit ausgeschlossen, als er über den durch Gesetz, Kollektivvertrag oder Betriebsvereinbarung zustehenden Anspruch hinausgeht(§ 1 Abs. 3IESG)27 a. In zeitlicher Hinsicht sind die Ansprüche insoferne limitiert, als sie rückwirkend für den Verjährungszeitraum - dieser beträgt, soferne nicht kürzere Verjährungs- oder Verfallfristen statuiert werden, grundsätzlich drei Jahre 28 - und für die Zukunft maximal bis zum Ende des dritten Monats, der auf die Eröffnung des Konkurses oder eines anderen Insolvenzverfahrens oder auf die Abweisung eines Antrags auf Eröffnung eines Konkurses mangels Vermögens folgt, gebühren. Maßgebend ist das Entstehen des Anspruchs innerhalb des gesicherten Zeitraumes LG Wien v. 9. 2. 1972, ArbSlg 8955. Vgl. Klang, Generalklausel und Beispielsaufzählung, JBl 1946, 63 ff. 27 Handelt es sich um Ansprüche, die im Rahmen eines Insolvenzverfahrens angemeldet werden können, dann besteht der Insolvenz-Ausfallgeldanspruch nur, wenn eine Anmeldung erfolgte. Eine Anmeldepflicht besteht für Konkursund Ausgleichsforderungen, nicht aber für Masse- bzw. Geschäftsführungsforderungen. Einschneidende Änderungen sieht der ME in seinem § 1 Abs. 4 vor. Es sollen sowohl der Kreis der ausgeschlossenen Forderungen erweitert, als auch die gesicherten Ansprüche der Höhe nach limitiert werden. 27 a § 1 Abs. 4 ME will die vertragliche Anrechnung von Vordienstzeiten im gegebenen Zusammenhang unter bestimmten Voraussetzungen berücksichtigen. 28 Zur Unterbrechung und Hemmung der Verjährung im Konkurs- und Ausgleichsverfahren vgl. § 9 Abs. 1 und 2 KO, § 9 AO. 25

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(§ 3 Abs. 1 IffiSG). Im Falle eines Anschlußkonkurses beginnt diese Frist

neuerlich zu laufen. Dies wurde deswegen normiert, weil die Fristen im Anschlußkonkurs vom Tage des Antrages bzw. der Eröffnung des vorangegangenen Ausgleichsverfahrens zu berechnen sind (§ 2 Abs. 2 KO) und eine derartige Vordatierung bezüglich des Insolvenz-Ausfallgeldes unbillig wäre. Was die Art der gesicherten Ansprüche anbelangt, so läßt sich aus§ 1 Abs. 2 IESG folgendes Schema ableiten:

I. Entgeltansprüche (a. laufendes Entgelt, b. Entgelt aus der Beendigung des Arbeitsverhältnisses, c. sonstiges Entgelt)

II. Schadenersatzansprüche (a. Schadenersatz aus der Beendigung des Arbeitsverhältnisses, b. sonstiger Schadenersatz) Ill. Sonstige Ansprüche. Festzuhalten ist, daß der Begriff des Entgelts weit auszulegen und daß ihm nach der Österreichischen Lehre alles zuzuordnen ist, was dem Arbeitnehmer für die Zurverfügungstellung seiner Arbeitskraft gewährt wird29 • Dieser weite Entgeltbegriff-dem unbeschadet des Versorgungszweckes als Motivation auch Abfertigungen und Ruhegenüsse zu unterstellen sind- wurzelt in der prinzipiellen Erkenntnis, daß das schuldrechtliche Synallagma im Arbeitsverhältnis nicht unter dem Aspekt eines konkreten Austausches, sondern vom Standpunkt der einem Arbeitsverhältnis sozial adäquaten normativen Zuordnung zu sehen ist, also einer Strukturänderung, die durch die sozialpolitische Intervention bewirkt wurde30• Laufendes Emtgelt sind also alle Entgeltformen, die periodisch zu leisten sind, mag es sich um Monatsgehälter, Wochen- oder Stundenlöhne, um Zeit- oder Akkordlöhne, Prämien, Naturalleistungen oder die gerade für Österreich typischen "Sonderzahlungen" handeln. Diese werden zwar häufig dem "laufenden Lohn" gegenübergestellt, doch beginnen die Grenzen zu fließen: das "dreizehnte" und "vierzehnte" Monatsgehalt sind in Österreich allgemein üblich geworden, so daß der Anlaß der Auszahlung (Weihnachten oder Urlaubsantritt) an Bedeutung verliert; die Sonderzahlungen sind längst ein fixer Bestandteil unserer Lohnpolitik geworden. Entgelt aus der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ist durch die rechtliche Beendigung desselben, gegebenenfalls durch das Hinzutreten 29 Mayer-Maly, Österreichisches Arbeitsrecht (1970), 78 ff.; Martinek I Schwarz, AngG3 , 186 ff.; Floretta I Spielbüchler I Strasser, Arbeitsrecht I, 110 ff.; Hämmerte, Arbeitsvertrag (1949), 206 ff. 30 Dazu Schwarz, Dauerschuldverhältnis und Dogmatik arbeitsvertraglicher Treuepflicht, FS Wilburg 1975, 359; dagegen Wiedemann, Das Arbeitsver-

hältnis als Austausch- und Gemeinschaftsverhältnis, 1966, 15 ff.; mit Recht kritisch Schwerdtner, Fürsorgetheorie und Entgelttheorie im Recht der Arbeitsbedingungen, 1970, insb. 125. 35•

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weiterer rechtserheblicher Umstände bedingt. Hierher gehören die Urlaubsabfindung gern. § 10 UriG bzw. die Urlaubsentschädigung nach § 9 UriG, ebenso die aliquoten Teile der Sonderzahlungen nach Maßgabe der gesetzlichen oder kollektivvertragliehen Bestimmungen sowie die Abfertigung und ein vom Arbeitgeber zu leistender Ruhegenußanspruch31. Der Schwerpunkt des Abfertigungsrechtes lag bisher im Angestelltenund Gutsangestelltenrecht (§§ 23, 23 a AngG, §§ 22, 22 a GAngG), doch sind die einschlägigen Bestimmungen des Angestelltenrechtes aufgrund des Arbeiter-Abfertigungsgesetzes auch auf Arbeiter sinngemäß anzuwenden (§ 2 Abs. 1 ArbAG). Die Abfertigung knüpft an eine bestimmte, ununterbrochene Dauer des rechtlichen Bestandes des Arbeitsverhältnisses beim nämlichen Dienstgeber an und wird nach einem Mehrfachen des Monatsgehalts bemessen. Der Anspruch besteht nicht, wenn der Arbeitnehmer selbst kündigt, wenn er ohne wichtigen Grund vorzeitig austritt oder wenn ihn ein Verschulden an der vorzeitigen Entlassung trifft(§ 23 Abs. 7 AngG). Ausnahmen von dem Verlust infolge Selbstkündigung gibt es insofern, als die Kündigung nach Vollendung des Pensionsalters, wegen Inanspruchnahme der vorzeitigen Alterspension oder im Zusammenhang mit der Mutterschaft erfolgt (§ 23 a AngG). Der partielle Ausschluß gemäߧ 1 Abs. 3 IESG ist im doppelten Sinne zu verstehen: einmal besteht kein Anspruch, wenn die Abfertigung oder der Ruhegenuß nicht kraft Gesetzes, kraft Kollektivvertrages oder aufgrund einer Betriebsvereinbarung zusteht, und zum anderen besteht insoweit kein Anspruch, als die an sichkrafteiner Norm zustehende Leistung durch Individualvereinbarung erhöht wurde. Die durch § 2 Abs. 1 ArbAG erfolgte Erweiterung des Abfertigungsrechtes hat naturgemäß beträchtliche Auswirkungen auf das IESG, zumal nunmehr auch dem Angestellten unmittelbar vorangegangene Arbeiterdienstzeiten für die Angestelltenabfertigung anzurechnen sind und umgekehrt. Für die Zeit vom Inkrafttreten des ArbAG (1. 7. 1979) bis 31. 12. 1983 wurde ein Etappenplan erstellt, wonach die Arbeiterabfertigung stufenweise nach Prozentsätzen gestaffelt wird. Sind Dienstzeiten als Arbeiter in die Angestelltenabfertigung einzurechnen (oder umgekehrt), so gebührt die aufgrundder Angestelltendienstzeit zustehende Abfertigung in vollem Ausmaß, der durch die Berücksichtigung von Arbeiterdienstzeiten sich ergebende Mehranspruch nach Maßgabe des Etappenplanes (Art. VII Abs. 4 ArbAG). Danach ist auch der Anspruch auf Insolvenz-Ausfallgeld zu bemessen, es sei denn, daß Normen kollektiver Rechtsgestaltung eine günstigere Regelung treffen (Art. VII Abs. 5 ArbAG)3ta. 31 In der Stellung als bloßer Gläubiger einer Geldforderung wird man den Ruheständler wohl kaum mit Treue- und Rücksichtspftichten über den von den guten Sitten gesteckten Rahmen hinausbelasten können; vgl. Schwarz I Holzer, Die Treuepflicht des Arbeitnehmers und ihre künftige Gestaltung, 115.

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Die Regelungsbefugnis der Abfertigung durch Kollektivvertrag hat immer bestanden und basiert nunmehr auf § 2 Abs. 2 Z 2 des Arbeitsverfassungsgesetzes (ArbVG). Betriebsvereinbarungen bilden nur dann eine normative Grundlage im Sinne des Gesetzes, wenn die Regelung auf kollektivvertraglicher Ermächtigung beruht (§ 29 ArbVG) oder im Rahmen eines "Sozialplanes" erfolgt(§§ 97 Abs. 2, 109 Abs. 3 ArbVG). Wird eine Abfertigung durch eine im Gesetz nicht gedeckte Betriebsvereinbarung vereinbart (sog. "freie Betriebsvereinbarung"), so basieren deren Rechtswirkungen nicht auf dem Arb VG und ein Anspruch im Rahmen des IESG ist nicht gegeben. Betriebsvereinbarungen können "betriebliche Pensions- und Ruhegeldleistungen" gemäߧ 97 Abs. 1 Z 18 ArbVG normativ regeln32• Ansprüche nach dem IESG sind klarerweise nur gegeben, wenn sich der Anspruch gegen den Arbeitgeber richtet, nicht aber, wenn betriebliche Wohlfahrtseinrichtungen (Pensions- und Unterstützungskassen) mit eigener Rechtspersönlichkeit vom Arbeitgeber(§ 95 ArbVG) oder Betriebsrat(§ 93 ArbVG) errichtet wurden und der Rechtsanspruch gegen den verpflichteten Rechtsträger zu richten ist. Im übrigen werden bei Eintritt des insolvenzrechtlichen Tatbestandes (Stichtag) bereits bestehende Ruhegenüsse so behandelt, daß die vor dem Stichtag aushaftenden Ansprüche zur Gänze, die nach dem Stichtag angefallenen mit einer Abschlagzahlung von 12 Monatsbeträgen abgegolten werden. Ruhegenußforderungen, deren Entstehen erst nach dem Stichtag liegt, lösen nur insoweit einen Anspruch auf Insolvenz-Ausfallgeld aus, als sie im gesicherten Zeitraum entstanden sind (§ 3 Abs. 3 IESG). Für "sonstiges Entgelt" bleibt, wenn man, wie dies oben geschah, den Begriff des laufenden Entgelts extensiv auslegt, nur ein kleiner Sektor von Entgeltansprüchen übrig. Hierher gehören beispielsweise Entgeltformen einmaliger oder sporadischer Art, wie Jubiläumsgelder oder ähnliche Leistungen. Schadenersatzansprüche aus der Beendigung des Arbeitsverhältnisses sind primär durch den für das Österreichische Arbeitsrecht charakteristischen Umstand bedingt, daß die vorzeitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht in eine ordentliche Kündigung umgedeutet wird. Der Lösungseffekt tritt vielmehr grundsätzlich und ohne Rücksicht auf die Rechtmäßigkeit der Lösung ein; die weitere Auseinandersetzung geht um Schadenersatz, der- soweit er dem Arbeitnehmer gebührt- mit der sta Näheres bei Martinek I Schwarz, Abfertigung - Auflösung des Arbeitsverhältnisses (1980), 328 f., 352 f., 365 ff., 384 ff., 434 ff. 32 Die Regelungsbefugnis bezüglich der Begründung von Ruhegenüssen durch Kollektivvertrag hat immer bestanden; sie wurde nunmehr auf die Regelung bereits laufender Ruhegenüsse erweitert(§ 2 Abs. 2 Z 3 ArbVG). Vgl. Floretta I Strasser, Kommentar zum ArbVG, 18 f.

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Kurzformel "Kündigungsentschädigung" umschrieben wird. Diese bemißt sich nach jenem Zeitraum, der bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Ablauf einer bestimmten Vertragszeit oder durch ordnungsgemäße Kündigung hätte verstreichen müssen. Der Anspruch wird bis zum Ausmaß von 3 Monaten sofort und ohne Anrechnung fällig. Nur insoweit der relevante Zeitraum 3 Monate übersteigt, bleibt es bezüglich der Fälligkeit bei den vereinbarten oder gesetzlichen Fälligkeitsterminen und kommt es zur Anrechnung dessen, was sich der Arbeitnehmer infolge unterbliebener Dienstleistung erspart oder durch anderweitige Verwendung erworben oder absichtlich zu erwerben versäumt hat33 • Analoge Fälligkeitsbestimmungen gelten auch bezüglich der Abfertigungsansprüche, doch gibt es keine Anrechnungsbestimmungen, da der Abfertigung im Gegensatz zur "Kündigungsentschädigung" Entgeltcharakter zukommt. Unter "sonstige Ansprüche" sind schließlich alle Ansprüche einzureihen, die nicht in die Kategorien der Entgelt- oder Schadenersatzansprüche gehören. Hierher zählen z. B. Aufwandsentschädigungen, insbesondere Aufwandszulagen sowie Vergütungen für Barauslagen, Diensterfindungen oder Verbesserungsvorschläge. Zu den sonstigen Ansprüchen zählen gemäß § 1 Abs. 2 Z 4 IESG die notwendigen Kosten, die bei der Geltendmachung gesicherter Ansprüche entstehen. Art und Umfang der gesicherten Ansprüche müssen demnach als umfassend bezeichnet werden. Was die erwähnte zeitliche Limitierung anbelangt, so kommt es gemäß § 3 Abs. 1 IESG darauf an, ob der gesicherte Anspruch vor Eintritt des Stichtages oder bis zum Ende des dritten Monats nach diesem Zeitpunkt entstanden ist. Das Gesetz spricht nicht von Fälligkeit, sondern vom Entstehen, d. h. dem Erwerb des Anspruches. Dieser sicherlich subtile Unterschied ist keine Haarspalterei, zumal wir im positiven Recht die Nutzbarmachung einer derartigen Unterscheidung vorfinden34 • Es ist durchaus legitim, diese Nutzbarmachung entsprechend zu erweitern, wenn dies die Verwirklichung des Zweckes einer Norm verlangt. Vor allem muß im Falle der Abfertigung der Umstand, daß gemäß § 23 Abs. 4 AngG mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses lediglich die Fälligkeit des Dreifachen des Monatsentgelts verbunden ist, als nicht relevant bezeichnet werden. Man wird sagen müssen, daß die Abfertigung an sich erworben wurde und daß die bezüglich des Restbetrages vorgesehene Fälligkeitsbestimmung, die auf monatliche Teilbeträge abstellt (§ 23 Abs. 4 AngG), hier außer Betracht bleibt. Was für die Abfertigung recht ist, muß auch für die sog. "Kündigungsentschädigung" billig sein. Ersatzansprüche des Arbeitnehmers wegen 33 34

Vgl. § 1162 b ABGB, § 29 AngG, § 29 GAngG, § 84 GwO, § 34 LArbG. Vgl. Martinek I Schwarz, AngG3 , 223.

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unbegründeter Entlassung bzw. wegen begründeten Austritts3 5 werden auch über das Ausmaß des dreifachen Monatsentgelts hinaus erworben, wenn die Lösung des Arbeitsverhältnisses innerhalb des gesicherten Zeitraumes erfolgte. Inwieweit im Falle der Zuerkennung einer 3 Monatsgehälter übersteigenden Kündigungsentschädigung eine nachträgliche Berichtigung vorzunehmen wäre, wenn anderweitig verdientes Entgelt anzurechnen ist (vgl. insb. § 1162 b ABGB, § 29 AngG), muß gemäߧ 9 IESG entschieden werden36 • Trotz dieser für den Arbeitnehmer günstigen Interpretation ergeben sich in Anbetracht der langen Kündigungsfristen, die der Arbeitgeber oder Masseverwalter nach dem Angestelltengesetz einzuhalten hat, bezüglich des Erwerbes der Abfertigung Härtefälle. Dies ist dann der Fall, wenn der Ausspruch der Kündigung innerhalb, die rechtliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses und damit das Ende der Kündigungsfrist jedoch außerhalb des gesicherten Zeitraumes liegen. Der Durchführungserlaß zum IESG (Fassung Mai 1979, Zl 37006/220 3/79) hat in sozialer Rechtsanwendung auf den Ausspruch der Kündigung abgestellt und den Anspruch auf Abfertigung zur Gänze anerkannt, auch wenn die vom Arbeitgeber oder Masseverwalter einzuhaltende Kündigungsfrist über den gesicherten Zeitraum hinausreicht. Als Begründung wird angeführt, daß mit dem Ausspruch der Kündigung eine Anwartschaft auf die Abfertigung bestehe. Dies gelte auch für die übrigen mit der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses verbundenen Entgeltansprüche (z. B. aliquote Sonderzahlungen, Urlaubsabfindung, Urlaubsentschädigung). Diese Rechtsmeinung ist nicht nur unrichtig, sondern auch in ihrer sozialen Zielrichtung zwiespältig. Sie hat zur Konsequenz, daß nachträglich keine Verwirkung des Abfertigungsanspruches eintreten könnte, z. B. zufolge der Setzung eines Entlassungsgrundes durch den Arbeitnehmer. Andererseits würde dies bedeuten, daß die Kündigung seitens des Arbeitnehmers schon mit deren Ausspruch den Anspruch auf Abfertigung verwirken würde, ohne daß nachträglich anspruchsbegründende Umstände anzuerkennen wären (z. B. vorzeitiger Austritt des Arbeitnehmers, Tod des Arbeitnehmers). Die zuletzt genannte Folgerung ist gerade das Gegenteil einer sozialen Rechtsanwendung. Wenn man aber eine derartige Verwirkung mit Ausspruch der Kündigung nicht anzuerkennen vermag, so kann man vice versa auch von keinem Anwartschaftsrecht sprechen. Es wäre besser gewesen, die Arbeitnehmer in einer groß angelegten Aktion über ihre Austrittsrechte zu belehren: nach § 25 KO gilt die Konkurseröffnung an sich als wichtiger Grund, der den Ar35 36

Siehe Fn. 33.

Schwarz I Holzer I Holler, a.a.O., 88 f., 116 ff.

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beitnehmer berechtigt, das Arbeitsverhältnis unter Wahrung seiner Ansprüche vorzeitig aufzulösen. Auch in den Fällen der anderen für das IESG relevanten Tatbestände werden häufig Austrittsgründe vorliegen (z. B. zufolge einer Schmälerung oder Vorenthaltung des Entgelts). Daß ein berechtigter Austritt auch dann erfolgen kann, wenn der Arbeitnehmer vorher gekündigt wurde, kann wohl kaum bestritten werden. Im übrigen wird es Sache des Gesetzgebers sein, hier klare Verhältnisse zu schaffen36a.

V. Das Arbeitsamt ist bei der Beurteilung desVorliegenseines gesicherten Anspruches an die hierüber ergangenen, rechtskräftigen Entscheidungen gebunden36b. Ähnlich ist die Rechtslage, wenn nach dem übersendeten Anmeldungsverzeichnis der gesicherte Anspruch im Insolvenzverfahren festgestellt ist; insoweit dies der Fall ist, hat das Arbeitsamt dem Antrag ohne weitere Prüfung stattzugeben37 • Im übrigen sind gemäß § 7 Abs. 1 IESG die §§ 45 bis 55 A VG 1950 anzuwenden. Diese Formulierung läßt wohl keinen anderen Schluß zu, als den, daß der Gesetzgeber die übrigen formalisierten Erklärungen zu den geltend gemachten Forderungen der freien Beweiswürdigung anheimstellen wollte. Gemäß § 45 Abs. 2 A VG 1950 hat die Behörde unter sorgfältiger Berücksichtigung der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens nach freier Überzeugung zu beurteilen, ob eine Tatsache als erwiesen anzusehen ist oder nicht. Nach § 46 AVG kommt als Beweismittel alles in Betracht, was zur Feststellung des maßgebenden Sachverhaltes geeignet und nach Lage des einzelnen Falles zweckdienlich ist. Damit ist die eingangs erwähnte erhebliche Mehrbelastung der Arbeitsämter transparent geworden: die den Behörden obliegende Kompe36 a Der ME anerkennt den Anspruch auf Abfertigung in seinem § 3 Abs. 1 auch dann, wenn die Abfertigung nach Ablauf der Frist von 3 Monaten nach dem Stichtag entstanden, der Ausspruch der Kündigung jedoch innerhalb dieser Frist erfolgt ist. Hier wird der Zeitpunkt des Erwerbes der Abfertigung richtig erkannt, doch übersehen, daß die 4monatige Frist zur Antragstellung auf Insolvenz-Ausfallgeld vom Zeitpunkt der insolvenzrechtlichen Tatbestände zu laufen beginnt (§ 6 Abs. 1 IESG), so daß hier wohl eine weitere spezifische Fristenberechnung einzubauen wäre (vgl. § 6 Abs. 1 ME). 36 b Diese Bindung tritt bei Versäumungs- und Anerkenntnisurteilen nicht ein. Dies wird im § 7 Abs. 1 ME ausdrücklich klargestellt. 37 Gemäß § 109 KO gilt im Konkurs eine Konkursforderung als festgestellt, wenn sie vom Masseverwalter anerkannt und von keinem hiezu berechtigten Konkursgläubiger bestritten wurde. Das Ergebnis der Prüfungsverhandlung ist gemäß § 108 Abs. 1 KO in das Anmeldungsverzeichnis einzutragen. Gläubiger, deren Forderungen streitig geblieben sind, können deren Feststellung mittels Klage geltend machen, die gegen alle Beteiligten zu richten ist (§ 110 Abs. 1 KO, § 14 ZPO).

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tenz ist im Grunde genommen Rechtsprechung in Sachen Arbeitsrecht, ein Umstand, der die bestehende Tendenz der Anlehnung an die im IESG verlangten Formalerklärungen verständlich macht. Wie erwähnt38, hat der Arbeitgeber, wenn ein Insolvenzverfahren nicht anhängig ist, binnen 14 Tagen ab Aufforderung zu jeder Forderung eine bestimmte Erklärung über ihre Richtigkeit abzugeben; Vorbehalte sind unzulässig(§ 6 Abs. 4 IESG). Ist ein Konkursverfahren anhängig, so hat diese Erklärung der Masseverwalter abzugeben, wobei die Erklärungsfrist von 14 Tagen erstreckt werden kann, wenn die zur Überprüfung notwendigen Aufzeichnungen des Gemeinschuldners nicht vorhanden oder mangelhaft sind oder sonst die Abgabe der Erklärung binnen 14 Tagen unzumutbar ist. Soweit die Forderung Gegenstand der Anmeldung ist, tritt an die Stelle der befristeten Erklärung die unverzügliche Übersendung des Anmeldeverzeichnisses (einer Abschrift) durch den Masseverwalter (§ 6 Abs. 5 IESG)3 u. Die genannten Bestimmungen sind bei Anhängigkeit eines Ausgleichsverfahrens sinngemäß anzuwenden; an die Stelle des Masseverwalters tritt der Ausgleichsverwalter (§ 6 Abs. 6 IESG). Die Tendenz der Anlehnung an diese Erklärung kommt im Durchführungserlaß (Fassung Mai 1979, Zl 37006/220- 3/79) dadurch zum Ausdruck, daß die bejahende oder verneinende Erklärung des Masseverwalters so gut wie für die Behörde bindend erachtet wird. In ähnlicher Weise wird zu§ 7 festgestellt, daß auch die Erklärung des Arbeitgebers in der Regel als Grundlage für die Entscheidung herange21ogen werden kann. Schließlich wird im Zusammenhang mit § 7 IESG die Beurteilung bestimmter Ansprüche (Sonderzahlungen, Urlaubsentgelt, Kündigungsentschädigung, Urlaubsabfindung) überhaupt dem Aufgabenbereich des Masseverwalters "zugeteilt". Der zuletzt erwähnte Passus des Durchführungserlasses entspricht wohl eindeutig nicht dem Gesetz. Bezüglich der anderen Bestimmungen kommt es darauf an, ob der Erklärung des Masseverwalters vor dem Arbeitsamt eine konstitutive Wirkung beizumessen ist. Hier ist zunächst die Stellung des Masseverwalters kurz zu beleuchten: der sog. "Amtstheorie" wird die "Vertretertheorie" als der Rechtslage eher entsprechend gegenübergestellt, die in zwei Varianten als vertretbar erachtet wird. Die eine Variante sieht im Masseverwalter den gesetzlichen Vertreter der Konkursmasse, wobei die letztere als provisorisch rechts- und parteifähiges Gebilde angesehen wird; die andere Ansicht betrachtet den Masseverwalter als gesetzlichen Vertreter des Gemeinschuldners in bezug auf die Konkursmasse 40 • Von der Rechtsstellung des Massever88 Vgl. oben FN 11. n Die Abgabe der Erklärung nach § 6 Abs. 4 IESG durch den Masseverwalter ist demgemäß im wesentlichen auf Masseforderungen beschränkt.

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walters aus ließe sich eine Konsequenz im Sinne der Durchführungsbestimmungen wohl begründen. Dagegen spricht die Amtswegigkeit des Verwaltungsverfahrens, der Umstand, daß der Masseverwalter vor dem Arbeitsamt nicht als Partei, sondern als Auskunftsperson agiert und weiters die Erkenntnis, daß der ratio legis nicht entsprochen wird, den Masseverwalter, der allen Beteiligten für die bei seiner Geschäftsführung erforderliche Sorgfalt zu haften hat (§ 1299 ABGB), so zu binden, daß er sogar im Insolvenzverfahren gegenüber dem Fonds präjudiziert sein könnte. Die Konsequenz wäre die Tendenz zur Bestreitung durch den Masseverwalter, die- im Sinne des Erlasses offenbar wieder verbindlich - die Arbeitnehmer in die insolvenzrechtlichen Prüfungsprozesse drängen würde, deren Austragung ihnen das IESG ersparen wollte! Schließlich darf nicht übersehen werden, daß die Vertretungsbefugnisse des Masseverwalters nach den Bestimmungen der Konkursordnung keineswegs unbeschränkt sind. Gemäß § 83 Abs. 1 KO kann der Konkurskommissär Beschränkungen der Befugnisse des Masseverwalters verfügen und diese dem Dritten bekanntgeben. Gemäß § 115 Abs. 1 KO hat der Masseverwalter "bei allen wichtigen Vorkehrungen" den Beschluß des Gläubigerausschusses einzuholen; in dringenden Fällen kann der Konkurskommissär die Vornahme solcher Vorkehrungen gestatten (§ 115 Abs. 2 KO). Solange ein Gläubigerausschuß nicht bestellt ist, hat der Konkurskommissär die dem Gläubigerausschuß zugewiesenen Obliegenheiten (§ 90 KO). Es ist durchaus denkbar, daß die Anerkennung von Masseforderungen als wichtige Vorkehrung im Sinne des § 115 Abs. 1 KO zu betrachten ist, doch beschränkt diese Bestimmung die Vertretungsmacht des Masseverwalters nicht nach außen. Anders ist dies in den Angelegenheiten der§§ 116, 117 KO: das Erfordernis der besonderen Ermächtigung nach diesen Bestimmungen wirkt auch ohne besondere Bekanntgabe nach außen. Mangelt die vorgeschriebene Genehmigung, so erzeugt die Rechtshandlung des Masseverwalters die beabsichtigte Wirkung nach außen nicht, gleichgültig, ob der Dritte das Erfordernis der Genehmigung kannte oder ob er ihr Fehlen kennen mußte41 • Für unseren Zusammenhang ist § 116 Z 5 KO von Bedeutung, wonach u. a. die Anerkennung von Masseforderungen der Genehmigung des Gläubigerausschusses (in Ermangelung eines solchen gemäß § 90 KO des Konkurskommissärs) bedarf, wenn es sich um einen Wert von mehr als 400 000 S handelt. Im Hinblick darauf, daß das IESG auf diese Beschränkungen mit keinem Wort Bezug nimmt, muß angenommen wer40 Zur Gesamtproblematik vgl. Wegan I Reiterer, österreichisches Insolvenzrecht 1973, 13 ff.; Petschek I Reimer I Schiemer, Das österr. Insolvenzrecht 1973, 488 ff.; Schwarz I Holzer I Holler, a.a.O., 166 ff. u OGH 9. 3. 1955 SZ XXVIII/72.

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den, daß die Erklärung des Masseverwalters vor dem Arbeitsamt diesen Beschränkungen überhaupt nicht unterliegt und ihr demgemäß eine konstitutive Wirkung nicht zukommt. Das Gegenteil dieser Meinung hätte im IESG eindeutig zum Ausdruck gebracht werden müssen. Es ist naheliegend, sich zwecks Lösung dieses Problems die in der Zivilrechtslehre seit langem gebräuchliche Unterscheidung zwischen Willens- und Wissenserklärungen nutzbar zu machen 42 • Im Sinne dieser Unterscheidung ist "echtes" Anerkenntnis eine Willenserklärung, also eine vertragsmäßige Entscheidung eines wirklichen oder möglichen Streites mit der Konsequenz der Unwiderlegbarkeit, allenfalls Anfechtbarkeit43. Demgegenüber ist ein deklaratorisches Anerkenntnis ein "Geständnis", also eine Wissenserklärung, d. h. eine Aussage in der Sache und somit als Beweismittel widerlegbar. Ähnlich ist im konkreten Falle die Erklärung des Masseverwalters zu werten: es handelt sich um eine bloße Wissenserklärung über die (nach seiner Meinung) bestehende Rechtslage, deren Bedeutung im Bereich der Beweissituation liegt. Dem entspricht auch die Rolle des Masseverwalters als Auskunftsperson vor dem Arbeitsamt und nicht etwa als Partei im Verwaltungsverfahren. Eine ähnliche Beurteilung gilt naturgemäß für die im einschlägigen Zusammenhang abzugebende Erklärung des Arbeitgebers oder des Ausgleichsverwalters. Sie unterliegen der freien Beweiswürdigung. Will man zusammenfassend das Österreichische IESG würdigen, dann muß wohl zunächst die große sozialpolitische Bedeutung hervorgehoben werden. In juristischer Hinsicht erfährt die im Arbeitsrecht einerseits und im Insolvenzrecht andererseits zu verzeichnende wechselseitig stiefmütterliche Behandlung des jeweils anderen Rechtsgebietes bemerkenswerte Impulse zur Annäherung beider Disziplinen. Schließlich muß ein erheblicher Lernprozeß innerhalb der bislang im Arbeitsrecht nur am Rande tätigen Bürokratie der Behörden einsetzen, welcher Umstand als "besonders nützlicher Effekt des neuen Gesetzes angesehen werden muß.

42 Vgl. statt vieler Bydlinski, Willens- und Wissenserklärungen im Arbeitsrecht, ZAS 1976, 83 ff. 43 Ein solcher Anerkenntnisvertrag, der wie ein Vergleich ein Feststellungsvertrag ist, schafft unabhängig vom Bestehen des behaupteten Rechtes eine neue selbständige Verpflichtung und ruft das anerkannte Rechtsverhältnis auch für den Fall, daß es nicht bestanden haben sollte, ins Leben (OGH 29. 1. 1974, JBl. 1975, 206).

INDIVIDUALARBEITSRECHTLICHE PROBLEME DES BETRIEBSÜBERGANGES

Versuch einer Bestandsaufnahme Von Peter Schwerdtner

I. Einführung Nachdem das BAG mit seinen Entscheidungen vom 17. 1. 19801 und vom 26. 9. 19792 zwei weitere Problemkreise im Rahmen des Rechts des Betriebsübergangs, nämlich die Anwendbarkeit des § 613 a bei der Betriebsveräußerung durch den Konkursverwalter und die Fortgeltung der Tarifgeltung bei derartigen Erwerbstatbeständen, einer höchstrichterlichen Klärung zugeführt hat, ist der Versuch einer Bestandsaufnahme zu den individual-arbeitsrechtlichen Problemen der Betriebsveräußerung gerechtfertigt. Das Schrifttum und die Rechtsprechung zu diesem Fragenkreis sind immens angewachsen3 • Bereits dieser Umstand zeigt, daß dem Gesetzgeber bei der Schaffung des§ 613 a keine Glanzleistung gelungen ist. Die erstrebte Rechtssicherheit und Rechtsklarheit4 ist nicht erreicht worden. Daߧ 613 a schon frühzeitig für verfassungswidrig DB 1980, 308 ff. DB 1980, 262 ff. 3 Vgl. z. B. Borngräber, Arbeitsverhältnis und Betriebsübergang, Düsseldorf 1977; Posth, Arbeitsrechtliche Probleme des Betriebsinhaberwechsels (§ 613 a), Köln 1978; Gitter, 25 Jahre BAG, 1979, S. 133 ff.; Kraft, 25 Jahre BAG, München 1979, S. 298 ff.; Steckhan, Festschrift für Schnorr von Carolsfeld, 1972, S. 463 ff.; Fischer, BB 1971, 1203 ff.; Neumann-Duesberg, BB 1971, 969 f.; ders., NJW 1972, 665 ff.; ders., BB 1972, 620 ff.; ders., NJW 1973, 256 ff.; Schmidt, NJW 1971, 1203 ff.; Hasford, BB 1973, 256 ff.; v. Hoyningen-Huene I Windbichler, RdA 1977,329 ff.; Gaul, BB 1979, 1667 ff.; Heinze, DB 1980, 205 ff.; Schmitt, ZfA 1979, 503 ff.; vgl. aus dem Österreichischen Schrifttum Krejci, Betriebsübergang und Arbeitsvertrag, Wien 1972; Schwarz, Das Arbeitsverhältnis bei Übergang des Betriebs, Wien 1967; vgl. zur Rechtslage vor Inkrafttreten des § 613 a z. B. Hueck in: A. Hueck I Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Bd. I, 7. Aufl., Berlin- Frankfurt a. M. 1963, § 54 III 1, S. 516; BAG AP Nr. 1, 6 zu § 419 BGB; vgl. zur öffentlich-rechtlichen Funktionsnachfolge Hanau, Die arbeitsrechtliche Bedeutung der öff.-rechtl. Funktionsnachfolge (Gutachten für die ÖTV), 1979. 4 Vgl. dazu BT-Drucks. VI/1786, S. 59; Richardi, RdA 1976, 56 ff., 57; Birk, Anm. zu BAG EzA Nr. 1 zu§ 613 a BGB; Heinze, DB 1980, 205 ff., 206; BAG AP Nr. 11 zu § 613 a BGB. 1

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erachtet wurde 5, vermag angesichts des "Rangs" verfassungsrechtlicher Argwnentationsmuster in der arbeitsrechtlichen Diskussion nicht zu überraschen. Dieser Streit dürfte sich aber mittlerweile in dem Sinne erledigt haben, daß die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen den Regelungsgehalt des § 613 a nicht zu überzeugen veTmögen. II. Entstehungsgeschichte, § 613 a als Rahmenordnung § 613 a ist mit§ 122 BetrVG 1972 in das Bürgerliche Gesetzbuch eingefügt worden. Danach tritt der rechtsgeschäftliche Erwerber eines Betriebs oder Betriebsteils in die Rechte und Pflichten aus den im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen ein. Für bereits entstandene Verbindlichkeiten haftet auch der bisherige Arbeitgeber noch in bestimmtem Umfange. Mit dieser gesetzlichen Regelung hat sich die jahrzehntealte Streitfrage erledigt, ob bei einer rechtsgeschäftliehen Betriebsveräußerung die Arbeitsverhältnisse kraft Gesetzes auf den Erwerber übergehen oder ob es hierzu einer besonderen Vereinbarung zwischen dem bisherigen und dem neuen Betriebsinhaber und der Zustimmung der betroffenen Arbeitnehmer bedarf6 • Dies darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß mit § 613 a nur eine Rahmenordnung erreicht ist. Der Gesetzgeber hat viele Einzelfragen keiner Lösung zugeführt. Auch die Materialien geben zur Lösung dieser Probleme wenig her. Im Entwurf der Bundesregierung7 wird zu § 613 a folgendes ausgeführt: "Da gelegentlich Betriebe erworben werden, um sie alsbald stillzulegen, war gefordert worden, den Betriebsübergang als solchen der Mitbestimmung des Betriebsrats ausdrücklich zu unterwerfen. Der Entwurf ist diesem Vorschlag nicht gefolgt. Er sieht vielmehr die Einführung eines neuen Paragraphen in das Bürgerliche Gesetzbuch vor, in dem die Rechtsfolgen eines Betriebsübergangs für die Arbeitsverhältnisse allgemein geregelt werden. Die Vorschrift lehnt sich an die einschlägige Rechtsprechung an, erstreckt deren Grundsätze jedoch gleichmäßig auf alle Arbeitnehmer und regelt in Abs. 2 Sratz 2 gleichzeitig die zur Sicherung der Ansprüche der Arbeitnehmer erforderliche Mithaftung des bisherigen Arbeitgebers über den Zeitpunkt des Betriebsübergangs hinaus. In Fällen der Universalsukzession - Umwandlung und Verschmelzung von Gesellschaften - ist eine derartige Vorschrift nicht erforderlich. Damit in diesen Fällen, in denen der bisherige Betriebsinhaber durch die Verschmelzung oder Umwandlung erlischt, die Vorschrift des Absatzes 2 Satz 1 über die Haftung des bisherigen Betriebsinhabers nicht zu Mißverständnissen führt, werden die Fälle der Verschmelzung und der 5 Vgl. z. B. Galperin, Der Regierungsentwurf eines Betriebsverfassungsgesetzes, 1972, S. 11; vgl. dazu aber zutreffend Seiter, AR-Blattei D Betriebsinhaberwechsel I B UI 1. 6 Vgl. zur früheren Rechtslage A. Hueck in: A. Hueck I Nipperdey, a.a.O., Bd. r, §54 ur 1, s. 516.

Individualarbeitsrechtliche Probleme des Betriebsüberganges

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Umwandlung in Absatz 2 Satz 2 ausdrücklich von dieser Regelung ausgenommen .... Die Regelung des Betriebsübergangs hat betriebsverfassungsrechtliche Bedeutung, da sich das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats auch gegen den neuen Arbeitgeber richtet, wenn dieser Maßnahmen beabsichtigt, die nachteilige Auswirkungen für die Arbeitnehmer haben können." Auch der Schriftliche Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnungs ist in seiner Aussage knapp. Dasgesetzgeberische Vorhaben, die Regelung der arbeitsrechtlichen Probleme des BetriebS/Übergangs, mußte angesichtsder mageren Vorarbeiten im Gesetzgebungsverfahren dürftig ausfallen. Die betriebsverfassungsrechtliche Relevanz der Neuregelung hat sich im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens darauf reduziert, daß die mit einem Arbeitsverhältnis notwendigerweise gekoppelten Betriebsratsämter fortbestehen und daß Betriebsvereinbarungen zwischen dem Veräußerer und dem Betriebsrat in Kraft bleiben9 • Im übrigen stand am Ende des Gesetzgebungsverfahrens eine allgemeine Arbeitnehmerschutzvorschrift10. Wer jedoch nunmehr den dogmatischen Dauerbrenner der Auswirkungen des Betriebsübergangs auf die bestehenden Arbeitsverhältnisse als erledigt wähnte, sah sich alsbald bitter enttäuscht. Die Diskussion um arbeitsrechtliche Probleme des Betriebsübergangs steht, wenn nicht alles täuscht, am Neubeginn einer Auseinandersetzung. Die sich hier auftürmenden Fragen werfen ein bezeichnendes Licht auf den Gesetzgebungsstil der Gegenwart. Eine geplante gesetzgebensehe Neuregelung wird häufig schlecht vorbereitet. Bei Folgegesetzen wird eine Einbindung in die Gesamtheit der Rechtsordnung versäumt. So hat z. B. der Gesetzgeber bei der Schaffung des Betriebsrentengesetzes11 die Probleme des Betriebsübergangs im Rahmen der betrieblichen Altersversorgung völlig übersehen. Im folgenden sollen daher die individualarbeitsrechtlichen Probleme des Betriebsübergangs aufgezeigt werden1 2 •

7 BT-Drucksache VI/1786, S. 59. s BT-Drucksache VI/2729, S. 35/36. 9 Vgl. Fitting I Auffarth I Kaiser, Betriebsverfassungsgesetz, 12. Auf!., München 1977, § 1 Rdnr. 18, § 77 Rdnr. 45; vgl. auch Gamillscheg, Festschrift für W. Weber, Berlin 1974, S. 793 ff., S. 796 Fn. 6. 10 Vgl. z. B. BAG AP Nr. 1 zu § 613 a BGB = SAE 1976, 74 m. Anm. von

Stratmann.

11 Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung vom 19. 12. 1974- BGBI. I S. 3610. 12 Vgl. zur Fortgeltung von Kollektivvereinbarungen Mösenfechtell Schmitz, RdA 1976, 108 ff.; Birk, AuR 1975, 312 ff.; Kunze, RdA 1976, 31 ff.; Wiedemann I Stumpf, Tarifvertragsgesetz, 5. Auf!., München 1977, § 3 Rdnr. 77 ff.; vgl. auch Entwurf eines Arbeitsrechtlichen EG-Anpassungsgesetzes, RdA 1975, 124; dieser Entwurf ist mittlerweile Gesetz geworden BGBI. I 1308.

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111. Normzweck

Mit § 613 a sollen erstens die bestehenden Arbeitsplätze geschützt werden. Zweitens soll die Kontinuität des Betriebsrats gewährleistet und drittens die Haftung des alten und des neuen Arbeitgebers gesichert werden13 • Der rechtstechnische Weg, auf dem der Gesetzgeber diese Schutzzwecke zu verwirklichen versuchte, wird in zunehmendem Maße als echter Fall der gesetzlichen Rechtsnachfolge gedeutet14• IV. Anwendungsbereich des § 613 a 1. Sachlicher Anwendungsbereich

a) Betriebsgröße Obwohl § 613 a als Erweiterung des Bestandsschutzes von Arbeitsverhältnissen zu deuten ist und darüber hinaus den Fortbestand der Betriebsvertretung sichern soll15, ist sein Anwendungsbereich von der Betriebsgröße unabhängig, also unabhängig von der Beschäftigtenzahl und der Anzahl und Größe der maschinellen Anlagen18• Es kommt also im Rahmen des § 613 a nicht darauf an, ob es sich bei dem veräußerten Betrieb um einen Betrieb handelt, auf den das Kündigungsschutzgesetz Anwendung findet (§ 23 Abs. 1 Satz 2 KSch:G), und ob in dem betreffenden Betrieb oder Betriebsteil ein Betriebsrat errichtet ist bzw. hätte errichtet werden können.§ 613 a ist eben keine betriebsverfassungsrechtliche oder kündigungsschutzrechtliche Norm. Daß sie mit Inkrafttreten des Betriebsverfassungsgesetzes 1972 in das BGB eingefügt worden ist, ist eine Äußerlichkeit, die sie nicht zu einer betriebsverfassungsrechtlichen Norm macht17 •

b) Tendenzbetriebe Ob § 613 a auch auf Tendenzbetriebe anwendbar ist, ist zweifelhaft. Das BAG 18 hat den Standpunkt eingenommen, daß § 613 a auch für 13 So zutreffend BAG DB 1980, 309ff., 310 im Anschluß an Renekel in: Jäger I Henckel, Konkursordnung, 9. Aufl., Berlin- New York 1977, § 1 Rdnr. 16; Richardi, RdA 1976, 56 ff., 57; vgl. auch Wiedemann I WiHemsen, RdA 1979, 419 ff. Schaub in: Münchener Kommentar, Bd. III 1, München 1980, § 613a Rdnr. 2. 14 Vgl. z. B. Heinze, DB 1980, 205 ff.; Schmitt, ZfA 1979, 503 ff.; Seiter, ARBlattei Betriebsinhaberwechsel B III 2 a. 15 Vgl. z. B. BAG AP Nr. 1 zu § 613 a BGB = SAE 1976, 74 m. Anm. von

Stratmann. 18 So Heinze, DB 1980, 205 ff., 207; vgl. zu Dienstleistungsbetrieben aber

auch unter V 13. 17 So zutreffend BAG AP Nr. 3 zu § 99 BetrVG 1972 = EzA Nr. 7 zu § 118 BetrVG 1972 = BB 1976, 134 = DB 1976, 152 = SAE 1977, 35 m. Anm. von Meisel; BAG DB 1979, 1751 ff., 1752.

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Tendenzunternehmen gilt. Der Hinweis allein, daß § 613 a eine bürgerlich-rechtliche und keine betriebsverfassungsrechtliche Norm sei, konnte als Begründung freilich allein keine Überzeugungskraft auslösen. Im Schrifttum hat sich insbesondere Mayer-Maly 19 gegen die Anwendbarkeit dieser Bestimmung auf Tendenzbetriebe ausgesprochen. Seiner Meinung nach bezieht sich die Relativklausel des § 118 Abs. 1 BetrVG auch auf§ 122 BetrVG, § 613 a. Der Umstand, daß eine Norm ihren Platz in einem anderen Gesetzeswerk findet, ist seiner Auffassung nach kein hinreichender Anlaß, sie völlig aus dem Gesetz zu lösen, dem sie ihre Geltung verdankt. Ein Übergang der Arbeitsverhältnisse komme daher nicht in Betracht, wenn sich die Fortsetzung überhaupt nich·t mit der Eigenart des erwerbenden Unternehmens vereinbaren lasse. Zutreffenderweise wird man jedoch davon ausgehen müssen, daß der Schutz der Arbeitnehmer in Form der Aufrechterhaltung der Arbeitsverhältnisse zunächst auch dem Tendenzschutz vorgeht. Der Betriebsübergang als solcher stellt also auch bei Tendenzbetrieben keinen Beendigungstatbestand hinsichtlich der Arbeitsverhältnisse dar. Kraft I Geppert 20 haben zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß dem Erwerber das Recht zur späteren ordentlichen Kündigung erhalten bleibt, wobei die Möglichkeit derbetriebsbedingten Kündigung auch vom Tendenzcharakter des Unternehmens oder Betriebes mitbestimmt werden kann. Damit ist eine flexible Auflösung des Spannungsverhältnisses zwischen der mit§ 613 a erstrebten Bestandsschutzregelung und dem mit§ 118 BetrVG normierten Tendenzschutz erreicht21 • Wären Tendenzbetriebe vom Anwendungsbereich des§ 613 a gänzlich ausgenommen, so könnten für die dadurch ausgelöste Verabsolutierung des Tendenzschutzes keine hinreichend sachlichen Gründe vorgebracht werden. 2. Persönlidler Anwendungsbereidl a) AUgemeines

Obwohl § 613 a durch § 122 BetrVG in das Bürgerliche Gesetzbuch eingefügt worden ist, gilt er, worauf bereits hingewiesen wurde, für alle Betriebe und nicht nur für solche, die die Voraussetzungen des § 1 BetrVG erfüllen. Erst recht kommt es nicht darauf an, ob tatsächlich ein Betriebsrat errichtet ist. § 613 a beinhaltet eine allgemeine Arbeitneh18 BAG AP Nr. 13 zu § 99 BetrVG 1972 m. Anm. von Kraft I Geppert = EzA Nr. 7 zu § 118 BetrVG 1972. 19 Mayer-Maly, BB 1973, 761 ff., 769; ders., AR-Blattei Tendenzbetrieb I unter H 111 6; ders., AfP 1976, 10; vgl. aber auch Neumann-Duesberg, NJW 1973,268. 2° Kraft I Geppert, Anm. zu BAG AP Nr. 3 zu § 99 BetrVG 1972. 21 Vgl. Kraft I Geppert, Anm. zu BAG AP Nr. 3 zu § 99 BetrVG 1972.

36 Festschrift f. G. Müller

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merschutzvorschrift22 • Ob sie auch für Leiharbeitsverhältnisse gilt, hängt von der arbeitsvertragliehen Erfassung dieser Rechtsverhältnisse ab 23 • Erachtet man sowohl den Verleiher als auch den Entleiher als Arbeitgeber, so erfaßt § 613 a auch Leiharbeitsverhältnisse.

b) Leitende Angestellte Aus dem Umstand, daß es sich bei § 613 a um eine allgemeine Arbeitnehmerschutzvorschrift handelt, folgt, daß sie auch Arbeitsverhältnisse leitender Angestellter erfaßt24 • Das BAG25 hat zu Recht klargestellt, daß immer dann, wenn im Bürgerlichen Gesetzbuch von Arbeitsverhältnissen die Rede ist (vgl. z. B. § 622), hierunter auch die Arbeitsverhältnisse leitender Angestellter fallen. Aus§ 5 Abs.3 BetrVG in Verbindung mit§ 122 BetrVG kann nichts Gegenteiliges geschlossen werden. Zwar bestimmt § 5 Abs. 3 BetrVG, daß das Betriebsverfassungsgesetz auf leitende Angestellte keine Anwendung findet, soweit nicht etwas anderes ausdrücklich bestimmt ist. Damit ist aber ausschließlich das Betriebsverfassungsgesetz gemeint. § 613 a ist dagegen eine bürgerlich-rechtliche Norm. Es verdient daher uneingeschränkte Zustimmung, daß sich die ganz herrschende Lehre der Rechtsprechung angeschlossen hat, nach der § 613 a auch für die Arbeitsverhältnisse leitender Angestellter gilt26 •

c) Arbeitnehmerähnliche Personen Ob § 613 a auch für arbeitnehmerähnliche Personen gilt, die in einem Dienstverhältnis stehen, ist unsicher. Eine unmittelbare Anwendung dieser Norm ist ausgeschlossen, da § 613 a die Existenz eines Arbeitsverhältnisses voraussetzt. Auch eine entsprechende Anwendung kann jedoch nicht befürwortet werden. Wenn HerscheZ21 die analoge Anwendbarkeit des § 613 a auf Dienstverhältnisse arbeitnehmerähnlicher PerVgl. dazu z. B. Lepke, BB 1979, 526 ff. So zutreffend Heinze, DB 1980, 205 ff., 209 m. w. N.; auf Auszubildende, Volontäre und Praktikanten findet § 613 a, wie sich aus § 3 Abs. 2 BBiG ergibt, ebenfalls Anwendung; vgl. dazu Heinze, DB 1980, 205 ff., 209. 24 BAG AP Nr. 11 zu § 613 a BGB = EzA Nr. 18 zu § 613 a BGB = DB 1978, 1453; BAG SAE 1979, 84 m. Anm. von Hadding I Häuser; vgl. auch Heckelmann, ZfA 19·73, 425 ff., 473; Everhardt, BB 1976, 1611 ff., 1613; Heinze, DB 1980, 205 ff., 209; Neumann-Duesberg, NJW 1962, 665; v. Stebut, DB 1975, 2438 ff., 2442; Dietz I Richardi, Betriebsverfassungsgesetz, 5. Aufl., München 1973, vor§ 122, Vorbem.; Fitting I Auffarth I Kaiser, a.a.O., § 1 Rdnr. 18; Seiter, AR-Blattei Betriebsinhaberwechsel I B IV 4 a; a. A. Erman I Küchenhoff, BGB, 6. Aufl., Münster 1975, § 613 a Rdnr. 7 f. 25 BAG AP Nr. 3 zu§ 99 BetrVG m. Anm. von Kraft I Geppert = SAE 1977, 35m. Anm. von Meisel. 28 Vgl. etwa zuletzt Heinze, DB 1980, 205 ff., 209. 27 Herschel, Film und Recht 1977, 81 ff., 84; vgl. auch Heinze, DB 1980, 205 ff., 209; Borngräber, a.a.O., S. 62 f.; zutreffend Lepke, BB 1979, 528 ff. 22

23

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sonen mit dem Hinweis auf die Gleichheit der Interessenlage befürwortet, vermag dies nicht zu überzeugen. In den §§ 611 ff. wird durchgehend zwischen allgemein dienstvertragliehen und speziell arbeitsvertragliehen Regelungen differenziert. Die exklusive Herausstellung der sozialen Schutzbedürftigkeit arbeitnehmerähnlicher Personen und die daraus abgeleitete grenzenlose analoge Anwendung arbeitsrechtlicher Normen auf Rechtsverhältnisse arbeitnehmerähnlicher Personen führt zur Auflösung des Arbeitnehmerbegriffs. Derartige Begriffe sind jedoch kein gleichgültiges und zufälliges Material. Vielmehr sind sie durch die Gesetzgebung und die allgemeine Rechtsentwicklung determiniert und stehen daher im Interesse der Rechtssicherheit nicht zur Disposition. Dem ständigen Streben von der halben (vgl. § 12 BUrlG, § 6 BetrVG) zur vollständigen Parallele ist Einhalt zu gebieten. § 613 a kann insoweit auch nicht wieder zur betriebsverfassungsrechtlichen Norm (vgl. § 6 BetrVG) hochstilisiert werden28 • Der betriebsverfassungsrechtliche Ausgangspunkt ist eben im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens weitestgehend aufgegeben worden.

d) Inhaber von Organstellungen § 613 a gilt nicht für das Dienstverhältnis eines GmbH-Geschäftsführers29. Dies kann nicht bereits damit gerechtfertigt werden, daß der Geschäftsführer einer GmbH in keinem Arbeitsverhältnis steht. Vielmehr können GmbH-Geschäftsführer, zumindest soweit sie nicht gleichzeitig Mitgesellschafter sind30, als Arbeitnehmer angesehen werden. Eine Anwendbarkeit des § 613 a auf Arbeitsverträge von Geschäftsführern einer GmbH entfällt vielmehr deshalb, weil ihr Rechtsverhältnis dem Unternehmen und nicht dem Betrieb oder Betriebsteil zugeordnet ist. Im übrigen erscheint es sinnwidrig, den Zusammenhang von Organsteilung und Anstellungsvertrag durch den übergang des Arbeitsverhältnisses aufzulösen.

28 Vgl. aber Heinze, DB 1980, 205 ff., 209; Schaub in Münchener Kommentar, § 613 a Rdnr. 8. 29 OLG Celle DB 1977, 1840; Palandt I Putzo, BGB, 39. Aufl., München 1980, § 613 a Anm. 1 c; vgl. auch Weber, SAE 1975, 35; Seiter, AR-Blattei Betriebsinhaberwechsel I B IV a; Borngräber, a.a.O., S. 59; von Hoyningen-Huene, SAE 1978, 278 ff., 283. 30 Vgl. dazu Seiter, 25 Jahre BSG, Köln- Berlin - Bonn - München 1979, 515 ff., S. 525 f.; und aus der Rechtsprechung etwa zuletzt LAG Hamm, DB 1980,596.

36•

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V. Tatbestand des Betriebsübergangs 1. Betriebsbegriff, Betriebsteil

Der Betrieb wird durch den mit ihm verfolgten technischen Zweck, gerrauer den arbeitstechnischen Zweck, bestimmt, gleichgültig, worin er besteht und warum er verfolgt wird. Der ~n § 613 a verwendete Betriebsbegriff umfaßt, wie sich aus den Rechtsfolgen dieser Norm unmittelbar erschließt, nicht die Belegschaft31 • Was unter einem Betriebsteil im Sinne von § 613 a Abs. 1 zu verstehen ist, ist zweifelhaft. In diesem Kontext kann, so verlockend dies wegen § 122 BetrVG auch sein mag, ebensowenig wie beim Betriebsbegriff auf §§ 1, 4 BetrVG zurückgegriffen werden32 • Das BAG33 hat zunächst darauf erkannt, daß § 613 a immer dann anwendbar sei, wenn es sich um einen Betriebsteil handle, der Gegenstand einer rechtsgeschäftliehen Veräußerung sein könne. Später hat das BAG34 diese vage Umschreibung dahingehend präzisiert, daß die Veräußerung einzelner oder einer Vielzahl von Wirtschaftsgütern nicht ausreiche, während die Veräußerung aller zum Betriebsteil gehörenden Wirtschaftsgüter genüge. Es kann nicht zweifelhaft sein, daß mit diesen definitorischen Bemühungen wenig gewonnen ist. Auch der Rückgriff auf den Normzweck des§ 613 a, die Sicherung der Arbeitsplätze, führt bei der Bestimmung des Betriebsteils nicht unmittelbar weiter. Der Normzweck weist jedoch die Richtung, wo die Lösung zu suchen ist. Unter einem Betriebsteil ist ein funktionelles, wirtschaftlich einen Eigenwert repräsentierendes Einzelelement aus einem Gesamtkomplex zu verstehen, soweit mit diesen Einzelelementen ein abgrenzbarer arbeitstechnischer Teilzweck mit Hilfe von Arbeitnehmern verfolgt wird35 • Ein Betrieb oder Betriebsteil im Sinne von § 613 a Abs. 1 liegt also immer dann vor, wenn ein betrieblicher Gesamtkomplex oder ein Teil von diesem übergeht, der arbeitstechnisch zumindest einem eigenständigen, d. h. abgrenzbaren Leistungszweck dient und dabei einen Eigenwert repräsentiert3 8 •

BAG, DB 1980, S. 1751. Vgl. aberauch Gaul, BB 1979, 1667; Hasford, BB 1973, 526. 33 BAG AP Nr. 1 zu § 613 a BGB = EzA Nr. 1 zu § 613 a BGB = SAE 1976, 14; vgl. dazu kritisch Kraft, 25 Jahre BAG, München 1979, S. 229 ff., S. 303. 34 BAG AP Nr. 2 zu § 613 a BGB = EzA Nr. 4 zu § 613 a BGB = SAE 1976, 3t

32

196.

35 So Birk, Anm. zu BAG EzA Nr. 1 zu§ 613 a BGB; vgl. auch Kraft, 25 Jahre BAG, S. 299 ff., S. 303 f. 3 6 So Heinze, DB 1980, 205 ff., 207.

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2. Notwendigkeit einer remtsgesmäftlimen Zuständigkeitsänderung

§ 613 a umfaßt nicht den Erbfall, setzt doch der dort angesprochene Betriebsübergang eine rechtsgeschäftliche Zuständigkeitsänderung voraus. Die Betriebsnachfolge und damit die Fortsetzung der Arbeitsverhältnisse bestimmt sich im Erbfall nach dem Grundsatz der Gesamtrechtsnachfolge37. Dem Übergang der Arbeitsverhältnisse steht insoweit § 613 S. 2 nicht entgegen. Auch andere Fälle der Gesamtrechtsnachfolge wie Fusion und Vermögensübernahme nach§§ 359, 360 AktGlassen den Bestand der Arbeitsverhältnisse unberührt3 8 , unterfallen also nicht § 613 a Abs. 1. Dies gilt auch für die öffentlich-rechtliche Einziehungl19 • 3. Anforderungen an Betriebsübergang

Der Betriebsübergang setzt nicht voraus, daß der bisherige Betriebsinhaber das gesamte Betriebsvermögen auf den Erwerber überträgt. Eine Betriebsveräußerung liegt deshalb auch vor, wenn alle Maschinen und Einrichtungsgegenstände verkauft werden und nur das Betriebsgrundstück zurückbehalten wird, soweit der Betrieb mit seinen Arbeitsplätzen vomErwerberauch an einem anderen Ort fortgeführt werden kann oder fortgeführt wird und die Arbeitnehmer mit einer Versetzung einverstanden sind. Auch der Eintritt in alle Liefer- und Abnahmeverträge kann für eine Betriebsveräußerung sprechen40 • Da in § 613 a Abs. 1 auf den Inhaber abgestellt wird, liegt es nahe, davon auszugehen, daß von dieser Norm nicht nur der Betriebsübergang erfaßt werden soll, der zu einem Eigentümerwechsel führt, also eine dingliche Zuständigkeitsänderung herbeiführt. Entscheidend kann nur sein, daß der Erwerber in der Lage ist, den arbeitstechnischen Zweck weiterzuverfolgen, also die im Betrieb oder Betriebsteil begründeten technischen und organisatorischen Voraussetzungen für sich zu nutzen41 • Daraus folgt, daß insbesondere auch die Verpachtung ein Rechtsgeschäft im Sinne von§ 613 a darstellt42 • Das gleiche gilt für die Einräumung eines Nießbrauchs oder den Abschluß eines Betriebsüberlassungsvertrages, sofern die vertragliche Gestaltung der Sache nach nicht nur einen Gewinnabführungsvertrag verdecktw. Auch die Einbringung eines Betrie37 Vgl. z. B. G. Hueck, Kündigungsschutzgesetz, 10. Aufl., München 1980, § 1 Rdnr. 30 m. w. N. 38 Vgl. z. B. G. Hueck, a.a.O, § 1 Rdnr. 30. ao Vgl. Krejci, a.a.O., S. 244. 40 41

52.

Vgl. LAG Düsseldorf, DB 1976, 2067; vgl. auch BAG, DB 1976, 391. BAG AP Nr. 4 zu § 613 a BGB = EzA Nr. 7 zu § 613 a BGB = SAE 1978,

42 BAG, DB 1979, 702 ff., 703; Palandt I Putzo, a.a.O., § 613 a Anm. 2; Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, 4. Aufl., München 1980, § 118 II 2, S. 622. 43 So zutreffend Birk, BB 1976, 1227 ff., 1228.

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bes in eine Gesellschaft ist eine Betriebsveräußerung44 • Kein Fall der Betriebsnachfolge ist freilich gegeben, wenn eine GmbH als Komplementärin in eine KG eintritt45 •

Zusammenfassend kann daher festgestellt werden, daß von einem Betriebsübergang immer dann auszugehen ist, wenn der Erwerber den Betrieb mit den wesentlichen Betriebsmitteln ebenso wie sein Vorgänger fortführen kann46 • Der Übergang des gesamten Betriebsvermögens ist nicht notwendig'7 • § 613 a indiziert insoweit einen weiten Begriff des Betriebsübergangs48 • Es ist dabei gleichgültig, ob der Übernehmer die arbeitsorganisatorisch eigenständigen Leistungszwecke des bisherigen Betriebs oder Betriebsteils überhaupt weiterverfolgen will oder nicht49 • Entscheidend ist allein, daß der Übernehmer nach objektiver Beurteilung die Möglichkeit erlangt, die bisherigen arbeitsorganisatol'lisch eigenständigen Leistungszwecke weiterzuverfolgen50 • Deshalb ist es auch unschädlich, wenn der Erwerber später auf den Anlagen andere Produkte herstellt bzw. die Anlage teilweise stillegt51 • Von einem Betriebsübergang ist auch dann auszugehen, wenn der Erwerber den übernommenen Betrieb teils stillegt, teils verlegt52 • Ansonsten wären der Umgehung der Schutznorm des § 613 a Tür und Tor geöffnet. Problematisch ist aber, ob § 613 a in reinen Dienstleistungsbetrieben, wo die betrieblichen Mittel völlig zurücktreten, uneingeschränkte Geltung beanspruchen kann. In diesem Zusammenhang wird es darauf ankommen, ob der Betrieb mit den Arbeitnehmern des Veräußerers sinnvoll fortgeführt werden kann. Auch in anderen arbeitsrechtlichen Bereichen neigt die Rechtsprechung dazu, alle Betriebsarten gleichzustellen, ja der Dienstleistungsbetrieb muß zum Teil gerade dazu herhalten, bestimmte Ergebnisse zu rechtfertigen. So hat das BAG53 die Sozialplanpfl:ichtigkeit einer bloßen Personalreduzierung wegen Auftragsmangels ohne Stillegung von Maschinen auch damit begründet, daß ansonsten Vgl. A. Hueck I G. Hueck, a.a.O., § 1 Rdnr. 30. BAG AP Nr. 4 zu § 626 BGB Ausschlußfrist; Schaub, a.a.O., § 118 II 2, s. 623. 4' BAG, DB 1979, 702 ff., 702. 47 BAG AP Nr. 2 zu § 613 a BGB = EzA Nr. 2 zu § 613 a BGB = SAE 1976, 196m. Anm. von Roemfeld = DB 1976, 391; BAG, DB 1979, 762; LAG Hamm, DB 1979, 1365 ff., 1365; vgl. auch Becker I Schaffner, BlStSozArbR 1975, 305. 4 8 Krejci, a.a.O., S. 244; Birk, BB 1976, 1227 ff., 1228. 49 BAG EzA Nr. 4 zu§ 613 a BGB; Seiter, AR-Blattei Betriebsinhaberwechsel B IV 3 c; Heinze, DB 1980, 205 ff., 207. 50 Heinze, DB 1980, 205 ff., 208; Kraft, 25 Jahre BAG, S. 299 ff., S. 304 f.; Seiter, AR-Blattei Betriebsinhaberwechsel B IV 3 c; Birk, Anmerkung zu BAG EzA Nr. 1 zu § 613 a BGB. st BAG, DB 1979, 702 ff., 702. 52 Vgl. auch BAG EzA Nr. 7 zu§ 613 a BGB. 53 BAG, DB 1980, 1751. 44

45

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Dienstleistungsbetriebe von der Sozialplanpflichtigkeit ausgenommen wären. Wenn aber die§§ 111 ff. BetrVG Arbeitsplätze sichern sollen und Dienstleistungsbetriebe fast ausschließlich von der Auftragslage abhängig sind, so können diese Arbeitsplätze bei einer entsprechenden Nachfrage wiederum leicht geschaffen werden". Eine Arbeitsplatzvernichtung, die die§§ 111 ff. BetrVG mittelbar verhindern wollen, droht nicht. Eine Sozialplanpflichtigkeit entfällt daher. Auch im Rahmen des § 613 a ist die uneingeschränkte Gleichstellung von Dienstleistungs- und Produktionsbetrieben mehr als zweüelhaft. Was rechtfertigt es etwa, dem neuen Pächter eines Betriebes, der bislang als zwielichtiger Nachtclub geführt wurde, die Fortsetzung der Arbeitsverhältnisse aufzudrängen, wenn dieser ein ~einschmeckerrestaurant einrichten will? Feststeht jedoch, daß der Betriebsübergang grundsätzlich keine Betriebsänderung im Sinne von§ 111 BetrVG ist55 • Die mit dem veräußerten Betriebsteil zum Erwerber überwechselnden Arbeitnehmer werden vor Nachteilen aus der Betriebsveräußerung ausschließlich durch§ 613 a geschützt. Etwas anderes kann für die im Restbetrieb verbleibenden Arbeitnehmer gelten, sofern für diese oder einen erheblichen Teil derselben die Veräußerung des Betriebsteils wesentliche Nachteile zur Folge haben kann56• Dies kann aber für die Arbeitnehmer nicht gelten, die das hier von der Rechtsprechung eingeräumte Widerspruchsrecht57 ausüben. Sie handeln auf eigenes Risiko, da sie ihren Arbeitsplatz durch Nichtausübung des Widerspruchsrechts sichern konnten. 4. Einzelprobleme

a) Pächterwechsel Zweifelhaft ist, ob ein Betriebsübergang im Sinne von § 613 a Abs. 1 auch dann vorliegt, wenn ein Betrieb nach Ablauf der Pachtzeit im unmittelbaren Anschluß daran aufgrund eines mit dem Verpächter abgeschlossenen Pachtvertrages von einem neuen Pächter weiterbetrieben wird 58 • Dies ist abzulehnen. § 613 a setzt voraus, daß der abgebende Teil Arbeitgeber war. Abgebender Teil ist in dieser Fallkonstellation jedoch der Verpächter, der eine derartige Funktion nicht wahrgenommen hat. Wenn in§ 613 a Abs. 2 S. 1 von dem bisherigen Arbeitgeber gesprochen Vgl. dazu auch Hunold, BB 1975, 1439 ff., 1441. BAG, DB 1980, 164 m. Anm. von Gutbrod. 5& BAG, DB 1980, 164. 57 BAG AP Nr. 8 zu § 613 a BGB = EzA Nr. 14 zu § 613 a BGB = AR-Blattei Betriebsinhaberwechsel Entsch. Nr. 21 m. Anm. von Seiter. 58 Bejahend LAG Berlin, DB 1979, 608; a. A. LAG Baden-Württemberg, BB 1976, 1607; offen gelassen in BAG AP Nr. 3 zu§ 613 a BGB = EzA Nr. 6 zu§ 613 a BGB; BAG AP Nr. 4 zu § 613 a BGB = EzA Nr. 7 zu§ 613 a BGB = SAE 1978, 52; vgl. auch ArbG Wuppertal, DB 1979, 220. 54

55

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wird, so soll damit klargestellt werden, daß sich das Rechtsgeschäft zwischen dem früheren und dem neuen Betriebsinhaber vollziehen muß 59 • Ob in diesem Kontext danach differenziert werden kann, ob sich der Pächterwechsel nahtlos vollzieht, erscheint zweifelhaft. Wenn nämlich danach unterschieden wird, ob ein längerer Zeitraum bis zur Neuverpachtung gegeben ist, also ob der Betrieb zunächst stillgelegt oder der Betrieb unmittelbar weitergeführt wird, so werden dem Zufall Tür und Tor geöffnet: Bei Betriebsstillegungen greift § 613 a nicht, bei unmittelbarer Weiterführung entfaltet die Schutznorm des § 613 a ihre Wirkung. Unter Umständen muß insoweit, worauf bereits hingewiesen wurde, danach unterschieden werden, ob es sich um ein Dienstleistungsoder Produktionsunternehmen handelt. Bei Dienstleistungsbetrieben ist die Betriebskapazität mit der Personalkapazität identisch, so daß der Betrieb derart zurücktritt, daß dessen übergang von sekundärer Bedeutung ist• 0 • b) Veräußerung des Betriebes durch Konkursverwalter

Für den übergang des Betriebsgrundstücks durch Maßnahmen der Zwangsverste1gerung gilt§ 613 a nicht61 • Verpachtet jedoch der Zwangsverwalter einen Betrieb weiter, so ist auch dies ein rechtsgeschäftlicher übergang im Sinne von§ 613 a82 • Im übrigen ist äußerst umstritten, ob die übertragung eines Betriebs oder Betriebsteils durch den Konkursverwalter unter§ 613 a fällt63. Dies hat das BAG in seinem Urteil vom 17.1.198064 im Grundsatz bejaht, mit einer vermittelnden Meinung den Übergang bestehender, bereits fälliger Verbindlichkeiten aber verneint. Soweit rückständige Lohn- und Pensionsansprüche in Frage stehen, scheint ein Übergang der Verbindlichkeiten auf den Erwerber angesichts der Sicherung der schutzwürdigen Interessen der Arbeitnehmer durch§ 7 BetrAVG und § 141 a AFG nicht gerechtfertigt65 • Dem Gedanken der n So zutreffend LAG Baden-Württemberg, BB 1976, 1607; vgl. auch HadcUng I Häuser, SAE 1978, 54; Kraft, 25 Jahre BAG, S. 299 ff., S. 206; Heinze, DB 1980, 205 ff., 208. 8o Vgl. dazu in anderem Zusammenhang Hunold, BB 1975, 1439 ff., 1441. 61 Vgl. z. B. Schaub, a.a.O., § 118 li 2, S. 623; Richardi, RdA 1978, 56. 82 ArbG Lübeck, BB 1979, 989 m. Anm. von Dauenheiner; Heinze, DB 1980, 205 ff., 209. 88 Bejahend z. B. Richardi, Sozialplan und Konkurs, Düsseldorf 1975, S. 37; ders., RdA 1976, 56 ff.; Heinze, AuR 1976, 33 ff.; ders., DB 1980, 205 ff., 209 f.; Birk, Anm. zu BAG EzA Nr. 11 zu§ 613 a BGB; v. Stebut, DB 1975, 2438; Derleder, AuR 1976, 239 ff.; BAG, DB 1980, 309 ff., 310; LAG Schleswig-Holstein, BB 1976, 1369; LAG Düsseldorf, DB 1978, 703; LAG Hamm, DB 1979, 1365; a. A. Uhlenbruck, KTS 1974, 1 ff.; ders., KTS 1975, 251 ff., 253; ders., NJW 1975, 897 ff., 902. 84 BAG, DB 1980, 309 ff. 85 Vgl. z. B. Martens, DB 1977, 495 ff.

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Sanierung den Vorrang einzuräumen, erscheint jedoch nicht unbedenklich, gilt es doch vorweg zu klären, ob eine derartig weitgehende Ernstandspflicht des Trägers der Insolvenzsicherung im Rahmen der betrieblichen Altersversorgung oder des Staates im Rahmen der Lohnsicherung vertretbar ist. Hinsichtlich der Arbeitsplatzsicherung dürfte kaum in Abrede gestellt werden können, daß auch eine Veräußerung durch den Konkursverwalter von § 613 a umfaßt wird. Der Konkurs führt nämlich nicht notwendigerweise zur Vernichtung von Arbeitsplätzen. Durch ihn wird weder automatisch die Betriebstätigkeit beendet, noch löst die Eröffnung des Konkursverfahrens die bestehenden Arbeitsverhältnisse auf (§ 22 KO). Fällt ein Unternehmen in Konkurs, so bleiben die Arbeitnehmer dem Konkursverwalter zur Arbeit verpflichtet. Dieser hat weiterhin die Lohnzahlung zu erbringen und die übrigen Arbeitgeberpflichten zu erfüllen. Es ist Sache des Konkursverwalters, von der besonderen Möglichkeit Gebrauch zu machen, die ihm die Konkursordnung zur Beendigung der laufenden Vertragsbeziehungen zur Verfügung stellt(§§ 17 ff. KO). Gemäß § 129 Abs. 2 KO hat der Konkursverwalter bis zur Beschlußfassung der Gläubigerversammlung nach seinem Ermessen das Geschäft des Gemeinschuldners zu schließen oder fortzuführen. Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß der Betrieb als Ganzes oder Betriebsteile veräußert werden und damit Arbeitsplätze erhalten bleiben66 • Soweit das konkursrechtliche Schrifttum in diesem Zusammenhang die Erschwerung der Verwertung von Unternehmen beschwört, so ist bereits diese Prognose zweifelhaft. Unzulässig ist es jedoch auf jeden Fall, § 613 a entgegen seinem klaren Wortlaut gleichsam in einem Vorgriff auf eine Reform des Konkursrechts zu revidieren. Der Verkauf eines Betriebes oder Betriebsteils durch den Konkursverwalter ist eben ein Rechtsgeschäft gemäߧ 433 und nicht etwa ein Akt der Zwangsvollstreckung wie der Eigentumserwerb im Wege des Zuschlagsaufgrund der Zwangsversteigerung eines Grundstücks (§ 90 ZVG). Das BAG67 hat zunächst festgestellt, daß § 613 a auch dann anzuwenden sei, wenn sich der Veräußerer oder Verpächter in einer wirtschaftlich besonders schwierigen Situation befindet, also praktisch konkursreif ist. Der Erwerber muß danach prüfen, ob er den Betrieb mit den Rechtsfolgen des § 613 a übernehmen will. Folgerichtig hat das BAG in seiner Entscheidung vom 17. 1. 198068 § 613 a im Grundsatz auf die Veräußerung durch den Konkursverwalter angewandt, in haftungsrechtlicher Hinsicht jedoch das vorgenommen, was man neuerdings verstärkt etwas überhöht als teleologische Reduktion bezeichnet. Es hatte dabei die Konsequenzen aus der qualitativen Aufbesserung des 66 67 68

BSG, DB 1979, 1283. BAG, DB 1979, 702 ff., 703. BAG, DB 1980, 309 ff.

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Sozialplans im Konkurs durch seine eigene Rechtsprechung zu ziehen. Ohne die Betriebsveräußerung müßte nämlich ein teuerer Sozialplan erstellt werden, der die Deckungsaussichten anderer Gläubiger ebenfalls gefährdet69 • Nach Auffassung des BAG70 soll aber derErwerberbei einer Veräußerung durch den Konkursverwalter für bereits entstandene Ansprüche nicht haften. Insoweit sollen die Verteilungsgrundsätze des Konkursverfahrens Vorrang haben. Die besonderen Schutzbedürfnisse der Arbeitnehmer sind danach durch eine Reihe von Spezialbestimmungen gewahrt (vgl. §§ 59 Abs. 1 Nr. 3, 61 Abs. 1 Nr. 1 KO, §§ 141 a ff. AFG, §§ 7 ff. BetrAVG): "Wenn darüber hinaus die bei der Veräußerung eines Betriebes übernommene Belegschaft einen neuen zahlungskräftigen Haftungsschuldner für bereits entstandene Ansprüche erhielte, wäre sie im Vergleich zu anderen Gläubigern und vor allem auch gegenüber den ausgeschiedenen Arbeitnehmern unangemessen bevorzugt. Dieser Vorteil müßte von den übrigen Gläubigern insoweit finanziert werden, als der Betriebserwerberden Kaufpreis mit Rücksicht auf die übernommene Haftung mindern könnte. Eine so ungleiche Verteilung der Lasten wäre mit dem geltenden Konkursrecht unvereinbar71 ." Daraus leitet das BAG für das Recht der betrieblichen Altersversorgung ab, daß der Träger der Insolvenzsicherung die Versorgungsanwartschaften, die zur Zeit der Konkurseröffnung bereits unverfallbar waren, insoweit übernehmen muß, als sie bereits verdient waren. Außerdem hat dieser für laufende Pensionsleistungen einzustehen. Offen gelassen hat das BAG, was hinsichtlich der Versorgungsanwartschaften zu geschehen hat, die zur Zeit des Sicherungsfalles noch verfallbar waren und deshalb nicht vom Insolvenzschutz nach § 7 BetrAVG erfaßt werden. Daß das BAG diesen Problemkreis offen gelassen hat, ist zu bedauern, da es als oberstes Bundesgericht zur Vermeidung späterer Korrekturen einen Problemkreis einer möglichst umfassenden Lösung zuzuführen hat. Der Ausfall jeglicher Anpassungspflicht laufender Pensionsleistungen bei einem derartigen Veräußerungstatbestand bedarf der gesetzgeberischen Korrektur. Insgesamt sind in diesem Zusammenhang jedoch drei Feststellungen zu treffen: a) Einmal muß es überraschen, daß sich das BAG im Rahmen des

§ 613 a des Grundsatzes der gleichmäßigen Befriedigung aller Gläubi-

ger besinnt, obwohl der GroßeSenat in seinemBeschluß vom 13. 12.197872 im Rahmen des konkursrechtlichen Rangs von Ansprüchen aus Sozial-

69 Vgl. dazu zutreffend Heinze, DB 1980, 205 ff., 213; v. Stebut, DB 1975, 2438. 1o BAG, DB 1980, 309 ff., 310. 71 BAG, DB 1980, 309 ff., 311. 72 BAG, DB 1979, 261.

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plänen festgestellt hat, daß die durch die Schaffung der Rangstelle des § 61 Abs. 1 Nr. 0 KO ausgelöste Benachteiligung anderer Konkursgläubiger hingenommen werden und daß es dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben müsse, dadurch ausgelöste Ungerechtigkeiten auszugleichen. b) Zum anderen hätte das BAG erwägen müssen, ob die Einstandspflicht des Staates und des Trägers der Insolvenzsicherung der betrieblichen Altersversorgung auch für den Fall der Veräußerung des Betriebes durch den Konkursverwalter gelten kann73. c) Drittens erscheint das Abstellen auf den Zeitpunkt der Konkurseröffnung willkürlich. Veräußert nämlich ein Arbeitgeber seinen notleidenden Betrieb vor einer Konkurseröffnung, so kann sich die Haftung nach § 613 a auch auf den Kaufpreis auswirken und Gläubigerinteressen beeinträchtigen. Insgesamt verdient aber die Anwendbarkeit des§ 613 a auf Veräußerungen durch den Konkursverwalter im Grundsatz Zustimmung. Legt der Konkursverwalter den Betrieb zunächst still und überträgt er anschließend die Betriebsteile an Erwerber, so ist § 613 a ebenfalls anwendbar74. Derartige Praktiken können nicht hingenommen werden 75 . Da Arbeitnehmer jedoch schon häufig vorher andere Arbeitsverhältnisse eingegangen sein werden, ist fraglich, ob mit einer Anwendung des § 613 a viel gewonnen ist. Schadensersatzansprüche, wenn auch zeitlich limitiert, sind schwer zu begründen. 5. Betriebsverfassungsrechtliche Beteiligungsrechte

Die Betriebsveräußerung unterliegt als solche nicht der Mitbestimmung des Betriebsrats. Freilich ist der Wirtschaftsausschuß (§ 106 BetrVG) von der beabsichtigten Maßnahme zu unterrichten. Bringt die Betriebsveräußerung aber Nachteile im Sinne von§ 111 BetrVG, so greifen die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte nach§§ 111 ff. BetrVG ein, und zwar je nachdem, ob der Veräußerer oder der ErwerberMaßnahmen in diesem Sinne durchzuführen beabsichtigt76 • § 613 a hindert nämlich den Erwerber nicht, den übernommenen Betrieb neu zu organisieren und im Rahmen der Neuorganisation Arbeitnehmer zu entlassen. Er hat jedoch dann die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte in wirtschaftlichen Angelegenheiten zu beachten77 . Vgl. auch Heinze, DB 1980, 205 ff., 2'12. Vgl. Seiter, Anm. zu BAG AP Nr. 5 zu § 613 a BGB; ders., AR-Blattei Betriebsinhaberwechsel B IV 3d; Kehrmann, MitbG 1975, S. 88, S. 89; Everhardt, BB 1976, 1611 ff., 1613; Schaub, a.a.O., § 118 II 2, S. 623; Hess, DB 1976, 1154; kritisch v. Stebut, ZfA 1977, 311 ff., 365. 75 So zutreffend Seiter, Anm. zu BAG AP Nr. 5 zu § 613 a BGB. 1e Vgl. BAG, DB 1980, 164; BAG, DB 1980,743. 77 BAG, DB 1979, 702 ff., 703. 73

74

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Peter Schwerdtner VI. Rechtsfolgen des Betriebsüberganges 1. Gesetzlidler Vbergang der Arbeitgeberstellung

Mit dem Übergang der Planungs- und Leitungskompetenz auf den Erwerber geht gemäß § 613 a die Arbeitgeberstellung auf ihn über, ohne daß es einer Zustimmung des neuen oder bisherigen Arbeitgebers oder der Arbeitnehmer bedürfte. In dem Eintritt in die Arbeitsverhältnisse liegt keine Einstellung im Sinne von § 99 BetrVG78 • Der übergang der Arbeitsverhältnisse kann durch Vereinbarungen zwischen dem Erwerber und dem bisherigen Arbeitgeber nicht ausgeschlossen werden. Eine Personalauswahl ist also nicht möglich79 • Der Erwerber braucht sich des Übergangs ebensowenig bewußt zu sein wie der Veräußerer bzw. der ArbeitnehmerB 0 • Auch ist die beabsichtigte Betriebsveräußerung als solche kein Grund, der eine ordentliche Kündigung i. S. von § 1 Abs. 2 KSchG als sozial gerechtfertigt erscheinen läßt81 • Der Arbeitnehmer kann freilich sowohl mit dem Veräußerer als auch mit dem Erwerber einen Aufhebungsvertrag abschließen. Da die Arbeitgeberstellung kraft Gesetzes auf den Erwerber übergeleitet wird, unterbricht die Betriebsübernahme die Betriebszugehörigkeit nicht. Überall dort, wo eine ununterbrochene Betriebszugehörigkeit von bestimmter Dauer Voraussetzung für die Geltendmachung arbeitsrechtlicher Rechtspositionen ist (vgl. z. B. §§ 622 Abs. 2 BGB, 1 Abs.1 KSchG), wird diese durch den Betriebsübergang nicht unterbrochen. Der Erwerber kann freilich eine außerordentliche Kündigung des übernommenen Arbeitnehmers auch auf Gründe stützen, die beim bisherigen Arbeitgeber entstanden sind, sofern sie nur fortwirken. Er kündigt dann freilich aus eigenem Recht82 • 2. lnhaltlidle Qualität der übergegangenen Arbeitsverhältnisse

a) Sicherung des sozialen status quo Was die inhaltliche Qualität des Arbeitsverhältnisses anbelangt, so tritt der Erwerber in die Rechte und Pflichten ein, die im Zeitpunkt des Übergangs bestehen. § 613 a Abs. 1 schützt daher den Arbeitsplatz in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung. Hierzu zählt 78 79

74.

BAG EzA Nr. 7 zu § 118 BetrVG 1972. BAG AP Nr. 1 zu § 613 a BGB = EzA Nr. 1 zu § 613 a BGB = SAE 1976,

80 Vgl. auch BAG AP Nr. 2 zu § 613 a BGB = EzA Nr. 4 zu § 613 a BGB == SAE 1976, 196. 81 Vgl. z. B. ArbG Wiesbaden, DB 1979, 1607 ff., 1608. 82 Vgl. dazu v. Hoyningen-Huene, SAE 1978, 278 ff., 283.

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z. B. auch die betriebliche Regelung über die Berechnung der Gehaltsfortzahlung. Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz vermag hieran nichts zu ändern. Der Erwerber differenziert als Arbeitgeber nicht nach sachfremden Kriterien, wenn er für die übernommenen Arbeitnehmer zunächst deren bisherige Rechte aufrechterhält83 • Da der Erwerber in die bisherigen Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis eintritt, hat er auch für Anwartschaften aus Ruhegeldzusagen übernommener Arbeitnehmer und für Gratifikationszusagen einzustehen.

b) Fortbestand von Vollmachten Unsicher ist, wie sich der Betriebsübergang auf bestehende Vollmachten auswirktM. KöhlerBS, der primär die Auswirkungen des Betriebsübergangs auf eine Prokura untersucht hat, hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, daß man sich nach der Interessenlage gegen einen gesetzlichen Eintritt des Übernehmers in die Vollmachtgeberstellung entscheiden muß. Andernfalls wäre nämlich dieser bis zur Bekanntmachung des Erlöschens der Prokura nach§ 15 Abs. 1 HGB an die in seinem Namen abgegebenen Erklärungen gebunden. Auch ein rechtsgeschäftlicher Eintritt in die Vollmachtgeberstellung durch Vereinbarung zwischen Veräußerer und Erwerberist nicht möglich, da§ 167 Abs. 1 eine solche Form der Vollmachterteilung nicht zuläßt86 • 3. Zeitpunkt des 'Ubergangs der Arbeitgeberstellung

Die Rechtsfolge des § 613 a Abs. 1 - der Eintritt in die Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis - ereignet sich nicht bereits mit dem Abschluß des Rechtsgeschäfts, mit dem sich der bisherige Betriebsinhaber zur Übertragung verpflichtet. Aufgrund der Vielzahl dinglicher Rechtsgeschäfte im Vollzugsstadium ist freilich nicht auf den Zeitpunkt der letzten Einzelübertragung, sondern auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem der Erwerber in die betriebliche Organisation eintritt87 oder besser die Organisationsgewalt erlangt, also in der Lage ist, sein Direktionsrecht auszuüben und damitseine arbeitsorganisatorischen Befugnisse zu konkretisieren88 • Die Rechtswirksamkeit des der Betriebsnachfolge zugrundeliegenden Rechtsgeschäfts ist ähnlich wie bei §§ 25 HGB, 419 83 BAG, DB 1979, 896; vgl. auch BAG AP Nr. 41 zu§ 242 BGB Gleichbehandlung = DB 1977, 358. 8 ' Vgl. dazu insbesondere Köhler, BB 1979, 912. 85 Köhler, BB 1979, 912. 8 8 So zutreffend Köhler, BB 1979, 912. 87

88

Schaub, a.a.O., § 118 II 2, S. 622. So Heinze, DB 1980, 205 ff., 209.

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BGB nicht notwendig, um die Rechtsfolgen des§ 613 a auszulösen89 • Ansprüche auf Rückabwicklung bestehen nämlich nur zwischen dem Veräußerer und dem Erwerber. 4. Ausfall eines Widerspruchsrechts der Arbeitnehmer

Der 5. Senat des BAG90 hat zunächst darauf erkannt, daß bei der Übertragung eines Betriebsteils das Arbeitsverhältnis nicht übergeht, wenn der Arbeitnehmer dem übergang widerspricht. Für die Veräußerung des gesamten Betriebs sollte dies zunächst nicht gelten91 • Die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit dem neuen Arbeitgeber nach Ablauf einer angemessenen Überlegungsfrist wurde jedoch als Zustimmung gedeutet, freilich nicht im Sinne von§ 182 BGB. Die Zustimmung sollte auch nicht Wirksamkeitsvoraussetzung für den Übergang sein. Vielmehr sollte es sich dabei um eine Zustimmung zu einer Vertragsänderung handeln. Mittlerweile hat das BAG92 diesen Grundsatz dahingehend erweitert, daß nicht nur bei der Veräußerung von Betriebsteilen, sondern auch bei der Veräußerung des Gesamtbetriebs dem einzelnen Arbeitnehmer ein Widerspruchsrecht zusteht. Kein Arbeitnehmer braucht sich danach mit dem Betrieb "verkaufen" zu lassen. Lehnt jedoch der Arbeitnehmer den übergang des Arbeitsverhältnisses ab, so riskiert er den Verlust des Arbeitsplatzes im Wege der betriebsbedingten Kündigung durch den Veräußerer. Diese Rechtsprechung ist im Schrifttum auf fast einhelligen Widerstand gestoßen93 • Konzen94 hat sie gebilligt. Obwohl der bisherige Arbeitgeber mangels Beschäftigungsmöglichkeit kündigen könne und das BAG die personalen Elemente des Arbeitsverhältnisses überbetone und auch Nachteile für den Erwerber wegen der Unsicherheit der Erhaltung der Stammbelegschaft nicht auszuschließen seien, dient nach Konzen § 613 a seiner Teleologie nach dem Schutz der Arbeitnehmer auf 89 Vgl. z. B. ArbG Wuppertal, DB 1979, 220; Steckhan, Festschrift für Schnorr von Carolsfeld, S. 562. 90 BAG AP Nr. 1 zu § 613· a BGB m. Anm. von Seiter = EzA Nr. 1 zu § 613 a BGB m. Anm. von Birk = SAE 1976, 74 = AuR 1975, 379 ff., 382 m. Anm. von Herschel = NJW 1975, 1378; BAG, DB 1975, 601; vgl. auch Erman I G. Küchtnhoff, a.a.O., Bd. I, § 613 a Rdnr. 38 ff.; vgl. zum Widerspruchsrecht auch Schlüter, ZfA 1975, 437 ff., 476; Schmitt, ZfA 1979, 503 ff.; Seiter, Anm. zu BAG AP Nr. 1 zu § 613 a BGB; Becker I Schaffner, BlStSozArbR 1975, 305 ff., 306. 91 Vgl. z. B. LAG Berlin, BB 1978, 153; vgl. auch Ziege, BB 1978, 812. 92 BAG AP Nr. 8 zu § 613 a BGB = EzA Nr. 14 zu § 613 a BGB = AR-Blattei Betriebsinhaberwechsel Entsch. Nr. 21m. Anm. von Seiter; BAG AP Nr. 1 zu § 128 HGB; BAG, DB 1980, 1495; vgl. auch Wenzel, MDR 1977, 633; Kaestel, BB 1978, 155. 93 Vgl. dazu zuletzt Schmitt, ZfA 1979, 503 ff.; Schaub in: Münchener Kommentar, § 613 a Rdnr. 41. 9 ' Konzen, ZfA 19'78, 451; vgl. aber auch Birk, Anm. zu BAG EzA Nr. 1 zu § 613 a BGB; Herschel, AuR 1975, 382 ff., 383; ders., Film und Recht 1977,81 ff., 83; ders., ZfA 1977, 219.

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individualrechtlicher und betriebsverfassungsrechtlicher Ebene, und zwar insbesondere im Hinblick auf die Erhaltung des Arbeitsplatzes. Dieses Postulat der Arbeitsplatzsicherung dürfe nicht unversehens in den Schutz von Erwerbsinteressen uminterpretiert werden. Bereits ZöUner05 hat darauf aufmerksam gemacht, daß die ursprüngliche Differenzierung der Rechtsprechung zwischen der Veräußerung des Gesamtbetriebs und der Veräußerung von Betriebsteilen mit dem Gesetz nicht zu vereinbaren war. Alle vom BAG vorgebrachten Argumente für eine restriktive Auslegung des § 613 a mußten auch bei der Übertragung des Gesamtbetriebes gelten. Das BAG96 verweist insoweit auf§ 613 S. 2, § 415, die Offenheit des Wortlauts und auf die Rechtslage vor Inkrafttreten des § 613 a. Auch die Verletzung der Menschenwürde bei Anerkennung eines Fortsetzungszwanges wird ins Feld geführt. Es ist aber zu Recht gefragt worden, warum gerade bei einem rechtsgeschäftliehen Übergang die Menschenwürde verletzt sein soll, während dies in Fällen der Gesamtrechtsnachfolge nicht der Fall sein soll97 • Die Rechtsprechung des BAG zum Widerspruchsrecht ist aber darüber hinaus insgesamt nicht mit§ 613 a zu vereinbaren. Auch im Rahmen von Art. 1 § 10 Abs. 1 AÜG kommt es für den Übergang des Arbeitsverhältnisses nicht auf den Willen des Arbeitnehmers an 98 • Es erscheint auch gegenüber den Interessen des Erwerbers, der selbst zwingend zur Fortsetzung der Arbeitsverhältnisse verpflichtet ist, allein gerechtfertigt, daß die Arbeitsverhältnisse automatisch ohne Anerkennung eines Widerspruchsrechts auf ihn übergehen und daß ihm g,egenüber, soll das Arbeitsverhältnis beendet werden, die gesetzlichen und tariflichen Kündigungsfristen eingehalten werden. Demgegenüber hat das BAG99 den Standpunkt vertreten, daß der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis bei einer Betriebsübernahme gegenüber dem Veräußerer auch dann noch kündigen könne, wenn die Kündigungsfrist erst nach der Übernahme abläuft. Das BAG hat insoweit seine Rechtsprechung zum Widerspruchsrecht konsequent fortgesetzt. Aber eben ein derartiges Widerspruchsrecht ist nicht anzuerkennen. § 613 a ist eine Ausnahmeregelung gegenüber§ 613 S. 2. Wer solchen systematischen Argumenten keinen Stellenwert mehr einräumen will und hierzu besteht angesichts des Gesetzgebungsstils der Gegenwart Arbeitsrecht, 1. Aufl., München 1977, § 20 III 3, S. 159. BAG AP Nr. 1 zu § 613 a BGB m. Anm. von Seiter. 97 Herschel, ZfA 1977, 219 ff., 231, 236; Hess, BB 1977, 501 ff., 502; Schmitt, ZfA 1979, 503 ff., 506. 98 BAG AP Nr. 9 zu § 103 BetrVG 1972 m. Anm. von Moritz = AR-Blattei Leih-Arbeitsverhältnis Entsch. Nr. 11 m. Anm. von Seiter = SAE 1978, 171 m. Anm. von Schnorr von Carolsfeld. 99 BAG, Urt. v. 21. 7. 1977 (3 AZR 703/75). 95 96

ZöHner,

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Veranlassung--. muß zumindest anerkennen, daß die dem§ 613 S. 2 zugrundeliegenden personalen Elemente des Arbeitsverhältnisses weitestgehend überholt sind. Posth100 hat zu Recht darauf hingewiesen, daß in Großbetrieben der Arbeitnehmer oftmals nur noch den nächsthöheren Vorgesetzten persönlich kennt. Zumindest kommt den personalen Elementen des Arbeitsverhältnisses angesichts der gleichrangigen Interessen des Erwerbers am Wegfall des Widerspruchsrechts nicht das Gewicht zu, daß der Wortlaut des § 613 a Abs. 1 jegliche Bedeutung verliert. Das Postulat vom Widerspruchsrecht hält im übrigen letztendlich weniger, als es auf den ersten Blick verspricht. Zumindest im Fall der Veräußerung des Gesamtbetriebes riskiert nämlich der widersprechende Arbeitnehmer, daß ihm betriebsbedingt gekündigt wird. Die Rechtsprechung des BAG zum Widerspruchsrecht des Arbeitnehmers kann angesichtsdes eindeutigen Wortlauts des § 613 a nicht einmal als "kühne" Auslegung gewertet werden101 • Sie ist vielmehr eine Rechtsfortbildung, für deren Notwendigkeit noch keine hinreichenden Sachargumente vorgebracht sind. Dieses Widerspruchsrecht kann entgegen Zöllner102 auch nicht mit Interessen von Tendenzträgern bei Tendenzunternehmen gerechtfertigt werden. Soweit ein Gesamtbetrieb veräußert wird, droht dem Tendenzträger allemal die ordentliche Kündigung, und zwar bei Anerkennung eines Widerspruchsrechts eine Kündigung durch den Veräußerer. Aber auch wenn nur ein Teilbetrieb veräußert wird, wird der Veräußerer bei Anerkennung eines Widerspruchsrechts dem Tendenzträger betriebsbedingt kündigen. Die ordentliche Kündigungsfrist muß sowohl vom Erwerber als auch vom Veräußerer eingehalten werden. Ist dem Veräußerer an dem Tendenzträger gelegen, so wird er mit diesem einen Aufhebungsvertrag abschließen und alsbald ein neues Arbeitsverhältnis begründen. Selbst wenn diese Analysen nicht überzeugen sollten, stellt sich die Frage, warum generell ein Widerspruchsrecht und nicht nur ein Widerspruchsrecht bei Tendenzträgern anzuerkennen ist. Ob man diesem Problem dadurch gerecht werden kann, daß man§ 613 a - beschränkt auf die Arbeitgeberstellung- als Fall der Gesamtrechtsnachfolge deutet, erscheint mir zweifelhaft1°3 • Es ist zwar richtig, daß bei dieser Sicht dem Arbeitnehmer kein Widerspruchsrecht zustehen kann. Richtig ist auch, daß es für den Arbeitnehmer letztlich bedeutunglos ist, ob der Betriebsinhaberwechsel auf einem Erbfall oder einem rechtsgeschäftliehen Betriebsübergang beruht104 • 1oo Posth, a.a.O., S. 56. 10 1 Vgl. Herschel, Film und Recht 1977, 81 ff., 83; vgl. auch Gitter, 2'5 Jahre BAG, S. 133 ff., 141; Kraft, 25 Jahre BAG, S. 299 ff., S. 307 f.; Schmitt, ZfA 1979, 503 ff., 505/506; vgl. aber auch Seiter, Anm. zu BAG AP Nr. 1 zu § 613 a

BGB. 102 103

Zöllner, Arbeitsrecht, 2. Aufl., München 1979, § 20 III 2, S. 173/174. So Schmitt, ZfA 1979, 503 ff., 509; Heinze, DB 1980, 205 ff., 206.

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Bei derartigen Tatbeständen der Rechtsnachfolge hat das BAG bislang jedoch die Beachtlichkeit eines Widerspruchs nicht anerkannt1 05 • Es bleibt abzuwarten, ob das BAG angesichts des nicht unerheblichen literarischen Widerstandes an der Anerkennung eines Widerspruchsrechts festhalten wird. 5. Betriebsveräußerung und betriebliche Altersversorgung

a) Erhaltung von Anwartschaften Da der Betriebsinhaberwechsel nicht zur Beendigung der betroffenen Arbeitsverhältnisse, sondern nur zu einem Wechsel in der Person des Arbeitgebers führt, bleiben den Arbeitnehmern alle Rechte, die sie in der Zeit vor der Veräußerung des Betriebes erworben haben, erhalten. Dies gilt auch für Versorgungsanwartschaften im Rahmen des Rechts der betrieblichen Altersversorgung. Wenn die Versorgungszusage an die Voraussetzung gebunden war, daß der Arbeitnehmer den Versorgungsfall in den Diensten des Arbeitgebers erreicht, so tritt der Erwerber des Betriebs an die Stelle des Veräußerers 106• Die Frage der Verfallbarkeit kann sich also erst stellen, wenn das Arbeitsverhältnis mit dem Erwerber des Betriebs endet. Auch eine zeitanteilige Kürzung gemäß § 2 BetrAVG ist erst von diesem Zeitpunkt an zu berechnen. Mit dem Wechsel der Person des Arbeitgebers wechselt daher auch der Schuldner der Versorgungsanwartschaft. An den bisherigen Arbeitgeber können sich nur noch diejenigen Arbeitnehmer halten, die sich zur Zeit der Betriebsübernahme bereits im Ruhestand befanden bzw. mit einer unverfallbaren Anwartschaft ausgeschieden waren. Demgegenüber müssen die aktiven Arbeitnehmer, die an dem Betriebsinhaberwechsel teilgenommen haben, den neuen Arbeitgeber in Anspruch nehmen, wenn sie Versorgungsansprüche geltend machen107 • Dies gilt auch, wenn der bisherige Arbeitgeber das Versorgungswerk in Form einer Unterstützungskasse organisiert hat (vgl. § 1 Abs. 4 BetrAVG) und die für den Betrieb geschaffene Kasse behält. DerErwerber eines Betriebes erwirbt nämlich nicht kraft Gesetzes auch die Rechte an der Unterstützungskasse, mit deren Hilfe der Betriebsveräußerer Versorgungsleistungen erbringt108• 104 So auch Schmitt, ZfA 1979, 503 ff., 509; vgl. auch Herschel, ZfA 1977, 219 ff., 231, 236. 105 So zutreffend Heinze, DB 1980, 205 ff., 206. 1oo BAG AP Nr. 12 zu§ 613 a BGB = DB 1978, 1798; BAG, DB 1979, 1462. 107 BAG AP Nr. 6 zu§ 613 a BGB = DB 1977, 1466; BAG AP Nr. 12 zu§ 613 a BGB = DB 1978, 1795; BAG, DB 1979, 1462, 1463; vgl. auch Höne und Paulsdorff in: Höne I Paulsdorff I Rau I Weinert, Kommentar zum Betriebsrentengesetz, Heidelberg 1976, Bd. I, § 1 Rdnr. 218, § 7 Rdnr. 38; Seiter, AR-Blattei Betriebsinhaberwechsel unter B IV 4 c. 108 BAG AP Nr. 7 zu § 613 a BGB = EzA Nr. 13 zu § 613 a BGB = DB 1977, 1803; BAG, DB 1979, 1462 ff., 1463.

37 Festschrift f. G. Müller

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Wird die Unterstützungskasse nicht rechtsgeschäftlich mit dem Betrieb veräußert, so wird derErwerbernur Schuldner der Versorgungsanwartschaft, ohne gleichzeitig die Verantwortung für die bisherige Unterstützungskasse übernehmen zu müssen. Er kann daher auf die finanzielle Ausstattung der Unterstützungskasse keinen Einfluß nehmen. Daraus folgt, daß der neue Arbeitgeber, der die Versorgungsleistungen schuldet, die berechtigten Arbeitnehmer nicht mehr auf die Unterstützungskasse verweisen kann109 • Diese wird vielmehr bei einem Betriebsinhaberwechsel, soweit sie nicht übernommen wird, insoweit frei, als der Erwerber für die Versorgungsanwartschaft einzustehen hat. Feststeht, daß bislang verfallbare Anwartschaften nach dem Betriebsinhaberwechsel zum Vollrecht erstarken und Versorgungsansprüche begründen können110•

b) Laufende Pensionsleistungen Nach Auffassung des BAG111 handelt es sich bei den Versorgungsansprüchen von Pensionären nicht um Ansprüche aus im Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen im Sinne von § 613 a Abs. 1. Dieser Meinung hat sich das Schrifttum fast durchgängig angeschlossen. Auch bereits ausgeschiedene Arbeitnehmer, die über eine unverfallbare Anwartschaft verfügen, können sich danach nur an den bisherigen Arbeitgeber halten1 12. Das, was bislang für das BAG 113 unsicher war, ist plötzlich in einem eindeutigen Sinne zu entscheiden. Der Hinweis des LAG Düsseldorf 114 , daß dem Gesetzgeber bei der Schaffung des § 613 a die hier angesprochene Problematik bekannt gewesen sei und daß deshalb aus der Formulierung des Gesetzestextes auf den Ausschluß des Übergangs von Ruhegeldansprüchen geschlossen werden müsse, kann durch die Materialien nicht belegt werden115 • Der Umstand, daß ein bestimmtes Rechtsproblem im Zeitpunkt des Gesetzgebungsverfahrens bestand, rechtfertigt im übrigen nicht durchgängig den Schluß, daß es im Gesetzgebungsverfahren aufgenommen und in einem bestimmten Sinne gelöst werden sollte116. 10» BAG, DB 1979, 1462 ff., 1463; vgl. dazu auch Konzen, ZfA 1978, 451 ff., 505. uo Vgl. Wiedemann I Witlemsen, RdA 1979, 426 ff. 111 BAG AP Nr. 6 zu § 613 a BGB m. Anm. von W. Blomeyer = EzA Nr. 12 zu § 613 a BGB; vgl. auch Paulsdorff, KTS 1977, 2'12; a. A. Säcker I Joost, DB 1978, 1030 ff., 1078 ff.; differenzierend Schwerd,tner, SAE 1978, 63 ff.; vgl. zu Wettbewerbsvereinbarungen Schaub in: Münchener Kommentar, § 613 a Rdnr. 7. 112 Vgl. z. B. Kraft, 25 Jahre BAG, S. 299 ff., S. 310; Heckelmann, ZfA 1973, 425 ff., 474; Birk, BB 1976, 1227; Lepke, BB 1979, 530; Heinze, DB 1980,. 205; Borngräber, a.a.O., S. 60; a. A. Säcker I Joost, DB 1978, 1030 ff., 1078 ff. 118 Vgl. z. B. BAG EzA Nr. 41 zu § 242 BGB Ruhegehalt = DB 1975, 1563. m LAG Düsseldorf, DB 1976, 2067. 115 BT-Drucksache VII2729, S. 35 zu § 123.

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Das BAG geht in seiner Rechtsprechung zur Haftung des Erwerbers für bereits laufende Ruhegeldleistungen und für unverfallbare Anwartschaften ausgeschiedener Arbeitnehmer von einem vorgeprägten Begriff des Arbeitsverhältnisses aus. In der Literatur wird jedoch das Ruhestandsverhältniszum Teil noch als Nachwirkung des Arbeitsverhältnisses gedeutet117• Auch hat das BAG bislang unbeachtet gelassen, daß der übergang von Ruhegeldansprüchen auf den Erwerber im Schrifttum mit zum Teil beachtlichen Gründen vertreten wird118• Der bloße Rekurs auf den Wortlaut des§ 613 a Abs. 1 wirkt wenig überzeugend. Da es der Gesetzgeber des Betriebsrentengesetzes unterlassen hat, die Auswirkungen des Betriebsübergangs auf Ruhegeldverpflichtungen zu überdenken, und er angesichts der neueren Rechtsprechung des BAG119 den notwendigen Anpassungsbedarf nach§ 16 BetrAVG nicht einmal erahnen konnte, gilt es nunmehr, Lösungen zu finden, die es verhindern, daß einmal die Übernahme notleidenderUnternehmen unmöglich gemacht wird und daß zum anderen der Anpassungsbedarf der Ruhegeldempfänger bei Betriebsveräußerungen gänzlich ausfällt. Die als Individualschutz gedachte Sicherung durch den Träger der Insolvenzsicherung gilt es daher bei der Auslegung des § 613 a zu berücksichtigen. Daraus folgt, daß die laufenden Pensionsleistungen beim Veräußerer verbleiben und im Sicherungsfall vom Pensionssicherungsfonds aufzubringen sind. Der Träger der Insolvenzsicherung kann sich insoweit nicht auf § 613 a berufen. Der Anpassungsbedarf nach § 16 BetrAVG ist dagegen, soweit hierfür nicht ausnahmsweise der Pensionssicherungsfonds aufzukommen hat120 , vom Erwerber zu tragen. Bei einer völligen Betriebsstillegung ist eine Anpassung durch den Veräußerer kaum denkbar. Der Hinweis von GamiUscheg 121 , daß eine derartige Einstandspflicht des Trägers der Insolvenzsicherung dem Sinn des Betriebsrentengesetzes wider118 Vgl. dazu in anderem Zusammenhang etwa jüngst BGH, WM 1980, 448 Gerichtsstand für Klagen von Industriegewerkschaften auf Zahlung von Mitgliedsbei trägen. 117 So spricht A. Hueck in: A. Hueck I Nipperdey, a.a.O., Bd. I, § 52 VII 1, vom Ruhestandsverhältnis als einem Rechtsverhältnis eigener Art, das als eine Art Nachwirkung an die Stelle des eigentlichen Arbeitsverhältnisses tritt; ähnlich Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. I: Allgemeine Lehren und Arbeitsvertragsrecht, 3. Aufl., Tübingen 19,61, § 41 V 1, S. 586; vgl. aber auch Kraft, 25 Jahre BAG,

s. 299 ff., s. 3101311.

118 Vgl. z. B. die Stellungnahme von Nikisch I Seiter, AR-Blattei Betriebsinhaberwechsel B IV, 4, c, aa, die freilich im Ergebnis einen tlbergang der Ruhestandsverhältnisse ablehnen. 119 BAG, DB 1977, 1903; BAG, DB 1980, 306, 499, 545 und dazu allgemein Schwerdtner, ZfA 1978, 553 ff. m. w. N. 120 Vgl. Paulsdorff in: Heubeck I Höne I Paulsdorff I Rau I Weinert, a.a.O., Bd. I,§ 7 Rdnr. 17. 121 Gamillscheg, Arbeitsrecht, Bd. I: Individualarbeitsrecht, 5. Aufl., München 1979, Fall 175 c, S. 2091210, stellt im Gegensatz zur Vorauflage nur noch fest, daß die Lösung des BAG bedenklich sei.

37•

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spreche, ist nicht haltbar, hat doch der Gesetzgeber diese Probleme überhaupt nicht erkannt. Die nach der hier vertretenen Auffassung notwendige Aufspaltung der Verpflichtungen zwischen Veräußerer und Erwerberist mißlich, aber wohl unumgänglich. Entgegen SäckeT I Joost122 kann nämlich bei Ansprüchen auf Ruhegeldleistungen nicht uneingeschränkt von Ansprüchen aus einem Arbeitsverhältnis gesprochen werden. Das Ruhestandsverhältnis ist nun einmal nach dem Sprachgebrauch kein Arbeitsverhältnis im eigentlichen Sinne. Andererseits vermögen jedoch der Wortlaut und der betriebsverfassungsrechtliche Ausgangspunkt des historischen Gesetzgebers es nicht zu rechtfertigen, § 613 a jegliche Bedeutung in bezug auf laufende Pensionsleistungen abzusprechen. Dies gilt erst recht, wenn man das dadurch erreichte Ergebnis für rechtspolitisch bedenklich erachtet123 . Die Dramaturgie bei der Aufgabe der Opfergrenze im Rahmen des § 16 BetrAVG steht in einem merkwürdigen Kontrast zu der bei der Auslegung des§ 613 a 124. VII. § 613 a und arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz

Der arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz ist nicht verletzt, wenn ein Unternehmen, das zwei bisher selbständige Betriebe übernommen und einen einheitlichen Betrieb geschaffen hat, den Arbeitnehmern der beiden übernommenen Arbeitnehmergruppen Weihnachtsgratifikationen nach den in den früheren Betrieben praktizierten Ordnungen zahlt. Die Differenzierung nach dem bei der Betriebsübernahme erreichten sozialen Besitzstand ist nicht sachwidrig, dient doch § 613 a - sieht man einmal von der Haftungsfunktionab-auf individualarbeitsrechtlicher Ebene ausschließlich der Sicherung der Arbeitsverhältnisse mit dem wirtschaftlichen und sozialen status quo im Zeitpunkt des übergangs125. Man wird aber den übernehmer für verpflichtet erachten müssen, die Gratifikationsordnungen alsbald anzupassen. Der Umstand des Betriebsübergangs ist nicht geeignet, unterschiedliche einheitliche Vergütungsformen für längere Zeit zu rechtfertigen. Dem Übernehmer muß lediglich eine Umstellungsphase eingeräumt werden.

Säcker I Joost, DB 1978, 1030 ff., 1078 ff. Vgl. aber Heinze, DB 1980, 205 ff., 210. 12' Vgl. dazu z. B. Schwerdtner, ZfA 1978, S. 553 m. w. N. 125 BAG, BB 1977, 145; BAG, DB 1979, 896; vgl. auch BAG AP Nr. 41 zu § 242 BGB G.leichbehandlung; Wiedemann, Anm. zu BAG AP Nr. 2 zu§ 3 TVG. 122

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Vlll. Rechtsstellung des bisherigen Arbeitgebers Mit dem Übergang der Arbeitgeberstellung auf den Erwerber sind die arbeitsrechtlichen Beziehungen zu dem bisherigen Arbeitgeber beendet. Das Arbeitsverhältnis ist aber nicht erloschen126• DerErwerber tritt uneingeschränkt in die Arbeitgeberstellung ein und haftet auch für rückständige Verbindlichkeiten(§ 613 a Abs. 2). Er ist insbesondere auch Drittschuldnerbei Lohnpfändungen127 • Nach der überwiegenden Meinung soll er aber rückständige Sozialversicherungsbeiträge und Lohnsteuerbeträge nicht schulden128 • Dies ist hinsichtlich der Sozialversicherungsbeiträge des Arbeitgebers nicht zweifelsfrei, handelt es sich doch insoweit um rite verdiente Lohnbestandteile129 • Trotz der Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit dem Veräußerer haftet dieser in beschränktem Umfange fort. § 613 a Abs. 1 und Abs. 2 stellen zwei inhaltlich verselbständigte Regelungen dar13il. § 613 a Abs. 2 rechtfertigt sich daraus, daß mit dem Übergang der Arbeitgeberstellung noch nicht feststeht, ob der neue Arbeitgeber ebenso zahlungskräftig ist wie der bisherige, zumal der Rechtsnachfolger für den Erwerb des Betriebes erhebliche Mittel aufzuwenden hat131 • Auf der anderen Seite sind dem Veräußerer Erlöse zugeflossen, die seine Zahlungsfähigkeit steigern. Die Mithaftung des Veräußerers kann aber nicht damit gerechtfertigt werden, daß der Veräußerer damit einer Wertsteigerung teilhaftig wird, die der Betrieb durch die Arbeit der Belegschaft erfahren hat1 32 • Diese Begründung ist zwar im Hinblick auf § 613 a Abs. 2 unschädlich. Sie suggeriert aber (unbeabsichtigt) die Vorstellung, daß im Betrieb noch ein Mehrwert steckt, der mit dem Lohn nicht abgegolten ist. Anerkennt man dies, so kann dies weitreichende arbeitsrechtliche Folgen auslösen133• Der Veräußerer und derErwerberhaften im Rahmen von § 613 a Abs. 2 als Gesamtschuldner. Werden Verpflichtungen erst nach dem Zeitpunkt des Betriebsübergangs fällig, haftet der bisherige Arbeitgeber nach § 613 a Abs. 2 S. 2 in dem Umfange, der dem im Zeit128 Vgl. aber Schaub, a.a.O., § 118 IV 1, S. 625 unter Hinweis auf LAG Düsseldorf, DB 1975, 1848. 127 LAG Hamm, BB 1976, 364. 128 BayObLG, BB 1974, 1582 (Sozialversicherungsbeiträge). 129 Vgl. dazu z. B. B. Schreiber, Festgabe für Alfred Müller-Armack, Berlin 1961, S. 587 ff., S. 593; vgl. auch Schmölders, Geburtstagsgabe für Alexander Rüstow, Köln 1960, S. 115 ff., S. 122; Schwerdtner, Fürsorgetheorie und Entgelttheorie im Recht der Arbeitsbedingungen, Heidelberg 1970, S. 152. 130 So zutreffend Heinze, DB 1980, 205 ff., 205. 131 So zutreffend Heinze, DB 1980, 205 ff., 206 im Anschluß an Seiter, ARBlattei Betriebsinhaberwechsel C I 1. 132 So aber Heinze, DB 1980, 205 ff., 206. 133 Vgl. etwa zur Abfindungsproblematik Schwerdtner, DB 1979, Beilage Nr. 12, S. 1 ff.

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punktdes Übergangs abgelaufenen Teil ihres Bemessungszeitraums entspricht134. Dies gilt auch für Ansprüche aus der betrieblichen Altersversorgung, die in der Form einer Unterstützungskasse organisiert ist. Der bisherige Arbeitgeber haftet daher noch zeitanteilig und gesamtschuldnerisch für solche Ansprüche, die vor dem Betriebsinhaberwechsel entstanden und innerhalb eines Jahres danach fällig geworden sind. Der Betriebsveräußerer haftet freilich selbst nur dann, wenn seine Versorgungseinrichtung nicht zahlungsfähig oder zahlungswillig ist135 . IX. Betriebsübergang, Kündigungsschutz, anhängige Rechtsstreitigkeiten

Der bevorstehende Betriebsübergang ist kein dringendes betriebliches Erfordernis im Sinne von § 1 Abs. 2 S. 1 KSchG, das eine Kündigung sozial gerechtfertigt erscheinen ließe. Dies folgt bereits daraus, daߧ 613 a - sieht man einmal von der u. U. eingreifenden Sozialplanpflichtigkeit der Maßnahme ab - ansonsten leerlaufen würde136. Die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses durch den Betriebsveräußerer kann auch nicht mit vom Erwerber für die Zeit nach dem Betriebsübergang geplanten Betriebsänderungen und einem daraus resultierenden Wegfall von Arbeitsplätzen gerechtfertigt werden. Dies folgt schon daraus, daß der bisherige Arbeitgeber eine Kündigung nicht mit Erwerberinteressen begründen kann. Zum andern steht der Umfang der vom Erwerber geplanten Maßnahme erst mit ihrer Durchführung fest1 37 • Auch der besondere Kündigungsschutz für Betriebsratsmitglieder bleibt im Falle der Betriebsveräußerung bestehen138. Geht nach der Rechtshängigkeit einer gegen den bisherigen Arbeitgeber gerichteten Klage (vgl. § 261 ZPO) der Betrieb auf den neuen Arbeitgeber über, so kann der Arbeitnehmer den Rechtsstreit gegen den alten Arbeitgeber auch dann fortsetzen, wenn der Anspruch nur durch den neuen Arbeitgeber zu erfüllen ist. Das in diesem Rechtsstreit ergehende Urteil wirkt für und gegen den Rechtsnachfolger (§ 325 Abs. 1 ZPO). Der obsiegende Arbeitnehmer kann sich nach§§ 727, 731 ZPO eine vollstreckbare Ausfertigung dieses Urteils gegen den Rechtsnachfolger des bisherigen Arbeitgebers beschaffen138. Dabei ist es gleichgültig, ob sich der Betriebsübergang vor oder nach der Rechtshängigkeit vollzogen hat1 40 . Verpachtet daher der kündigende Arbeitgeber seinen Betrieb 134 135 138 137 138 139

Vgl. LAG Düsseldorf, BB 1977,502. BAG, DB 1979, 1462 ff., 1463. Vgl. z. B. ArbG Wiesbaden, BB 1979, 1607 ff., 1609. Vgl. ArbG Wiesbaden, BB 1979, 1607 ff.,. 1609. Vgl. dazu ArbG Köln, DB 1976, 2021. J3AG1 BB 1977, 395; vgl. BGHZ 61, 140 ff.

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an einen Dritten, so sind Kündigungsschutzklagen gegen zuvor ausgesprochene Kündigungen gegen den bisherigen Arbeitgeber zu richten141 • X. Unabdingbarkeit des § 613 a. Angesichts der Arbeitsplatzsicherungsfunktion und der Haftungsfunktion vermag es nicht zu überraschen, daß § 613 a dem zwingenden Recht zugeordnet wird. Daher ist eine Vereinbarung des Erwerbers mit dem Veräußerer, daß nur die nicht gekündigten oder bestimmte andere Arbeitsverhältnisse übergehen sollen, im Verhältnis zu den betroffenen Beschäftigten unwirksam142 • Selbstverständlich sind auch der Erwerb und die Veräußerung als solche keine Gründe, die eine ordentliche Kündigung als sozial gerechtfertigt erscheinen ließen143 • Der zwingende Charakter des § 613 a darf freilich nicht überbewertet werden. Einmal steht die Unabdingbarkeit dem Abschluß eines Aufhebungsvertrages zwischen dem Arbeitnehmer und dem Veräußerer bzw. dem Erwerber nicht entgegen. Den Aufhebungsvertrag gilt es freilich in allen arbeitsrechtlichen Beziehungen zu domestizieren. Soweit dies gesetzlich nicht geschieht, müssen zumindest - über die bestehenden tarifvertragliehen Regelungen hinaus- verstärkt zeitlich begrenzte Widerrufsrechte geschaffen werden. Ob auch Vereinbarungen zwischen den Arbeitnehmern und dem Erwerber mit dem Ziel der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen rechtsunwirksam sind, ist zweifelhaft. Das BAG hat im Anschluß an seine frühere Rechtsprechung derartige Vereinbarungen für rechtswirksam erachtet, soweit es sich um sog. freiwillige Sozialleistungen oder um rückständige Verbindlichkeiten handelt und ein sachlicher Grund für die Abänderungsvereinbarung gegeben ist1 44 • Insoweit sind Zweifel anzumelden. Soweit das BAG 145 derartige Vereinbarungen mit dem Hinweis rechtfertigt, daß der Arbeitnehmer den Übergang des Arbeitsverhältnisses durch Ausübung eines Widerspruchsrechtes verhindern könne, vermag dies nicht zu überzeugen. Bei Ausübung des WiderspruchsVgl. zum Betriebsübergang nach Rechtsanhängigkeit BAG AP Nr. 3 zu = DB 1977, 630; LAG Baden-Württemberg, DB 1973, 1080; vgl. auch BAG AP Nr. 3 zu § 611 BGB Arzt-Krankenhausvertrag; Neumann-Duesberg, NJW 1972, 665 ff., 669. 141 BAG, NJW 1979, 233. 142 BAG AP Nr. 1 zu § 613 a BGB = EzA Nr. 1 zu § 613 a BGB = SAE 1976, 74; BAG, SAE 1979, 84 ff., 85 m. Anm. von Radding I Häuser. 143 Schaub, a.a.O., § 118 li 4, S. 624; Neumann-Duesberg, NJW 1972, 665. 144 BAG AP Nr. 5 zu § 613 a BGB m. Anm. von Seiter = EzA Nr. 11 zu § 613 a BGB m. Anm. von Birk = SAE 1977, 296m. Anm. von Roemfeld; vgl. dazu auch Kraft, 25 Jahre BAG, S. 299 ff., S. 312. 145 BAG AP Nr. 2 zu § 613 a BGB = SAE 1976, 196, 14 0

§ 611 BGB Arzt-Krankenhausvertrag

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rechts, soweit man es überhaupt anerkennt, bleibt nämlich das Arbeitsverhältnis in der ursprünglichen Qualität mit dem Veräußerer bestehen146. Dennoch ist der Rechtsprechung im Grundsatz zuzustimmen, da § 613 a nur ein Bestandsschutz für das Arbeitsverhältnis, nicht aber ein Verschlechterungsverbot für die Zukunft enthält147 . § 613 a schützt nur den Arbeitsplatz in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung148. An die Rechtswirksamkeit derartiger Vereinbarungen sind jedoch strenge Anforderungen zu stellen. Sie setzt voraus, daß sich der Arbeitnehmer des automatischen Übergangs des Arbeitsverhältnisses mit vollem Vertragsinhaltsschutz bewußt ist. Ansonsten besteht nämlich die Gefahr, daß der Arbeitnehmerangesichts des vermeintlich drohenden Verlustes des Arbeitsplatzes grenzenlos vorgeschlagenen Vertragsänderungen zustimmt. Dem kann nicht entgegengehalten werden, daß der Betriebsübergang als solcher dem Erwerber anerkanntermaßen kein Recht zur Kündigung, also auch kein Recht zur Änderungskündigung einräume, daß folglich für die Arbeitnehmer keine Drucksituation bestehe. Es ist nämlich nicht auszuschließen, daß sich der Arbeitnehmer eben gerade dieser Rechtslage nicht bewußt ist. Ein sachlicher Grund sollte jedoch darüber hinaus nicht als Zulässigkeitsvoraussetzung für derartige Vereinbarungen gefordert werden. Damit wird nur eine düfuse Inhaltskontrolle eingeleitet14D. XI. Anspruchskonkurrenzen

Da das BAG Ruhestandsverhältnisse gänzlich vom Anwendungsbereich des§ 613 a ausnimmt, stellt sich verschärft die Frage, unter welchen rechtlichen Aspekten insoweit eine Haftung des Erwerbers in Betracht kommen kann. Eine Haftung des Übernehmers kann bei der Vereinbarung einer Schuldübernahme oder eines Schuldbeitritts oder bei Vorliegen der Voraussetzungen einer Vermögensübernahme (§ 419 BGB) oder des § 25 HGB eingreifen. Eine Schuldübernahme bedarf stets der Zustimmung der Pensionäre (§§ 414, 415). Da nach der Rechtsprechung150 im Rahmen des § 419 die Gegenleistung neues Vermögen darstellt bzw. für den Gläubiger kein ausreichendes Äquivalent sein soll, haftet der Übernehmer für rückständige Verbindlichkeiten bei vollständiger Betriebsveräußerung im Regelfall nach § 419. Ob die Existenz des Pensionssicherungsfonds im Rahmen der betrieblichen Altersversorgung Vgl. dazu zutreffend Kraft, 25 Jahre BAG, S. 299 ff., S. 311. Vgl. dazu Konzen, ZfA 1978, 451 ff., 503; Kraft, 25 Jahre BAG, 8>. 299 ff., s. 313. 148 Vgl. Wiedemann, Anm. zu BAG AP Nr. 2 zu § 3 TVG. 149 Vgl. dazu zutreffend Kraft, 25 Jahre BAG, S. 299 ff., S. 311. 150 RGZ 69, 283 ff., 288 f.; RGZ 148, 257 ff., 265; BGHZ 33, 123 ff., 125; BGHZ 43, 176; BGHZ 55, 105; kritisch dazu Schricker, JZ 1970, 265 ff.; ders., JZ 1971, 28; Braxmeier, Anm. zu BGHZ 54, 101 in LM Nr. 20 zu§ 419 BGB. 14 G

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die Anwendbarkeit des§ 419 ausschließt, ist zweifelhaft. Wenn die Gläubiger wie bei der betrieblichen Altersversorgung im Insolvenzfalltrotz der Vermögensübernahme gesichert sind, scheint die Anwendbarkeit dieser Norm zweifelhaft. Diese Haftungsnorm setzt zwar nicht die Zahlungsunfähigkeit des übertragenden Teils voraus. Man könnte jedoch daran denken, daß der Zweck der Norm verlangt, ihre Anwendung im :F1alle absoluter Gläubigersicherung abzulehnen. Freilich stellt sich auch hier wiederum die von Gamillscheg 151 in anderem Zusammenhang aufgeworfene Frage, ob die Haftung des Pensionssicherungsfonds in diesen Fällen dem Sinn des Betriebsrentengesetzes entspricht. XIT. Methodische Anmerkungen Diese Bestandsaufnahme dürfte gezeigt haben, daß die Rahmenordnung des§ 613 a durch die Rechtsprechung des BAG gleichsam in einer zweiten Gesetzgebungsrunde aufgefüllt worden ist. Es standen insoweit kaum Fragen der Auslegung einer Gesetzesnorm im Raum. Vielmehr hatte das BAG als Ersatzgesetzgeber die Leerstellen mit sachgerechten Lösungsmustern zu versehen. Die dabei auch anzustellenden Zweckmäßigkeitserwägungen erzwingen m. E. einen völlig neuen Stil von Urteilskritik bei modernen Gesetzen. Da es keine Äußerung gibt, die nicht den Charakter des Individuellen hätte, geht es bei der Kritik an den Ergebnissen dieser Ersatzgesetzgebung noch weniger als bei der Auslegung eines "klassischen" Gesetzestextes um die Richtigkeit einer Erkenntnis. Wie bei den anzustellenden Zweckmäßigkeitserwägungen Prioritäten gesetzt werden, wie weit eine Rückbindung in die Einheit der Rechtsordnung vorangetrieben wird, all dies sind höchst individuelle Entscheidungen, die von den einzelnen an der Rechtsfindung Beteiligten höchst unterschiedlich getroffen werden können. Das BAG ist aber im einzelnen Prozeß zu einer Entscheidung gezwungen. Die Arbeitsrechtswissenschaft wird in ihrem unendlichen Einfallsreichtum immer "Haare in der Suppe" finden. Ihre Kritik verliert aber an Stellenwert, wenn man den Meinungskrieg im Wissenschaftsbereich ins Auge faßt. Dies alles klingt wie eine Binsenweisheit, scheint aber all denen nicht klar zu sein, die dieses Individuelle leugnen und gleichsam mit dem Anspruch auf objektive Erkenntnis und Richtigkeitsgewähr die Rechtsprechung zum Gegenstand objektiver Nachprüfung machen wollen. Auch der Rückgriff auf Normen des Grundgesetzes vermag das gebotene zweckprogrammierte Gestalten durch die Arbeitsgerichte nur zu kaschieren. Es ist daher m. E. illusionär, im vorliegenden Zusammenhang durch eine erneute Rückbesinnung auf die "dogmatische Struktur" und den rechtlichen Ge151

GamiHscheg, a.a.O., Bd. I, Fall175 c, S. 209/210.

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halt der in § 613 a enthaltenen Regelung Klarheit zu gewinnen152 • Auch bei dem Vorwurf, daß eine bestimmte Rechtsprechung der Legitimation entbehre, ist größte Vorsicht geboten153 • Das "klassische" Repertoire bei der Auslegung von Rechtsnormen hat ausgedient! Diese Verschiebung der Funktion der Rechtsfindung bei modernen Gesetzen - von der Auslegung zur Ersatzgesetzgebung und Rechtsfortbildung - impliziert auch ein Umdenken im Rahmen der Urteilsfindung. Es geht darum, gefundene Entscheidungen über den Einzelfall hinaus umfassenden Folgeanalysen zu unterziehen. Dies setzt auch entsprechende sachliche und personelle Ressourcen voraus. Der Rückzug auf Verfassungsnormen mit weiten Deutungsspielräumen kaschiert nur den tatsächlichen Entscheidungscharakter im Rahmen der Urteilsfindung. Anstatt uns der Gesetze des Einzelfalls bewußt zu sein, uns den Aufgaben der Ersatzgesetzgebung zu stellen und uns der dazu notwendigen völlig andersartigen Mittel zu bedienen, wähnen wir uns im Bereich der Rechtsanwendung, und zwar nicht selten um den Preis der Verkürzung der notwendigen überlegungen. Eine ganz andere Frage ist dabei, ob die Rechtsprechung- mit Unterstützung durch die Wissenschaft- die Aufgabe als Reparaturbetrieb des Gesetzgebers auf Dauer zu leisten vermag und ob ihr diese Funktion bei aller demokratischen Legitimation überhaupt zumutbar ist. Dieser Befund des Wandels von Rechtsanwendung zur Ersatzgesetzgebung hat einen realen Hintergrund. Die Gesetzgebungsarbeit ist seit langem auf die Exekutive übergeg,angen. Bereits die dort ausgearbeiteten Referentenentwürfe sind häufig mehr als notleidend. Der parlamentarische Gesetzgeber läßt sie sehr häufig ohne Änderungen passieren. Korrigiert er sie in Details, so werden häufig mögliche Rückwirkungen auf die Gesamtkonzeption nicht beachtet. Die Wissenschaft ist aus dem Gesetzgebungsverfahren nicht selten ausgeschaltet. Die Öffentlichkeitsarbeit von Ministerien gibt ohnehin Rätsel auf. Referentenentwürfe werden wissenschaftlich interessierten Kreisen erst zugänglich gemacht, wenn die Abstimmung mit den beteiligten Verbänden weitestgehend erfolgt ist. Anfragen aufüberlassungderartiger Entwürfe werden mit dem Hinweis auf die noch zu wahrende Vertraulichkeit abschlägig beschieden, ein Anruf bei einem einschlägigen Interessenverband verschafft einem dagegen den unmittelbaren Zugang zu diesem "vertraulichen" Papier. Die Rechtsprechung hat die durch diesen Gesetzgebungsstil ausgelösten Aufgaben zu bewältigen. Dieser Aufgabe, so lästig sie auch sein mag, kann sie sich nicht entziehen. Da sie in weitestem Umfange Ersatzgesetzgebung zu praktizieren hat, hat sie, um die Pannen im Gesetzgebungsverfahren 152 153

So aber Heinze, DB 1980, 205 ff., 205. Vgl. aber Heinze, DB 1980, 205 ff., 206.

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in Grenzen zu halten, im Wege der Fallsimulierung die Rechtsprobleme umfassend zu erörtern. Obiter dicta werden ihr durch diese Tätigkeit gerade aufgezwungen. Soweit Schlüter154 feststellt, daß die Gerichte zur Aufstellung solcher zukunftsweisenden Verhaltensnormen um so weniger in der Lage seien, als sie nicht annähernd über die Erkenntnisquellen und das Anschauungsmaterial des parlamentarischen Gesetzgebers verfügen könnten, offeriert er eine Scheinalternative. Läßt man die großen arbeitsrechtlichen Gesetze des letzten Jahrzehnts Revue passieren, so kann man nur resignierend feststellen, daß eben diese Erkenntnisquellen und das Anschauungsmaterial vom parlamentarischen Gesetzgeber bzw. von der Exekutive offenbar nicht zur Kenntnis genommen werden. Nur mit Schaudern wagt man zu erahnen, was die intendierte Totalrevision des BGB an gesetzgeberischen Leistungsdefiziten zutage fördern wird. Der einfachen Einsicht, daß "gute" Gesetze nur in beschränkter Anzahl in einer Legislaturperiode machbar sind, daß sorgfältig erarbeitete Gesetze auch ein Mittel der Prozeßbeschleunigung sind, verschließt man sich allenthalben. Offenbar ist es leichter, für die obersten Bundesgerichte Entlastungsgesetze zu schaffen! Eine sachgerechte Bewältigung der Aufgabe der Ersatzgesetzgebung durch die Arbeitsgerichte ist um so dringlicher geboten, als die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung Massenerscheinungen zu bewältigen hat und spätere Korrekturen der Rechtsprechung nur in Grenzen möglich sind. Sie schafft nämlich Daten, auf die sich die Arbeitsrechtspraxis einstellen können muß. Diese kann auch auf ein Minimum an Rechtsprognose nicht verzichten. Bei der Programmerstellung sieht sich die Arbeitsgerichtsbarkeit der Wertungsproblematik in voller Schärfe ausgesetzt. Wenn Esser 155 jüngst festgestellt hat, daß der Anruf der Gerechtigkeit auch beim legislativen Entscheiden relevant werde, wenn Größe und Effizienz -also Proportionalität- von Eingriffen in Freiheitsräume einerseits und Teilhabepräferenzen andererseits bestimmt und damit das Ausgestalten etablierter Präferenzen konkret erwogen werden müßten, so vermag der Arbeitsrechtier damit wenig anzufangen. Das Arbeitsrecht ist heute weitgehend von Rechtsnormen beherrscht, die nicht mehr religiös oder ethisch fundiert sind. Sie stellen interessenbedingte Kompromißformein dar. Das Erarbeiten dieser Kompromißformeln in der Rechtsprechung setzt aber wiederum einen Grundkonsens über gewisse Eckdaten voraus. Dieser Grundkonsens ist jedoch dahin. Daraus folgt zunächst, daß es in organisatorischer Hinsicht nicht länger hingenommen werden kann, daß Arbeitsgerichte in 2. Instanz nur mit einem Berufsm Schlüter, Das obiter dictum, München 1973, S. 31 und daran anschließend Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., Berlin- Heidelberg- New York 1975, S. 349 Fn. 86. 155 Esser, Festschrift zum 500jährigen Bestehen der Tübinger Juristenfakultät, Tübingen 1977, S. 113 ff., S. 130.

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richter besetzt sind. Auch er muß seine Politik einer Gegenkontrolle durch weitere Berufsrichter unterwerfen. Die Arbeitsgerichtsbarkeit muß sich ferner in dem Maße, wie sie verstärkt Funktionen der Gesetzgebung wahrnimmt, der vorschnellen Parteinahme enthalten. Auch die Richter in der Arbeitsgerichtsbarkeit haben Anlaß, darüber nachzudenken, warum dieser Gerichtszweig zumindest teilweise ins Zwielicht zu geraten droht.

UNTERNEHMENSMITBESTIMMUNG UND TARIFAUSEINANDERSETZUNGEN

Folgerungen aus dem Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts Von Hugo Seiter Kurz nach Inkrafttreten des Montan-Mitbestimmungsgesetzes von 1951 und des Betriebsverfassungsgesetzes von 1952 hat Gerhard Müller das allgemeine Problem der Vereinbarkeit von Mitbestimmung und Tarifautonomie in heute noch vorbildlicher Weise dargestelltl. Erst im Zusammenhang mit der Diskussion um die Ausdehnung der Unternehmensmitbestimmung Ende der 60er Jahre fand das Vereinbarkeitsproblem die ihm gebührende Beachtung2 • Es hat dem Gesetzgeber bei 1 Gerhard Müller, Zur Tariffähigkeit der unter das Mitbestimmungsgesetz Bergbau und Eisen fallenden Unternehmen, Gutachterlicher Vortrag (Schriftenreihe der IG Metall, Nr. 15), 1953; ders., Tarifvertrag und Mitbestimmung. Zum Verhältnis beider Ordnungsprinzipien zueinander (Kleine Schriften zur Sozialpolitik und zum Arbeitsrecht, Heft 4), 1953. 2 Richtungweisend Biedenkopf, Auswirkungen der Unternehmensverfassung auf die Grenzen der Tarifautonomie, in: Festgabe für Kronstein, 1_967, 8. 79 ff.; darauf aufbauend Zöllner I Seiter, Paritätische Mitbestimmung und Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz, 1970 (= ZfA 1970, 97 ff.); E. R. Huber, Grundgesetz und wirtschaftliche Mitbestimmung, 1970, S. 74 ff.; Pernthaler, Qualifizierte Mitbestimmung und Verfassungsrecht, 1972, S. 175 ff.; Schwerdtfeger, Mitbestimmung der Arbeitnehmer und Grundgesetz, 1972, S. 249 ff.; Ekkehart Stein, Qualifizierte Mitbestimmung unter dem Grundgesetz, 1976, S. 89 ff.; Gerhard Müller, Die Mitbestimmung auf Unternehmensebene, DB 1969, 1794 ff. Zum Regierungsentwurf des Mitbestimmungsgesetzes z. B.: Scholz, Paritätische Mitbestimmung und Grundgesetz, 1974, S. 102 ff.; Thomas Raiser, Grundgesetz und paritätische Mitbestimmung, 1975, S. 79 ff.; Raisch, Mitbestimmung und Koalitionsfreiheit, 1975; Badura, Der Regierungsentwurf eines Mitbestimmungsgesetzes, ZfA 1974, 357 (374 ff.); Buchner, Paritätische Mitbestimmung: Der Weg zu einer neuen Unternehmens- und Arbeitsordnung, ZfA 1974, 147 (180 ff.); Gerhard Müller, Gedanken zum Entwurf des Mitbestimmungsgesetzes, DB 19'75, 205 (207 f., 253); Richardi, Der Mitbestimmungsgedanke in der Arbeitsrechtsordnung, in: Das Arbeitsrecht der Gegenwart 13 (1976), 19 (28 ff.). Zum Mitbestimmungsgesetz und zur Verfassungsbeschwerde z. B.: Hanau, Das Verhältnis des Mitbestimmungsgesetzes zum kollektiven Arbeitsrecht, ZGR 1977, 397 ff.; Martens, Koreferat, ZGR 1977, 422 ff.; Mertens, Aufsichtsratsmandat und Arbeitskampf, AG 1977, 306 ff.; Badura I Rittner I Rüthers. Mitbestimmungsgesetz 1976 und Grundgesetz, 1977, S. 137 ff., 234 ff.; Kübler I Schmidt I Simitis, Mitbestimmung als gesetzgebungspolitische Aufgabe, 1978,

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der Fassung des Mitbestimmungsgesetzes von 1976 erhebliche Schwierigkeiten bereitet und bildet auch den neuralgischen Punkt im Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts3 • Das Mitbestimmungsgesetz enthält keine Kollisionsregelungen für das Verhältnis von Unternehmensmitbestimmung und Tarifauseinandersetzungen4 • Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes trotzdem bejaht. Seine Ausführungen hierzu sind geprägt von der Erwartung, daß es gelingen werde, die beiden unterschiedlichen Systeme der Kooperation durch Unternehmensmitbestimmung und der Konfrontation durch Tarifauseinandersetzung nebeneinander funktionsfähig zu erhalten. Dies deckt sich mit den Lösungsansätzen, die bereits in den früheren Stellungnahmen Gerhard Müllers anklingen. Zur Lösung des Spannungsverhältnisses zwischen Unternehmensmitbestimmung und Tarif:ausein·an:dersetzung k:tann man im Prinzip zwei unterschiedliche Wege beschreiten. Der eine besteht darin, Tarifvertrag und Arbeitskampf in ihrer bisherigen Gestalt trotz Unternehmensmitbestimmung möglichst aufrechtzuerhalten. Dazu müßten die Einflußmöglichkeiten, die das Mitbestimmungsgesetz der Arbeitnehmerseite einräumt, im Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfbereich weitgehend zurückgedrängt werden (" Trennungsprinzip"). Der zweite Weg ginge dahin, dem Gedanken der Kooperation durch Unternehmensmitbestimmung den Vorrang zu lassen und im Zuge seiner Verwirklichung das Verfahren der Konfrontation durch Arbeitskampf abzubauen ("Vorrangprinzip"). Das Erscheinungsbild von Tarifauseinandersetzungen, soweit man von solchen überhaupt noch sprechen könnte, würde sich dabei allerdings erheblich wandeln. Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, welche Harmonisierungsdirektiven dem Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts zu entnehmen sind und welche Möglichkeiten zu ihrer Verwirklichung bestehen. S. 38 ff., 197 ff.; ReuteT, Der Einfluß der Mitbestimmung auf das Gesellschaftsund Arbeitsrecht, AcP 1979, 509 ff. Zum Mitbestimmungsurteil z. B.: Gerhard Müller, Das Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 1. März 1979, DB 1979, Beilage 5; ders., Das Koalitionswesen, insbesondere das Gewerkschaftswesen, nach dem Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, RdA 1979, 361 ff.; Hanau, Die arbeitsrechtliche Bedeutung des Mitbestimmungsurteils des Bundesverfassungsgerichts, ZGR 1979, 524 ff.; Papier, Das Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, ZGR 1979, 444 (464 ff.); Richardi, Die Bedeutung des Mitbestimmungsurteils des Bundesverfassungsgerichts vom 1. März 1979 für die Arbeitsrechtsordnung, AöR 1979, 546 ff. a BVerfGE 50, 290 (366 ff.) = AP Nr. 1 zu § 1 MitbestG mit Anm. von Wiedemann. '"Tarifauseinandersetzung" wird hier als Oberbegriff für Tarifautonomie und Arbeitskampf verwendet. Vgl. auch im Text unter I 5.

Unternehmensmitbestimmung und Tarifauseinandersetzungen

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I. Analyse des Mitbestimmungsurteils im Hinblick auf das Verhältnis von Unternehmensmitbestimmung und Tarifauseinandersetzungen 1. Entscheidung für ein Nebeneinander von Mitbestimmung und Tarifvertragssystem Art. 9 Abs. 3 GG läßt sich nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht dahin verstehen, daß er ein Tarifsystem als ausschließliche Form der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gewährleiste5. Der Ausbau der Untemehmensmitbestimmung als "weitere Form der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" werde durch dieses Grundrecht nicht untersagt6 • "Insgesamt läßt sich mithin nicht annehmen, daß Art. 9 Abs. 3 GG andere Formen einer sinnvollen Ordnung und Befriedung des Arbeitslebens als die des Tarifsystems ausschließen wilF." 2. Gewichtsverlagerungen und Kollisionen Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet zwischen den vom Gesetzgeber mit der rechtlichen Regelung intendierten Auswirkungen und den unter Umständen weiter gehenden tatsächlichen Folgen. Man könnte von einer Normprognose im Unterschied zur Realprognose sprechen. Bei der Normprognose kommt das Gericht zu dem Ergebnis, daß der Einfluß der Arbeitnehmerseite unterhalb der Parität bleibe8 • Danach müßte man eigentlich annehmen, daß infolge des Übergewichts der Anteilseignerseite im Bereich der Tarifauseinandersetzungen alles wie bisher bleibe. Überraschenderweise fällt aber die Realprognose anders aus: Das Mitbestimmungsgesetz bewirke "wesentliche Veränderungen auf dem Gebiet der Wirtschaftsordnung" 9 • Speziell im Hinblick auf Tarifauseinandersetzungen heißt es, das Nebeneinander von Tarifvertragssystem und Mitbestimmung könnte "zu Gewichtsverlagerungen, aber auch zu Konkurrenzen führen" 10 • "Die mit jeder Form unternehmerischer Mitbestimmung unvermeidlich verbundenen Interessenkollisionen und Überschneidungen können den Funktionen des Tarifsystems oder auch der Mitbestimmung abträglich sein11 ." 5 BVerfGE 50, 290 (371). s a.a.O. (Fn. 5). 7 BVerfGE 50, 290 (372). 8 AllgemeinBVerfGE 50, 322 ff. (375 speziell für den Tarifbereich). 8 BVerfGE 50, 290 (333). to BVerfGE 50, 290 (372). 11 BVerfGE 50, 290 (376).

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Mit dieser auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinenden Einschätzung12 bestätigt das Gericht in gewissem Maße die Bedenken derjenigen, 'die aus der Abhängigkeit des gesetzlichen Vertretungsorgans eines mitbestimmten Unternehmens von der Arbeitnehmerseite eine grundlegende Beeinträchtigung von Tarifautonomie und Arbeitskampf folgerten13. 3. Garantie der Gegnerunabhängigkeit und eines funktionsfähigen Tarifvertragssystems

Die entscheidende Frage war, was sich aus Art. 9 Abs. 3 GG für die Lösung des grundsätzlichen Verhältnisses von Unternehmensmitbestimmung und Tarifauseinandersetzung ergibt. Das Bundesverfassungsgericht folgte nicht der Ansicht, wonach das Koalitionsgrundrecht so "offen" sei, daß es die Ersetzung des Tarifvertragssystems durch andere sinnvolle Verfahren der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zulasse, sofern nur ein maßgeblicher Einfluß der Koalitionen erhalten bleibe 14. Es hält vielmehr am Tarifvertragssystem in seiner überkommenen Kernstruktur fest. Eine andere Lösung hätte einen Bruch mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedeutet, wonach das Tarifvertragssystem in einem Kernbereich verfassungsfest ist15 . Der Gesetzgeber sei zwar, wie das Gericht ausführt, an einer sachgemäßen Fortbildung des Tarifrechts nicht gehindert; seine Regelungsbefugnis finde aber ihre Grenze an dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Kernbereich der Koalitionsfreiheit: "der Garantie eines gesetzlich geregelten und geschützten Tarifvertragssystems, dessen Partner frei gebildete Koalitionen im Sinn des Art. 9 Abs. 3 GG sein müssen" 16. In dieser Aussage liegt eine zentrale Weichenstellung für die Zukunft. Sie wird konkretisiert durch zwei weitere Aussagen: a) Einmal muß das Tarifvertragssystem unter verfassungsrechtlichem Blickwinkel funktionsfähig sein17. Mit Funktionsfähigkeit kennzeichnet das Gericht die Grenze, bei deren Überschreitung der Gesetzgeber zur Korrektur verpflichtet ist1 8 • Die Funktionsfähigkeit stellt aber wohl 12 Den Widerspruch rügen Hanau, ZGR 1979, 524 (527) und Richardi, AöR 1979, 546 (554). 13 Vgl. z. B. Badura I Rittner I Rüthers (Fn. 2), S. 137 ff. (180), 234 ff. 14 In diesem Sinne insbesondere Scholz (Fn. 2), S. 107 f.; ders., Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, 148 f., 222 f., 250 ff. 15 Grundlegend BVerfGE 4, 96 (108). 16 BVerfGE 50, 290 (369). 11 Das kommt an verschiedenen Stellen zum Ausdruck, BVerfGE 50, 290 (370, 373, 376, 377). 18 BVerfGE 50, 290 (377 f.).

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auch eine Direktive für den Richter dar, wenn er im Rahmen seiner Kompetenz die Harmonisierung von Unternehmensmitbestimmung und Tarifauseinandersetzung vorzunehmen hat. b) Die Funktionsfähigkeit setzt nach Ansicht des Gerichts als wesentliches Element die Gegnerunabhängigkeit der Tarifparteien voraus: "Insofern kommt es zunächst darauf an, ob bei einem Nebeneinander von erweiterter Mitbestimmung und Tarifvertragssystem die Unabhängigkeit der Tarifpartner in dem Sinne hinreichend gewahrt bleibt, daß sie nach ihrer Gesamtstruktur gerade dem Gegner gegenüber unabhängig genug sind, um die Interessen ihrer Mitglieder auf arbeits-und sozialrechtlichem Gebiet wirksam und nachhaltig zu vertreten19." Deutlicher als in der bisherigen Rechtsprechung und unter Zurückweisung abweichender Vorstellungen20 wird dann betont, daß die prinzipielle Unabhängigkeit "zu dem durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Kernbereich der Koalitionsfreiheit gehöre" 21 • 4. Notwendigkeit von Ausgleichsregelungen

Damit war das Bundesverfassungsgericht in einen Engpaß geraten. Wenn nämlich einerseits nach der Verfassung ein funktionierendes Tarifvertragssystem mit gegnerunabhängigen Parteien zu erhalten ist, andererseits aber in tatsächlicher Hinsicht Beeinträchtigungen dieses Systems infolge der Unternehmensmitbestimmung drohen, liegt der Schluß auf die Verfassungswidrigkeit eines die Mitbestimmung ohne Kollisionsregelungen anordnenden Gesetzes nahe. Das Gericht glaubte, dieser Konsequenz mit der Behauptung entgehen zu können, das Mitbestimmungsgesetz beeinträchtige wegen seiner knapp unterparitätischen Beteiligung der Arbeitnehmerseite die "prinzipielle" Gegnerunabhängigkeit und die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie nicht in einer Weise, die den Kernbereich des Art. 9 Abs. 3 GG antaste22 • Auf die Brüchigkeit der dafür angeführten Begründung ist schon wiederholt und nachdrücklich hingewiesen worden23 • Das Bundesverfassungsgericht baut bei seiner Argumentation entscheidend auf die Möglichkeit von kollisionslösenden Ausgleichsregelungen zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems. Es entwickelt dazu ein Zwei-Stufen-Programm. Zunächst einmal sei die BVerfGE 50, 290 (373). Insbesondere Kübler I Schmidt I Simitis (Fn. 2), S. 230 ff. 21 BVerfGE 50, 290 (373). Auch Gerhard Müller, DB 1979, Beilage 5, S. 9 interpretiert das Urteil im hier vertretenen Sinne. 22 BVerfGE 50, 290 (374 ff.). 23 Vgl. vor allem Papier, ZGR 1979,444 (446- 468); Wiedemann, Anm. zu AP Nr. 1 zu § 1 MitbestG (unter III 2). 18

20

38 Festschrift f. G. Müller

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Rechtsprechung aufgerufen: "Soweit die Fragen solcher Überschneidung-en und Kollisionen Rechtsfragen enthalten, werden diese durch die Fachgerichte zu entscheiden sein, für die sie schon bisher eine Rolle gespielt haben24 ." In zweiter Linie wird der Gesetzgeber, der - anders als das Bundesverfassungsgericht - offenbar der Ansicht war, es könne nich,t zu Kollisionen kommen, an seine Verantwortung erinnert: "Sollte sich allerdings ergeben, daß die bestehenden rechtlichen Regelungen nicht ausreichen, die prinzipielle Gegnerunabhängigkeit der Koalitionen wirksam zu sichern, und daß deshalb die nachhaltige Vertretung der Interessen ihrer Mitglieder nicht mehr gewährleistet ist, so ist es Sache des Gesetzgebers, für Abhilfe zu sorgen25 ." Wenn das Gericht in zutreffender Einschätzung der politischen Verhältnisse an den Gesetzgeber nur als Nothelfer in letzter Sekunde appelliert und offenbar mehr Vertrauen in die flexiblere Rechtsprechung hat26 , wird die Hauptlast einer harmonisierenden Rechtsfortbildung auf die Gerichte zukommen. 5. Garantie des Arbeitskampfes als notwendiger Bestandteil eines Tarifvertragssystems?

Der Gedankengang des Bundesverfassungsgerichts leidet an einer verständlichen, aber bedauerlichen Unvollständigkeit im Hinblick auf den Arbeitskampf. Verständlicherweise wollte das Bundesverfassungsgericht den Fachgerichten nicht vorgreifen und sich nicht im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Arbeitskampfes oder einzelner Kampfmittel festlegen. Bedauerlich ist dies deshalb, weil dadurch die Überzeugungskraft der Begründung leidet. Aussagen zur Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems und seiner Gefährdung lassen sich nicht sinnvoll machen, wenn man den Arbeitskampf als ultima ratio ausklammert. Der Arbeitskampf einschließlich der Aussperrung ist zur Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems erforderlich27 • Wenn es zu Gewichtsverlagerungen und Kollisionen infolge der Unternehmensmitbestimmung kommt, dann gerade im Hinblick auf den Arbeitskampf und den Einsatz der ArbeitgeberkampfmitteL Die einschlägigen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts erwecken den Eindruck, als sei eine Tarifwirklichkeit zu beurteilen, in der es keine Arbeitskämpfe gibt. Besonders deutlich wird dies an den BeiBVerfGE 50, 290 (377). . BVerfGE 50, 290 (377). 28 Ähnlich Gerhard Müller, RdA 1979,368 Fn. 37. 27 So BAG Urt. v. 10. 6. 1980 1 AZR 822/79 unterA I). 2'

25

NJW 1980, 1642 (1643 f.,

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spielen, die das Gericht zur Illustration von Gewichtsverlagerungen und Konkurrenzen anführt28 : Erwähnt wivd das Vorstandsmitglied, das in einer Tarifkommission Mitglieder des Aufsichtsrates seines Unternehmens zum Gegenüber hat, die über seine Wiederwahl mitbestimmen. Den viel brisanteren Fall, daß dieses Vorstandsmitglied an einem Aussperrungsbeschluß mitwirken soll, läßt das Gericht unerwähnt. Es bestehen allerdings einige Anhaltspunkte dafür, daß das Bundesverfassungsgericht mit den verwendeten Begriffen Tarifautonomie, Tarifsystem und Tarifauseinandersetzung auch die kampfweise Auseinandersetzung zur Erzwingung eines Tarifvertrags meinte. Aufschlußreich ist ein Satz, in dem das Wort "Arbeitskampfsystem" ausdrücklich erwähnt wird29 : "Das Grundrecht enthält, wie gezeigt, keine Garantie des Bestandes des Tarifvertrags- und Arbeitskampfsystems in seiner gegenwärtigen Gestalt". Die Betonung liegt nach dem Zusammenhang, in dem dieser Satz steht, auf der Ausgestaltung. Wenn jedoch nur die gegenwärtige Gestalt nicht gewährleistet ist, dann muß das Arbeitskampfsystem ebenso wie das gleichzeitig genannte und als gewährleistet anerkannte Tarifvertragssystem von Art. 9 Abs. 3 GG in seinem Kernbereich geschützt sein. Daß an dieser Stelle des Urteils zwischen Tarifvertrags- und Arbeitskampfsystem unterschieden wird, läßt nicht den Schluß zu, das Gericht habe im übrigen ein Tarifvertragssystem unter Ausschluß des Arbeitskampfes gemeint. Denn unmittelbar darauf wird die Formulierung verwendet: "Gestaltungen, die, wie das Tarifvertragssystem, durch die Elemente der Gegensätzlichkeit der Interessen, des Konflikts und des Kampfes bestimmt sind30." Es ist weiter unwahrscheinlich, daß das Gericht mit Arbeitskampf nur den Streik, nicht aber die Aussperrung gemeint haben soll. Denn die von den Befürwortern eines verfassungsrechtlichen Aussperrungsverbots vertretene Ansicht, Art. 9 Abs. 3 GG sei ein im Lichte des Sozialstaatsprinzips zu interpretierendes reines "Arbeitnehmergrundrecht"31, wird vom Bundesverfassungsgericht nicht erwähnt. Vielmehr geht das Gericht mit Selbstverständlichkeit davon aus, daß Art. 9 Abs. 3 GG auch die Arbeitgeberseite schütze, also die sozialen Gegenspieler prinzipiell paritätisch behandle32 •

BVerfGE 50, 290 (377). BVerfGE 50, 290 (371). 80 a.a.O. (Fn. 29,. s1 Vgl. Zachert I Metzke I Hamer, Die Aussperrung, 1978, S. 114 ff. m. w. Nachw. 32 Darauf weist Gerhard Müller, RdA 1979, 361 (362) zutreffend hin. 2s

2u

38•

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Hugo Seiter 6. Zwischenergebnis

Auch unter dem Mitbestimmungsgesetz muß nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht nur das Tarifvertrags-, sondern auch das Arbeitskampfsystem funktionsfähig bleiben. Dazu gehört, daß die Tarifparteien dem Gegner gegenüber unabhängig genug sind, um die Interessen ihrer Mitglieder wirksam und nachhaltig zu vertreten. Dieser Grundsatz der Gegnerunabhängigkeit ist durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet. Rechtsprechung und notfalls Gesetzgebung sind verpflichtet, die erforderlichen Ausgleichsregelungen zu entwickeln, um diesen Postulaten der Verfassung Geltung zu verschaffen.

II. Möglichkeiten einer Harmonisierung von Tarifauseinandersetzung und Unternehmensmitbestimmung Die Aufgabe ist damit für die Zukunft durch das Mitbestimmungsurteil klar umrissen. Ansätze zur Gewährleistung eines funktionierenden Nebeneinanders von Tarifsystem und Unternehmensmitbestimmung sind schon im Rahmen der grundsätzlichen Diskussion um die Verfassungsmäßigkeit paritätischer Mitbestimmung entwickelt worden33 • Im folgenden soll das in Betracht kommende Instrumentarium daraufhin untersu.cht werden, ob es die Erwartungen erfüllen kann. 1. Konkurrenzlösung durch Verpflichtung der Organmitglieder auf das Unternehmensinteresse

Sucht man in den Gründen des Mitbestimmungsurteils nach Hinweisen für die Durchführung der Harmonisierung von Unternehmensmitbestimmung und Tarifauseinandersetzung, so stößt man auf den Satz, die Mitglieder des gesetzlichen Vertretungsorgans einschließlich des Arbeitsdirektors hätten "ungeachtet etwaiger persönlicher Konflikte oder Interessenkonflikte" das Unternehmensinteresse wahrzunehmen. Diese Pflicht gelte auch für die Aufgaben der Unternehmensleitung im Tarifsystem34. Es sei grundsätzlich davon auszugehen, daß die Vertreter mitbestimmter Unternehmen in Arbeitgeberkoalitionen und deren Gremien sich dieser Rechtspflicht gemäß verhielten, die es ihnen verbiete, Interessen der Gegenseite wahrzunehmen. Man könne den Beteiligten nicht von vornherein ein rechtswidriges Verhalten unterstellen35 • Das Bundesverfassungsgericht erwähnt nur die Mitglieder des gesetzlichen VerVgl. insbes. Scholz (Fn. 2), S. 70 ff.; Raiser (Fn. 2), S. 100 ff. BVerfGE 50, 290 (374). Das Gericht verweist auf die §§ 93 AktG, 43 GmbHG 34 GenG; zu ergänzen wären§§ U6 AktG und 25 MitbestG. Zum Arbeitsdirektor insbesondere vgl. in diesem Zusammenhang Zöllner, DB 1976, 1766 ff. 35 Ähnlich schon Gerhard Müller, Zur Tariffähigkeit (Fn. 1), S. 11. 33

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tretungsorgans, in dessen Kompetenz das Tarifgeschehen fällt. Eine entsprechende Pflichtenbindung muß aber wohl auch für Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat gelten, sofern sich dieser ausnahmsweise mit Fragen des Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfwesens zu befassen hat. Dabei bedeutet die Verpflichtung auf das Unternehmensinteresse- was immer man auch darunter im einzelnen verstehen mag -, daß den von der Arbeitnehmerseite kommenden Organmitgliedern augesonnen wird, die Unternehmer- bzw. Arbeitgeberrolle zu übernehmen. Das Bundesverfassungsgevicht verkennt allerdings nicht, daß mit der gesetzlichen Statuierung einer Pflicht zur Rollenanpassung Hanau36 spricht drastisch von einer Pflicht zur Selbstverleugnung - die Funktionsfähigkeit des Tarifsystems noch nicht gewährleistet ist. Die normative Einbindung der Arbeitnehmervertreter - ausgesprochen mit der Autorität des Bundesverfassungsgerichts - stellt zwar eine nicht hoch genug einzuschätzende Richtlinie für die Verhaltensorientierung der Organmitglieder dar. Gleichwohl bleiben Bedenken. Das Gericht weist selbst darauf hin, daß im Einzelfall zweifelhaft sein könne, welches Verhalten dem Unternehmensinteresse entspreche37 • Die Zweifel beginnen jedoch schon bei der grundsätzlichen Frage, durch welche Komponenten das Unternehmensinteresse bestimmt wird -eine Frage, der hier nicht weiter nachgegangen werden kann38 • Unabhängig davon stellen sich im Zusammenhang mit Tarifauseinandersetzungen eine Reihe von Detailfragen: Verstößt etwa das Votum für einen Austritt des mitbestimmten Unternehmens aus dem Arbeitgeberverband gegen das Unternehmensinteresse, wenn durch diese Maßnahme die Einbeziehung in einen Arbeitskampf vermieden werden kann? Wie ist es, wenn einer Tarifforderung der Gewerkschaft nachgegeben wird, um den Nachteilen eines Arbeitskampfes zu entgehen? Liegt es im Interesse eines mitbestimmten Unternehmens, dem Aussperrungsbeschluß des Arbeitgeberverbandes zu folgen, wenn dieses Unternehmen damit rechnen kann, vom Streik verschont zu bleiben? Das führt zu der grundsätzlichen Frage: Inwieweit gehört das Wohl des Arbeitgeberverbands zum Unternehmensinteresse? Die Unklarheiten über den Inhalt des Unternehmensinteresses wirken sich auf die rechtliche Sanktionierung nachteilig aus. Effektive Sanktionen wären aber notwendig, wenn durch die Pflichtenbindung der Organmitglieder die Funktionsfähigkeit des Tarifsystems gewährleistet werden soll. Das Bundesverfassungsgericht meint etwas optimiZGR 1979, 524 (535). BVerfGE 50, 290 (374 f.). 38 Dazu mit weiteren Nachweisen Ulmer, Der Einfluß des Mitbestimmungsgesetzes auf die Struktur von AG und GmbH, 1979, S. 30 ff. 88 87

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stisch, die Rechtsordnung stelle die Mittel bereit, eine Nichteinhaltung der Pflicht zur Wahrung des Unternehmensinteresses zu sanktionieren39 • Es denkt dabei offenbar an die im Gesellschaftsrecht vorgesehenen schadensersatzrechtlichen Reaktionsmöglichkeiten gegen Mitglieder des gesetzlichen Vertretungsorgans und des Aufsichtsrats, wenn durch eine Sorgfaltspflichtverletzung die Gesellschaft geschädigt worden ist. Liegt objektiv eine Pflichtverletzung vor, so ergeben sich zusätzliche Schwierigkeiten bei den weiteren Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs. Ein Schaden, sofern er überhaupt bestimmbar oder schätzbar ist, wird oft nicht beim mitbestimmten Unternehmen, sondern beim Arbeitgeberverband oder bei anderen Mitgliedsfirmen eintreten. Nachteilige Auswirkungen auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht durch zu hohe Tarifabschlüsse lassen sich ohnehin schadensersatzrechtlich nicht erfassen. Bei der Prüfung des Verschuldens40 wird regelmäßig die Interessenkollision als Entschuldigungsgrund eingewendet werden41 • Kann man einem Arbeitnehmervertreter einen Vorwurf machen, wenn er von einer bedingungslosen Konfrontationsstrategie abrät, für diE: Annahme einer gewerkschaftlichen Tarifforderung und gegen eine Aussperrung stimmt? Selbst eine Haftungsverschärfung, etwa in Richtung auf eine verschuldensunabhängige Schadensersatzpflicht, würde das Problem nicht lösen. Die Mitbestimmungsträger wären in ihren Aktivitäten gehemmt, und man müßte fragen, welchen Sinn es haben soll, Arbeitnehmervertreter an den Entscheidungen des Unternehmens zu beteiligen, wenn sie bei Wahrnehmung der ihnen naheliegenden Arbeitnehmerinteressen Gefahr laufen, schadensersatzpflichtig zu werden. Je mehr die Arbeitnehmervertreter die Rolle des Unternehmers bzw. Arbeitgebers übernehmen, desto schwerer werden sie es haben, Verständnis bei den Arbeitnehmern zu finden. Der Vertrauensschwund wird auch die an der Unternehmensmitbestimmung beteiligten Gewerkschaften treffen. In dem Maße, in dem diese in die unternehmerische Verantwortung hineinwachsen und dieser Aufgabe gerecht werden, geben sie radikalen Splittergruppen Gelegenheit, sich als die wahren Vertreter der Arbeitnehmerinteressen zu profilieren. BVerfGE 50, 290 (374). Das geltende Recht bürdet dem Schädiger immerhin die Beweislast auf, §§ 93 Abs. 2 S. 2, 116 AktG, § 34 Abs. 2 S. 2 GenG. 41 Interessant ist der Hinweis des LG München, Urt. v. 20. 1. 1956, BB 1956, 240, daß eine gewisse "Mitschuld" an dem Fehlverhalten von Arbeitnehmervertretern in einem Tarifkonflikt auch den Gesetzgeber treffe. Weiter heißt es: "Auch der Gewerkschaft kann ein Vorwurf nicht erspart bleiben. Sie ist es, die durch Häufung einander widersprechender Ämter in der Person nur weniger Funlüionäre letztlich für derartige Konflikte verantwortlich ist." 39

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2. Konkurrenzlösung durch Mitbestimmungsbeschränkungen im Tarif-, Arbeitskampf- und Koalitionsbereich

a) Ruhen des Aufsichtsratsamts von Arbeitnehmervertretern während eines Arbeitskampfes

Verschiedentlich ist vorgeschlagen worden, mitbestimmungsbedingte Beeinträchtigungen des Tarifvertragssystems dadurch auszuschalten, daß das Amt der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat wenigstens während .eines Arbeitskampfes suspendiert ist42 • Dieser Vorschlag hat sich bislang allerdings nicht durchsetzen können43 • Er läßt sich in der Tat nur schwer in die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts einfügen, wonach eine Aussperrung von Arbeitnehmervertretern, die aus dem Unternehmen kommen, auf die lediglich suspendierende Form beschränkt ist44 • Die Teilnahme am Streik führt ebenfalls nur zur Suspendierung. In beiden Fällen bleibt der Bestand des Arbeitsverhältnisses als Voraussetzung des Aufsichtsratsamts unangetastet. Diese Rechtsprechung bezog sich zwar nur auf die drittelparitätische Beteiligung nach dem Betriebsverfassungsgesetz; die Begründung mit der Kontinuität der auch im Interesse des Arbeitgebers liegenden Amtsführung trifft, wenn überhaupt, auf die weitergehenden Formen der Unternehmensmitbestimmung ebenfalls zu. Bei der ähnlichen Problemlage der betrieblichen Mitbestimmung hat sich das Bundesarbeitsgericht für den Fortbestand des Betriebsratsamtes während des Arbeitskampfes ausgesprochen und einen Kompromiß über den Ausschluß einzelner Mitbestimmungsbefugnisse bei kampfbedingten Arbeitgebermaßnahmen gesucht45 • Ein Ruhen des Aufsichtsratsamts würde den Einfluß der Arbeitnehmerseite während des Arbeitskampfes völlig ausschalten, also nicht nur die Abstimmung über tarifpolitische, sondern auch über andere Gegenstände, ferner die Teilnahme an Sitzungen und das Informationsrecht. Eine solche Lösung ginge einerseits zu weit, andererseits würde sie nicht 42 So vor allem OLG München, Urt. v. 19. 9. 1956, BB 1956, 995; Schilling, in: Großkomm. z. AktG, 3. Aufl. 1973, § 116 Anm. 9; Gerhard Müller, DB 1979, Beilage Nr. 5, S. 9; ders., DB 1975, 205 (253); ders., Zur Tariffähigkeit (Fn. 1), S. 12; Reuter, AcP 179 (1979), 509 (560). 43 Dagegen mit eingehender Begründung Mertens, AG 1977, 306 (307 ff.); ferner z. B. Fitting I Wlotzke I Wißmann, MitbestG, 2. Aufl. 1978, § 24 Rn. 7, § 25 Rn. 116; Raiser, MitbestG, 1977, § 25 Rn. 112; Hoffmann I Lehmann I Weinmann, MitbestG 1978, § 24 Rn. 6; Naendrup, in: Fabricius, GK-MitbestG, § 25 Rn. 215; Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, 1980, S. 633 f.; Meyer-Land:rut, in: Großkomm. z. AktG, 3. Aufl. 1973, § 96 Anm. 1. u BAGE 23, 292 (313) = AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 45 BAGE 23, 484 (504) = AP Nr. 44 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; BAG AP Nr. 58 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (unter 7); AP Nr. 20 zu§ 102 BetrVG 1972; für soziale Angelegenheiten jetzt auch BAG DB 19791 1655,

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ausreichen, wn die Funktionsfähigkeit des Tarifsystems zu erhalten. Zu weit ginge sie insofern, als Arbeitnehmervertreter während des Arbeitskampfes auch bei Gegenständen ausgeschlossen wären, die mit dem Arbeitskampf nicht in Zusammenhang stehen, z. B. Beschlußfassung über zustimmungspflichtige Geschäfte, Feststellung des Jahresabschlusses, Vorbereitung einer Hauptversammlung und dergleichen mehr. Es wäre mit dem Sinn der Unternehmensmitbestimmung schwer verträglich, wenn die Anteilseignerseite, ihre Beschlußfähigkeit vorausgesetzt, die Zeit eines Arbeitskampfes ausnutzen könnte, um bestimmte tarifunabhängige Maßnahmen ohne die Arbeitnehmerseite durchzusetzen. Auf der anderen Seite genügt den Postulaten des Bundesverfassungsgerichts ein auf die Zeit des Kampfes beschränktes Ruhen des Aufsichtsratsamts der Arbeitnehmervertreter nicht. Die Marschroute für die Haltung des Unternehmens in Tarifauseinandersetzungen wird vielfach schon vor dem eigentlichen Kampfbeginn festgelegt. Nach Kampfende hat der Aufsichtsrat sich unter Umständen ebenfalls mit Fragen zu befassen, die das Tarif- und Arbeitskampfgeschehen betreffen, z. B. gerichtliche Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen wegen rechtswidriger Kampfmaßnahrnen, Eintritt oder Verbleiben im Arbeitgeberverband, Zahlungen an einen Kampffonds, Durchführung von Solidaritätsmaßnahrnen. Davon abgesehen: Will man die Arbeitgeberinteressen im Tarifbereich dem Mitbestimmungseinfluß entziehen, so müssen entsprechende Vorkehrungen auch für Tarifrunden vorgesehen werden, in denen es nicht zum Arbeitskampf kommt. b) Ausschluß einzelner Beteiligungsrechte der Arbeitnehmervertreter

In der Literatur gewinnt ein Vorschlag an Boden, wonach das Aufsichtsratsamt der Arbeitnehmervertreter nicht insgesamt ruhen soll, sondern lediglich das Mitwirkungsrecht, soweit im Aufsichtsrat Gegenstände behandelt werden, die Tarifvertrag, Arbeitskampf und Koalitionswesen betreffen46 • Erörtert wird meist ein Stimmrechtsausschluß; will man das Trennungsprinzip effektiv durchführen, müßte auch ein Teilnahmeverbot an Beratungen der genannten Gegenstände und ein 48 Richtungweisend Wiedemann, JZ 1970, 593 (602); ders. (Fn. 43), S. 634; dann Säcker, DRdA 1973, 89 (95); ders., in: Das Arbeitsrecht der Gegenwart 12 (1975), 17 (58 ff.); ders., Anpassung von Satzungen und Geschäftsordnungen an das Mitbestimmungsgesetz 1976, 1977, S. 16 f.; Däubler, Das Grundrecht auf Mitbestimmung, 1973, S. 420 f.; Hanau, RdA 1975, 23 ff.; ders., ZGR 1977, 397 (407); ders., ZGR 1979, 524 (537 f.); von Eynern, in: Festschrift für Amdt, 1976, S. 36 (49); Naendrup (Fn. 43), § 25 Rn. 214; Schneider, in: GK-BetrVG, § 29 Rn. 25- 30; Hoffmann I Lehmann I Weinmann, § 29 Rn. 25; wohl auch Richardi, AöR 1979, 546 (575) und Martens, ZGR 1977, 422 (425 ff.).

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Ausschluß des Informationsrechts über diesen Gegenstandsbereich er, wogen werden. Die Kritiker eines solchen partiellen Stimmrechts- und Mitwirkungsausschlusses47 machen geltend, daß der Aufsichtsrat auch in mitbestimmten Unternehmen nicht nach dem Konfliktsmodell, sondern nach dem Integrationsmodell konzipiert sei48 . Die Arbeitnehmervertreter seien keine Bank von Interessenvertretern des Faktors Arbeit, sondern dem Unternehmensinteresse verpflichtet und verantwortlich. Deshalb habe es der Gesetzgeber folgerichtig unterlassen, Stimmrechtsausschlüsse für die Arbeitnehmervertreter anzuordnen. Es scheint so, als könnten sich die Vertreter dieser Auffassung nunmehr auf das Bundesverfassungsgericht berufen, das den Kooperationsgedanken im Sinn des Integrationsmodells ganz besonders betont und die Verpflichtung der Arbeitnehmervertreter auf das Unternehmensinteresse hervorhebt 49 . Wie bereits ausgeführt, sieht das Gericht die normative Verpflichtung der Arbeitnehmervertreter auf das Unternehmensinteresse zwar als notwendige, nicht aber als ausreichende Sicherung der Funktionsfähigkeit des Tarifsystems an. Die Erforderlichkeit von Stimmrechtsverboten wird nicht durch die am Gedanken der Kooperation und Integration ausgerichtete Konzeption des Aufsichtsrats ausgeschaltet. Würde die Verpflichtung auf das Unternehmensinteresse und ihre Sanktionierung mit Schadensersatzansprüchen in Fällen der Interessenkollision ausreichen, so wären die bestehenden gesellschaftsrechtlichen Regelungen über den Stimmrechtsausschluß bei eigener Entlastung, bei Befreiung von Verbindlichkeiten, bei Geltendmachung eines Anspruchs und bei Vornahme von Rechtsgeschäften überflüssig. Der Stimmrechtsausschluß in den gesetzlich näher ausgeformten Fällen der Interessenkollision ist ein allgemeines Rechtsprinzip, das für alle Aufsichtsratsmitglieder gleichmäßig gilt50 • Es beruht auf der Erkenntnis, daß es Situationen gibt, in denen ein Stimmberechtigter zwei Interessenrichtungen verbunden ist und, gleichgültig, wie er abstimmt, eine Interessenrichtung verraten muß 51 • Der Tarif-, 47 Insbesondere Fitting I Wlotzke I Wißmann (Fn. 43), § 25 Rn. 114, 117; Raiser (Fn. 43), § 25 Rn. 107, 112; Mertens, AG 1977, 306 (310 f.); Reich I Lewerenz, AuR 1976, 353 (361 f.); Zachert, MitbG 1976, 160 (252). Kritisch auch Ulmer, NJW 1980, 1603 (1605). 48 So z. B. Mertens, AG 1977, 306 (311). 49 BVerfGE 50, 290 (379). 50 Vgl. §§ 34 BGB, 136 Abs. 1 AktG, 47 Abs. 4 GmbHG, 43 Abs. 3 GenG. Zur legislatorischen Zweckmäßigkeit von Stimmverboten Zöllner, Die Schranken

mitgliedschaftlicher Stimmrechtsmacht bei den privatrechtliehen Personenverbänden, 1963, S. 149 ff. 51 Ähnlich Wiedemann (Fn. 43), S. 634.

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Arbeit.skampf- und Koalitionsbereich ist geprägt vom Interessengegensatz zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite. Man kann von einem Arbeitnehmervertreter nicht erwarten, daß er etwa einem gegen ihn selbst und die Arbeitnehmer gerichteten Aussperrungsbeschluß zustimmt, auch wenn die Aussperrung aus der Sicht des Unternehmens und des Arbeitgeberverbands geboten erscheint52 • Der Stimmrechtsausschluß soll das sonst in eine Interessenkollision geratende Aufsichtsratsmitglied vor Pflichtverletzungen oder sonstigen Schwierigkeiten bewahren. Das Bundesarbeitsgericht hat diesen Gedanken der Interessenkollision im Hinblick auf den Betriebsrat anerkannt für kampfbedingte Maßnahmen, die an sich unter betriebsverfassungsrechtliche Mitbestimmungstatbestände fallen53 • Das Gericht spricht von einer "Überforderung" des Betriebsratsmitglieds. Dieser Grundgedanke trifft auch für die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat zu. Ergänzend kann man - wiederum in Parallele zur Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts im Betriebsverfassungsbereich53 - den Gedanken der Kampfparität oder allgemeiner der Verhandlungsparität bei Tarifauseinandersetzungen heranziehen. Wenn die suspendierende Abwehraussperrung, wie das BAG trotz aller Angriffe bestätigt hat, zur Erhaltung der Kampfparität notwendig ist5 4, dann darf die Unternehmensmitbestimmung nicht so ausgestaltet werden, daß der Einsatz der Aussperrung von der Arbeitnehmerseite verhindert oder verzögert werden kann. Die nähere Ausgestaltung der Beteiligungsverbote der Arbeitnehmervertreter sollte man allerdings nicht in Analogie zu den gesellschaftsrechtlichen Stimmverboten vornehmen55 • Diese Bestimmungen sind nicht auf die Situation der Tarifauseinandersetzungen zugeschnitten. Die Legitimation zur richterrechtlichen Schaffung von Beteiligungsverboten ergibt sich aus dem allgemeinen Gedanken der Interessenkollision und der Kampfparität, letztlich aus dem bundesverfassungsgerichtliehen Auftrag an die Fachgerichte, die Gegnerunabhängigkeit und die Funktionsfähigkeit des Tarifsystems zu erhalten. Es handelt sich also um eine 52 Illustrativ dazu von Gewerkschaftsseite Spieker, Diskussionsbeitrag, in: Streik und Aussperrung, hrsg. von Kittner, 1973, S. 236: "Da die Aussperrung eine Unternehmensentscheidung ist, würde sie in qualifiziert mitbestimmten Unternehmen als lösende wie als suspendierende oder als ,kalte Aussperrung' praktisch kaum denkbar sein: Eine Unternehmensleitung, die eine solche Entscheidung fällt, würde das nicht lange überleben." 53 Nachweise oben Fn. 45. 54 a.a.O. (Fn. 27). 55 So z. B. noch Hanau, RdA 1975, 23 (24 ff.).

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auf Art. 9 Abs. 3 GG gestützte verfassungskonforme Beschränkung der gesellschaftsrechtlichen Beteiligungsrechte.

c) Probleme im Hinblick auf die Mitglieder des gesetzlichen Vertretungsorgans Beteiligungsverbote für Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat haben nur einen beschränkten Wirkungsbereich. Die Willensbildung in den hier interessierenden Fragen des Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfwesens obliegt in erster Linie den gesetzlichen Vertretungsorganen. Stimmverbote für Aufsichtsratsmitglieder bleiben wirkungslos, wenn der Aufsichtsrat mit dem Tarif- und Arbeitskampfgeschehen nicht befaßt ist. Allerdings läßt sich nicht ausschließen, daß Mitglieder des gesetzlichen Vertretungsorgans ihr Verhalten in Tarifauseinandersetzungen auch ohne spezifische Weisung an den Vorstellungen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat, die sich in der Regel mit denen der gewerkschaftlichen Tarifvertragspartei decken werden, orientieren. Dies umso mehr, als jedes Mitglied des gesetzlichen Vertretungsorgans darauf bedacht sein wird, mit den Stimmen der Arbeitnehmervertreter wiedergewählt zu werden56 • Eine solche Orientierung ist rechtlich kaum erfaßbar, zumal die Verpflichtung auf das Unternehmensinteresse einen breiten Spielraum läßt. Erschwerend kommt hinzu, daß - anders als beim Arbeitsdirektor nach dem Montan-Mitbestimmungsgesetz57 - die tarifpolitische Zuordnung der einzelnen Mitglieder des gesetzlichen Vertretungsargans nicht ohne weiteres durchführbar ist. Eine Lösung nach dem Modell der Beteiligungsverbote wegen Interessenkollision wie beim Aufsichtsrat erscheint daher nicht gangbar. Zu erwägen wäre folgende Lösung: Wenn sich unter den Mitgliedern des gesetzlichen Vertretungsorgans keine einheitliche Haltung in einer tarif-, arbeitskampf- oder koalitionspolitischen Frage erzielen läßt, hat der Aufsichtsrat die Entscheidung zu treffen, wobei die Arbeitnehmervertreter nicht stimmberechtigt sind. Für diese Lösung könnte man auch§ 32 Abs. 1 MitbestG analog heranziehen58 • Eine Rechtsfortbildung in diesem Sinne entspräche den im Mitbestimmungsurteil vorgezeichneten Direktiven.

Vgl. Badura I Rittner I Rüthers (Fn. 2), S. 151 f. Dieser kann nach § 13 Abs. 1 S. 2 Montan-MitbestG nicht gegen den Willen der Arbeitnehmervertreter bestellt oder abberufen werden. 58 In diesem Sinne bereits Scholz (Fn. 2), S. 121 f.; ähnlich Reuter, AcP 1979, 509 (559 f.); vgl. auch den Vorschlag von Martens, ZGR 1977, 422 (425 ff.). 58 57

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Hugo Seiter 3. Konkurrenzlösung auf arbeitskampfrechtlicher Ebene

Überschneidungen von Unternehmensmitbestimmung und Tarifauseinandersetzungen ergeben sich auch bei der Frage der Kampfbeteiligung von Organmitgliedern, die der Arbeitnehmerseite zuzuordnen sind. Es geht dabei insbesondere um die Frage, ob die Funktionsfähigkeit des Tarifsystems nicht dadurch in Frage gestellt wird, daß Mitbestimmungsorgane an Kampfmaßnahmen gegen das von ihnen mitbestimmte Unternehmen beteiligt sind.

a) Streikverbote für die Mitglieder des gesetzlichen Vertretungsorgans Anerkannt ist, daß die Mitglieder des gesetzlichen Vertretungsorgans einschließlich des Arbeitsdirektors im Sinn des § 33 MitbestG sich bei einem Arbeitskampf nicht auf die Seite der streikenden Arbeitnehmer stellen und ihre Tätigkeit für das Unternehmen verweigern dürfen59 • Ein Streikrecht besteht formal schon deshalb nicht, weil die Organträger keine Arbeitnehmer sind, sondern für das bestreikte Unternehmen als konkreter Arbeitgeber handeln müssen. Sie dürfen aber auch keine Aktivitäten bei der Streikorganisation entwickeln.

b) Streikverbote für Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat Bei der Frage des Streikrechts der Arbeitnehmervcertreter im Aufsichtsrat wird meist zwischen der bloßen Beteiligung durch Arbeitsniederlegung (passives Streikrecht) und der Beteiligung durch darüber hinausgehende Handlungen (aktives Streikrecht) unterschieden60 • aa) Die schlichte Arbeitsniederlegung, die selbstverständlich nur dem aus dem Unternehmen kommenden Arbeitnehmervertreter möglich ist, der in einem Arbeitsverhältnis steht61, wird fast allgemein als zulässig angesehen62 • Zu Recht: Die gesellschaftsrechtliche Verpflichtung zur Wahrung des Unternehmensinteresses verbietet zwar eine Schädigung der Gesellschaft63 • Die Teilnahme am Streik beeinflußt aber normaler59 So sogar für den Montan-Arbeitsdirektor Hueck - Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Bd. II/2, 7. Aufl. 1970, S. 976. 60 In diesem Sinne bereits LG München (Fn. 41). 61 Das Streikrecht im Sinne des Rechts zur Suspendierung der Arbeitspflicht bei gewerkschaftlich geführten Arbeitsniederlegungen steht grundsätzlich allen Arbeitnehmern zu, vgl. Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, 1975,

s. 247.

62 Vgl. Mertens, AG 1977, 306 (311- 315) mit weiteren Nachweisen und ausführlicher Begründung. Anders früher vor allem Dietz, BetrVG, 4. Aufl. 1967, § 76 Rn. 15 a. Zu Raiser vgl. Fn. 66. 63 Vgl. oben unter II 1.

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weise nicht den durch den Produktionsstillstand entstehenden Schaden. Auch wenn die Streikteilnahme von Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat das Durchhaltevermögen der Arbeitnehmerseite steigern sollte, dürfte das die Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems nicht wesentlich tangieren. Vor allem aber ist zu berücksichtigen, daß es für den Arbeitnehmervertreter unzumutbar wäre, vor den Augen der Belegschaft als Streikbrecher aufzutreten64 • Schließlich: Wenn ein Arbeitnehmervertreter aus dem Unternehmen nach der Rechtsprechung suspendierend ausgesperrt werden darf65, dann muß er auch streiken können. bb) Das aktive Streikrecht der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat, also das Recht zur Beteiligung an der über die bloße Arbeitsniederlegung hinausgehenden Streikorganisation, ist von der bisher h. M. abgelehnt worden66 • Die Frage erhält dadurch besondere Brisanz, daß ein solches Streikverbot vor allem die externen Arbeitnehmervertreter treffen würde, die vielfach hauptamtlich mit der Durchführung eines Streiks betraut sind. Darf etwa der Bezirksleiter einer Gewerkschaft, der im Aufsichtsrat eines Großunternehmens zur Wahrung des Unternehmensinteresses verpflichtet ist, sich an der Organisation eines Streiks beteiligen, in den das von ihm mitbestimmte Unternehmen einbezogen wird? Es ist davon auszugehen, daß zum Streikrecht in einem weiteren Sinne auch kampfbegleitende organisatorische Maßnahmen gehören, die von Gewerkschaftsangestellten für die Gewerkschaft durchgeführt werden. Leitet man das Streikrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG ab, so ist es beschränkbar, wenn die Beschränkung von der Sache her im Interesse anderer Rechtsgüter geboten erscheint67 • Ob dies der Fall ist, muß durch eine Abwägung entschieden werden. So zutreffend Mertens, AG 1977, 306 (312). Vgl. oben Fn. 44. 66. Vgl. z. B. Hueck I Nipperdey (Fn. 59), S. 1521 f. mit weiteren Nachweisen; aus neuererZeitinsbesondere Mertens, AG 1977, 306 (316 f.); ders., in: Kölner Komm. z. AktG, Anh. § 96 Rn. 98; Meyer-Landrut (Fn. 43); Geßler, in: Geßler I Hefermehl I Eckardt I Kropf, AktG, 1973, § 96 Rn. 63; Baumbach I Hueck, AktG, 13. Aufl. 1968, Anh. § 96 Rn. 35; mit Einschränkungen Hoffmannt Lehmann I Weinmann (Fn. 43), § 25 Rn. 134; schwankend Raiser (Fn. 43), § 25 Rn. 108- 110; anders noch Raiser (Fn. 2), S. 104, wo jede Beteiligung der Arbeitnehmervertreter abgelehnt wurde. Weitergehend grundsätzlich auch für das aktive Streikrecht: Hanau, ZGR 1977, 397 (405 f.); ders., ZGR 1979, 524 (537); Fitting I Wlotzke I Wißmann, (Fn. 43), § 25 Rn. 119, 120 mit der Einschränkung, der Arbeitnehmervertreter dürfe seine Amtsstellung nicht zu einer effektiveren Streikführung ausnutzen; Naendrup (Fn. 43), § 25 Rn. 216; Reich I Lewerenz, AuR 1976, 353 (361); Zachert, MitbG 1976, 160 (252). 67 So allgemein für Art. 9 Abs. 3 GG BVerfGE 28, 295 (306); für den Arbeitskampf vgl. auch BVerfGE 38, 386 (393). 84

65

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Der Gesetzgeber hat diese Abwägung nicht selbst vorgenommen und im Mitbestimmungsgesetz keine Regelung getroffen. Insbesondere folgt die Zulässigkeit des aktiven Streikrechts der Arbeitnehmervertreter noch nicht aus der gesetzlichen Installierung externer, von den Gewerkschaften zu benennender Arbeitnehmervertreter6s. Gegen die Zulässigkeit sprechen folgende Erwägungen: Mit der vom Bundesverfassungsgericht besonders betonten Verpflichtung zur Wahrung des Unternehmensinteresses, die in gesellschaftsrechtlichen Normen auch ihren Niederschlag gefunden hat69 , läßt sich die aktive Bekämpfung des "eigenen" Unternehmens schwerlich vereinbaren. Das für die Zulässigkeit der passiven Streikbeteiligung ausschlaggebende Argument der Unzumutbarkeit einer Streikbrecherrolle entfällt bei der aktiven Streikbeteiligung; die Unterlassung unternehmensschädigender Streikorganisation setzt die Arbeitnehmervertreter nicht dem Odium des Streikbrecherturns aus. Ein Verbot des aktiven Streikrechts entspräche auch dem Trennungsprinzip, dem das Bundesverfassungsgericht im Mitbestimmungsurteil folgt. Die Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems ließe sich eher erhalten, wenn auf Gewerkschaftsseite wenigstens in personeller Hinsicht die Trennung von Unternehmensmitbestimmung und Streikführerschaft eingehalten würde. Die Entscheidung, ob und welche mitbestimmten Unternehmen in einen Streik einbezogen werden, könnte dann nämlich frei von sachfremden Beweggründen gefällt werden; die gewerkschaftliche Streikführung wäre in den eigenen Reihen nicht dem Verdacht ausgesetzt, in der Kampfdurchführung durch mitbestimmungsrechtliche Rücksichtnahmen eingeengt zu sein; schließlich würde die Zusammenarbeit im Aufsichtsrat nach Kampfbeendigung nicht unter den Nachwirkungen des Kampfes leiden. Freilich ist nicht zu verkennen, daß die Gewerkschaften ein Interesse daran haben, Persönlichkeiten in die Aufsichblräte zu entsenden, die auch in Arbeitskämpfen eine herausragende Rolle spielen. Sollte sich die Rechtsprechung deshalb davor scheuen, Arbeitnehmervertretern generell die aktive Teilnahme am Arbeitskampfgeschehen zu untersagen, so müßte sie wenigstens darauf bedacht sein, den schon erörterten Stimmrechtsausschluß durchzusetzen. Die verschiedentlich feststellbare Tendenz70 : kein Ruhen des Aufsichtsratsamtes der Arbeitnehmervertreter, volles Beteiligungsrecht bei tarif- und arbeitskampfrechtlichen Fragen und dazu das uneingeschränkte Streikrecht läßt sich mit den es 88



And. Ans. vor allem Hanau (Fn. 66). Vgl. oben bei Fn. 34. z. B. bei Fitting I Wlotzke I Wißmann (Fn. 43, 47, 66).

Unternehmensmitbestimmung und Tarifauseinandersetzungen

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Grundgedanken des Mitbestimmungsurteils nicht mehr in Einklang bringen.

c) Unbestreikbarkeit mitbestimmter Unternehmen? Im Zusammenhang mit Ausgleichsregelungen, die beim Arbeitskampfrecht ansetzen, kann nicht an der Frage vorbeigegangen werden, ob der Strei.k gegen ein mitbestimmtes Unternehmen überhaupt noch zulässig ist oder wenigstens im Einzelfall Einschränkungen erfahren muß 71 • Diese Frage könnte aktuell werden, wenn die zur Erhaltung der Gegnerunabhängigkeit in Betracht kommenden Ausgleichsregelungen fehlschlagen, insbesondere wenn um einen Firmentarifvertrag mit einem mitbestimmten Unternehmen gekämpft wird. Aus arbeitskampfrechtlicher Sicht bietet sich vor allem der Grundsatz der Erforderlichkeit als Beurteilungskriterium an. Es ist weitgehend anerkannt, daß nicht erforderliche Kampfmaßnahmen auch nicht zulässig sind72 • Wenn in einem mitbestimmten Unternehmen eine Gewerkschaft über die mitbestimmungsrechtliehen Möglichkeiten bereits in gleichgewichtigem Maße die Interessen der Arbeitnehmer wahrnehmen kann, dann hat sie ein friedliches Mittel der Konfiiktlösung, das die zusätzliche Druckausübung im Wege des Streiks entbehrlich macht. Es wäre keine sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens, wenn die Arbeitnehmerseite das auf mitbestimmungsrechtlichem Wege erzielte oder erzielbare Ergebnis nach Belieben in einem nachfolgenden Waffengang revidieren könnte. Im Prinzip dürfte darüber wahrscheinlich Einigkeit zu gewinnen sein. Die Schwierigkeiten stecken allerdings in der Beurteilung, ob im konkreten Fall die Unternehmensmitbestimmung die kampfweise Auseinandersetzung um einen Firmentarifvertrag entbehrlich macht.

111. Ausblick: Unternehmensmitbestimmung statt Arbeitskampf? Die angestellten Betrachtungen zur Realisierbarkeit von konkurrenzlösenden Ausgleichsregelungen lassen es rzweifelhaft erscheinen, ob selbst bei Ausschöpfung der den Fachgerichten zur Verfügung stehenden Möglichkeiten die Gegnerunabhängigkeit der sozialen Gegenspieler und die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie auf Dauer erhalten werden kann. Sollte sich die Bewahrung der Tarifautonomie gegnerunabhängiger Tarifparteien als undurchführbar erweisen, so wird wohl niemand annehmen, daß der einmal beschrittene Weg zur UnternehmensmitbeZum Streitstand vgl. Seiter (Fn. 61), S. 518 f. Vgl. z. B. Scholz I Konzen, Die Aussperrung im System von Arbeitsverfassung und kollektivem Arbeitsrecht, 1980, S. 135 f. 71

7!

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stimmung wieder rückgängig gemacht werden kann. Will man eine sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens erhalten, so müßte dann eine Lösung im Sinne des eingangs skizzierten Vorrangprinzips angesteuert werden. Dazu wäre die Unternehmensmitbestimmung so auszugestalten, daß sie bei der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen an die Stelle der kampfweisen Tarifauseinandersetzung treten könnte. Ohne eine grundlegende Änderung der bisherigen Interpretation des Art. 9 Abs. 3 GG wäre das allerdings nicht möglich.

ZUR MITBESTIMMUNG BEI KONTROLLEINRICHTUNGEN NACH ÖSTERREICHISCHEM UND DEUTSCHEM RECHT Von Rudolf Strasser I. Höchstgerichtliche Rechtsprechung Mit Beschluß vom 27. 5. 1960 hat das BAG entschieden, daß dem Betriebsrat bei der Aufstellung eines Produktographen insoweit kein Mitbestimmungsrecht i. S. des § 56 Abs. 1 lit f BetrVG 1952 zusteht, als es um die Frage der Einführung und Betätigung des Produktegraphen im Betrieb des Unternehmens gehtl. Mit Beschluß vom 14. 5. 1974 hat das BAG (durch Zurückweisung eines auf negative Feststellung gerichteten Antrages des Arbeitgebers) auf der Basis der neuen, durch § 87 Abs. 1 Z 6 BetrVG 1972 gegebenen Rechtslage ein Mitbestimmungsrecht des BR in bezug auf die Verwendung von Multimomentkameras, die im regelmäßigen Abstand Aufnahmen von Arbeitsplätzen machen, bejaht2 • Mit Beschluß vom 9. 9. 1975 nahm das BAG im Zuge der Aufhebung der zweitinstanzliehen Entscheidung zur Frage Stellung, unter welchen Voraussetzungen das Tatbestandsmerkmal "zur Überwachung des Verhaltens oder der Leistung der Arbeitnehmer bestimmt" gegeben ist. Es meinte, daß dies schon dann der Fall sei, wenn die Einrichtung zur Überwachung objektiv und unmittelbar geeignet ist, ohne Rücksicht darauf, ob der Arbeitgeber dieses Ziel verfolgt und die durch die Überwachung gewonnenen Daten auch auswertet; außerdem genüge es, wenn aufgrund der Einrichtung unmittelbar Rückschlüsse auf das Verhalten oder die Leistung bestimmter anderer Arbeitnehmer, die nicht die mit der Einrichtung versehene Maschine bedienen, gezogen werden können3. 1 BAG v. 27.5.1960- 1 ABR 11/59; AP Nr. 1 zu§ 56 BetrVG 1952 Ordnung des Betriebes mit Bespr. von Küchenhoff = SAE 1962 S. 12 mit Bespr. von Gaul = AuR 1961 S. 355 mit Bespr. von Musa. ~ BAG v. 14.5.1974- 1 ABR 45/73; AP Nr. 1 zu§ 87 BetrVG 1972 Über..vachung mit Bespr. von Wiese = SAE 1975 S. 151 mit Bespr. von Buchner = PERSONAL 1974, 228 mit Bespr. von Zeitlmann. 3 BAG v. 9. 9.1975 1 ABR 20/74; AP Nr. 2 zu § 87 BetrVG 1972 Überwachung mit Bespr. von Hinz und Wiese = SAE 1976 S. 189 mit Bespr. von Peterek = AuR 1976 S. 91 mit Bespr. von Nickel.

39 Festschrift f. G. Müller

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Rudolf Strasser

Mit Beschluß vom 10. 7. 1979 nahm das BAG im Zuge der Aufhebung der zweitinstanzliehen Entscheidung zur Frage Stellung, ob die Aufstellung einer Filmkamera, mit der die Tätigkeit von Arbeitnehmern an ihrem Arbeitsplatz gefilmt wird, dem Mitbestimmungsrecht gern. § 87 Abs. 1 Z 6 BetrVG 1972 unterliegt, und meinte, daß es sich dabei um eine technische Einrichtung i. S. der genannten Gesetzesstelle handle, und daß der Tatbestand des § 87 Abs. 1 Z 6 BetrVG 1972 auch schon dann erfüllt sei, wenn nur kurzzeitige Filmaufnahmen der einzelnen Arbeitsplätze von jeweils 4 - 12 Minutendauer gemacht würden. Gleichzeitig bekräftigte es seinen, in der Entscheidung vom 9. 9. 1975 geäußerten Standpunkt bezüglich der Deutung des Tatbestandsmerkmals "zur Überwachung bestimmt"'. Mit Beschluß vom 10. 7. 1979 schließlich hat das BAG (aufgrund eines positiven Feststellungsantrages des BR) entschieden, daß dem BR in bezug auf den Einbau gesetzlich nicht vorgeschriebener Fahrtenschreiber in Kraftfahrzeugen ein Mitbestimmungsrecht gern. § 87 Abs. 1 Z 6 BetrVG 1972 zusteht5• Mit Entscheidung vom 16. 10. 1976 nahm der (österreichische) VfGH

im Zuge der Aufhebung einer EA-Entscheidung zur Frage Stellung, ob

eine im Zusammenhang mit einer betrieblichen Telefonanlage vorgesehene Mithörmöglichkeit (vom Zimmer des Betriebsinhabers und von der Telefonzentrale aus) eine Kontrollmaßnahme i. S. des § 76 Abs. 1 ~' 3 ArbVG sei, und welche Sanktionsmöglichkeiten bestünden, wenn eine solche Anlage ohne Zustimmung des zuständigen betriebsverfassungsrechtlichen Organs eingerichtet wird6 •

II. Positives Recht Weder das bis 1974 geltende (österreichische) BRG noch das bis 1972 geltende (deutsche) BetrVG 1952 enthielt eine ausdrückliche Regelung der Beteiligung der Belegschaft an der Einführung und Verwendung von Kontrolleinrichtungen. Im Rahmen des deutschen Betriebsverfassungsrechtes wurden derartige Fragen nach § 56 Abs. 1 lit f BetrVG 1952 (Fragen der Ordnung des Betriebes und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb) beurteilt7 • Im Österreichischen Rechtsbereich konnten derartige Fragen im Rahmen des fakultativen Teils der Arbeitsordnung gern. § 22 KollVG geregelt werden, was im wesentlichen besagt, daß diese Angelegenheit der fakultativen Mitbestimmung des BR unterlag, BAG v. 10. 7. 1979- 1 ABR 97/77; DB 1979 S. 2427 = BB 1979 S. 1714. BAG v. 10. 7. 1979-1 ABR 50/78; DB 1979 S. 2428. 1 VfGH v. 16. 10. 1976 B 69/76; Arb. 9534 = ZAS 1977, 68 mit Bespr. von Strasser. 7 Statt vieler: Dietz, BetrVG4 (1967) Anm. 164 zu § 56. 4

5

Mitbestimmung bei Kontrolleinrichtungen

611

da die Arbeitsordnung nur mit Zustimmung des BR erlassen oder abgeändert werden konnte 8 • Das BetrVG 1972 brachte dann erstmalig eine konkrete Regelung, und zwar durch § 87 Abs. 1 Z 6. Danach hat der BR, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht, ein Mitbestimmungsrecht bei der Einführung und Anwendung von technischen Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen. In Österreich kam es im Zuge der Kodifizierung des kollektiven Arbeitsrechtes 1974 zu einer Regelung, und zwar bestimmt § 96 Abs. 1 Z 3 ArbVG, daß die Einführung von Kontrollmaßnahmen und technischen Systemen zur Kontrolle der Arbeitnehmer zu ihrer Rechtswirksamkeit der Zustimmung des BR bedürfen, sofern diese Maßnahmen (Systeme) die Menschenwürde berühren. 111. Globalvergleich zwischen deutschem und österreichischem Betriebsverfassungsrecht

Ein zunächst bloß globaler Vergleich der beiden Regelungen zeigt einen gravierenden Unterschied. Zwar sind diese Mitbestimmungsrechte in beiden Rechtsordnungen dem Bereich der Mitwirkung in sozialen Angelegenheiten zugeordnet (BetrVG 1972: 4. Teil, 3. Abschnitt: Mitwirkung und Mitbestimmung der Arbeitnehmer in sozialen Angelegenheiten; ArbVG: II. Teil Betriebsverfassung; 3. Hauptstück Befugnisse der Arbeitnehmerschaft; Abschnitt 2 Mitwirkung in sozialen Angelegenheiten). Das ArbVG unterscheidet aber im Rahmen der Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten (§§ 96, 97) ganz klar, schon vom Wortlaut her, zwischen der zwingenden Mitbestimmung (§ 96), der erzwingbaren Mitbestimmung(§ 97 Abs. 1 Z 1 - 6) und der fakultativen Mitbestimmung (§ 97 Abs. 1 Z 7- 23) 9 • Demgegenüber läßt es das BetrVG 1972, so wie das BetrVG 1952, zumindest vom Wortlaut her ganz klar bei einer Zweiteilung bewenden, wobei die neben der fakultativen Mitbestimmung vorgesehene Mitbestimmung einerseits durch§ 87 Abs. 2 BetrVG 1972 erzwingbar gestaltet wird, durch den Einleitungssatz des § 87 Abs. 1 BetrVG 1972 "hat ... mitzubestimmen", aber offen bleibt, ob sich die Sanktion in der Erzwingbarkeit erschöpft. Das hat zum bekannten Theorienstreit über die Zuordnung der Tatbestände des § 56 Abs. 1 BetrVG 52 bzw. § 87 Abs. 1 BetrVG 72 zur notwendigen (mit der zwingenden Mitbestimmung gern. § 96 ArbVG nicht vergleichbar) oder zur erzwingbaren Mitbestimmung geführt10• Floretta I Strasser, Kommentar zum Betriebsrätegesetz2 (1973) S. 294. Strasser im ArbVG-Handkommentar (1975) S. 521 f. 10 Dietz I Richardi, BetrVG5 (W73) Anm. 34 zu § 87; Galperin I Löwisch,

8 9

BetrVG5 (1976) Anm. 16 ff. zu § 87; Wiese in GK-BetrVG (1979) Anm. 34 ff. zu§ 87 allem. w. N.; Sahmer, BetrVG (1980) Anm. 3 zu § 87. 39•

Rudolf Strasser

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Die Zuspitzung der Österreichischen Regelung auf die zwingende Mitbestimmung hat den Gesetzgeber außerdem dazu gebracht, um nicht zu sagen angehalten, eine Formulierung zu wählen, die ganz klar auf die Rechtswirksamkeit (bzw. Unwirksamkeit} der zustimmungspflichtigen Maßnahme abstellt, womit der erwähnte zu § 87 Abs. 1 BetrVG 1972 bestehende Meinungsstreit11 für den Österreichischen Rechtsbereich vermieden wurde, gleichzeitig freilich eine andere Problematik geboren wurde. Diesen rechts- und sozialpolitisch meiner Meinung bis zu einem gewissen Grad als Vorzüge zu wertenden Besonderheiten der Österreichischen Regelung steht freilich ein ganz bedeutender Mangel gegenüber, den man wohl ohne Übertreibung als rechts- wie sozialpolitischen Fehler qualifizieren muß: Die Einschränkung nämlich, daß dieses Mitbestimmungsrecht nur dann gegeben ist, wenn die Kontrolleinrichtung die Menschenwürde berührt (vgl. unten 4., 5.}. Was den Bezugspunkt dieser Mitbestimmung anlangt, so stellt die Österreichische Regelung auf "Kontrollmaßnahmen und technische Kontrollsysteme" ab, während die Regelung des BetrVG 1972 nur von technischen Einrichtungen spricht. Daß das BetrVG 1972 hier zu eng formuliert, indem es Kontrollmaßnahmen etwa rein faktischer Art (mit Hilfe von Kontrollorganen} nicht erwähnt 12 , liegt auf der Hand. Die sozialpolitisch erwünschte Einschränkung auf Kontrolleinrichtungen, die es mit der Kontrolle der Arbeitnehmer im Betrieb zu tun haben, nimmt das ArbVG in sehr kursorischer und daher notwendig Interpretationsprobleme auslösender Art mit den schlichten Worten "zur Kontrolle der Arbeitnehmer" vor, während das BetrVG 1972 ins andere Extrem verfallend, etwas zu präzise- was gleichfalls an sich vermeidbare Interpretationsfragen auslösen mußte13 von Einrichtungen spricht, die dazu bestimmt sind, das Verhalten und die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen. Keine besondere rechtliche Bedeutung hat dagegen der Umstand, daß § 87 Abs. 1 Z 6 BetrVG 1972 von "Einführung und Anwendung" und § 96 Abs. 1 ArbVG bloß von "Einführung" derartiger Kontrolleinrichtungen spricht. Zur Frage, was rechtens sein soll, wenn derartige Kontrolleinrichtungen ohne Zustimmung des BR oder gegen dessen ausdrücklichen Widerspruch eingeführt werden, nimmt weder das ArbVG noch das BetrVG 1972 ausdrücklich Stellung. 11

Siehe FN 10.

Galperin I Löwisch, BetrVG5 (1976) Anm. 142 zu§ 87; Wiese in GK-BetrVG (1979) Anm. 104 b zu§ 87. 13 Dietz I Richardi, BetrVG5 (1973) Anm. 215 zu § 87; Galperin I Löwisch, BetrVG5 (1976) Anm. 145 zu § 87; Wiese in GK-BetrVG (1979) Anm. 105 ff. zu§ 87; Sahmer, BetrVG (1980) Anm. 13 zu§ 87; BAG v. 9. 9.1975- 1 ABR 20174 s. FN 3; BAG v. 10. 7. 1979-1 ABR 97177 s. FN 4. 12

Mitbestimmung bei Kontrolleinrichtungen

613

IV. Einzelfragen 1. Vorbemerkung

Die Problemstellungen im Zusammenhang mit der zwingenden bzw. erzwingbaren Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten sind im Österreichischen Betriebsverfassungsrecht in etwa die gleichen wie in der Bundesrepublik Deutschland. Es ist nur so, daß die einzelnen Fragen: Zustimmung des BR als Wirksamkeitsvoraussetzung für die Maßnahme des Betriebsinhabers, Mitbestimmungsfreiheit von individuellen Maßnahmen, Zulässigkeit von günstigeren Einzelabreden in mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten und Bejahung oder Ablehnung eines Initiativrechtes des BR zwecks Erzwingung einer Regelung, nicht gebündelt unter der Dichotomie: notwendige Mitbestimmung versus erzwingbare Mitbestimmung abgehandelt werden14, sondern daß dem Begriffspaar zwingende und erzwingbare Mitbestimmung im Österreichischen Betriebsverfassungsrecht lediglich der Gegensatz: Ausschluß jeglicher Schlichtung kombiniert mit dem Verbot der anderweitigen Regelung durch Weisung oder summierte Einzelabrede einerseits und Mitbestimmung mit Zwangsschlichtung, aufgebaut auf dem Antragsprinzip andererseits, entspricht1 5 , während man davon ausgeht, daß die Frage der Wirksamkeitsvoraussetzung der ER-Zustimmung kein Abgrenzungskriterium zwischen den beiden Mitbestimmungsformen ist, da erzwingbare Mitbestimmung prinzipiell auch in der Form vorstellbar ist, daß die Zustimmung des Betriebsrates Wirksamkeitsvoraussetzung ist16 , was dann auf die im deutschen Rechtsbereich als sogenannte notwendige Mitbestimmung bezeichnete Gestaltung hinauslaufen würde. Dagegen ergibt sich die Frage der Zulässigkeit einer ER-Initiative nicht in der Schärfe wie im deutschen Betriebsverfassungsrecht17, da hier das ArbVG klarer als das BetrVG ist: Unzulässigkeit einer solchen Initiative in den Fällen der zwingenden Mitbestimmung nach § 96 dagegen Zulässigkeit in den Fällen der erzwingbaren Mitbestimmung gern. § 97 Abs. 1 Z 1 bis 618 •

14 Statt vieler: Dietz I Richardi, BetrVG5 (1973) Anm. 6 ff. und 34 ff. zu § 87, die allerdings die Frage des Initiativrechts unabhängig von der Frage der Wirksamkeitsvoraussetzung sehen. 15 Strasser im ArbVG-Handkommentar (1975) S. 521 ff. (5'23 u. 543). 16 Strasser im ArbVG-Handkommentar (1975) S. 543 ff., 523 f. 17 Statt vieler: Dietz I Richardi, BetrVG5 (1973) Anm. 6 ff. zu § 87; Wiese in GK-BetrVG (1979) Anm. 42 a ff. zu§ 87. 18 Vgl. Strasser im ArbVG-Handkommentar (1975) S. 525 u. 544; Strasser in Floretta I Spielbüchler I Strasser, Arbeitsrecht Bd. II Kollektives Arbeitsrecht (1976) S. 190 f.; Weißenberg I Cerny, ArbVG 2 (1978) S. 310 u. 319; Basalka in Kommentar zum ArbVG-Wirtschaftsverlag (1974) S. 206 u. 215.

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Rudolf Strasser 2. Die Frage der Erzwingbarkeit

Das Mitbestimmungsrecht der Belegschaft in bezug auf Kontrolleinrichtungen ist im Österreichischen Betriebsverfassungsrecht eindeutig dem Bereich der zwingenden Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten zugeordnet. Unbestritten ist auch, daß diese Mitbestimmung auf dem Zustimmungsprinzip beruht19 , wozu gilt, daß es für das Wesen der zwingenden Mitbestimmung irrelevant ist, ob die Konstruktion auf dem Zustimmungs- oder Einspruchsprinzip beruht20 • Das Wesen der zwingenden Mitbestimmung gern.§ 96 Abs. 1 ArbVG besteht darin, daß jegliche Art von Schlichtung, also auch jegliche Art von Zwangsschlichtung, ausgeschlossen und eine anderweitige Regelung der mitbestimmungspfl.ichtigen Angelegenheit durch Weisung oder Einzelabrede unzulässig ist21 • Da es sich bei allen mitbestimmten Angelegenheiten des § 96 Abs. 1 ArbVG expressis verbis um "Maßnahmen des Betriebsinhabers" handelt, die der Zustimmung des BR bedürfen, kommt eine Initiative des BR im Rechtssinne nicht in Betracht22 • Der Ausschluß jeglicher Art von Zwangsschlichtung bedeutet, daß der Betriebsinhaber keine Möglichkeit hat, die von ihm ins Auge gefaßte Regelung zu erzwingen23 • Obgleich das ArbVG Formen der zwingenden Mitbestimmung kennt, bei denen zumindest eine nachprüfende Rechtskontrolle des (negativen) ER-Verhaltens auf Antrag des Betriebsinhabers vorgesehen ist (z. B. im Bereich der personellen Einzelmaßnahme gern.§ 101 ArbVG)24 , ist bei der zwingenden Mitbestimmung gern. § 96 Abs. 1 auch eine derartige Rechtskontrolle nicht vorgesehen25 • Dies bedeutet in Zusammenhalt mit dem schon erwähnten Ausschluß jeglicher Zwangsschlichtung, daß der Betriebsinhaber bei einer negativen Haltung des BR keine wie immer geartete Möglichkeit hat, zu seiner Regelung zu kommen, und zwar selbst dann nicht, wenn das Nein des BR jeglicher sachlichen Begründung entbehrt26 • Diese auf den ersten Blick als überaus starr und unelastisch erscheinende Rechtslage wird nur verständlich, wenn man die einzelnen, dieser Art von Mitbestimmung unterliegenden Tatbestände näher ins Auge 18 Strasser im ArbVG-Handkommentar (1975) S. 523; Strasser in Arbeitsrecht II (1976) S. 190; Weißenberg I Cerny, ArbVG2 (1978) S. 310; Basalka in ArbVG-Wirtschaftsverlag (1974) S. 206. 20 Strasser im ArbVG-Handkommentar (1975) S. 523. u Strasser im ArbVG-Handkommentar (1975) S. 523 u. 538; Strasser in Arbeitsrecht II (1976) S. 190; Weißenberg I Cerny, ArbVG2 (1978) S. 310; Basalka in ArbVG-Wirtschaftsverlag (1974) S. 206. 22 Vgl. schon oben FN 18. 23 Vgl. schon oben FN 21, insb. Strasser im ArbVG-Handkommentar (1975)

s. 523.

Statt vieler: Strasser im ArbVG-Handkommentar (1975) S. 591. Strasser im ArbVG-Handkommentar (1975) S. 522. 28 Vgl. Strasser im ArbVG-Handkommentar (1975) S. 523; Weißenberg I Cerny, ArbVG 2 (1978) S. 310, die den AB 993 Blg. NR 13. GP, S. 3 zitieren. 24

25

Mitbestimmung bei Kontrolleinrichtungen

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faßt und die (wertende) Haltung des Gesetzgebers zum Vorhandensein oder Nichtvorhandensein derartiger Regelungen in einem Betrieb in Betracht zieht. Es ist ganz offenbar so, daß der Gesetzgeber bewußt in Kauf genommen hat, daß es u. U. in einem Betrieb zu keiner generellen Regelung der in § 96 Abs. 1 angeführten vier Angelegenheiten (betriebliche Disziplinarordnung, qualifizierte Personalfragebögen, qualifizierte Kontrolleinrichtungen und generell geregelte leistungsbezogene Entgelte) kommt27 • Demgegenüber hat der Betriebsinhaber im Rahmen des deutschen Betriebsverfassungsrechtes prinzipiell die Möglichkeit, die Einführung von Kontrolleinrichtungen bei der Einigungsstelle zu erzwingen(§ 87 Abs. 2 BetrVG 1972)28, Als vorläufiges Ergebnis ist damit rechtsvergleichend festzuhalten, daß, was die Erzwingbarkeit einer Regelung anlangt, für Kontrolleinrichtungen, die die Menschenwürde nicht berühren, in Österreich wie in der Bundesrepublik Deutschland die gleiche Rechtslage gegeben ist, und daß das Österreichische Betriebsverfassungsrecht nur bei Kontrolleinrichtungen, die die Menschenwürde berühren, einen eigenen Weg geht, der dadurch gekennzeichnet ist, daß dem BR kein Initiativrecht zusteht29 (was wohl einleuchtend ist) und daß der Betriebsinhaber bei einem Nein des BR weder eine Regelung bei einer Schlichtungsstelle erzwingen kann, noch dieses negative Verhalten bei einer Rechtsinstanz überprüfen lassen kann. 3. Zulässigkeit von Individualmaßnahmen

Die der zwingenden Mitbestimmung gern. § 96 ArbVG unterliegenden Angelegenheiten (im Gesetzestext in drei Fällen schlicht mit "Einführung", im vierten Fall mit "Einführung" und "Regelung" umschrieben) sind allgemein als generelle Regelungen zu verstehen30• Die Verwirklichung dieser Regelungen ist nur in der Form einer Betriebsvereinbarung zulässig3 1 • Gleichzeitig ist der zwingenden Mitbestimmung wesensgemäß, daß es unzulässig ist, die ihr unterliegende Angelegenheit anderweitig durch Weisung oder Einzelab27

Siehe FN 21.

28

Dietz I Richardi,

BetrVG5 (1973) Anm. 368 f. zu§ 87; Wiese in GK-BetrVG

(1979) Anm. 163 zu§ 87. 29 Siehe FN 18.

30 Strasser im ArbVG-Handkommentar (1975) S. 538; Weißenberg I Cerny, ArbVG2 (1978) S. 310 f.; Basalka im ArbVG-Wirtschaftsverlag (1974) S. 206. 31 Strasser im ArbVG-Handkommentar (1975) S. 522 u. 538; Weißenberg I Cerny, ArbVG 2 (1978) S. 310; Basalka in ArbVG-Wirtschaftsverlag (1974) S. 207; Jabornegg, Probleme des Arbeitsverfassungsrechts in DRdA 1977, 205 f.; a. A. Holzer, Die zustimmungspfiichtige Maßnahme, ZAS 1976, 208 f., der in gewissen Fällen auch eine formlose Einigung für ausreichend hält; zweifelnd Schwarz, Probleme sozialer und personeller Mitbestimmung im Betrieb, DRdA

1975, 69 f.

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rede zu regeln32 • Damit ist noch nichts zur Frage der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit von echten Individualmaßnahmen gesagt. Da Gegenstand der zwingenden Mitbestimmung die generelle Regelung der Kontrolleinrichtung ist, bedeutet das Verbot der Regelung durch Einzelabweisung oder Einzelabrede nur die Unzulässigkeit des Unterlaufens der Mitbestimmung durch eine Serie von gleichlautenden Einzelweisungen oder gleichlautenden Einzelabreden33 • Insofern besteht kein Unterschied zu der im deutschen Betriebsverfassungsrecht bestehenden Rechtsauffassung34. Davon ist das Problem der Zulässigkeit von echten Individualmaßnahmen zu unterscheiden, wobei weiter danach zu differenzieren ist, ob eine mitbestimmte Regelung besteht oder nicht. Für das Österreichische Recht gilt dazu folgendes: Soweit eine mitbestimmte Regelung i. S. des§ 96 Abs. 1 ArbVG (noch) nicht besteht, sind echte Einzelmaßnahmen (das wären Maßnahmen, die sich auf einen einzelnen oder einige konkrete Arbeitnehmer beziehen) mitbestimmungsfrei35 • Keine echte Einzelmaßnahme, sondern eine der Mitbestimmung unterliegende generelle Maßnahme liegt dagegen vor, wenn sich die Regelung auf einen konkreten Arbeitsplatz (ohne Ansehung der Person, mit dem dieser besetzt ist) bezieht36 • Besteht dagegen bereits eine (mit Zustimmung des BR zustande gekommene) generelle Regelung, so ist das rechtliche Schicksal einer echten Individualmaßnahme (Einzelweisung, Einzelabrede) so zu sehen: Da die mitbestimmte Regelung eine normativ wirkende Betriebsvereinbarung ist, die gern. § 31 Abs. 3 ArbVG stets einseitig zugunsten des Arbeitnehmers zwingend auf die Einzelverträge einwirkt, sind, von einer Betriebsvereinbarung gern. § 96 Abs. 1 Z 3 Arb VG abweichende Einzelabreden stets upter_ dem Aspekt des Günstigkeitsprinzips zu prüfen und, wenn sie günstiger sind als die Regelung in der Betriebsvereinbarung, zulässig und wirksam37 • Meinungen, die davon ausgehen, daß Betriebsvereinbarungen gern.§ 96 Abs. 1 ArbVG contra legem (§ 31 Abs. 3 ArbVG) zweiSiehe FN 21. Strasser im ArbVG-Handkommentar (1975) S. 538; vgl. auch Weißenberg I Cerny, ArbVG 2 (1978) S. 314; Basalka in ArbVG-Wirtschaftsverlag (1974) S. 209; a. A. Holzer, ZAS 1976, 209. 34 Fitting I Auffarth, BetrVG 10 (1972) Anm. 5 f. zu § 87; Galperin I Löwisch, BetrVG5 (1976) Anm. 6 f. zu § 87; Wiese in GK-BetrVG (1979) Anm. 8 ff. zu § 87; a. A. Dietz I Richardi, BetrVG5 (1973) Anm. 24 zu § 87. 35 Strasser im ArbVG-Handkommentar (1975) S. 538; vgl. auch Weißenberg I Cerny, ArbVG 2 (1978), die zwar einerseits (S. 310) meinen, daß in Ermangelung einer generellen Regelung die Betriebsinhaber derartige Maßnahmen auch im Einzelfall nicht anordnen können, andererseits aber (S. 314) konstatieren, daß ad-hoc-Kontrollen im Einzelfall (etwa bei Diebstahlsverdacht usw.) der Zustimmung des Betriebsrats nicht bedürfen. 36 Näheres dazu bei Holzer, ZAS 1976, 210; Jabornegg, DRdA 1977, 207 f. 37 Strasser im ArbVG-Handkommentar (1975) S. 180; Jabornegg, DRdA 32

33

1977,209.

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seitig zwingende Wirkung haben und jegliche Einzelabrede ausschließen, entbehren lege non differente einer überzeugenden Begründung38 • Etwas anders gestaltet sich die Rechtslage bei einer Einzelweisung, die mit der bestehenden mitbestimmten generellen Regelung nicht übereinstimmt. Ausgangspunkt einer Lösung muß die überlegung sein, daß die der Mitbestimmung unterliegende Angelegenheit (Einführung und Anwendung von Kontrolleinrichtungen) bei isolierter arbeitsvertragsrechtlicher Betrachtung ( = bei Wegdenken der betriebsverfassungsrechtlichen Bestimmungen) dem Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegtll 9 • Dieses Weisungsrecht hat§ 96 ArbVG insoweit beseitigt, als es sich um die generelle Regelung der Angelegenheit handelt. Im Prinzip umschließt jede Kompetenz zur generellen Regelung auch die Regelung des Verfahrens und der Zuständigkeit für die Regelung im Einzelfall. Außerdem ist jeder generellen Regelung einer Angelegenheit von Haus aus die Absicht der Regelnden zu unterstellen, daß von der generellen Regelung ohne triftigen sachlichen Grund durch Rückgriff auf das mitbestimmungsfreie Weisungsrecht im Einzelfall nicht abgegangen werden soll. All dies bedeutet, daß bei Vorliegen einer, mit der mitbestimmten generellen Regelung nicht übereinstimmenden konkreten Einzelweisung stets zu prüfen ist, ob die Betriebsvereinbarung Regelungen für solche Fälle enthält oder nicht. Nur wenn die Interpretation der Betriebsvereinbarung ergibt, daß sie außergewöhnliche Situationen, die in bezug auf einen konkreten Arbeitnehmer ein Abgehen von der generellen Regelung erfordern würden, nicht regelt und auch nicht regeln wollte, ist eine derartige Weisung zulässig. Keine Frage ist hingegen, daß dann, wenn die außergewöhnliche Situation eine andere generelle Regelung erfordern würde, ein Abgehen wieder nur durch Betriebsvereinbarung, also mitbestimmt, zulässig ist. 4. Rechtswirksamkeit und Sanktion

Anders als im Betriebsverfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland konnte es in Österreich nicht zu einer Kontroverse über die Frage der Rechtswirksamkeit einer der Mitbestimmung gern. § 96 Abs. 1 Arb VG unterliegenden Regelung kommen, die vom Betriebsinhaber ohne Zustimmung des BR geregelt wurde. Nach dem völlig eindeutigen Wortlaut des Einleitungssatzes des § 96 Abs. 1 Arb VG bedarf die Maßnahme zu ihrer Rechtswirksamkeit der Zustimmung des BR. Die vom Betriebs38 Weißenberg I Cerny, ArbVG 2 (1978) S. 100; Basalka in ArbVG-Wirtschaftsverlag (1974) S. 112; Schwarz, Probleme sozialer und personeller Mitbestimmung im Betrieb, DRdA 1975, 69 u. 71; Holzer, ZAS 1976, 210 f. 39 Zur die Weisung einschränkenden Wirkung der Betriebsvereinbarung Ostheim, Die Weisung des Arbeitgebers als arbeitsrechtliches Problem, Gutachten 4. ÖJT 1970, S. 106 f. und dazu Martinek, Die Weisung des Arbeitgebers als arbeitsrechtliches Problem, Referat, S. 20 ff.; vgl. auch Spielbüchler in Floretta I Spielbüchler I Strasser, Arbeitsrecht I (1976) S. 38 ff. (46).

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inhaber ohne Zustimmung des BR verfügte Maßnahme ist daher rechtsunwirksam40. Die von der Regelung faktisch erfaßten Arbeitnehmer und der BR können sich jederzeit auf diese Rechtsunwirksamkeit berufen41 • Was den BR in dieser seiner Eigenschaft anlangt, hat diese Berufung freilich wenig praktische Bedeutung. Bei den Arbeitnehmem involviert sie jedoch das Recht, die "Regelung" nicht zu befolgen42 • Soweit die ERMitglieder Arbeitnehmereigenschaft haben (was im Österreichischen Betriebsverfassungrecht unter gewissen Voraussetzungen nicht der Fall sein muß) gilt das auch für sie. Dieses Weigerungsrecht der Arbeitnehmer ist abgesehen davon, daß es in seiner individuell-konkreten Gestalt der rechtsunwirksamen kollektiven Maßnahme des Arbeitgebers nicht adäquat ist, überdies aus anderen Gründen sehr problematisch. Lehnt nämlich ein Arbeitnehmer die Befolgung einer Regelung, von der er glaubt, sie sei rechtsunwirksam, ab, so riskiert er, daß er eine Pflichtverletzung begeht. Sein Risiko besteht in den zahlreichen Rechts- und Tatfragen, von denen die Entscheidung abhängt, ob eine mitbestimmungsfreie oder mitbestimmungsunterworfene Maßnahme vorliegt, bzw. ob eine Betriebsvereinbarung gern. § 96 Abs. 1 ArbVG gültig zustande gekommen ist oder nicht. Er riskiert damit seinen Arbeitsplatz. Er muß nämlich damit rechnen, daß der Betriebsinhaber zunächst ohne Rücksicht auf seine Rechtsposition mit einer fristlosen Entlassung vorgeht. Selbst wenn der Arbeitnehmer im Recht ist, bedeutet dies, daß auf seinem Rücken oder genauer: auf dem Umweg über einen von ihm zu führenden Rechtsstreit zur Bekämpfung der fristlosen Entlassung, die Frage ausgetragen wird, ob der Betriebsinhaber gegen Mitbestimmungsrechte verstoßen hat oder nicht. Daß eine derartige Vorgangsweise keine adäquate Sanktion auf eine unter Verletzung zwingender Mitbestimmungsvorschriften vom Betriebsinhaber gesetzte Maßnahme ist, liegt auf der Hand. Sicher ist, daß Feststellungsverfahren beim EA gern.§ 157 Abs. 1 Z 5 ArbVG zulässig sind, ein Weg der in der Bundesrepublik Deutschland in so gut wie allen Fällen, die zur Entscheidung durch das BAG geführt haben, gewählt wurde 43 • Als Antragsteller kommen bei Kontrolleinrichtungen der Betriebsinhaber und der BR in Betracht. Bei contra legem, d. h. ohne Zustimmung des BR eingeführten Kontrolleinrichtungen haben Feststellungsbescheide des EA, die deklarativ erklären, daß die Einführung unwirksam ist, deshalb nur "platonische" Bedeutung, weil damit wieder nur die sich schon aus dem Gesetz und dem Verhalten des Betriebsinhabers ergebende Rechtsfolge durch individuell-konkreten Rechtsakt festgestellt wird. Er40 41 42 43

Strasser im ArbVG-Handkommentar (1975) S. 538. Vgl. Strasser, a.a.O. S. 525 u. 538. Strasser, a.a.O. S. 538. Vgl. nur die Entscheidungen FN 1 - 5.

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folgt daraufhin weiter nichts, so liegt die faktische Durchsetzung wieder nur beim einzelnen Arbeitnehmer, dem auf diese Weise freilich in rechtskräftiger und die Gerichte bindender Form bestätigt ist, daß er zur Verweigerung der Beachtung der Kontrolleinrichtung befugt ist. Ob es zur kollektiven Nichtbefolgung durch die Arbeitnehmer kommt, ist- wenn dies überhaupt möglich ist - aber wieder eine Frage ihrer Festigkeit und Konsequenz. Wie der Österreichische VfGH in einer Entscheidung ausgeführt hat, ist die einzige wirksame Sanktion auf eine rechtswidrige Einführung einer solchen Kontrolleinrichtung i. S. des § 96 Abs. 1 Z 3 ArbVG nur die Gewährung eines Beseitigungsanspruches44 • Verfahrensrechtlich gesehen läuft dies auf Erlassung eines Leistungsbescheides durch das EA gern. § 157 Abs. 1 Z 5 ArbVG hinaus. Diesbezüglich gilt, daß derartige Leistungsbescheide des EA genauso wie Leistungsurteile der Gerichte einen materiellrechtlichen Anspruch auf ein Tun oder Unterlassen dessen voraussetzen, der bescheidmäßig zur Leistung verhalten werden soll 45 . Mit anderen Worten heißt dies, die Bestimmung des§ 96 Abs. 1 Z 3 ArbVG, sowie das gesamte materielle Betriebsverfassungsrecht, ist daraufhin zu prüfen, ob aus ihm ein derartiger Leistungsanspruch abgeleitet werden kann.DerVfGH hat in der erwähntenEntscheidung ohne nähere Begründung dies bejaht und aus diesem Grund den das Leistungsbegehren auf Beseitigung zurückweisenden Bescheid des EA aufgehoben4e. Im deutschen Betriebsverfassungsrecht hat die Rechtsprechung dazu noch nicht Stellung genommen. In der Literatur wird dies nur vereinzelt vertreten47. Ich habe in der Besprechung des Erkenntnisses des VfGH Zweifel an der Richtigkeit dieser Auffassung angemeldet48 • Eine nähere Überprüfung dieses Standpunktes zwingt mich freilich nach Abwägung aller in Betracht kommenden Gesichtspunkte dazu, diese Zweifel zurückzuziehen und dem Erkenntnis des VfGH im Ergebnis zuzustimmen. An der Kritik an der Art und Weise, wie der VfGH zu diesem Ergebnis gelangt, nämlich ohne jegliche Begründung bzw. mit Argumenten, die völlig an der Sache vorbeitreffen, ändert sich dadurch freilich nichts49 . Ausgangspunkt für eine Bejahung eines aus§ 96 ArbVG abzuleitenden betriebsverfassungsrechtlichen Beseitigungsanspruches ist die Überlegung, daß die Verknüpfung der Einführung und Anwendung von Kontrolleinrichtungen mit dem Rechtsbegriff der "Rechtswirksamkeit" zum Siehe FN 6 (Arb 9534 = ZAiS 1977, 68). Strasser im ArbVG-Handkommentar (1975) S. 1002. 46 Siehe FN 6 (Arb 9534 = ZAS 1977, 68). 47 Adomeit, Thesen zur betrieblichen Mitbestimmung nach dem neuen Betriebsverfassungsgesetz in BB 1972 S. 54; Wiese in GK-BetrVG (1979) Anm. 44

45

39 a zu§ 87. 48 ZAS 1977, 69 ff. 49 a.a.O. S. 69 f.

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überwiegenden Teil verfehlt ist. Der Begriff der Rechtswirksamkeit stammt aus der Rechtsgeschäftslehre 50. Die Einführung und Anwendung von Kontrolleinrichtungen hat aber nur insoweit (betriebsverfassungsrechtlichen) Rechtsgeschäftscharakter als sie durch Betriebsvereinbarung oder, wenn dies contra legem ohne Zustimmung des BR geschieht, durch Arbeitgeberweisung erfolgt. Ein konstituierendes Element der Einführung und Anwendung ist aber (auch) die faktische Installierung und Inbetriebnahme der Einrichtung. Mit "Rechtswirksamkeit" ist die Rechtsfolge der ER-Zustimmung bzw., ins negative gewendet, mit der Rechtsunwirksamkeit ist die Rechtsfolge des Fehlens der ER-Zustimmung nur höchst unvollkommen, wenn nicht überhaupt verfehlt bezeichnet51. Auf der anderen Seite steht aber fest, daß zumindest der Österreichische Gesetzgeber in völlig eindeutiger Weise die Rechtswidrigkeit der Kontrolleinrichtung mit der stärksten ihm (freilich nur im Rahmen des rechtsgeschäftliehen Schuldrechts) zur Verfügung stehenden Sanktion belegen wollte. Sucht man in Korrigierung dieses Fehlers des Gesetzgebers nach der der rechtswidrigen faktischen Installierung entsprechenden Sanktion, so stößt man auf den Begriff der Unzulässigkeit. Die rechtswidrig eingerichtete und angewendete Kontrolleinrichtung ist schlicht unzulässig. Dieser Rechtsfolge entspricht im Instrumentarium der Rechtsbehelfe der materiellrechtliche Anspruch auf Beseitigung. Man kann das auch so ableiten: Die faktische Installierung und Anwendung von Kontrolleinrichtungen bedarf als Rechtsgrundlage einer Betriebsvereinbarung52. Fehlt diese, so sind auf die Kontrolleinrichtung bezogene Weisungen des Arbeitgebers rechtsunwirksam und alle faktischen Einrichtungen unzulässig. Ein entsprechendes rechtliches Interesse vorausgesetzt, muß die Rechtsunwirksamkeit zu Feststellungs-, die Unzulässigkeitaber zu Beseitigungsansprüchen führen 53 • Letztlich muß das auch für das deutsche Betriebsverfassungsrecht in allen jenen Fällen gelten, in denen Unzulässigkeit der Kontrolleinrichtung anzunehmen ist. 50 Schon die Definitionen des Rechtsgeschäftsbegriffes stellen häufig auf die Herbeiführung von Rechtswirkungen ab, vgl. Ehrenzweig, System des Österreichischen allgemeinen Privatrechts I, 1: Allgemeiner TeiF (1951) S. 215; Gschnitzer, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts (1966) S. 132; Kozioi I Weiser, Grundriß des bürgerlichen Rechts I, Allgemeiner Teil und Schuldrecht5 (1979) S. 72; v. Thur, Der Allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts II/1 (1914) S. 143 f.; Hefermehi in Soergel11 Anm. 2 vor § 116; der Begriff der Rechtswirksamkeit kommt aber auch dort zum Ausdruck, wo es um die sonstigen Wirksamkeitsvoraussetzungen eines Rechtsgeschäfts geht, vgl. nur Larenz, Allgemeiner Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts 3 (1975) § 18 I; Kozioi I Weiser, a.a.O. S. 74. 51 Ebenso: Adomeit, BB 1972, 54. 52 Siehe FN 31. 53 Vgl. allgemein zum Beseitigungsanspruch: Jabornegg I Strasser in Strasser (Hrsg.), Privatrecht und Umweltschutz (1976) S. 47 ff.; Jabornegg I Strasser, Nachbarrechtliche Ansprüche als Instrument des Umweltschutzes (1978) S. 57 ff.

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5. Die Menscl:aenwürde berührende Kontrolleinrichtungen

Daß Kontrolleinrichtungen, die die Menschenwürde nicht berühren solche sind sicher denkbar - nach österreichischem Recht der (bloß) erzwingbaren Mitbestimmung gern. § 97 Abs. 1 Z 1 ArbVG (Allgemeine Ordnungsvorschriften) unterliegen, wurde bereits ausgeführt54• Da Kontrolleinrichtungen, die die Menschenwürde im positiven Sinn berühren, nicht denkbar sind, steht zunächst einmal fest, daß Gegenstand der zwingenden Mitbestimmung gern.§ 96 Abs. 1 Z 3 ArbVG Kontrolleinrichtungen sind, die die Menschenwürde im negativen Sinne berühren, d. h. die sie beeinträchtigen. Die Intensität dieser Beeinträchtigung kann sicher eine höchst unterschiedliche sein. Die Palette der Möglichkeiten reicht von der bloß oberflächlichen nicht sehr tief greifenden Beeinträchtigung bis zum Verstoß gegen die Guten Sitten. Die Abwägung der beteiligten Interessen(= Interesse des Arbeitnehmers bzw. der Arbeitnehmer an der Nichtbeeinträchtigung ihrer Menschenwürde durch die intendierte Kontrolleinrichtung versus Interesse des Betriebsinhabers an ihrer Einführung und Anwendung) kann ein Überwiegen der Arbeitnehmerinteressen an der Unterlassung, ein Überwiegen der Betriebsinhaberinteressen an der Durchführung und Interessengleichgewichtigkeit ergeben. Beides zusammen erst, nämlich die von einer Interessenahwägung losgelöste absolute Bewertung der Intensität der Beeinträchtigung der Menschenwürde und das Ergebnis der Abwägung der beteiligten Interessen, kann eine ausreichende Grundlage für ein etwaiges rechtliches Unwerturteil i. S. einer allgemeinen, d. h. die Mitbestimmungsunterworfenheit vorerst noch außer acht lassenden Rechtswidrigkeitsfeststellung bilden. Im großen und ganzen ist wohl davon auszugehen, daß es Kontrolleinrichtungen gibt, die eine so schwere Beeinträchtigung der Menschenwürde der davon betroffenen Arbeitnehmer darstellen, daß keine wie immer geartete Interessenabwägungsbilanz an der Sittenwidrigkeit und damit an der Rechtswidrigkeit der Einrichtung etwas zu ändern vermag 55 • Daneben ist ein weiterer Bereich von, die Menschenwürde beeinträchtigenden Kontrolleinrichtungen anzunehmen, bei denen das Unwerturteil, sie seien sitten- und damit rechtswidrig erst aufgrund einer entsprechenden Interessenahwägung gefällt werden kann. Gleichgültig nun auf welche Weise sich diese Rechtswidrigkeit ergibt, in beiden Fällen stellt sich die Frage, ob auch diese Fallgruppen der zwingenden Mitbestimmung gern. § 96 ArbVG unterworfen sind oder nicht. Die RV zum ArbVG hat dies u. 67 ff.; BauT, Der Beseitigungsanspruch nach § 1004 BGB, AcP 1960, S. 465; PickeT, Der negatorische Beseitigungsanspruch (1972); Rummel in Strasser (Hrsg.), Privatrecht und Umweltschutz S. 157 f.; BauT, Lehrbuch des Sachenrechts9 (1977) S. 99 ff.; LaTenz, Lehrbuch des Schuldrechts Bd. !110 (1972) § 76 (S. 528 ff.). 54 55

Vgl. bei FN 29. Vgl. StTasseT in ArbVG-Handkommentar (1975) S. 527 f.

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verneint und gemeint, nur der praktisch wahrscheinlich sehr schmale Bereich von Kontrolleinrichtungen, die die Menschenwürde beeinträchtigen und die aufgrund einer Interessenahwägung von der allgemeinen Rechtsordnung her rechtlich zulässig sind, unterlägen der zwingenden Mitbestimmung~. Dem bin ich mit ausführlicher Begründung entgegengetreten57. Der dann freilich mögliche Fall, daß ein (schlecht beratener) BR unter Umständen einer rechtswidr~gen Kontrolleinrichtung zustimmt, ist deshalb in Kauf zu nehmen, weil die faktische Kontrollmöglichkeit, die jede Mitbestimmung letztlich auch darstellt, dem Schutz der von der Kontrolleinrichtung betroffenen Arbeitnehmer und damit dem der Mitbestimmungsregelung des § 96 Abs. 1 Z 3 Arb VG innewohnenden Zweck eher gerecht wird als der doch nur sehr theoretische Verweis auf die absolute Unzulässigkeit sittenwidriger und deshalb mitbestimmungsfreier Kontrolleinrichtungen. Daß der Gesetzeswortlaut "sofern diese Maßnahmen (Systeme) die Menschenwürde berühren" eher den Oberbegriff für alle die Menschenwürde beeinträchtigenden Kontrolleinrichtungen als bloß einen schmalen Ausschnitt dieser Gruppe von Kontrolleinrichtungen bezeichnen will, sei nur nebenbei erwähnt. Stimmt ein BR - was ohnedies nur schwer vorstellbar ist - einer wegen Sittenverstoßes rechtswidrigen Kontrolleinrichtung zu, so ist damit diese Rechtswidrigkeit natürlich durchaus nicht saniert. Eine ähnliche Situation ist nach österreichischem Betriebsverfassungsrecht übrigens auch dann gegeben, wenn ein BR einer vertragsändernden Versetzung gern. § 101 ArbVG zustimmt, zu der der betroffene Arbeitnehmer die Zustimmung verweigert58• So wie in diesem Fall die Zustimmung des BR nur die eine, nämlich die betriebsverfassungsrechtliche-von mehreren Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt, bedeutet die Zustimmung des BR zu einer sitten- und damit rechtswidrigen Kontrolleinrichtung, nur die Ausräumung betriebsverfassungsrechtlicher Hindernisse. Mit anderen Worten ausgedrückt heißt dies: Damit eine die Menschenwürde beeinträchtigende Kontrolleinrichtung zulässig ist, muß sie frei vom Vorwurf der Sittenwidrigkeit und außerdem vom BR gern. § 96 Abs. 1 ArbVG genehmigt sein. All dies führt letztlich dazu, daß der unter 4. näher begründete betriebsverfassungsrechtliche Beseitigungsanspruch des BR in bezug auf Kontrolleinrichtungen, denen der BR nicht zugestimmt hat, auch in jenen Fällen zum Tragen kommt, bei denen die Kontrolleinrichtung sittenund damit rechtswidrig ist. Dagegen hätte die Auffassung der RV zur Folge, daß die aufgrund Sittenverstoßes rechtswidrigen KontrolleinrichRV 840 Blg. NR 13. GP, S. 84. Strasser im ArbVG-Handkommentar (1975) S. 528. 68 Vgl. Strasser im ArbVG-Handkommentar (1975) S. 592 f.; Weißenberg I Cerny, ArbVGZ (1978) S. 337; Mayr in ArbVG-Wirtschaftsverlag (1974) S. 234 f. 5& 57

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tungen betriebsverfassungsrechtlich irrelevant wären und daher auch nur individualrechtliche Beseitigungsansprüche der einzelnen Arbeitnehmer auslösen könnten.

ZUR ZUSTÄNDIGKEIT DER EINIGUNGSSTELLE NACH § 85 ABS. 2 BETRVG Von Günther Wiese I. Das Problem Während der Gesetzgeber in § 54 Abs. 1 Buchst. c BetrVG 1952 lediglich vom Bestehen eines Beschwerderechts des Arbeitnehmers ausging, das aus allgemeinen Grundsätzen abgeleitet werden mußte1 , ist dieses in den §§ 84 bis 86 BetrVG 1972 einschließlich des dabei zu beachtenden Verfahrens erstmals ausdrücklich geregelt worden. Der Arbeitnehmer kann seine Beschwerde entweder nach § 84 Abs. 1 Satz 1 BetrVG bei den zuständigen Stellen des Betriebs oder nach § 85 Abs. 1 BetrVG beim Betriebsrat einlegen. Nur im letzteren Falle ist nach Maßgabe des § 85 Abs. 2 BetrVG die Einschaltung der Einigungsstelle vorgesehen, die bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber über die Berechtigung der Beschwerde verbindlich entscheidet. Über die Tragweite dieser gesetzlichen Regelung herrscht noch keineswegs Einigkeit. Unklar ist vor allem, ob der Vorschrift des § 85 Abs. 2 BetrVG überhaupt praktische Bedeutung zukommt, weil die Zuständigkeit der Einigungsstelle bei Rechtsansprüchen schon nach dem Wortlaut des Gesetzes ausgeschlossen ist und bei Regelungsstreitigkeiten in der Literatur weitere erhebliche Einschränkungen gemacht werden2 • Zweifelhaft ist bei Regelungsstreitigkeiten vor allem, wie das Verhältnis der Zuständigkeit der Einigungsstelle nach § 85 Abs. 2 BetrVG zu der bei Streitigkeiten im Rahmen der Mitbestimmung des Betr;_ebsrats -insbesondere nach§ 87BetrVG-zu bestimmen ist.Denköar ist, daß es hierbei zu Überschneidungen und zur Kollision zwischen den vom Betriebsrat wahrgenommenen kollektiven Interessen und dem vom Arbeitnehmer mit seiner Beschwerde wahrgenommenen individuellen Interesse kommt. Damit geht es zugleich um die Frage, welche Bedeutung der Einführung von Individualrechten neben der gesetzlichen Anerkennung bisher nur aus der Treue-(Fürsorge-)Pflicht des Arbeitgebers abzulei1 Vgl. Wiese, in Fabricius I Kraft I Thiele I Wiese, Betriebsverfassungsgesetz, Gemeinschaftskommentar, 2. Bearbeitung 1980, Einführung vor § 81 Anm. 16, § 84 Anm. 2. 2 Vgl. die Nachweise zum folgenden Text. ~o

Festschrl1t f. G. Müller.

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tender Rechte des Arbeitnehmers3 zusätzlich im Rahmen der Betriebsverfassung zukommt. Da Gerhard Müller sich selbst intensiv mit Problemen der betrieblichen Einigungsstelle befaßt hat4, seien ihm die folgenden Ausführungen gewidmet.

11. Zulässigkeit des Beschwerdeverfahrens und Zuständigkeit der Einigungsstelle Von der Zuständigkeit der Einigungsstelle nach§ 85 Abs. 2 BetrVG ist scharf die Zulässigkeit des Beschwerdeverfahrens nach§ 85 Abs. 1 BetrVG zu unterscheiden. Dieses unterliegt nicht den Schranken des § 85 Abs. 2 BetrVG. Da Gegenstand der Beschwerde nach § 85 BetrVG der gleiche ist wie nach§ 84 BetrVG5, ist Voraussetzung ihrer Zulässigkeit allein, daß ein Arbeitnehmer sich entweder vom Arbeitgeber oder von Arbeitnehmern des Betriebs benachteiligt, ungerecht behandelt oder in sonstiger Weise beeinträchtigt fühlt (vgl. § 84 Abs. 1 Satz 1 BetrVG). Unerheblich ist, ob die Beschwerde objektiv begründet ist; es genügt, daß der Arbeitnehmer von seinem subjektiven Standpunkt aus meint, es liege eine Beeinträchtigung vor6. Diese kann in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht bestehen, d. h. sowohl Regelungs- als auch Rechtsstreitigkeiten betreffen7 ; nur müssen sie sich aus dem Arbeitsverhältnis ergeben, mit diesem also in einem inneren Zusammenhang stehen8 • Der Arbeitnehmer kann daher sowohl im Verfahren nach§ 84 BetrVG als auch in dem nach § 85 BetrVG versuchen, auf Abhilfe der Beeinträchtigung hinzuwirken. Das Verfahren nach § 85 BetrVG führt bei Rechtsstreitigkeiten9 aller3 Vgl. hierzu Wiese, GK-BetrVG, Einführung vor § 81 Anm. 11 ff. mit Nachweisen. 4 Vgl. G. Müller, Die Einigungsstelle, ArbGeb. 1972, 419; ders., Zur Stellung der Verbände im neuen Betriebsverfassungsrecht, ZfA 1972, 213 (219, 232 ff.); ders., Rechtliche Konzeption und soziologische Problematik der Einigungsstelle nach dem BetrVG 72, DB 1973, 76, 431; ders., Einigungsstelle und tarifliche Schlichtungsstelle nach dem Betriebsverfassungsgesetz 1972, in Wirtschaftsfragen der Gegenwart, Festschrift für Carl Hans Barz, 1974, S. 489. 5 Vgl. ArbG Mannheim, BB 1979, 833; Dietz I Richardi, Betriebsverfassungsgesetz, 5. Aufl. 1973, § 85 Anm. 3; Fitting I Auffarth I Kaiser, Betriebsverfassungsgesetz, 12. Aufl. 1977, § 85 Anm. 2; Galperin I Löwisch, Kommentar zum Betriebsverfassungsgesetz, 5. Aufl. 1975/76, § 85 Anm. 1; Moll/ Klunker, Das Beschwerdeverfahren nach dem Betriebsverfassungsgesetz 1972, RdA 1973, 361 (363); Wiese, GK-BetrVG, § 85 Anm. 2. 8 Vgl. Wiese, GK-BetrVG, § 84 Anm. 4, § 85 Anm. 2; ebenso Moll I Klunker, RdA 1973, 361. Zu eng und unklar Reuter I Streckel, Grundfragen der betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmung, 1973, S. 64. 7 Vgl. Dietz I Richardi, § 84 Anm. 4, 6, § 85 Anm. 3; Fitting I Auffarth I Kaiser, § 84 Anm. 3, § 85 Anm. 2; Galperin I Löwisch, § 84 Anm. 4, § 85 Anm. 1; Wiese, GK-BetrVG, § 84 Anm. 4, § 85 Anm. 2. 8 Vgl. Wiese, GK-BetrVG, § 84 Anm. 5. Vgl. auch ArbG Mannheim, BB 1979, 833; Dietz I Richardi, § 84 Anm. 4. 9 Näheres hierzu unten V.

Zur Zuständigkeit der Einigungsstelle nach§ 85 Abs. 2 BetrVG

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dingsnur zwn Erfolg, wenn zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber Einigkeit über die Berechtigung der Beschwerde erzielt wird. Dann hat der Arbeitgeber ihr abzuhelfen (§ 85 Abs. 3 Satz 2 i. V. m. § 84 Abs. 2 BetrVG). Kommt es bei Rechtsstreitigkeiten dagegen zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber über die Berechtigung der Beschwerde zu keiner Einigung, so ist das Verfahren nach§ 85 BetrVG beendet. Die Bedeutung des § 85 Abs. 2 BetrVG liegt daher zunächst darin, daß diese Vorschrift die Zuständigkeit der Einigungsstelle für die Beilegung von Meinungsverschiedenheiten zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber über einen eingegrenzten Kreis von Beschwerdeangelegenheiten eröffnet, dagegen nicht die Beschwerdemöglichkeit des Arbeitnehmers als solche einschränkt. Zutreffend heißt es in diesem Sinne in der amtlichen Begründung zwn Regierungsentwurf10, durch die Möglichkeit der Anrufung der Einigungsstelle solle im Interesse einer Beilegung der Meinungsverschiedenheit eine zusätzliche Überprüfung der Berechtigung der Beschwerde durch eine dritte Stelle ermöglicht werden. Problematisch ist unter diesen Umständen allein, wie die Zuständigkeit der Einigungsstelle im einzelnen abzugrenzen ist.

111. Ausschluß von Popularbeschwerden Da das Verfahren vor der Einigungsstelle eine ergänzende Funktion bei der Durchsetzung des Beschwerdebegehrens hat, bedingt die Zuständigkeit der Einigungsstelle in jedem Falle die Zulässigkeit der Be.:. schwerde. Eine derartige generelle Schranke der Zuständigkeit der Einigungsstelle ergibt sich zunächst daraus, daß nach h. M. im Beschwerdeverfahren nach §§ 84, 85 BetrVG Popwarbeschwerden ausgeschlossen sind11 • Der Arbeitnehmer muß sich daher selbst beeinträchtigt fühlen und kann sich nicht zwn Fürsprecher anderer Arbeitnehmer oder der Belegschaft als solcher machen. Hierfür ist der Betriebsrat der allein legitimierte Interessenvertreter. Dem entspricht es, daß der einzelne Arbeitnehmer nach§ 80 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG sich an den Betriebsrat wenden muß, damit dieser beim Arbeitgeber durch Verhandlungen auf eine Erledigung der betreffenden Angelegenheit hinwirkt. Vgl. BR-Drucks. 715170, S. 48. Vgl. ArbG Mannheim, BB 1979, 833; Brecht, Kommentar zum Betriebsverfassungsgesetz nebst Wahlordnung, 1972, § 84 Anm. 4; Dietz I Richardi, § 84 Anm. 3, § 85 Anm. 3; Fitting I Auffarth I Kaiser, § 84 Anm. 2; Galperin I Löwisch, § 84 Anm. 4; Hanau, Unklarheiten in dem Regierungsentwurf des Betriebsverfassungsgesetzes, BB 1971, 485 (489); Kammann I Hess I Schlochauer, Kommentar zum Betriebsverfassungsgesetz, 1979, § 84 Anm. 4; Stege I Weinspach, Betriebsverfassungsgesetz, 3. Aufl. 1978, S. 588; Wiese, GKBetrVG, § 84 Anm. 4 a, § 85 Anm. 2. 1o 11

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Die Beschränkung der Zulässigkeit von Beschwerden auf Fälle einer individuellen Beeinträchtigung ist berechtigt, weil durch die Vorschriften der §§ 81 ff. BetrVG Individualrechte, d. h. Rechte des einzelnen Arbeitnehmers, geschaffen werden sollten12• Es ist daher nicht zutreffend, wenn das Verfahren nach§ 85 BetrVG als "kollektives Beschwerdeverfahren" gekennzeichnet wird 13 • Weder ist der Beschwerdegegenstand kollektiver Art noch das Verfahren selbst. Das Beschwerdeverfahren nach § 85 BetrVG unterscheidet sich von dem nach § 84 BetrVG nur dadurch, daß die individuellen Belange des Arbeitnehmers durch den Betriebsrat wahrgenommen werden und in bestimmtem Umfang Gegenstand eines Verfahrens vor der Einigungsstelle sein können. Der Charakter des Beschwerderechts als eines Individualrechts wird dadurch nicht verändert. Der Betriebsrat kann sich nicht aus eigenem Recht in das Beschwerdeverfahren einschalten; vielmehr unterliegt es der freien Entscheidung des Arbeitnehmers, ob er selbst nach § 84 BetrVG Abhilfe der Beschwerde zu erreichen sucht oder ob er den Betriebsrat um die Wahrnehmung seiner Interessen bittet. Auch wenn der Betriebsrat im Verfahren nach§ 85 BetrVG für den einzelnen Arbeitnehmer tätig wird, ist er nicht gehindert, bei seiner Entscheidung über die Berechtigung der Beschwerde die Interessen einzelner anderer Arbeitnehmer oder kollektive Interessen der Belegschaft zu berücksichtigen. Diese hat er bei seiner gesamten Amtstätigkeit zu beachten. Außerdem setzt die Feststellung der Berechtigung einer Beschwerde voraus, daß alle Umstände, gegebenenfalls also auch divergierende Interessen einzelner Arbeitnehmer oder der gesamten Belegschaft, berücksichtigt werden. Die individuelle Beeinträchtigung des Arbeitnehmers setzt auch nicht voraus, daß er allein sich beeinträchtigt fühlt. Es ist durchaus denkbar, daß zugleich eine Beeinträchtigung anderer Arbeitnehmer vorliegt. Diese kann deshalb auch aus einer generellen, d. h. die Belegschaft oder eine Gruppe von Arbeitnehmern betreffenden Maßnahme des Arbeitgebers oder aus der Durchführung einer gemeinsam mit dem Betriebsrat getroffenen Regelung erwachsen14• Trotzdem kann der Arbeitnehmer stets nur seine eigene individuelle Beeinträchtigung zum Gegenstand des Beschwerdeverfahrens machen. 12 Vgl. BT-Drucks. VII1786, S. 47; Dietz I Richardi, vor § 81 Anm. 1; Galperin I Löwisch, vor § 81 Anm. 1; Kammann I Hess I Schlochauer, vor § 81 Anm. 1; Niederalt, Die Individualrechte des Arbeitnehmers nach dem Betriebsverfas-

sungsgesetz 1972 (§§ 75, 81 ff.),. 1976, S. 81 ff.; Wiese, GK-BetrVG, Einführung vor§ 81 Anm. 1, 11. 13 So ArbG Mannheim, BB 1979, 833; Dietz I Richardi, § 84 Anm. 19, § 85 Anm. 2, 3, 4, 13, und Richardi folgend Bobrowski I Gaul, Das Arbeitsrecht im Betrieb, Bd. II, 7. Aufl. 1979, S. 446; Fitting I Auffarth I Kaiser, § 85 Anm. 1; Kammann I Hess I Schlochauer, § 85 Anm. 2. 14 Vgl. Wiese, GK-BetrVG, § 84 Anm. 4 a.

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IV. Ausschluß von Beschwerden über den Betriebsrat und einzelne Betriebsratsmitglieder Eine weitere allgemeine Schranke der Zuständigkeit der Einigungsstelle, die aus der Begrenzung des Beschwerderechts folgt, ergibt sich daraus, daß die vom Arbeitnehmer behauptete Beeinträchtigung gemäß § 84 Abs. 1 BetrVG vom Arbeitgeber oder von Arbeitnehmern des Betriebs ausgehen muß. Gleiches gilt im Hinblick auf die Identität des Beschwerdegegenstandes15 für§ 85 BetrVG. Mit Recht wird hierzu die Auffassung vertreten, eine Beschwerde des Arbeitnehmers bei den zuständigen Stellen des Betriebs über den Betriebsrat16 oder einzelne Betriebsratsmitglieder auf Grund ihrer Amtstätigkeit17 sei unzulässig18, Das folgt bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes, wo von "Arbeitnehmern des Betriebs" die Rede ist, während im Gesetz sonst vom Betriebsrat oder von Betriebsratsmitgliedern gesprochen wird, wenn es sich um deren Amtstätigkeit handelt. Auch kann der Arbeitnehmer nach § 84 Abs. 1 Satz 2 BetrVG ein Mitglied des Betriebsrats zur Unterstützung oder Vermittlung hinzuziehen. Das ist nur sinnvoll, wenn dieses Betriebsratsmitglied die Interessen des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber, nicht aber mit diesem zusammen gegenüber dem Betriebsrat oder einzelnen anderen Betriebsratsmitgliedern wahrzunehmen hat. Das hindert den Arbeitnehmer nicht, bei einer vermeintlichen Beeinträchtigung durch den Betriebsrat oder einzelne Betriebsratsmitglieder sich an den Betriebsrat zu wenden und ein Betriebsratsmitglied dabei um Unterstützung zu bitten. Dann handelt es sich aber nicht um das Beschwerdeverfahren im Sinne des Gesetzes. Die Zulässigkeit einer Beschwerde über den Betriebsrat oder einzelne Betriebsratsmitglieder ist aber vor allem deshalb abzulehnen, weil es der Konzeption des Gesetzes über das Verhältnis der Betriebspartner zueinander widersprechen würde, wenn der Arbeitgeber als Interessenwahrer des Arbeitnehmers gegenüber dessen eigener Vertretung aufVgl. oben Fn. 5. Vgl. Bobrowsl74, 636; Dietz I Richardi, § 85 Anm. 10; Fitting I Auffarth I Kaiser, § 85 Anm. 4; Galperin I Löwisch, § 85 Anm. 8; Moll! Klunker, RdA 1973, 361 (3·67); Wiese, GK-BetrVG, § 85 Anm. 7. 33 Vgl. hierzu auch Moll! Klunker, RdA 1973, 361 (367 ff.). 34 Vgl. oben III. 35 Vgl. oben IV. 30

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rechte nicht durchbrochen werden dürfeU. Für den Bereich der sozialen Angelegenheiten hat Löwisch31 versucht, zu einer differenzierteren Betrachtung zu kommen, die aber weder in der Begründung noch im Ergebnis überzeugt. Eine Fortsetzung der Diskussion erscheint daher geboten. 2. Soziale Angelegenheiten

a) Funktionsunterschiede der Einigungsstellenverfahren nach§ 85 Abs. 2 und§ 87 Abs. 2 BetrVG Die Zuständigkeit der Einigungsstelle nach§ 85 Abs. 2 BetrVG ist in sozialen Angelegenheiten nicht schon dadurch ausgeschlossen, daß die notwendige Mitbestimmung des Betriebsrats auf die in§ 87 Abs. 1 Nm. 1 bis 12 BetrVG erschöpfend aufgezählten Angelegenheiten beschränkt ist38. Durch eine etwaige Entscheidungszuständigkeit der Einigungsstelle nach§ 85 Abs. 2 BetrVG wird weder der Katalog der Mitbestimmungstatbestände des § 87 Abs. 1 BetrVG noch mittelbar die Mitbestimmung des Betriebsrats für den Bereich der sozialen Angelegenheiten erweitert, weil die Einigungsstellenverfahren nach § 85 Abs. 2 und § 87 Abs. 2 BetrVG unterschiedlichen Zwecken dienen. Im Verfahren nach § 87 Abs. 2 BetrVG nimmt der Betriebsrat eigene Rechte39 wahr, um die- grund36 Vgl. Adomeit, Thesen zur betrieblichen Mitbestimmung nach dem neuen Betriebsverfassungsgesetz, BB 1972, 53 (54); Brecht, § 85 Anm. 7; Dietz I Richardi, § 85 Anm. 2, 4, 13 f.; Dütz, Zwangsschlichtung im Betrieb - Kompetenz und Funktion der Einigungsstelle nach dem BetrVG 1972, DB 1972, 383 (385); ders., AuR 1973, 353 (367 f.); vgl. auch schon ders., Verbindliche Einigungsverfahren nach den Entwürfen zu einem neuen Betriebsverfassungsrecht, DB 1971, 674 (678 ff.); Fitting I Auffarth I Kaiser,§ 85 Anm. 7; Gnade I Kehrmann I Schneider, Betriebsverfassungsgesetz, Kommentar für die Praxis, 1972, § 85 Anm. 5; Hanau, Aktuelle Probleme der Mitbestimmung über das Arbeitsentgelt gern.§ 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG, BB 1977, 350 (354); vgl. auch schon ders., BB 1971, 485 (489); ders., Praktische Fragen zur Neuregelung der Mitbestimmung in personellen Angelegenheiten, BB 1972, 451; Kammann I Hess I Schlochauer, § 85 Anm. 2; Niederalt (Fn. 12), 8. 68 ff.; Stege I Weinspach (Fn. 11), S. 591 f.; Wiese, GK-BetrVG, 1. Bearbeitung 1973, § 85 Anm. 2; Zöllner, Arbeitsrecht, 2. Aufl. 1979, S. 383 f.; a. M. in der rechtspolitischen Diskussion vor Verabschiedung des Gesetzes H. Krüger, Der Regierungsentwurf eines Betriebsverfassungsgesetzes vom 29. Januar 1971 und das Grundgesetz, 1971, s. 41, 46. 37 Vgl. Löwisch, Die Beschwerderechte des Arbeitnehmers nach den §§ 84 und 85 BetrVG 72, DB 1972, 2304 (2306 f.), übernommen in Galperin I Löwisch, § 85 Anm. 6 bis 15. 38 Vgl. hierzu mit Nachweisen Wiese, GK-BetrVG, 2. Bearbeitung 1979, § 87 Anm.3. 30 Daß auch die Rechte des Betriebsrats letztlich auf die Belegschaft und die einzelnen Arbeitnehmer zurückzuführen sind, kann hier außer Betracht bleiben. Vgl. hierzu Dietz I Richardi, § 1 Anm. 12 f.; Fitting I Auffarth I Kaiser, § 1 Anm. 32; Galperin I Löwisch, vor § 1 Anm. 37 f.; Kammann I H ess I Schlochauer, vor§ 1 Anm. 22 ff.; Thiele, GK-BetrVG, 1973, Einleitung vor§ 1 Anm. 68 mit Nachweisen; Zöllner (Fn. 36), S. 337 f.

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sätzlich kollektiven 40 - Interessen der Arbeitnehmer durchzusetzen. Gegenstand des Beschwerdeverfahrens nach§ 85 Abs. 2 BetrVG ist dagegen die individuelle Beeinträchtigung eines Arbeitnehmers; die geltend zu machen seiner freien Entscheidung unterliegt. Der individualrechtliche Charakter des Beschwerdeverfahrens wird auch nicht durch die Einschaltung des Betriebsrats und dessen alleinige Befugnis zur Anrufung der Einigungsstelle beseitigt. Man mag es bedauern, daß der Arbeitnehmer nur durch die Zurücknahme seiner Beschwerde auf das Einigungsstellenverfahren einwirken und diesem dadurch die Grundlage entziehen kann41 • Dennoch wird daran zugleich deutlich, daß Gegenstand des Verfahrens allein das individuelle Beschwerderecht des einzelnen Arbeitnehmers ist. Der Betriebsrat kann aus eigenem Recht das Beschwerdeverfahren nicht in Gang setzen, um damit- zumindest im Einzelfall- den Rahmen seiner Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten zu erweitern. Das dem Betriebsrat kraft Gesetzes zustehende Recht zur Anrufung der Einigungsstelle im Beschwerdeverfahren dient allein der Unterstützung des Arbeitnehmers bei der Durchsetzung seiner Individualinteressen. Darin liegt zwar auch eine gewisse, vom Gesetzgeber gewollte Erweiterung des Handlungsspielraums des Betriebsrats, jedoch noch keine Erweiterung der Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87 BetrVG, falls die Beschwerde sich auf den Bereich der sozialen Angelegenheiten bezieht. Eine andere Frage ist, ob die Zuständigkeit der Einigungsstelle im Beschwerdeverfahren nach§ 85 Abs. 2 BetrVG mit Grundprinzipien der Mitbestimmung des Betriebsrats in sozialen Angelegenheiten nach § 87 BetrVG kollidiert und aus diesem Grunde einer Einschränkung bedarf. Das läßt sich jedoch nicht generell beantworten und bedarf der Einzeluntersuchung für unterschiedliche Problemlagen.

b) Kollektive (generelle) Tatbestände Nach h. M. ist die Mitbestimmung des Betriebsrats in sozialen Angelegenheiten grundsätzlich nur bei kollektiven (generellen) Tatbeständen gegeben42, soweit nicht der Gesetzgeber ausdrücklich Ausnahmen für Einzelfälle vorgesehen hat43. Diese aus guten Gründen getroffene Entscheidung darf auch auf dem Umweg über § 85 Abs. 2 BetrVG nicht beseitigt werden. Vgl. hierzu unten VI 2 b. Vgl. Schriftlicher Bericht des 10. Ausschusses, zu BT-Drucks. VII2729, S. 29; Dietz I Richardi, § 85 Anm. 8; Fitting I Auffarth I Kaiser, § 85 Anm. 3; Kammann I Hess I Schlochauer, § 85 Anm. 4; Wiese, GK-BetrVG, § 85 Anm. 5. 42 Vgl. mit umfassenden Nachweisen Wiese, GK-BetrVG, § 87 Anm. 8 ff. 43 Vgl. hierzu unten VI 2 d. 40

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Wie vorstehend44 dargelegt, schließt indessen die unterschiedliche Funktion der Verfahren nach§ 85 Abs. 2 und§ 87 Abs. 2 BetrVG aus, daß die Zuständigkeit der Einigungsstelle nach § 85 Abs. 2 BetrVG zu einer Erweiterung der Mitbestimmung des Betriebsrats in sozialen Angelegenheiten führt. Die Anerkennung der Zuständigkeit der Einigungsstelle nach § 85 Abs. 2 BetrVG für Einzelfälle in sozialen Angelegenheiten, in denen dem Betriebsrat die Mitbestimmung bei kollektiven Tatbeständen zusteht, bedeutet daher keine Durchbrechung des Systems der Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten und berührt nicht die Unterscheidung zwischen mitbestimmungspflichtigen kollektiven (generellen) Tatbeständen und mitbestimmungsfreien Individualmaßnahmen45. Es ist ein entscheidender Unterschied, ob der Betriebsrat in Einzelfällen aus eigenem Recht die Interessen eines Arbeitnehmers nach § 87 BetrVG wahrnehmen könnte oder ob der Arbeitnehmer sein individuelles Beschwerderecht ausübt und dabei lediglich die Unterstützung des Betriebsrats nach § 85 BetrVG in Anspruch nimmt. Selbst wenn mehrere Arbeitnehmer unabhängig voneinander in gleichgelagerten Fällen das Beschwerdeverfahren nach§ 85 BetrVG betreiben würden, könnte die Einigungsstelle immer nur über die individuelle Beschwerde entscheiden und eine Verpflichtung des Arbeitgebers zur Abhilfe auslösen, ohne daß dadurch die kollektive Ordnung abgeändert würde. Im übrigen könnte der Betriebsrat in gleichgelagerten Fällen auf Grund seines Initiativrechts im Rahmen seiner Mitbestimmung nach § 87 BetrVG selbst eine Abänderung der kollektiven Ordnung anstreben. Die Zuständigkeit der Einigungsstelle nach § 85 Abs. 2 BetrVG bedeutet daher eine vernünftige Ergänzung für Angelegenheiten, in denen die Mitbestimmung des Betriebsrats auf kollektive Tatbestände beVgl. oben VI 2 a. Dagegen nimmt (Galperin I) Löwisch, § 85 Anm. 14 f. (vgl. auch § 87 Anm. 12, 70, 96, 124), an, der Betriebsrat sei nunmehr nach § 85 Abs. 2 BetrVG berechtigt, das Mitbestimmungsrecht auch für den Einzelfall auszuüben. Das steht im Widerspruch zu seiner zuvor (a.a.O., § 85 Anm. 10) aufgestellten Prämisse, über das Beschwerdeverfahren nach § 85 Abs. 2 BetrVG könne das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nicht erweitert werden, und zu der These, nur die im Gesetz vorgesehenen Mitbestimmungsangelegenheiten erlaubten die Anrufung der Einigungsstelle (a.a.O., § 85 Anm. 12). Vgl. auch die Kritik von Richardi, Buchbesprechung, ZfA 1978, 269 (279 f.), und Dietz I Richardi, § 87 Anm. 25 (nicht eindeutig). Ähnlich wie Löwisch auch U. Erdmann, Leistungsstörungen auf betriebsverfassungsrechtlicher Grundlage, AuR 1973, 135 (140), der in den genannten Fällen von einer modifizierten Mitbestimmung des Betriebsrats "auf Antrag" spricht. Vgl. auch Stege I Weinspach (Fn. 11), S. 592. -Wegen der von ihm vorgenommenen Gleichsetzung der Zuständigkeit der Einigungsstelle nach§ 85 Abs. 2 BetrVG mit einer angeblichen Ausweitung der Mitbestimmung kommt Dütz (AuR 1973, 353 [367 f.]) zur Ablehnung des Verfahrens nach § 85 Abs. 2 BetrVG bei individuellen Angelegenheiten, in denen der Betriebsrat bei kollektiven Tatbeständen mitbestimmungsberechtigt ist. Unentschieden Hanau, Allgemeine Grundsätze der betrieblichen Mitbestimmung, RdA 1973, 281 (287 Fn. 36). 44

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schränkt ist. Da in Einzelfällen die individualrechtliehen Befugnisse des Arbeitgebers durch die Mitbestimmung des Betriebsrats grundsätzlich nicht eingeschränkt sind, ist es sinnvoll, daß der Arbeitnehmer seine persönlichen Interessen im Beschwerdeverfahren zur Geltung bringen und unter Einschaltung des Betriebsrats im Verfahren nach§ 85 Abs. 2 BetrVG eine verbindliche Entscheidung über die Berechtigung seiner Beschwerde anstreben kann. Erst dadurch erhält die Vorschrift des§ 85 Abs. 2 BetrVG eine eigenständige Bedeutung. Sie wäre für den Bereich der sozialen Angelegenheiten überflüssig, wenn der Betriebsrat schon nach 87 BetrVG in Einzelfällen mitzubestimmen hätte. Es ist auch nicht ersichtlich, daß der Gesetzgeber in sozialen Angelegenheiten die Zuständigkeit der Einigungsstelle auf das Verfahren nach § 87 Abs. 2 BetrVG hat beschränken wollen. Im Gegenteil entspricht die hier vertretene Auffassung der Konzeption des Gesetzgebers, durch die Einführung von Individualrechten die Rechtsposition des einzelnen Arbeitnehmers zu stärkenMI. Diesem Zweck würde es widersprechen, würde die Zuständigkeit der Einigungsstelle im Beschwerdeverfahren in denjenigen sozialen Angelegenheiten verneint werden, in denen die Mitbestimmung des Betriebsrats auf kollektive Tatbestände beschränkt ist. Durch die Eröffnung des Beschwerdeverfahrens in sozialen Angelegenheiten wird schließlich trotz der alleinigen Befugnis des Betriebsrats zur Anrufung der Einigungsstelle nach § 85 Abs. 2 BetrVG die Rechtsstellung des einzelnen Arbeitnehmers eher verbessert, als es durch die Einbeziehung von Einzelfällen in die Mitbestimmung des Betriebsrats nach § 87 BetrVG der Fall wäre. Ist der Betriebsrat grundsätzlich auf die Regelung kollektiver Tatbestände beschränkt, bleibt zunächst ein weiter Spielraum für individuelle Absprachen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Kann der Arbeitnehmer dabei seine Interessen nicht angemessen durchsetzen, steht ihm das Beschwerdeverfahren nach § 85 BetrVG offen. Es kann daher auch aus diesem Grunde keine Rede davon sein, die von der h. M. vertretene Theorie der notwendigen Mitbestimmung führe zu einer partiellen Entmündigung der Arbeitnehmer4 7 • Diese Theorie gewährleistet vielmehr optimal die Verwirklichung der Mitbestimmung in kollektiven Angelegenheiten, ohne die Freiheitssphäre des einzelnen Arbeitnehmers unangemessen einzuschränken. Die allgemeine Einbeziehung von Einzelfällen in die Mitbestimmung nach§ 87 BetrVG würde dagegen dazu führen, daß die Individualinteressen des Arbeitnehmers auch gegen seinen Willen vom Betriebsrat wahrgenommen werden könnten. Die hier vertretene Auffassung stärkt demgegenüber ent48 Vgl. amtliche Begründung, ER-Drucks. 715/70, S. 47 f.; Schriftlicher Bericht 10. Ausschuß, zu BT-Drucks. VI/2729, S. 9. 47 Vgl. hierzu gegen Richardi Wiese, GK-BetrVG, § 87 Anm. 36 f mit Nachweisen.

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sprechend der Konzeption des Gesetzgebers die individuelle Rechtsposition des Arbeitnehmers, indem sie es seiner Entscheidung überläßt, ob er die Hilfe des Betriebsrats im Rahmen des Beschwerdeverfahrens nach § 85 BetrVG in Anspruch nimmt. Damit bestätigt sich erneut, daß die Unterscheidung der h. M. zwischen mitbestimmungspflichtigen kollektiven Tatbeständen und mitbestimmungsfreien Individualmaßnahmen sachlich gerechtfertigt ist. Umgekehrt kann aus der hier vertretenen Ansicht nicht geschlossen werden, daß nur aus diesem Grunde die Mitbestimmung des Betriebsrats in Einzelfällen nach § 87 BetrVG grundsätzlich überflüssig sei, so daß sie ohne die Regelung des§ 85 Abs. 2 BetrVG nach§ 87 BetrVG auch auf Einzelfälle erstreckt werden müßte. Dem Gesetzgeber war es unbenommen, die Reichweite der Mitbestimmung und der Zuständigkeit der Einigungsstelle nach§ 87 BetrVG zu begrenzen, und er war nicht gezwungen, darüber hinaus einen Schutz individueller Interessen durch die Einigungsstelle zu gewähren. Wenn er aber die Zuständigkeit der Einigungsstelle nach § 85 Abs. 2 BetrVG eröffnete, um die individuelle Rechtsposition des einzelnen Arbeitnehmers zu stärken, kann aus der Beschränkung der Mitbestimmung des Betriebsrats in sozialen Angelegenheit~n auf kollektive Tatbestände nicht geschlossen werden, in Einzelfällen sozialer Art könne die Einigungstelle nach § 85 Abs. 2 BetrVG nicht angerufen werden. Das Verfahren nach§ 85 Abs. 2 BetrVG ist u. U. gerade dann sinnvoll, wenn eine vom Betriebsrat und Arbeitgeber nach Maßgabe des § 87 Abs. 2 BetrVG getroffene kollektive Regelung aus besonderen Gründen für einen einzelnen Arbeitnehmer unzweckmäßig oder gar unangemessen ist und keine zwingenden Gründe gegen eine abweichende individuelle Abrede sprechen. Das kann etwa bei einer nach§ 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG vereinbarten Regelung über die Lage der Arbeitszeit in Betracht kommen, wenn z. B. ungünstige Zugverbindungen einem Arbeitnehmer die korrekte Einhaltung der Arbeitszeit beträchtlich erschweren48 • Würde hier der Arbeitgeber eine vom Arbeitnehmer gewünschte abweichende Sonderregelung ablehnen, so wären die Beschwerdemöglichkeit des Arbeitnehmers und die Zuständigkeit der Einigungsstelle nach§ 85 Abs. 2 BetrVG nicht dadurch ausgeschlossen, daß eine kollektive Regelung vorliegt, an die an sich auch der Arbeitgeber gebunden ist. Denn es ist ihm im Einzelfall gerade unbenommen, eine abweichende Vereinbarung zu treffen. Zweifelhaft ist allenfalls, ob der Arbeitgeber nicht schon auf Grund seiner Treue-(Fürsorge-)Pflicht eine Sonderregelung mit diesem Arbeitnehmer treffen muß, so daß eine Rechtsstreitigkeit vorliegt und 48 Beispiel von Löwisch, Galperin I Löwisch, § 85 Anm. 15; s. auch den Fall von Löwisch I Hetzel, in Richardi, Recht der Betriebs- und Unternehmensmitbestimmung, Bd. 2, 2. Aufl. 1979, S. 48 ff.

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deshalb die Zuständigkeit der Einigungsstelle ausgeschlossen ist. Handelt es sich jedoch wn eine Regelungsstreitigkeit, bestehen gegen die Zuständigkeit der Einigungsstelle nach § 85 Abs. 2 BetrVG trotz derbestehenden kollektiven Regelung keine Bedenken. Dem Beschwerdeverfahren kommt dann eine Ergänzungsfunktion gegenüber der im Mitbestimmungsverfahren nach § 87 BetrVG getroffenen generellen Regelung zu, bei der zwangsläufig die individuellen Interessen einzelner Arbeitnehmer nicht angemessen berücksichtigt werden können49 • Die hier vertretene Auffassung ist auch deshalb unbedenklich, weil der Betriebsrat eine seiner Meinung nach nicht gerechtfertigte Durchbrechung der nach § 87 BetrVG erzielten generellen Regelung durch eine Entscheidung nach § 85 Abs. 2 BetrVG dadurch verhindern kann, daß er von dem ihm allein zustehenden Recht zur Anrufung der Einigungsstelle keinen Gebrauch macht. Es ist aber nicht ersichtlich, weshalb dem Arbeitnehmer das Verfahren nach§ 85 Abs. 2 BetrVG verschlossen sein soll, wenn der Betriebsrat selbst das Begehren des Arbeitnehmers und damit die Abweichung von der kollektiven Regelung für berechtigt hält.

c) Anwendungsbedürftige kollektive Regelungen Die vorstehenden Ausführungen bedürfen einer Einschränkung für anwendungsbedürftige kollektive Regelungen, wie z. B. für allgemeine Urlaubsgrundsätze (§ 87 Abs. 1 Nr. 5 BetrVG) oder Grundsätze über das betriebliche Vorschlagswesen(§ 87 Abs. 1 Nr. 12 BetrVG). Da eine entsprechende Vereinbarung als solche noch keine unmittelbaren Auswirkungen auf den einzelnen Arbeitnehmer hat, erscheint es zweifelhaft, ob die potentielle Beeinträchtigung durch die spätere Anwendung der Vereinbarung ausreicht, wn ein Beschwerderecht zu begründen. M. E. ist das zu verneinen, weil der Arbeitgeber die getroffene Vereinbarung nicht abändern und der Beschwerde somit nicht abhelfen könnte. Ihrer Substanz nach würde es sich um eine unzulässige Popularbeschwerde handeln50. Deshalb ist in diesen Fällen auch die Zuständigkeit der Einigungsstelle nach§ 85 Abs. 2 BetrVG ausgeschlossen51 . Eine individuelle Beeinträchtigung kommt daher erst bei der späteren Praktizierung der getroffenen Regelung in Betracht. Soweit es dabei 49 Damit ist nicht gesagt, daß der Schutzfunktion des Betriebsrats gegenüber der Individualsphäre des einzelnen Arbeitnehmers ein Vorrang zukäme; vgl. Wiese, GK-BetrVG, § 87 Anm. 108 mit Nachweisen. 5o Vgl. hierzu oben III. 51 Im Ergebnis ähnlich Galperin I Löwisch, § 85 Anm. 12, 14 (vgl. auch § 87 Anm. 12, 109), der die Beschwerde bei "abstrakt-generellen" Regelungen lediglich als Anstoß des Arbeitnehmers zur Ausübung der Regelungsbefugnis des Betriebsrats versteht. Dann läge aber nur eine Anregung im Sinne des § 80 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG und keine Beschwerde nach § 85 BetrVG vor, so daß damit auch noch nicht die Frage nach der Zuständigkeit der Einigungsstelle gemäß § 85 Abs. 2 BetrVG beantwortet ist.

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um deren Zulässigkeit geht oder darum, ob der Arbeitgeber die Regelung zutreffend angewandt hat, handelt es sich um Rechtsstreitigkeiten, in denen zwar eine Beschwerde möglich, aber die Zuständigkeit der Einigungsstelle nach§ 85 Abs. 2 BetrVG ausgeschlossen ist52 • Läßt die anwendungsbedürftige Regelung Abweichungen zu, verbleibt dem Arbeitgeber also ein Entscheidungsspielraum, so ist die Situation die gleiche wie bei mitbestimmungsfreien Einzelfällen. Würde daher der Arbeitnehmer sich durch die Praktizierung der Regelung beeinträchtigt fühlen, ohne daß eine Rechtsstreitigkeit vorläge, so könnte die Einigungsstelle im Verfahren nach § 85 Abs. 2 BetrVG über die Berechtigung der Beschwerde entscheiden. d) Einzelfälle

Ausnahmsweise hat der Betriebsrat nach § 87 Abs. 1 Nrn. 5 und 9 BetrVG in bestimmtem Umfang auch in Einzelfällen mitzubestimmen03 • Hier kommt dann sowohl eine Zuständigkeit der Einigungsstelle nach § 87 Abs. 2 BetrVG als auch nach§ 85 Abs. 2 BetrVG in Betracht. Man könnte erwägen, beide Verfahren nebeneinander oder jedenfalls das Verfahren nach § 85 Abs. 2 BetrVG so lange zuzulassen, wie der Betriebsrat von seinem Recht zur Anrufung der Einigungsstelle nach § 87 Abs. 2 BetrVG noch keinen Gebrauch gemacht hat, um dann letzterem Verfahren den Vorrang einzuräumen54• Für das Verfahren nach § 85 Abs. 2 BetrVG besteht jedoch zunächst kein Bedürfnis. In Einzelfällen hat die Einigungsstelle auch im Verfahren nach § 87 Abs. 2 BetrVG über die individuellen Interessen des betroffenen Arbeitnehmers zu entscheiden, selbst wenn dabei die kollektiven Interessen der anderen Arbeitnehmer mitzuberücksichtigen sind, zumal Gleiches auch im Beschwerdeverfahren nach § 85 BetrVG gilt55 • Dem betroffenen Arbeitnehmer wird daher nichts genommen, wenn das Verfahren nach§ 85 Abs. 2 BetrVG gegenüber dem nach§ 87 Abs. 2 BetrVG zurücktreten muß. Auch verfahrensmäßig steht der Arbeitnehmer nicht schlechter da, weil er sich in jedem Falle an den Betriebsrat halten muß und dieser in beiden Verfahren allein darüber entscheidet, ob er die Einigungsstelle anruft. Für den Vorrang des Verfahrens nach§ 87 Abs. 2 BetrVG spricht ferner, daß die Einigungsstelle in diesem in der Sache abschließend entscheidet (vgl. § 76 Abs. 5 BetrVG), Vgl. oben V. Vgl. hierzu Fitting I Auffarth I Kaiser, § 87 Anm. 5; Galperin I Löwisch, § 87 Anm. 11; Wiese, GK-BetrVG, § 87 Anm. 10, 101 f.; (Dietz I) Richardi, § 87 Anm. 20, der hierin aber keine Ausnahme sieht, sondern generell von einem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei Einzelfällen ausgeht (§ 87 Anm. 23 ff.). 54 Dagegen will anscheinend (Galperin I) Löwisch, § 85 Anm. 13, das Verfahren nach § 85 Abs. 2 BetrVG dem nach § 87 Abs. 2 BetrVG vorgehen lassen. 55 Vgl. oben III. 52 53

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während sie im Verfahren nach § 85 Abs. 2 BetrVG nur über die Berechtigung der Beschwerde entscheiden und damit allein die gesetzliche Verpflichtung des Arbeitgebers zur Abhilfe auslösen könnte56 • Dem kann nicht entgegengehalten werden, es sei Sache des Arbeitnehmers, ob er das Beschwerdeverfahren nach§ 85 BetrVG wählt und sich mit einer weniger weitreichenden Entscheidung der Einigungsstelle zufriedengibt. Denn soweit in Einzelfällen nach§ 87 BetrVG die Mitbestimmung des Betriebsrats notwendig ist, dürfte der Arbeitgeber überhaupt nicht allein eine Entscheidung über eine bestimmte Abhilfemaßnahme treffen57. Damit ist der Vorrang des Einigungsstellenverfahrens nach § 87 Abs. 2 BetrVG in Einzelfällen, die der notwendigen Mitbestimmung des Betriebsrats unterliegen, unabweisbar58. Die hier vertretene Auffassung führt auch für die umstrittene Auslegung des § 87 Abs. 1 Nr. 5 BetrVG zu befriedigenden Ergebnissen. Folgt man der Ansicht, die Mitbestimmung nach dieser Vorschrift setze voraus, daß überhaupt mehrere Arbeitnehmer, mindestens aber zwei, betroffen sein müssen59, so ist das Verfahren nach § 87 Abs. 2 BetrVG sinnvoll, um abschließend über die divergierenden Interessen der betroffenen Arbeitnehmer zu entscheiden. Besteht dagegen nur Streit über die Lage des Urlaubs eines einzelnen Arbeitnehmers, so bedarf es des Verfahrens nach § 87 Abs. 2 BetrVG nicht, weil die Interessen dieses Arbeitnehmers im Verfahren nach§ 85 Abs. 2 BetrVG angemessen berücksichtigt werden können, soweit es sich nicht um eine Rechtsstreitigkeit handeltw. Damit erscheint aber auch aus diesem Grunde die bisher h. M. zu § 87 Abs. 1 Nr. 5 BetrVG, die dem Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht schon beim Streit über den Urlaub des einzelnen Arbeitnehmers gibt, nicht überzeugend. Folgt man hingegen dieser Auffassung, so geht das Verfahren nach§ 87 Abs. 2 BetrVG dem nach§ 85 Abs. 2 BetrVG vor. Bei der Zuweisung und Kündigung von Wohnräumen ist, obwohl immer nur ein einzelner Arbeitnehmer unmittelbar betroffen ist, der kollektive Bezug so stark, daß die abschließende Entscheidung im Verfahren nach § 87 Abs. 2 BetrVG sinnvoll ist. Das Beschwerdeverfahren nach§ 85 Abs. 2 BetrVG ist dann ausgeschlossen. Hatte die Einigungsstelle im Verfahren nach§ 87 Abs. 2 BetrVG bereits entschieden, wäre kein Raum mehr für eine Abhilfe, und hätte sie noch nicht entschieden, dürfte der Arbeitgeber wegen der notwendigen Mitbestimmung nach§ 87 Vgl. die Nachweise oben Fn. 27. Zur Bedeutung der notwendigen Mitbestimmung vgl. mit Nachweisen Wiese, GK-BetrVG, § 87 Anm. 33 ff. 58 Im Ergebnis ebenso Niederalt (Fn. 12), S. 69 f. 59 So Wiese, GK-BetrVG, § 87 Anm. 101 a. 80 Vgl. hierzu Wiese, GK-BetrVG, § 87 Anm. 102. 5&

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Abs. 1 Nr. 9 BetrVG nicht allein entscheiden. Eine entsprechende Problematik ergibt sich im Rahmen der Mitbestimmung nach§ 87 Abs. 1 Nr. 8 BetrVG bei der Verwaltung von Sozialeinrichtungen, wenn ein einzelner Arbeitnehmer sich - z. B. durch die Nichtberücksichtigung bei der Zuweisung von Begünstigungen - benachteiligt fühlt. Hier hat gleichfalls das Verfahren nach§ 87 Abs. 2 BetrVG gegenüber dem Beschwerdeverfahren nach§ 85 Abs. 2 BetrVG Vorrang.

e) Unzulässigkeit der Begründung zusätzlicher oder der Veränderung des Umfangs bestehender Leistungspflichten Im Bereich der sozialen Angelegenheiten besteht zwar eine umfassende funktionelle Zuständigkeit des Betriebsrats6 \ jedoch dient die notwendige Mitbestimmung grundsätzlich nicht dazu, den Umfang bestehender Verpflichtungen des Arbeitgebers oder des Arbeitnehmers zu verändern oder gar neue Leistungspflichten zu begründen. Das ist eindeutig bei der Errichtung von Sozialeinrichtungen; die Entscheidung hierüber steht allein dem Arbeitgeber zu (§ 88 Nr. 2 BetrVG), weil er die erforderlichen Mittel aufzubringen hat und hierzu nicht gezwungen werden soll112 • Aber auch die Auslegung der einzelnen Tatbestände des § 87 BetrVG ergibt, daß die notwendige Mitbestimmung des Betriebsrats nur ausnahmsweise der Begründung oder Veränderung des Umfangs von Leistungspflichten dient. Die Unterscheidung zwischen formellen und materiellen Arbeitsbedingungen verdeckt diesen Grundsatz eher, als daß sie ihn erhellt, und ist ohnehin als Auslegungsgrundsatz im Rahmen de~ § 87 BetrVG überholf:63. Im Ergebnis besteht jedoch im wesentlichen Einigkeit darüber, daß nur nach§ 87 Abs. 1 Nm. 3 und 11 BetrVG die notwendige Mitbestimmung auch den Umfang der Leistungspflichten, d. h. im herkömmlichen Sinne materielle Arbeitsbedingungen, erfaßt&'. Umstritten ist allerdings, ob die Mitbestimmung nach§ 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG auch die Lohnhöhe betrifft115• Unentschieden ist schließlich die Frage, ob nach § 87 BetrVG zusätzliche Nebenleistungspflichten des Arbeitgebers begründet werden können116 • Die Einzelheiten der Diskussion mögen hier auf sich beruhen. Entscheidend ist, daß die notwendige Mitbestimmung nach § 87 BetrVG nur unter eng begrenzten Voraussetzungen sich auch auf die Begründung oder Veränderung des Umfangs von Leistungspflichten bezieht. Nur 61 Vgl. mit Nachweisen Wiese, GK-BetrVG, Einführung vor § 87 Anm. 3, §88 Anm. 4. 62 Vgl. mit Nachweisen Wiese, GK-BetrVG, § 87 Anm. 118 ff., § 88 Anm. 10. 63 Vgl. zum Ganzen mit Nachweisen Wiese, GK-BetrVG, § 87 Anm. 13 ff. 64 Vgl. mit Nachweisen Wiese, GK-BetrVG, § 87 Anm. 14, 78, 154 b ff. 65 Vgl. hierzu mit Nachweisen Wiese, GK-BetrVG, § 87 Anm. 136. 66 Vgl. hierzu mit Nachweisen Wiese, GK-BetrVG, § 87 Anm. 15 f.

41 Festschrift f. G. Müller

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ausnahmsweise ist daher die Einigungsstelle nach § 87 Abs. 2 i. V. m. § 76 Abs. 5 BetrVG zur verbindlichen Entscheidung berufen. Dabei handelt es sich um eine Grundsatzentscheidung für den Bereich der sozialen Angelegenheiten, die auch im Beschwerdeverfahren nach § 85 Abs. 2 BetrVG nicht beseitigt werden darf6 7• Deshalb ist die Einigungsstelle nach dieser Vorschrift z. B. nicht zuständig, falls ein Arbeitnehmer meint, sein Urlaub sei zu knapp bemessen und müsse erhöht werden; denn über die Dauer des Urlaubs könnte die Einigungsstelle mangels Mitbestimmung des Betriebsrats auch nicht nach § 87 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 2 BetrVG entscheiden68• Ebensowenig könnte ein Arbeitnehmer über § 85 Abs. 2 BetrVG eine Vergütung für von ihm gemachte Verbesserungsvorschläge erwirken, die bisher allgemein im Betrieb nicht gewährt wurde; denn der Arbeitgeber kann nach § 87 Abs. 1 Nr. 12 BetrVG nicht gezwungen werden, finanzielle Mittel für ein betriebliches Vorschlagswesen zur Verfügung zu stellen69• Soweit die Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nrn. 3 und 11 BetrVG auch den Umfang der Leistungspflichten erlaßt, handelt es sich um abschließend geregelte Ausnahmen für den kollektiven Bereich, die einer Übertragung auf das einzelne Arbeitsverhältnis nicht zugänglich sind. Ein Arbeitnehmer kann daher nicht über das Beschwerdeverfahren nach § 85 Abs. 2 BetrVG eine vorübergehende Verkürzung oder Verlängerung seiner Arbeitszeit anstreben. Eine Zwangsschlichtung sieht das Gesetz nur für die vorübergehende Veränderung der betriebsüblichen, d. h. generell geltenden, Arbeitszeit vor(§ 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG). Die exakte Umschreibung dieses Ausnahmetatbestandes wäre sinnlos, wenn auf Grund der allgemeinen Norm des§ 85 Abs. 2 BetrVG der Arbeitnehmer zwar keine definitive Entscheidung, aber doch die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Abhilfe erwirken könnte. Dem kann nicht entgegengehalten werden, daß nach der oben70 vertretenen Auffassung in den Fällen einer auf generelle Tatbestände beschränkten Mitbestimmung des Betriebsrats die Einigungsstelle gleichfalls für die Erledigung der Streitigkeit über eine individuelle Beeinträchtigung zuständig sei. Denn im Falle des § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG handelt es sich um eine im Rahmen der Mitbestimmung engere Ausnahme, die schlechthin keiner Erweiterung zugänglich ist. Aus dem gleichen Grunde kann ein Arbeitnehmer auch nicht über § 85 Abs. 2 BetrVG die Abänderung des für ihn nach genereller Regelung geltenden Leistungslohns (§ 87 Abs. 1 Nr. 11 BetrVG) erreichen. Entsprechendes würde für die sonstige Entlohnung einzelner 67

Gegen die Begründung von Ansprüchen durch die Einigungsstelle nach

70

Vgl. VI 2 b.

§ 85 Abs. 2 BetrVG auch Adomeit, BB 1972, 53 (54); Zöllner (Fn. 36), S. 384. 88 Vgl. mit Nachweisen Wiese, GK-BetrVG, § 87 Anm. 94. 89 Vgl. mit Nachweisen Wiese, GK-BetrVG, § 87 Anm. 161.

Zur Zuständigkeit der Einigungsstelle nach§ 85 Abs. 2 BetrVG

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Arbeitnehmer gelten, wenn man der Mindermeinung folgen würde, daß § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG auch die Höhe des Lohns erfaßt71 . 3. Beteiligung des Betriebsrats im übrigen

Es ist ausgeschlossen, an dieser Stelle die Zuständigkeit der Einigungsstelle nach § 85 Abs. 2 BetrVG für sämtliche Fälle der Mitwirkung oder Mitbestimmung im einzelnen zu untersuchen. Die vorstehend für den Bereich der sozialen Angelegenheiten entwickelten Grundsätze können jedoch, wie im folgenden exemplarisch verdeutlicht werden soll, für sonstige mitbestimmungspflichtige Angelegenheiten sinngemäß herangezogen werden. a) Mitwirkung

Für die Fälle, in denen der Betriebsrat auf die bloße Mitwirkung (Unterrichtung, Anhörung, Beratung) beschränkt ist, kommt die Anrufung der Einigungsstelle nach § 85 Abs. 2 BetrVG nicht in Betracht. Hat der Betriebsrat seine Mitwirkungsrechte entsprechend der gesetzlichen Regelung ordnungsgemäß ausgeübt, ist kein Arbeitnehmer beschwert. Sollte dagegen nach Ansicht eines Arbeitnehmers der Betriebsrat seine Befugnisse nicht angemessen wahrgenommen haben, so könnte der Arbeitnehmer dagegen nicht nach § 85 BetrVG vorgehen, weil das auf eine unzulässige Beschwerde über den Betriebsrat hinausliefe 72 . Das gilt gerade dann, wenn der Betriebsrat nach Ansicht des Arbeitnehmers dessen spezifische Belange nicht hinreichend berücksichtigt haben sollte. Hätte schließlich der Arbeitgeber nach Ansicht eines Arbeitnehmers seine Verpflichtungen bei Mitwirkungsrechten des Betriebsrats nicht erfüllt, so ginge es nicht um eine individuelle Beeinträchtigung dieses Arbeitnehmers, sondern um die Verletzung der Rechte des Betriebsrats. Das kann aber allein der Betriebsrat selbst geltend machen. Im Vorgehen des Arbeitnehmers läge deshalb sowohl eine unzulässige Popularbeschwerde73 als auch eine der Zuständigkeit der Einigungsstelle nach § 85 Abs. 2 BetrVG entzogene Rechtsstreitigkeit74 • Die Einigungsstelle kann mithin z. B. nicht nach § 85 Abs. 2 BetrVG bei Planungsangelegenheiten im Sinne des § 90 BetrVG über Fragen 71 Im Ergebnis hält auch (Galperin /) Löwisch, § 85 Anm. 11, die Zuständigkeit der Einigungsstelle nach § 85 Abs. 2 BetrVG hier nicht für gegeben. Es ist jedoch nicht überzeugend, wenn er dies damit begründet, daß für die Festlegung des Zeitlohns im Gegensatz zu den Fällen des § 87 Abs. 1 Nr. 11 BetrVG kein Mitbestimmungsrecht bestehe. Denn auch für die Entscheidung über den Akkordlohn oder sonstige leistungsbezogene Entgelte eines einzelnen Arbeitnehmers wäre die Einigungsstelle nach § 85 Abs. 2 BetrVG nicht zuständig. 72 Vgl. oben IV. 73 Vgl. oben III. 74 Vgl. oben V.

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der Unterrichtung und Beratung entscheiden. Das gilt auch dann, wenn nur ein einzelner Arbeitnehmer von der Planung betroffen sein sollte; denn die Befugnisse des Betriebsrats nach § 90 BetrVG beziehen sich auch auf diesen Fall75 und schließen insoweit eigene Rechte des Arbeitnehmers aus. Das folgt auch aus§§ 81, 82 BetrVG, die dem Arbeitnehmer eigene Rechte auf Unterrichtung, Anhörung und Erörterung nur unter den dort bezeichneten Voraussetzungen geben. Entsprechendes gilt für die Mitwirkung des Betriebsrats bei der Personalplanung (§ 92 BetrVG) und der Berufsbildung (§§ 96, 97 BetrVG), für die Unterrichtung bei personellen Einzelmaßnahmen nach § 99 Abs. 1 BetrVG sowie für die Rechte des Wirtschaftsausschusses und des Betriebsrats auf Beratung und Unterrichtung in wirtschaftlichen Angelegenheiten nach Maßgabe der§§ 106 ff. und des§ 111 BetrVG. In alldiesen Fällen kommen daher erst spätere Maßnahmen als Anlaß einer individuellen Beeinträchtigung in Betracht. b) Mitbestimmung

Außerhalb der bloßen Mitwirkung stehen dem Betriebsrat nach einzelnen Vorschriften gesetzlich genau umschriebene Ansprüche76 gegenüber dem Arbeitgeber zu, die herkömmlich als Mitbestimmungstatbestände angesehen werden, bei denen es sich aber nicht um Regelungs-, sondern um Rechtsstreitigkeiten handelt. In Betracht kommen die Bestellung und Abberufung von Ausbildern (§ 98 Abs. 2, 5, 6 BetrVG) und die Entlassung oder Versetzung eines den Betriebsfrieden störenden Arbeitnehmers ( § 104 BetrVG)17 • Für die Entscheidung dieser Rechtsstreitigkeiten ist daher nach Maßgabe der genannten Vorschriften das Arbeitsgericht zuständig und mithin die Zuständigkeit der Einigungsstelle nach § 85 Abs. 2 BetrVG im Falle einer Beschwerde des betroffenen Arbeitnehmers ausgeschlossen78 • Aber auch die Beschwerde selbst ist bereits unzulässig, wenn sie sich gegen das Vorgehen des Betriebsrats richtet7 9 • Fühlt sich der betroffene Arbeitnehmer dagegen durch eine Maßnahme des Arbeitgebers beschwert, die dieser in Ausführung des Verlangens des Betriebsrats vorgenommen hat, so kann es nur um deren Rechtmäßigkeit, mithin um eine die Zuständigkeit der Einigungsstelle nach§ 85 Abs. 2 BetrVG ausschließende Rechtsfrage80, gehen. Um Rechtsansprüche des Betriebsrats gegen den Arbeitgeber handelt es sich 75 Vgl. LAG Hamm, EzA Nr. 1 zu § 90 BetrVG 1972 S. 5; Wiese, GK-BetrVG, 1973, § 90 Anm. 10. 76 Zu Leistungsansprüchen vgl. unten S. 646. 77 Vgl. hierzu auch Galperin I Löwisch, § 85 Anm. 11. 78 Vgl. oben V. 79 Vgl. oben IV. 80 Vgl. oben V.

Zur Zuständigkeit der Einigungsstelle nach§ 85 Abs. 2 BetrVG

645

schließlich bei der Ausschreibung von Arbeitsplätzen (§ 93 BetrVG) und dem Tatbestand des§ 109 BetrVG. Bei manchen Mitbestimmungstatbeständen ist die Zuständigkeit der Einigungsstelle nach § 85 Abs. 2 BetrVG ausgeschlossen, wenn die auf Grund der einschlägigen Vorschriften getroffenen Regelungen als solche den einzelnen Arbeitnehmer nicht unmittelbar betreffen, weil Popularbeschwerden unzulässig sind81 • In Betracht kommt die Mitbestimmung bei allgemeinen personellen Angelegenheiten nach Maßgabe der §§ 94, 95 BetrVG und im Rahmen der Berufsbildung (§§ 96 ff. BetrVG). Fühlt sich ein Arbeitnehmer durch die Anwendung der nach diesen Vorschriften zustandegekommenen Regelungen beeinträchtigt, weil er diese entweder für unzulässig oder vom Arbeitgeber unzutreffend angewendet hält, so handelt es sich um Rechtsstreitigkeiten, die der Zuständigkeit der Einigungsstelle nach§ 85 Abs. 2 BetrVG entgegenstehen82 • Diese ist daher nur zuständig, wenn die Regelung dem Arbeitgeber einen Regelungsspielraum beläßt und der Arbeitnehmer das vom Arbeitgeber gewählte Vorgehen für unangemessen hält, ohne daß es schon rechtswidrig sein darf83. Das könnte z. B. bei der Anwendung allgemeiner Beurteilungsgrundsätze in Betracht kommen. Um einen generellen (kollektiven) Mitbestimmungstatbestand handelt es sich, wenn es nach § 98 Abs. 3, 4, 6 BetrVG um die Entscheidung über die Teilnahme von Arbeitnehmern an Bildungsmaßnahmen geht. Hier kann wie bei den sozialen Angelegenheiten84 im Einzelfall die zu, ständigkeit der Einigungsstelle nach § 85 Abs. 2 BetrVG in Betracht kommen. Hat der Betriebsrat außerhalb des Bereichs der sozialen Angelegenheiten in Einzelfällen85 mitzubestimmen, handelt es sich um Tatbestände, die nach Voraussetzungen und Rechtsfolgen abschließend geregelt sind. Das gilt vor allem für die Mitbestimmung bei personellen Einzelmaßnahmen und Kündigungen (§§ 99 ff., 102 ff. BetrVG). Für diesen Bereich ist die Zuständigkeit der Einigungsstelle nach § 85 Abs. 2 BetrVG daher ausgeschlossen86 • Die detaillierten gesetzlichen Regelungen wären sinnlos, wenn in den gleichen Angelegenheiten daneben oder sogar weitergehend und unabhängig von den dort festgelegten VoraussetzunVgl. oben III, VI 2 c. Vgl. oben V, VI 2 c. 83 Vgl. oben VI 2 c. 84 Vgl. oben VI 2 b. 85 Vgl. oben VI 2 d. 86 Im Ergebnis ebenso Dietz I Richardi, § 85 Anm. 4; U. Erdmann, AuR 1973, 135 (140 Fn. 25); Galperin I Löwisch, § 85 Anm. 11; Gamillscheg, Arbeitsrecht II, 5. Aufl. 1979, S. 186; Hanau, BB 1972, 451; Niederalt (Fn. 12), S. 69; Zöllner (Fn. 36), S. 383 f. 81

82

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gen eine Allgemeinzuständigkeit der Einigungsstelle im Beschwerdeverfahren bestünde. Eine mittelbare Durchbrechung oder Erweiterung dieser Mitbestimmungstatbestände über § 85 Abs. 2 BetrVG ist daher ausgeschlossen. Soweit es im übrigen um die Anwendung der§§ 99 ff., 102 ff. BetrVG geht, durch die sich der Arbeitnehmer beschwert fühlt, ist die Zuständigkeit der Einigungsstelle entweder ausgeschlossen, weil es sich um Rechtsfragen handelt87 oder weil der Betriebsrat die Interessen des Arbeitnehmers nicht angemessen wahrgenommen hat und eine Beschwerde über den Betriebsrat unzulässig ist88• Entsprechendes gilt bei der Durchführung betrieblicher Bildungsmaßnahmen in Einzelfällen nach Maßgabe des§ 98 Abs. 3, 4, 6 BetrVG. Abschließend geregelt sind schließlich die Mitbestimmungstatbestände, nach denen Leistungspflichten des Arbeitgebers begründet werden können. Zu denken ist an § 91 BetrVG und an § 112 BetrVG. Die Zuständigkeit der Einigungsstelle ist hier nur nach Maßgabe dieser Vorschriften und nicht außerdem noch nach § 85 Abs. 2 BetrVG gegeben89• Auch darüber hinaus kann wegen des Ausnahmecharakters dieser Tatbestände der Arbeitgeber nicht mittelbar über § 85 Abs. 2 BetrVG zu einer auf zusätzliche Leistungen gerichteten Abhilfe gezwungen werden. Abschließend geregelt worden ist ferner der gerichtlich durchsetzbare Rechtsanspruch des Arbeitnehmers auf Nachteilsausgleich gemäß § 113 BetrVG. VII. Schlußbetrachtung Vorstehende überlegungen haben deutlich gemacht, daß die praktische Bedeutung des§ 85 Abs. 2 BetrVG nicht so gering ist, wie zunächst angenommen wurde. Andererseits führt die Zuständigkeit der Einigungsstelle nach dieser Vorschrift weder zu einer Erweiterung der Befugnisse des Betriebsrats noch zu einer Durchbrechung des Systems der Mitbestimmung, sondern in bestimmtem Umfang zu dessen sinnvoller Ergänzung. Das ist besondel'S bedeutsam bei Einzelfällen im Bereich der sozialen Angelegenheiten. Darin zeigt sich die eigentliche betriebsverfassungsrechtliche Relevanz der Einführung von Individualrechten. Sie hat dazu geführt, daß die Stellung des einzelnen Arbeitnehmers beträchtlich gestärkt worden ist. Davon können Impulse für die weitere Entwicklung des Betriebsverfassungsrechts ausgehen. Vgl. oben V. Vgl. oben IV. 89 Im Ergebnis ebenso zu § 91 BetrVG U. Erdmann, AuR 1973, 135 (140 Fn. 25); Galperin I Löwisch, § ·85 Anm. 11; Hanau, BB 1972, 451; Hofe, Betriebliche Mitbestimmung und Humanisierung der Arbeitswelt, 1978, S. 150; a. M. Hromadka, Betriebsverfassungsgesetz 72, NJW 1972, 183 (185). 87 88

ZUR NEUORDNUNG DES REVISIONSZUGANGES IM ARBEITSGERICHTLICHEN VERFAHREN Von Otfried Wlotzke I.

Am 1. 7. 1979 ist das "Gesetz zur Beschleunigung und Bereinigung. des arbeitsgerichtliehen Verfahrens" (ArbGG-Novelle 1979) in Kraft getreten1. Nach den Entlastungs- und Beschleunigungsgesetzen der letzten Jahre für die anderen Gerichtsbarkeiten2 bildet die ArbGG-Novelle 1979 den Schlußstein in den Bemühungen, auch über Änderungen des Verfahrensrechts wieder zu einer vertretbaren Dauer der gerichtlichen Verfahren zu kommen. Das Ziel des neuen Gesetzes, das Verfahren in allen drei Instanzen zu beschleunigen, soll vor allem durch folgende Maßnahmen erreicht werden: -

Konzentration des Rechtsstreits in der 1. und 2. Instanz auf möglichst eine streitige Verhandlung durch zusätzliche Befugnisse des Vorsitzenden und des Gerichts (vgl. §§55 Abs. 1, 2 und 4, 56, 64 Abs. 7, 66 Abs.1 Satz 2 und 3, 67 ArbGG);

-

besondere Prozeßförderung in Kündigungsverfahren in der 1. und 2. Instanz (vgl. §§ 61 a und 64Abs. 8 ArbGG);

-

Entlastung der LAG, vor allem durch die Erschwerung der Zulassung der Berufung; die Berufung in vermögensrechtlichen Streitigkeiten ist nur noch zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 800 DM übersteigt (vgl. § 64 Abs. 2 ArbGG, bisher genügte ein über 300 DM liegender Streitwert);

-

Entlastung des BAG durch Neuordnung des Zugangs zur Revision (vgl. §§ 72, 72 a, 76 ArbGGj;

1 Zur ArbGG-Novelle 1979 vgl. Braun, MDR 1979, S. 630 ff.; Grunsky, BB 1979, S. 949 ff.; Philippsen I Schmidt I Busch, NJW 1979, S. 1330 ff.; Lorenz. DB 1979, S. 1180 ff.; Wenzel, AuR 1979, S. 225 ff.; Stahlhacke, ArbGG, Neuwied 1979; Wlotzke I Schwedes I Lorenz, Das neue Arbeitsgerichtsgesetz 1979, Düsseldorf 1979. 2 Vgl. Gesetz zur Änderung des SGG vom 30. 7. 1974 (BGBl. I S. 1625); Gesetz zur Entlastung des BFH vom 8. 7. 1975 (BGBl. I S. 1861); Gesetz zur Änderung der Revision in Zivilsachen vom 8. 7.1975 (BGBl. I S. 1863); Gesetz zur Vereinfachung und Beschleunigung gerichtlicher Verfahren (Vereinfachungsnovelle) vom 3. 12. 1976 (BGBl. I S. 3281).

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Otfried Wlotzke

effektivere Gestaltung des Beschlußverfahrens, insbesondere durch größere Verfügungsmöglichkeiten der Beteiligten über das Verfahren (vgl. u. a. §§ 81 Abs. 3, 83 a, 87 Abs. 2 Satz 2, 90 Abs. 2, 92 Abs. 2 Satz 2, 95 Satz 4 ArbGG).

Die bedeutsamste Neuerung der ArbGG-Novelle 1979 ist ganz sicher die Einführung der reinen Zulassungsrevision. Auf diese Weise sollen Zahl und Dauer der Revisionsverfahren nach und nach spürbar gesenkt werden3 • Das neue Revisionsrecht wird aber auch dazu führen, daß von den beiden Zwecken der Revision - Wahrung der Rechtseinheit und Fortbildung des Rechts einerseits sowie gerechte Entscheidung des Einzelfalles im Parteiinteresse4 - der erstere Zweck künftig noch stärker als bisher hervortreten wird. Dies alles rechtfertigt es, sich auch noch ein Jahr nach dem Inkrafttreten der ArbGG-Novelle 1979 Schwerpunkte und Motive des neuen Systems für den Revisionszugang noch einmal vor Augen zu führen. Dafür ist auch gerade die Festschrift für den langjährigen Präsidenten des BAG, Professor Dr. Gerhard Müller, ein geeigneter Ort. Als Vorsitzender des Ersten Senats des BAG hat Professor Müller über mehr als 25 Jahre an der Fortentwicklung des gesetzlichen Revisionsrechts durch die Rechtsprechung mitgewirkt; zudem hat er in gutachtlichen Äußerungen und wissenschaftlichen Beiträgen zur Durchdringung und zur gesetzlichen Erneuerung des Revisionsrechts Wesentliches beigetragen. Hier sei beispielhaft nur auf seine bis heute zu beachtende Abhandlung über die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache aus dem Jahre 1955 hingewiesen 5• An dieser Stelle können nicht die Einzelheiten des neuen Revisionsrechts kommentiert werden6 • Es geht vielmehr nur darum, einige historische Entwicklungslinien hinsichtlich des Revisionszugangs in Arbeitssachen aufzuzeigen, System, Kernpunkte und Motive des neuen Zugangssystems darzulegen sowie seine Auswirkungen, soweit dies schon jetzt möglich ist, abzuschätzen. I I.

1. Die Entwicklung des Revisionszugangs in Arbeitssachen vom ArbGG 1926 bis zur ArbGG-Novelle 1979 ist durch vier Grundlinien gekennzeichnet: 3 Zur Zielsetzung der ArbGG-Novelle 1979 siehe Begründung des RE, BTDrucks. 811567 S. 17 u. 20. 4 Zu den Zwecken der Revision und zum Meinungsstand vgl. Prütting, Die Zulassung der Revision, Köln 1977, S. 86 ff. mit umfassenden Nachw. 5 Festschrift für Wilhelm Hersehe!, Stuttgart 19·55, S. 159 ff. 8 Siehe dazu u. a. Grunsky, ArbGG, 3. Aufl., München 1980, zu §§ 72 ff.; Wlotzke I Schwedes I Lorenz (Fn. 1) zu§§ 72 ff.

Zur Neuordnung d. Revisionszuganges im arbeitsgerichtliehen Verfahren 649 -

Der Zugang zur Revision war immer gesetzlich "gefiltert" (Wertrevision, Grundsatzrevision, Divergenzrevision). Diese "Filter" hatten stets einen doppelten Zweck. Einmal sollte der Zugang zur Revision auf die gewichtigeren Fälle beschränkt bleiben; zum anderen sollte aber auch eine zurnutbare Belastung des Revisionsgerichts und damit eine vertretbare Dauer der Revisionsverfahren gewährleistet werden7.

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Das System des Zugangs zur Revision war bis 1979 ein gemischtes: Neben dem zulassungsfreien Zugang (Wertrevision, seit 1953 auch Divergenzrevision) gab es von Anfang an den Zugang kraft Zulassung durch das LAG (Grundsatzrevision).

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Das Revisionsrecht in Arbeitssachen und das in Zivilsachen der ordentlichen Gerichtsbarkeit haben sich im Laufe der Zeit mehrfach gegenseitig beeinfl.ußt.

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Nach und nach- vor allem aber seit dem ArbGG 1953- hat sich das Recht des Revisionszugangs in Arbeitssachen von dem in Zivilsachen abgekoppelt.

2. Bereits das ArbGG 1926 sah neben der zulassungsfreien Wertrevision die Grundsatzrevision kraft Zulassung vor. Der Zugang zur Revision war ohne weiteres gegeben, wenn der Wert des Streitgegenstandes die in der ordentlichen Gerichtsbarkeit geltende Revisionssumme (Wert des Beschwerdegegenstandes) überstieg (§ 72 Abs. 1 Satz 1 ArbGG 1926). Durch diese Anhindung an die ZPO folgte die Streitwertgrenze in Arbeitssachen stets der Wertgrenze in Zivilsachen. Diese lag anfangs bei 4 000 RM, sodann lange Zeit (bis 1939) bei 6 000 RM 8 • In Fällen, in denen die Revisionssumme nicht erreicht wurde, konnte das LAG die Revision zulassen, wenn "der Rechtsstreit grundsätzliche Bedeutung" hatte. Eine besondere Divergenzrevision war nicht vorgesehen, bildete jedoch einen möglichen Unterfall der Zulassungsrevision wegen grundsätzlicher Bedeutung. Die 1926 in das arbeitsgerichtliche Verfahren eingeführte Zulassungsrevision wegen grundsätzlicher Bedeutung war schon damals kein völlig neues Rechtsinstitut. Sie hatte bereits ein gewisses Vorbild in der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Dort war schon 1924 durch eine Verordnung zur Entlastung des RG (RGBI. I S. 29) die Revision in nicht vermögensrechtlichen Streitigkeiten in Ehesachen von einer Zulassung des OLG Vgl. dazu Prütting (Fn. 4), S. 65 ff. Durch die VO über Maßnahmen auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung und der Rechtspflege vom 1. 9. 1939 (RGBl. I S. 1658) wurde die Wertgrenze zeitweilig auf 10 000 RM angehoben, durch die VO über Wertgrenzen für die Zulässigkeit der Berufung und der Revision vom 26. 6. 1941 (RGBI. I S. 390) aber wieder auf 6000 RM ermäßigt. 7

8

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abhängig gemacht worden. Zulassungsgründe waren die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache sowie die Divergenz zu einer Entscheidung des RG oder, soweit eine solche noch nicht ergangen war, zur Entscheidung eines anderen OLG. Allerdings hatten die Zulassungsrevision des ArbGG 1926 und die der Verordnung von 1924 ganz konträre Ziele. Die partielle Einführung der Zulassungsrevision durch die Verordnung von 1924 diente der Einschränkung des bis dahin insoweit freien Zugangs zur Revision. Die Zulassungsrevision des § 69 Abs. 3 ArbGG 1926 sollte dagegen die Revisibilität erweitern, und zwar für Streitigkeiten, die unter der damaligen Revisionsgrenze von 4 000 RM lagen, wenn der Fall grundsätzliche Bedeutung hatte. Das gemischte System des ArbGG 1926 für den Zugang zur Revision hat sich nach den Aussagen von Literatur und Praxis über fast 20 Jahre gut bewährt9 ; allenfalls sei von den LAG die Grundsatzrevision in zu reichlichem Maße zugelassen wordenu'. Dies hat jedoch den "Vormarsch" des gemischten Zugangssystems des ArbGG 1926 nicht aufhalten können. Nach 1945 wurde es weitgehend Vorbild für die Neugestaltung des Revisionszugangs in Zivilsachen durch das Rechtsvereinheitlichungsgesetz vom 12. 9. 1950 (BGBl. I S. 455) 11 : Für die zulassungsfreie Wertrevision wurde der maßgebliche Wert des Beschwerdegegenstandes (nicht Streitwert) auf 6 000 DM festgelegt. Bei niedrigeren Werten konnte das OLG die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zulassen; es mußte sie zulassen, wenn es von einer Entscheidung des BGH abwich. 3. Das ArbGG 1953 hat das gemischte System des ArbGG 1926 für den Zugang der Revision grundsätzlich beibehalten, es aber weiterentwikkelt. Von der Zugangsregelung in Zivilsachen entfernte es sich deutlich, und zwar durch eine eigenständige und zum Teil abweichende Regelung. Die Zulassungsrevision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache blieb erhalten. Die Möglichkeiten einer zulassungsfreien Revision wurden indessen erweitert. Hinsichtlich der Wertgrenze wurde die Anbindung an die Revisionssumme in Zivilsachen aufgegeben. Die erforderliche Streitwertgrenze wurde eigenständig auf 6 000 DM festgelegt; nur bei Zahlungsklagen mußte ein Beschwerdewert von 6 000 DM überschritten sein (§ 72 Abs. 1 Satz 4 und 5 ArbGG 1953). Diese Loslösung von der ZPO hat nicht unerheblich dazu beigetragen, daß die Arbeitsge9 Vgl. dazu Prütting (Fn. 4), S. 33, ferner die Berichte in JW 1931, S. 1231 und DJ 1937, S. 1367; Romeiss, Die Rechtsmittelzulassung durch den judex a quo, insbesondere im deutschen ArbGG von 1926, Diss. Jena, 1932, S. 7. 10 So u. a. Richter, JW 1929, S. 803; Franke, JW 1929, S. 1284; Jadesohn, JW 1930, S. 3072; weitere Nachw. für die Zeit von 1945 siehe bei Prütting (Fn. 4), S. 33. 11 Siehe RE eines Gesetzes zur Wiederherstellung der Rechtseinheit, BTDrucks. I/530, S. 28.

Zur Neuordnung d. Revisionszuganges im arbeitsgerichtliehen Verfahren 651 richtsbarkeit von der kräftigen Erhöhung der Wertgrenze für den zulassungsfreien Revisionszugang in Zivilsachen in den 60er Jahren (zunächst auf 15 000 DM, später auf 25 000 DM12) ausgeklammert blieb. Abweichend von der ZPO wurde auch die zulassungsfreie Revision in den Fällen der Divergenz erweitert, und zwar auch - wiederum anders als nach der ZPO -, soweit die Entscheidungenzweier LAG divergierten (§§ 69 Abs. 3 Satz 2, 72 Abs. 1 Satz 2 und 3 ArbGG 1953). Der Grund hierfür lag vor allem darin, daß der besonderen Situation im Arbeitsrecht - häufig Fälle mit geringem Streitwert, aber mit großer präjudizieller Wirkung- Rechnung getragen werden sollte13 • 4. Die Chance, das mehr und mehr auseinanderdriftende Revisionsrecht in Arbeitssachen und in Zivilsachen wieder zu vereinheitlichen, sowie zugleich den Revisionszugang mit dem Ziel einer zurnutbaren Belastung für das BAG neu zu ordnen war 1973 mit dem Entwurf der RevisionsnoveZie14 gegeben. Danach sollte die zulassungsfreie Wertrevision ganz beseitigt und die reine Zulassungsrevision wegen grundsätzlicher Bedeutung und wegen Divergenz (auch zwischen Entscheidungen der 2. Instanz) eingeführt werden. Als Korrektiv war eine Nichtzulassungsbeschwerde gegen die Versagung der Zulassung der Revision vorgesehen. Der Versuch einer gesamtheitliehen Konzeption, in die auch die Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit einbezogen sein sollten, scheiterte15 • Für die ordentliche Gerichtsbarkeit wurde statt dessen das Gesetz zur Änderung der Revision in Zivilsachen vom 8. 7. 1975 (BGBL I S. 1863) erlassen. Es brachte den Durchbruch zur reinen- wenn auch nicht lupenreinen - Zulassungsrevision. Danach ist für vermögensrechtliche Streitigkeiten bis zu einem Wert der Beschwer von 40 000 DM der Zugang zum BGH nur gegeben, wenn das OLG die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache oder wegen Divergenz zugelassen hat(§ 546 Abs. 1 ZPO); die Verweigerung der Zulassung kann nicht angefochten werden. Bei einem Wert der Beschwer von über 40 000 DM gilt die Annahmerevision. Insoweit ist der Zugang zur Revision offen. Doch der BGH kann die Annahme der Revision mit einer Mehrheit von zwei Drittel der Stimmen ablehnen, wenn die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat(§ 554 b ZPO). Das Scheitern der Revisionsnovelle 1973 sowie die neuartige, für die Arbeitsgerichtsbarkeit nicht übernehmbare Regelung des Revisionszugangs in Zivilsachen gab die Chance, machte es aber wegen der zuneh12 Gesetz zur Änderung von Wertgrenzen und Kostenvorschriften in der Zivilgerichtsbarkeit vom 27. 11. 1964 (BGBl. I S. 933) und Gesetz zur Entlastung des BGH in Zivilsachen vom 15. 8. 1009 (BGBl. I S. 1141). 13 Begründung des RE zum ArbGG 1953, BT-Drucks. I/3516 zu §§ 69 und 72. u BT-Drucks. 7/444. 15 Schrift!. Bericht des BT-Rechtsausschusses, BT-Drucks. 7/3596, S. 4 ff.

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menden Belastung des BAG zugleich auch notwendig, für die Arbeitsgerichtsbarkeit einen eigenen, auf die besonderen Eigenheiten der arbeitsrechtlichen Streitigkeiten zugeschnittenen Weg für den Zugang zur Revision zu finden. Die gesetzgebungspolitische Richtung dafür war allerdings bereits vorgezeichnet, und zwar durch die Revisionsnovelle 1973, durch die Neuregelung des Revisionszugangs in Zivilsachen und durch die Erfahrungen in der Sozialgerichtsbarkeit mit der uneingeschränkten Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision. III. Der Gesetzgeber der ArbGG-Novelle 1979 ist diesen "Vorgaben" dann auch gefolgt. Kernpunkte des neuen Systems für den Revisionszugang in Arbeitssachen sind: Wegfall der zulassungsfreien Wertrevision; reine Zulassungsrevision (Grundsatz- und Divergenzrevision); nur begrenzte Möglichkeit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision; durch das Arbeitsgericht zugelassene Sprungrevision in bestimmten Streitigkeiten mit kollektiv-rechtlichem Bezug, wenn sie grundsätzliche Bedeutung haben. Welche Erwägungen haben zu dem jetzt geltenden Zugangssystem geführt? 1. Wegfall der Wertrevision

Auslösender Faktor, den Zugang zur Revision in Arbeitssachen neu zu gestalten, war - ebenso wie zuvor in den anderen Gerichtsbarkeiten -die wachsendeüberlastungdes BAG. Von 1971 bis 1977 hatte sich die Zahl der Revisionen mehr als verdoppelt (von 513 auf 1106 Revisionen)1 6 • Diese Zahlen stiegen 1978 auf 1195 und 1979 auf 1 282 Revisionen an17 • Die Folge war, die Verfahrensdauer vor dem BAG nahm ständig zu. Die im Verhältnis zur wachsenden Zahl der Revisionseingänge kaum genügende Erhöhung der Richterstellen (1969: 17, 1976: 19, 1979: 25) konnte dem nicht abhelfen. Während 1971lediglich 7,8 v. H. der erledigten Revisionsverfahren länger als 12 Monate dauerten, waren es 1976 bereits 59,5 v. H.; dieser Anteil hat sich 1978 noch auf 86,4 v. H. und 1979 sogar auf 93 v. H. erhöht18• Dies war weder mit dem Beschleunigungsgrundsatz des § 9 Abs. 1 Satz 2 ArbGG zu vereinbaren, noch war es aus rechts- und sozialpolitischen Gründen auf Dauer hinnehmbar. Die Zahl der Revisionen mußte also verringert werden - natürlich verbunden mit dem Bemühen die Zahl der Richterstellen beim BAG weiter zu erhöhen (1980: 25 Richterstellen). Dazu war es erforderlich, die Grenzen 16 Vgl. Arbeits- und sozialstatistische Mitteilungen 4/1972, S. 140 und 4/1978, 8.132. 17 BArbBI. 4/1979, S. 128 und 4/1980, S. 154. 1a Vgl. BT-Drucks. 8/1567, S. 24.

Zur Neuordnung d. Revisionszuganges im arbeitsgerichtliehen Verfahren 653 für die Revisibilität von Entscheidungen der LAG neu zu ziehen, und zwar insgesamt wesentlich enger. Um hier das richtige Maß zu finden, war es wiederum geboten, sich auf die eigentlichen Aufgaben einer Revisionsinstanz zu besinnen. Diese leiten sich im wesentlichen aus den Zwecken der Revision ab, die nicht einheitlich gesehen werden: Die einen sagen, die Revision habe vorrangig den Parteiinteressen an einer richtigen Entscheidung im Einzelfall zu dienen; andere meinen, erster Zweck der Revision sei die Wahrung der Rechtseinheit und die Fortbildung des Rechts; auch die Gleichrangigkeit beider Zwecke wird vertreten 19 • Dabei wird aber - von Prütting20 zutreffend erkannt - oft übersehen, daß es einen für das gesamte Revisionsrecht gemeinsamen Zweck nicht gibt. Vielmehr muß hier zwischen der Zugangsregelung und dem Revisionsverfahren ab Einlegung der Revision differenziert werden21 : Der Zugang zur Revision ist vorrangig an dem Allgemeininteresse an der Wahrung der Rechtseinheit und an der Rechtsfortbildung zu orientieren; Aspekte der Einzelfallgerechtigkeit sind dem unterzuordnen. Dies entspricht auch der langfristigen Entwicklung der gesetzlichen Zugangsvoraussetzungen im Revisionsrecht schlechthin; diese ist durch eine zunehmende BesChränkung der zulassungsfreien Wertrevision und durch den "Vormarsch" der zulassungspflichtigen Grundsatz- und Divergenzrevision gekennzeichnet. Steht aber der Zugang der Revision erst einmal offen, so tritt nun das Parteiinteresse an der gerechten Einzelfallentscheidung in den Vordergrund. Allerdings, wie überall, so ist auch diese Trennung der Zweckprioritäten nicht lupenrein: Die zugelassene Revision ist auf die Nachprüfung von Rechtsfragen beschränkt; das Parteiinteresse beim Zugang wird z. B. deutlich im Fall des§ 547 ZPO. Der Gesetzgeber der ArbGG-Novelle 1979 hatte daher die Neuregelung des Revisionszugangs primär an den Aufgaben des BAG, die Rechtseinheit zu wahren und das Recht fortzubilden, zu orientieren. Er konnte ferner davon ausgehen, daß die Parteien keinen verfassungsrechtlich gesicherten Anspruch darauf haben, daß ihr Rechtsstreit in mehr als zwei Instanzen verhandelt und entschieden wird, die Revisibilität also unter Beachtung des Gleichheitsgrundsatzes sehr weitgehend beschränkbar ist22 • Der rechtspolitische Weg für die künftige Gestaltung des Revisionszugangs war damit praktisch gewiesen: Die Entlastung des BAG war nicht über eine irgendwie geartete Beschränkung der am Allgemeininteresse orientierten Grundsatz- und Divergenzrevision anzu19

20

21

Siehe dazu Prütting (Fn. 4), S. 86 ff. Prütting (Fn. 4), S. 94. Vgl. Prütting (Fn. 4), S. 94, 95.

mit umfassenden Nachw.

22 BVerfGE 19, S. 323 und h. M.; vgl. weiter Prütting (Fn. 4), S. 97, 98 m. Nachw.

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streben; sie mußte auf Kosten der mehr an der Einzelfallgerechtigkeit ausgerichteten zulassungsfreien Wertrevision erfolgen. Dies konnte nun nicht in der Weise geschehen, daß man die Streitwertgrenze erhöht hätte, und zwar drastisch um einen fühlbaren Entlastungseffekt zu erzielen. Einmal ist eine zulassungsfreie Wertrevision in der Regel nicht geeignet, dem Revisionsgericht Fälle zuzuführen, die im Interesse von Rechtseinheit und Rechtsfortbildung klärungsbedürftig sind; denn insofern findet keinerlei Vorklärung durch die 2. Instanz statt. Zum anderen- und dies wiegt schwerer- ist die zulassungsfreie Wertrevision wenig sozialgerecht. Sie begünstigt Arbeitnehmer mit höherem Lohn, z. B. bei Revisionen in Kündigungssachen, und erscheint von daher auch unter Gleichheitsgesichtspunkten nicht ganz unangreübar. Eine fühlbare Erhöhung der Wertgrenze hätte dies noch verschärft. Schließlich hatte sich die zulassungsfreie Wertrevision als ungeeignet erwiesen, eine möglichst gleichmäßige Belastung des BAG zu gewährleisten. Da die Wertgrenze von 6 000 DM seit 1953 unverändert geblieben war, hatte die Lohnentwicklung dazu geführt, daß gerade der zulassungsfreie Zugang zum BAG mehr und mehr erleichtert wurde. Dies zeigt mittelbar die Zunahme der zulassungsfreien Wertrevisionen im Verhältnis zu den Zulassungsrevisionen. 1960 betrug der Anteil der Zulassungsrevisionen an der Gesamtzahl der Revisionen mehr als 80 v. H.2 s, 1975 nur noch 33,5 v. H., während die zulassungsfreien Wertrevisionen bereits 58 v. H. ausmachten24• Damit bildeten diejenigen Revisionen die Hauptlast des BAG, die von einem am Allgemeininteresse zu orientierenden Zugangssystem her gesehen für eine revisionsrechtliche Entscheidung am entbehrlichsten waren. Die vom Gesetzgeber zu ziehende Konsequenz konnte daher nur der völlige Wegfall der zulassungsfreien Wertrevision und die Einführung der reinen Zulassungsrevision sein. Daß diese Entscheidung zutreffend war, zeigt, daß sie während des Gesetzgebungsverfahrens der ArbGG-Novelle 1979 im wesentlichen unbestritten blieb26 • 2. Grundsatzrevision

Die ArbGG-Novelle 1979 hat die einzelnen Elemente der Grundsatzrevision gegenüber dem bisherigen Recht rein äußerlich nicht wesentlich verändert: Der Begriff "grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache" ist ebenso geblieben wie die Zulassung durch das LAG. Allerdings ist jetzt das LAG zur Zulassung gesetzlich verpflichtet, wenn es die grund23 Vgl. Pohle, Gutachten zum 44. Deutschen Juristentag 1962, Bd. I, 3. Teil, Heft 4, S. 92. 2« BT-Drucks. 8/1567, S. 26. 25 Vgl. Protokoll der 44. Sitzung des BT-Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, 8. Wahlperiode, S. 62 ff.

Zur Neuordnung d. Revisionszuganges im arbeitsgerichtliehen Verfahren 655 sätzliche Bedeutung annimmt (früher "kann zulassen", zumeist aber als Muß-Regelung verstanden), und das BAG ist- anders als bisher- an die Zulassung gebunden (§ 72 Abs. 2 und 3 ArbGG). In der Sache selbst hat aber jetzt die Grundsatzrevision eine ganz andere Dimension erlangt. Während sie früher nur eine Rolle spielte, wenn die Streitwertgrenze von 6 000 DM nicht erreicht wurde, bildet sie jetzt das "Haupttor" für den Zugang zum BAG. Von daher ist es begreiflich, daß es im Gesetzgebungsverfahren bei der näheren Gestaltung der Grundsatzrevision - natürlich in engem Zusammenhang mit dem Wegfall der Wertrevision- vor allem um zwei wichtige Fragen ging: -

Soll der Begriff "grundsätzliche Bedeutung" nicht weitergefaßt oder wenigstens konkretisiert werden?

-

Ob und in welchem Umfang soll die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Grundsatzrevision durch das LAG eröffnet werden?

a) Zur Frage der grundsätzlichen Bedeutung ist u. a. vorgeschlagen worden, die Revision solle für alle Streitigkeiten dann zugelassen werden, wenn die Tarifvertragsparteien vor Erlaß des Urteils des LAG erklärten, der Rechtsstreit habe für sie grundsätzliche Bedeutung; zumindest aber ohne weiteres in den in§ 72 a Abs. 1 Nr. 1-3 ArbGG genannten Streitigkeiten mit kollektiv-rechtlichem Bezug, weil sie stets grundsätzliche Bedeutung hätten2il. Hinter diesen und anderen Vorschlägen stand die Befürchtung, der Begriff der grundsätzlichen Bedeutung sei zu eng und werde den Zugang zum BAG zu stark einschränken. Ganz überwiegende Gründe sprachen indessen dafür, es bei dem herkömmlichen Begriff der grundsätzlichen Bedeutung zu belassen: -

Die Nennung konkreter Streitigkeiten, in denen stets eine grundsätzliche Bedeutung anzunehmen sei, erschien nicht möglich, besonders für Streitigkeiten aus dem Individualarbeitsrecht. So kann z. B. ein Rechtsstreit eine sehr wichtige Rechtsfrage betreffen, dennoch aber das Bedürfnis nach einer Entscheidung durch das BAG fehlen, weil sich die strittige Rechtsfrage ohne weiteres aus dem Gesetz beantworten läßt oder über die Rechtsfrage in der Rechtsprechung der Instanzgerichte und im Schrifttum eine einhellige Meinung besteht27 • Am ehesten läßt sich noch für Rechtsstreitigkeiten mit kollektivrechtlichem Bezug sagen, ihnen könne im allgemeinen grundsätzliche Bedeutung zukommen. Dies muß aber nicht sein; insofern hat der Gesetzgeber auch nur mit der Wirkung eines Indiz zum Ausdruck gebracht, den in § 72 a Abs. 1 Nr. 1 - 3 ArbGG genannten Rechtsstreitigkeiten mit kollektiv-rechtlichem Bezug könne grundsätzliche Be-

28 Vgl. BT-Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, Ausschuß-Drucks. 290, 8. Wahlperiode, S. 30 und Ausschuß-Drucks. 302, 8. Wahlperiode, S. 12. 27 Vgl. BAG vom 5. 12. 1979- 4 AZN 41/79, S. 9 und 10 m. Nachw.

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deutung zukommen28 , indem er für diese Fälle die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Grundsatzrevision eröffnet hat. -

Für die Beibehaltung des Begriffs der grundsätzlichen Bedeutung sprach wesentlich, daß dessen Inhalt durch eine langjährige Rechtsprechung klar bestimmt ist29 und deshalb ein hohes Maß an Rechtssicherheit gewährleistet. Auch alle anderen Verfahrensordnungen (außerhalb des Strafrechts und des OWiG) verwenden ihn als Zulassungsschranke zum Revisionsgericht. Vor allem hat er sich seit seiner Einführung in die Arbeitsgerichtsbarkeit als geeignet erwiesen, dem RAG und später dem BAG die Wahrung der Rechtseinheit und die Fortbildung des gesetzlich nur teilweise normierten Arbeitsrechts zu ermöglichen. Als Ersatz hätte sich allenfalls die Zulassungsschranke des § 80 Abs. 1 OWiG (Fortbildung des Rechts und Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung) angeboten. Doch diese Formel war bereits bei dem Gesetz von 1975 zur Änderung des Revisionsrechts in Zivilsachen durch den BT-Rechtsausschuß verworfen worden3il: "Fortbildung des Rechts" sei zu eng, weil diese Formel bei der Zulassung der Revision andere als rechtliche Auswirkungen der Entscheidung - z. B. wirtschaftlicher Art - ausschlösse; "Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung" sei andererseits zu vage und zugleich zu weit. Schließlich würden neue Rechtsbegriffe viele Auslegungsfragen mit sich bringen, so daß für die Rechtsklarheit der Zulassungsschranke für lange Zeit nichts gewonnen wäre.

-

Am Begriff der grundsätzlichen Bedeutung festzuhalten, empfahl sich auch deshalb, weil er den LAG bei klaren inhaltlichen Grenzen doch einen recht flexiblen Maßstab an die Hand gibt. Er läßt dem Richter genügend Spielraum, die Revisionszulassung auch auf ungeklärte, neu auftauchende Probleme zu stützen31 • Diese Flexibilität des Begriffs der grundsätzlichen Bedeutung war einer der entscheidenden Gründe dafür, warum an ihm auch in dem Gesetz von 1975 über die Änderung des Rechts der Revision in Zivilsachen festgehalten worden war32 •

-

Schließlich war die Beibehaltung des Begriffs der grundsätzlichen Bedeutung auch unter dem Gesichtspunkt der angestrebten Entlastung des BAG zu sehen. Bei Weitergeltung der bisherigen Formel konnte die Entlastung des BAG in etwa abgeschätzt werden. Grundsatzrevisionen machten im Jahr 1975 22,5 v. H. der eingelegten Re28 29 30

31 32

Dazu Wlotzke I Schwedes I Lorenz (Fn. 1), § 72 Anm. 8 und 9. Siehe BAG vom 5. 12. 1979 (Fn. 27), S. 9 m. Nachw. Schriftl. Bericht des BT-Rechtsausschusses, BT-Drucks. 713596, S. 6. So Prütting (Fn. 4), S. 117; in diesem Sinn auch Müller (Fn. 5), S. 160. Schrift!. Bericht des BT-Rechtsausschusses, BT-Drucks. 713596, S. 6.

Zur Neuordnung d. Revisionszuganges im arbeitsgerichtliehen Verfahren 657

visionen aus33 • Man schätzte, daß etwa 30 v. H. der bisherigen Streitwertrevisionen in Zukunft als Grundsatzrevision an das BAG gelangen würden, also nach und nach eine Entlastung des BAG um etwa ein Drittel zu erreichen sei. Dieser Prognose wäre bei Einführung einer neuen Formel als Schranke für den Zugang zur Grundsatzrevision jeder Anhalt entzogen worden. Denn die neue Formel hätte erst der Auslegung durch die Gerichte bedurft. Erst daraus hätte sich der Grad der Entlastung des BAG ergeben können. Dies war zu ungewiß. b) In der zweiten wichtigen Frage, ob und wieweit die Beschwerde gegen die Versagung der Grundsatzrevision eröffnet werden soll, reichte bei der Vorbereitung der ArbGG-Novelle 1979 das Meinungsspektrum von einem völligen Ausschluß bis zu einer uneingeschränkten Zulassung der Nichtzulassungsbeschwerde 34 • Der Gesetzgeber hat sich schließlich für einen Kompromiß entschieden: Die Nichtzulassungsbeschwerde ist nur gegeben, wenn es sich um bestimmte Rechtsstreitigkeiten mit kollektiv-rechtlichem Bezug handelt; sie kann zudem nur Erfolg haben, wenn das LAG die grundsätzliche Bedeutung verkannt hat (§ 72 a Abs. 1 Nr. 1-3 i. V. mit§ 72 Abs. 1 Nr. 1 ArbGG). Für diese Lösung waren folgende Überlegungen maßgebend: -

Das Rechtsstaatsprinzip erfordert nicht, daß gegen jede gerichtliche Entscheidung - hier die Nichtzulassung der Revision - ein Rechtsmittel gegeben sein muß35 •

-

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat ihren primären Zweck darin, das Revisionsgericht überprüfen zu lassen, ob das LAG die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache zutreffend verneint hat3il. Diese an sich wünschenswerte Kontrollfunktion war indessen gegen die daraus folgende Belastung des BAG abzuwägen. Die notwendige Entlastung des BAG durch den Wegfall der zulassungsfreien Wertrevision durfte nicht wieder durch eine Flut von Nichtzulassungsbeschwerden zunichte gemacht werden37 •

-

Außerdem hätte die Einführung einer unbeschränkten Nichtzulassungsbeschwerde zu einer wenig günstigen Verwendung der Arbeits-

BT-Drucks. 8/1567, S. 26. Siehe u. a. Protokoll der 44. Sitzt'rtg des BT-Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, 8. Wahlperiode, S. 62 ff. 35 BVerfGE 19, S. 323. 36 Vgl. die Nachw. bei Prütting (Fn. 4), S. 80; ferner Begründung zur Revisionsnovelle, BT-Drucks. 7/444, S. 21. 37 Aus diesem Grunde hatte bereits der Entwurf der Revisionsnovelle (An. 6 Nr. 2, BT-Drucks. 7/444, S. 21) vorgesehen, daß in der ordentlichen Gerichts~ barkeit für die ersten 12 Jahre der Neuregelung die Nichtzulassungsbeschwerde bei einem Wert des Beschwerdegegenstandes unter 15 000 DM ausgeschlossen sein sollte. 33

34

42 Festschrift f. G. Müller

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kapazitätdes BAG geführt. Dies lehrten die Erfahrungen beim BSG. Dort gab es 1976 unter 2 311 Neueingängen 1 001 Beschwerden gegen die Versagung der Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung; nur 8,5 v. H. von ihnen hatte Erfolg38 • Dies sollte sich beim BAG nicht wiederholen, zumal einige Jahre vorher wegen der gleichen Befürchtungen die Nichtzulassungsbeschwerde in der ordentlichen Gerichtsbarkeit nicht eingeführt worden wax-39 • -

Wesentlich für die Entscheidung des Gesetzgebers war aber auch, daß kein Grund zur Annahme bestand, ohne eine unbeschränkte Nichtzulassungsbeschwerde werde die Zulassungsrevision zur Rechtserstarrung führen, weil andernfalls dem BAG ausreichendes Anschauungsmaterial nicht vorgelegt werden könnte. Die im arbeitsgerichtliehen Beschlußverfahren seit langem bestehende reine Zulassungsrechtsbeschwerde - ohne die Möglichkeit einer Nichtzulassungsbeschwerde - hatte das Gegenteil bewiesen: Alle wichtigen Fragen des Betriebsverfassungsrechts sind bisher über die Zulassung durch die LAG an das BAG gelangt. Das gleiche belegten die Erfahrungen mit der Zulassungsrevision nach § 69 Abs. 3 ArbGG 1953. Auch hier sind alle wegen ihres geringen Streitwerts nicht revisiblen wichtigen Rechtsstreitigkeiten, z. B. aus dem Lohnfortzahlungsgesetz und aus dem Bundesurlaubsgesetz, durch Zulassung der LAG zum BAG gekommen.

Der Gesetzgeber der ArbGG-Novelle 1979 durfte deshalb mit einer nicht zu engen Zulassungspraxis der LAG rechnen und konnte die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde im Interesse einer effektiven Entlastung des BAG weitgehend einschränken. Soweit er sie gegen die Versagung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung in engen Grenzen zugelassen hat, handelt es sich um bestimmte kollektiv-rechtliche Streitigkeiten, die für das Arbeitsleben besondere Bedeutung haben (§ 72 a Abs. 1 Nr. 1-3 ArbGG). Sie sollen, wenn sie entgegen der Annahme des LAG tatsächlich grundsätzliche Bedeutung haben, möglichst rasch durch das BAG abschließend geklärt werden, vor allem um eine Vielzahl ähnlicher Prozesse zu vermeiden 40 • 3. Divergenzrevision

Die höchstrichterliche Klärung abweichender Rechtsauffassungen zwischen den Instanzgerichten und dem Revisionsgericht ist besonders für die Wahrung der Rechtseinheit von ganz elementarer Bedeutung. Im ss BT-Drucks. 811567, S. 20. 39 Schrift!. Bericht des BT-Rechtsausschusses zum Gesetzentwurf zur Änderung der Revision in Zivilsachen, BT-Drucks. 713596, S. 4. 40 Siehe dazu Begründung des RE zur ArbGG-Novelle 1979, BT-Drucks. 811567, S. 35; Wlotzke I Schwedes I Lorenz (Fn. 1), § 72 a Anm. 5 ff.

Zur Neuordnung d. Revisionszuganges im arbeitsgerichtliehen Verfahren 659 ArbGG 1953 war die Divergenzrevision daher großzügig ausgestaltet: zulassungsfreier Zugang zum BAG, Einbeziehung von Abweichungen auch zwischen zwei LAG. Auch die anderen Verfahrensordnungen sehen das Institut der Divergenzrevision vor (§ 546 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 ZPO, § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO, § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO, § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Es war daher von vornherein ausgeschlossen, die Divergenzrevision dem Entlastungskonzept der ArbGG-Novelle 1979 zu "opfern" und darauf zu vertrauen, die wesentlichen Divergenzen würden über die Grundsatzrevision an das BAG gelangen. Im Gegenteil, das bisherige Recht der Divergenzrevision bedurfte sehr "schonender Behandlung", zumal gleichzeitig der Zugang zum BAG durch den Wegfall der Streitwertrevision und durch die weitgehende Versagung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung einer Grundsatzrevision drastisch reduziert werden sollte. Als Konsequenz hieraus hat die ArbGG-Novelle 1979 zwar die bisherige Zulassungsfreiheit der Divergenzrevision aufgegeben; auch sie bedarf jetzt der Zulassung durch das LAG, an die das BAG gebunden ist(§ 72 Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 ArbGG). Diese Zulassungsbeschränkung ist aber dadurch erheblich gemildert, daß die Versagung der Revisionszulassung wegen Divergenz - anders als bei der Grundsatzrevision - uneingeschränkt mit der Nichtzulassungsbeschwerde angefochten werden kann (§ 72 a Abs. 1 ArbGG). Insoweit erschien dem Gesetzgeber wegen der Wichtigkeit, Rechtsdivergenzen zu beseitigen, eine Kontrolle der Zulassungspraxis der LAG durch das BAG wesentlicher als der Gesichtspunkt der Entlastung der Revisionsinstanz. Hinzu kam, daß sich der Anteil der Divergenzrevisionen nach bisherigem Recht in Grenzen gehalten hatte41 • Das neue Recht wird- wie erste Erfahrungen zeigensicher dazu führen, daß eine große Zahl von auf Divergenz gestützten Nichtzulassungsbeschwerden eingelegt werden, vor allem auch wegen der Reduzierung der anderen Revisionszugänge. Dennoch sollte die dadurch bedingte Belastung des BAG erträglich bleiben (vgl. dazu auch unter IV. 1). Denn wegen der uneingeschränkten Eröffnung der Nichtzulassungsbeschwerde dürften die LAG zumeist näher darlegen, warum sie eine beantragte Divergenzzulassung ablehnen; dies kann dann wiederum die Prüfung durch das BAG, ob tatsächlich eine Divergenz gegeben ist, erleichtern. Weiter ist die Überprüfung der Nichtzulassungsbeschwerde durch das BAG von vornherein auf die Frage der Divergenz begrenzt, und die verfahrensmäßige Behandlung der Nichtzulassungsbeschwerde ist möglichst verfahrensökonomisch gehalten, u. a. hinsichtlich der Zulässigkeitsprüfung, der mündlichen Verhandlung und der Begründung bei Ablehnung(§ 72 a Abs. 5 ArbGG). 41

42*

1975lag dieser Anteil bei 11 v. H., BT-Drucks. 8/1567, S. 26.

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Die Divergenzfälle, bei deren Vorliegen das LAG die Revision zuzulassen hat, sind durch die ArbGG-Novelle 1979 noch eiWeitert worden. Abweichend vom bisherigen Recht ist die Divergenzrevision auch dann zuzulassen, wenn eine Kammer des LAG von einer anderen Kammer desselben LAG abweicht; bisher war auf der "LAG-Ebene" erforderlich, daß ein LAG vom Urteil eines anderen LAG abwich. Die Erweiterung hat den Sinn, möglichst alle zwischen den zweitinstanzliehen Spruchkörpern divergierenden Rechtsauffassungen durch das BAG klären zu lassen. Wegen der in der Arbeitsgerichtsbarkeit überschaubaren Zahl zweitinstanzHeller Urteile konnte hier der Gesetzgeber einen anderen Weg gehen als in der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Dort ist wegen der insgesamt sehr großen Zahl streitiger Urteile der OLG (19 953 im Jahr 1970) schon davon abgesehen worden, die Divergenzrevision bei abweichenden Rechtsauffassungen zwischen zwei OLG (also schon gar nicht bei Abweichungen zwischen zwei Senaten desselben OLG} zuzulassen42 • 4. Sprungrevision

Als dritte Form der Zulassungsrevision hat die ArbGG-Novelle 1979 neben der Grundsatz- und Divergenzrevision die Sprungrevision vorgesehen (§ 76 ArbGG). Sie war bereits in den ArbGG von 1926 und 1953 enthalten, ist jetzt aber inhaltlich und verfahrensmäßig erheblich anders gestaltet worden. Der schon bisher begrenzte Anwendungsbereich auf Streitigkeiten mit kollektiv-rechtlichem Bezug wurde grundsätzlich beibehalten; er ist jedoch vor allem insofern eiWeitert worden, als auch Streitigkeiten über die Auslegung von Tarifverträgen hinzugekommen sind, die sich räumlich über den Bezirk eines LAG erstrecken. Der Anwendungsbereich des neuen § 76 ArbGG erfaßt die gleichen Streitigkeiten mit kollektiv-rechtlichem Bezug, die auch schon durch die Eröffnung der Beschwerde gegen die Versagung der Zulassung einer Grundsatzrevision privilegiert worden sind, und zwar hier wie dort aus den gleichen Gründen: Entscheidungen über diese Streitigkeiten haben oft eine große präjudizielle Wirkung; sie sollen daher möglichst rasch durch das BAG gefällt werden können, wenn sie grundsätzliche Bedeutung haben und - im Fall der Sprungrevision - die Parteien mit dem Überspringen der Berufungsinstanz einverstanden sind. Die Zulassung der Sprungrevision (allein wegen grundsätzlicher Bedeutung; Divergenz reicht nicht, sei es denn, sie gibt der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung} hat das Arbeitsgericht auszusprechen; nach altem Recht war dagegen, wenn der Revisionsstreitwert nicht erreicht wurde, die Zustimmung des Bundesarbeitsministers erforderlich. Im Gleichklang mit § 134 VwGO und § 161 SGG kann die Sprungrevision noch nach Erlaß des arbeitsgerichtliehen 42 Zu den Erwägungen hierzu vgl. Begründung zur Revisionsnovelle 1973, BT-Drucks. 7/444, S. 19.

Zur Neuordnung d. Revisionszuganges im arbeitsgerichtliehen Verfahren 661 Urteils, vor allem nach Kenntnis der Urteilsgründe zugelassen werden. Das BAG ist an die Zulassung gebunden. Die Sprungrevision im alten Gewande hatte nie eine Bedeutung erlangt. Deshalb sollte sie schon im Regierungsentwurf zum ArbGG 1953 gestrichen werden43 • Ob der neu gestalteten Sprungrevision das gleiche Schicksal zuteil werden wird, läßt sich schwer abschätzen. Vielleicht könnte sich günstig auswirken, daß das ohnehin bedenkliche Zustimmungserfordernis des Bundesarbeitsministers durch die arbeitsgerichtliehe Zulassung ersetzt worden ist. Jedenfalls müssen die Erwartungen wesentlich niedriger angesetzt werden als sie in bezug auf die im Beschlußverfahren neu eingeführte Sprungrechtsbeschwerde bestehen. Diese kommt - anders als die Sprungrevision - für alle Rechtssachen mit grundsätzlicher Bedeutung in Betracht. Außerdem wird im Beschlußverfahren oft bei unstreitigem Sachverhalt über Rechtsfragen mit grundsätzlicher Bedeutung gestritten, wobei die Beteiligten von vornherein eine Entscheidung des BAG anstreben44 •

IV. Ob die mit dem neuen Revisionsrecht verfolgten Ziele auch tatsächlich erreicht werden, nämlich die Arbeit des BAG auf die Wahrung der Rechtseinheit und die Fortbildung des Rechts zu konzentrieren sowie über eine Entlastung des Gerichts wieder zu einer vertretbaren Dauer der Revisionsverfahren zu kommen, hängt nicht nur davon ab, ob das Konzept der ArbGG-Novelle 1979 geglückt ist. Maßgebend dafür wird auch sein, wie das BAG und die LAG das neue Revisionsrecht auslegen und handhaben werden. 1. Was das BAG anbetrifft, so ist bereits jetzt aufgrund seiner Rechtsprechung zur Nichtzulassungsbeschwerde zu erkennen, daß über die in § 72 a Abs. 1 ArbGG eröffneten Fälle der Nichtzulassungsbeschwerde eine sehr nennenswerte Zulassung von Revisionen kaum zu erwarten ist; von daher erscheinen also die Ziele der ArbGG-Novelle 1979 nicht gefährdet. Zwar ist die Zahl der vor allem auf Divergenz gestützten Nichtzulassungsbeschwerden in den ersten Monaten nach lokrafttreten der Neuregelung recht beachtlich gewesen, ihre Erfolgsquote war jedoch unbedeutend und die Verfahren hierüber haben nicht länger als drei Monate gedauert45. Dies liegt vor allem daran, daß fast alle der bisher

S. dazu DerschI Volkmar, ArbGG, Berlin I Frankfurt 1955, § 76, Anm. 2. Vgl. dazu Wlotzke I Schwedes I Lorenz (Fn. 1), § 96 a Anm. 1. 45 In der Zeit vom 1. 9. 1979 bis zum 31. 3. 1980 sind beim BAG 284 Nichtzulassungsbeschwerden eingegangen. Sie wurden zum größten Teil auf Divergenz gestützt. Das BAG hat lediglich in zwei Fällen die Revision wegen Divergenz, in sieben Fällen wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen. 43 44

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eingelegten Nichtzulassungsbeschwerden die Zulässigkeitsschwelle nicht überwinden konnten. Bei den Nichtzulassungsbeschwerden wegen Divergenz hat das BAG an die für die Zulässigkeit zu beachtenden Formerfordernisse den gleichen strengen Maßstab angelegt, wie ihn das Gericht zur früheren zulassungsfreien Divergenzrevision entwickelt hatte 46 • Der Beschwerdeführer muß danach insbesondere darlegen, welche divergierenden abstrakten Rechtssätze die beiden Entscheidungen aufgestellt haben, daß diese Rechtssätze die Entscheidungen tragen und daß jedenfalls die angefochtene Entscheidung auf dem abweichenden Rechtssatz beruht47 • Diese Rechtsprechung erscheint zutreffend. Denn die Nichtzulassungsbeschwerde wegen Divergenz ist an die Stelle der bisherigen zulassungsfreien Divergenzrevision getreten, das neue Recht hat an den förmlichen Voraussetzungen für das Vorliegen einer Divergenz nichts geändert (§ 72 Abs. 1 Satz 2 ArbGG a. F. §§ 72 Abs. 2 Nr. 2 und 72 a Abs. 3 Satz 2 ArbGG n. F.) und durch die ArbGG-Novelle 1979 soll das BAG entlastet werden. Insofern besteht für das BAG in der Tat kein Grund, die in der Nichtzulassungsbeschwerde darzulegenden Anforderungen an die Divergenz herabzusetzen. Auf einer ähnlichen Linie liegt der erste Beschluß des BAG zur Zulassung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung einer Grundsatzrevision im Fall einer Streitigkeit über die Auslegung von Tarifverträgen (§ 72 a Abs. 1 Nr. 2 ArbGG) 48• Das BAG hat hier den gesetzlichen Begriff "Auslegung von Tarifverträgen" auf solche Rechtsfragen beschränkt, die der revisionsgerichtlichen Überprüfung zugänglich sind. "Auslegung von Tarifverträgen" bedeute daher nur die abstrakte Interpretation der zur Tarifanwendung notwendigen Rechtsbegriffe, nicht aber auch die Frage, ob das LAG einen Sachverhalt unter einen unbestimmten Rechtsbegriff des Tarifvertrages (im Rahmen seines dabei gegebenen Beurteilungsspielraums) zutreffend subsumiert habe. Bloße Subsumierungsfragen stellten keine "Auslegung von Tarifverträgen" i. S. von § 72 a Abs. 1 Nr. 2 ArbGG dar. Auch diese, nur auf den ersten Blick restriktiv anmutende Rechtsprechung ist im Grunde richtig. Die in§ 72 a Abs. 1 Nr. 1-3 ArbGG enthaltenen Einzelbegriffe müssen vom Sinn und Zweck der Nichtzulassungsbeschwerde her sowie von der Aufgabe der Revisionsinstanz her interpretiert werden.

48 Vgl. insbes. BAG AP Nr. 24 und 31 zu § 72 ArbGG 1953 Divergenzrevision sowlE' Grunsky, ArbGG, 2. Aufl., 1978, § 72 Anm. 44 ff. '•' Sou. a. die Beschlüsse des BAG vom 15.10.1979- NJW 1980, S. 312; vom 19. 11. 1979 - BB 1980, S. 212; vom 22. 11. 1979 - BB 1980, S. 212; vom 5. 12. 1979- 4 AZN- 41/79; vom 12. 12. 1979 - BB 1980, S. 371. 48 BAG NJW 1980, S. 1812.

Zur Neuordnung d. Revisionszuganges im arbeitsgerichtliehen Verfahren 663 2. Aufgrund der bisherigen Rechtsprechung des BAG zur Nichtzulassungsbeschwerde kann man davon ausgehen, daß für die angestrebte Entlastung des Revisionsgerichts entscheidender sein wird, wie sich die Zulassungspraxis der LAG vor allem wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache entwickelt. Nach früherem Recht hatten die von den LAG zugelassenen Grundsatzrevisionen zahlenmäßig keine wesentliche Rolle gespielt (1975: 22,5 v. H.). Dies wird sich naturgemäß ändern. Einmal weil unter den bisher zulassungsfreien Wertrevisionen auch viele Fälle mit grundsätzlicher Bedeutung waren. Zum anderen vielleicht auch deshalb, weil wegen des Wegfalls der Wertrevision ein gewisser Anreiz für die LAG gegeben sein könnte, die Grundsatzrevision- vor allem wegen der wirtschaftlichen Auswirkungen einer Entscheidung allein auf die Prozeßparteien- verstärkt zuzulassen. Insofern ist es nützlich, daß gleich beim "Start" des neuen Rechts das BAG Gelegenheit hatte, den Begriff der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Einklang mit der Rechtsprechung des BVerwG, des BFH und des BSG noch einmal zu präzisieren: Danach muß sich die grundsätzliche Bedeutung nach den Aufgaben des Revisionsgerichts der Wahrung der Rechtseinheit und der Rechtsfortbildung richten. Sie ist nur anzunehmen, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von einer klärungsfähigen und einer klärungsbedürftigen Rechtsfrage abhängt und diese Klärung entweder von allgemeiner Bedeutung für die Rechtsordnung ist oder wegen ihrer tatsächlichen (z. B. wirtschaftlichen) Auswirkungen die Interessen der Allgemeinheit oder eines größeren Teils der Allgemeinheit eng berührt48 • Es besteht kein Grund zur Annahme, die LAG würden diese Präzisierung durch das BAG nicht als Maßstab für ihre nach dem neuen Recht grundsätzlich durch das BAG nicht nachprüfbare "Zulassungsfreiheit" beachten, insbesondere sie könnten Grundsatzrevisionen zu großzügig zulassen. Eine rechtstatsächliche Untersuchung von Prütting50 in der ordentlichen Gerichtsbarkeit (allerdings vor der Änderung des Revisionsrechts in Zivilsachen) belegt, daß jedenfalls die Zulassungspraxis der OLG- von Ausnahmefällen abgesehen- maßvoll und zutreffend war. Dies läßt sich auch von der bisherigen Zulassungspraxis der LAG feststellen; denn die Zahl der eingelegten Revisionen hat sich im 1. Halbjahr 1980 gegenüber dem 1. Halbjahr 1979 halbiert (s. unter 3.). Sollten in Einzelfällen Revisionen trotz eindeutiger grundsätzlicher Bedeutung nicht zugelassen werden, so ist dieser "Fehler" aus revisionsrechtlicher Sicht dann korrigierbar, wenn sich die Rechtsfrage häufiger stellt. Entweder wird die Rechtsfrage von einem anderen LAG oder von einer anderen Kammer desselben LAG abweichend entschieden; dann 49

so

s. Fn. 48. (Fn. 4), S. 163 ff.

664

Otfried Wlotzke

wäre der Weg zum BAG über die Zulassung wegen Divergenz- cder bei Versagung - über die Nichtzulassungsbeschwerde gegeben. Oder aber bei gleicher Entscheidung in der Sache kann das andere Gericht wegen grundsätzlicher Bedeutung die Revision zulassen51 • 3. Ein verläßliches Votum darüber, ob das neue System des Revisionszugangs die angestrebte Entlastung des BAG bringen wird, ist zur Zeit noch nicht möglich. Allerdings liegen erste z,ahlen vor, die einen Erfolg der ArbGG-Novelle 1979 erwarten lassen: Während im 1. Halbjahr 1979 unter Geltung des früheren Revisionsrechts noch 692 Revisionen eingelegt wurden, reduzierte sich diese Zahl im 1. Halbjahr 1980 um fast 50 °/o auf 356 Revisionen. Außerdem überstieg erstmals seit vielen Jahren im 1. Halbjahr 1980 die Zahl der erledigten Revisionen diejenigen der im gleichen Zeitraum eingelegten Revisionen (401 zu 356), so daß das BAG Rückstände abbauen konnte. Abschließend läßt sich zweierlei sagen: Das neue Revisionsrecht wird dazu führen, daß sich das BAG stärker als bisher auf die Grundsatzfragen des Arbeitsrechts konzentrieren kann; dies wird gerade der Situation im Arbeitsrecht gerecht, das mehr als andere Rechtsgebiete durch die Rechtsprechung des BAG gestaltet und weiterentwickelt wird. Außerdem: Die Entwicklung des arbeitsgerichtliehen Revisionsrechts wird für längere Zeit zu einem Abschluß gekommen sein; denn die Grenzen der Beschränkung der Revisibilität arbeitsgerichtlicher Entscheidung dürften mit der ArbGG-Novelle 1979 erreicht sein.

51 So ist es in dem bekannten "Gurt-Fall" geschehen. Das LAG Berlin hatte den Anspruch nach § 1 LFZG verneint, die Revision aber nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen (vgl. DB 1979, S. 2281). Das LAG BadenWürttemberg hat den Anspruch gleichfalls verneint, die Revision aber wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen (Urteil vom 30. 8. 1979 - 9 Sa 48/79).

AUSWAHLRICHTLINIEN FÜR PERSONALMASSNAHMEN

Betriebsverfassungsrechtliche Bemerkungen unter besonderer Berücksichtigung der durch die elektronische Datenverarbeitung aufgeworfenen Probleme Von Wolfgang Zöllner Auswahlrichtlinien im Sinne des§ 95 BetrVG für Einstellungen, Versetzungen und Kündigungen1 haben bekanntlich nach zwei Richtungen rechtliche Bedeutung: Bei Einstellungen und Versetzungen kann der Betriebsrat im Fall eines Verstoßes nach§ 99 II Nr. 2 BetrVG seine Zustimmung verweigern und, wenn die Zustimmung nicht durch das Arbeitsgericht ersetzt wird, die Beendigung der etwa trotzdem durchgeführten personellen Maßnahme erzwingen, § 101 BetrVG. Bei Kündigungen kann der Betriebsrat auf den Auswahlrichtlinienverstoß einen Widerspruch gegen die Kündigung stützen, § 102 III Nr. 2 BetrVG. Die weiteren Folgen sind dann individualrechtlich: Der Arbeitnehmer kann den Weiterbeschäftigungsanspruch nach § 102 V BetrVG-2 erheben, und die Kündigung ist nach§ 1 II Satz 2 Nr.1 a und 2 a KSchG sozial ungerechtfertigt 3 • Auch wenn diese Sanktionen nur mittelbar wirken, ist die rechtliche Bedeutung von Auswahlrichtlinien für die Betriebe erheblich, und sie 1 Das Gesetz nennt auch die Umgruppierung, hingegen nicht die Eingruppierung. über diese Diskrepanz wird in der Literatur zu Recht gerätselt. Denn die Umgruppierung ist genau so wie die Eingruppierung im Regelfall ein Subsumtionsvorgang, mithin Auswahlproblemen in der Regel nicht unterworfen. Wenn für die Umgruppierung Ausnahmebeispiele gebildet werden (z. B. bei Galperin I Löwisch, § 95 Anm. 14), so überzeugt jedenfalls nicht, daß ähnliche Ausnahmen nicht ebenso bei der Eingruppierung denkbar sind. Versuche, Umgruppierungsrichtlinien als Durchführungs- oder als Verfahrensrichtlinien ein Betätigungsfeld zu verleihen (so z. B. bei Dietz I Richardi, § 95 Anm. 38 ff.), überzeugen noch weniger. Kritisch auch Kraft, GK, 2. Bearbeitung, § 95 Anm. 23, der Umgruppierungsrichtlinien zwar für zulässig, aber rechtlich weitgehend bedeutungslos hält. Ich gehe darauf nicht näher ein. 2 Zu diesem wie auch zu der Frage, ob es einen darüber hinausreichenden individualrechtliehen Anspruch auf Weiterbeschäftigung während des Kündigungsschutzprozesses gibt, vgl. G. Hueck, KSchG, 10. Aufl., Einleitung Anm. 125 ff. mit weiteren Angaben. 3 Der Richtlinienverstoß allein ohne form- und fristgerechten Widerspruch des Betriebsrats löst diese Wirkung jedenfalls nicht ohne weiteres aus. Zu der Frage, inwieweit ein Richtlinienverstoß auch ohne form- und fristgerechten Widerspruch des Betriebsrats in die Gesamtabwägung der Betriebsbedingtheit der Kündigung einzubeziehen ist, vgl. Hueck, KSchG, 10. Aufl., § 1 Anm. 73 ff.

666

Wolfgang Zöllner

ist um so einschneidender, je umfassender und präziser derartige Richtlinien ausgestaltet werden. Trotz ihrer rechtlichen Bedeutung bestehen über Auswahlrichtlinien noch zahlreiche Unklarheiten. Diese Unklarheiten haben die betriebliche Praxis bislang, wenn ich es recht sehe, nicht sonderlich beeinträchtigt. Schon aus praktischen Gründen hat es offenbar in den Betrieben nur wenige Richtlinien gegeben, und sie waren vielfach nicht sehr konkret'. Dieser Befund könnte sich grundlegend ändern durch die Einbeziehung der elektronischen Datenverarbeitung in den Bereich der personellen Entscheidungen. Sogenannte Personalinformationssysteme oder Personaldatensysteme speichern nicht nur eine Vielzahl von einzelnen Arbeitnehmerdaten und halten sie jederzeit verfügbar und zugänglich. Vielmehr erlauben sie durch Erstellung bestimmter Programme den raschen Abruf beliebiger Datenkombinationen. Sind dem Personaldatensystem sämtliche für personelle Entscheidungen relevanten Arbeitnehmerdaten eingegeben, kann die personelle Auswahlentscheidung im Extremfall sogar durch die EDV-Anlage gefällt oder es können durch die Anlage doch wenigstens bedeutsame Vorauswahlentscheidungen getroffen werden5. Soweit für personelle Auswahlentscheidungen das elektronische Datensystem mit Hilfe von Datenverarbeitungsprogrammen abgefragt wird, geschieht dies nicht individuell, sondern nach bestimmten Regeln. Damit stellt sich die Frage, inwieweit derartige Programme als Auswahlrichtlinien der Mitbestimmung nach § 95 BetrVG unterliegen. Diese Frage ist im Rahmen der Diskussion um die Mitbestimmung des Betriebsrats bei der Datenverarbeitung und Datenverwendung im Betrieb hochaktuell. Ihre Beantwortung ist ohne grundsätzliche Überlegungen zu Begriff und Inhalt der Auswahlrichtlinien nicht möglich. Andererseits hat die Entwicklung der Dogmatik zu § 95 BetrVG den Gegebenheiten der Datenverarbeitung Rechnung zu tragen. Die Kommentarliteratur zum BetrVG hat verständlicherweise bislang auf Erfahrungen in diesem Bereich noch kaum zurückgegriffen, wie schon ein Blick auf die beiden im Jahre 1979 erschienenen Kommentierungen zu § 95 BetrVG 4 Das ist eine Vermutung, die sich auf notwendigerweise ausschnitthafte Erkundigungen stützt. Eine rechtstatsächlich überzeugende Erhebung fehlt leider. Ausführliche Darstellungen von Auswahlrichtlinien finden sich bei Rehhahn, Auswahlrichtlinien nach dem BetrVG, BetrR 1972, 491 '(498 ff.); ders., Die Aufstellung von Auswahlrichtlinien nach dem Betriebsverfassungsgesetz, MitbestGespräch 1973, 30. Nützliche Hinweise für die Praxis auch bei Stege I Weinspach, Betriebsverfassungsgesetz, 3. Aufl., Erläuterungen zu§ 95, und bei Bobrowski I Gaul, Das Arbeitsrecht im Betrieb, 7. Aufl., Band 2,

s. 665-673.

Skeptisch zur Automatisierbarkeit der eigentlichen Personalentscheidung Anforderungen an eine Personaldatenbank aus der Sicht des Anwenders, in Reber (Hrsg.), Personalinformationssysteme, 1979, S. 444, 448. 5

Hentschel,

Auswahlrichtlinien für Personalmaßnahmen

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von SchlochauerG und Kraft 7 zeigt. In der datenverarbeitungsbezogenen Literaturs hingegen wird mitunter eine weitreichende Zustimmungsbedürftigkeit von Datenverarbeitungsprogrammen nach § 95 I BetrVG bejaht, ohne die grundsätzlichen dogmatischen Abgrenzungsfragen des Betriebsverfassungsrechts ausreichend zu entfalten. Konzeptionen über personelle Entscheidungszuständigkeiten geraten hier in den Sog von Datenschutzerwägungen, deren Integration in das Betriebsverfassungsrecht zwar ein legitimes rechtspolitisches Anliegen ist, de lege lata aber die Grundkonzeption des Gesetzes nicht verändern darf. Im folgenden wird versucht, zur Präzisierung der Anwendung von § 95 BetrVG auch unter dem Blickpunkt der durch die EDV intensivierten Problematik beizutragen.

I. Zum Begriff der Auswahlrichtlinien Was Auswahlrichtlinien sind, wird in der Literatur relativ unbestimmt umschrieben. Vielfach wird überhaupt nur zum Gegenstand und Inhalt der Richtlinien Stellung genommen, hingegen die ganz und gar vorrangige Frage nicht reflektiert, ob dem Begriff der Richtlinie selbst rechtliche Bedeutung zukommt. Zwar besteht kaum ein ernstlicher Zweifel, daß mit Richtlinien Regeln9 oder Regelungen10 gemeint sein sollen. Aber die Richtlinie ist schon nach allgemeinem Sprachgebrauch eine besondere Art von Regel. Die Wahl dieses Begriffs signalisiert daher, daß gerade nicht jede Auswahlregel oder -regelung unter § 95 BetrVG fällt, sondern nur Regeln oder Regelungen besonderer Art. Gegenüber dem Regel- oder Regelungsbegriff kann der Begriff der Richtlinie Einschränkungen nach zwei Richtungen bedeuten: (1) Einmal nach dem Grad der Bindung, den ein vorhandener Regelungsinhalt auslöst, und (2) zum andern nach dem zulässigen Ausmaß der Festlegung bindenden Inhalts. 1. Richtlinien als Regeln mit eingeschränkter Bindungskraft

Der Begriff der Richtlinie könnte zunächst zum Ausdruck bringen, daß die formulierte Regel keine ausnahmslose Bindung oder Beachtung heischt, sondern daß aus besonderen sachlichen Gründen von ihr abgewichen werden darf. In diesem Sinn findet sich der Gebrauch des Richtlinienbegriffs vielfach in der Verwaltungspraxis 11 • Ministerielle Richts In Kammann I Hess I Schlochauer, BetrVG 1979. 7 Kraft in GK, BetrVG, 2. Bearbeitung. 8 Vgl. etwa die Nachweise unten Fn. 27. 8 Von Regeln spricht etwa G. Hueck, KSchG, § 1 Anm. 135 a. 10 Von Regelungen spricht z. B. Galperin I Löwisch, § 95 Anm. 4. 11 Der Richtlinienbegriff hat in der Verwaltung selbstverständlich nicht durchgehend diesen Sinn. Zu seinen vielerlei Bedeutungen vgl. vor allem

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Wolfgang Zöllner

linien etwa haben ebensowenig wie Verwaltungsverordnungen echte Rechtsnormenwirkung, sie weisen vielmehr durch ihren Begriff bereits auf die schwächere Wirkung hin, daß in sachlich gebotenen Fällen Ausnahmen von ihrem Regelungsinhalt zulässig sind. Daß der Begriff der Richtlinie in § 95 BetrVG in diesem Sinn gemeint ist, erscheint wenig wahrscheinlich, weil sowohl § 99 II Nr. 2 BetrVG als auch § 102 III Nr. 2 BetrVG und§ 1 II Satz 2 KSchG die von ihnen geregelten Folgen schlicht an einen Verstoß gegen Auswahlrichtlinien knüpfen. Das wäre mit einer eingeschränkten Bindung in dem genannten Sinn praktisch nicht leicht zu vereinbaren. 2. Riebtlinien als Grundsatzregeln ohne Detailerfassung

a) Es liegt gegenüber der unter 1. dargelegten Deutung wesentlich näher, mit dem Richtlinienbegriff den zweiten möglichen Sinn zu verbinden: Daß Richtlinien die im Zuge personeller Maßnahmen erforderlich werdende Auswahl nicht in allen Einzelheiten regeln dürfen, sondern nur im Grundsätzlichen. In diesem Sinn etwa ist der Richtlinienbegriff in Art. 65 GG gebraucht. Der Bundeskanzler kann danach nur die Richtlinien der Politik bestimmen, aber nicht in die selbständige Leitung der einzelnen Bundesministerien und in die Eigenverantwortung der Bundesminister eingreifen. Der Richtlinienbegriff bedeutet unter dieser Sinngebung eine nicht unerhebliche Begrenzung des Regelungsinhalts zwar nicht dem grundsätzlichen Gegenstand nach, wohl aber, was die Einzelheiten möglicher Regelungen angeht. Er bietet gleichsam nur ein Recht zur Rahmenregelung ähnlich der Rahmengesetzgebungskompetenz12. Eine dritte mögliche Sinngebung des Richtlinienbegriffs ist nicht ersichtlich13. Da andererseits auch nicht angenommen werden kann, der Gesetzgeber habe diesen Begriff sinnlos verwendet, ist von der gekennzeichneten einschränkenden Bedeutung auszugehen. b) Danach unterliegen der Zustimmungsbedürftigkeit nach § 95 I BetrVG ebenso wie dem Initiativrecht nach Abs. 2 nur grundsätzliche Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968, insbesondere S. 311 ff. und 328 ff. sowie passim. Zu den Steuerrichtlinien H. W. Kruse, Steuerrecht, Bd. 1, Allgemeiner Teil, 3. Aufl., § 7 VIII. 12 Diese Parallele wird für die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers nach Art. 65 GG ausdrücklich gezogen bei Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, GG Art. 65 Anm. 2. In die gleiche Richtung geht die Auslegung auch bei v. Mangoldt I Klein, GG Art. 65 Anm. III 2 und v. Münch (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. 2, 1976, Art. 65 Anm. 7. 13 Auch Verwaltungsrichtlinien zur bindenden Eingrenzung von gesetzlich eingeräumtem Verwaltungsermessen dürfen dieses Ermessen nicht beseitigen, vgl. näher Ossenbühl, a.a.O. (Note 11), S. 325 ff.

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Regelungen, keine umfassenden detaillierten Regelungswerke. Dafür spricht neben dem Wortlaut mit aller Deutlichkeit die historische Entwicklung. Den Begriff der Richtlinien kannte schon das Betriebsrätegesetz von 1920, das in§ 78 Nr. 8 als Aufgabe des Betriebsrats die Vereinbarung von "Richtlinien über die Einstellung von Arbeitnehmern" vorsah. Die Literatur zum Betriebsrätegesetz14 verstand darunter lediglich Grundsätze, nach denen der Arbeitgeber bei der Einstellung zu verfahren hatte. Auch die Materialien zum BetrVG 1972 lassen erkennen, daß die Auswahlentscheidung des Arbeitgebers nicht durch die Auswahlrichtlinien bereits vorweggenommen werden darf 15 • Durch Richtlinien darf zwar das Auswahlermessen des Arbeitgebers in bestimmtem Umfang eingegrenzt, aber nicht beseitigt werden16• Selbstverständlich kann der Arbeitgeber auch detaillierte Regeln über personelle Maßnahmen aufstellen und mit dem Betriebsrat vereinbaren. Aber ob er den Betriebsrat an derartigen Regeln beteiligt, steht ihm frei, wie dieser auch kein Initiativrecht zur Aufstellung solcher Regeln hat. Daß eine andere Auffassung problematisch wäre, zeigt gerade der Blick auf die Datenverarbeitung. Ihr Einsatz im Personalwesen zwingt den Arbeitgeber, die Regelhaftigkeit von Personalentscheidungen gegenüber dem bei Schaffung des BetrVGs vorgestellten und vorstellbaren Umfang ganz erheblich auszubauen und zu präzisieren. Dieser Sachzwang kann indessen nicht zu einer konzeptionsverändernden Zuständigkeitsverschiebung führen. Nach derlGrundlwnzeption ldes 'BetrVG sind sowohl die Personalplanung als auch die eigentliche Personaleinzelentscheidung einem vollen Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats entzogen. Der darin liegende Kompetenzvorrang des Arbeitgebers in Personalangelegenheiten darf nicht als Folge der Einführung elektronischer Datenverarbeitung einfach entfallen. Damit wird nicht das wichtige Anliegen verkannt, daß die Arbeitnehmer nicht nur des Datenschutzes im Sinn der Verhinderung einer Weitergabe personenbezogener Daten an Dritte bedürfen, sondern vor allem auch des Schutzes vor unangemessener Datenverwendung durch den Arbeitgeber. Diesem Anliegen muß jedoch durch gesondert zu entwickelnde Rechtsregeln Rechnung getragen werden, nicht durch eine in ihrer Tragweite überschießende Interpretation einer Zuständigkeitsnorm. c) Diese Auslegung schränkt den Wortlaut nicht etwa ein, sondern nimmt lediglich die in der Literatur zum Teil vertretene erweiternde 14 Flatow I Kahn-Freund, Betriebsrätegesetz, 13. Aufl., S. 424. Weniger deutlich Feig I Sitzler, BRG, 11. und 12. Aufl., § 81 Anm. 1, S. 217. 15 Ausschußbericht zu BT-Drucksache VI/2729, S. 5. 16 Wie hier Kraft, GK, 2. Bearbeitung, § 95 Anm. 18, der freilich nur auf die Materialien, nicht auf den Begriff der Richtlinien selbst abstellt. Ähnlich wie Kraft auch Kammann I Hess I Schlochauer, § 95 Anm. 8.

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Wolfgang Zöllner

Auslegung zurück. Sie steht in vollem Einklang mit dem in den Materialien erklärten Zweck der gesetzlichen Regelung, mit Hilfe der Richtlinien zu einer Versachlichung von Personalentscheidungen beizutragen und sie transparenter zu machen17. d) Nur eine das arbeitgeberische Ermessen bei Personalentscheidungen nicht voll beseitigende Auslegung vermag letztlich auch die verfassungsrechtlichen Bedenken zu zerstreuen, die gegen die vom Gesetzgeber getroffene Regelung des§ 95 BetrVG erhoben worden sind 18 . Sehr mit Recht wird die Verfassungswidrigkeit des § 95 BetrVG verneintl 9, gleichzeitig aber betont, daß dies unter der Voraussetzung verfassungskonformer Auslegung stehe2°. Allerdings differieren die Vorstellungen darüber, welche Auslegung den Anforderungen der Verfassung genügt, erheblich. Im einzelnen können die dafür maßgeblichen Grundlinien hier nicht entwickelt werden. Es geht dabei vor allem um die Vertragsfreiheit im Sinn der zur Abschlußfreiheit gehörenden Freiheit der Partnerwahl21. Die Erhaltung dieser Freiheit ist von ganz besonderer Bedeutung nicht zuletzt auch im Hinblick darauf, daß man über den Kündigungsschutz die Lösungsfreiheit für den Arbeitgeber in erheblichem Umfang eingeschränkt hat und in der Rechtsprechung weiter einschränkt. Freilich hat diese Freiheit viele Facetten. Auch ist ihre Bedeutung und damit das Ausmaß ihres Schutzes von den Umständen abhängig, und zwar insbesondere von der Größe des Betriebes und der Bedeutung und Dignität des jeweiligen Arbeitsplatzes. e) Wo die Grenze zwischen der § 95 BetrVG unterfallenden Grundsatzregelung und der von ihm nicht erfaßten Detailregelung, die allein Sache des Arbeitgebers ist, liegt, mag im einzelnen sehr zweifelhaft sein. Die betriebliche Praxis wird jedoch mit der Grenzziehung ebenso zurechtkommen, wie die politische Praxis bei der Grenzziehung im Rahmen von Art. 65 GG. In Zweifelsfällen kann auch ein Blick auf Erfahrungen in Großunternehmen hilfreich sein. 17 Begründung zum Regierungsentwurf BT-Drucksache VII1786 S. 50. Wenn der Regelung in der Literatur gelegentlich noch weitgergehende Zwecke unterstellt werden, wie etwa bei Galperin I Löwisch, § 95 Anm. 1, wo angenommen wird, daß Betroffenen deutlich gemacht werden solle, warum eine Entscheidung so und nicht anders ausgefallen sei, so findet sich dafür in den Materialien oder im Text keine Stütze. 18 Vgl. insbesondere Herbert Krüger, Der Regierungsentwurf eines Betriebsverfassungsgesetzes vom 29. 1. 1971 und das Grundgesetz, 1972, S. 39 f., 66; Obermayer, DB 1971, 1723. 19 Galperin I Löwisch, § 95 Anm. 2; Dietz I Richardi, § 95 Anm. 4. 20 So insbesondere Dietz I Richardi, a.a.O.; etwas weniger betont Galperin I Löwisch, a.a.O. 21 Dazu z. B. Zöllner, Gutachten 52. DJT (1978), S. D 95 ff.

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Überschritten sind die durch den Begriff der Richtlinie gesetzten Grenzen etwa bei dem Beispiel von Löwisch22 , der annimmt, in einem optischen Unternehmen unterliege die Festlegung der für die Arbeitsplätze von Linsenschleifern erforderlichen Sehschärfe der Zustimmung des Betriebsrats nach § 95 I BetrVG, eine Auffassung, die auch noch unter einem anderen Gesichtspunkt problematisch ist23 • f) Viel diskutiert ist schließlich die Frage, inwieweit eine Gewichtung von Auswahlkriterien in Auswahlrichtlinien gemäß § 95 BetrVG in Betracht kommt. Konsens dürfte, jedenfalls weitgehend, darüber bestehen, daß Auswahlrichtlinien nicht nur die Kriterien nennen und festlegen dürfen, die bei Auswahlentscheidungen berücksichtigt werden sollen, sondern daß sie auch Aussagen zu ihrem Stellenwert bei der Abwägung machen können 24 • Mit der Maßgabe, daß der hohe Stellenwert der Eignung unangetastet bleibt, ist dieser Auffassung im Grundsatz zuzustimmen (zu den Sonderfragen hinsichtlich Kündigungsrichtlinien unten IV 3). Die Gewichtung muß aber so flexibel gehalten sein, daß sie dem Arbeitgeber einen relevanten Grad des Ermessens namentlich bei der Beurteilung der Eignung beläßt. In diesem Zusammenhang kann etwa für die Besetzung freier Stellen bei gleicher Eignung (deren Objektivierbarkeit vorausgesetzt) der Vorrang Betriebsangehöriger vorgesehen25 und es kann bei Beförderungen der Dauer der Betriebszugehörigkeit ein hoher Rang eingeräumt werden. Ob die Gewichtung der Auswahlkriterien zu einem Punktesystem entwickelt werden darf00, hängt davon ab, wie dieses Punktesystem gestaltet ist. Führt es zu einem geschlossenen, starren System ohne Ermessensspielraum, in dem die Auswahlentscheidung quasi zum Ergebnis einer Rechnung wird, ist der Richtlinienbegriff bei weitem überschritten. Ga~perin I Löwisch, § 95 Anm. 7. Vgl. unten II 2. 24 Vgl. z. B. Dietz I Richardi, § 95 Anm. 31; Fitting I Auffarth !Kaiser, § 95 Anm. 7; M. Weiss, Betriebsverfassungsrecht, 1978, § 95 Anm. 3 a; Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, 4. Aufl., § 239 V 2 ~S. 1209); Brill, BlStSozArb 1978, 165; Hunold, DB 1976, 102. Nützliche Hinweise dazu bei Bobrowski I Gaul, Das Arbeitsrecht im Betrieb, 7. Aufl., Band II, S. 671. 25 Zustimmend Galperin I Löwisch, § 95 Anm. 10; Dietz I Richardi, § 95 Anm. 31. Kritisch Reuter I Strecket, Grundfragen der betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmung, 1973, S. 41 ff., und vor ihnen schon Hanau, BB 1972, 453. Zur Problematik die interessanten Ausführungen von Gamillscheg zur seniority in Anmerkung zu EzA, § 95 BetrVG 1972 Nr. 1. 26 Ein solches System hat vor allem Philipp, BB 1972, 219 vorgeschlagen. Vgl. dazu auch Wünnenberg, DB 1956, 665. Die Zulässigkeit für Kündigungsrichtlinien wird grundsätzlich bejaht in BAG AP Nr. 1 zu § 95 BetrVG. Stark einschränkend die herrschende Lehre, vgl. Hueck, KSchG, 10. Aufl., § 1 Anm. 116 a und 139; Kraft, GK, 2. Bearbeitung,§ 95 Anm. 26; Kammann I Hess I Schlochauer, § 102 Anm. 8 und 27; Gift, ZfA 1974, 141; Wigo Müller, DB 1975, 2130. 22

23

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Wolfgang Zöllner

g) Für den Einsatz elektronischer Datenverarbeitung folgt aus diesen überlegungen, daß keinesfalls jedes Programm des Datenabrufs für personelle Entscheidungen, etwa für die Besetzung freier oder neugeschaffener Stellen, eine Auswahlrichtlinie darstellt, wie in der Datenschutzliteratur behauptet wird27 • Auswahlrichtlinien können nur die dem Programm zugrunde liegenden grundsätzlichen Leitlinien bilden, nicht die für ein Programm erforderliche Umsetzung auch von Details. Nur soweit das Programm über den Charakter einer Richtlinie nicht hinausgeht, etwa nur wenige grundsätzliche Datenkombinationen für eine Vorauswahl enthält, kann der Richtlinienbegriff erfüllt sein. Dies hängt jedoch von den konkreten Umständen ab. Vergleiche dazu im übrigen auch unten li 2. 3. Verhältnis zur Verbindlichkeitsintention

Nicht erforderlich zur Erfüllung des Richtlinienbegriffs im Sinn von

§ 95 I BetrVG und damit zur Auslösung des Mitbestimmungstatbestan-

des ist, daß der Arbeitgeber die von ihm aufgestellten oder aufzustellenden Regeln als verbindlich intendiert. Von ihm selbst aufgestellte Regeln könnten ihn gegenüber der Arbeitnehmerschaft ohnehin nur aufgrund zusätzlicher Tatbestände, etwa einer Betriebsübung oder des Grundsatzes der Gleichbehandlung, rechtlich binden. Um den Mitbestimmungstatbestand auszulösen, genügt es vielmehr, daß es sich um Regeln handelt, nach denen bei Auswahlproblemen im Betrieb verfahren werden soll. Andernfalls würde das Mitbestimmungsrecht allzu leicht durch einen entsprechenden Unverbindlichkeitsvorbehalt des Arbeitgebers wirkungslos gestellt werden können. Mißlich an dieser Auffassung mag sein, daß der Arbeitgeber dadurch gezwungen wird, eine eigentlich als unverbindlich gedachte Regel verbin~:l.lich zu machen, was keineswegs immer im Interesse der Arbeitnehmerseite zu liegen braucht. Indessen ist dies eine auch in anderen Zusamm~nhängen auftretende Konsequenz aus der Etablierung von Arbeitnehmermitwirkung an betrieblichen Entscheidungen, ohne die eine Mitbestimmung grundsätzlich nicht zu verwirklichen wäre. 4. Regelungen für Auswahlvorüberlegungen

In einem gewissen Zusammenhang mit dem zuletzt Dargelegten steht die Frage, ob Auswahlrichtlinien nur vorliegen, soweit Regeln zur Anwendung auf die zu treffende eigentliche Auswahlentscheidung bestimmt sind, oder schon dann, wenn diese Regeln mögliche Präferenzen nur andeuten, die zu fällende Auswahlentscheidung aber nicht bereits präformieren sollen. Wird etwa für Einstellungen oder Entlassungen 27 Vgl. etwa Gola I Hümmerich I Kerstan, Datenschutzrecht II, S. 114; Hümmerich, DB 1978, 1934; Kilian, JZ 1977, 486.

Auswahlrichtlinien für Personalmaßnahmen

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heranstehendes Personal unter bestimmten Aspekten analysiert, ohne daß es zu einer Auswahlentscheidung auch nur im Sinne einer Einengung des Kreises der Einzustellenden oder zu Entlassenden kommt bleiben also alle in Frage stehenden Arbeitnehmer weiterhin im Auswahlprozeß - , liegen Auswahlrichtlinien nicht vm-2 8 • Diese Frage läßt sich freilich auch noch unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensregelung aufwerfen. Dazu unten III 3 b).

II. Rechtsnatur der Auswahlrichtlinien Auswahlrichtlinien sind nach dem bisher Dargelegten Grundsatzregeln für personelle Auswahlentscheidungen. 1. Keine Rechtsnormen

Gleichwohl sind sie, auch wenn sie in einer Betriebsvereinbarung vereinbart werden - was nicht erforderlich ist, vielmehr kommt auch die einseitige Aufstellung durch den Arbeitgeber unter formloser Zustimmung des Betriebsrats als Betriebsabsprache in Betracht29 - keine auf das Einzelarbeitsverhältnis unmittelbar einwirkenden Rechtsnormen30, sondern begründen lediglich eine betriebsverfassungsrechtliche Rechtspflicht des Arbeitgebers zur Beachtung3 1• Hätten sie normative Wirkung im Einzelarbeitsverhältnis, wäre unverständlich, warum Rechtswirkungen eines Verstoßes in den §§ 95 II, 102 III BetrVG sowie § 1 II KSchG an den Widerspruch des Betriebsrats geknüpft sind32 • Keineswegs ist die 28 Wenn Hueck, KSchG, 10. Aufl., § 1 Anm. 139 ausführt, ein Punktesystem sei gegenüber der durch § 1 III KSchG vorgeschriebenen Sozialauswahl zulässig, sofern es lediglich einer Vorprüfung diene, so ist das zutreffend. Ein solches Punktesystem würde indessen nach der hier entwickelten Auffassung gerade keine Auswahlrichtlinie darstellen, weil es nicht auf die eigentliche Auswahlentscheidung anzuwenden ist, so daß ein Verstoß gerade nicht die in § 99 II oder § 102 II BetrVG normierten Wirkungen auslösen könnte. 29 Anders die ganz herrschende Meinung, jedoch ohne überzeugende Begründung. Kraft, GK, 2. Bearbeitung, Anm. 15 etwa verlangt analoge Anwendung von § 77 Abs. 2 BetrVG aus Rechtssicherheitsgründen. Dieses Bedürfnis ist indessen hier nicht größer als in vielen anderen Fällen der Betriebsabsprache. Ihm ist im übrigen mit schriftlicher Niederlegung der Richtlinien selbst Genüge getan, auf die aus praktischen Gründen nicht verzichtet werden kann. 30 Wie hier Kraft, GK, 2. Bearbeitung,§ 95 Anm. 12 ff.; Hanau, BB 1972,452. Anders Dietz I Richardi, § 95 Anm. 2 und Fitting I Auffarth I Kaiser, § 95 Anm. 2, die Abschluß- bzw. Beendigungsnormen annehmen. 31 Selbstverständlich handelt es sich nicht lediglich um Programmsätze, deren Verletzung keine Rechtswirkungen hat, so mit Recht Dietz I Richardi, § 95 Anm. 2. Überflüssig ist es hingegen, wegen dieser Rechtswirkung den Charakter betriebsverfassungsrechtlicher Normen anzunehmen, wie dies Dietz I Richardi, § 95 Anm. 17 tun. 32 Richardi, a.a.O., führt aus, daß "lediglich ihre Rechtswirkung" anders gestaltet sei als bei Inhaltsnormen einer Betriebsvereinbarung, läßt aber offen, warum dennoch echte Normen vorliegen sollen.

43 Festschrift f. G. Müller

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Annahme einer normativen Wirkung erforderlich, um auf die Kündigung § 77 V BetrVG anwenden zu können33• Denn selbstverständlich gilt diese Norm auch für rein schuldrechtlich wirkende Betriebsvereinbarungen. Erfolgt lediglich eine Betriebsabsprache, gelten die für die Kündigung dieser Rechtsform entwickelten Regeln34 • Entfällt eine normative Wirkung, ist es auch nicht glücklich, Erwägungen über eine Nachwirkung gekündigter Auswahlrichtlinien anzustellen35. Die Nachwirkung ist gerade deshalb verfehlt, weil es sich nicht um auf das Arbeitsverhältnis einwirkende Normen handelt. Es besteht auch kein nur irgendwie dringendes Bedürfnis für eine solche Nachwirkung. 2. Abstrakt-generelle Natur

Der Mangel unmittelbarer normativer Geltung im Einzelarbeitsverhältnis besagt nicht, daß Richtlinien auch dann vorliegen, wenn lediglich konkrete Einzelfälle mit ihnen geregelt werden sollen. Im einzelnen besteht über diese Frage noch keine volle Klarheit. Hueck 36 etwa formuliert, daß Auswahlrichtlinien Regeln seien, die losgelöst vom Einzelfall die Gesichtspunkte generell festlegen, nach denen bei einer personellen Maßnahme die Auswahlentscheidung getroffen werden soll. Fitting I Auffarth I Kaiser1 sprechen von objektiven Auswahlgrundsätzen sowie davon, daß solche Grundsätze allgemein oder für bestimmte Arten von Tätigkeiten oder Arbeitsplätzen festlegen, welche Voraussetzungen erforderlich sind oder nicht vorliegen dürfen. Mit Formeln dieser Art ist das Ausmaß der Loslösung vom konkreten Fall nicht eindeutig genug bezeichnet. Insbesondere bleibt offen, ob Richtlinien danach auch vorliegen, wenn der Arbeitgeber Grundsätze aufstellt, die für eine bestimmte Einstellungskampagne, ja vielleicht sogar nur für die nächste, einen einzelnen bestimmten Arbeitsplatz betreffende Personalmaßnahme Anwendung finden sollen. Konkrete Arbeitnehmer wären insoweit grundsätzlich nur bei Kündigungen betroffen. Wünschenswerte Deutlichkeit liegt hingegen bei Galperin-Löwisch38 vor, wenn dort verlangt wird, daß die aufzustellende Regelung für alle zukünftigen Fälle gelten solJ3 9 • Für diese Auffassung sprechen in der Tat gute Gründe. So aber Dietz I Richardi, § 95 Anm. 17. Dazu Dietz I Richardi, § 77 Anm. 164. 35 Dies tun Galperin I Löwisch, § 95 Anm. 17 und 25. 3G Hueck, KSchG, 10. Aufl., § 1 Anm. 135 a. 37 Fitting I Auffarth I Kaiser, 12. Aufl., § 95 Anm. 1. Ähnlich Kammann I Hess I Schlochauer, BetrVG § 95 Anm. 7. 38 Galperin I Löwisch, § 95 Anm. 4. Ausdrücklich die gegenteilige Auffassung, daß Richtlinien auch aus konkretem Anlaß (Betriebseinschränkung oder Betriebserweiterung) aufgestellt werden können, vertritt Kraft, GK, 2. Bearbeitung, Anm. 20. 33

34

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Insbesondere besteht bei Unterstellung auch nicht zukunftsbezogener Regelungen unter § 95 die Gefahr einer der Intention des Gesetzes widersprechenden, zu weit gehenden Einbeziehung konkreter Einzelumstände. Für den Einsatz der Datenverarbeitung bei Personalentscheidungen ergibt sich, daß Datenverarbeitungsprogramme, die für eine konkrete Auswahlentscheidung aufgestellt werden und nur für diese eine Entscheidung gefahren werden sollen, nicht der Mitbestimmung unterliegen40. An der abstrakt-generellen Natur fehlt es grundsätzlich bei der Ausschreibung konkreter Stellen. Auch soweit eine solche Ausschreibung

nicht lediglich die Aufgabe oder Tätigkeit des Stelleninhabers beschreibt, sondern die an den Bewerber zu stellenden Anforderungen mit aufführt, handelt es sich doch nicht, auch nicht partiell, um Auswahlgrundsätze, schon weil der überzeitliche Bezug fehlt. Der Betriebsrat kann daher nicht verlangen, daß Stellenausschreibungen seiner Zustimmung unterworfen werden41 • Allerdings darf der Arbeitgeber, wenn Einstellungsrichtlinien bestehen, in der Ausschreibung diese Richtlinien nicht mißachten. 111. Gegenstand der Auswahlrichtlinien Gegenstand der Auswahlrichtlinien sind Grundsätze für personelle Entscheidungen über die Auswahl unter mehreren in Betracht kommenden Betroffenen 1. Auswahlrichtlinien als reine Präferenzregeln Den Grundstock von Auswahlrichtlinien bildet meist eine Aufstellung derjenigen persönlichen Daten, die für Auswahlentscheidungen heranzuziehen sind oder nicht herangezogen werden dürfen. Auswahlrichtlinien legen die Kriterien fest, nach denen personelle Auswahlentscheidungen unter mehreren in Betracht kommenden Personen getroffen werden sollen42. 39 Nicht völlig eindeutig ist die Stellungnahme bei Kammann I Hess I Schlochauer, Anm. 7, daß es nach dem Gesetz auch zulässig sei, Richtlinien

für einen konkreten Fall aufzustellen. Das ist in der Tat nicht zu bezweifeln, die Frage ist nur, ob solche Regeln der Zustimmung bedürfen, und ob der Betriebsrat unter der Voraussetzung des § 95 II BetrVG ihre Aufstellung erzwingen kann. 40 In gleichem Sinn wohl Hümmerich I Gola, Personaldatenrecht im Arbeitsverhältnis, 1975, S. 145. 41 Ebenso Galperin I Löwisch, § 95 Anm. 4. 42 Hueck, KSchG § 1 Anm. 135 a. 43*

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a) Zu weit geraten ist deshalb die in der Kommentarliteratur zu findende Formulierung, unter Auswahlrichtlinien seien Grundsätze zu verstehen, die festlegen, welche Kriterien bei einem in Aussicht genommenen Arbeitnehmer vorliegen müssen oder nicht vorliegen dürfen, damit die personelle Maßnahme vorgenommen werden darf43 • Den Inhalt von Auswahlrichtlinien können immer nur Präferenzregeln bilden, nicht Maßnahmevoraussetzungen als solche. Deshalb gehört zu den Auswahlrichtlinien nicht die Normierung der Voraussetzungen einer Einstellung, Versetzung oder Kündigung. b) Für Kündigungsrichtlinien bedeutet das, daß sie nur hinsichtlich der Kündigung aus betrieblichen Gründen in Betracht kommen44 • Denn nur bei dieser Kündigung geht es um Auswahlprobleme. Hinsichtlich der verhaltensbedingten Kündigung können Auswahlprobleme allenfalls in dem seltenen Fall der sogenannten herausgreifenden Kündigung45 auftreten. Insoweit sind einer Normierung zugängliche Grundsätze indessen schwer denkbar. Demgegenüber hat vor allem Richardi46 die These zu begründen versucht, daß Auswahlrichtlinien auch für die personen- oder verhaltensbedingte Kündigung aufgestellt werden könnten. Er gibt zwar zu, daß bei diesen Kündigungen eine personelle Auswahl nicht stattfinde. Das schließe aber die Festlegung von Auswahlkriterien nicht aus. Denn ob sich in der Person des Arbeitnehmers oder in seinem Verhalten die Kündigung sozial rechtfertige, sei von Gesichtspunkten abhängig, die ihrerseits der Konkretisierung bedürften. Damit wird der Begriff der personellen Auswahl als Auswahl unter mehreren Personen uminterpretiert in einen Begriff der Auswahl unter verschiedenen die Kündigung "an sich" rechtfertigenden Tatsachen. Das scheint mir nicht nur den WorUaut der Norm zu wenig zu beachten, sondern vor allem dem Mitwirkungsrecht eine Dimension zu geben, die seinen Sinn verschiebt47 • Richardi will denn offenbar auch die Folgerungen aus seiner Auffassung abmildern, wenn er anschließend48 ausführt, das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats führe nicht dazu, daß eine ordentliche Kündigung auch dann ausgeschlossen werde, wenn sie nach dem KSchG sozial gerechtfer43 So etwa Kraft, GK, 2. Bearbeitung, § 95 Anm. 10; Kammann I Hess I Schlochauer, § 95 Anm. 4 und 7; Fitting I Auffarth I Kaiser,§ 95 Anm. 1. 44 So die ganz herrschende Meinung, vgl. vor allem Hueck, KSchG, 10. Aufl., § 1 Anm. 137 mit ausführlichen Angaben zum Meinungsstand.

Zu der Frage ihrer Zulässigkeit wird hier nicht Stellung genommen. Dietz I Richardi, § 95 Anm. 41; Gester I Zachert, Betriebsverfassungsrechtliche Elemente des allgemeinen Kündigungsschutzes, ArbRGegw Bd. 12 (1974) s. 87 (98). 47 Wie hier Hueck, KSchG, 10. Aufl., § 1 Anm. 137. Deutlich wird das an den Beispielen von Gester I Zachert, a.a.O. (Fn. 46), die sämtlich nicht Auswahlbedingungen, sondern andere Kündigungsbedingungen für personen- und verhaltensbedingte Kündigungen betreffen. 48 Dietz I Richardi, § 95 Anm. 42. 45

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tigt sei. Da man auf der anderen Seite den Richtlinien schwerlich eine kündigungserleichternde Funktion zuerkennen kann, würde damit ihre rechtliche Bedeutung insoweit letztlich auf Null reduziert. c) Anforderungsprofile. Daraus, daß Auswahlrichtlinien nur Präferenzregeln sein können, folgt als wesentliche Konsequenz auch, daß Anforderungsprofile nicht als Einstellungsrichtlinien der Mitbestimmung unterliegen, so lange sie nicht als Präferenzregeln aufgestellt und angewendet werden49 • Verlangt der Arbeitgeber beispielsweise für bestimmte Arbeitsplätze gewisse Mindest- oder Grundvoraussetzungen, ohne die eine Einstellung keinesfalls vorgenommen wird, etwa eine bestimmte Berufsausbildung oder eine festumrissene berufliche Erfahrung, so liegt insoweit keine Auswahlrichtlinie vor50 • Eine solche Regel kommt erklärtermaßen auch dann zum Zuge, wenn sich je Arbeitsplatz nur ein Bewerber meldet, eine Auswahl also gar nicht stattfinden kann, in der Hochkonjunktur ein keineswegs seltener Fall. Sie soll ferner auch Anwendung finden, wenn sich zwar mehrere Bewerber melden, keiner jedoch die geforderte Qualifikation erfüllt. Von Auswahlrichtlinien läßt sich demgegenüber nur sprechen, soweit jenseits grundsätzlich gestellter Anforderungen angegeben wird, nach welchen Gesichtspunkten zwischen mehreren aufgrund von Mindestanforderungen in Betracht kommenden Bewerbern ausgewählt werden soll. Nicht selten werden Anforderungsprofile so ausgestaltet sein, daß sie gleichzeitig als Präferenzregeln dienen, aber dies muß keineswegs so sein. Echte Anforderungsprofile unterliegen§ 95 BetrVG auch deshalb nicht, weil sie zu detailliert und differenziert sind, um dem Richtlinienbegriff zu entsprechen. Der eigentliche Sinn des Anforderungsprofils ist es, im einzelnen festzulegen, unter welchen Voraussetzungen ein Arbeitnehmer für einen bestimmten Arbeitsplatz geeignet ist. Bei dem hohen Stellenwert, der der Eignung für Personalentscheidungen zukommt, ist die für den Richtlinienbegriff erforderliche Wahrung des arbeitgeberischen Ermessens hier von besonderer Bedeutung. Es kommt hinzu, daß Elemente der Eignungsfeststellung der Zustimmung des Betriebsrats nach § 94 II BetrVG unterworfen sind, soweit nämlich dabei eine Beurteilung nach bestimmten Grundsätzen vorgenommen wird 51 • AllerMißverständlich deshalb Galperin I Löwisch, § 95 Anm. 7 und Fitting I Anm. 7, wo die Auswahlrichtlinienqualität von Anforderungsprofilen undifferenziert bejaht wird. 50 Darauf hat bereits Hunold, BB 1976, 98 (102) hingewiesen, der die Feststellung der Voraussetzungen eines Arbeitsplatzes zur Personalplanungsphase rechnet, Auswahlrichtlinien hingegen als für die Personalgewinnungsphase maßgeblich ansieht. Ähnlich Bobrowski I Gaul, Das Arbeitsrecht im Betrieb, 7. Aufl., Bd. II, S. 666. 51 Eine Klärung des schwierigen Begriffs der Beurteilungsgrundsätze kann ich an dieser Stelle nicht entwickeln. 49

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dingsist die Eignung für einen Arbeitsplatz als Ganzes nicht "Beurteilung" im Sinn dieser Norm, die Regelung ihrer Feststellung also auch keinBeurteihmgsgrundsatz. Sie ist ,aber auclJ. kein Grundsatz über die Auswahl, sondern immer schon Einzelregelung über die wesentlichste Determinante einer Einstellungs- oder Versetzungsentscheidung, vielfach auch einer Kündigung. Der Regelung durch zustimmungsbedürftige Auswahlrichtlinien zugänglich sind immer nur Grundsätze über die fachlichen und persönlichen Voraussetzungen, aus denen sich die Eignung zusammensetzen soll. Das arbeitgeberische Ermessen, ob ein Arbeitnehmer geeignet ist, muß dabei in relevantem Umfang erhalten bleiben. Dieses Ermessen ist um so bedeutsamer, je höher und je weniger objektivierbar die Anforderungen an den Inhaber eines Arbeitsplatzes sind. Insbesondere bedürfen Tätigkeiten, bei denen die Vertrauenskomponente eine wesentliche Rolle spielt, eines höheren Ermessensspielraums als untergeordnete Tätigkeiten. In Zusammenhang damit steht noch eine andere Überlegung. Könnte der Betriebsrat, etwa über § 95 II BetrVG, Mindestanforderungen für die Einstellung erzwingen, wäre die innerbetriebliche Etablierung von Besetzungsregeln wie den in der Druckindustrie tarifvertraglich zum Schutz gegen Abqualifizierung erstrebten möglich. Auch das spricht gegen die Auswahlrichtlinienqualität von Anforderungsprofilen. Die Auffassung, daß Anforderungsprofile keine Auswahlrichtlinien sind, bedeutet nicht, daß der Betriebsrat über Grundsatzfragen der Eignungsanforderungen nicht mitzubestimmen hätte, soweit sie dazu dienen sollen, zwischen mehr und weniger Qualifizierten auszuwählen. Auch für diesen Auswahlkonflikt soll die Transparenz erhöht und das Vertrauen in die Sachlichkeit der praktizierten Grundsätze durch die Regelung des § 95 BetrVG erhöht werden. Derartige Grundsätze dürfen aber nicht für jeden Arbeitsplatz oder jede Art von Arbeitsplatz aufgestellt und sie dürfen erst recht nicht zu differenzierten Anforderungsprofilen verdichtet werden. d) Anwendbarkeit von Auswahlrichtlinien nur auf echte Auswahlentscheidungen. Sind Auswahlrichtlinien ausschließlich Präferenzregeln,

so können sie nicht als absolute Mindestbesetzungsregeln wirken. Meldet sich für einen von Auswahlrichtlinien erfaßten Arbeitsplatz nur ein Bewerber und erfüllt dieser die Voraussetzungen der Richtlinien nicht, so kann der Arbeitgeber ihn dennoch einstellen, ohne daß der Betriebsrat der Einstellung nach § 99 II Nr. 2 BetrVG widersprechen dürfte 52 • 52 In dem Beispiel von Hunold, DB 1976, 103, Fn. 48 entfällt daher die von ihm befürchtete Möglichkeit für den Betriebsrat, die Zustimmung zu der vom Arbeitgeber vorgenommenen Einstellung zu verweigern.

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Das entspricht ganz der Situation bei Kündigungsrichtlinien, die niemals dahin wirken können, die Zahl der aus betrieblichen Gründen an sich kündbaren Arbeitnehmer zu reduzieren. 2. Materielle Kriterien als Gegenstand

Gegenstand der Auswahlrichtlinien sind jedenfalls die bei personellen Auswahlentscheidungen zu beachtenden fachlichen und persönlichen Voraussetzungen sowie sozialen Gesichtspunkte, denn daß das Zustimmungsrecht des § 95 Abs. 1 BetrVG sachlich weniger umfassen soll als das Initiativrecht nach Absatz 2, erscheint unter systematischen Überlegungen wenig überzeugend. Zwar wäre es rein vom Wortlaut her theoretisch denkbar, daß der in Abs. 2 ausgesprochene Rückbezug auf "Maßnahmen des Absatzes 1" nur die Begriffe Einstellung, Versetzung usw. erfassen sollte, hingegen nicht den Begriff der personellen Auswahl. Indessen erscheint es vom Inhalt her ausgeschlossen, daß der Gesetzgeber in Absatz 2 die Ermächtigung zu mehr als Auswahlrichtlinien geben wollte, etwa zur Aufstellung von zusätzlichen Kündigungsvoraussetzungen. Sieht man das systematische Verhältnis von Abs. 1 und Abs. 2 des§ 95 BetrVG so, daß Abs. 2 sachlich über Abs.1 nicht hinausreicht, so ist bereits unter textlichen Überlegungen klar, daß die Normierung fachlicher und persönlicher Voraussetzungen und sozialer Gesichtspunkte Gegenstand der Auswahlrichtlinien auch nach Abs. 1 sein kann. Erst recht gebieten sachliche Überlegungen dieses Ergebnis. Denn ohne Zweifel sind die genannten Umstände die wichtigsten, wenn nicht die einzigen Auswahlkriterien. 3. Gegenstandsuntersmiede zwisdlen § 95 Abs. 1 und 2 BetrVG

Unter systematisch-textlichen Überlegungen zwingend ist andererseits der Schluß, daß der vom Gesetz vorgesehene Gegenstand von Richtlinien nach Abs.1 umfassender ist als derjenige von Richtlinien nach Abs. 253 • Bei voller Kongruenz des Gegenstands der Richtlinien in Abs. 2 mit dem in Abs.1 hätte in Abs. 2 eine andere Wortwahl erfolgen müssen54 • Es hätte dann nicht nur nahegelegen, sondern wäre gesetzgeberisch zwinGrundsätzlich zustimmend Galperin I Löwisch, § 95 Anm. 26; Fitting I Anm. 4; Stahlhacke, BIStSozArb 1972, 51 (53). 54 Deshalb weckt die Formulierung von Dietz I Richardi, § 95 Anm. 5, Mißverständnisse, es handle sich zwischen Abs. 1 und Abs. 2 nicht um eine Verschiedenheit des Mitbestimmungstatbestands, sondern des Mitbestimmungsrechts. Unglücklich auch Kraft, GK, 2. Bearbeitung, § 95 Anm. 10, der in Form einer petitio principii die Inhaltsgleichheit von Abs. 1 und Abs. 2 zum Ausgangspunkt nimmt und daraus dann Folgerungen für die Reichweite des Initiativrechts in Abs. 2 zieht. Auch Hunold, DB 1976, 102, bejaht Inhaltsgleichheit und nimmt an, ein unterschiedlicher Sinn sei nicht erkennbar. 53

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gend geboten gewesen, in Abs. 2 von "Richtlinien nach Abs. 1" zu sprechen, statt verengende Merkmale hinzuzufügen. Ein gegenüber Abs. 2 weitergehender Inhalt von Auswahlrichtlinien ist nach zwei Richtungen denkbar. a) Skalen. Man könnte zunächst erwägen, ob ein Unterschied im Umfang des Regelungsgegenstandes zwischen Richtlinien nach § 95 Abs. 1 und Abs. 2 im Hinblick auf die Festlegung von sogenannten Skalen besteht. Darunter versteht man Regelungen über die anteilsmäßige Zusammensetzung der Belegschaft nach gewissen Merkmalen. In Betracht kommen insoweit vor allem Alter, Ausbildungs- und Gesundheitszustand55. Skalen dieser Art waren vor allem in der Weimarer Zeit relativ beliebt. Flatow I Kahn-Freund 56 nennen sie gerade als wesentlichen Gegenstand von Einstellungsrichtlinien nach § 78 Nr. 8 BRG 1920. In neuerer Zeit sind sie, auch in Tarifverträgen, immer seltener vereinbart worden. Für die Hebung der Gerechtigkeit der Arbeitsplatzverteilung wären sie indessen ein durchaus ernstzunehmendes Mittel 57 • Ich sehe keinen durchschlagenden Grund, sie als Gegenstand von Auswahlrichtlinien nach Abs. 1 nicht zuzulassen, jedenfalls was Einstellungsrichtlinien angeht. Für Versetzungsrichtlinien werden sie von der Sache her wenig in Betracht kommen. Für Kündigungsrichtlinien ergibt sich eine spezielle Problematik im Hinblick auf § 1 Ill KSchG (zu dieser unten IV 3). Allerdings muß auch bei Einstellungsskalen sichergestellt sein, daß sie das Entscheidungsermessen des Arbeitgebers nicht zu sehr einengen. Ich verkenne auch nicht, daß unter dem Aspekt des § 95 II Nr. 2 BetrVG Einstellungsrichtlinien problematisch sein können. Dies war jedoch unter dem BRG 1920 nicht anders. Auch dort konnte der Richtlinienverstoß auf Einspruch und Intervention des Betriebsrats hin zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses führen (vgl. §§ 82, 83 BRG 1920). Sind Skalen grundsätzlich als Auswahlrichtlinien im Sinn von § 95 I BetrVG möglich, so fragt sich, ob sie auch unter die dem Initiativrecht des Betriebsrats nach § 95 II unterliegenden Richtlinien fallen. Der Wort55 Inwieweit die Geschlechtszugehörigkeit mit Erlaß des Gesetzes über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen am Arbeitsplatz als Merkmal noch zulässig ist, erscheint zweifelhaft. Auch wenn man eine Vorschrift, die Belegschaft müsse hälftig aus Frauen und Männern zusammengesetzt sein, als mit Art. 3 GG vereinbar ansehen könnte, ergeben sich nunmehr Bedenken, weil nach der Regelung des Gleichbehandlungsgesetzes die einzelne Einstellungsentscheidung nicht mehr von der Geschlechtszugehörigkeit abhängig gemacht werden darf. Ich lasse die Frage hier offen. 58 Flatow I Kahn-Freund, BRG, 13. Aufl., § 81 Anm. 5, S. 424. 57 Näher zu dieser Problematik Zöllner, Sind im Interesse einer gerechteren Verteilung der Arbeitsplätze Begründung und Beendigung der Arbeitsverhältnisse neu zu regeln?, GutachtenD zum 52. DJT 1978, S. D 73 ff. und D 153 ff., D 161 f.

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laut steht dem nicht entgegen, weil die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Arbeitnehmergruppe (etwa der Ungelernten oder der über Fünfzigjährigen) durchaus als fachliche oder persönliche Voraussetzung qualifizierbar ist. Auch Zweckgesichtspunkte ergeben nichts anderes. b) Verfahrensregelungen. Ein Unterschied zwischen Abs. 1 und 2 des § 95 BetrVG könnte sich ferner im Hinblick auf sogenannte Verfahrensgrundsätze ergeben. Daß Richtlinien nach Abs. 1 solche Verfahrensgrundsätze umfassen, entspricht der wohl allgemeinen Meinung. Mit dem Wortlaut ist diese Auffassung ohne Frage vereinbar. In der Sache freilich bedarf sie der Präzisierung. (1) Das Auswahlverfahren selbst68 ist, mit der Maßgabe, daß dem Arbeitgeber das Letztentscheidungsrecht verbleiben muß, einer grundsätzlichen Regelung zugänglich. Dabei ist freilich zu beachten, daß die Einschaltung des Betriebsrats sowohl bei Einstellungen und Versetzungen als auch bei Kündigungen vom Gesetzgeber geregelt ist. Eine Abschwächung dieser Einschaltung durch Auswahlrichtlinien ist sicherlich nicht möglich; ebensowenig kann eine Verstärkung der Betriebsratsmitwirkung gegen den Willen des Arbeitgebers, etwa durch die Einigungsstelle, vorgesehen werden. Hingegen kann z. B. die Anhörung betroffener Arbeitnehmer durch Arbeitgeber und Betriebsrat vorgeschrieben werden 59• (2) Hingegen ist es problematisch, wenn zu den Auswahlrichtlinien im Sinn von§ 95 I BetrVG auch die Regelung des Verfahrens der Feststellung fachlicher und persönlicher Voraussetzungen gerechnet wird60 • Dagegen spricht zunächst schon, daß für die wichtigsten Verfahren dieser Feststellung, den Personalfragebogen sowie die Angaben in schriftlichen Arbeitsverträgen und das Zustandekommen von Beurteilungen in § 94 BetrVG eine Spezialregelung getroffen ist. Wenn dort eine Zustimmungspflicht normiert ist, geht das Gesetz offenbar davon aus, daß § 95 BetrVG eine Zustimmungspflicht bei den entsprechenden Regelungen nicht vorsieht. Hat es aber für diese Formen der Feststellung von Auswahlkriterien eine besondere Festlegung der Zustimmungspflicht für erforderlich gehalten, so kann das Verfahren der Feststellung anderer Auswahlkriterien nicht Gegenstand von Auswahlrichtlinien im Sinn von § 95 I BetrVG sein. 58 Dessen Regelung ist angesprochen etwa bei Hueck, KSchG § 1 Anm. 138; M. Weiss, Betriebsverfassungsrecht, § 95 Anm. 3 a. 59 Hueck, a.a.O. 60 So z. B. bei Fitting I Auffarth I Kaiser, § 95 Anm. 7 a; Galperin I Löwisch, § 95 Anm. 11; Hanau, BB 1972, 452. Mit erheblichen Einschränkungen Bobrowski I Gaul, Das Arbeitsrecht im Betrieb, 7. Aufl. Bd. II, S. 668 f.

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Das Verfahren der Ermittlung von Auswahlkriterien zu Auswahlrichtlinien zu erheben, ist auch von der Sanktion her problematisch. Es erschiene wenig glücklich, Verstöße gegen solche in zahlreicher Gestalt denkbare Verfahrensvorschriften mit den Sanktionen der Unwirksamkeit der Maßnahme bei Betriebsratswiderspruch und mit der Weiterbeschäftigungspflicht zu versehen, wenn materiell die getroffene Entscheidung in Ordnung ist. (3) Nicht zum durch Auswahlrichtlinien regelbaren Verfahren gehört auch die Frage, wie ermittelte Personaldaten zu speichern sind. Daher unterliegt die Frage, ob Arbeitnehmerdaten einer Datenverarbeitungsanlage zugeführt werden dürfen, nicht der Mitbestimmung gemäß § 95 BetrVG. (4) Sind verfahrensrechtliche Grundsätze in bestimmtem, wenn auch nicht in dem von der herrschenden Lehre angenommenen Umfang Gegenstand von Auswahlrichtlinien nach§ 95 Abs. 1 BetrVG, so stellt sich die Frage, ob insoweit eine Differenz zu Abs. 2 besteht, d. h. ob diese Verfahrensregelungen vom Initiativrecht nach Abs. 2 nicht umfaßt werden. Für diesen Unterschied sprechen nicht nur die systematischen Vberlegungen, die auf einen substantiellen Unterschied zwischen Abs. 1 und 2 hindeuten, sondern auch der Wortlaut. Regelungen über das bei Auswahlentscheidungeneinzuhaltende Verfahren in dem oben unter (1) dargelegten Sinn sind nun einmal nicht Richtlinien über die bei solchen Entscheidungen zu beachtenden fachlichen und persönlichen Voraussetzungen. Man tut dem Wortlaut Gewalt an, wenn man ihn auch darauf erstreckt. Daher sind Grundsätze über das Auswahlverfahren nicht Gegenstand von Richtlinien nach§ 95 II BetrVG61 • IV. Inhaltliche Grenzen für Auswahlrichtlinien

Bereits nach den bisherigen Darlegungen unterliegen Auswahlrichtlinien im Sinn von § 95 BetrVG einer ganzen Reihe von Grenzen (vgl. dazu die Zusammenfassung unten V 1- 5). Auch wenn indessen der Richtliniencharakter ebenso wie der abstrakt-generelle Charakter gewahrt und ein zulässiger Gegenstand gewählt ist, kommen noch weitere Grenzen in Betracht. 1. Gesetzliche Grenzen

Ganz selbstverständlich ist, daß Auswahlrichtlinien nicht gegen das Gesetz verstoßen dürfen. Dazu gehört insbesondere, daß sie die Diskriminierungsverbote der Verfassung und des EG-Rechts beachten müssen. Auswahlrichtlinien dürfen auch die Vertragsfreiheit der Arbeitsver61

So mit Recht Galperin I Löwisch, § 95 Anm. 26.

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tragspartner nicht über Gebühr einschränken. Jede Einschränkung unterliegt vielmehr dem Grundsatz der Erforderlichkeit ebenso wie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkei~ 2 • Das .gilt ganz besonders für die Abschlußfreiheit. Deshalb ist eine Bestimmung unzulässig, die nur die Einstellung solcher Arbeitnehmer zuläßt, die sich auf eine Ausschreibung hin beworben haben63 • Dergleichen kann man allenfalls im öffentlichen Dienst vorsehen, aber nicht für die Privatwirtschaft. Taucht etwa nach Abschluß eines Ausschreibungsverfahrens ein geeigneter Kandidat auf oder ist ein Kandidat zur Hand, der sich nicht bewerben will, so kann ihn gleichwohl der Arbeitgeber von sich aus in die Konkurrenz einbringen. Selbstverständlich darf er, wenn ein Ausschreibungsverfahren etabliert ist, - was zulässig ist -, den Nichtbewerber nicht einfach den übrigen vorziehen, sondern muß ihn mit allen erforderlichen Daten in das Auswahlverfahren einbringen. 2. Tarifvertragliche Regelungen

Auch tarifvertragliche Regelungen gehen Auswahlrichtlinien vor. Daß die Auswahlrichtlinie generell als günstigere Regelung gemäß § 4 III TVG gegenüber dem Tarifvertrag Bestand hat, wird, wenn überhaupt, nur selten in Betracht kommen, wie allerdings auch das Konkurrenzproblem als solches sich derzeit nur ganz gelegentlich stellen wird, weil Präferenzregelungen für Tarifverträge derzeit nur ausnahmsweise ein Thema sind. Immerhin darf aber eine Auswahlrichtlinie z. B. nicht tarifvertragliche Kündigungsverbote ignorieren. 3. Kündigungsauswahlrichtlinien und § 1 Abs. 3 KSchG

Höchst zweifelhaft und umstritten ist das Verhältnis zwischen Auswahlrichtlinien für betriebsbedingte Kündigungen und dem Erfordernis sozialer Auswahl bei der Kündigung gemäß § 1 Abs. 3 KSchG. Es geht dabei um die Frage, ob und inwieweit das Prinzip der sozialen Auswahl bei betriebsbedingter Kündigung einer inhaltlichen Festlegung oder Modifizierung durch Auswahlrichtlinien zugänglich ist. a) Vorrang der Auswahlrichtlinien. Die rechtlich klarsten Verhältnisse böte eine Auffassung, die den betriebsverfassungsrechtlichen Auswahlrichtlinienden Vorrang vor dem Auswahlerfordernis des§ 1 Abs. 3 KSchG einräumen würde. Für einen solchen Vorrang könnte sprechen, 62 Die Anwendung dieser Grundsätze auf die Regelungstätigkeit der Betriebspartner ist nicht etwa deshalb ausgeschlossen, weil die betrieblichen Regelungsinstrumente als solche dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen (dazu vor allem Kreutz, Grenzen der Betriebsautonomie, 1977, S. 240 ff.). Die Verhältnismäßigkeit der Rechtsinstitution besagt noch nichts über den verhältnismäßigen Gebrauch im Einzelfall. 63 So aber Dietz I Richardi, § 95 Anm. 22; Hanau, BB 1972, 453.

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daß einerseits § 95 II BetrVG ausdrücklich auch für Kündigungsauswahlrichtlinien die Einbeziehung der zu beachtenden sozialen Gesichtspunkte erlaubt, und daß andererseits der Richtlinienverstoß (verbunden mit rechtzeitigem Widerspruch des Betriebsrats) zum selbständigen und gesetzessystematisch gegenüber dem allgemeinen Erfordernis sozialer Auswahl vorrangigen Unwirksamkeitsgrund für die ordentliche Kündigung erhoben ist. Diese gesetzliche Vorrangstellung in§ 1 KSchG, die es zu einer Prüfung der sozialen Auswahl gar nicht kommen läßt, wenn bereits gegen eine Auswahlrichtlinie verstoßen ist und ein entsprechender Widerspruch des Betriebsrats erfolgt ist, könnte durchaus eine Interpretation tragen, die das Prinzip der sozialen Auswahl nur in dem von den Auswahlrichtlinien freigelassenen Raum zum Zuge kommen ließe. Eine solche Interpretation läge um so näher, als die nach § 1 II 2 KSchG maßgeblichen Richtlinien allgemeiner Auffassung nach nur Auswahlrichtlinien sein können64 • Nach dieser Interpretation würde das gesetzliche Erfordernis sozialer Auswahl gemäß § 1 III KSchG nur eingreifen, soweit Auswahlrichtlinien entweder überhaupt nicht bestehen oder soweit sie dem Arbeitgeber einen eigenen Entscheidungsraum belassen, indem sie etwa bestimmte Auswahlfragen gar nicht regeln. Denkbar wäre eventuell auch, daß das gesetzliche Erfordernis sozialer Auswahl insoweit eingreift, als Auswahlrichtlinien dem Arbeitgeber einen Ermessensspielraum belassen. b) Vorrang von § 1 Abs. 3 KSchG. Die herrschende Lehre65 und das Bundesarbeitsgericht66 entscheiden umgekehrt, indem sie, rechtstheoretisch ohne volle t.lberzeugungskraft, darauf hinweisen, das Prinzip der sozialen Auswahl nach § 1 III KSchG habe Gesetzesrang, die Auswahlrichtlinien hingegen seien allenfalls betriebliche Normen und deshalb, als im Rang unter einem zwingenden Gesetz stehend, diesem unterwor84 Hingegen überzeugt es nicht, daß bei Annahme eines Vorranges der Regelung in § 1 III KSchG vor Auswahlrichtlinien auch tarifvertragliche oder sonstige im Rang unter dem Gesetz stehende Unkündbarkeitsregelungen als obsolet betrachtet werden müßten, wie Gamillscheg, Anm. zu EzA, § 95 BetrVG 1972, Nr. 1 erwägt (ähnlich auch M. Weiss, Betriebsverfassungsrecht, § 95 Anm. 3 d, S. 287). Das Prinzip der Sozialauswahl greift schon von seinem Tatbestand her nur zwischen ordentlich kündbaren Arbeitnehmern ein. Zur Unterscheidung wie hier G. Hueck, KSchG, 10. Aufl., § 1 Anm. 139 am Ende. 65 Vgl. Dietz I Richardli, § 95 Anm. 42; Fitting I Auffarth !Kaiser,§ 95 Anm. 7; Galperin I Löwisch, § 95 Anm. 13; Gnade I Kehrmann I Schneider,§ 95 Anm. 7; Hueck, KSchG, 10 Aufl., § 1 Anm. 136; Kammann I Hess I Schlochauer, § 95 Anm. 26; Kraft, GK, 2. Bearbeitung, § 95 Anm. 25 f.; Stahlhacke, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 3. Aufl. 1977, Rz. 323; Gumpert, BB 1972, 49; Meisel, Die Mitwirkung und Mitbestimmung des Betriebsrats in personellen Angelegenheiten, 4. Aufl. 1974, S. 173; Gift, ZfA 1974, 138 ff. Kritisch Zöllner, GutachtenD für den 52. DJT, S. 78 ff. und 157 ff. 66 BAG AP Nr. 1 zu § 95 BetrVG 1972 mit zustimmender Anmerkung von G. Hueck = EzA § 95, BetrVG 1972 Nr. 1 mit kritischer Anmerkung von

Gamillscheg.

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fen. Das führt zu beträchtlichen Schwierigkeiten und Unklarheiten bei der Anwendung. Deshalb wird von einigen, die dieser Auffassung folgen, den Kündigungsrichtlinien sachlich ein nur ganz geringes Betätigungsfeld eingeräumt. Kraft61 etwa bemerkt ausdrücklich, daß die Aufstellung genereller Kündigungsauswahlrichtlinien unpraktikabel sein dürfte, daß eventuell an einen Katalog von Gesichtspunkten zu denken wäre, die der Arbeitgeber bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen habe, daß aber bereits die Gewichtung der Kriterien kaum mehr generell vorgenommen werden könne. GiftfiS meint zwar, es sei zu eng, Kündigungsauswahlrichtlinien für praktisch bedeutungslos zu halten. Im wesentlichen indessen vermag er als sinnvoll und möglich nur Richtlinien über das bei der Prüfung sozialer Gesichtspunkte zu beachtende Verfahren zu nennen. Das ist indessen, wie bereits dargelegt, aus einer Reihe von Gründen problematisch, die Gift nicht eigens untersucht. Darüber hinaus geht es zu weit, vom Ausgangspunkt der Überordnung des § 1 III KSchG her den Richtlinien die Möglichkeit zu eröffnen, die Pflichten des Arbeitgebers zur sachgerechten Ermittlung der sozialen Umstände für die Kündigungsauswahl verbindlich zu gestalten. Erst recht wäre es prekär, einem Verfahrensverstoß bei der Ermittlung sozialer Auswahlkriterien die Qualität eines selbständigen Sozialwidrigkeitsgrunds nach § 1 II Satz 2 KSchG zu verleihen, wenn die Auswahl im sachlichen Ergebnis den Anforderungen des § 1 III KSchG entspricht. Zu wenig konkret dürften schließlich auch andere in der Literatur zu findende Formeln sein, wie etwa die, daß Sozialdaten durch Kündigungsauswahlrichtlinien "in ihrer Bedeutung für die besonderen Verhältnisse des konkreten Betriebs, auch im Hinblick auf die spezifische soziale Struktur der Belegschaft verdeutlicht und in ein bestimmtes Verhältnis zueinander gebracht" werder. könnten69 • Und vollends mißlich ist es, wenn den Kündigungsauswahlrichtlinien nur die Funktion einer die gerichtliche Entscheidungstätigkeit vorausnehmenden Konkretisierung der Generalklausel über die soziale Auswahl in § 1 III KSchG zugewiesen wird, wie dies in der Literatur70 vielfach geschieht und vor allem vom BAG 71 angenommen wird. Das BAG behauptet, die Bedeutung der Auswahlrichtlinien liege darin, "daß sie unter Beachtung der Besonderheiten des jeweiligen Betriebes eine Vorausplanung zulassen, nach welchen Auswahlkriterien bei notwendig werdenden Kündigungen zu verfahren ist". Man wischt sich die Augen: Der Arbeitgeber 67 68

Kraft, § 95 Anm. 25. Gift, Mitbestimmung und soziale Auswahl zu Entlassender, ZfA 1974.

123 (139). 6 9 So G. Hueck, KSchG, 10. Aufl., § 1 Anm. 139. 70 So z. B. Galperin I Löwisch, § 95 Anm. 13. n Oben Fn. 66.

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im vom Gericht entschiedenen Prozeß war ja offenbar gerade nicht in der Lage, mittels der von der Einigungsstelle aufgestellten Richtlinien vorauszuplanen. Eine solche Vorausplanung ist vom Standpunkt des BAG aus gerade nur dann möglich, wenn die Richtlinien die spätere Rechtsmeinung der Arbeitsgerichtsbarkeit zur Abwägung sozialer Kriterien richtig prophezeien. Insoweit würde der Arbeitgeber unter Umständen besser daran tun, Rechtsrat einzuholen, statt sich mit seinem Betriebsrat zu einigen. c) Auswahlrichtlinien und Regelungsspielraum. Demgegenüber muß mit aller Klarheit gesagt werden, daß Kündigungsauswahlrichtlinien nur sinnvoll erscheinen, wenn sie (zumindest auch) materiellen Charakter haben und einen sachlichen Spielraum der Gestaltung von einiger Relevanz haben. Verneint man einen solchen Spielraum, wäre die Möglichkeit zwingender Entscheidung der Einigungsstelle kaum tragbar 72 • Auch das BAG scheint letztlich sich mindestens abstrakt vorzustellen, daß § 1 III KSchG für die Auswahldchtlinien nur einen "Rahmen", wie es ausdrücklich sagt, setzt, innerhalb dessen sich die Auswahlrichtlinien bewegen können. Im Zusammenhang mit seinen Ausführungen durfte das BAG es aber nicht unterlassen darzulegen, in welchem Umfang und in welcher Richtung Spielraum für die Ausgestaltung von Kündigungsauswahlrichtlinien besteht. Ein solcher Spielraum läßt sich vom Boden der herrschenden Lehre., daß § 1 III KSchG den Auswahlrichtlinien übergeordnet ist, nur eröffnen, wenn man annimmt, daß die Konkretisierung des Erfordernisses sozialer Auswahl bei betriebsbedingter Kündigung nicht zu in jeder Situation jeweils nur singulären Lösungen führt, sondern daß dafür auf Betriebsebene ein Beurteilungsspielraum besteht, der mindestens in vielen Fällen mehrere verschiedene Lösungen als dem Prinzip der sozialen Auswahl entsprechend zuläßt. Unter einem solchen Ermessen für den Begriff der sozialen Auswahl, das sich auch als Beurteilungsermessen73 kennzeichnen ließe, wäre es z. B. denkbar, daß bei erforderlicher Auswahl eines zu Entlassenden aus vier Arbeitnehmern A, B, C und D jeder dieser vier gemäß § 1 III KSchG wirksam gekündigt werden könnte, A, weil er der Jüngste, B, weil er der einzige Ledige, C, weil er der Wohlhabendste ist, und D, weil seine Frau gut verdient. In der Tat würde ich den Richter bewundern, der ohne Hinzutreten weiterer Umstände 72 Dabei wird nicht verkannt, daß die Einigungsstellen gelegentlich auch Rechtsentscheidungen ohne Entscheidungsspielraum zu treffen haben (vgl. dazu etwa Thiele, GK, 2. Bearbeitung, § 76 Anm. 10- 12). Indessen handelt es sich insoweit um ausnahmsweise und der sachlichen Reichweite nach sehr begrenzte Zuständigkeiten. 78 Zum Beurteilungsermessen vgl. Wolff I Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Auf!., § 31 I c und II mit zahlreichen Nachweisen.

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jeweils genau wüßte, welche Entlassung die sozialere ist. Letztlich wäre die Verneinung jeglichen Beurteilung~rmessens angesichts der Unbestimmtheit des Begriffs der sozialen Auswahl kaum tragbar74• Gleichwohl steht die herrschende Lehre verbal auf dem Standpunkt, der Arbeitgeber habe bei der Beurteilung und Abwägung sozialer Daten kein Ermessen75 • Demgegenüber verwundert es, daß die Vertreter dieser Auffassung nicht einmal für typische Tatbestände Präferenzregeln angeben, sondern allenfalls für krasse Diskrepanzen. Auch die Rechtsprechung bietet wenig verallgemeinerungsfähiges Material. Letztlich läuft daher die Verneinung arbeitgebensehen Ermessens darauf hinaus, daß auf die Gesamtabwägung aller Umstände im konkreten Einzelfall verwiesen wird. Das vermag nicht zu überzeugen. Daß dem Arbeitgeber ein Ermessen eingeräumt ist, ergibt sich mit hinreichender Deutlichkeit aus dem Gesetzestext. Es heißt in § 1 III 1 KSchG nicht, daß die Kündigung sozial ungerechtfertigt ist, wenn die getroffene Auswahl sozialen Erfordernissen nicht entspricht. Vielmehr stellt das Gesetz lediglich darauf ab, ob soziale Gesichtspunkte überhaupt nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt worden sind. Das läßt sich vorrangig so deuten, daß gerade keine vollständige und umfassende Würdigung aller sozialen Gesichtspunkte zu erfolgen hat, sondern eben nur eine ausreichende. Es darf nicht so ausgewählt werden, daß die Auswahl eklatant unsozial wäre. Innerhalb des dadurch eröffneten, keineswegs kleinen Rahmens können sich Kündigungsauswahlrichtlinien bewegen. Es ist übrigens auch im Gesamtinteresse wünschenswert, wenn die Auswahlprinzipien in den einzelnen Betrieben unterschiedlich gestaltet sind, weil dadurch bei Beschäftigungsrückgang auf dem Arbeitsmarkt nicht dieselben Arbeitnehmergruppen gleichsam von allen Seiten her arbeitslos werden und weil dadurch eine bessere Chancenverteilung auf dem Arbeitsmarkt gewährleistet ist76 • V. Zusammenfassung 1. Auswahlrichtlinien müssen die durch den Richtlinienbegriff und den Gesamtzusammenhang vorgegebene Grenze einhalten, d. h. nur Grundsatzregelungen aufstellen, die dem Arbeitgeber ein ausreichendes Entscheidungsermessen belassen (dazu oben 1).

So ausführlich Zöllner, Gutachten 52. DJT, S. D 158 f. So ausdrücklich Gift, ZfA 1974, 129; Auffarth I Müller, KSchG § 1 Anm. 242; Rohlfing-Rewolle KSchG § 1 Anm. 23e; BAG AP Nr. 15 zu § 1 KSchG 1951, Betriebsbedingte Kündigung. Im Grundansatz auch Hueck, KSchG, § 1 Anm. 127, der freilich ein Arbeitgeberermessen wenigstens für den Fall unüberprüfbar sein lassen will, daß die Verhältnisse der Arbeitnehmer nur ganz geringfügig voneinander abweichen. Weitere Nachweise zum Ganzen bei Hueck, a.a.O. 76 Vgl. Zöllner, Gutachten 52. DJT, S. D 159. 74

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2. Sie müssen abstrakt-generelle Geltung haben, d. h. auch für zukünftige Fälle anwendbar sein (darüber unter II). 3. Zulässiger Gegenstand ist einmal die Aufstellung materieller (inhaltlicher) Präferenzregeln für Auswahlentscheidungen. Dabei geht es um fachliche, persönliche und soziale Umstände der Präferenzzuerkennung. Zu diesen Regeln gehören auch Skalen. 4. Keine Auswahlrichtlinien sind Regeln, die spezielle Voraussetzungen für die Besetzung der einzelnen Arbeitsplätze aufstellen, wie insbesondere Anforderungsprofile. 5. Zu den Auswahlrichtlinien nach § 95 Abs. 1 zählen auch Regeln über das Verfahren der personellen Auswahl, jedoch nicht des Verfahrens zur Ermittlung oder Gewinnung materieller Präferenzvoraussetzungen. Für diese gilt als Mitbestimmungstatbestand abschließend § 94 BetrVG. Dem Initiativrecht nach§ 95 II BetrVG unterliegen Verfahrensregelungen nicht. 6. Auswahlrichtlinien müssen die durch übergeordnete Rechtsnormen festgelegten Grenzen einhalten. Dazu gehören insbesondere Diskriminierungsverbote, aber auch der verfassungsrechtlich geschützte Bereich der Vertragsfreiheit, namentlich der Abschlußfreiheit, ferner tarifvertragliche Regelungen. 7. Kündigungsauswahlrichtlinien haben gegenüber § 1 III KSchG einen eigenen relevanten Regelungsbereich. Er wird dadurch eröffnet, daß § 1 III KSchG entgegen der herrschenden Lehre dem Arbeitgeber einen beträchtlichen Beurteilungsspielraum beläßt. Dieser Spielraum kann durch Kündigungsauswahlrichtlinien eingeengt werden.

11. Übergreifende Probleme und Grenzbereiche des Arbeitsrechts

DIE FAMILIENANGEHÖRIGEN ARBEITNEHMER IM ÖSTERREICHISCHEN ARBEITS-, SOZIALVERSICHERUNGS- UND STEUERRECHT Von Hans Floretta I. Einleitung Die gegenständliche Arbeit soll eine kurze Darstellung der rechtsdogmatischen und rechtshistorischen Probleme der famHienangehörigen Arbeitnehmer im Österreichischen Arbeits-, Sozialversicherungs- und Steuerrecht geben. Dabei stehen im Zentrum dieser Untersuchung der Arbeitnehmer-Ehegatte sowie das Arbeitsverhältnis der nächsten Verwandten und Verschwägerten des Arbeitgebers. Da sich auch das Bundesarbeitsgericht der Bundesrepublik Deutschland mit solchen Problemen befaßt hat, soll die gegenständliche Arbeit dem Jubilar gewidmet werden. 11. Anerkennung der Familienangehörigen-Arbeitsverhältnisse im Sozialversicherungs- und Steuerrecht 1. Vor allem sind im Sozialversicherungsrecht, und zwar in der Kranken-, Unfall- und Pensionsversicherung, bei einem oder mehreren Dienstgebern beschäftigte Dienstnehmer vollversichert (§ 4 Abs. 1 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz, kurz: ASVG1). Dienstnehmer im Sinne der Sozialversicherung ist, "wer in einem Verhältnis persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit gegen Entgelt beschäftigt ist" (§ 4 Abs. 2 ASVG). Der für Familienangehörigen-Dienstverhältnisse maßgebende § 5 Abs. 1 Z. 1 ASVG lautete bei seiner Verabschiedung durch den Nationalrat im Jahre 1955 wie folgt: "Von der Vollversicherung sind ausgenommen der Ehegatte, die Kinder, Enkel, Wahlkinder und Stiefkinder sowie die Eltern, Großeltern, Wahleltern und Stiefeltern des Dienstgebers." Der Österreichische Verfassungsgerichtshof (kurz: VfGH) hat in Erkenntnissen, die ab 1967 ergangen sind, diese Ausnahme für einzelne Personenkreise wegen Verstoßes gegen den verfassungsrechtlich garantierten Gleichheitsgrundsatz aufgehoben. So wurde im Jahre 1967 der Ausschluß der Arbeitsverhältnisse der Kinder als Arbeitnehmer zu den 1

Bundesgesetz vom 9. 9. 1955, BGBL 189.

44•

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Eltern als Arbeitgeber2 , im Jahre 1969 der Ausschluß der EhegattenArbeitsverhältnisse3, im Jahre 1970 der Ausschluß der Arbeitsverhältnisse der Eltern als Arbeitnehmer zu den Kindern als Arbeitgeber' und ebenso im Jahre 1970 der Ausschluß der Arbeitsverhältnisse der Stiefeltern als Arbeitnehmer zu den Stiefkindern als Arbeitgeber!' als verfassungswidrig aufgehoben. Mit der 29. Novelle zum ASVG6 wurde dann mit Wirkung vom 1. 1. 1973 vom Gesetzgeber selbst "in Anpassung an die Rechtsauffassung des VfGH" der übriggebliebene Rest der Ausnahmen von der Vollversicherungspflicht nach§ 5 Abs. 1 Z. 1 ASVG aufgehoben7. 2. Im Steuerrecht kam dagegen der Gesetzgeber dem VfGH zuvor. Mit der Einkommensteuergesetz-Novelle 1970 wurde mit Wirkung vom 1. Januar 1971 § 4 Abs. 5 Einkommensteuergesetz (kurz: EStG) 1967, wonach Ehegatten-Arbeitsverhältnisse steuerrechtlich nicht anerkannt werden, aufgehoben. Die Regierungsvorlage dazu nannte als Grund der Aufhebung dieser Ausnahme: "Auf Grund des Erkenntnisses des VfGH vom 3. Juli 1968, G 2/1968, sind auf dem Gebiet des Sozialversicherungsrechtes Dienstverhältnisse zwischen Ehegatten anzuerkennen. Es ist anzunehmen, daß im Streitfalle der VfGH auch auf abgabenrechtlichem Gebiet bei dieser Rechtsauffassung bleibt. Der Entwurf schlägt vor, die Bestimmung des § 4 Abs. 5 EStG, wonach zwischen gemäß § 26 EStG zusammen zu veranlagenden Personen steuerrechtlich Dienstverhältnisse nicht anzuerkennen sind, als verfassungsrechtlich bedenklich ersatzlos zu streichen8 ." 2 Sammlung der Erkenntnisse und wichtigsten Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofes (kurz: VfSlg.) 5319/1966. s VfSlg. 5750/1968. 4 VfSlg. 5984/1969. 5 VfSlg. 6345/1970. 6 Vom 16. 12. 1972, BGBl. 31/1973. 7 Vgl. Regierungsvorlage zur 29. ASVG-Novelle, 404 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Nationalrates, XIII. Gesetzgebungsperiode, S.64. s Die angeführte Befürchtung war gerechtfertigt, denn der VfGH hat mit Erkenntnis vom 18. März 1974 (VfSlg. 7280/1974) nachträglich § 4 Abs. 5 EStG 1967 (für den ihm verbliebenen, vor dem lokrafttreten der EStG-Novelle gelegenen zeitlichen Geltungsbereich) wegen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz aufgehoben: gleich wie im Sozialversicherungsrecht sei das Ehegattenverhältnisallein für sich auch im Einkommensteuerrecht für eine unterschiedliche Regelung nicht als ausreichend zu erachten; eine steuerrechtliche Schlechterstellung, die in der steuerrechtliehen Nichtanerkennung des Ehegatten-Arbeitsverhältnisses liege, sei sachlich nicht gerechtfertigt und verstoße daher gegen das verfassungsrechtliche Gleichheitsgebot. Darüber hinaus wurde sogar mit Erkenntnis vom 19. 12. 1974 (VfSlg. 7462/1974) der Vorgänger des § 4 Abs. 5 EStG 1967, und zwar der § 4 Abs. 5 EStG 1953 in der Fassung der EStG-Novelle 1960, aus denselben Gründen wegen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz aufgehoben.

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Der im Einkommensteuerrecht weiterhin bestehende Grundsatz der Zusammenrechnung der Einkommen der Ehegatten (Haushaltsbesteuerung) fiel erst mit dem EStG 1972 weg, das mit dem 1. Januar 1973 in Kraft trat. Damit wurde der Grundsatz der Individualbesteuerung eingeführt, d. h. daß jeder einzelne mit dem von ihm erzielten Einkommen allein zu besteuern ist. Dieses neue Prinzip begünstigte dann auch die Arbeitsverhältnisse zwischen haushaltszugehörigen minderjährigen Kindern und ihren Eltern, die zwar bisher schon steuerrechtlich anerkannt waren, aber immerhin noch von den Nachteilen der Haushaltsbesteuerung (Steuerprogression) betroffen wurden. Als Konsequenz der Vollversicherungspflicht in der Sozialversicherung einerseits sowie der Individualbesteuerung andererseits ergab sich allein in der Zeit von der Beschlußfassung des EStG 1972 bis zum März 1974 eine Zunahme der Familienangehörigen-Arbeitsverhältnisse in Österreich um mindestens 55 000, das ist ungefähr die Hälfte des Beschäftigtenzuwachses im angeführten Zeitraum9 • III. Die Familienangehörigen-Arbeitsverhältnisse im Arbeitsvertragsrecht 1. Obwohl das Sozialversicherungsrecht und das Lohnsteuerrecht von der historischen Entwicklung her auf dem Arbeitsvertragsrecht beruhen, wurde dieses gegenüber dem Sozialversicherungsrecht und Steuerrecht vorrangige Rechtsgebiet hinsichtlich der Zulässigkeit von Arbeitsverträgen zwischen nahen Familienangehörigen eigentlich nie eingehend untersucht. Es vermeinten in der Zeit vor 1938 Lenhoff10 und Ehrenzweig11, daß die Ehegattin, die nach dem früher geltenden § 92 ABGB einseitig dem Manne in der Erwerbung beizustehen hatte, nicht Arbeitnehmerio des Ehegatten werden könne. In der Zeit ab 1945 wurde wegen des Gleichheitsgebotes aus § 44 ABGB eine als ebenbürtig anzusehende Beistandspflicht der männlichen Ehegatten angenommen12 • Daraus wurde aber nicht, wie nach der angeführten Auffassung von Lenhoff und Ehrenzweig zu erwarten gewesen wäre, auch die Unzulässigkeit von Arbeitsverträgen zwischen der Ehegattin als Arbeitgeber und dem Ehegatten als Arbeitnehmer gefolgert, vielmehr wurde die Meinung herrschend, daß die Ehegatten-Arbeitsverträge zulässig seien 13 • 9 Siehe dazu "Die Salzburger Wirtschaft im Sog der Rezession 1974/75", Wien 1976, S. 7; Statistische Nachrichten des Österreichischen Statistischen Zentralamtes, Jahrgang 1974, Heft 1, S. 15. 10 Im Klang-Kommentar zum ABGB, I/1 S. 602. 11 System des Österreichischen allgemeinen Privatrechts 2, II/2, S. 134. 12 Vgl. Bydlinski, Der Gleichheitsgrundsatz im Österreichischen Privatrecht, Wien 1961, I, 1. Teil, S. 111 f.; Mayer-Maly, österreichisches Arbeitsrecht, S. 3.

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2. Vor Anstellung grundsätzlicher Überlegungen soll auf die Stellen der gesetzlichen Arbeitsrechtsordnung, die für die Zulassung von Familienangehörigen-Arbeitsverträgen sprechen, verwiesen werden. Zunächst tut dies§ 152 Satz 2 ABGB, wonach der gesetzliche Vertreter des Kindes befugt ist, das durch den Arbeitsvertrag begründete Rechtsverhältnis aus wichtigen Gründen (das sind unbestrittenermaßen familienrechtliche Gründe) vorzeitig aufzulösen. Dafür, daß auch zwischen dem gesetzlichen Vertreter selbst und dem vertretenen Kind als Arbeitnehmer ein Arbeitsverhältnis begründet werden kann, spricht das Kinder- und Jugendlichenbeschäftigungsgesetz (kurz: KJBG). Im§ 5 a Abs. 1lit. a dieses Gesetzes sind nämlich Schutzbestimmungen für die Beschäftigung der eigenen Kinder des Betriebsinhabers vorgesehen. Für die Zulässigkeit von Arbeitsverträgen zwischen Ehegatten dürfte der neue§ 100 ABGB 14 sprechen. Danach kann der im§ 98 ABGB 14 eingeräumte Anspruch auf "angemessene Abgeltung" der Mitwirkung im Erwerbe (wohl insbesondere im Betrieb) des anderen Ehegatten durch ein "Dienstverhältnis" nicht geschmälert werden. Weitere Hinweise geben, wie oben angezeigt, das Sozialversicherungs- und Steuerrecht. Durch die vorher besprochene ausdrückliche Anerkennung der Arbeitsverhältnisse zwischen Ehegatten sowie Eltern und Kindern in der Sozialversicherung und im Steuerrecht wurde von seiten dieser Rechtsgebiete, wenn sie auch eigene Dienstverhältnisbegriffe formulieren 15, schlüssig doch auch die Zulässigkeit von Arbeitsverträgen zwischen diesen Familienangehörigen anerkannt, zumal - wie bereits oben dargetan - von der historischen Entwicklung her das Sozialversicherungsrecht und das Lohnsteuerrecht im wesentlichen auf dem Arbeitsvertragsrecht beruhen. Dagegen läßt sich aus dem Betriebsverfassungsrecht im II. Teil des Arbeitsverfassungsgesetzes (kurz: ArbVG) dieser Schluß nicht ziehen, weil sich der Arbeitnehmerbegriff des § 36 Arb VG nicht mit dem des Arbeits13 So Adler-Höller im Klang-Kommentar2 , V, S. 177; Bydlinski, Lohn- und Kondiktionsansprüche aus zweckverfehlenden Arbeitsleistungen, in: FS für Wilburg, Graz 1965, S. 45 (55 f.); Mayer-Maly, österreichisches Arbeitsrecht, Wien 1970,. S. 4; Tomandl, Wesensmerkmale des Arbeitsvertrages in rechtsvergleichender und rechtspolitischer Sicht, Wien- New York 1971, S. 40; Spielbüchler in: Floretta I Spielbüchler I Strasser, Arbeitsrecht I, Wien 1976, S. 15 f.; Holzer, Arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Konsequenzen von Angehörigenvereinbarungen, in Ruppe, Familienverträge und Individualbesteuerung, Wien 1976, S. 103 ff.; Krejci, Das Sozialversicherungsverhältnis, Wien 1977, S. 22 ff.; Floretta, Zur Frage der Anwendbarkeit des § 1152 ABGB auf Dienstleistungen von Familienangehörigen, JBl. 1963, S. 43. 14 Eingeführt durch das Eherechtsänderungsgesetz 1978 (Bundesgesetz vom 15. 6. 1978, BGBl. 280, über Änderungen des Eherechts, des Ehegüterrechts und des Ehescheidungsrechts). 15 Die familienhafte Mitarbeit als solche ist in beiden Normenkomplexen ebenso wie im Arbeitsvertragsrecht nicht als "Dienstverhältnis" zu qualifizieren.

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Vertragsrechtes deckt18 • Nach herrschender Lehre sind nahe Familienangehörige des Betriebsinhabers, die auf Grund des Familienverhältnisses unter der Weisungsbefugnis des Betriebsinhabers im Betrieb beschäftigt sind 17, Arbeitnehmer im Sinne des Betriebsverfassungsrechtes18 • Wenn also auch im großen und ganzen das Betriebsverfassungsrecht auf dem Arbeitsvertragsrecht aufbaut, so läßt es aber gerade für die Zulässigkeit von Angehörigen-Arbeitsverträgen keinen Schluß zu 19 • 3. Da sich aus der gesetzlichen Arbeitsrechtsordnung und auch aus der angeführten neuen familienrechtlichen Regelung im § 100 ABGB nicht eindeutig ergibt, ob unter "Dienstverhältnis" zwischen Ehegatten ein solches im Sinne des Arbeitsvertragsrechtes gemeint ist, und ob zwischen Ehegatten im Rahmen sowohl der immateriellen als auch der materiellen Beistandspflicht ein Arbeitsverhältnis begründet werden kann20 , muß man versuchen, das Problem durch grundsätzliche Erwägungen zu klären. Wie ich schon an anderer Stelle dartun konnte-2 1, dürfte für die Lösung dieser Frage von entscheidender Bedeutung sein, ob ein Interessengegensatz zwischenArbeitgeberund Arbeitnehmer essentieller Bestandteil des Arbeitsvertragsrechtes ist. Wie bei anderen schuldrechtlichen Austauschverträgen besteht auch beim Arbeitsvertrag das Schwergewicht im Vorgang des Leistungsaustausches von Arbeit gegen Entgelt. Der Arbeitnehmer verpflichtet sich wegen dieses Entgeltes zur Leistung von Diensten in persönlicher Ab16 Nach § 36 Abs. 1 ArbVG sind Arbeitnehmer "alle im Rahmen des Betriebes beschäftigten Personen einschließlich der Lehrlinge und der Heimarbeiter ohne Unterschied des Alters". Siehe Näheres Floretta I Strasser, Kommentar zum ArbVG, Wien 1975, S. 215 ff. 17 Diese Voraussetzung kann natürlich auch bei der Verwirklichung der gesetzlichen Mitarbeitspflicht des Ehegatten zutreffen. 18 Die familienangehörigen Arbeitnehmer sind nicht im Ausnahmekatalog des§ 36 Abs. 2 ArbVG aufgezählt, sie sind auch bei der Betriebsratswahl aktiv wahlberechtigt, nur weitgehend nach§ 53 Abs. 3 ArbVG nicht wählbar. 1o Zulässig ist dagegen ein solcher Schluß im Betriebsverfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Fenn, Die Mitarbeit in den Diensten Familienangehöriger, Bad Hornburg v. d. H. - Berlin - Zürich 1970, S. 247), weil dort der betriebsverfassungsrechtliche Arbeitnehmerbegriff an den des Arbeitsvertragsrechtes anknüpft und daher die familienhafte Beschäftigung von vornherein nicht unter den betriebsverfassungsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff fällt (vgl. Dietz I Richardi, Kommentar zum Betriebsverfassungsgesetz5, München 1973, S. 194). 20 Die materielle Beistandspflicht ist auf die Mitwirkung im Erwerbe (Beruf) des anderen Ehegatten beschränkt, dagegen bezieht sich die immaterielle Beistandspflicht als umfassende Pflicht auf den Beistand bei der Gestaltung der ganzen ehelichen Lebensgemeinschaft; vgl. insbesondere Migsch, Persönliche Ehewirkungen, gesetzlicher Güterstand und Ehegattenerbrecht, in: Floretta, Das neue Ehe- und Kindschaftsrecht, Salzburg 1979, S. 26. 21 Siehe Floretta, Die familieneigenen Arbeitskräfte im Österreichischen Recht, insbesondere im Arbeitsrecht, DRdA 1979, S. 257 ff., insbesondere 264 ff.

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hängigkeit, die auf Grund der Einordnung in den organisatorischen Bereich des Arbeitgebers ihm weitgehend die Bestimmungsfreiheit über die eigene Person nimmt. Der Arbeitgeber beschäftigt den Arbeitnehmer, um mit seinem Unternehmen einen eigenen wirtschaftlichen Erfolg zu erzielen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer streben jeder für sich nach möglichst günstigen wirtschaftlichen Ergebnissen, was zu einem natürlichen Interessengegensatz führt. Es wird aus diesem Grund in Österreich zu Recht die Lehre vom Arbeitsverhältnis als einem "personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis" und dem Arbeitsvertrag als "gemeinschaftsbegründendem Vertrag", der dem Gesellschaftsvertrag nahesteht, abgelehnt22 • Wie man sieht, ist der "Interessengegensatz" ein charakteristisches Merkmal des Arbeitsvertrages, jedoch keineswegs ein rechtlich zentrales und daher wesensnotwendiges. Dem Arbeitsvertrag ist nur wesentlich die Verrichtung von Diensten unter Einordnung in die Organisation des Arbeitgebers (einschließlich seiner Produktionsmittel), mit anderen Worten, der Arbeitsvertrag beschränkt sich auf die Art der Organisation der Arbeitsleistung23. 22 Vgl. Kramer, Arbeitsrechtliche Verbindlichkeiten neben Lohnzahlung und Dienstleistung, Wien 1975, S. 26 f.; Martinek I Schwarz, Entwicklungstendenzen des Individualarbeitsrechtes, DRdA 1960, S. 102 ff.; Rabofsky, Urteilsbesprechung, DRdA 1960, S. 249 ff.; Spielbüchler, in: Floretta I Spielbüchler I Strasser, Arbeitsrecht I, S. 17; Strasser, Gedanken zum Arbeitsvertragsrecht, DRdA 1962, S. 231 f.; Hagen I Rabofsky, Zur sozialwissenschaftliehen und rechtspolitischen Problematik der Zugehörigkeit naher Familienangehöriger des Arbeitgebers zu den Interessenvertretungen der Arbeitnehmer, DRdA 1979, S. 278 f.; kritisch auch Mayer-Maly, österreichisches Arbeitsrecht, S. 61 ff. 23 Auch die "wirtschaftliche Abhängigkeit" des Arbeitnehmers, anders ausgedrückt, seine Lohnabhängigkeit, ist ein typisches Merkmal des Arbeitsverhältnisses, aber kein essentieller Bestandteil des Arbeitsvertrages (vgl. MayerMaly, österreichisches Arbeitsrecht, S. 7; Martinek I Schwarz, Angestelltengesetz3, S. 25; Spielbüchler, in: Floretta I S!pielbüchler I Strasser, Arbeitsrecht I, S. 20 f.; Tomandl, Wesensmerkmale des Arbeitsvertrages in rechtsvergleichender und rechtspolitischer Sicht, S. 66). Selbst im Sozialversicherungsrecht, in dem gemäߧ 4 Abs. 2 ASVG die "wirtschaftliche Abhängigkeit" zusätzlich zur persönlichen Abhängigkeit als essentieller Bestandteil des sozialversicherungsrechtlichen "Dienstnehmerbegriffes" angeführt ist, wird von der Lehre und Rechtsprechung die "wirtschaftliche Abhängigkeit" nicht mehr im Sinne einer Lohnabhängigkeit ausgelegt, sondern es wird vielmehr darunter verstanden, daß es dem Beschäftigten an der eigenen Verfügungsmacht über die Produktionsmittel mangelt (vgl. Verwaltungsgerichtshof vom 9. 2. 1972, Zl. 1926119·71, Soziale Sicherheit Nr. 1/1973- K 2; Krejci, in: Tomandl, System des Österreichischen Sozialversicherungsrechts, S. 42 f.). Damit wird aber eigentlich nur ein Bestandteil der persönlichen Abhängigkeit, wie sie vom Arbeitsvertragsrecht definiert wird, herausgehoben (so auch aus der Sicht des Sozialversicherungsrechtes Krejci, Das Sozialversicherungsverhältnis, S. 39). Darin zeigen sich bereits Parallelen zwischen dem arbeitsvertragsrechtlichen Arbeitsverhältnisbegriff und dem sozialversicherungsrechtlichen Dienstverhältnisbegriff. Ebenso kommt es beim steuerlichen Dienstverhältnisbegriff nach § 47 Abs. 3 EStG 1972 auf die persönliche Abhängigkeit im oben dargelegten Sinne an (vgl.

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Demnach schließt das Fehlen eines Interessengegensatzes zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses nicht aus24 • Insoweit der Interessengegensatz fehlt, kann man von einem "atypischen Dienstverhältnis"25 sprechen, das m. E. den Charakter eines Gemeinschaftsverhältnisses erfüllt, weil es dem Gesellschaftsverhältnis nahesteht, aber auch weil es vor allem bei den Ehepartnern erheblich vom Familienrecht beeinflußt wird26 • Jedoch ist sicherlich ein weiteres Problem, inwieweit die aus dem Familienrecht entspringenden Pflichten überhaupt Gegenstand eines Arbeitsvertrages sein können. Dabei steht die Frage im Vordergrund, ob die die eheliche Lebensgemeinschaft im engsten Sinne konstituierenden Verhaltensweisen, die den Kernbereich der Ehe ausmachen, zum Gegenstand des Arbeitsvertrages zwischen den Ehegatten gemacht werden können. Auszugehen ist davon, daß nach dem durch das Eherechtswirkungengesetz 1975 eingeführten § 91 ABGB die umfassende eheliche Lebensgemeinschaft einvernehmlich gestaltet werden soll. Dieses "Sollen" räumt den Ehegatten gleichzeitig auch die Vertragsfreiheit ("Ermächtigung"} in diesem Kernbereich der Ehe ein, wobei die Grenzen dafür auch im§ 91 ABGB angeführt sind: nämlich die gegenseitige Rücksichtnahme und das Wohl der Kinder. Unter der gegenseitigen Rücksichtnahme werden die unabdingbaren Pflichten aus der Lebensgemeinschaft, das sind die zur Treue, zur anständigen Begegnung und zum Beistand, verstanden werden müssen. überdies handelt es sich dabei nicht nur um die Ermächtigung für den Vertrag, die eheliche Lebensgemeinschaft zu regulieren, sondern auch um die Kompetenz zur gemeinsamen Durchführung (arg: "einvernehmlich gestalten"} der vom Gesetz vorgesehenen Zielvorstellungen27• Diesem gesetzgeberischen Auftrag zur gemeinsamen Gestaltung widerstrebt m. E. die Verwirklichung der ehelichen Lebensgemeinschaft im Rahmen des Arbeitsverhältnisses, d. h. in einem über- und Unterordnungsverhältnis, dem das Weisungsrecht und Gehorsamspflicht entspricht. Es würde zu einer Verzerrung der partnerschaftliehen Stellung der Ehegatten führen. Damit verstößt ein Scherdoner und Taucher, Dienst- und Werkverträge zwischen Familienangehörigen in einkommensteuerrechtlicher Sicht, in: Ruppe, Familienverträge und Individualbesteuerung, S. 128). 24 So schon Mayer-Maly, Erwerbsabsicht und Arbeitnehmerbegriff, S. 50. 25 Fenn, Die Mitarbeit in den Diensten Familienangehöriger, S. 266 f. 26 Vgl. Floretta, Die familieneigenen Arbeitskräfte, a.a.O., DRdA 1979, s. 265 ff. 27 Wohl aus diesem Grund sprechen Migsch, Persönliche Ehewirkungen, gesetzlicher Güterstand und Ehegattenerbrecht, in: Floretta, Das neue Ehe- und Kindschaftsrecht, Salzburg 1979, S. 21, von "einvernehmlicher Handhabung", und Schwimann, Die nicht vermögensrechtlichen Ehewirkungen im neuen Recht und deren Problematik, Österreichische Juristenzeitung 1976, S. 370 f., von "faktischer Einigung".

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Arbeitsvertrag zwischen Ehegatten über die Haushaltsführung, KindererziehWlg oder Krankenpflege gegen § 879 ABGB. Auch werden sich die Eltern nicht als Arbeitnehmer gegenüber ihren minderjährigen Kindern zur Pflege, Erziehung, Vermögensverwaltung und gesetzlichen VertretWlg verpflichten können, also zu Leistungen, zu deren Erbringung die Eltern gemäߧ 144 ABGB berechtigt Wld verpflichtet sind. Eine solche Schranke ist nicht bei Arbeitsverträgen zwischen Eltern als Arbeitgeber und Kindern als Arbeitnehmer gegeben. Auch zwischen Lebensgefährten können Arbeitsverträge betreffend die Haushaltsfüh~ rm1g, die KindererziehWlg oder Krankenpflege abgeschlossen werden, weil hier nicht das Problem besteht, daß gesetzliche Bestimmungen einer arbeitsvertragliehen Ausgestaltung der Lebensgemeinschaft entgegenstehen.

IV. Die Familienangehörigen-Arbeitsverhältnisse im kollektiven Arbeitsrecht Wir haben ·also gesehen, daß der i:ndiv1duelle Interessengegensatz keineswegs Voraussetzung für ein Arbeitsverhältnis zwischen Familienangehörigen ist. Gleichwohl wird er in allen nu:r denkbaren Intensitätsstufen in der Lebensrealität auch zwischen nahen Angehörigen vorkommen, in Einzelfällen, wie bei zerrütteten Ehen, sogar mit größerer Schärfe als bei Arbeitsverhältnissen mit Famili.enfremden. Aber sogar bei solchen Extremfällen ergibt sich eine auf den ersten Blick vielleicht unerwartete, aber doch ganz eindeutige Trennung zwischen der Interessenlage auf individualrechtlicher Basis und der auf koUiktivrechtlicher Ebene. Ein einfaches Beispiel zur Veranschaulichung: Selbst die oben erwähnte von ihrem Unternehmer-Ehegatten entfremdete Ehefrau wird zwar im Sinne des individualrechtliehen Interessengegensatzes eine Gehaltserhöhung für sich selber erstreben, eine Gehaltserhöhung auf kollektiver Ebene jedoch, auch wenn sie davon mitbegünstigt wäre, zweifelsohne ablehnen, weil sie ja als Ehegattin viel mehr am ungeschmälerten Betriebsergebnis interessiert ist als an einer vergleichsweise unergiebigen persönlichen Gehaltserhöhung28 • Im Unterschied zum Arbeitsvertragsrecht ist aber im kollektiven Arbeitsrecht der Interessengegensatz zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern wesensnotwendig. Mit dem Grundgedanken der Interessenvertretung ist im kollektiven Arbeitsrecht eindeutig das Prinzip der Gegnerfreiheit (GegnerWlabhängigkeit) verbunden, selbst dann, wenn es nicht überall ausdrücklich wie bei der Kollektivvertragsfähigkeit 28 Näheres dazu bei Floretta, Die familieneigenen Arbeitskräfte, a.a.O., DRdA 1979, S. 272 ff.; und bei Hagen I Rabofsky, Zur Problematik naher Familienangehöriger, a.a.O., DRdA 1979, S. 277 ff.

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festgelegt ist29 • Im Gegensatz zum Einzelarbeitsverhältnis, bei dem, wie oben gezeigt, es nur auf die vertragliche Einordnung des Arbeitnehmers in die organisatorische Einheit des Arbeitgebers ankommt und nicht auf den Interessengegensatz, ist bei der Organisation der Interessenvertretung eine Bündelung gleichartiger wirtschaftlicher Interessen wesensnotwendig. Daher ist es hier erforderlich, daß atypische Arbeitsverhältnisse, bei denen die wirtschaftlichen Interessen eindeutig mit denen des Arbeitgebers als gleichgerichtet anzusehen sind (Interessenparallelität), nicht in diese Interessenbündelung der Arbeitnehmer einbezogen werden, weil ansonsten die Gegnerunabhängigkeit beeinträchtigt würde. Dabei kommt es bei den Arbeitsverhältnissen naher Angehöriger nicht auf einen eventuell vorliegenden individuellen Interessengegensatz an, sondern darauf, ob die Interessen solcher Arbeitnehmer nach der allgemeinen Lebenserfahrung dem Interessenkreis des Betriebsinhabers oder dem des Interessengegners (Arbeitnehmerschaft im betrieblichen bzw. überbetrieblichen Sinne) zuzuordnen sind. Diese wirtschaftliche Interessensituatton hat der Gesetzgeber, wie bereits angedeutet, beim Kollektivvertragsrecht ausdrücklich beachtet, danach sind sowohl die gesetzlichen Interessenvertretungen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer (also Wirtschaftskammern30 einerseits und Kammern für Arbeiter und Angestellte3 1 andererseits) als auch die auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhenden Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände expressis verbis nur dann kollektivvertragsfähig, wenn sie gegenüber der anderen Seite unabhängig sind (§ 4 ArbVG) 32• Bei der Konkretisierung dieser Gegnerunabhängigkeit fragt es sich, inwieweit die familienangehörigen Arbeitnehmer diese Gegnerunabhängigkeit beeinträchtigen. Wie der Gesetzgeber der Bundesrepublik Deutschland im § 5 Abs. 2 Z. 5 Betriebsverfassungsgesetz schon zum Ausdruck brachte, sind jedenfalls der Ehegatte, Verwandte und Verschwägerte ersten Grades, die in Hausgemeinschaft mit dem Arbeitgeber leben, zum Interessenbereich des Betriebsinhabers zu zählen. Es ist nicht einzusehen, warum diese Auffassung nicht auch für die übrigen Bereiche des kollektiven Arbeitsrechtes, so insbesondere für das Tarif- bzw. Kollektivvertragsrecht gelten sollte. Demnach wäre für das Österreichische Recht die Konsequenz zu ziehen, daß die angeführten familienangehörigen Arbeitnehmer nicht 29 Im § 4 ArbVG. ao Geregelt durch das Handelskammergesetz vom 24. 7. 1946, BGBl. 182, i. d. g. F. 31 Geregelt durch das Arbeiterkammergesetz vom 19. 5. 1954, BGBl. 105, i. d. g. F. 32 Zu § 2 TVG der Bundesrepublik Deutschland wird ohne ausdrückliche gesetzliche Normierung das Prinzip der Gegnerfreiheit vertreten (vgl. Wiedemann I Stumpf, Tarifvertragsgesetz 5, S. 369 ff.).

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stimmberechtigte Mitglieder in der für sie fachlich zuständigen kollektivvertragsfähigen Gewerkschaft sein dürften. Wie bei den (kollektivvertragsfähigen) Kammern für Arbeiter und Angestellte der Gesetzgeber den Ausschluß dieser Arbeitnehmer bewirken müßte, so hätte dies bei den auf freiwilliger Mitgliedschaft beruhenden Gewerkschaften entweder in den Statuten verankert zu sein oder es müßte durch Verweigerung der Aufnahme als stimmberechtigtes Mitglied bewerkstelligt werden. Es ist aber in diesem Zusammenhang von Interesse, daß die für die kollektivvertragsfähigen Kammern für Arbeiter und Angestellte maßgeblichen Bestimmungen über die Kammerzugehörigkeit diese familienangehörigen Arbeitnehmer weder von der Kammerzugehörigkeit noch von der Wahlberechtigung, ja nicht einmal von der Wählbarkeit in die Organe der Kammer ausnehmen33 • Ja selbst das Österreichische Betriebsverfassungsrecht (§§ 33 ff. ArbVG) nimmt im Gegensatz zum Betriebsverfassungsgesetz der Bundesrepublik die angeführten familienangehörigen Arbeitnehmer nicht von der Belegschaftszugehörigkeit aus; es kommt ihnen auch die Wahlberechtigung bei der Betriebsratswahl zu (§ 52 ArbVG), dagegen sind sie weitgehend von der Wählbarkeit ausgeschlossen(§ 53 ArbVG)34. Der Gesetzgeber versuchte dieses Versäumnis mit Bundesgesetz vom 11. Oktober 1978, BGBl. 519, nachzuholen, in dem er das Arbeitsverfassungsgesetz und das Arbeiterkammergesetz dahin änderte, daß der Ehegatte sowie die Verwandten und Verschwägerten ersten Grades des Betriebsinhabers (also nicht eingeschränkt auf die in Hausgemeinschaft Lebenden!) sowohl von der Zugehörigkeit zur Arbeitnehmerschaft im betriebsverfassungsrechtlichen Sinne als auch von der Zugehörigkeit zu der in der Arbeiterkammer organisierten Arbeitnehmerschaft ausgenommen sind. Als Grund wurde im Ausschußbericht des Parlaments angeführt, daß mit dem Arbeitgeber nahe verwandte Arbeitnehmer inter33 Wohl tut dies das Arbeitskammergesetz des Saarlandes (Gesetz Nr. 846 vom 5. 7. 1967) im § 2 Abs. 2 lit. f, wonach Verwandte und Verschwägerte ersten Grades, die in häuslicher Gemeinschaft mit dem Arbeitgeber leben, nicht als Arbeitnehmer im Sinne dieses Gesetzes gelten. Dagegen nimmt auch das Gesetz über die Arbeitnehmerkammern (Gesetz vom 3. 7. 1956, Gesetzblatt Nr. 19) in Bremen die familienangehörigen Arbeitnehmer- ebenso wie das Österreichische Arbeiterkammergesetz -weder von der Kammerzugehörigkeit noch von der Wahlberechtigung und Wählbarkeit aus. 34 Die maßgebliche Bestimmung des § 53 Abs. 3 lautet wie folgt: "(3) Nicht wählbar sind: 1. Der Ehegatte des Betriebsinhabers und Personen, die mit dem Betriebsinhaber bis zum zweiten Grad verwandt oder verschwägert sind oder zu ihm im Verhältnis von Wahl- oder Pflegekind, Wahl- oder Pflegeeltern sowie Mündel oder Vormund stehen; 2. in Betrieben einer juristischen Person die Ehegatten von Mitgliedern des Organs, das zur gesetzlichen Vertretung der juristischen Person berufen ist, sowie Personen, die mit Mitgliedern eines solchen Vertretungsorgans im ersten Grad verwandt oder verschwägert sind;".

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essenmäßig nicht der Arbeitnehmerschaft zuzuordnen seien. Die Interessen der nahen Angehörigen des Betriebsinhabers würden in keiner Weise mit der arbeitsverfassungsrechtlichen Interessenlage der übrigen Arbeitnehmer übereinstimmen. Daher sei, wie prinzipiell seit jeher im Landarbeitsrecht geregelt, die Ausnahme der familieneigenen Arbeitskräfte von der Zugehörigkeit zur Arbeitnehmerschaft im betrieblichen und überbetrieblichen Bereich von der Sache her gerechtfertigt. Der VfGH hat sich dieser Auffassung nicht angeschlossen und das angeführte Gesetz wiederum aufgehoben. In seinem Erkenntnis vom 31. Januar 197935 hat er die Auffassung geäußert, daß es an einer sachlichen Rechtfertigung dazu fehle, den ganzen Personenkreis aus dem Betriebsverfassungsrecht bzw. dem Arbeiterkammerrecht auszunehmen. Bei seinen überlegungen ging der VfGH aber ausschließlich von den oben geschilderten individuaLrechtLiehen Perspektiven aus und übernahm in der Folge die daraus gewonnenen Resultate für die Beurteilung der interessenmäßigen Situation im (kollektiven) Betriebsverfassungsrecht und Arbeiterkammerrecht. Wie schon das oben angeführte konkrete Beispiel zeigt, geht eine solche Vorgangsweise an der Lebensrealität vorbei und ist methodisch verfehlt36 • Bei den hier in Frage stehenden Problemen des kollektiven Arbeitsrechtes würden sicherlich schon das enge familienhafte Band und die in aller Regel damit verbundenen ökonomischen Interessen genügen, um die familienangehörigen Arbeitnehmer aus der betrieblichen und überbetrieblichen Interessengemeinschaft der Arbeitnehmer mit Recht herauszunehmen37. Auch wenn man einmal von den ökonomischen Interessen absieht, erkennt man, daß nach wie vor (also auch nach der Reform des Eherechtes durch das Eherechtswirkungengesetz, BGBl. 412, und das Eherechtsänderungsgesetz, BGBl. 280) die Ehe zu einer umfassenden ehelichen Lebensgemeinschaft führt, die von unabdingbaren Prinzipien, wie der Treue und dem gegenseitigen Beistand begleitet wird (§ 90 ABGB). Gerade die die geistig-seelische Gemeinschaft prägende Treuepflicht ist nicht nur für den Bereich des Geschlechtslebens anzunehmen, vielmehr ist mit ihr die Loyalität und Wahrung des Vertrauensverhältnisses in jedem Bereich gemeint. Ebenso ist die sich aus § 90 Satz 1 ABGB ergebende immaterielle Beistandspflicht umfassend zu sehen, und zwar mit Rat und Tat sowie mit Hilfe in allen schwierigen Lebenssituationen sich 35 Dieses und ein damit im engen Zusammenhang stehendes Erkenntnis vom 24. 3. 1979 sind im DRdA 1979, S. 317 ff., abgedruckt. 36 Siehe Floretta, Die familieneigenen Arbeitskräfte, a.a.O., DRdA 1979, S. 257 f., insbesondere 263 f., 268 und 271 f.; Hagen I Rabofsky, Zur Problematik der Familienangehörigen, a.a.O., DRdA 1979, S. 277 ff. 37 Näheres dazu bei Floretta, a.a.O., DRdA 1979, S. 272 ff.

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gegenseitig beizustehen. Diese umfassende Lebensgemeinschaft ist aber auch, was für unsere Beurteilung sehr bedeutsam ist, materiell abgesichert. Nach § 94 Abs. 1 ABGB haben die Ehegatten ihrer ehelichen Lebensgemeinschaft zur Deckung der ihren Lebensverhältnissen angemessenen Bedürfnisse gemeinsam beizutragen. Gerade in Konfliktsituationen mit der Außenwelt (auch gegenüber der Belegschaft) werden an den Ehegatten-Arbeitnehmer sehr starke Loyalitätserwartungen gestellt. Der Grund dafür ist die wohl weitverbreitete Überzeugung, daß die Ehe heute mehr als früher den Charakter einer Solidaritätsgemeinschaft hat und daher eine Partnerschaft darstellt, die sich letztlich auf die Hilfe im Existenzkampf stütztss. Bei den in Hausgemeinschaft lebenden und mitarbeitenden Ehegatten des Betriebsinhabers wird man auf Grund der eindeutigen insbesondere wirtschaftlichen Interessenparallelität entgegen der Entscheidungsbegründung des VfGH sogar sagen müssen, daß der Gesetzgeber diesen Personenkreis von der Zugehörigkeit zu den Interessenvertretungen der Arbeitnehmerschaft nicht nur ausnehmen kann, sondern ausnehmen muß, während er die getrennt lebenden mitarbeitenden Ehegatten (bei immerhin aufrechter Ehe!) wegen der doch nicht mehr so eindeutigen Interessenparallelität mit dem Betriebsinhaber von der Zugehörigkeit bloß ausnehmen kann. Bei den mitarbeitenden Söhnen und Töchtern des Betriebsinhabers werden auch die ökonomischen Interessen der Kinder stark durch die Eltern beeinflußt, selbst wenn durch die eigene berufliche Stellung im Betrieb der Eltern die Selbsterhaltungsfähigkeit gegeben ist; so daß bei Konfliktsituationen mit der Arbeitnehmerschaft eher angenommen werden kann, daß eine Loyalität zu den Arbeitgeber-Eltern gegeben ist. Die Haushaltszugehörigkeit der mitarbeitenden Kinder wird dieses Bewußtsein verstärken, wenn auch mit der Volljährigkeit in der Regel eine gewisse Unabhängigkeit eintritt. Daraus wird man folgern können, daß bei den im Haushalt des Betriebsinhabers befindlichen minderjährigen Kindern (Söhne und Töchter) eine sehr stark ausgeprägte Interessenidentität mit dem Betriebsinhaber gegeben ist, sie bilden mit den Eltern die Kernfamilie, während sich bei den volljährigen, wenn auch im gemeinsamen Haushalt lebenden sowie den in ihrem eigenen Haushalt lebenden Söhnen und Töchtern keine so eindeutige Interessenparallelität mit dem Betriebsinhaber, aber auch nicht mit der Arbeitnehmerschaft im betrieblichen und überbetrieblichen Sinne feststellen läßt3 9 • Aus die38 Familienbericht der Österreichischen Bundesregierung 1969, S. 8; vgl. aber auch den Familienbericht 1979, Heft 1, S. 16, 126 ff. 39 Es bleibt trotz Aufgabe der haushaltsmäßigen Gemeinsamkeit nicht nur eine .,Intimität auf Abstand", d. h. nur eine zeitweilige sozialfunktionelle Beziehung zwischen Eltern und Kindern bestehen (vgl. Familienbericht der öster-

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sem Grund wird man bezüglich der im gemeinsamen Haushalt lebenden minderjährigen Kinder wiederum zu folgern haben, daß der Gesetzgeber diese Personengruppe von der Zugehörigkeit zu den Arbeitnehmerinteressenvertretungen entgegen der Entscheidungsbegründung des VfGH nicht nur ausnehmen kann, sondern sogar ausnehmen muß, während er die im gemeinsamen Haushalt lebenden, jedoch bereits volljährigen sowie die getrennt lebenden Söhne und Töchter wegen ihrer nicht so eindeutigen Interessenlage bloß ausnehmen kann. Auf Grund der betrieblichen Mitarbeit entstehen selbst auch bei den getrennt lebenden Schwiegereltern und SchwiegeTkindern ständige und nicht nur zeitweilig wiederkehrende sozialfunktionelle Beziehungen zur Kernfamilie des Betriebsinhabers. Daraus ist zu entnehmen, daß sowohl für die in Hausgemeinschaft als auch für die getrennt lebenden aber mitarbeitenden Schwiegereltern und Schwiegerkinder bei durchschnittlicher Betrachtung eine Interessenlage angenommen werden kann, die es dem Gesetzgeber ermöglicht, diese Personengruppe von der Arbeitnehmerschaft im betrieblichen und überbetrieblichen Sinne auszunehmen.

Zusammenfassend kann daher gesagt werden, daß vom VfGH wie auch sonst oft die Rolle der Beschäftigung naher Familienangehöriger in ihrer solidaritätsstiftenden und die sozialen Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer intensivierenden Funktion nicht erkannt wurde. Selbst wenn die häusliche Gemeinschaft aufgehoben ist, wird durch die Mitarbeit im familieneigenen Betrieb die sozialfunktionelle Beziehung zwischen den nahen Familienangehörigen wieder so intensiviert, daß die Interessen dieser Familienangehörigen-Arbeitnehmer nicht der Arbeitnehmerschaft, sondern dem Betriebsinhaber zuzurechnensind40. Demnach war auch das durch den VfGH aufgehobene Gesetz sachlich gerechtfertigt. Durch das oben angeführte Erkenntnis des VfGH dürfte jedoch eine solche Lösung für die nahe Zukunft verbaut sein; es kommt daher de lege ferenda wohl auch in Österreich für das kollektive Arbeitsrecht nur eine Ausnahmeregelung nach dem Modell der Bundesrepublik Deutschland in Frage, wonach Ehegatten, Verwandte und Verschwägerte ersten Grades, die in häuslicher Gemeinschaft mit dem Arbeitgeber leben, nicht als Arbeitnehmer anzusehen sind. reichischen Bundesregierung 1969, S. 7, und Familienbericht 1979, Heft 1, S. 169 f.; Rosenmayr und Köckeis, Umwelt und Familie alter Menschen, Neuwied 1965, S. 7 f. und 113), vielmehr entwickelt sich durch die Mitarbeit im familien-

eigenen Betrieb in der Regel wieder ein ständiger familiärer Kontakt und ein dementsprechender Zusammenhalt. 40 Vgl. dazu Floretta, Die familieneigenen Arbeitskräfte, a.a.O., DRdA 1979, s. 271 ff.

STEUERRECHT UND ARBEITSVERHÄLTNIS Von Heinrich List

I. Zur Einführung Das Arbeitsverhältnis ist, zivilrechtlich gesehen, das Dauerschuldverhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, das über den schuldrechtlichen Inhalt hinaus ein personenrechtliches Gemeinschaftsverhältnis darstellt (P:alandt BGB 39. Aufl. Einilührung v. § 611 Anm. 1 e). Dieses Arbeitsverhältnis ist Gegenstand einer besonderen Rechtsdisziplin, des Arbeitsrechts, dessen Zweck darauf gerichtet ist, den Arbeitnehmer zu schützen und zugleich einen gerechten Ausgleich der Interessen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer herbeizuführen (Palandt a.a.O. Anm. 1 c).

Das Arbeitsverhältnis ist auch Gegenstand steuerrechtlicher Regelung, allerdings aus anderer Perspektive. Das Steuerrecht hat zum Gegenstand die wirtschaftliche Betätigung einer Person in der Form, daß sie ihre Arbeitskraft einem anderen im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses zur Verfügung stellt und dafür Arbeitslohn erhält. Steuerrechtlich geht es dabei um Voraussetzungen und Umfang des Zugriffs auf den Arbeitslohn. Für Arbeitsrecht und Steuerrecht sind dabei vor allem die Begriffe Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Arbeitslohn von grundlegender Bedeutung. Zwischen beiden Rechtsdisziplinen ergeben sich enge Verflechtungen. Diese beruhen zum Teil darauf, daß Steuergesetze auf arbeitsrechtliche Vorschriften Bezug nehmen oder beide Rechtsgebiete gleiche oder ähnliche Begriffe verwenden, zum Teil darauf, daß steuerliche Konsequenzen bei Abschluß und Durchführung von Einzelarbeitsverträgen, Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen, bei Begründung und Aufhebung von Betriebsübungen, oder auch bereits bei der Planung arbeitsrechtlicher Gesetze berücksichtigt werden. Unter diesen Umständen erscheint es gerade in einem Festschriftbeitrag für einen bedeutenden Vertreter der arbeitsrechtlichen Disziplin reizvoll, am Beispiel der jüngsten Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs Gemeinsamkeiten und Unterschiede der arbeitsrechtlichen und steuerrechtlichen Würdigung eines Arbeitsverhältnisses aufzuzeigen. 45 Festschrift f. G. Müller

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ll. Begriff des Arbeitnehmers Die Begriffe des Arbeitnehmers und des Arbeitgebers, des Dienstbzw. Arbeitsverhältnisses sind sowohl für das Arbeitsrecht als auch für das Steuerrecht von elementarer Bedeutung. Im Hinblick auf den Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung wird gelegentlich eine möglichst weitgehende begriffliche Übereinstimmung zwischen Arbeitsrecht und Steuerrecht gefordert. Dabei darf jedoch die unterschiedliche Zielsetzung der beiden Rechtsdisziplinen nicht übersehen werden. Das Arbeitsrecht ist wesentlich auf den sozialen Schutz des Arbeitnehmers ausgerichtet. Arbeitsrechtlich ist Arbeitnehmer, wer aufgrund eines privatrechtliehen Vertrages oder eines ihm gleichgestellten Rechtsverhältnisses im Dienst eines anderen zur Arbeit verpflichtet ist (vgl. z. B. BAG AP Nr. 7 zu § 5 ArbGG 1953, Nr. 4 zu § 611 BGB Abhängigkeit, Nr. 18 zu§ 611 BGB Urlaubsrecht; Dietz I Richardi BetrVG 5. Aufl. § 5 Anm. 5 ff.). Der steuerrechtliche Arbeitnehmerbegriff unterscheidet sich davon in zweifacher Hinsicht. Er ist einerseits viel weiter als der arbeitsrechtliche. Denn er umfaßt auch die in einem öffentlich-rechtlichen Verhältnis stehenden Beamten, Richter und Berufssoldaten, sowie die gesetzlichen Vertreter juristischer Personen, die als deren Leiter nach arbeitsrechtlicher Betrachtung nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen (vgl. Dietz I Richardi a.a.O. § 5 BetrVG Anm ..66). Aufsichtsratsmitglieder hingegen, auch die entsandten Betriebsangehörigen, sind in dieser Eigenschaft nicht Arbeitnehmer. Andererseits faßt das Steuerrecht den Arbeitnehmerbegriff insofem enger, als es im allgemeinen für die Anerkennung von Arbeitsverhältnissen zwischen nahen Angehörigen und mit leitenden Angestellten strengere Voraussetzungen als das Arbeitsrecht fordert, sowie grundsätzlich Arbeitsverhältnisse zwischen Personengesellschaften und deren Gesellschaftem nicht anerkennt. Auch kennt das Steuerrecht - im Gegensatz zum Arbeitsrecht - nur einen einheitlichen Arbeitnehmerbegriff und unterscheidet nicht zwischen Arbeitemund Angestellten, zwischen gewerblichen und kaufmännischen Angestellten und anderen Arbeitnehmergruppen. Der Begriff der arbeitnehmerähnlichen Person (§ 12 a T~G) ist dem Steuerrecht fremd (BFH-Urteil vom 14. 12. 1978 I R 121176, BFHE 126, 311, BStBl II 1979, 188). 1. Arbeitsverhältnisse zwischen Ehegatten

Zu den Voraussetzungen, unter denen ein bürgerlichrechtlich bzw. arbeitsrechtlich wirksam vereinbartes Arbeitsverhältnis zwischen Ehegatten bzw. zwischen ·einem Ehegatten und einer Personengesellschaft, an der der and_ere Ehegatte maßgeblich beteiligt ist, steuerlich anzuer-

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kennen ist, hat sich die Rechtsprechung im Lauf der letzten Jahre mehrfach gewandelt (vgl. Herrmann I Heuer, Kommentar zur ESt und KSt, 18. Aufl. § 26 a EStG Anm. 18 ff.). Im Anschluß an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Urteile vom 24.1.1962 BVerfGE 13, 290, 318, BStBl I 1962, 492, 506) erkennt der BFH ernsthaft vereinbarte und tatsächlich durchgeführte Arbeitsverträge unter Ehegatten auch steuerrechtlich an (vgl. BFHUrteile vom 8. 3.1962 IV 165/60 U und IV 168/60 U, BFHE 74, 584, 587, BStBl 111 1962, 217, 218). Jedoch geben immer neue Sachverhaltsvarianten Anlaß zu Abgrenzungen. So hatte ein Kläger Zahlungen an seine Ehefrau für die Reinigung eines steuerlich anerkannten häuslichen Avbeitszimmers als Werbungskosten geltend gemacht. Der BFH lehnte dies ab, soweit es sich dabei um eine Tätigkeit handelt, die nach Art und Umfang über den Rahmen einer- üblicherweise auf familienrechtlicher Grundlage unentgeltlich erbrachten - unbedeutenden Hilfeleistung nicht hinausgeht (BFHUrteil v. 27. 10. 1978 VI R 166, 173, 174/76, BFHE 126, 285, BStBlll 1979, 80). Die Entsche~dung wirft die Frage auf, wie weit der Kreis der üblichen und unbedeutenden Hilfeleistungen zu ziehen ist. Nicht mehr in diesen Rahmen fallend werden Arbeiten anzusehen sein, die außerhalb des häuslichen Bereichs z. B. im gewerblichen Betrieb oder in der freiberuflichen Praxis des anderen Ehegatten ausgeführt weroen, selbst wenn es sich dabei nur um eine stundenweise Erledigung von Büro- oder Reinigungsarbeiten handelt. 2. Arbeitnehmer-Kommanditist

Der Gesellschafter einer Personengesellschaft kann steuerlich grundsätzlich nicht deren Arbeitnehmer sein, auch wenn er im Gesellschaftsvertrag als Geschäftsführer o. ä. bezeichnet ist. Denn nach § 15 Abs. 1 Nr. 2 EStG gehören Vergütungen, die der Gesellschafter - als Mitunternehmer - von der Gesellschaft für seine Tätigkeit im Dienst der Gesellschaft bezieht, zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb. Dies gilt nach Auffassung der Verwaltung ·auch dann, wenn der Dienstleistende an der Gesellschaft nur geringfügig beteiligt ist, die Tätigkeitsvergütung den Tariflohn eines vergleichbaren Arbeitnehmers nicht übersteigt und die geleisteten Dienste von untergeovdneter Bedeutung sind (vgl. BdF-Erlaß v. 20. 12. 1977, BStBl I 1978, 8). Eine andere Beurteilung könnte nur dann Platz greifen, wenn die als Gesellschafter bezeichnete Person nach dem Gesamtbild der Verhältnisse in Wahrheit nicht Mitunternehmer ist, weil sie starken Beschränkungen hinsichtlich Geschäfts45*

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ffihrung und Entnahmerecht unterliegt oder ihr Unternehmerrisiko gering ist (vgl. Oeftering I Görbing, Das gesamte Lohnsteuerrecht, 5. Aufl., § 19 EStG Anm. 84). In diesen Fällen ist die Tätigkeit als im Rahmen eines Dienstverhältnisses geleistet und die Vergütung dafür als Arbeitslohn anzusehen. Auch arbeitsrechtlich ist ein solcher Gesellschafter als Arbeitnehmer anzusehen (vgl. Hueck, Das Recht der OHG, 4. Aufl., S. 114; HAG-Urteil v. 11. 5.1978, NJW 1979, 999), so daß es insoweit gerechtfertigt ist, ihn als Arbeitnehmer-Kommanditisten zu bezeichnen. Es bleibt abzuwarten, ob die Rechtsprechung in den Fällen, in denen der Gesellschaftsanteil nur klein und die ausgeübte Tätigkeit von untergeordneter Bedeutung ist, in Anwendung wirtschaftlicher Betrachtungsweise die Annahme einer Gesellschafter-MitunternehmerstelLung verneint und steuerrechtlich nur ein Arbeitnehmerverhältnis annimmt. Ansätze für eine Weiterentwicklung der Rechtsprechung in diesem Sinne könnte das BFH-Urteil v. 23. 5.1979 IR 163/77 (BFHE 128, 213, BStBl II 1979, 757) geben, wonach Vergütungen, die eine Personengesellschaft ihren Gesellschaftern für die in § 15 Abs. 1 Nr. 2 EStG bezeichneten Leistungen gewährt, durch diese Vorschrift nur dann erfaßt werden, wenn die Leistungsbeziehung durch den Gesellschaftszweck veranlaßt ist. Wie in der Entscheidung weiter ausgeführt ist, gilt§ 15 Abs. 1 Nr. 2 EStG nicht für Vergütungen für Leistungen, die weder rechtlich noch wirtschaftlich eine Verbindung mit dem Gesellschaftsverhältnis haben, "also auf einem Leistungsaustausch beruhen, der sich weder zivilrechtlieh noch nach wirtschaftlicher Betrachtung als Beitrag zur Verwirklichung des Gesellschaftszweckes (durch einen Gesellschafter) werten läßt". Mittlerweile sind durch das BFH-Urteil v. 24.1.1980 IVR 156-1571 78 (BFHE 129, 490, BStBl I 1980, 271) Tätigkeitsvergütungen eines Arbeitnehmer-Kommanditisten, der Mitunternehmer ist, als gewerbliche Einkünfte qualifiziert worden. 3. Merkmal der Unselbständigkeit

Die Unselbständigkeit ist steuerrechtlich ein wesentliches Merkmal des Arbeits- oder Dienstverhältnisses. Die Unselbständigkeit findet ihren Ausdruck im Schulden lediglich der Arbeitskraft (vgl. Oeftering I Görhing a.a.O. § 19 EStG Anm. 9). Das Steuerrecht hat insoweit dafür in § 1 Abs. 2 und 3 LStDV eine eigene Begriffsbestimmung. Die wesentlichen Merkmale der steuerrechtliehen Unselbständigkeit sind danach Eingliederung in den geschäftlichen Organismus des Arbeitgebers und demgemäß Weisungsgebundenheit nach Zeit, Ort und Art der Betätigung. Die Eigenständigkeit dieser steuerrechtliehen Begriffsbestimmung ge-

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genüber dem Arbeitsrecht und dem Sozialversicherungsrecht wird stets betont (vgl. BFH-Urteil v. 18. 1. 1974 VI R 221/69, BFHE 111, 326, BStBl II 1974, 301). Im einzelnen Fall kann aber die Frage der Nichtselbständigkeit im steuerrechtliehen Sinn nach den gleichen Merkmalen zu beurteilen sein wie arbeitsrechtlich oder sozialversicherungsrechtlich. Auf diese Eigenständigkeit des steuerrechtliehen Begriffs der Unselbständigkeit heben zwei Entscheidungen des BFH aus jüngerer Zeit ab. In dem Urteil v. 14. 12. 1978 I R 121/76 (BFHE 126, 311, BStBl II 1979, 188) wurde ein Rundfunkvermittler nach dem Gesamtbild der Verhältnisse als se}bständig angesehen, weil er ein eigenes Unternehmerrisiko zu tragen hatte und innerhalb des ihm zugewiesenen Bezirks über seine Arbeitskraft frei verfügen und seine Initiative frei entfalten konnte. Im Urteil v. 20. 2. 1979 VIII R 52/77 (BFHE 127, 201, BStBl !I 1979, 414) dagegen wurde ein selbständiger Apotheker, der als Urlaubsvertreter eines anderen selbständigen Apothekers gegen Entgelt tätig geworden war, insoweit als unselbständig angesehen. Auch hier ,wurde das Gesamtbild der Verhältnisse - Fehlen eines Unternehmerrisikos, Weisungsgebundenheit im Innenverhältnis gegenüber dem vertretenen Apotheker, Bedeutungslosigkeit der apothekenrechtlichen Eigenverantwortlichkeit- als maßgebend für ·die Unselbständigkeit und demgemäß als entscheidend für den Bezug von Einkünftenaus nichtselbständiger Tätigkeit angesehen. Diese Entscheidung ist für Urlaubsvertretungen aller Art z. B. bei freipraktizierenden Ärzten, Steuerberatern, Rechtsanwälten u. ä. von Bedeutung. Voraussetzung ist jeweils, daß der Urlaubsvertreter tatsächlich in der Praxis des Vertretenen tätig wird.

111. Begriff des Arbeitslohns Der Begriff des Arbeitslohns, der im Steuerrecht grundsätzlich einheitlich für die Einkommensteuer, Gewerbesteuer und Umsatzsteuer gilt, unterscheidet sich von dem arbeitsrechtlichen Begriff wesentlich. Arbeitslohn im Sinn des Steuerrechts ist nicht nur die nach § 611 BGB vom Arbeitgeber geschuldete Gegenleistung für die erbrachten Dienste. Der steuerrechtliche Arbeitslohnbegriff ist aus Gründen einer gleichmäßigen Besteuerung aller Arbeitnehmer weit gefaßt. Diese weite Fassung wirkt einer Steuerumgehung dadurch entgegen, daß Teile der Vergütung für die Dienstleistungen durch geschickte Vereinbarungen der Besteuerung nicht entzogen werden können (vgl. Oeftering I Görhing a.a.O. § 19 EStG Anm. 196). Arbeitslohn im Sinn des Steuerrechts ist grundsätzlich demnach alles, was im Rahmen eines Dienstverhältnisses aus Anlaß und als Ausfluß dieses Verhältnisses dem Arbeitnehmer zufließt (RFH-Urteil v. 24. 10.

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1934 VI A 141/34 (RStBl. 1935, 335). So wird steuerrechtlich auch eine auf Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten durch den Arbeitgeber beruhende Schadensersatzleistung dem Arbeitslohn zugerechnet (BFHUrteil v. 28. 12. 1975 VI R 29172, BFHE 115, 251, BStBl II 1975, 520; v. 13. 4.1976 VI R 216/72, BFHE 119, 247, BStBl II 1976, 694, krit. Tipke StuW 1975, 327; Knobbe-Keuk StuW 1976, 43; Herrmann I Heuer a.a.O. § 19 EStG Anm. 170), während sie arbeitsrechtlich nicht zum Arbeitslohn gehört (Bobrowski I Gaul, Das Arbeitsrecht im Betrieb, Band I, 7. Aufl. s. 236). Der steuerrechtliche Begriff des Arbeitslohns erfährt aber eine Einschränkung durch die sog. Annehmlichkeiten. Dabei handelt es sich um Vorteile, die dem Arbeitnehmer zugutekommen, aber nicht als Arbeitslohn behandelt werden, weil der Arbeitgeber damit einer arbeitsrechtlichen Fürsorgepflicht genügt oder die dem Arbeitnehmer gewährten Vorteile im eigenen Interesse liegen. 1. Sa.dlbezüge

Bei Sachbezügen (Wohnung, Kost, Waren, sonstige Sachbezüge) ist sowohl die Abgrenzung zum steuerpflichtigen Arbeitslohn und nichtsteuerbaren Annehmlichkeiten als auch deren Bewertung häufig schwierig. a) Verbilligte Mahlzeiten, Betriebsveranstaltungen Probleme ergeben sich dabei vor allem bei Sachbezügen in Form von freien oder verbilligten Mahlzeiten im Betrieb oder bei Sachleistungen im Rahmen von Betriebsveranstaltungen. Der Wert von Mahlzeiten, die ein Arbeitgeber dem Arbeitnehmer gewährt, gehört grundsätzlich zum steuerpflichtigen Arbeitslohn. Maßgebend für den Wert dieses Sachbezugs sind die Werte, die aufgrund der Ermächtigung in§ 17 Nr. 3 SozGesB IV erlassenen Sachbezugs-VO festgesetzt sind (§ 8 Abs. 2 EStG). Insoweit besteht Übereinstimmung zwischen Lohnsteuer- und Sozialversicherungsrecht. Für nicht sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer z. B. Beamte besteht keine gesetzliche Bindungswirkung. In der steuerlichen Praxis werden die amtlichen Sachbezugswerte auch in den Fällen angesetzt, in denen sie nicht gesetzlich verbindlich sind (vgl. Oeftering I Görbing a.a.O. § 8 Anm. 14 a). Die Verwaltung vermindert jedoch den Sachbezugswert unentgeltlich oder verbilligt gewährter Mahlzeiten um den Betrag von 1,50 DM (Lohnsteuerrichtlinien 1978 Abschn. 19 Abs. 2). Dieser Freibetrag ist als echte Annehmlichkeit anzusehen. Bei Sachzuwendungen aus Anlaß von Betriebsveranstaltungen werden Zuwendungen von geringem Wert, die bei derartigen Veranstaltungen

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üblich sind, als steuerfreie Annehmlichkeit angesehen (vgl. zuletzt BFHUrteil v. 9. 6.1978 VI R 197/75, BFHE 125, 260, BStBl II 1978, 532). Die Verwaltung sieht als geringen Wert in diesem Sinn einen Betrag vo11 50,- DM an (vgl. Lohnsteuerdchtlinien 1978 Abschn. 20 Abs. 1 S. 2).

b) Werkswagen Arbeitnehmer von Automobilfabriken erhalten unter Inanspruchnahme eines Personalrabatts vom Arbeitgeber regelmäßig fabrikneue Pkw, die sie nach Ablauf der ihnen auferlegten Sperrfrist weiter veräußern (sog. Jahreswagen). Umsatzsteuerrechtlich wurde die Veräußerung dieser Wagen als steuerpflichtiger Umsatz angesehen (vgl. BFH-Urteil v. 26. 4. 1979 V R 46/72, BFHE 128, 110, BStBl II 1979, 530). Lohnsteuerrechtlich entsteht in diesen Fällen die Frage, ob und in welcher Höhe in dem vom Werk gewährten Rabatt ein steuerpflichtiger geldwerter Vorteil zu sehen ist. Voraussetzung für die Nichterfassung eines Preisvorteils als Arbeitslohn ist stets, daß er seiner Höhe nach nicht übermäßig ist, d. h. unter Berücksichtigung der Umstände des Dienstverhältnisses nicht ins Gewicht fällt (BFH-Urteil v. 19. 4. 1974 VI R 107/70, BFHE 115, 98, BStBl II 1975, 383). Bei der Höhe der bekanntgewordenen Personalrabatte (vgl. die Zusammenstellung in ADAC-Motorwelt Nr. 3/79 S. 55) erscheint es zweifelhaft, ob diese Grenze noch eingehalten ist. 2. Entlassungsabfindungen

In der ursprünglichen Regelung des Abfindungsbegriffes in § 3 Nr. 9 EStG i. d. F. bis einschließlich 1974 war auf das Kündigungsschutzgesetz bzw. das Betriebsverfassungsgesetz verwiesen. Damit war der steuerliche Abfindungsbegriff eng mit dem arbeitsrechtlichen verbunden. Mit der Neufassung des§ 3 Nr. 9 EStG durch das EinkommensteuerReformgesetz 1975 ist die Bindung an den arbeitsrechtlichen Abfindungsbegriff entfallen und ein steuerrechtlicher Begriff eingeführt worden, der aus sich heraus auszulegen ist. Voraussetzung für die Steuerbefreiung innerhalb der Grenzen des § 3 Nr. 9 EStG ist nur noch, daß die Abfindung "wegen einer vom Arbeitgeber veranlaßten oder gerichtlich ausgesprochenen Auflösung des Dienstverhältnisses" gezahlt wurde. Im Urteil v. 13. 10. 1978 VI R 91/77 (BFHE 126, 399, BStBl II 1979, 155) entschied der BFH, unter "Auflösung des Dienstverhältnisses" könne nur die nach bürgerlichem bzw. Arbeitsrecht wirksame Auflösung verstanden werden, nicht eine fiktive Auflösung zum Ende einer ordentlichen Kündigungsfrist. Die Steuerfreiheit einer Abfindung sei daher nicht dadurch in Frage gestellt, daß sie Beträge enthalte, die beim Weiterbestehen des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist

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als laufender Arbeitslohn zugeflossen wären. Diese Rechtsprechung hat zur Folge, daß Arbeitnehmer und Arbeitgeber in gewissem Umfang selbst bestimmen können, ob sie steuerfreie Abfindungen an die Stelle steuerpflichtiger Lohnzahlungen treten lassen wollen. Vereinbaren sie die Auflösung des Dienstverhältnisses zu einem früheren Zeitpunkt als dem bei einer ordentlichen Kündigung, sind Zahlungen, die über die Ansprüche zum vereinbarten Auflösungszeitpunkt hinausgehen (Gehalt, Tantieme, Urlaubsgeld usw.), steuerbegünstigte Abfindungen. Wird hingegen das Dienstverhältnis entsprechend einer ordentlichen Kündigung beendet und der Arbeitnehmer unter Beibehaltung der Bezüge vom aktiven Dienst befreit, liegt auch bei Zahlung eines Einmalbetrages eine Lohnzahlung und keine Abfindung i. S. des § 3 Nr. 9 EStG vor. Die Entscheidung v. 20.10.1978 VI R 107/77 (BFHE 126, 408, BStBl II 1979, 176) führt diese Grundsätze im Rahmen des § 24 Nr. 1 Buchst. a EStG fort. Damit müssen bei Entlassungsabfindungen an Arbeitnehmer sowohl für die Steuerfreiheit nach§ 3 Nr. 9 EStG als auch für die Steuerermäßigung nach§ 34 Abs. 1 und 2 i. V. m. § 24 Nr. 1 Buchst. a EStG die gleichen Voraussetzungen vorliegen. Abfindungen, die die Höchstbeträge des§ 3 Nr. 9 EStG übersteigen, sind daher insoweit regelmäßig nach§ 34 Abs.1 und 2 i. V. m. § 24 Nr.1 a begünstigt. 3. Streikgelder

Streikgelder sind durch das Urteil des BFH v. 30. 10. 1970 VI R 273/67 (BFHE 100, 504, BStBl II 1971, 138) als steuerpflichtige Entschädigung für entgangenen oder entgehenden Arbeitslohn i. S. des§ 24 Nr. 1 Buchst. aEStG angesehen worden. Es scheint, daß der Streit um die Streikgelder mit verschiedenartigen Argumenten sich nunmehr neu entzündet (vgl. Fragestunde des Deutschen Bundestages v. 8. 11. 1979, Seuffert DStR 1979, 395). Es bleibt abzuwarten, inwieweit die neu vorgebrachten Argumente, die auch stark politischen Einschlag haben, soviel rechtliches Gewicht gewinnen, um die Rechtsprechung zu einer Änderung veranlassen zu können. 4. Nettolohn

Als Nettolohn bezeichnet man einen Lohnbetrag dann, wenn der Arbeitgeber Abzugsbeträge, mit denen an sich der Arbeitnehmer zu belasten wäre (z. B. Lohnsteuer, Kirchensteuer, Arbeitnehmeranteile an den Sozialversicherungsbeiträgen) ganz oder teilweise übernimmt. Solche Nettolohnvereinbarungen werden auch steuerrechtlich anerkannt. Sie müssen allerdings als Ausnahme von der Regel eindeutig nachgewiesen werden (BFH-Urt. v. 18. 5. 1972 IV R 168/68, BFHE 106, 192, BStBl.

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II 1972, 816 m. w. Nachw.). Der Arbeitnehmer bleibt auch bei Nettolohnvereinbarung dem Finanzamt gegenüber Steuerschuldner, bei zu Unrecht einbehaltener und abgeführter Lohnsteuer Erstattungsberechtigter (BFH-Urt. v. 19. 12. 1960 VI 92/60 U, BFHE 72, 465, BStBl III 1961, 170) ebenso hinsichtlich des Lohnsteuerjahresausgleichs. Ob der Arbeitnehmer allerdings den Erstattungsbetrag behalten darf oder an den Arbeitgeber abführen muß, richtet sich nach dem Inhalt der getroffenen Vereinbarungen. Fehlt es daran, so spricht vieles für die Auffassung, daß auch arbeitsrechtlich im Verhältnis zum Arbeitgeber der Erstattungsanspruch dem Arbeitnehmer zusteht (vgl. Landesarbeitsgericht Ramm, DB 1960, 499).

IV. Werbungskosten Steuerrechtlich spielen im Zusammenhang mit den Einkünften aus einem Arbeitsverhältnis die Werbungskosten eine besondere Rolle. Denn durch sie wird die Höhe des zu versteuernden Einkommens wesentlich beeinfl.ußt. Werbungskosten mindern das zu versteuernde Einkommen. Unter Werbungskosten sind Aufwendungen des Arbeitnehmers zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen zu ver~ stehen(§ 9 EStG). Die Werbungskosten sind auch arbeitsrechtlich, insbesondere bei Verhandlungen über die Höhe der Bezüge des Arbeitnehmers von Bedeutung. Denn der Arbeitgeber kann regelmäßig nur in der Höhe steuerfreie Zuwendungen leisten, in der auf seiten des Arbeitnehmers im wirtschaftlichen Zusammenhang mit dem Zufl.uß stehende als Werbungskosten abziehbare Aufwendungen gegeben sind. 1. Kraftfahrzeugkosten

a) Finanzierungskosten Seit dem Wegfall des Sonderausgabenabzugs für Schuldzinsen ab dem 1. Januar 197 4 war die Frage streitig, ob neben der sog. Kilometerpauschale für Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte in Höhe von 0,36 DM pro Entfernungskilometer (§ 9 Abs. 1 Nr. 4 EStG) Schuldzinsen für die Fremdfinanzierung eines Pkw insoweit, als sie anteilig auf die betreffenden Fahrten entfallen, als Werbungskosten abziehbar sind. Der BFH hat in zwei Entscheidungen v. 30. 11. 1979 VI R 83/77 u. VI R 129/78 (BJ!IHE 129, 346, 854, BStBl II 1980, 138, 141) offengelassen, ob die Schuldzinsen, soweit sie auf dlie entsprechenden Fahrten entfallen, überhaupt dem Grunde nach Werbungskosten darstellen. Der BFH lehnte jedoch die Berücksichtigung der Schuldzinsen deshalb ab, weil sie 2lU den gewöhnlichen, durch die Pauschbeträge abgegoltenen Aufwendungen zählen.

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b) Parkhausgebühren Die nicht weniger streitige Frage, ob Aufwendungen für Parkhausgebühren, Garagen- und Stellplatzmiete neben der Kilometerpauschale für Fahrten von und zur Arbeitsstätte als Werbungskosten abgezogen werden können, hat der BFH im Urteil v. 2. 2. 1979 VI R 77/77 (BFHE 127, 186, BStBl II 1979, 372) ebenfalls abschlägig entschieden. Die Entscheidung hat keine Auswirkung auf die Frage, ob in der unentgeltlichen Zurverfügungstellung eines Parkplatzes durch den Arbeitgeber am Arbeitsplatz eine steuerpflichtige Zuwendung gesehen werden kann. Hier dürfte regelmäßig, selbst bei den hohen Stellplatzgebühren im Innenbereich der Städte, eine steuerfreie Annehmlichkeit wegen Überwiegens der eigenbetrieblichen Interessen des Arbeitgebers zu bejahen sein.

c) Unfallschäden Erleidet ein Arbeitnehmer auf einer beruflich veranlaßten Fahrt einen Kraftfahrzeugunfall, dann sind die Kosten eines solchen Unfalls mit der Einschränkung anerkannt worden, daß der Arbeitnehmer nicht selbst eine Ursache für den Schaden dadurch gesetzt hat, daß er sich bewußt und leichtfertig über Verkehrsvorschriften hinweggesetzt hat. Diese Einschränkung ist durch die Entscheidung des Großen Senats des BFH v. 28. 11. 1977 GrS 2- 3/77 (BFHE 124, 43, BStBl II 1978, 105) entfallen. Grundsätzlich können in diesen Fällen die Reparaturaufwendungen für den Kraftwagen als Werbungskosten abgesetzt werden. Läßt der Arbeitnehmer den Schaden nicht reparieren, so kann er als Werbungskosten je nach Sachlage geltend machen entweder den Unterschiedsbetrag zwischen dem Zeitwert des Pkw vor dem Unfall und dem Verkaufserlös für das Unfallwrack (BFH-Urt. v. 17. 10. 1973 VI R 395/70, BFHE 111, 59, BStBl II 1974, 185) oder jedenfalls einen Betrag in Höhe der durch den Verkehrsunfall herbeigeführten außergewöhnlichen technischen Abnutzung. Die Wertminderung kann jedoch nicht gleichgesetzt werden der Höhe eines Betrages für eine Reparatur, wenn sie durchgeführt worden wäre (BFH-Urt. v. 9. 11. 1979 VI R 156/77, BFHE 129, 143, BStBl II 1980, 71). 2. Berufskleidung

Grundsätzlich ist für Berufskleidung ein Werbungskostenabzug nur möglich bei typischer Berufskleidung (§ 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 EStG). Dieser Begriff deckt sich weitgehend mit dem arbeitsrechtlichen Begriff der Schutzkleidung, der Dienstkleidung (§§ 66, 67 BAT) sowie der Arbeitskleidung im engeren Sinn und der Berufskleidung (vgl. Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch 3. Aufl. S. 14). In Gren2lbereichen bestehen jedoch Unterschiede.

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Die Entscheidung des BFH v. 9. 3. 1979 VI R 171/77 (BFHE 127, 522, BStBl. II 1979, 519) sieht auch den schwarzen Anzug des Oberkellners als typische Berufskleidung an. Als maßgeblich dafür stellte der BFH auf die konkrete Funktion dieses Kleidungsstückes ab. Es diene nicht dem üblichen Zweck als festliche Kleidung, sondern der Hervorhebung und Kennzeichnung des Steuerpflichtigen im Rahmen seines Berufs und werde auch von den Gästen erwartet. Bis zu welcher Grenze beim Tragen bürgerlicher Kleidung ausnahmsweise typische Berufskleidung angenommen werden kann, verdeutlicht auch die Entscheidung des BFH v. 20. 11. 1979 VI R 143/77 (BFHE 129, 153, BStBl II 1980, 73). Der BFH sah den Trachtenanzug, den der Geschäftsführer eines "im rustikal-altbayerischen Stil" gehaltenen Lokals im Dienst zu tragen hatte, nicht als typische Berufskleidung an, weil normale Trachtenanzüge, "jedenfalls im Nürnberger Raum", zur üblichen bürgerlichen Kleidung zu rechnen seien und eine Verwendung dieses Kleidungsstückes zum Zwecke der privaten Lebensführungaufgrund der berufsspezifischen Eigenschaft nicht so gut wie ausgeschlossen sei. Der Senat ließ jedoch offen, ob es Ausnahmen gebe, wie z. B. den Fall eines so außergewöhnlich hohen, ausschließlich beruflich bedingten Mehrverschleißes an bürgerlicher Kleidung, daß die Nichtberücksichtigung zu einer offensichtlich ungerechtfertigten Besteuerung führen würde. In dem Urteil v. 20. 11. 1979 VI R 25/78 (BFHE 129, 149, BStBl II 1980, 75) stellt der BFH klar, daß Aufwendungen für übliche bürgerliche Kleidung selbst dann, wenn sie nachweislich nur bei der Berufsausübung getragen wird - der Steuerpflichtige zog sich täglich am Arbeitsplatz um-, nicht als Werbungskosten abziehbar sind. Die Entscheidungen betreffen nur die Berücksichtigung der normalen Absetzung für Abnutzung gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 i. V. m. § 7 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 EStG. Wird daher bürgerliche Kleidung im Beruf über das übliche Maß der Abnutzung so stark beschädigt, daß die Voraussetzungen einer Absetzung für Abnutzung für außergewöhnliche technische Abnutzung gegeben sind, kann der Werbungskostenabzug in Höhe der Wertminderung bzw. der aufgewandten Instandsetzungskosten nicht versagt werden.

V. Schluß Die vorstehende Auswahl aus der neueren höchstrichterlichen Finanzrechtsprechung zu steuerlichen Problemkreisen, die unmittelbar in die Beziehungen zwischen den am Arbeitsverhältnis Beteiligten hineinspielen, ließe sich noch vermehren. Sie zeigt, daß der Bundesfinanzhof Merkmale, die im Steuerrecht wie im Arbeitsrecht von Bedeutung sind, autonom unter steuerlichen Gesichtspunkten einer eigenständigen Begriffs-

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bildung zuführt, die es der Finanzgerichtsbarkeit im allgemeinen erlaubt, ohne eine ins einzelne gehende Auseinandersetzung mit der arbeitsrechtlichen Wertung Recht zu sprechen. Es finden sich daher in Entscheidungen des BFH verhältnismäßig selten Verweisungen auf Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts. Dies schließt jedoch nicht aus, daß bei einzelnen Tatbeständen, wie z. B. dem Abgrenzungskriterium der Unselbständigkeit, eine weitgehende Übereinstimmung in der arbeitsrechtlichen und steuerrechtliehen Judikatur besteht, die eine gewissenhafte Beobachtung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts durch den BFH erfordert. Eine Begriffsvereinheitlichung im allgemeinen ist jedoch angesichts der unterschiedlichen rechtspolitischen Zwecke, wie eingangs erwähnt, nicht anzustreben. Die von Schick (vgl. DStZ/A 1975, 392) vorgeschlagene Lösung, eine begriffliche Kongruenz u. a. durch die Anrufung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes herbeizuführen, erscheint mir daher bedenklich. Unbedingt wünschenswert wäre indes eine weitergehende Übereinstimmung zwischen dem sozialversicherungsrechtlichen Arbeitsentgeltbegriff und dem steuerrechtliehen Arbeitslohnbegriff zur Vereinfachung der den Betrieben beim Abzug der Lohnsteuer bzw. der Sozialversicherungsbeiträge übertragenen Fiskalaufgaben.

LOHNGERECHTIGKEIT HEUTE Von J ohannes Messner Die Frage des gerechten Lohnes ist im Vergleich zur Zeit vor dem Ersten Weltkrieg neu gestellt, weil sich eine weitgehende Verschiebung des dafür maßgebenden Datenbestandes vollzogen hat und weiter vollzieht. I. Der neue Datenbestand Zu dem neuen Datenbestand gehören die Erhöhung der Ölpreise, die Schwierigkeiten wegen der Energieverknappung, der Rückgang des Wirtschaftswachstums, die weltweite Inflation, die hohe Arbeitslosigkeit, das Wachstum der Weltbevölkerung (alle fünf Tage wächst die Weltbevölkerung um eine Million Menschen), die drohende Nahrungsmittelnot von Entwicklungsvölkern, die von den Entwicklungsländern geforderte Neue Weltwirtschaftsordnung. Unmittelbar sichtbar wird die Bedeutung des Gerechtigkeitspostulates durch die Tatsache, daß (1978 Statistik der Weltbank) eine halbe Milliarde Menschen an Nahrungsmittelmangel leidet, so daß nicht selten Kinder verhungern. Eine weitere ganze Milliarde erreicht nicht das kulturelle Existenzminimum (Analphabetismus, Wohnungsverhältnisse, Diktaturen). Der für die Lohngerechtigkeit maßgebende Datenbestand wurde noch unsicherer durch den ergebnislosen Ausgang der Tagung des OPECkartells in Caracas Ende 1979. Nach Schätzungen der Pariser OECD werde die Zahl der Arbeitslosen in den 24 Mitgliedsländern der OECD auf über 20 Millionen steigen. Die Inflation werde 10 Prozent erreichen. In den USA und Großbritannien werde das Bruttosozialprodukt schrumpfen, wird also kein Wirtschaftswachstum erfolgen. Japan, die BRD und einige kleinere Länder können noch ein Wirtschaftswachstum von zwei Prozent erreichen. Die so sich entwickelnde Spaltung der Konjunktur mache zwar, sagt die OECD, eine weltweite Wirtschaftsrezession wie nach dem erstenÖlschock (1973/74) unwahrscheinlich, aber in der Einkommens- und Lohnfrage werden Schwierigkeiten auftreten. Die Lohngerechtigkeit mit hinreichenden Löhnen zu erstellen, wäre schon angesichts der besprochenen beiden Datenbestandsgruppen schwer genug. Dazu kommt drittens die Arbeitslosigkeit der Jugendlichen in

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der Dritten Welt infolge des starken Bevölkerungswachstums. Auf der 53. Internationalen Arbeitskonferenz im Juni 1969 wurden die für Jugendliche zu schaffenden Arbeitsplätze in der zweiten Entwicklungsdekade (1970 - 1980) auf 200 Millionen geschätzt, "ein Problem von nahezu unvorstellbaren Dimensionen".

II. Die soziale Gerechtigkeit Die Frage der Lohngerechtigkeit ist, das liegt von vornherein fest, vielschichtig. In Frage steht die soziale Gerechtigkeit. Diese ist nach dem allgemeinen Wortgebrauch die Gerechtigkeit, in der die großen Einkommensgruppen der Volkswirtschaft und Weltwirtschaft sich gegenseitig das zuerkennen, was nach ihrer Leistung und deren Ertrag das "Ihrige" (suum) ist, zugleich die elementaren Bedürfnisse der Entwicklungsländer berücksichtigt, außerdem aber auch der Gemeinschaft des eigenen Staatsvolkes das zukommen läßt, was zu beanspruchen ihr zusteht. Das ihr Zukommende (suum) besteht in dem, was der Staat braucht zur Finanzierung seiner Haushaltsbedürfnisse und Gemeinwohlaufgaben. Infolge der Tarifautonomie, die den Kollektivvertragsparteien völlige Freiheit garantiert, hatten die Gewerkschaften der Industrieländer mit ihren Lohnforderungen eine Art Vorhand. Sie konnten die Bezahlung hoher Löhne erzwingen (Streik). Die Arbeitgeber konnten durch Preiserhöhungen solche Lohnforderungen ausgleichen. überhöht sind Lohnforderungen, wenn sie über das durch den Wirtschaftsertrag gesetzte Maß hinausgehen oder die notwendige Entwicklungshilfe beeinträchtigen. Überhöhte Löhne und Preise setzen die Inflation in Gang. Daß die gesellschaftlichen Gruppen vor allem auf ihren Anteil bedacht sind, kann nicht wundernehmen. Was überraschen muß, ist die völlige Autonomie der Sozialpartner: Der Staat, die Regierung, darf sich nicht einmischen. Nun ist aber die Regierung für Bestand und Entwicklung des Gemeinwohls, auch des wirtschaftlichen, verantwortlich. Es ist die Tragik der freiheitlichen Demokratie in ihrer gegenwärtigen Verfassung, daß in ihr die Freiheitsidee des Individualismus von den organisierten Gruppen übernommen werden konnte. Diese sind auf die möglichste Befriedigung ihrer Gruppeninteressen bedacht1 • Dadurch war die Volkswirtschaft der Industrieländer dem Laissez-faire Pluralimus überantwortet.

1 Vgl. dazu Goetz-Briefs, Laissez-faire Pluralismus. Demokratie und Wirtschaft des gegenwärtigen Zeitalters, 1966; ders., Gewerkschaftsprobleme in unserer Zeit, 1968.

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III. Der Laissez-faire Pluralismus Die organisierten Gruppen, so auch die Gewerkschaften, konnten sich Einkommensteile sichern, die nicht durch wirklich erarbeiteten Ertrag der Volkswirschaft gedeckt waren. Am empfindlichsten reagiert die Volkswirtschaft, wenn ihr durch überhöhte Einkommen und Überverbrauch die Investitionsmittel zu sehr verkürzt werden. Wird der Investitionsbedarf nicht befriedigt, müssen die Zukunftsentwicklung der Volkswirtschaft und die Gewährleistung der Arbeitsplätze leiden. Denn wenn Vollbeschäftigung das Ziel ist, ist der Arbeitgeber im Grunde die Volkswirtschaft als Ganzes. Erstes Gebot der Lohngerechtigkeit ist daher eine Lohnhöhe, die nicht zum Hindernis für die Erhaltung der Arbeitsplätze und die günstige Entwicklung der Volkswirtschaft wird. Überhöhte Einkommen von Gruppen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer blockieren die Vollbeschäftigung. Das ist ein unerbittliches Gesetz einer jeden Volkswirschaft, der freiheitlichen wie der kommunistischen. Die letztere umgeht dieses Gesetz dadurch, daß sie das Lohnniveau so niedrig hält, daß die Vollbeschäftigung erzielt wird. In der freiheitlichen Wirtschaft kommt ein solches Lohnniveau nicht zustande, weil sich die Vertreter der Eigentümer- und Arbeiterinteressen als Funktionäre ihrer Organisationen durch Erfolge für die Gruppen, die sie vertreten, legitimieren wollen. Dabei werden die Grenzen überschritten, die Keynes mit Nachdruck zur Vermeidung der Inflation beachtet wissen wollte: Wenn mit den Mitteln der zentralen Geld- und Haushaltpolitik (deficit spending) die Vollbeschäftigung erreicht ist, trete die klassische Theorie der N ationalökonomie wieder voll in Geltung2 • Der Markt sollte dann wieder maßgebend sein für Preis, Zins, Renten und auch für den Lohn. Der Markt sollte ohne Monopolbildung über die nach der Produktivitätsregel anfallenden Einkommensgrößen entscheiden. IV. Die Inflation Die Inflation, das steht nach allen Währungskonferenzen fest, kann in den Industrieländern nur überwunden werden, wenn die Verantwortung der Kollektivvertragsparteien gegenüber dem Gemeinwohl institutionalisiert ist. Einer der bedeutendsten englischen Ökonomen, Aubery Jones (Cambridge) hat dazu in seinem Buch "Die neue lnflation"3 einen sehr beachtenswerten Vorschlag gemacht. Was ihn dazu veranlaßte, wa2

J. M. Keynes, The General Theory of Employment, Interest and Money,

3

Au.bery Jones, The New Inflation. The Politics of Prices and Incomes,

Ausg. 1946, 378. 1973.

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renseine jahrelangen Erfahrungen als Vorsitzender der Preis- und Einkommenskommission in Großbritannien. Er geht davon aus, daß die Gewerkschaften nicht nur wirtschaftliche, sondern auch politische Institutionen sind, das sind solche, die durch Lohnforderungen wie durch die Parlamentswahlen auf die politische Entwicklung direkten oder indirekten Einfluß ausüben. Das ermögl~cht ihnen Lohnforderungen, die über das im Allgemeininteresse gelegene Maß hinausgehen. Das Management erhebe durch Erhöhung der Preise die erforderlichen Investitionsmittel von den Konsumenten durch Zuschlag zu den Lohnkosten. Bei dieser Sachlage sei die zunehmende Beschleunigung der Inflation unvermeidlich. Jones schlägt dagegen die Bestellung einer von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite beschickten Kommission vor. Diese hätte Empfehlungen und Richtlinien der Einkommenspolitik an die Regierung zu erstatten. Bei den Einigungsverhandlungen in Lohnfragen sollen ausschließlich sachliche Erwägungen nach Produktivitäts- und Gemeinwohlgesichtspunkten mit Bedacht auf die bestehenden Lohn- und Preisverhältnisse maßgebend sein. Im Notfall sollte die Regierung zur Durchsetzung der Empfehlungen und Richtlinien der Kommission berechtigt sein. Das J onesmodell konnte nicht realisiert werden. Vielmehr zwangen die Gewerkschaften der Kohlenbergarbeiter die konservative Regierung 1974 zur Ausschreibung von Neuwahlen. Die Labourpartei gewann die Wahlen, die Inflation und die Arbeitslosenziffern schnellten weiter hinauf. V. Wohlstandswelt und Armutswelt Aus der Reduzierung der Fortschrittserwartungen auf fast ein Nullwachstum den Schluß zu ziehen, daß dem Produktivitätsimperativ weniger Bedeutung zukomme, wäre verfehlt. Das genaue Gegenteil ist die wirkliche Forderung der neuen Datenlage. Allein der durch die Ölpreiserhöhung verursachte Abfluß von Kaufkraft aus den Industrieländern in die ölproduzierenden Länder, die Verknappung der Energie für den industriellen Produktionsprozeß, die Überwindung der Umweltverschmutzung erfordern gewaltige Anstrengungen zu möglichster Produktivitätsleistung jeder einzelnen Volkswirtschaft. Produktivität bedeutet, daß mit den verfügbaren Naturgütern und Arbeitskräften der bestmögliche Ertrag erzielt wird. Daß sich Volkswirtschaften ein steigendes Einkommen erarbeiten wollen, hängt mit dem Anwachsen der Bedürfnisse und mit dem Anwachsen der Bevölkerung zusammen. Wenn nicht durch den Geist der Habsucht und der Schlemmerei geprägt, ist das Streben nach Wohlfahrt nicht fragWJiirwg. Wohlfahrt kann eine hohe nicht nur auf materiellen Gütern beruhende Lebensqualität ermöglichen, sie kann vor allem in den Dienst der vielfältigen Bedürfnisse von unter

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Armut leidenden Völkern oder Volksgruppen gestellt werden. Nicht zu verantworten ist das Wohlfahrtsstreben von Volkswirtschaften, wenn ein Großteil der Weltbevölkerung mit dem Lebensnotwendigsten auskommen muß und ihm auch das nicht immer gesichert ist. Man denke, daß nach Statistiken der Vereinten Nationen das Prokopfeinkommen der 40 ärmsten Länder der Welt im vorigen Jahrzehnt von 105 auf 108, also um 3 Dollar stieg, während jenes der Industriestaaten sich von 3 100 auf 4 000, also um 900 Dollar erhöhte. Unbezweifelbarerweise ist es eine Forderung der Gerechtigkeit, daß die Entwicklungspolitik angesichts der so weit auseinanderliegenden Einkommensgruppen nach: einem gewissen Ausgleich in dem Sinn strebt, daß die ärmsten Entwicklungsländer eine begründete Möglichkeit sehen können, sich emporzuarbeiten. Die Erstellung von industriellen Großprojekten ist kein Weg dazu, das steht heute fest. Worauf es ankommt, ist Hilfe zur Selbsthilfe, dies namentlich in der Form der Hilfe zur Schaffung von selbstversorgenden Bauernbetrieben und Kleingewerbe-, Handwerksund Kaufmannsbetrieben. Hier dürfte der berechtigte Kern der Forderung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung mit dem Ziel größerer Gerechtigkeit zu suchen sein, die die Entwicklungsländer 1975 auf der UNIDO Konferenz in Lima erhoben haben.

VI. Der furchtbare Zirkel Wie schwierig und kompliziert die Fragen der Lohngerechtigkeit heute sind, mag daraus ersehen werden, daß Entwicklungsländern von Industrieländern Waffen geliefert werden mit dem Hinweis, daß mit der Waffenproduktion Arbeitsplätze und Lohneinkommen geschaffen werden in einer Zeit, wo einzelne Industrieländer fast eine Million Arbeitslose zählen. Mit gutem Grund wandte sich der französische Kardinal Fran!;ois Marty in einer Predigt in Paris am 12. 1. 1976 gegen den weltweiten französischen Waffenhandel, wobei er sagte: "Frankreich verteidigt zu Recht den Frieden. Aber aus falsch verstandener wirtschaftlicher Notwendigkeit gleicht es seine Zahlungsbilanz durch die Entwicklung des Waffenhandels aus"; der Waffenhandel werde heute zu einer regelrechten Institution; "wir dürfen uns nicht dazu entschließen, Geld zu verdienen, indem wir anderen Todeswerkzeuge in die Hand geben". Viele werden für die Worte des französischen Kardinals dankbar sein, allerdings sich nicht verhehlen, daß angesichts der internationalen Lage der französische Minister in seiner Antwort an den Kardinal eine wahrhafte Tragik berührte mit dem Hinweis, daß andere Nationen die sich mit dem Rückzug Frankreichs aus dem Waffenhandel eröffnende Chance sofort benützen und die Nachfrage nach Waffen befriedigen 46 Festschrift f. G. Müller

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würden. Das zeigt, daß nur eine internationale Regelung eine Einschränkung des Waffenhandels herbeiführen könnte. Eine solche Regelung wäre noch besonders aus dem Grund wünschenswert, weil ein Teil der Waffen in Entwicklungsländer geht und von diesen teilweise mit Geldern aus der von den Industrieländern ihnen zufld.eßenden finanziellen Entwicklungshilfe bezahlt wird. Das ist ein furchtbarer Zirkel. Aber die militärischen Prestigebestrebungen und die bestehenden politischen Gewaltsysteme geben internationalen Einrichtungen zur Beschränkung des Waffenhandels, realistisch gesehen, nur geringe Aussicht auf Erfolg. VII. Die zwei halben Milliarden von Menschen Um sich ein zahlenmäßiges Bild der Lage zu machen, kann man sich das Problem der Einkommens- und Lohngerechtigkeit so vor Augen halten, daß ungefähr eine halbe Milliarde Menschen in Europa in Wohlstand leben und ungefähr eine halbe Milliarde von Entwicklungsvölkern kaum das Notwendige an Nahrungsmitteln besitzen. In den Industrieländern hatte die organisierte Arbeiterschaft, hatten die Gewerkschaften bis fast in die Gegenwart die Möglichkeit, dafür zu sorgen, daß bei Abschlüssen des Kollektivvertrages Erhöhungen des Realeinkommens erfolgten. Nimmt man als Indikatoren den Besitz von Personenautos, Fernsehgeräten, Fotoapparaten, Kühlschränken, Waschmaschinen, Auslandsreisen, dann dürfte der Wohlstandsanteil der Arbeiterschaft in den Industrieländern kaum zu bestreiten sein. Die FAO, die von den Vereinten Nationen geschaffene Organisation zur Verhütung von Nahrungsmittelmangel und Hungersnöten vermochte für die schwerstens benachteiligte halbe Milliarde das Entscheidende nicht zu tun. Ein wesentlicher Schritt geschah durch das Lome-Abkommen (1975, Lome ist die Hauptstadt der westafrikanischen Republik Togo) zwischen der 9 Mitglieder zählenden Europäischen Gemeinschaft (EG) und 46 Entwicklungsländern des afrikanischen, karibischen und pazifischen Raumes (AKP). Vereinbart wurde in dem 1975 auf 5 Jahre geschlossenen Abkommen die handelspolitische Zusammenarbeit, die Stabilisierung von Ausfuhrerlösen der AKP-Staaten, die finanzielle und technische Zusammenarbeit besonders zur Schaffung kleinerer und mittlerer gewerblicher Betriebe. Das Abkommen brachte die EG mit fast der Hälfte aller Entwicklungsländer in Verbindung. Diese sehen sich genötigt, kalkulierbare Preise für ihre Rohstoffe zu erreichen, die EG muß zwei Drittel der von ihr benötigten Rohstoffe aus der Dritten Welt einführen. Das Lome-Abkommen hat sich bewährt. Ende 1979 wurde die fertiggestellte Erneuerung des Abkommens beschlossen. Bei der Behandlung der "Lohngerechtigkeit heute" muß das Lome-Abkommen erwähnt werden, weil es für eine halbe Milliarde von Menschen

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Lebensbedingungen schaffen soll, die zu mindestens menschenwürdig sind4 • Der Großteil der betreffenden Menschen wird allerdings über das bare Minimum des Existenznotwendigen nicht hinauskommen. Damit stellt sich die Frage, welches Minimum an elementaren Bedürfnissen befriedigt werden muß, damit von einem menschenwürdigen Minimum überhaupt gesprochen werden kann. Dieses Minimum umfaßt Nahrung, Kleidung und Wohnung. VIII. Das menschenwürdige Minimum Menschenwürdig ist nicht jede beliebige Form der Befriedigung dieser Bedürfnisse. Denn wie diese Bedürfnisse am zweckmäßigsten befriedigt werden, hängt von verschiedenen Bedingungen ab, so schon von klimatischen Verhältnissen. In beträchtlichem Ausmaß schreibt die Natur dem Menschen vor, wie er seine elementaren Bedürfnisse zu befriedigen hat. Es ist verschieden in Sibirien und in den Ländern am Äquator. Dazu kommt zweitens die andersartige Befriedigung der Grundbedürfnisse, die die Völker nach Verschiedenheiten ihrer Kultur anstreben. Wann und wo immer Menschen durch Arbeit nach besseren Lebensbedingungen streben, will der Mensch auch ein Mindestmaß jener Bedürfnisse befriedigen, die ihm als vernunft- und geistbegabtem Wesen zu eigen sind. Das sind die kulturellen Bedürfnisse. Ein dritter Faktor hindert jedoch den größeren Teil der Menschheit, über das Notdürftigste hinauszukommen. In keiner Periode der Geschichte der Menschheit hat dieser Faktor seine Macht so realistisch zu erkennen gegeben wie heute. Dieser Faktor ist die Armut. Sie hat als Weltproblem ihren Grund darin, daß die Weltbevölkerung schneller wächst als die UnterhaltsmitteL Zukunftsforscher, angeregt durch den Club of Rome, sehen Hungerkatastrophen furchtbaren Ausmaßes auf große Teile der Menschheit zukommen, wenn das Verhältnis von Bevölkerungswachstum und Nahrungsmittelbeschaffung im gegenwärtigen Verhältnis bestehen bleibt. Die Datenlage muß realistisch gesehen werden, wenn um die Lohngerechtigkeit von heute gefragt wird. Wirklichkeitswidrig und utopisch wäre es zu glauben, die Katastrophen würden nur über weitentfernte unterentwickelte Gebiete hereinbrechen und Wohlstandsländer würden nach eigenen Gesetzen ihrer Entwicklung Ausnahmestellungen besitzen. Ist die Weltarmut die Frage des Einkommens der davon betroffenen Völker, so wird sie an dieser Stelle der Überlegungen eine solche der Lohngerech-' tigkeit. Das ist die Frage, wie weit Lohnforderungen in den Kollektiv4 Zum Lome-Abkommen vgl. J. Messner, Entwicklungshilfe und Neue Weltwirtschaftsordnung (Bachern Verlag) Köln, 1978.

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verträgen der Wohlstandsländer an Gerechtigkeitsimperative gebunden sind, die sich aus dem Armutsnotstand großer Völk-erschaften ergeben. Fest steht, daß die Wohlstandsländerkraft ihrer demokratischen Verfassung, vielleicht noch stärker kraft der Macht der Interessenverbände nur mit größten Schwierigkeiten sich zur Berücksichtigung dieser Notstandslagen bringen können. Alle Wohlstandsländer hatten vor Jahren beschlossen, daß 1980 0,7 °/o ihres Sozialprodukts für Hilfeleistungen an die unterentwickelten Länder aufgewendet werden sollten. Die 0,7 °/o wurden nicht erreicht. Das Deprimierende der heutigen Lage ist daraus ersichtbar, daß 1980 0, 7 Ofo von der Brandt-Kommission als Ziel für 1985 genannt wurden. Die Wählermassen der freiheitlichen Demokratien, darunter 80 °/o Lohn- und Gehaltsempfänger, versagten den Regierungen die für die Entwicklungshilfe notwendigen Haushaltsüberschüsse zu bilden. Für das Jahr 2000 schlägt jetzt die Brandt-Kommission 1 Ofo des Sozialprodukts als Leistung der Wohlstandsländer vor. Wer die heutige (anfangs 1980) weltpolitische Lage überblickt, wird sich fragen, ob in 20 Jahren noch eine Möglichkeit besteht zu tun, was heute und in den nächsten Jahren an Entwicklungshilfe geschehen müßte. Außerdem ist eine Wende in der Auffassung der Ziele und Methoden der Entwicklungspolitik im Gange. Während man die längste Zeit den Weg zur Überwindung der Arbeitslosigkeit in der Dritten Welt noch in industriellen Großinvestitionen sah, kommt es jetzt zu einem Umdenken. Darnach ist nicht in erster Linie an industrielle Großprojekte zu denken, sondern an die Schaffung von selbstversorgenden Bauernhöfen, die je eine Familie zu ernähren vermögen. Zwei Ziele werden dadurch erreicht. In .der Nahrungsmittelfrage können katastrophale Mangelerscheinungen vermieden werden und zweitens entstehen mit selbstversorgenden landwirtschaftlichen Einheiten Arbeitsplätze für die auf den Bauernhöfen lebenden Familienangehörigen. Für die nachfolgenden Generationen ist auf ähnliche Weise Bauernland mit Intensivbetrieben zu schaffen. Die Umstellung der Entwicklungspolitik auf die Schaffung von selbstversorgenden Bauernbetrieben hat 1979 durch die Verleihung des Nobelpreises an die den neuen Weg mitNachdruck vertretenden Entwicklungspolitiker W. A. Lewis und Th. W. Schultz eine gewichtige Förderung erfahren. In der katholischen Soziallehre hat diese Idee immer eine bevorzugte Stellung eingenommen in Verbindung mit der Betonung der Wichtigkeit der kleineren Handwerks- und Gewerbebetriebe. Die beiden Ideen münden in die des universalen, das ist des Weltgemeinwohls, wie es Papst J ohannes XXIII. in seinem Rundschreiben Pacem in terris (118, 126, 127) vertrat. Durch die Schaffung von selbstversorgenden bäuerlichen Betrieben mit einem Markt von kleingewerblichen Betrieben wird die Entstehung eines gigantischen Weltproletariats und die Verschärfung

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der Weltarmut verhindert. Nicht ein Wohlstand, wie ihn Industrievölker besitzen, wird in den Entwicklungsländern erreichbar sein, wohl aber ein Leben mit Arbeit und Einkommen für jeden, verbunden mit der Schaffung einer Lebensqualität mit zwar "einfachem", aber einem Leben reich an Werten der Familiengemeinschaft, die dem Dasein Sinn und Ziele geben. Eine Reihe von Voraussetzungen zur Ermöglichung der neuen Entwicklungspolitik sind oft erst zu schaffen. Die wichtigste besteht darin, daß die Besitzer der großen Ländereien in Entwicklungsländern sich bereit finden, Land zur Gründung der selbstversorgenden Bauernhöfe zur Verfügung zu stellen. Sie werden vielfach nicht dazu bereit sein, weil sie zu lange an die Ausbeutung von Landarbeitern gewohnt sind, denen sie Hungerlöhne bezahlen. Wenn sie sich politisch geschützt wissen, werden sie die Abgabe von Landgebieten zu vermeiden trachten. Es werden also politische und wirtschaftliche Veränderungen erfolgen müssen. Die finanzielle Ablöse der Landgebiete und die Schaffung von Bauernhöfen werden beträchtliche finanzielle Mittel erfordern, es muß ja auch für Viehbestand gesorgt werden, für Saatgut, für die Infrastruktur (Straßen, Wasserleitungen, Stromversorgung). Dazu werden von den Industrieländern bedeutende Mittel an Entwicklungshilfe aufzubringen sein. Sie werden aber einem Zwecke zugeführt, der sich unmittelbar in Nahrungsmittel- und in der Arbeitsbeschaffung auswirkt. Eine Folge der bisherigen Entwicklungspolitik war es, daß Massen der Landbevölkerung in die Städte strömten, in der Hoffnung, dort Arbeit und Einkommen zu finden. Im Jahre 1900 gab es 11 Städte in der Welt mit je einer Bevölkerungszahl von über 1 Million, 1975 waren es 191, hauptsächlich in der Dritten Welt und alle mit ausgedehnten Elendsvierteln (Slums mit Alkoholismus, Kriminalität, Jugendverwahrlosung). Für die vielen Millionen dieser Städte-Bevölkerung Arbeit, Wohnung und Nahrung zu schaffen wird nach dem bisher beherrschenden Konzept der Entwicklungspolitik immer weniger möglich. IX. Die zwei wichtigsten Prinzipien der Lohngerechtigkeit Bei Kollektivvertragsverhandlungen in den Industrieländern werden schätzungsweise die Lebenshaltungskosten (Inflation) und das Produktivitätsausmaß des Wirschaftszweiges (Unternehmergewinn) in Rechnung gestellt. Die Verpflichtungen der Industrieländer gegenüber den unter dem Existenzminimum lebenden Millionen der Menschheit bleibt unbeachtet. Die ausschließlich am Eigeninteresse der nationalen Gruppen orientierte Verteilung des Sozialproduktes hat bis zum Bekanntwerden der internationalen Einkommensverhältnisse und der Defizite des Weltgemeinwohls als selbstverständlich gegolten. Sie ist heute ungerecht.

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Die wichtigsten Gerechtigkeitsprinzipien in der Lohnfrage sind das Bedürfnisprinzip und das Leistungsprinzip. Die elementaren Lebensund Kulturbedürfnisse mit dem Lohneinkommen decken zu können, scheint eine unbestreitbare Forderung der Lohngerechtigkeit zu sein. Aber schon wenn man an die elementarsten Bedürfnisse denkt und sich erinnert, daß Millionen Menschen an der Grenze des wirtschaftlichen Existenzminimums leben und mit Hunger zu kämpfen haben, scheint der Lohn in den Industr.ieländern nur gerecht, wenn :zmgleich die Verpflichtung gegenüber jenen Ärmsten gewahrt bleibt. Nur ein einziges Land, Holland, stellt heute 0,7 °/o seines Sozialprodukts, wie es vor Jahren von den Wohlstandsländern vereinbart wurde, für die Entwicklungshilfe zur Verfügung. Die niedrigeren Prozentsätze der anderen Länder sind das Ergebnis von deren demokratischer Verfassung mit den damit gegebenen Möglichkeiten von parlamentarischen Mehrheitsbeschlüssen, an denen die Arbeitnehmer ebenso beteiligt sind wie die anderen Berufsgruppen, verbunden mit den Möglichkeiten der kollektivvertragliehen Festsätze von Löhnen mit dem ausschließlichen Blick auf das Eigeninteresse. Gerade die Arbeitnehmer, die sich in den Industrieländern aus dem proletarischen Schicksal herausarbeiten mußten, sollten Verständnis für die Verpflichtungen des Wohlfahrtsstaates von heute gegenüber dem Weltproletariat zeigen. Das Bedürfnisprinzip kann keine feste Bedürfnisgröße ergeben, sondern ist nach Volkswirtschaften nur relativ zu umschreiben. Niemand dürfte behaupten wollen, daß der Durchschnittslohn des Bürgers der Vereinigten Staaten und der des Italieners, der des Schweden und der des Griechen der gleiche sein müßte, um gerecht zu sein. Der Durchschnittsbedarf ist eine Verhältnisgröße, weil die sozialwirtschaftliche Produktivität eines Landes gar nichts anderes zuläßt: Auf die Dauer kann das Volkseinkommen den Wirtschaftsertrag nicht übersteigen. Der Wirtschaftsertrag hängt von Leistungsfähigkeit und Leistungswillen ab. Diese sind von Volk zu Volk verschieden. Verschieden ist auch die Rohstoff- und Kapitalausstattung der Volkswirtschaften. Beide sind von maßgeblicher Bedeutung für den Wirtschaftsertrag und die mögliche Lohnhöhe. Wie die Bedürfnisse sind demnach auch die Leistungen und die sie bedingenden Voraussetzungen relative Größen. Das Ausmaß der Lohneinkommen in den verschiedenen Ländern ist nicht nur durch den heute gegebenen Datenbestand bedingt, sondern auch durch vorauszusehende zukünftige Entwicklungen, so durch die Verteuerung des Erdöls, durch die Verknappung der Energie, durch den Aufwand zur Behebung der angerichteten Umweltschäden. Daher wird es zu einem festen Gesetz der kollektivvertragliehen und staatlichen Lohnpolitik, daß die Zukunft einkalkuliert werden muß mit der voraus-

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sehbaren Entwicklung des für die Lohnpolitik maßgeblichen wirtschaftlichen Datenbestandes. Mächtige Wirtschaftsgruppen auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite können überhöhte Einkommensanteile am Sozialprodukt erzwingen und dem Konsum zuführen. überhöht sind Einkommensanteile, wenn sie nicht durch Leistung gedeckt sind. Die Kapitalbildung und die Investitionen müssen dann gekürzt werden mit der Folge, daß die Produktivität der Volkswirtschaft leidet und die Einkommen und der Beschäftigungsstand hinter dem an sich Möglichen zurückbleiben. Die Verteilungsquoten des Nationaleinkommens können dann geändert werden, wenn durch Monopole von Produktions- oder Handelsunternehmen die Verteilungsquote zugunsten der Unternehmergewinne überhöht ist. Staatliches Einschreiten gegen Beschränkungen des Wettbewerbs ist die Maßnahme gegenüber überhöhten Monopolgewinnen und der Marktmacht von Großunternehmen oder Unternehmenszusammenschlüssen. Mangelhafter Investitionswille und infolge davon mangelhafte Produktivität der Volkswirtschaft können auch verursacht sein durch zu starke steuerliche und soziale Belastung der Unternehmen von seiten des Staates. Schädigungen der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und schließlich ein Fallen der Durchschnittseinkommen können nicht ausbleiben.

X. Kollektivvertrags- und Leistungslöhne In der verbandspluralistischen heutigen freiheitlichen Demokratie sind es vor allem die Parteien des Kollektivvertrages, die an die Verpflichtungen der sozialen Gerechtigkeit gebunden sind. Maßgebend ist außer dem Produktivitätsstand der Volkswirtschaft und des Wirtschaftszweiges der Stand der Lebenshaltungskosten auf Grund der Preisbewegungen (Inflation). In der Lohnfrage hat hier im Sinne der sozialen Gerechtigkeit das Interesse der Arbeiterschaft an ihrem Realeinkommen seinen Platz. Nach der anderen Seite setzt die soziale Gerechtigkeit Lohnforderungen bei Kollektivvertragsverhandlungen die Grenze, daß den nötigen Voraussetzungen für die Produktivitätsentwicklung und für die Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben des Staates Rechnung zu tragen ist. Die Beachtung der Gemeinwohlerfordernisse ist wesentlicher Teil der Ansprüche und der Verpflichtungen der sozialen Gerechtigkeit. Daß diese Verpflichtungen in den Industriestaaten zu häufig und zu schwer verletzt wurden, hat zur weltweiten Inflation und zur tiefreichenden Störung der gesamtwirtschaftlichen Funktionszusammenhänge geführt. Darum ist es sicher einer der Irrtümer der "Allgemeinen Theorie" von Keynes, daß die Arbeiter deshalb "viel vernünftigere Nationalökonomen sind als die klassische Schule, weil sie mehr auf den Geldlohn

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bedacht sind als auf den Reallohn" 5• Den Beweis dafür hat weder seine eigene Theorie noch die von ihr ausgehende Lohnpolitik erbracht. Jedenfalls haben es sich die Ökonomen zu leicht gemacht, die glaubten die nach 1960 einsetzende Inflation einfach als "säkulare" Inflation akzeptieren zu können mit der Hoffnung auf ein ständig fortschreitendes Wirtschaftswachstum. Sie hätten die Gefahr sehen müssen, in die durch eine inflationistische Lohnpolitik die Welt gerät. Etwas anderes als die inflationistische Lohnpolitik ist es, daß außer den kollektivvertragliehen Löhnen Leistungslöhne gerechterweise gefordert werden können. Höhere Leistungen sind im Interesse der Produktivitätssteigerung gelegen, sie können auf Grund eines erhöhten Einsatzes der Arbeiterschaft zustande kommen. Die Kollektivvertragslöhne sind Mindestlöhne, darüber hinaus können Arbeitergruppen durch höhere Leistungen höhere Einkommen erzielen. Das ist namentlich der Fall in Volkswirtschaften, in denen die 40-Stunden-Woche besteht und Arbeitergruppen durch überstunden zu überkollektivliehen Leistungslöhnen kommen können. Vielleicht bestehen in solchen Bestrebungen innerhalb der Arbeiterschaft die eigentlichen signifikanten Entwicklungen von heute. So wäre es von weitreichender Bedeutung, wenn Arbeitergruppen in Team-Work, das sie selbst organisieren und in dem sie sich gegenseitig zum Leistungsansporn werden, zu Formen der Mitbestimmung und der Mitverantwortung in der Unternehmensgestaltung gelangen, die ihnen außer den Kollektivvertragslöhnen eine völlig neue Stellung als Mitarbeiter im Unternehmen gibt. Dadurch würde die Lage des Arbeiters als die eines bloßen Befehlsempfängers überwunden, er wäre nicht weiter auf einen gleichbleibenden Arbeitsgang festgelegt, vielmehr könnte er seine kreativen Fähigkeiten entwickeln und so zu einem zutiefst die menschliche Selbstverwirklichung ermöglichenden Berufsalltag kommen zugleich mit dem Erhalt des seinem Einsatz entsprechenden Leistungslohnes. XI. Die kommunitative Gerechtigkeit Bisher wurde von der sozialen Gerechtigkeit gesprochen. Sie betrifft das Verhältnis der verschiedenen Interessengruppen zueinander unter dem Gemeinwohlaspekt. Die kommunitative Gerechtigkeit wird heute in Lohnfragen nur selten erwähnt, weil mit dem Kollektivvertrag alles geregelt scheint. Nun ist die kommunitative Gerechtigkeit im engeren Sinn Vertragsgerechtigkeit, die nach dem Äquivalenzprinzip die Wertgleichheit von Leistung und Gegenleistung fordert. ~r einzelne Arbeitnehmer tritt gemäß den Bedingungen der Kollektivvertragsvereinba5

J. M. Keynes,

1946, 14 f.

The General Theory of Employment, Interest and Money,

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rung in das Lohnverhältnis ein. Arbeitgeber und Arbeitnehmer übernehmen damit bestimmte im Kollektivvertrag geregelte Verpflichtungen, der Arbeitgeber die Verpflichtung des vereinbarten Lohnes und der Erfüllung der anderen Rechtsansprüche des Arbeitnehmers, der Arbeitnehmer übernimmt die Verpflichtung, die vereinbarte Arbeit zu leisten. Dieser Individualvertrag fällt in den Bereich der "strengen Gerechtigkeit", eben der beiderseitigen Leistung nach dem Äquivalenzprinzip. Dieser Arbeitsvertrag kann von beiden Seiten verletzt werden, z. B. von den Arbeitgebern durch Forderungen außerkollektivvertraglicher Leistungen, von Arbeitnehmerseite durch schlechte oder langsame Arbeit (Arbeitszurückhaltung) z. B. zum Zwecke der Erzielung längerer Beschäftigung bei Wohnbau, Straßenbau oder anderen nicht leicht zu kontrollierenden Arbeitsvorgängen. Nicht zu vergessen ist, daß die kommunitative oder Vertragsgerechtigkeit auch in dem Sinne eine strenge ist, daß Nichterfüllung der vereinbarten Leistung zu Schadenersatz verpflichtet. Daß heute niemand davon spricht, hat seinen Grund darin, daß der Arbeitskampf, der Kampf der Arbeitnehmer gegenüber den Arbeitgebern, als das Natürliche gilt. Dies geht zurück auf die Marxsche Idee des Kapitaleigentums, wonach dieses "gesellschaftliche Macht" (Kommunistisches Manifest) ist, die es den Eigentümern ermöglicht, Arbeitnehmer auszubeuten. Kleine Gruppen, besonders junger Sozialisten und Kommunisten, halten an dieser Idee fest, obwohl in den Industriestaaten durch die Wohlstandsentwicklung, an der auch die Arbeitnehmer teilhaben, die Marxsche Idee der Klassengesellschaft und des Klassenkampfes den Arbeitnehmern eher fremd geworden ist, jedenfalls die Arbeitnehmerschaft sich nicht als Proletariat fühlt.

XII. Arbeit und Kapital Wenig ist erreicht, wenn, wie es oft geschieht, gesagt wird, daß der Arbeit der Vorrang vor dem Kapital zukommt und unter diesem die sachlichen Produktionsmittel verstanden werden. Was damit gesagt wird, ist eine Selbstverständlichkeit, trifft aber nicht das Arbeitsverhältnis. Denn klarerweise können die sachlichen Produktionsmittel keine Verpflichtungen haben. Verpflichtungen kann nur der Mensch haben. Die Arbeitgeber haben die den Eigentümern vom Kapital erwachsenden Pflichten zu erfüllen. Nicht tote Sachen als Kapital und Arbeitnehmer als Personen stehen sich gegenüber, vielmehr sind die Arbeitgeber, Kapitaleigentümer und Manager genau so menschliche Personen wie die Arbeitnehmer, beide stehen unter dem Gebot der Mitmenschlichkeit und des mitmenschlichen Brudertums. Wer heute von der Eigentumsmacht des Kapitals im Wirtschaftsleben spricht, sollte nicht übersehen, daß die

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organisierte Arbeiterschaft (Gewerkschaften) zu einer Sozialmacht geworden ist, die an Macht dem Kapital nicht nachsteht. Das ist gut so. Denn es wird eine Zusammenarbeit der beiden ermöglicht, für die die Gerechtigkeit die selbstverständliche Norm ist und für die der Schritt darüber hinaus zur Verständigungsbereitschaft das Natürliche ist. Jeder erinnert sich an dieser Stelle der Nr. 67 der Pastoralkonstitution (Gaudium et spes) des II. Vatikanischen Konzils: "Die in der Gütererzeugung, der Güterverteilung und in den Dienstleistungsgewerben geleistete Arbeit hat den Vorrang vor allen anderen Faktoren des wirtschaftlichen Lebens, denn diese sind nur werkzeuglieber Art. Die Arbeit nämlich, gleichviel ob selbständig ausgeübt oder im Lohnarbeitsverhältnis, ist unmittelbarer Ausfluß der Person". Wie ausdrücklich gesagt wird, gilt diese Wertung der Arbeit gleicherweise für die selbständig und für die im Lohnarbeitsverhältnis ausgeübte Arbeit. Als selbständige Arbeit dürfte auch die des Managers gemeint sein, der ein Wirtschaftsunternehmen zu leiten hat. Er ist ein Angestellter des Unternehmens, ist verantwortlich für die Verwendung des im Unternehmen eingesetzten Kapitals und trifft die Entscheidungen für die Unternehmensführung allein oder in Verbindung mit dem Unternehmensvorstand. Schwerlich kann man sagen, daß er seine Arbeit im Lohnarbeitsverhältnis ausübt. Auf seiner Funktion beruht die Verantwortung für den Unternehmenserfolg, für die Erhaltung der Arbeitsplätze, für die ErwJ.rtschrutung gerechter Arbeitslöhne und Angestelltengehälter, für die Zukunft des Unternehmens. Nicht wenige glauben, daß mit den wirtschaftlichen Schwierigkeiten die Schärfe der sozialen Auseinandersetzungen zunehmen wird. Gerade diese Schwierigkeiten können aber auch beide Seiten veranlassen zu vollerem Engagement im gemeinsamen Interesse und zur einverständlichen Verteilung des in gemeinsamem Einsatz Erreichten. Das schlösse Konfliktsituationen nicht aus, aber sie würden eher die Ausnahme bilden. Der Wille zur Sozialpartnerschaft wird in der schon nahen Zukunft von ausschlaggebender Bedeutung sein, wenn verstanden wird, daß die Zeit der unkritischen Zukunftshoffnungen vorbei ist und daß die sich bereits abzeichnenden Wirklichkeiten unerbittlich neue Denk- und Verhaltensweisen fordern werden.

DAS LOHNARBEITSVERHÄLTNIS IN DER SICHT DER KATHOLISCHEN SOZIALLEHRE Von Oswald von Nell-Breuning S.J. Mit Fragen, wie sie hier behandelt werden sollen, befaßt sich die evangelische Sozialethik. in gleicher oder doch ähnlicher Weise wie die Soziallehre der katholischen Kirche. Im großen und ganzen werden sie von ihr wohl auch im gleichen Sinn beantwortet wie von der kSL; ebenso dürften auch auf beiden Seiten die gleichen Fragen strittig sein, so daß also die Meinungsverschiedenheiten nicht zwischen den Konfessionen bestehen, sondern quer durch die Konfessionen hindurchgreifen. Nichtsdestoweniger soll hier nur von der kSL die Rede sein aus dem begreiflichen Grunde, weil diese mir vertrauter ist als das Schrifttum und der Stand der Diskussion auf der evangelischen Seite. Für die Rechtswissenschaft und die Arbeitsgerichtsbarkeit unserer Bundesrepublik ist das LAV* ein eindeutiger Rechtsbegriff; für die kSL* kann er es schon aus dem Grunde nicht sein, weil sie nicht auf die Verhältnisse und die Rechtslage eines einzelnen Landes abstellt, sondern Aussagen macht, die - wenigstens der Absicht nach - sowohl räumlich als auch zeitlich allgemeingültig sein wollen; so hat sie es nicht zu tun mit dem LAV, wie das Bundesarbeitsgericht in seiner Rechtsprechung bis zum heutigen Tag es entwickelt und als Rechtsverhältnis ausgefeilt hat, sondern mit etwas viel allgemeinerem, das ungefähr dem entspricht, was das Bundesarbeitsgericht meint, wenn es von der "Lebenslage der abhängigen Arbeit" spricht, das, wenn es diese Redewendung gebraucht, auch gewiß nicht an alle Erscheinungsformen dieser "Lebenslage" denkt, ganz bestimmt nicht an die abhängigste von allen, die Sklaverei, auch nicht an die milderen Formen der Leibeigenschaft, der Hörigkeit, Schollengebundenheit u. a. m., sondern an die "freie Lohnarbeit", die nicht erst zu unserer Zeit aufgekommen und in ein Rechtskleid gekleidet worden ist, die aber erst in neuerer und neuester Zeit die Lebenslage des weitaus größten Teiles der Bevölkerung bestimmt und obendrein für eben diese große Mehrheit nicht nur lebenslänglich, sondern vererblich geworden ist. Da die Lebenslänglichkeit und erst recht Vererblichkeit dieser Lebenslage kein Bestandteil des Lohnarbeitsvertrages ist, in ihm keinerlei Ausdruck oder Erwähnung findet, wird sie auch in der Rechtsprechung un-

* LAV = Lohnarbeitsverhältnis, kSL = katholische Soziallehre.

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serer Arbeitsgerichte kaum jemals zur Sprache kommen, was jedoch nicht unbedingt ausschließt, daß der Gedanke daran dennoch im Hintergrund mancher Entscheidungen steht und unvermerkt in sie einfließt. Anders für die kSL; für sie ist dieser soziologische Hintergrund, dieser "Sitz im Leben" des heutigen LAVs von entscheidender Bedeutung. Die kSL ist eine noch sehr junge wissenschaftliche Disziplin; als Soziallehre der Kirche beginnt sie offiziell erst mit der Enzyklika Papst Leos XIII. "Rerum novarum" 1891 unter der Überschrift ,de condicione opifioum', im Deutschen kurz die Arbeiterenzyklika genannt. -Bevor es eine kSL als Normativwissenschaft gab, befaßte die Moraltheologie sich mit Fragen dieses Bereichs und tut es selbstverständlich auch heute noch, wobei sich eine gewisse Arbeitsteilung eingespielt hat ähnlich wie die Rechtswissenschaft zwischen individuellem und kollektivem Arbeitsrecht unterscheidet. Die Moraltheologie befaßt sich mehr in individualethischer Sicht mit den Beziehungen zwischen dem einzelnen Arbeitnehmer und seinem Arbeitgeber und umgekehrt und überläßt die sozialethischen Fragen nach Sinngehalt und Daseinsberechtigung des LAVs überhaupt sowie danach, was sich aus dem so ermittelten Sinngehalt des LAVs an Folgerungen für dessen Gestaltung ergibt, der Soziallehre als der dazu berufenen Disziplin. Die "Tagelöhner", von denen in einem der Gleichnisse des Neuen Testaments die Rede ist, arbeiteten offenbar im freien Lohnarbeitsverhältnis. Einem heutigen Gewerkschafter kann schon die Art, wie der "Herr des Weinbergs" den Gleichheitsgrundsatz praktiziert, nur widerstreben; einen Denar auch denen zu geben, die nur eine Stunde gearbeitet haben, ist in seinen Augen keine Gleichbehandlung, sondern ausgesprochenste Ungleichbehandlung. Erst recht aber bäumt der Gewerkschafter sich dagegen auf, wenn dieser "Herr" den ihm gemachten Vorwurf mit der Gegenfrage zurückweist, ob ihm denn nicht freistehe zu tun, was ihm beliebe (Mt 20.15), im griechischen Urtext noch mit dem Zusatz "en tois emois', "in meinen Angelegenheiten", er ist doch "Herr im Hause" und versteht sich als solchen. - Gewiß, bei einem Gleichnis kommt es immer nur auf das tertium comparationis an; eine Denkweise aber, wie dieses Gleichnis sie- höchstwahrscheinlich zutreffend- bei dem "Herrn des Weinbergs" als selbstverständlich unterstellt, wird sich heute kein noch so wohlmeinender und freigebiger Arbeitgeber mehr leisten können. Wie dem auch sei, "Tagelöhner", die als solche darauf angewiesen sind, Arbeitsgelegenheit zu suchen ohne die Gewähr, Arbeitsgelegenheit zu finden, diese "Lebenslage", dieses Merkmal der Proletarität gab es, wie das Gleichnis ausweist, bereits damals. Auch der Handwerksgeselle der vorindustriellen Zeit stand, da Stadtluft frei machte, im "freien" LAV; dabei aber gehörte er zur Familie des

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Meisters. In seiner Lehrlingszeit hatte er ganz unter der väterlichen Zucht des Meisters und der mütterlichen Sorge der Meisterin gestanden; auch nach seiner Freisprechung als Geselle blieb er (meist) in der Hausgemeinschaft der Meisterfamilie, bis er sich selbst als Meister verselbständigen oder durch Heirat der Erbtochter sich in die "Stelle" seines bisherigen Meisters einheiraten konnte. - Der Handwerksgeselle, der als Teilnehmer am Familienhaushalt des Meisters "famulus" war, und die "häuslichen Dienstboten" waren bis in die jüngste Zeit für die Moraltheologen die Modelle für das LAV, aus denen oder an denen sie dessen Sinngehalt ableiteten und daraus hinwiederum die rechtlich-sittlichen Folgerungen zogen; die Sicht war paternalistisch, unser heutiger Arbeitgeberbegriff war ihnen noch unbekannt; in Ermangelung eines solchen redeten sie vom ,pater familias' (so schon die lateinische Vulgata-übersetzung des Gleichnisses von den Arbeitern im Weinberg, wo im griechischen Urtext der prägnante Ausdruck ,oikodespotes' steht). Ganz im Sinne dieser paternalistischen Sicht bringen sie, wenn sie den Stoff nach den Zehn Geboten des Dekalogs einteilen, das LAV beim vierten Gebot unter und leiten daraus Rechte und Pflichten sowohl des Arbeitnehmers als auch des Arbeitgebers ab; daß die industrielle Entwicklung inzwischen die ganz neue Gestalt des Arbeiters (des "Proletärs", wie man ihn anfänglich nannte) obendrein auch noch als Massenerscheinung hervorgebracht hatte, und daß im industriellen Großbetrieb und Großunternehmen nicht für "familiäre" Beziehungen, sondern nur für sachlich bestimmte Rechtsbeziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern Raum ist, wurde von ihnen lange Zeit verkannt. Dieser paternalistischen Sicht entsprungen ist eine These, die um die Zeit der Weltwirtschaftskrise um 1930 ein Schweizer Theologe aufgestellt hat, die aber offenbar auch heute noch im Hinterkopf einiger Theologen festsitzt und deren Haltung zur Mitbestimmung beeinflußt. Autorität könne nur in Seinsüberlegenheit gründen (,auctoritas pr·incipium principiatum'); demzufolge habe auch die Direktionsbefugnis des Arbeitgebers in seinem Betrieb ihren Grund in einer seinshaften Überlegenheit, die ihm in ähnlicher Weise wie dem Vater gegenüber den von ihm gezeugten Kindern im Verhältnis zu den in seinem Betrieb Beschäftigten zukomme. Trifft das zu, dann beruht die Befugnis des Arbeitgebers, Anordnungen zu treffen, und die Pflicht der Arbeitnehmer, diesen Anordnungen Folge zu leisten, nicht auf dem Arbeitsvertrag und der darin vereinbarten Unterwerfung unter die Direktionsbefugnis des Arbeitgebers, sondern erfließt unmittelbar aus der vorgegebenen Überlegenheit des kraftseines Eigentums an den Produktionsmitteln Stärkeren gegenüber der zufolge ihrer Entblößung von Produktionsmitteleigentum Schwächeren. Von dieser Vorstellung her läßt sich denn auch die immer wieder anzutreffende stillschweigende oder vielleicht richtiger gesagt unbe-

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wußte Unterstellung erklären, das Eigenturn an Produktionsmitteln gewähre unmittelbar den Rechtsanspruch darauf, daß andere freie, aber über keine eigenen Produktionsmittel verfügenden Menschen sich dem Eigentümer von Produktionsmitteln zu deren Nutzbarmachung unterstellen; durch den Arbeitsvertrag werde dieses im vorhinein bestehende Über- bzw. Unterordnungsverhältnis nicht konstituiert, sondern nur konkretisiert und näher determiniert. Das wäre, wenn es zutrifft, ein metaphysisches Argument, das zum mindesten jede wirtschaftliche Mitbestimmung der Arbeitnehmer absolut ausschlösse. Bewußt vertritt selbstverständlich kein Theologe solchen Unsinn; unbewußt aber scheinen manche von dieser Basis aus zu argumentieren. Kein Lehrbuch der Moraltheologie wird heute noch das LAV beim 4. Gebot des Dekalogs behandeln; soweit dieses Gliederungsschema überhaupt noch angewandt wird, findet das LAV sich beim 7. Gebot und damit im vermögensrechtlichen Zusammenhang: contractus bilateralis onerosus synallagmaticus in der Begrifflichkeit der großen scholastischen Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts, deren Traktate ,de iustitia et jure' wegen der profunden Kenntnis des Wirtschaftslebens und namentlich des Geldwesens ihrer Zeit von Sachkennern auch heute noch bewundert werden, meint doch ein Mann w:ie Schumpeter, sie könnten sich ohne weiteres mit heutigen Vertretern der Wirtschaftswissenschaft an einen Tisch setzen und an deren Diskussionen beteiligen. Kommt aber, so lautet die heutige Gegenfrage, das LAV mit dieser neuen Einordnung wirklich zu seinem Recht oder tut man ihm damit nur in anderer Weise wieder Unrecht an?- Als unmittelbarer Ausfluß der menschlichen Person überragt die Arbeit den vermögensrechtlichen Bereich in unvergleichlicher Weise; darum lassen die personhafte Leistung "Arbeit" und die materielle Gegenleistung "Lohn" sich überhaupt nicht auf der Grundlage des Gleichwerts von Leistung und Gegenleistung austauschen; das LAV ist keine (rein) vermögensrechtliche Angelegenheit, gehört mindestens nicht allein dem Vermögensrecht an. Diese Frage beschäftigt nicht nur die Theologen beider Konfessionen und Repräsentanten sowohl der kSL als auch der evangelischen Sozialethik, sondern auch liberale Ökonomen und spielt, wenn auch in anderer Sicht, d. i. ohne den Bezug auf die Menschenwürde unseres Verständnisses, eine nicht unwichtige Rolle in Diskussionen marxistischer Ökonomen, die im Bewußtsein, daß die Marxsche Wertlehre unhaltbar ist, wenn "Wert" eine wie immer zu verstehende ökonomische Größe sein soll, sich darum bemühen, um die Lehre zu retten, herauszufinden, was denn Marx sich unter dem Wert vorgestellt haben könne, dessen Maß nach ihm die "gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit" sein soll. Aber auch unseren Juristen bereitet es Mißbehagen, daß die Leistung des Arbeitnehmers, obwohl einer höheren Wertebene angehörend, durch die

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auf einer niederen Wertebene liegende Gegenleistung abgegolten werden soll. Um diesem Mangel abzuhelfen ihr Bemühen, mehr und mehr personale Momente in das LAV einzubinden und auf diese Weise das ganze LAV über das simple Vermögensrecht hinaus auf eine höhere Wertebene hinaufzuheben. Nachdrückliehst betonen sie die gleiche personale Würde beider Partner und schieben damit die angebliche oder vermeintliche Seinsüberlegenheit des Arbeitgebers beiseite. Dem Arbeitgeber legen sie eine Fürsorgepflicht für den Arbeitnehmer auf und diesem eine Treupflicht gegenüber dem Arbeitgeber; diese beiden Pflichten haben personalen Gehalt. Zugleich wird jene Vorstellung vom Arbeitsmarkt berichtigt, nach der die Arbeit zur Ware erniedrigt erscheint; der Arbeitsmarkt ist nicht mehr der Umschlagplatz der "Ware Arbeit", sondern der Ort der Begegnung, an dem freie und gleichberechtigte Menschen als Anbieter und Nachfrager nach Arbeitsgelegenheit (ArbeitsGelegenheits-Geber und Arbeits-Gelegenheits-Nehmer) sich treffen, um -meist in Gestalt organisierter Arbeitsmarktparteien - die Arbeitsbedingungen kollektiv auszuhandeln, auf Grund deren dann die einen über die Vergebung der Arbeitsplätze, die anderen über deren Annahme oder Wiederaufgabe in freier individueller Wahl entscheiden. Dabei ist nicht zu verkennen, daß bis heute noch die Wahlfreiheit auf der Seite der Arbeitgeber größer ist als für den Arbeitnehmer, aber auch diese Ungleichheit ist doch bereits erheblich abgebaut (Kündigungsschutz, "Sozialpläne"), so daß auch in dieser Hinsicht das LAV immer mehr nicht nur rechtlich, sondern auch tatsächlich frei wird. So wird die Rechtsgestalt des LAVs der personalen Würde des arbeitenden Menschen mehr und mehr gerecht, ohne daß darum der Arbeitsvertrag seines vermögensrechtlichen Charakters entkleidet und in das Personenrecht oder erst gar in das Familienrecht im Sinne des einseitigen famulatus überführt wäre oder überführt werden müßte. Die Unebenheit oder das Mißverhältnis zwischen kurz gesagt der persönlichen Leistung "Arbeit" und der rein sachlichen Gegenleistung "Lohn" läßt sich nicht ausräumen. Daraus hinwiederum leiten nicht nur einzelne Moraltheologen oder Vertreter der kSL, sondern auch einige, die Prämissen ihrer Lehre rigoros zu Ende denkende Repräsentanten klassisch liberaler Ökonomie die Folgerung ab, diesen für das LAV schlechthin konstitutiven Austausch und damit das LAV selbst grundsätzlich zu verwerfen, um es durch ein anderes, der Menschenwürde besser gerecht werdendes Verhältnis zu ersetzen; in einem gewissen Sinne stimmt dem, wie sich zeigen wird, sogar der marxistische Sozialismus-Kommunismus zu. Geschichtlich ist der Aufstieg vor sich gegangen von der Sklaverei über verschiedene Stufen der Halbfreiheit zum zuerst nur rechtlich, heute aber in allen fortgeschrittenen Ländern in weitem Maß auch tatsächlich

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"freien" LAV. Es ist durchaus nicht einzusehen, warum diese Entwicklung nicht auch noch weiter über diesen gegenwärtig erreichten Stand hinaus zu höheren Stufen führen könnte oder auch sollte, auch wenn uns heute noch nicht ersichtlich ist,wie dieses vollkommenere, in höherem Grade der Menschenwürde gerecht werdende Arbeitsverhältnis beschaffen sein oder was man sich darunter vorstellen könnte. Im französischen Sozialkatholizismus geht die Parole um: ,au dela du salariat', "über das LAV hinaus". Wenn diese Parole nur sagen will, ein solcher weiterer Aufstieg sei möglich und erscheine wünschenswert, dann ist nichts dagegen einzuwenden. Anders, wenn damit behauptet werden soll, ein solches Hinausschreiten über das LAV sei geboten, weil das LAV aus den vorgenannten und vielleicht auch noch aus anderen Gründen als solches verwerflich sei und beseitigt werden müsse. Zu dieser Frage findet sich in der Soziallehre der Kirche eine authentische lehramtliche Äußerung. In der Enzyklika "Quadragesima anno" {1931), die sich ausführlich mit dem LAV und der an ihm ausgeübten Kritik befaßt, wird ausdrücklich festgestellt, das LAV sei als solches nicht abzulehnen, es lasse sich vielmehr einwandfrei, insbesondere gerecht ausgestalten, m. a. W. die zum Teil mit gutem Recht dagegen erhobenen Einwendungen ließen sich ausräumen. In diesem Zusammenhang bemerkt Pius XL, eine Anreicherung des Arbeitsvertrags mit gesellschaftsrechtlichen Elementen erscheine (ihm) unter den heutigen Umständen empfehlenswert - die erste kirchenlehramtliche Äußerung im Sinne der Mitbestimmung. Auch sein Nachfolger Pius XII. hält entschieden an dieser Linie fest; das LAV sei nicht in sich oder als solches widerrechtlich; es lasse sich in durchaus einwandfreier Weise praktizieren; aus dem LAV als solchem, so betont er, ließen sich keine darüber hinausgehenden Ansprüche ableiten. Diese Aussage bezieht sich unmittelbar auf die Mitbestimmung der Arbeitnehmer, gilt aber ganz allgemein. Der Lohnarbeitsvertrag krankt an keinem Mangel, der durch eine Ergänzung oder Erweiterung behoben werden müßte; das LAV als solches, also auch als reines LAV, ist sittlich-rechtlich unanfechtbar. Nichtsdestoweniger bestehen nach wie vor Einwendungen gegen das LAV, die auch von einigen Vertretern der kSL als noch nicht endgültig widerlegt und ausgeräumt angesehen werden. Auf den Einwand, menschliche Arbeit gegen materiellen Entgelt auszutauschen verletze die personale Würde der ersteren, wurde bereits eingegangen; dem ist nichts hinzuzufügen. Hier sind daher nur noch die Einwände zu erörtern, die im LAV einen wesensnotwendigen und daher unaufhebbaren Verstoß gegen die Gerechtigkeit erblicken, sei es, daß das LAV dem Arbeitnehmer etwas versage oder vorenthalte, worauf ihm ein unentziehbares und unverzichtbares Menschenrecht zusteht, sei es, weil es in anderer Weise gegen den zu gerechtem Austausch unerläß-

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liehen Gleichwert von Leistung und Gegenleistung verstoße. - Ganz scharf lassen diese beiden Arten von Einwänden gegen das LAV sich allerdings nicht voneinander scheiden. Beide Klassen oder Kategorien von Einwänden stützen sich auf das klassische, übrigens auch schon von Leo XIII. in seiner Enzyklika "Rerum novarum" in Bezug genommene Axiom ,fructus sequitur laborem sicut effectus causam', "die Frucht folgt der Arbeit wie die Wirkung der Ursache". Aus diesem Axiom wird unmittelbar das "Recht auf den vollen Arbeitsertrag" abgeleitet, aus dem sich im Umkehrschluß die Unzulässigkeit und Verwerflichkeit des arbeitslosen Einkommens ergeben soll. Wer arbeitet, also auch wer seine Arbeitskraft dazu verdingt, um die Produktionsmittel eines anderen nutzbar zu machen, habe den unabdingbaren Anspruch auf das durch seine Arbeit erzielte Ergebnis, auf den "Ertrieb" (nach Gottlscher Terminologie) oder, wo das nicht realisierbar sei, auf den Ertrag; wer singulariter oder individualiter produziere, auf das Ergebnis dieser seiner individuellen Arbeitsleistung; wer socialiter, d. i. im Zusammenwirken mit anderen produziere, auf den ihm kausal zuzurechnenden AnteiL am Ergebnis dieses Zusammenwirkens. Wenn das zutrifft, dann kann die abhängige Arbeit gerechterweise nicht in die Rechtsgestalt des LAVs gekleidet werden, insoweit die geleistete Arbeit durch einen im vorhinein festgelegten Festlohn entgolten wird. Zum mindesten müßte eine Erfolgsbeteiligung (mit oder ohne Verlustbeteiligung?) vereinbart, strenggenommen müßte dem Eigentümer der sachlichen Produktionsmittel jeglicher Anteil an dem mit deren Hilfe erzielten Ertrieb oder Ertrag versagt werden; in diesem letzteren Fall bliebe vom LAV nur noch der Name übrig. Auf die hier einschlagenden komplexen Sachfragen ist an dieser Stelle nicht einzugehen; weder die Ethik noch die theologische Moral noch die kSL oder die evangel. Sozialethik, sondern ausschließlich die Wirtschaftswissenschaft hat darzutun, daß die kausale Zurechnung aus logischen Gründen unvollziehbar ist und es schon allein deshalb den "vollen Arbeitsertrag" nicht gibt und nicht geben kann. Über einen Rechtsanspruch auf einenUnbegriff braucht keine normative Wissenschaft sich den Kopf zu zerbrechen, ganz abgesehen davon, daß das Axiom ,fructus sequitur laborem sicut effectus causam', worauf Pius XI. hinweist, nur unter der stillschweigenden, weil selbstverständlichen Einschränkung gilt, daß es sich nur auf die "im eigenen Namen" ausgeübte, wir würden sagen auf die selbständige Arbeit bezieht. Wie derjenige, der seinen Garten verpachtet, darauf verzichtet, die Früchte seiner Bäume zu ernten, und als Entgelt dafür den Pachtzins erhält, so verzichtet der Arbeitnehmer, der seine Arbeitskraft im LAV "vevdingt", auf die 47 Festschrift f. G. Müller

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"Frucht" seiner Arbeit und bezieht als Entgelt für diesen Verzicht den "Abfindungslohn". War dies sozusagen die ökonomische, auf das Axiom ,fructus sequitur laborem sicut effectus causam' sich stützende Argumentation, die das LA V als seinem Begriff nach "ausbeuterisch" erweisen wollte, so geht eine andere, als anthropologisch zu bezeichnende Argumentation noch ein Stück weiter; sie glaubt dartun zu können, das LA V mit seinem "Abfindungslohn" verstoße nicht nur ,in oeconomicis' gegen die Verkehrs- oder Tauschgerechtigkeit, indem es dem Arbeitnehmer einen Teil des ihm zustehenden Entgeltes vorenthalte, sondern verstoße gegen ein elementares Menschenrecht. Auch diese Argumentation beruft sich gelegentlich auf das genannte Axiom, vorzugsweise und unmittelbar jedoch auf die "eigentumschaffende Kraft", die jeder menschlichen Arbeit, also auch der unselbständigen, im LAV verrichteten, kraft ihres personalen Charakters innewohne. Indem das LAV im Widerspruch zu dieser eigentumschaffenden Kraft jeder (also auch seiner) Arbeit dem Arbeitnehmer das Eigentum an seinem Produkt vorenthalte oder richtiger gesagt entziehe, verletze es seine Menschenwürde. In der Bezeichnung des im Arbeitsvertrag festgelegten Festlohnes als "Abfindungslohn" höre man die Bitterkeit mitklingen, die der Arbeiter darüber empfinde, daß er sich für diesen von ihm nicht aus freiem Willen geleisteten, sondern ihm aufgezwungenen Verzicht durch den Arbeitslohn "abfinden" lassen müsse. Für diese "eigentumschaffende Kraft" der Arbeit beruft man sich auf ein natürliches, sozusagen angeborenes Verlangen oder Bedürfnis des-Menschen, das Werk seiner Hände zu eigen zu haben und zu behalten; wenn er es "abgebe" oder abgeben müsse, dann werde er sich selbst "entfremdet" (er verliere damit ein Stück seiner selbst). "Entfremdung" klingt nach Marx, und in der Tat erstreckt Marx diesen Begriff sogar auf den Unternehmer (den "Kapitalisten"), der seine Produkte veräußern müsse, während wir eher geneigt wären, er wünsche nichts anderes und nichts mehr, als sie abzusetzen, und nichts bereite ihm größere Sorge, als keinen Absatz dafür zu finden und sie als Ladenhüter behalten zu müssen. Auch bei einigen Moraltheologen und Vertretern der kSL hat diese eigenartige Anthropologie Anklang gefunden. In der Welt der Wirklichkeit will doch schon der Handwerker sein Erzeugnis (der Schuhmacher die von ihm gefertigten Schuhe) nicht behalten, sondern gegen andere Bedarfsgegenstände tauschen; in der industriellen Welt mit ihrer hochgradigen Arbeitsteilung, erst recht in der hochtechnisierten und automatisierten Wirtschaft von heute ist das individuell-konkrete Produkt, das sein Produzent sich sozusagen vom Herzen losreißen müsse,

Das Lohnarbeitsverhältnis in der Sicht der katholischen Soziallehre

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überhaupt nicht mehr zu identifizieren - von den einen immer größeren Raum einnehmenden Dienstleistungen, die gar kein physisch-konkret existierendes Produkt hervorbringen, ganz zu schweigen. So ist es denn wohl auch nur eine verschwindende Minderheit von Vertretern der kSL, die sich von dieser Argumentation imponieren lassen und mit dieser Begründung das LAV als menschenrechtswidrig verwerfen. Demgegenüber hat die Kirche in ihrer Soziallehre niemals in Zweifel gezogen, vielmehr ohne alles Schwanken immer daran festgehalten, daß das LAV und seine rechtliche Grundlage, der Lohnarbeitsvertrag, an und für sich einwandfrei, mit der Menschenwürde und den Menschenrechten im allgemeinen und mit der Tausch- oder Verkehrsgerechtigkeit im besonderen vereinbar ist, daß von daher also ein Fortschritt au dela du salariat nicht gefordert, allerdings ebensowenig abgelehnt oder verweigert werden kann. - Diese dem LA V in abstracto erteilte Unbedenklichkeitsbescheinigung gibt jedoch noch keine Auskunft darüber, was denn nur positiv alles erfordert ist oder dazu gehört, damit das LAV in concreto, d. i. im jeweiligen Einzelfall, allen Forderungen der Menschenwürde und der Gerechtigkeit entspricht, welchen Anforderungen die Arbeitsverhältnisse genügen müssen, um menschenwürdig, d. i. dem arbeitenden Menschen zurnutbar zu sein, und wie die Arbeit zu entlohnen ist, um der Tausch- oder Verkehrsgerechtigkeit zu genügen. Das ist es, worauf es für die Praxis ankommt; das zu klären erkennt die kSL als dringend gebotene Aufgabe, die sie jedoch unmöglich allein lösen kann, für die sie vielmehr auf interdisziplinäre Zusammenarbeit mit einer Vielzahl anderer Wissenschaften angewiesen ist. Von allem auch nur in Kürze zu handeln, was hier einschlägt, würde Bände füllen; nur auf eine Auswahl besonders gewichtiger und zugleich aktueller Fragen kann hier eingegangen werden. Eben darum, weil es aktuelle Fragen sind, können sie noch nicht ausdiskutiert sein. Vielfach geht es überhaupt erst darum, herauszufinden, was denn fraglich oder fragwürdig ist, um die richtigen Fragen stellen zu können; nur auf richtig gestellte Fragen gibt es richtige Antworten. Kein Wunder, daß gerade hier der Unterschied zwischen Soziallehre der Kirche und kSL deutlich in Erscheinung tritt. Die Kirche als solche kann in ihrer Soziallehre nur Aussagen machen über Fragen, die bereits hinreichend geklärt sind, um aus der wissenschaftlichen Diskussion das Fazit zu ziehen; zuvor muß unter den Vertretern der kSL über die jeweils anstehenden oder neu aufbrechenden Fragen eine breite Diskussion stattgefunden haben, in der die anfänglich vielleicht weit auseinandergehenden Meinungen allmählich einander näher gekommen sind, wenn auch keine Übereinstimmung in allen Stücken erreicht zu sein braucht. Soviel aber ist unerläßlich, reicht aber auch aus, um dem kirchlichen Lehramt zu ermöglichen, zwar nicht unumstößlich richtige, aber doch 47•

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hinreichend begründete Aussagen zu machen und den Beteiligten oder Betroffenen ernstlich ins Gewissen zu reden.

Menschenwürdige Arbeitsverhältnisse ("Humanisierung der Arbeitswelt"), hier also solche Arbeitsverhältnisse, die gerade dem Menschen in der Lebenslage der abhängigen Arbeit gerecht werden, seinen spezifischen Bedürfnissen Rechnung tragen, kann wie jede andere normative Wissenschaft so auch die kSL nur postulieren, dieses ihr Postulat aber nicht in eigener Zuständigkeit, d. i. aus eigener Sachkenntnis konkretisieren, d. i. angeben, was alles im einzelnen dazu gehört oder gehören kann und wie es zu verwirklichen ist. Das zu klären ist der eigene Ge·· genstand einer Vielzahl arbeitswissenschaftlicher Disziplinen, nicht al· lein der zur Ergonomie zählenden Gruppe. Allen diesen Disziplinen kann die Kirche und kann die kSL nur das allen Überlegungen zugrunde zu legende Menschenbild vor Augen führen, ihnen ihre philosophische und ggf. auch theologische Anthropologie nahebringen, und muß sozusagen im Rücklauf die von diesen Disziplinen erzielten Ergebnisse wieder an diesem ihrem Menschenbild messen, um sie, soweit sie widerspruchsfrei mit ihm vereinbar sind, sich zu eigen zu machen, sie weiterzugeben und darauf zu dringen, daß die Praxis die entsprechenden Folgerungen zieht und anwendet. Ganz in gleicher Lage wie die Rechtswissenschaft und die Justiz kann sie mangels eigenen Sachverstandes selbst nichts in diesen Fragen ausmachen, sondern muß sich belehren lassen, allerdings nicht, um diese Belehrung unkritisch zu übernehmen, sondern um sie an dem ihr eigenen Maßstab zu messen. Anders verhält es sich hinsichtlich der gerechten Bemessung des Entgeltes, gleichviel in welcher Gestalt als Lohn, Gehalt oder was immer er erscheinen mag. Dafür den Maßstab oder vielleicht ein ganzes meßtechnisches Instrumentarium zu erstellen, ist eigene Aufgabe der kSL. Grundlegend geht es darum, ob der Rechtsanspruch auf Entgelt kausal oder final (teleologisch) oder auf beide Weisen, sei es alternativ, sei es kumulativ zu begründen ist, ob seine Höhe nach dem Maß der Leistung oder des Lebensbedarfs (Stichworte "Leistungslohn" und "Lebenslohn") zu bemessen ist. - Soweit die Leistung als solche zu entgelten ist und daher als Maßstab zu dienen hat, bedarf es dann allerdings doch wieder der Hilfe sowohl der Ergonomie als auch der Ökonomik, um zu klären, was denn unter "Leistung" zu verstehen ist und wie man eine Maßeinheit finden oder bilden kann, um sie zu messen. Soweit dagegen "Lebenslohn" beansprucht werden kann, ist zu klären, welche und wessen Lebensbedürfnisse dafür maßgeblich sind; hier schlagen Fragen wie des Familienlohnes, der gleichen oder ungleichen Entlohnung von Männer- und Frauenarbeit u. dgl. m. ein; alles dies sind ihrer Natur nach eindeutig Rechtsfragen.

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Allen diesbezüglich anzustellenden Überlegungen hat die Soziallehre der Kirche gleich von Anfang an die klare und entschiedene Absage an die liberalistische Vorstellung vorausgeschickt, wonach die rechtsgeschäftliche Willenseinigung der Vertragschließenden ohne weiteres bewirke, daß der Arbeitsvertrag den Anforderungen der Gerechtigkeit genügt: ,volenti non fit iniuria'. Auch dieses Axiom unterliegt, wie Leo XIII. in "Re rum novarum" nachdrücklich betont, einer stillschweigenden, weil selbstverständlichen Einschränkung: der Wille muß beiderseits gleich frei sein. Zur Zeit Leos XIII. war der Wille dessen, der als Arbeitnehmer einen Arbeitsvertrag schloß, unvergleichbar weniger frei als unter den heutigen Umständen; er war im höchsten Grade unfrei. Daß der Mensch sich zur Lohnarbeit verdingt, daß er sich nicht als selbständig Erwerbstätiger etabliert, sondern in die "Lebenslage der abhängigen Arbeit" einwilligt, ist auch heute noch für die weitaus meisten keine freie Wahlentscheidung, sondern unausweichliche Lebensnotwendigkeit. Daß der einzelne Arbeitnehmer im Verhältnis zum Arbeitgeber in aller Regel der schwächere ist und daher, um die Arbeitsbedingungen wirklich frei aushandeln zu können, sowohl der Rückenstärkung durch die öffentliche Gewalt als auch des Zusammenschlusses mit seinesgleichen bedarf, hat die katholische Kirche ungeachtet ihrer anderweitigen Bedenken und Hemmungen gegenüber dem Gewerkschaftswesen (man denke an den Streit um "christliche" Gewerkschaften) in ihrer Soziallehre jederzeit anerkannt und sich mit Nachdruck für das Koalitionsrecht der Arbeitnehmer eingesetzt. Besinnt man sich auf den Abscheu, mit dem unsere wirtschaftskundigen Moraltheologen der beginnenden Neuzeit jede Art monopolistischer Machenschaften verurteilt und gebrandmarkt haben, dann ermißt man, was es bedeutet, daß weder der Zusammenschluß mit dem Ziel, als kartellarisch organisierte Arbeitsmarktpartei Marktmacht auszuüben, noch der Einsatz dieser Macht, um berechtigten Forderungen Nachdruck zu verleihen, wofern nur das rechte Verhältnis von Mitteln und Zweck gewahrt bleibt, verworfen, sondern als ultima ratio kirchenlehramtlich ausdrücklich anerkannt ist. Mit dem zuletzt Gesagten ist die Grenze des individuellen Arbeitsrechtes erreicht; darüber hinaus würde der Weg in den Bereich des kollektiven Arbeitsrechts und des Arbeitskampfrechts führen. Dieses weite Feld mit seinen zum guten Teil erst noch zur Lösung anstehenden oder jeden Tag neu aufstehenden Problemen soll hier nicht betreten werden. Nur um einem bei Ethikern und Theologen manchmal sich einschleichenden Mißverständnis vorzubeugen, sei jedoch eigens verdeutlicht, was überhaupt Gegenstand eines Arbeitskampfes sein kann. Bestehende Rechte, gleichviel ob Ansprüche aus Arbeits- oder anderen Verträgen oder objektive Rechtsnormen, sind ggf. nicht durch Arbeitskampf, sondern durch Klage vor dem dafür zuständigen Gericht zu erstreiten. Der

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Richter "erkennt", was in dem vor ihn gebrachten Rechtsstreit "rechtens" ist und setzt notfalls die Zwangsgewalt des Staates ein, um seinem Erkenntnis Nachachtung zu verschaffen. Beim Arbeitskampf dagegen geht es nicht um das, was "rechtens" ist, sondern darum, was "rechtens" sein bzw. werden soll; in diesem Sinn geht es nicht um einen Rechtsstreit, sondern um einen Regelungsstreit. Es geht darum, eine Willenseinigung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern herbeizuführen, wie sie ihre wechselseitigen Beziehungen regeln wollen. Dabei pflegen beide Kampfparteien, ihre Forderungen als ihr "gutes Recht" zu proklamieren. Das darf nicht dahin verstanden werden, das, worum sie kämpfen, sei ein der einen Seite bereits zustehendes, von der anderen Seite jedoch ihr verweigertes Recht; ihre Aussage kann nur besagen, ihre Forderung sei vernünftig begründet und halte sich in den Grenzen dessen, was man fordern könne, ohne sich durch Überforderung ins Unrecht zu setzen. Darum braucht eine Forderung selbst dann, wenn sie überzeugend begründet ist, nicht unbedingt so, wie sie gestellt wird, erfüllt zu werden; an ihrer Stelle kann auch etwas anderes vereinbart werden, womit der Gerechtigkeit Genüge geschieht. Daß nur eine einzige Art der Regelung der Gerechtigkeit genügt, wird kaum jemals der Fall sein; im allgemeinen wird die Gerechtigkeit nur einen weit gespannten Rahmen ziehen, innerhalb dessen die Vertragspartner sich eine Vielfalt von Lösungen ausdenken können, zwischen denen ihnen die Wahl freisteht, auf welche von ihnen sie sich einigen wollen. Ob eine einzelne Forderung für sich allein genommen "gerecht" ist, wird sich wohl nur in Ausnahmefällen einmal feststellen lassen (es sei denn, sie sei ihrem Gehalt nach rechtswidrig). Worauf es ankommt, ist nicht das Gewicht der einzelnen Leistung oder Belastung, sondern das Gleichgewicht zwischen dem, was beide Seiten insgesamt an Leistung erbringen oder an Belastung auf sich nehmen. Wie diese Gesamtleistung oder Gesamtbelastung im einzelnen sich zusammensetzt, ist keine Frage der Gerechtigkeit, wird dagegen unter der Rücksicht der Vermenschlichung des Arbeitslebens von großer, ja größter Bedeutung sein. Gerade daraus erhellt, daß der Regelungsstreit nicht "justiziabel" ist und darum, wenn die Vertragspartner sich nicht gütlich einigen und auch keine frei vereinbarte Schlichtung zum Ziele führt, nur noch übrig bleibt, die Meinungsverschiedenheiten im Arbeitskampf auszutragen oder, wenn es eine gesetzliche Zwangsschlichtung gibt, den verbindlichen Spruch des Schlichters hinzunehmen und sich ihm zu unterwerfen. Auf das sog. "Recht auf Arbeit" ist in diesem Zusammenhang nicht einzugehen. Bei der darüber geführten Diskussion wird zwar meist nur an die abhängige Arbeit im Lohnarbeitsverhältnis gedacht; tatsächlich aber geht es, wie die dafür geltend gemachten Gründe zeigen, nicht um das Recht auf einen Arbeitsplatz im LAV, sondern ganz allgemein und

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wnfassend einmal um das Recht des Menschen auf Betätigung seiner Anlagen und Kräfte und damit auf einen sinnvollen Lebensinhalt, zum anderen mal wn das Recht auf auskömmlichen Lebensunterhalt und auf Gelegenheit zu dessen Erwerb. Da beiden Rechtsansprüchen die selbständige Arbeit ebensogut, wenn nicht noch besser entspricht als die abhängige, gehört diese Frage nicht hierhin. Sehr wohl am Platze dagegen wäre hier eine Untersuchung darüber, was die Tatsache, daß ein Großteil unserer Bevölkerung sich in der Lebenslage der abhängigen Arbeit befindet, für unsere Gesellschaft und Wirtschaft und deren Ordnung im ganzen bedeutet. Das zu erörtern würde jedoch erforderlich machen, den gesamten Fragenbereich von Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung aufzurollen, was ungefähr einer Gesamtdarstellung der kSL gleichkäme. Darauf muß hier verzichtet werden; nur eine Frage erscheint derart reizvoll, daß auf sie noch ein kurzer Seitenblick geworfen werden soll: was bedeutet das LAV im Sozialismus-Kommunismus? Die Haltung des (marxistischen) Sozialismus-Kommunismus ist in der Tat bemerkenswert. - Unbestrittenermaßen besteht in den kommunistisch beherrschten, tatsächlich staatskapitalistischen Ländern das LAV fort. Unter dem Privatkapitalismus war das LAV verdammenswert, ist es ex definitione "Ausbeutung"; wieso kann es unter kommunistischer Herrschaft plötzlich etwas völlig problemloses, unanfechtbares, selbstverständliches sein? Die Antwort auf diese Frage ist verblüffend einfach. Nach dem Selbstverständnis der kommunistischen Wirtschaft findet in ihr kein Austausch zwischen Leistung des einen und Gegenleistung des anderen statt; den "anderen" gibt es nicht; jeder identifiziert sich mit dem Ganzen. Damit entfällt jede Möglichkeit eines Austauschs und damit erst recht eines fehlerhaften oder ungerechten Austauschs; Ausbeutung kann es begrifflich gar nicht geben. Der Ertrieb oder Ausstoß des Betriebs oder der Gesamtwirtschaft (von "Ertrag" in unserem Sinn kann strenggenommen, obwohl rechnerisch Erträge und Verluste der Betriebe ausgewiesen werden, keine Rede sein) ist von vornherein und verbleibt ein für allemal Eigentum der Gesellschaft, des Kollektivs aller Produzenten und Konswnenten insgesamt. Was dem einzelnen zugeteilt wird, ist nicht Gegenleistung im Gleichwert für die von ihm geleistete Arbeit (iustitia commutativa, Verkehrs- oder Tauschgerechtigkeit), wird vielmehr für ihn aus dem Sozialprodukt abgezweigt, wobei in der derzeitigen sozialistischen Phase noch das Verhältnis (die Proportion) zu der von dem einzelnen erbrachten Leistung als Maßstab dient (iustitia distributiva, austeilende Gerechtigkeit); in der noch ausstehenden kommunistischen Phase entfällt auch dieser Verteilungsmaßstab und erhält oder richtiger entnimmt jeder aus dem gemeinsamen Sozialprodukt gemäß seinen Bedürfnissen. Dem Erscheinungsbild nach noch das

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alte kapitalistische LAV, der Ideologie und dem ideologisch interpretierten Rechtsgehalt nach etwas gänzlich anderes und neues. - Nimmt man die Identität oder Identifikation jedes einzelnen mit dem gesamten Produzenten- und Konsumenten-Kollektiv als Realität und abstrahiert von dem nicht ganz unbedeutenden Staatsverbrauch (Rüstung!), oder läßt man in der Sprache der Staatslehre unserer großen scholastischen Theologen die ,multitudo' der einzelnen restlos aufgehen im ,populus' als Ganzheit, dann, aber auch nur dann ist diese Argumentation unwiderlegbar schlüssig; sind dagegen ihre Prämissen nur ideologisch konstruierte Fiktionen, dann ist auch das, was diese Argumentation beweisen will, nur eine im luftleeren Raum schwebende Fiktion ohne Berührung mit der Wirklichkeit.

RECHTSPROBLEME BEIM WIDERRUF DER BESTELLUNG VON ORGANMITGLIEDERN UND ANSPRÜCHE AUS FEHLERHAFTEN ANSTELLUNGSVERTRÄGEN Von Franz-J ürgen Säcker

I. Abberufung von Organmitgliedern nach Wegfall der Vertrauensgrundlage 1. Nach §§ 84 Abs. 3 AktG, 31 Abs. 5 MitbestG kann der Aufsichtsrat die Bestellung zum Mitglied des gesetzlichen Vertretungsorgans einer AG oder GmbH nur widerrufen, wenn ein wichtiger Grund vorliegt. Gemäß § 84 Abs. 3 Satz 2 AktG ist als wichtiger Grund anzusehen:

a) grobe Verletzung der Pflichten aus dem Anstellungsvertrag, b) Unfähigkeit zur ordnungsgemäßen Geschäftsführung oder c) Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung, es sei denn, das Vertrauen ist aus offenbar unsachlichen Gründen entzogen worden. Nach geltendem Aktienrecht kann ein Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft also nicht mehr jederzeit ohneGründe abberufen werden, wie es zur Zeit noch gemäß § 38. Abs. 1 GmbHG bei Geschäftsführern einer nicht unter das Mitbestimmungsgesetz 1976 fallenden GmbH der Fall ist 1 und früher nach§ 231 Abs. 3 HGB bei den Vorstandsmitgliedern einer Aktiengesellschaft der Fall war. Die Gesetzgeber des Aktiengesetzes 1937 und 1965 haben im Interesse einer größeren Unabhängigkeit des Vorstandsmitgliedes bewußt den Widerruf der Bestellung an den durch exemplarische Tatbestände konkretisierten wichtigen Grund gebunden. Die in § 84 Abs. 3 AktG getroffene Regelung ist die teleologisch unabweisbare Konsequenz aus der in§ 70 Abs. 1 AktG 1937, § 76 Abs. 1 AktG 1976 getroffenen Wertung, daß der Vorstand die Geschäfte des Unternehmens in eigener Verantwortung zu führen hat. Das Aktiengesetz hat damit dem Vorstand eine Sphäre eigenverantwortLicher Zielverwirklichung zugewiesen, in die weder der Aufsichtsrat(§ 111 Abs. 4 Satz 1 AktG) noch die Hauptversammlung (vgl. § 119 Abs. 2 AktG) aus eigenem Recht eingreifen können. Eine solche rechtliche Regelung gebietet folge1 Vgl. dazu Säcker, Kompetenzstrukturen bei Bestellung und Anstellung von Mitgliedern des Unternehmerischen Leitungsorgans, BB 1979, S. 1321 ff.

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richtig auch auf der Ebene des Anstellungsvertrages die Sicherung der Unabhängigkeit des Vorstandes; eigenverantwortliche Führung der Ge·· schäfte ist nicht möglich, wenn jederzeit ohne Angabe von Gründen eine Abberufung erfolgen kann2 • Diese relative Verselbständigung des Vorstandes gegenüber den Anteilseignern kann indes aus zwingenden verfassungsrechtlichen Erwägungen bestimmte Grenzen nicht überschreiten. Der Vorstand einer privatrechtliehen Korporation ist nicht Leiter eines "Unternehmens an sich", sondern der treuhänderische Verwalter des ihm anvertrauten Risikokapitals. Der Aktionär bzw. GmbH-Gesellschafter als Eigentümer des Unternehmens i. S. von Art. 14 GG und als Träger einer freien Vereinigung i. S. von Art. 9 Abs. 1 GG kann verlangen, daß ihm in seiner Rolle als Mitglied der wirtschaftlichen Vereinigung maßgeblicher Einfluß auf die Gestaltung des Unternehmens zukommt. Das Bundesverfassungsgericht hat demgemäß in seinem Urteil zum Mitbestimmungsgesetz vom 1. 3. 19793 ausdrücklich festgestellt, daß die gesetzliche Regelung des Gesellschaftsrechts die freie Assoziation und Selbstbestimmung der Gesellschafter in der Gesellschaft im Prinzip erhalten muß. Solange der Anteilseignerseite der ausschlaggebende Einfluß in dem für Wahl und Abberufung der Vorstandsmitglieder zuständigen Organ verbleibe, sei eine Regelung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden4 • Der Bundesgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung zur Abberufung von Vorstandsmitgliedern seit jeher gesehen, daß die Voraussetzungen für den Widerruf der Bestellung sich in Einklang mit dem verfassungsrechtlichen Eigentums- und Vereinigungsschutz der Art. 14 Abs. 1 und 9 Abs. 1 GG halten müssen. Die Trennungstheorie, nach der zwischen der ,organschaftlichen Bestellung einerseits und dem Anstellungsvertrag andererseits zu unterscheiden ist, hat nicht zuletzt hierin ihren inneren Sachgrund5• Die Aufrechterhaltung des Anstellungsvertrages dient dem Schutz des Vorstandsmitgliedes, die erleichterte Möglichkeit zum Widerruf der Bestellung dem Schutz der Aktionäre, denen eine Vermögensverwaltung nicht zugemutet werden kann, die in keiner Weise ihren eigenen unternehmenspolitischen Vorstellungen von der richtigen Verwaltung dieses Vermögens entspricht. Demgemäß hat der Bundesgerichtshof 2 Vgl. dazu eingehend Duden, Abberufung eines Vorstandsmitgliedes durch den Aufsichtsrat wegen Vertrauensentzugs durch die Aktionäre?, BB 1961, s. 255 ff. s NJW 1979, S. 699 ff. 4 Vgl. BVerfG, NJW 1979, S. 707; näher dazu Säcker, RdA 1979, S. 380 ff.; Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Bd. I, 1980, S. 673 ff. s Vgl. zur grundsätzlichen Trennung zwischen Anstellung und Amt die§§ 84 Abs. 1 Satz 5 und Abs. 3 Satz 5 AktG, § 37 Abs. 3 Satz 3 MitbestG; näher dazu Säcker, BB 1979, S. 1321 ff. sowie Fischer, Anm. zu BGH AP Nr. 1 zu § 83 AktG.

Widerruf der Organmitgliederbestellung

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in seiner grundlegenden Entscheidung vom 28. April 19546 festgestellt, daß ein Widerruf der Bestellung zum Vorstandsmitglied nicht nur dann gerechtfertigt sei, wenn der Nachweis geführt sei, daß das Vorstandsmitglied seine Geschäfte nicht ordnungsgemäß geführt habe, sondern grundsätzlich auch dann, wenn die Anteilseigner zu dem Vorstandsmitglied kein Vertrauen mehr hätten. In der Entscheidung heißt es wörtlich: "Dem Berufungsgericht kann nicht darin gefolgt werden, daß die Entziehung des Vertrauens nur dann ein wichtiger Grund für die Abberufung sei, wenn begründete Zweifel gegen die Ordnungsmäßigkeit der Geschäftsführung des Vorstandsmitglieds vorliegen. Das liefe auf eine Abberufung aus dem Grunde nachweisbar nicht ordnungsmäßiger Geschäftsführung hinaus und würde den Vertrauensentzug als wichtigen Grund für die Abberufung nur in allzu eingeschränktem Umfang anerkennen. Entzieht die Hauptversammlung einem Vorstandsmitglied das Vertrauen, so ist das grundsätzlich ein wichtiger Grund, der die Abberufung dieses Vorstandsmitgliedes rechtfertigt, ohne daß im Einzelfall festzustellen ist, ob die Entziehung des Vertrauens berechtigt war oder nicht. Der Grund hierfür liegt darin, daß die Stellung des Vorstandes auf Vertrauen begründet ist und daß seine Machtbefugnisse nur in dem ihm entgegengebrachten Vertrauen ihre Berechtigung finden. Deshalb brauchen Vorstandsmitglieder, die nicht mehr vom Vertrauen der Gesellschaft getragen werden, grundsätzlich nicht beibehalten zu werden. Nicht gefolgt werden kann aber der Ansicht, Vertrauensentzug sei ,selbstverständlich stets' ein wichtiger Grund für die Abberufung. Nach § 231 Abs. 3 HGB konnte die Bestellung zum Mitgliede des Vorstands auch willkürlich widerrufen werden. Das wurde durch § 75 Abs. 3 AktG (1937) geändert, um zu verhindern, daß der Vorstand in ein starkes Abhängigkeitsverhältnis zum Aufsichtsrat gerät. Dem Vorstand sollte die Sorge grundloser Abberufung genommen werden, um ihm ein sicheres Arbeiten zu ermöglichen. Deshalb darf der Aufsichtsrat, der die Verantwortung für die Zusammensetzung des Vorstandes trägt und die letzte Entscheidung darüber hat, ob ein Vorstandsmitglied abberufen werden soll, diese Maßnahmen nicht ergreifen, wenn die Aktionäre dem Vorstandsmitglied das Vertrauen erkennbar aus völlig unsachlichen Gründen entzogen haben. Aus dem gleichen Grunde kann ein Vertrauensentzug, der der Abberufung nur zum Vorwande dient oder willkürlich, haltlos oder wegen der damit verfolgten Zwecke unrechtlieh ist, etwa weil sie gegen Treu und Glauben verstoßen, nicht als wichtiger Grund für die Abberufung anerkannt werden. Auch wenn die Abberufung selbst sittenwidrig ist oder gegen Treu und Glauben verstößt, ist ihr die Anerkennung zu versagen." Im konkreten Fall versagte der Bundesgerichtshof der Abberufung nur deshalb die Anerkennung, weil sie allein darauf gestützt war, daß das Vorstandsmitglied sich geweigert habe, einem Aktionär wahrheitswidrig zu bescheinigen, er sei Inhaber von Aktien einer schweizerischen Konzerngesellschaft. In gleichem Sinne heißt es in der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 20. Oktober 19547 : 8

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BGHZ 13, S. 188 f. BGHZ 15, S. 71 (75).

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"Gegen die Geschäftsführung des Klägers als solche hat die Beklagte keinerlei Einwendungen erhoben. Es ist vielmehr unstreitig, daß der Kläger die Geschäfte der Beklagten und sein Amt vorbildlich geführt hat. Zum Vorwurf werden ihm lediglich Äußerungen gemacht, die den Hauptaktionär berechtigt haben sollen, ihm das Vertrauen zu entziehen. Daß der Entzug des Vertrauens durch den Mehrheitsaktionär ein wichtiger Grund für die Abberufung des Vorstandsmitglieds sein kann, hat der Senat bereits mehrfach entschieden. Die schuldhafte Veranlassung des Vertrauensentzuges kann auch einen Grund zur fristlosen Beendigung des Anstellungsverhältnisses abgeben. Dazu gehört aber, daß der Begriff des wichtigen Grundes im Sinne des § 626 BGB erfüllt wird. Ein geringfügiges Verschulden, das zum Vertrauensentzug und zur Abberufung geführt hat, reicht nicht aus, um das Anstellungsverhältnis fristlos aufzulösen." Diese Rechtsprechung hat in der Literatur nahezu allgemeine Zustimmung gefunden; sie galt als sachgerechte Abwägung zwischen den im Eigentumsrecht wurzelnden Herrschaftsinteressen der Aktionäre einerseits, dem Interesse an eigenve11antwortlicher Führung der Geschäfte durch das gesetzliche Vertretungsorgan andererseits 8 • Der Gesetzgeber des Aktiengesetzes 1965 hat sich an dieser Rechtsprechung orientiert. Er hat die Vorschrift des§ 75 Abs. 3 AktG 1937, die als wichtigen Grund für den Widerruf der Bestellung lediglich den Fall der groben Pflichtverletzung sowie der Unfähigkeit zur ordnungsgemäßen Geschäftsführung aufzählte, ergänzt um den Fall des Vertrauensentzugs durch die Hauptversammlung, diesen aber entsprechend der Rechtsprechung dahin eingeschränkt, daß ein Vertrauensentzug dann keine ausreichende Grundlage für den Widerruf der Bestellung sei, wenn das Vertrauen aus offenbar unsachlichen Gründen entzogen worden sei. 2. Durch die in § 84 Abs. 3 Satz 2 AktG getroffene Regelung wird nunmehr klargestellt, daß die Hauptversammlung den Entzug des Vertrauens nicht zu begründen braucht. Es ist Sache desjenigen, der aufgrundeines Vertrauensentzugs durch die Hauptversammlung vom Aufsichtsrat abberufen wird, darzulegen, daß das Vertrauen aus offenbar unsachlichen Gründen entzogen wurde. Insoweit weist das geltende Recht die Behauptungs- und Beweislast voll dem abberufenen Vorstandsmitglied zu; bis zur rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung verbleibt es bei der Wirksamkeit des Widerrufs der Bestellung (§ 84 Abs. 3 Satz 4 AktG). Für den Anstellungsvertrag gilt dagegen unverändert die allgemeine Regelung, daß das Unternehmen die Voraussetzungen des wichtigen Grundes darzulegen und zu beweisen hat. Demgemäß 8 Vgl. dazu Baumbach I Hueck, AktG, 10. Auf!., 1959, § 75 Anm. 5 C; W. Schmidt, in: Großkommentar zum AktG, 2. Aufl., 1959, § 75 Anm. 14; Würdinger, Aktienrecht, 1959, S. 129; Kuhn, Wertpapier-Mitteilungen 1955, Teil IV B, S. 12 (13 f.); SchlegelbergeT I Quassowski, AktG, 3. Aufl., 1939, § 75 Rdnr. 11; v. Godin I Wilhelmi, AktG, 2. Aufl., 1950, § 75 Anm. II 7; Teichmann I Koehler, AktG, 3. Aufl., 1950, § 75 Anm. 3 b; Ritter, Komm. zum AktG, 2. Auf!., 1939, § 75 Anm. 4 d; Cunio, SozPr. 19·38, S. 552 ff.; Scholz, SozPr. 1938, S. 1246 ff.

Widerruf der Organmitgliederbestellung

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hat der Bundesgerichtshof in einer grundlegenden Entscheidung vom 3. Juli 19759 festgestellt: "Die tatsächliche Feststellung des Berufungsgerichts, der Kläger habe sich weder pflichtwidrig verhalten noch seien ihm eine unvertretbar fehlerhafte Beurteilung der Lage und geschäftliche Unfähigkeit vorzuwerfen, greift durch. Mit seiner hieraus gezogenen Folgerung, es fehle an einem wichtigen Grund sowohl für den Widerruf der Bestellung als auch für die Kündigung des Dienstvertrages, hat das Berufungsgericht - von dem noch zu erörternden Gesichtspunkt des Vertrauensentzugs abgesehen - den Begriff des wichtigen Grundes nach § 84 Abs. 3 AktG wie auch nach § 626 BGB nicht verkannt und in tatsächlicher Hinsicht die Grenzen des ihm zustehenden Ermessens eingehalten. Mit Recht wendet sich die Revision jedoch gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, auch der Vertrauensentzug durch die Alleinaktionäre rechtfertige nicht den Widerruf der Bestellung des Klägers zum Vorstandsmitglied. Nach § 84 Abs. 3 Satz 2 AktG reicht der Vertrauensentzug nur dann nicht für den Widerruf aus, wenn er aus offenbar unsachlichen Gründen erfolgt ist, wofür das abberufene Vorstandsmitglied die Beweislast trägt. Die

Tatsache, daß das Berufungsgericht einen sachlichen Grund für den Entzug des Vertrauens nicht festzustellen vermochte, ersetzt nicht die hier notwendige konkrete Feststellung eines offenbar unsachlichen Grundes."

In dem entschiedenen Falle ging es um den Ausbau eines Kraftwerks durch ein kommunales Versorgungsunternehmen. Das kaufmännische Vorstandsmitglied hatte empfohlen, ein Angebot von RWE über die Bildung einer gemischtwirtschaftlichen Gesellschaft zum Zwecke des Ausbaues des Kraftwerks anzunehmen. Über die Auswirkung des Angebots wurden zwei gutachtliche Stellungnahmen eingeholt, die zu unterschiedlichen Ergebnissen kamen. In einer Aufsichtsratssitzung stellte ein Aufsichtsratsmitglied der Arbeitnehmervertreter mit Rücksicht auf Ausführungen des Vorstandsmitgliedes in einer Betriebsversammlung zu diesem Fragenkomplex den Antrag, seine Bestellung zum kaufmännischen Vorstandsmitglied zu widerrufen und ihm fristlos zu kündigen. Diesem Antrag gab der Aufsichtsrat statt. Die Widerrufs- und die Kündigungserklärung gingen dem Vorstandsmitglied am 21. 9. 1971 zu. Während des Rechtsstreits um die Wirksamkeit von Widerrufs- und Kündigungserklärung kündigte der Aufsichtsrat gemäß Beschluß vom 10. 5. 1972 erneut den Anstellungsvertrag fristlos. Der Widerruf der Bestellung wurde aufrechterhalten. In einer Sitzung vom 6. Juni 1972 entzog der Magistrat dem Vorstandsmitglied unter Hinweis auf eine der beiden gutachtlichen Stellungnahmen das Vertrauen, und gestützt auf einen gleichlautenden Beschluß der Hauptversammlung des Unternehmens vom 12. 7. 1972 widerrief dann der Aufsichtrat am seihen Tage noch einmal die Bestellung des Klägers zum Vorstandsmitglied. Das abberufene Vorstandsmitglied sah den Hauptversammlungsbeschluß vom 12. 7. 1972 als unsachlich an, weil der Grund für diesen Beschluß "nur in dem v

DB 1975, S. 1548 ff.

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Versuch liegen (könne), die Prozeßsituation der Gegenseite zu verbessern, da Gründe für den Vertrauensentzug nicht genannt seien". Der Bundesgerichtshof nimmt zu diesem Argument wie folgt Stellung: "Zwar nennt das Schreiben des Aufsichtsratsvorsitzenden vom 12. 7. 1972 nicht die Gründe für den Vertrauensentzug. Es besteht aber ein unverkennbarer Zusammenhang mit dem vorausgegangenen Beschluß vom 6. 7.1972, durch den der Magistrat dem Kläger bereits das Vertrauen entzogen und dies mit einem Hinweis auf das (s. c.: den RWE-Vorschlägen ablehnend gegenüberstehende) Wibera-Gutachten begründet hatte. Wenn die Mehrheit des Magistrats aufgrund dieses Gutachtens zu dem Ergebnis gekommen war, der Kläger habe die Stadt und die Beklagte falsch beraten und sei deshalb als Vorstandsmitglied nicht mehr tragbar, so läßt sich dem darauf beruhenden Vertrauensentzug auch dann nicht die Bedeutung eines wichtigen Grundes gemäß § 84 Abs. 3 Satz 2 AktG absprechen, wenn dem Kläger subjektiv kein Vorwurf zu machen war oder er sogar objektiv im Recht gewesen sein sollte.

Denn ebenso wie das Berufungsgericht dem Kläger die sachliche Vertretbarkeit seiner Ansicht zugute gehalten hat, kann es andererseits nicht als offenbar unsachlich zu werten sein, daß die Vertreter der Alleinaktionärin aufgrund des Wibera-Gutachtens zu einem gegenteiligen Urteil gelangt waren und deshalb dem Kläger als Vorstandsmitglied kein Vertrauen mehr entgegenbrachten. Bei dem RWE-Angebot und seiner Einschätzung im Vergleich zu den weiteren Vorschlägen ging es um eine für die künftige Stromversorgung sehr wichtige Entscheidung. Hierzu hatte der Kläger wiederholt mit Nachdruck einen der Mehrheitsauffassung des Aufsichtsrats und des Magistrats entgegengesetzten Standpunkt vertreten. Unter diesen Umständen kann von einem willkürlichen, haltlosen und sonstwie mißbräuchlichen Entzug des Vertrauens nicht gesprochen werden." Diese Entscheidung macht die eingangs getroffene Feststellung deutlich, daß bei Wegfall des Vertrauens in Person oder Geschäftspolitik eines Vorstandsmitgliedes der Anteilseignerseite das Recht zustehen muß, sich von diesem Vorstandsmitglied zu trennen, unabhängig von der Frage, ob das Vorstandsmitglied einen Grund für den Wegfall des Vertrauens geliefert hat. Unterschiedliche Auffassungen über die Geschäftspolitik können, selbst wenn das Vorstandsmitglied bei einer ex postWürdigung im Recht wäre, den Widerruf der Bestellung rechtfertigen10. Ob strengere Voraussetzungen an den Widerruf der Bestellung zu stellen sind, wenn es sich um eine Abberufung diffamierenden, herabsetzenden oder kränkenden Charakters handelt1 1, mag hier dahingestellt bleiben. Aus den meist nachhaltigen Auswirkungen einer Abberufung, die das abberufene Vorstandsmitglied im allgemeinen an seinem Fortkommen hindern, weil es aufgrund des Widerrufs der Bestellung in den Verdacht der Unfähigkeit, der Unverträglichkeit oder der Ungeeignetheit gerät, läßt sich m. E. nicht ablei10 Ebenso Hefermehl, a.a.O., § 84 Rdnr. 73; Mertens, in: Kölner Kommentar zum AktG, § 84 Rdnr. 60 f.; Meulenbergh, a.a.O., S. 122 ff.; Dietel, a.a.O., S. 52 ff., allem. w. N.; ferner OLG Stuttgart, WM 1979, S. 1296 ff. 11 BGH, WM 1962, S. 811.

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ten, daß die Anteilseigner, wenn die Atmosphäre ohne ihre Schuld vergiftet ist, das weitere Amtieren nur deshalb ertragen müssen, weil das Fortkommen des Vorstandsmitglieds gefährdet ist. Denn das Vorstandsmitglied einer juristischen Person kann genausowenig wie im staatlichpolitischen Bereich ein Minister oder ein politischer Beamter gegen den Willen des Organs fungieren, dem er seine Wahl verdankt. Jede andere Regelung würde im politischen Bereich die demokratische Verantwortlichkeit, im privatrechtliehen Bereich die eigentumsrechtliche Organisation der juristischen Person zerstören. Das Vertrauen in die Integrität und Qualifikation eines Vorstandsmitgliedes kann längst im Vorfeld gesetzlich erlaßbarer und ausformulierbarer Pflichtenverstöße für den Eigentümer-Treugeber entfallen; denn die Vertrauensgrundlage eines treuhänderischen Dauerschuldverhältnisses ist in weit höherem Maße sensibel für die Verletzung ungeschriebener Spielregeln des T1aktes und der Loyalität als das dienstvertragliche Schuldverhältnis. Letzteres reagiert ausschließlich auf die Verletzung gesetzlicher oder vertraglich übernommener Pflichten; es sichert ordnungsgemäße und treue Pflichterfüllung in potentiellen Konfliktsituationen nur durch die grobmaschigen Spielregeln der Interessenkollision12• 3. Ein vom Aufsichtsrat beschlossener Widerruf der Bestellung kann allerdings aus formalen Gründen unwirksam sein, wenn ihm kein wirksamer Entzug des Vertrauens durch die Hauptversammlung vorausgegangen wäre. a) So reicht ein Vertrauensentzug außerhalb einer Haupt- oder Gesellschafterversammlung durch die Mehrheit der Anteilseigner nach der neueren Rechtsprechung als Basis für einen auf § 84 Abs. 3 Satz 2 AktG gestützten Aufsichtsratsbeschluß nicht aus13 • b) In der Literatur ist streitig, ob bereits in der Verweigerung der Entlastung gemäß § 120 AktG konkludent der Entzug des Vertrauens enthalten ist. Die herrschende Lehre sieht- jedenfalls typischerweisein der Verweigerung der gemäß § 120 AktG erforderlichen Entlastung durch die Hauptversammlung einen Entzug des Vertrauens; denn die Entlastung eines Vorstandsmitglieds bedeute Billigung der Geschäfts .. führung und Ausspruch des Vertrauens14 • Der herrschenden Lehre ist Vgl. z. B. § 181 BGB. BGH, WM 1962, S. 811, in - nicht offengelegtem - Gegensatz zu BGH, NJW 1954, S. 505 (506); BGHZ 13, S. 188; 15, S. 71 (75); BGH, WM 1956, S. 1182 (1184). Ob die vom BGH vorgenommene Formalisierung auch bei Aktiengesellschaften mit einem oder wenigen Großaktionären sachgerecht ist, erscheint mir allerdings zweifelhaft. 14 Vgl. dazu RGZ 167, S. 151, 166; BGHZ 29, S. 385, 390; Mähring I Nirk I Tank, Handbuch der Aktiengesellschaft, Rdnr. 340; Baumbach I Hueck, AktG, 13. Aufl., 1968, § 104 Anm. 1 b; Godin I Wilhelmi, AktG, § 120 Anm. 5; Schmidt I t2

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für den Fall der individuellen Entlastungsverweigerung gemäß § 120 Abs. 1 Satz 2 AktG uneingeschränkt zu folgen. Demgegenüber nimmt eine Mindermeinung an, daß in einem die Entlastung verweigernden Beschluß nicht gleichzeitig der Ausspruch eines Mißtrauensvotums gesehen werden könne. Ein Mißtrauensvotwn dürfe immer nur dann als gegeben betrachtet werden, wenn ein dahin formulierter Antrag zur Abstimmung gestellt und mit der erforderlichen Mehrheit angenommen werde 15 • Die namentlich von Zöllner vertretene Mindermeinung ist mit dem Sinn der individuellen Entlastungsverweigerung unvereinbar. Da die Hauptversammlung mit der Verweigerung der Entlastung eines Vorstandsmitgliedes ein negatives Urteil über dessen Geschäftsführung ausspricht, ist eine klarere Form des Vertrauensentzuges kaum vorstellbar. Als Mißbilligung der Geschäftsführung im zurückliegenden Jahr trägt die individuelle Entlastungsverweigerung notwendig den Charakter eines Mißtrauensvotwns. Sie bedeutet Mißbilligung und Entzug des Vertrauens für die Zukunft. Eine schärfere Sanktion steht der Hauptversammlung nicht zur Verfügung, da sie nicht zur Abberufung in der Lage ist. Jede andere Deutung erscheint demgegenüber lebensfremd. Soweit die Hauptversammlung die Entscheidung Meyer I Landruth, in: Großkomm. zum AktG, 2. Aufl., § 104 Anm. 3; Geßler I Hefermehl I Eckardt I Kropff, AktG, § 120 Rdnr. 45; Nielsen I Stokkeby, Die

Organe der Aktiengesellschaft. Ein Beitrag zur Frage der Aktienrechtsreform, Diss. Hamburg, 1954, S. 46; H. Lehmann, Gesellschaftsrecht, 2. Aufl., 1959, S. 240; Schuler, Die Klage auf Entlastung im Aktienrecht, NJW 1960, S. 601, 603; Schulte, Der Vorstand nach neuem Aktienrecht, Diss. Köln, 1938, S. 73; Würdinger, Aktien- und Konzernrecht, 3. Aufl., 1973, 8. 118; Dietel, Der Widerruf der Bestellung zum Vorstandsmitglied bei Vertrauensentzug der Hauptversammlung, Diss. Köln, 1965, S. 92; Obermüller I Werner I Winden, Die Hauptversammlung der Aktiengesellschaft, 3. Aufl., 1967, S. 226 f.; Barz, in: Großkomm. zum AktG, § 120 Anm. 6. Ein Teil der vorgenannten Autoren ist allerdings der Auffassung, daß die Entlastungsverweigerung nicht in jedem Fall notwendig ein Ausdruck des Mißtrauens sein muß. Vielmehr seien Fälle denkbar, in denen die Hauptversammlung die Entlastung nur verweigere, weil ihr bestimmte Geschäftsvorfälle noch nicht übersehbar erschienen. Von allen Autoren wird aber eingeräumt, daß in der Verweigerung der Entlastung typischerweise ein Vertrauensentzug durch die Hauptversammlung liege (so namentlich Baumbach I Hueck, a.a.O.; Godin I Wilhelmi, a.a.O.; Obermüller I Werner I Winden, a.a.O.). 15 So Zöllner, in: Köln er Kommentar zum AktG, § 120 Rdnr. 41 f. Soweit Zöllner sich für seine Auffassung auf Meulenbergh, Die rechtlichen Möglichkeiten der Einflußnahme auf den Vorstand der Aktiengesellschaft unter besonderer Berücksichtigung des mitgliedschaftliehen Beteiligungsrechts, Diss. Münster, 1970, S. 119 f., bezieht, ist das Zitat unrichtig. Meulenbergh steht vielmehr auf dem Standpunkt, daß die Nichtentlastung durch die Hauptversammlung der in der Praxis am häufigsten vorkommende Fall eines Mißtrauensvotums sei und bezieht sich für seine Position auf Godin I Wilhelmi. Nach Zöllner müßte in der Hauptversammlung ein Antrag auf Ausspruch des Mißtrauens gestellt werden, was nach seiner Ansicht aber ohne Ankündigung zur Tagesordnung im Zusammenhang mit der Verhandlung über die Entlastung zulässig sein soll (vgl. § 120 Rdnr. 42 und § 124 Rdnr. 15).

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über die Entlastung dagegen nur aufschiebt, weil ihr vor einem entsprechenden Beschluß weitere Tatsachen aufklärungsbedürftig erscheinen, so kann in einem solchen Falle der Aufsichtsrat natürlich noch nicht von einem Mißtrauensvotum ausgehen, und er wird seinerseits die Entscheidung über den Widerruf der Bestellung zurückstellen müssen, sofern er nicht konkrete Anhaltspunkte für Pflichtverletzungen hat, die wegen Erfüllung der ersten Ab berufungsalternative des § 84 Abs. 3 Satz 2 AktG den Widerruf der Bestellung rechtfertigen. Bei endgültiger negativer Beurteilung der Geschäftsführung dagegen wird er von einer Zerstörung der Vertrauensgrundlage der Anteilseigentümer zur treuhänderisch eingesetzten Geschäftsführung auszugehen haben und dadurch in den "Zugzwang" geraten, das betreffende Organmitglied abzuberufen, selbst wenn er, wie die "Kann"-Formulierung in§ 84 Abs. 3 AktG andeutet, rechtlich frei ist, ob er dem Votum der Anteilseignerversammlung folgen will oder nicht16 • Zutreffend sch.reibt Barz1 7: "Eine Verwaltung, der die Entlastung verweigert ist, verliert nicht nur intern den Arbeitnehmern der Gesellschaft gegenüber, sondern auch im Außenverhältnis gegenüber Lieferanten und Kunden erheblich an Ansehen und Durchsetzungsvermögen ... Auch aus Gründen des gesellschaftlichen Prestiges ist der Entlastungsbeschluß für Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder von erheblicher tatsächlicher Bedeutung ... Damit erweist sich dann die Möglichkeit einer Entlastungsverweigerung doch als höchst wirksames, wenn auch indirektes Mittel der Hauptversammlung, auf die Geschäftsführung der Gesellschaft Einfluß zu nehmen." 11. Ansprüche des Vorstandsmitgliedes im Falle der rechtlichen Unwirksamkeit des Anstellungsvertrages 1. Gehaltsansprüche

Die Abberufung läßt grundsätzlich, soweit keine auflösende Bedingung vereinbart ist, den Dienstvertrag unberührt (§ 84 Abs. 3 Satz 5 AktG). Der Anstellungsvertrag eines Vorstandsmitgliedes mit seiner juristischen Korporation ist rechtlich als selbständiger Dienstvertrag im Sinne der §§ 611 ff. BGB zu werten. Die Entscheidung über Abschluß und Kündigung des Anstellungsvertrages ist ausschließlich Sache des Aufsichtsrates (§§ 84 Abs. 1 Satz 5, 112 AktG) 18 • Der Aufsichtsrat kann 16 Zur Streitfrage, ob der Aufsichtsrat im Falle des Vertrauensentzuges gezwungen ist, den Vorstand abzuberufen, oder ob ihm Ermessensspielräume zur Seite stehen, vgl. namentlich Meulenbergh, a.a.O., S. 121 ff.; Dietel, a.a.O., S. 98 ff. mit umfassenden Nachweisen. 17 In: Großkommentar zum AktG, § 120 Anm. 7. 18 Vgl. BGHZ 12, 327, 333; 41, 282, 285; BGH, WM 1957, S. 846; 1960, S. 544; ferner BGH, LM Nr. 11 zu§ 75 AktG; näher dazu Säcker, BB 1979, S. 1321 ff.

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nach eigenem Ermessen selber über das Schicksal des Anstellungsvertrages beschließen oder gemäß § 107 Abs. 3 Satz 1 AktG einem aus seiner Mitte gebildeten Ausschuß die Entscheidung überantworten 19 • Der Aufsichtsratsvorsitzende allein kann den Vertragsinhalt nicht aushandeln, sofern nicht eine entsprechende detaillierte Einzelvollmacht durch Beschluß des Aufsichtsrates erteilt worden ist20 • In vielen Fällen wird allerdings erst beim Widerruf der Bestellung entdeckt, daß der Anstellungsvertrag mangels gültiger Vertretung unwirksam abgeschlossen worden ist und insoweit gar keiner Kündigung bedarf. Der Bundesgerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 6. 4. 196421 in Zusammenfassung seiner bisherigen Rechtsprechung zu diesen Fallgruppen festgehalten: "Fehlt es an einer Vertretungsermächtigung, so wird die Aktiengesellschaft vom Aufsichtsrat in seiner Gesamtheit vertreten. Durch die vom Aufsichtsratsvorsitzenden allein abgeschlossenen Verträge zum Anstellungsverhältnis des Beklagten wurde daher sowohl die ausschließliche Entscheidungsbefugnis als auch die bei Abschluß und Änderung des Einstellungsvertrages gegebene ausschließliche Vertretungsbefugnis des Aufsichtsrates verletzt. In die Zuständigkeit des Aufsichtsrats fallende Vereinbarungen können vom Aufsichtsrat nicht stillschweigend oder durch schlüssiges Verhalten genehmigt werden. Nur der in einem Beschluß zum Ausdruck gekommene einheitliche Wille der abstimmenden Aufsichtsratsmitglieder stellt den Willen des Aufsichtsrats dar; was nicht in einem Beschluß seinen Niederschlag gefunden hat, kann nicht als eine Stellungnahme des Aufsichtsrats angesehen werden." Aufsichtsratsbeschlüsse können auch nicht stillschweigend gefaßt werden; denn bei stillschweigender Beschlußfassung wäre es unmöglich, die für eine Abstimmung unerläßlichen Feststellungen darüber zu treffen, inwieweit Beschlußfähigkeit, Zustimmung und Ablehnung gegeben und Stimmenthaltungen vorgenommen sind. Daher kann nach ständiger Rechtsprechung auch die Kenntnis des Aufsichtrates davon, daß jemand als Vorstandsmitglied tätig geworden und beschäftigt worden ist, sowie die nachträgliche Inkenntnissetzung des Aufsichtsrates über die vom Aufsichtsratsvorsitzenden vereinbarten Vertragsbedingungen nicht als Billigung dieser Bedingungen bzw. des alleinigen Handeins des Aufsichtsratsvorsitzenden gewertet werden22 • 19 Vgl. dazu Säcker, Aufsichtsratsausschüsse nach dem MitbestG 1976, 1979, S. 28 ff. m. w. N. 20 Vgl. dazu Mertens, in: Kölner Kommentar zum AktG, § 107 Rdnr. 35, 42; Geßler, in: Geßler I Hefermehll Eckardtl Kropff, AktG, § 107 Rdnr. 29, 37; BGH LMNr.ll zu§ 75 AktG 1937. 21 BGHZ 41, S. 282 (285 f.). 22 Vgl. BGHZ 10, S. 187, 194; BGH, AG 1959, S. 286; BGH, WM 1960, S. 803, 305; 1961, S. 569, 571; BGHZ 41, S. 282, 286; näher dazu Säcker, Arbeitsrecht-

Blattei, Betriebsvereinbarung I 3 unter IV für das Parallelproblem der "stillschweigenden" Betriebsratsbeschlüsse.

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Nach der in der Literatur allerdings nicht unumstrittenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs23 sind die für das fehlerhafte Arbeitsverhältnis entwickelten Grundsätze auch auf den fehlerhaften Anstellungsvertrag eines Vorstandsmitgliedes anzuwenden. Das gilt auch dann, wenn der Aufsichtsrat, was in der Praxis gelegentlich vorkommt, nur über einen Teil des Vertrages, etwa über die Gehaltshöhe entschieden hat. Da außer dem Gehalt zumindest auch die Pensionsregelung typischerweise einen wesentlichen Bestandteil des Vertrages bildet, muß davon ausgegangen werden, daß mit der Regelung der Gehaltshöhe allein keine Einigung über den Vertrag insgesamt erzielt worden ist. In diesem Fall ist § 139 BGB mit der Folge anzuwenden, daß der Gesamtvertrag unwirksam ist, da der vom Aufsichtsratsvorsitzenden abgeschlossene Vertrag durch den Aufsichtsrat insoweit nicht beschlossen worden ist24 • Der Bundesgerichtshof hat erstmalig in seiner Entscheidung vom 6. April 196425 entschieden, daß ein solcher vom Aufsichtsratsvorsitzenden ohne Aufsichtsratsbeschluß abgeschlossener und damit fehlerhafter Anstellungsvertrag eines Vorstandsmitgliedes für die Dauer der Beschäftigung des Betroffenen so zu behandeln ist, als wäre der Vertrag wirksam. Der Bundesgerichtshof hat dies mit folgenden Erwägungen begründet: "Wer aufgrund fehlerhaften Anstellungsvertrages als Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft tätig wird, muß verpflichtet sein, bei seiner Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden und bei Verletzung seiner Obliegenheiten den hierdurch entstehenden Schaden zu ersetzen . . . Das liegt nicht zuletzt im Interesse der Gesellschaft. Man kann einer Aktiengesellschaft, die jemanden ohne wirksamen Anstellungsvertrag als Vorstandsmitglied beschäftigt hat, unmöglich verwehren, auf Erfüllung der dem Anstellungsverhältnis eines Vorstandsmitgliedes wesentlichen Pflichten zu bestehen, und dem Betreffenden nicht gestatten, sich bei einer Verletzung dieser Pflichten darauf zu berufen, der Allstellungsvertrag sei unwirksam. Dem berechtigten Interesse beider Teile wird dadurch genügt, daß das fehlerhafte Anstellungsverhältnis ohne Vorliegen eines wichtigen Grundes beiderseits jederzeit gelöst werden kann. Solange jemand als Vorstandsmitglied tätig und beschäftigt wird, muß er auch einen 23 BGHZ 41, S. 282, 286 ff.; dazu namentlich Gerlach, AG 1966, S. 251 ff.; Fischer, Anm. zu BGH, LM Nr. 10 zu § 75 AktG; Hefermehl, in: Geßler I Hefermehl I Eckardt I Kropff, AktG, § 84 Rdnr. 134 ff.; Spieker, DB 1964, S. 1287 ff.; Veith, DB 1965, S. 807 ff. Auf die allgemeine Problematik des fehler-

haften Vertragsverhältnisses kann hier nicht näher eingegangen werden; vgl. dazu Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen bürgerlichen Rechts, 5. Aufl. 1980, § 28 II.

24 Vgl. zur Anwendung von § 139 BGB in Fällen, in denen die Vollmacht nur einen Teil des Rechtsgeschäfts deckt, näher Soergel I Leptien, BGB, Bd. 1, 11. Aufl., § 177 Rdnr. 6 und 16; Thiele, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 177 Rdnr. 38; Staudinger I Dilcher, BGB, Bd. 1, 12. Aufl., § 177 Rdnr. 15; Enneccerus I Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 15. Aufl., Bd. 112, 1960, § 183 Fn. 7. 25 BGHZ 41, S. 282, 286 ff., 290.

48•

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Anspruch auf Entlohnung haben. Das erfordern die erbrachte Dienstleistung und die damit verbundenen und übernommenen Pflichten."

In einer Entscheidung vom 23. Oktober 197526 hat der Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung zum fehlerhaften Anstellungsverhältnis dahin fortgeführt, daß in der Vergangenheit von einem Zweimann-Ausschuß beschlossene und abgeschlossene Anstellungsverträge voll als wirksam zu behandeln sind, wenn das vom Aufsichtsrat bestellte Vorstandsmitglied aufgrunddes Vertrages für die Gesellschaft tätig geworden ist. In den Gründen der Entscheidung heißt es: "Obwohl demnach die Anstellung des Klägers durch hierzu nicht befugte Personen für die Beklagte beschlossen und vereinbart wurde, ist der Anstellungsvertrag für Vergangenheit und Zukunft so zu behandeln, als wäre er zwischen den Parteien wirksam zustandegekommen. Die Frage, ob einem zweiköpfigen Ausschuß des Aufsichtsrates Entscheidungsbefugnisse übertragen werden können, ist im Schrifttum umstritten und höchstrichterlich bislang nicht entschieden worden. Die Praxis sieht weitgehend solche Regelungen als zulässig an und bestellt daher häufig einen nur mit zwei Mann besetzten Personalausschuß, dem auch die Anstellung von Vorstandsmitgliedern obliegen soll. Auf die Gültigkeit der so zustande gekommenen Anstellungsverträge haben sich die Beteiligten eingestellt. Es wäre mit Treu und Glauben und einer gerechten Interessenahwägung unvereinbar, wenn alle in der Vergangenheit liegenden Verträge- nur um solche geht es hier- aufgrund der Rechtsprechung des Senats von nun an als unwirksam abgeschlossen behandelt werden müßten, nachdem sich beide Teile, unter Umständen schon viele Jahre lang, dem Vereinbarten entsprechend verhalten haben. Das muß sich besonders auch die anstellende Gesellschaft entgegenhalten lassen. Könnte jede Partei die Unwirksamkeit des Anstellungsvertrages mit allen sich hieraus ergebenden Folgerungen geltend machen, so würde dies in aller Regel das Vorstandsmitglied ungleich schwerer als die Ges~Uschaft treffen, ohne daß hierfür die Grundsätze über fehlerhafte Anstellungsverhältnisse (BGHZ 41, S. 282) stets einen vollen Ausgleich bieten könnten. Denn die Gesellschaft liefe allenfalls Gefahr, auf die Dienste des anderen, auf die sie vielleicht weiterhin Wert legt, schon vor Ablauf der vorgesehenen, nach § 84 Abs. 1 AktG auf höchstens 5 Jahre zu bemessenden Vertragszeit verzichten zu müssen. Dagegen hat sich das Vorstandsmitglied gewöhnlich mit seiner ganzen beruflichen Existenz auf den Bestand des Vertrages eingerichtet und dafür oftmals andere Möglichkeiten der Sorge für seine wirtschaftliche Zukunft unwiederbringlich verloren. Unter diesen Umständen muß sich gerade auch die Gesellschaft jedenfalls dann am Vertrag festhalten lassen, wenn das Vorstandsmitglied, wie es sich hier schon aus der wirksam vom Gesamtaufsichtsrat ausgesprochenen Bestellung ergibt, mit Wissen des zuständigen Organs vertragsgemäß tätig geworden ist. Die stillschweigende Billigung durch den Aufsichtsrat kann zwar einen unwirksamen Anstellungsvertrag rechtlich nicht heilen. Sie ist aber ein Umstand, der im Rahmen einer Gesamtwürdigung, ob beiden Teilen zugemutet werden muß, einen fehlerhaft abgeschlossenen Anstellungsvertrag voll als verbindlich anzuerkennen, mit zu berücksichtigen ist. Es bedarf daher zur Bindung beider Parteien an das im Anstellungsvertrag Vereinbarte nicht der Grundsätze über 26

BGHZ 65, S. 190 ff., 195.

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fehlerhafte Anstellungsverhältnisse. Infolgedessen kommt es weder auf die Bedenken gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, ein solches Rechtsverhältnis habe schon durch die Erklärung eines Zweimann-Ausschusses ohne Entscheidungsbefugnisse beendet werden können, noch auf die in BGHZ 41, S. 282 nicht entschiedene Frage an, ob aus ihm Ansprüche auch für die Zukunft hätten erwachsen können." Vom Aufsichtsratsvorsitzenden allein abgeschlossene Verträge haben daher keine Rechtswirkung für die Zukunft. Der Bundesgerichtshof hat in seiner Entscheidung ausdrücklich darauf hingewiesen, daß nur in der Vergangenheit von einem Zweimann-Ausschuß abgeschlossene Anstellungsverträge gemäß Treu und Glauben als gültig zu behandeln sind. Ein zukünftiger Vertrauensschutz für Vorstandsmitglieder, die sich über ihre rechtliche Situation ohne weiteres voll beraten lassen können, ist nicht mehr anzuerkennen, von Grenzfällen etwa einer arglistigen Täuschung über die bestehende Rechtslage durch das Unternehmen abgesehen. In solchen Fällen würde bereits § 826 BGB einen Schadensersatzanspruch vermitteln. In der Rechtsprechung war von jeher unstreitig, daß der Aufsichtsratsvorsitzende nicht ohne Beschluß des Aufsichtsrates gemäß § 112 AktG einen Anstellungsvertrag abschließen kann. Er ist nur Vertreter in der Erklärung, nicht Vertreter im Willen. Es besteht daher keine Möglichkeit, die Erwägungen der Entscheidung BGHZ 65, S. 194 ff., auf den Abschluß eines Anstellungsvertrages allein durch den Aufsichtsratsvorsitzenden zu übertragen. Es verbleibt vielmehr bei der Anwendung der durch BGHZ 41, S. 282 ff., formulierten Grundsätze. D. h., eine Fortführung des Dienstverhältnisses kommt über den Zeitpunkt der Abberufung hinaus nicht in Betracht, da im Widerruf der Bestellung durch den Aufsichtsrat ein Verzicht auf jedes weitere Tätigwerden des Vorstandsmitgliedes für das Unternehmen liegt. Denn ein sogenanntes faktisches Vertragsverhältnis kann jederzeit, ohne daß es einer Kündigung bedarf, von beiden Seiten beendet werden27 • 2. Ruhegehaltsansprüche

a) Problematisch ist allein, ob dem Vorstandsmitglied nach seinem Ausscheiden Ruhegehaltsbezüge zustehen, sofern- wie üblich - im fehlerhaften Vertrag solche Ansprüche vorgesehen waren. Die grundsätzliche Zuerkennung von Ruhestandsbezügen auch auf der Grundlage eines fehlerhaften, faktischen Anstellungsvertrages könnte mit der Erwägung begründet werden, daß dem Vorstandsmitglied als Gegenlei27 Vgl. BGHZ 41, S. 282, 288; 47, S. 341, 343; Hefermehl, in: GeBier I Hefermehl I Eckardt I Kropff, AktG, § 84 Anm. 135. Die Grundsätze über die Anscheinsvollmacht können angesichts des besonders engen Vertrauensverhältnisses zwischen Vorstand und Aufsichtsrat und der umfassenden wechselseitigen Informationsmöglichkeiten nicht angewandt werden; zutreffend BGHZ 20, S. 239 ff. = LM Nr. 10 zu§ 75 AktG mit zust. Anm. von Fischer.

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stung für seine Tätigkeit, solange diese gewährt hat, die vereinbarte Vergütung zu zahlen ist. Die Verfügung umfaßt- so ist es in der Literatur formuliert worden - "bei strenger und folgerichtiger Anwendung dieser Grundsätze" 28 auch die Altersversorgung, soweit sie nach dem Inhalt des faktischen Vertrages bereits erdient ist; denn die nach dem Ausscheiden zu gewährenden Leistungen gründen sich auf die frühere Tätigkeit29. Dies könnte allerdings dann, wie der Bundesgerichtshof3° gesehen hat, dazu führen, daß ein Vorstandsmitglied schon nach kurzer Tätigkeitsdauer Anspruch auf Versorgungsbezüge hat, die ihm der Aufsichtsratsvorsitzende "nur in der Annahme einer längeren, dauerhaften Rechtsbeziehung zugestanden hat" 31 • Der Bundesgerichtshof hat sich daher zutreffend nur für den Fall, daß die Versorgungsbezüge in Form einer Lebensversicherung vom Unter,. nehmen bereits vorausbezahlt worden sind, über dieses Bedenken mit der Erwägung hinweggesetzt, daß "das Vertrauen des eingestellten Vorstandsmitglieds in die Beständigkeit der erhaltenen Zahlungen und empfangenen sonstigen Bezüge Schutz verdient und dieser Gesichtspunkt dem Äquivalenzgedanken vorzuziehen ist" 32 • b) Eine Ruhegehaltszusage ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs allerdings - unabhängig von ihrer formalen Gültigkeit materiellrechtlich dann als unwirksam anzusehen, wenn durch sie die von § 84 AktG vorausgesetzte, namentlich in § 84 Abs. 1 Satz 3 und 4 AktG zum Ausdruck gelangende innere Entschließungsfreiheit des Aufsichtsrates bei der Bestellung und Anstellung von Vorstandsmitgliedern beeinträchtigt wird33 • So hat der Bundesgerichtshof in einem Urteil vom Gerlach, AG 1965, S. 251, 257. So Gerlach, a.a.O.; wohl auch Fischer, Anm. zu BGH LM Nr. 16 (BI. 2 R) zu § 75 AktG 1937, und Hefermehl, in: GeBier I Hefermehl/ Eckardt I Kropff, AktG, § 84 Rdnr. 135. 3o BGHZ 41, S. 291. st BGHZ 41, S. 291. Vgl. ferner zur Problematik der Auslegung von Ruhegehaltszusagen BGH, DB 1979, S. 2475 f. und BGH, WM 1980, S. 247 f. 32 Vgl. BGHZ 41, S. 288 (291); 47, S. 341 (343); Kuhn, WM 1966, S. 53 f.; Fleck, WM 1968, Sonderbeilage 3, S. 21. Der BGH (BGHZ 41, S. 291) beschränkt den Vertrauensschutz strikt auf den Fall, daß "Versorgungsrechte bereits während der Beschäftigungszeit gewährt und Versorgungsbezüge schon bezahlt worden sind". In BGHZ 65, S. 190, 195, bezeichnet der BGH die Frage, ob aus einem fehlerhaften Anstellungsverhältnis "Ansprüche auch für die Zukunft hätten erwachsen können", allerdings durch BGHZ 41, S. 282, als noch nicht entschieden. 33 Vgl. dazu BGHZ 3, S. 82, 00 = LM Nr. 1 zu § 75 AktG 1937 mit zust. Anm. von Fischer; BGHZ 8, S. 348, 360 = LM Nr. 2 zu § 75 AktG mit zust. Anm. von Fischer; BGHZ 10, S. 187, 195 = LM Nr. 4 zu§ 75 AktG 1937 mit zust. Anm. von Fischer; BGH LM Nr. 11 zu§ 75 AktG; BGHZ 41, S. 282, 290. Zur Sicherung gerade dieser inneren Entschließungsfreiheit der Aufsichtsratsmitglieder und damit zum Schutz der Funktionsfähigkeit der Institution des Aufsichtsrates sind die Aufsichtsratsmitglieder rechtlich unabhängig gestellt und 1!6 29

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28. 1. 195334 einen Verstoß gegen die Entschließungsfreiheit des Aufsichtsrates für den Fall bejaht, daß im Anstellungsvertrag die lebenslängliche Weiterzahlung des vollen aktiven Gehalts auch für die Fälle fristloser Kündigung vereinbart ist. In der Entscheidung vom 27. 5. 195735 ist es als (noch) unbedenklich angesehen worden, daß der Aufsichtsrat einem jungen Vorstandsmitglied im Hinblick auf eine vorausgegangene vieljährige3 6 Angestelltentätigkeit für das Unternehmen "eine gewisse Versorgung" schon bei vorzeitiger Invalidität bzw. bei Nichterneuerung des Angestelltenverhältnisses zugesagt hat. Eine unzulässige Beeinträchtigung der Entschließungsfreiheit des Aufsichtsrates liege erst dann vor, wenn eine unter solchen Umständen abgegebene Pensionszusage sich nicht im Rahmen dessen halte, "was für die in Betracht kommende Aktiengesellschaft nach ihrem Vermögen und ihrer Ertragskraft tragbar ist". Gemessen an dieser Rechtsprechung ist problematisch, wenn ein Aufsichtsratsvorsitzender eine Pensionszusage etwa in Höhe von 60-75 °/o des Gehalts mit sog. Spannenklausel37 einem jungen, externen Kandidaten gibt, ohne eine mehrjährige Erprobungszeit bzw. Wartezeit zur Voraussetzung des Pensionsanspruches zu machen. Eine solche ohne jede Wartezeit sofort einsetzende hohe Ruhegehaltszusage kommt in der Vertragspraxis großer Industrieunternehmen zwar vor, ist aber eher unüblich; sie überschreitet auch im Hinblick auf die innere Entschließungsfreiheit des Aufsichtsrates m. E. bereits die Grenzen des rechtlich allenfalls noch Vertretbaren. Denn ein Aufsichtsrat, der sich bereits nach kurzer Zeit mit der Notwendigkeit konfrontiert sieht, ein extern gewonnenes, junges Vorstandsmitglied wegen unüberbrückbarer Meinungsverschiedenheiten zwischen diesem und der Hauptversammlung abzuberufen, kann sich im Hinblick auf die wirtschaftlichen Konsequenz·en einer solchen Abberufung für das Unternehmen (lebenslange Zahlung eines hohen Ruhegehaltes) unter Umständen genötigt fühlen, auf den an sich erforderlichen Widerruf der Bestellung zu verzichten bzw. ihn zunächst hinauszuschieben und dadurch unter Umständen dem Unternehmen noch größeren Schaden zuzufügen als durch die Pensionszahlung. Dies ist, wie der Bundesgerichtshof25 hervorgehoben hat, besonders dann gravierend, wenn "die Gesellschaft bei Abschluß und Ausgestaltung des Anstellungsvertrages nicht ordnungsgemäß vertreten war und das fehlerhafte Anstellungsverhältnis gleichwohl so behandelt werkeinen Weisungen unterworfen; s. dazu näher Säcker, Informationsrechte der Betriebs- und Aufsichtsratsmitglieder, 1979, S. 43 ff. 34 BGHZ 8, S. 348 (360). 35 BGH LM Nr. 11 zu § 75 AktG. 36 Im konkreten Fall: 12jährige Angestelltentätigkeit. 37 Vgl. dazu instruktiv BGH, DB 1974, S. 229 ff.

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den soll, als bestünde ein fehlerfreies Vertragsverhältnis. Aber die Gesellschaft kann, wenn sie glaubt, bei Anwendung der zugesagten Vergütung einen Schaden erlitten zu haben, den Aufsichtsratsvorsitzenden wegen Überschreitung seiner Befugnisse in Regreß nehmen ... Die Möglichkeit dieser Inanspruchnahme mindert sogleich die Gefahr, daß ein Aufsichtsratsvorsitzender bei Abschluß und Ausgestaltung des Anstellungsvertrages eines Vorstandsmitgliedes den Aufsichtsrat beiseite schiebt". Selbst im Falle der Genehmigung des eigenmächtigen Handeins des Aufsichtsratsvorsitzenden durch den Aufsichtsrat verbleibt es somit bei diesen unter b) erörterten Fällen bei der Unwirksamkeit des Vertrages, da der Aufsichtsrat über die gesetzlichen Voraussetzungen seiner Funktionsfähigkeit nicht frei disponieren und damit auch nicht auf sie verzichten kann. 111. Zur Haftung des Aufsichtsratsvorsitzenden 1. Hat der Aufsichtsratsvorsitzende den Anstellungsvertrag als Vertreter ohne Vertretungsmacht abgeschlossen, so ist, wie in der aktienrechtlichen Literatur unstreitig ist, grundsätzlich § 179 BGB anzuwenden38. Die Vorschrift des§ 179 BGB enthäU zwei verschiedene Haftungstatbestände: Absatz 1 regelt die Haftung des Vertreters ohne Vertretungsmacht, der in Kenntnis des Fehlens seiner Vertretungsmacht handelt. Dieser haftet dem Vertragspartner wahlweise auf Erfüllung oder auf Schadensersatz in Geld. Der Vertreter, der den Mangel seiner Vertretungsmacht dagegen nicht gekannt hat, ist nur zum Ersatz desjenigen Schadens verpflichtet, den der andere Teil dadurch erleidet, daß er auf die Vertretungsmacht vertraut hat. Es kommt nicht darauf an, ob diese Unkenntnis verschuldet ist oder nicht3 9 • Die Haftung auf das negative Interesse (Vertrauensinteresse) gemäߧ 179 Abs. 2 BGB bedeutet, daß der andere Teil vermögensrechtlich in die Lage versetzt werden muß, in der er sich befunden hätte, wenn er den Vertrag nicht geschlossen hätte 40 •

Im vorstehend unter li. erörterten Falle kommt eine Haftung wohl nur nach§ 179 Abs. 2 BGB in Betracht; denn der Aufsichtsratsvorsitzende geht typischerweise nach der noch bei vielen Aktiengesellschaften be38 Vgl. etwa Mertens, in: Kölner Kommentar, § 107 Rdnr. 37; Hein, Die AG 1967, S. 4f.; Spieker, Handbuch für Aufsichtsräte, Bd. 1, 1958, S. 132 f. 39 Vgl. dazu RG, JW 1933, S. 2641; Staudinger I Dilcher, § 179 Rdnr. 17. 40 Vgl. dazu Erman I Westermann, Handkommentar zum BGB, 6. Aufl., § 179 Rdnr. 9; Staudinger I Dilcher, § 179 Rdnr. 17; Thiele, Münchener Kommentar zum BGB, § 179 Rdnr. 40; Soergell Leptien, § 179 Rdnr. 18; Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. 2, 3. Aufl., 1979, S. 807 f.; Larenz, Allgemeiner Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, 4. Aufl., 1977, s. 549.

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stehenden Tradition entsprechend der früheren Rechtslage 41 davon aus, daß der Aufsichtsratsvorsitzende befugt sei, den Anstellungsvertrag nach Fixierung der Gehaltshöhe durch den Aufsichtsrat bzw. durch den zuständigen Personalausschuß allein abzuschließen. Er handelt daher gutgläubig. Das Vorstandsmitglied kann daher keinesfalls verlangen, vom Aufsichtsratsvorsitzenden so gestellt zu werden, wie wenn der Vertrag gültig wäre, sondern allenfalls, so gestellt zu werden, wie wenn der Vertrag überhaupt nicht abgeschlossen worden wäre. Unter diesem Gesichtspunkt ist zu prüfen, wie sich die berufliche Entwicklung des Vorstandsmitgliedes ohne Berufung in den Vorstand mutmaßlich dargestellt hätte. Keinesfalls kann ein junges Ex-Vorstandsmitglied die Hände in den Schoß legen und sich von seinem früheren Arbeitgeber "alimentieren" lassen42 • Bei der hypothetischen Schadensentwicklung muß demgemäß berücksichtigt werden, welches Einkommen es ohne die Berufung in den Vorstand erzielt hätte bzw. hätte erzielen können. 2. Eine Haftung aus § 179 BGB kommt nach herrschender Lehre und Rechtsprechung allerdings dann nicht in Betracht, wenn der ohne Vertretungsmacht Handelnde dem Dritten die Tatsachen unterbreitet hat, aus denen sich seine (angebliche) Vertretungsmacht ableitet. Dann hat der Dritte die Folgen der Fehlbeurteilung der Rechtslage selbst zu tragen, nicht der falsus procurator. Zutreffend heißt es repräsentativ für die herrschende Lehre bei Soergel I Leptien (§ 179 Rdnr. 2): "Es muß jedoch wegen der scharfen Gewährleistungspflicht des Vertreters eine durch ihn hervorgerufene echte Vertrauenslage bestehen .... Eine etwa vorhandene Vertrauenslage ist jedoch nicht durch ihn hervorgerufen, wenn er zur Begründung seines Auftretens für den Vertretenen lediglich auf das Bestehen bestimmter Tatsachen hinweist, aus denen auf das Vorhandensein seiner Vertretungsmacht geschlossen werden kann, dies letztere aber nicht in dem Auftreten und den Bekundungen des Vertreters als seine Behauptung mitumschlossen liegt, sondern erkennbar dem selbstverantwortlichen Schluß des Geschäftspartners überlassen bleibt 43." Vgl. z. B. KG, JFG Bd. 1, S. 224 ff. Vgl. § 615 Satz 2 BGB. 43 Vgl. dazu grundlegend Hupka, Die Haftung des Vertreters ohne Vertretungsmacht, 1903, S. 186 ff.; v. Tuhr, Allgemeiner Teil des BGB, Bd. 1II2, 1918, § 87 li; Palandt I Heinrichs, BGB, 39. Aufl., 1980, § 179 Rdnr. 1; Soergell Schultze v. Lasaulx, BGB, 10. Aufl., § 179 Rdnr. 2; Steffen, in: BGB-RGRK, 11. Aufl., § 179 Rdnr. 7; Enneccerus I Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 15. Aufl., Bd. I/2, § 183 (S. 1124) Fn. 22; Lehmann I Hübner, Allgemeiner Teil des BGB, 16. Aufl., 1966, § 36 VI 2 b; K. Müller, AcP 168 (1968), S. 113, 140 ff.; Ungewitter, Gruchot 48, S. 665 ff.; Oertmann, BGB, 3. Aufl., § 179 Anm. li 1; Planck, BGB, 5. Aufl., § 179 Anm. 1 a; ohne Stellungnahme zum Problem Flume, a.a.O., S. 801 ff.; Larenz, a.a.O., S. 548 ff.; Staudinger I Dilcher, a.a.O., § 179 Rdnr. 1 ff. 41 42

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Der Bundesgerichtshof hat sich in seiner Entscheidung vom 29. 1. 196344 den Standpunkt der herrschenden Lehre zu eigen gemacht und festgestellt, daß die Haftung aus § 179 BGB wegfalle, wenn der Vertreter keine Vertretungsmacht behauptet, sondern dem Dritten die Tatsachen unterbreitet, aus denen er seine Vertretungsmacht herleitet, jedenfalls dann, wenn die Vertretungsmacht ihre Grundlage in einem allgemeinen Gesetz habe. Denn die für die Prüfung der Vollmacht in diesem Falle erheblichen Umstände gehörten nicht dem für den Dritten unerkennbaren Innenbereich der Beziehungen zwischen Vertreter und Vertretenem an, sondern seien dem Vertreter nicht mehr bekannt als dem Dritten. Der Aufsichtsratsvorsitzende stellt gegenüber den Bewerbern um ein Vorstandsamt nicht die Behauptung auf, daß er einen vom Aufsichtsrat abgeschlossenen Vertrag überbringe bzw. daß er auf der Grundlage einer ihm vom Aufsichtsrat erteilten Vollmacht handle, sondern er geriert sich so, als könne er aufgrund seiner Rechtsstellung als Aufsichtsratsvorsitzender den Vertrag allein unterzeichnen - in der objektiv fehlsamen Annahme, dazu allein legitimiert zu sein. Nach zutreffender herrschender Lehre geht es indes nicht an, den Vertreter mit dem Risiko der richtigen Interpretation von Rechtsvorschriften zu belasten, da die richtige Auslegung von Rechtsvorschriften nicht dem für den Dritten unerkennbaren Innenbereich der Beziehung zwischen Vertreter und Vertretenem angehört. Das Risiko sachgerechter Interpretation hat vielmehr das Vorstandsmitglied in gleicher Weise zu tragen wie der Aufsichtsratsvorsitzende. Hier den materiell am Vertrag nicht interessierten Vertreter mit dem Haftungsrisiko zu belasten, wäre im Sinne der herrschenden Lehre und Rechtsprechung "ein der Billigkeit widerstreitendes Ergebnis"45 • 3. Abschließend sei darauf hingewiesen, daß eine Haftung aus § 179 BGB nur eingreüt, wenn der abgeschlossene Vertrag wirksam gewesen wäre, wenn er vom Aufsichtsrat in seiner Gesamtheit abgeschlossen bzw. genehmigt worden wäre. Die Vorschrift des § 179 BGB greift daher nicht ein, wenn der Vertrag aus einem anderen Grunde als dem des Mangels der Vertretungsmacht unwirksam ist; denn der Dritte soll im Falle einer Haftung aus § 179 BGB nicht besser abschneiden als bei einem Abschluß mit Vertretungsmacht46. BGH, NJW 1963, S. 759 ff. BGH, NJW 1963, S. 760. 48 Vgl. dazu RGZ 145, S. 40, 43; 106, S. 68, 71; Soergel/ Leptien, § 179 Rdnr. 6; Thiele, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 179 Rdnr. 21; Steffen, in: BGB-RGRK, § 179 Rdnr. 4; Flume, a.a.O., § 47 3 a, S. 804; Larenz, a.a.O., § 32 II, S. 550. 44 45

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Verstößt z. B. die im Anstellungsvertrag enthaltene Ruhegeldzusage gegen den Grundsatz der Entschließungsfreiheit des Aufsichtsrates bei Bestellung und Abberufung von Vorstandsmitgliedern (§ 84 AktG}, so ist der Anstellungsvertrag insoweit nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nichtig. Da ohne die Ruhegeldzusage der Gesamtvertrag nicht abgeschlossen worden wäre, führt dies zur Gesamtunwirksamkeit des Vertrages nach§ 134 BGB.

DER BEHINDERTE UND DAS VERFASSUNGSRECHT

Ein Beitrag zum Verständnis österreichischer Sozialstaatlichkeit Von Herbert Schamheck Den Anspruch auf freie Entfaltung der Persönlichkeit haben in einem demokratischen Rechtsstaat schon dem Gleichheitsgrundsatz nach alle 1 • Das Leben des Menschen bringt aber neben dem Regelmäßigen auch, um mit Karl Jaspers zu sprechen, Grenzsituationen2 , die es zu bewältigen gilt; dazu zählt das Behindertsein. Behinderung ist eine Form des Lebens3 • Wir wissen, daß jeder zehnte Österreicher körperlich oder geistig behindert und jeder siebente Österreicher chronisch krank ist. Diese Behinderung kann eine angeborene oder gewordene sein. Gerade der Hinweis auf diese letztgenannte, nämlich gewordene Behinderung, soll deutlich machen, daß jeder, der im Augenblick noch nicht behindert ist, es im nächsten Augenblick werden kann. Die Anliegen der Behinderung gehen somit alle an! Da in einem demokratischen Verfassungs- und Rechtsstaat alle Ansprüche an den Staat auf Grund der Gesetze 4 und diese Gesetze auf Grund der Verfassung ergehen5, ist die Verfassung die normative Grundlage allen Handelns, zu dem der Staat berechtigt und verpflichtet ist. 1 Siehe etwa Gerhard Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, München und Berlin 1959 und Peter Dusik, Grenzprobleme der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG). Zugleich ein Beitrag zur Sozialverpflichtung der Menschenwürde, Würzburg 1976. 2 Karl Jaspers, Einführung in die Philosophie, 2. Aufl., Zürich 1950, S. 20 f. 3 Dazu Hans Franc, Behinderung ist eine Form des Lebens, in: Apostolat und Familie, Opilio Kardinal Rossi zum 70. Geburtstag, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1980, S. 465 ff. 4 Beachte Hans R. Klecatsky, Der Rechtsstaat zwischen heute und morgen, Wien- Freiburg- Basel1967, bes. S. 13 ff. 5 Über die Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung siehe Adolf Merkl, Das doppelte Rechtsantlitz, eine Betrachtung aus der Erkenntnistheorie des Rechts, Juristische Blätter 1917, S. 425 ff., S. 444 ff. und S. 463 ff.; derselbe, Das Recht im Lichte seiner Anwendung, Deutsche Richterzeitung 1918, S. 56 ff.; derselbe, Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien und Berlin 1927, Neudruck Darmstadt 1969, S. 157 ff. und derselbe, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, in: Gesellschaft, Staat und Recht, Festschrift für Hans Kelsen zum 50. Geburtstag, Wien 1931, S. 252 ff.

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Je mehr der heutige Staat auch Sozialansprüchen Genüge tun soll, desto mehr ist seine Verfassung auch der Sozialverantwortung ausgesetzt. Beziehen wir diese einleitend gemachten Bemerkungen auf die Repuso treffen wir in der Fundamentalnorm des Österreichischen Verfassungsrechtes, nämlich dem BundesVerfassungsgesetz 1920 und allen folgenden Novellen zu diesem Verfassungsgesetz weder einen ausdrücklichen Hinweis auf den sozialen Rechtsstaat7 noch auf den Behinderten in der Gesellschaft an. Anders als etwa das Bonner Grundgesetz 1949, das der Bundesrepublik Deutschland vorschreibt, sozialer Rechtsstaat und sozialer Bundesstaat zu sein8 , fehlt eine derartige Sozialstaatsklausel dem Österreichischen Verfassungsrecht. blik Österreich und ihre Verfassung 6 ,

Das Österreichische Verfassungsrecht war von Anbeginn gegenüber der Angabe von Staatszwecken und Staatszielbestimmungen insoferne wertneutral 9 , als es über die Ausübung des Rechts- und Machtzweckes zur Herstellung und Aufrechterhaltung von Ruhe, Ordnung und Sicherheit hinaus keine Vorschreibungen für die Sozialgestaltung macht. Das Österreichische Verfassungsrecht gibt keine Richtschnur für gesetzgeberische Initiativen, die über die Rechtswege auch den Rechtsinhalt betreffen. Behindertenhilfe ist daher auch kein Verfassungsgebot in der Weise, daß der Österreichische Gesetzgeber zu einem bestimmten Handeln, etwa der Rehabilitation, von Verfassungs wegen verpflichtet wäre10 • 6 Siehe Ludwig Adamovich, Handbuch des Österreichischen Verfassungsrechtes, 6. Auflage, Wien 1971; Robert Walter, österreichisches Bundesverfassungsrecht, Wien 1971 und Robert Walter I Heinz Mayer, Grundriß des Österreichischen Bundesverfassungsrechtes, 3. Aufl., Wien 1980. 7 Siehe Herbert Schambeck, Österreichs Verfassungsrecht und der soziale Rechtsstaat, in: Soziale Sicherheit und politische Verantwortung, Festschrift für Grete Rehor, Gesellschaft und Politik 75/2, Wien 1975, S. 84 ff. 8 Art. 20 I und Art. 28 I GG; siehe weiters im GG Grundrechte mit Beziehung zum Behinderten: Art. 1, 2, 3, 12, 12 a, 20/I, 28/I 1, 74 Zi. 10 und 12 sowie Art. 125. 9 Dazu Herbert Schambeck, Die Staatszwecke der Republik Österreich, in: Die Republik Osterreich - Gestalt und Funktion ihrer Verfassung, hrsg. von Hans R. Klecatsky, Wien 1968, S. 243 ff. 10 Beachte Herbert J. Pindur, Der Behinderte im Österreichischen Recht, Soziale Sicherheit 1972, S. 146 ff.; Norbert Wimmer, Der Behinderte im sozialen Leistungsstaat, verfassungsrechtliche Bemerkungen zur Rehabilitation und Sozialhilfe, Juristische Blätter 1975, S. 190 ff. und Johannes Hengstschläger, Rechtliche Grundlagen der beruflichen Rehabilitation, in: Berufliche Rehabilitation in Österreich, hrsg. von Alfred Bernfeld, Linz 1978, S. 101 ff.; für die Bundesrepublik Deutschland siehe u. a. H. Friedrichs, Recht auf Rehabilitation, Der medizinische Sachverständige, April 1969, Nr. 4 S. 73 ff. und Eugen Glombig, Das Sozialstaatsgebot und die Behinderten, Bundesarbeitsblatt 5/ 1974, s. 281 ff.

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Da Österreich, so wie alle anderen Staaten, Teil der Völkergemeinschaft ist, erhebt sich die Frage, ob die Republik Österreich auf Grund von internationalem Recht zu einem sozialstaatliehen Handeln für die Behinderten verpflichtet ist. Diese Frage ist vor allem in bezug auf die Europäische Sozialcharta 11 zu stellen, die am 18. Oktober 1961 in Turin von 13 Mitgliedstaaten des Europarates unterzeichnet, von Österreich am 22. Juli 1963 unterschrieben wurde. Die Ratifikation der Europäischen Sozialcharta durch Österreich selbst erfolgte erst 1969, in diesem Jahr hinterlegte Österreich am 29. Oktober in Straßburg die Ratifikationsurkunde, welche gemäß Art. 35 (3) der Charta 30 Tage nach Hinterlegung, also am 28. November 1969 in Kraft trat. Im Teil I der Charta anerkennen die Vertragsparteien als Ziel ihrer Politik, das sie mit allen zweckmäßigen Mitteln auf staatlicher und zwischenstaatlicher Ebene verfolgen werden, geeignete Voraussetzungen zu schaffen, daß die Ausübung der in diesem Teil angeführten Rechte und Grundsätze gewährleistet ist. In Ziffer 15 des Kataloges dieser Rechte und Grundsätze wird erklärt: "Jeder Behinderte hat das Recht auf berufliche Ausbildung sowie auf Eingliederung und Wiedereingliederung, ohne Rücksicht auf Ursprung und Art seiner Behinderung." Teil li der Charta enthält die im einzelnen für die Vertragsparteien bindenden Bestimmungen. Diese verpflichten Österreich in Artikel 1 Ziffer 4, "eine geeignete Berufsberatung, berufliche Ausbildung und Wiedereingliederung zu fördern"; in Artikel 9 "einen Dienst einzurichten oder zu fördern, soweit dies notwendig ist, der allen Personen, einschließlich der Behinderten, hilft, die Probleme der Berufswahl oder des beruflichen Aufstiegs zu lösen, und zwar unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Eigenschaften und deren Beziehungen zu den Beschäftigungsmöglichkeiten; diese Hilfe soll sowohl Jugendlichen einschließlich Kindern schulpflichtigen Alters als auch Erwachsenen maßgeblich zur Verfügung stehen";in Artikel 10 Ziffer 1 "soweit dies notwendig ist, die fachliche und berufliche Ausbildung aller Personen, einschließlich der Behinderten, vorzusehen oder zu fördern, wobei die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisation zu Rate gezogen werden, und Möglichkeiten für den Zutritt zur höheren schulischen Ausbildung und zur Universitätsausbildung zu gewähren, wobei nur die persönliche Eignung maßgebend sein soll"; und 11 Siehe Herbert Schambeck, Grundrechte und Sozialordnung, Gedanken zur Europäischen Sozialcharta, Berlin 1969 und BGBl. Nr. 460/1969.

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in Artikel 15 "um die wirksame Ausübung des Rechtes des körperlich oder geistig Behinderten auf berufliche Ausbildung sowie auf berufliche und soziale Wiedereingliederung zu gewährleisten, ... 1. geeignete Maßnahmen für die Bereitstellung von Ausbildungsmöglichkeiten zu treffen, erforderlichenfalls unter Einschluß von öffentlichen oder privaten Sondereinrichtungen;

2. geeignete Maßnahmen für die Vermittlung Behinderter auf Arbeitsplätze zu treffen, insbesondere durch Schaffung von Sondervermittlungsstellen, durch Ermöglichung wettbewerbsgeschützter Beschäftigung und durch Maßnahmen, die den Arbeitgebern einen Anreiz zur Einstellung von Behinderten bieten".

Diese Europäische Sozialcharta ist der Ausdruck eines internationalen Standards an Sozialschutzrechten, die beachtenswert sind. Es war erfreulich, daß Frau Sozialminister Grete Rehor anläßlich der Ratifikation der Charta darauf hinweisen konnte, daß schon lange vor der Europäischen Sozialcharta ein Großteil der in dieser Charta proklamierten sozialen Grundrechte von Österreich ohne Verfassungsauftrag in einfachen Gesetzen erfüllt wurde 12. So findet sich bekanntlich in den erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage zur Europäischen Sozialcharta eine umfassende Darstellung jener 1969 schon in Geltung gestandenen Bundes- und Landesgesetze13. Was die Rehabilitation betrüft, verwiesen die erläuternden Bemerkungen auf eine Mehrzahl bestehender Rehabilitationsgesetze des Bundes und der Länder. Wie Johannes Hengstschläger schon richtig festgestellt hat, ist im Hinblick darauf, daß der Erfüllungsvorbehalt für die innerstaatliche Ausführung der Charta einfache Gesetze und nicht Verfassungsgesetze vorsieht, klargestellt, "daß auf Grund der Sozialcharta eine Ergänzung unseres aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts stammenden Grundrechtskataloges durch verfassungsgesetzlich gewährleistete, soziale Grundrechte weder rechtlich geboten noch beabsichtigt war. . .. Indem in Österreich die Sozialgesetzgebung den im Vertrag geforderten Standard bereits erreicht hatte, sind innerstaatlich auch keine Iegistischen Maßnahmen notwendig gewesen. Jedoch haben einige Bestimmungen dynamischen Charakter, indem sie den Staat verpflichten, laufende oder progressive Verbesserungen in gewissen Bereichen vorzunehmen" 14 • 12 Siehe Stenographisches Protokoll der 149. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, XI. Gesetzgebungsperiode vom 10. 7. 1969, S. 12924 ff. 13 1339 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates, XL GP. 14 Hengstschläger, a.a.O., S. 99 f.

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Diese Europäische Sozialcharta ist zwar für die europäische Grundrechtsentwicklung von besonderer Bedeutung, da sie u. a. von der sozialen Seite her eine Ergänzung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten 1950 darstellt, di:e in Österreich Verfassungsrang besitzt15 , die Europäische Sozialcharta aber selbst hat keinen Verfassungsrang und sie ist als solche auch nicht unmittelbar anwendbar16 • Der Österreichische Gesetzgeber hatte anläßlich der Ratifikation der Europäischen Sozialcharta 1969 beschlossen, daß die Charta im Sinne des Art. 50 (2) B.-VG. durch Erlassung von Gesetzen zu erfüllen ist17 • Auf Grund dieses Erfüllungsvorbehaltes ist die Sozialcharta innerstaatlich für die Organe der Vollziehung nicht unmittelbar vollziehbar. Die Europäische Sozialcharta bietet daher weder den Gerichten noch der Verwaltung eine Entscheidungsgrundlage, gibt aber auch dem Einzelnen im Staat keinen Anspruch. Die Europäische Sozialcharta ist vielmehr eine an den Gesetzgeber des Bundes und der Länder gerichtete Sozialgestaltungsempfehlung18 • Die Erfüllung dieser Sozialgestaltungsempfehlung richtet sich in ihren politischen Möglichkeiten nach dem Wollen der in der Gesetzgebung vertretenen Parlamentsfraktionen, in ihren verfassungsmäßigen Möglichkeiten nach der Kompetenzverteilung des B.-VG.; ausschließlich der Abschluß von Staatsverträgen fällt in den Bereich des Bundes. So dankenswert diese sanktionslose Anregung durch die Europäische Sozialcharta an den Österreichischen Gesetzgeber erscheinen mag, so wenig bietet sie für das Recht der Behinderten, da Österreich, das übrigens bereits seit 1916, also seit der Monarchie, ein Sozialministerium besitzt19 , sich auf einfachgesetzlichem Weg bemüht, sozialer Rechtsstaat zu sein; der Weg dazu war aber für die Behindertenhilfe ausdrücklich nicht vorgeschrieben, sondern ergibt sich aus den Kompetenzbestimmungen des B.- VG., welche zu beachten sind, da aus diesen Staatsorganisationsvorschriften ein einheitlicher Begriff des Behinderten und der Rehabilitation nicht gegeben ist. Pindur hat schon 1972 festgestellt: "Den Behinderten als Gegenstand des Österreichischen Rechts gibt es ... so gut wie nicht. Es gibt BVG, BGBl. Nr. 59/1964. Beachte Walter Meinhart, Europäische Sozialcharta bloß ein Meilenstein österreichischer Sozialpolitik, Die Versicherungsrundschau 1970, S. i78 ff. und Edwin Loebenstein, Rechtsschutz - Soziale Grundrechte, in: Rechtsstaatliche Probleme des Sozialstaates, Rättsfonden 1974, S. 62 ff. 17 Dazu Richard Novak, Das Problem des Bundesverfassungsgesetzes vom 4. März 1964 über Staatsverträge, Juristische Blätter 1969, S. 310 f. 18 Schambeck, a.a.O., S. 135 f. 19 Siehe 50 Jahre Bundesministerium für Soziale Verwaltung, Wien 1968. 1s 18

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verschiedene Kategorien von Behinderten mit unterschiedlichen sozialen Ansprüchen und mit den entsprechenden sozialen Leistungspflichten des Staates, aber eine fixierte rechtliche Position des Behinderten im geltenden Österreichischen Recht gibt es ... nicht20 ." Diese Feststellung ist nur insoferne richtig und findet ihre nähere rechtliche Erklärung in der Mannigfaltigkeit der Rechtsbereiche, die für den Behinderten maßgebend sind: die Krankenversicherung, die Unfallversicherung, die Pensionsversicherung, das Kriegsopferversorgungsrecht, das Heeresversorgungsrecht, die Opferfürsorge, die Arbeitsmarktförderung und das Sozialhilferecht der Länder21 • Dieser Mehrzahl der Rechtsbereiche folgt eine Verschiedenheit der Rehabilitationsträger, wie die Landesinvalidenämter, Sozialversicherungsträger, das Bundesministerium für soziale Verwaltung, Landesregierungen und Arbeitsämter und eine Unterschiedlichkeit in der Zielsetzung, in den Leistungen und im anspruchsberechtigten Personenkreis22 • Der verfassungsrechtliche Grund für diese Mannigfaltigkeit der Behinderten- und Rehabilitationssituation liegt in der Kompetenzlage des Österreichischen Verfassungsrechtes, welches einen einheitlichen Kompetenztatbestand Behinderte und Rehabilitation nicht kennt. Sie sind in den Kompetenztatbeständen der Art. 10 bis 12 B.-VG. nicht erwähnt. Wie Hengstschläger geschrieben hat, handelt es sich "um einen kompetenzmäßig aufgespaltenen Sammelbegriff von Ordnungsbefugnissen des Bundes und der Länder. Mehrere Bundeskompetenztatbestände schließen nämlich die Ermächtigung zu Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation in Gesetzgebung bzw. Vollziehung mit ein. Sie zählt also aus kompetenzrechtlicher Sicht zu den sogenannten ,Querschnittsmaterien' " 23 • Es sei verwiesen auf Zuständigkeiten des Bundes, auf das Sozialversicherungs-und Vertragsversicherungswesen, Art. 10 (1) Zi. 11, Gesundheitswesen, Art. 10 (1) Zi. 12, militärische Angelegenheiten, Kriegsschadenangelegenheiten und Fürsorge für Kriegsteilnehmer und deren Hinterbliebene, Art. 10 (1) Zi. 15, Schul- und Erziehungswesen, Art. 14 (1) B.-VG., die äußere Organisation der öffentlichen Pfiichtschulen, somit auch der Sonderschulen gern. Art. 14 (3) lit. b, das Armenwesen gemäß Art. 12 (2) Zi. 1. Sachverhalte, die sich aber nicht unter diese Kompetenztatbestände des Bundes subsumieren lassen, verbleiben nach der Generalklausel des Art. 15 (1) B.-VG. in der Zuständigkeit der Länder. Von dieser KornPindur, a.a.O., S. 146 f. Beachte die umfassende Zusammenstellung gesetzlicher Regelungen bei Hengstschläger, a.a.O., S. 110 ff. 22 Wimmer, S. 191 f. 23 Hengstschläger, a.a.O., S. 101. 20

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petenz haben die Länder Gebrauch gemacht und dazu Sozialhilfegesetze erlassen24 • In diesen Landesgesetzen werden jenen Personen, die infolge eines Leidens oder Gebrechens in ihren Fähigkeiten, eine ihnen angemessene Erziehung und Schulbildung zu erhalten oder eine zurnutbare Beschäftigung zu erlangen oder zu behalten, dauernd wesentlich beeinträchtigt sind, besondere Hilfeleistungen gewährt. Für Blinde wurden besondere Regelungen getroffen. Da diese Behindertengesetze auch eine medizinische Betreuung vorsehen, entsteht die Frage nach der Beziehung zu dem Kompetenztatbestand "Gesundheitswesen" des Art. 10 (1) Zi. 12 B.-VG. Die Antwort auf diese Frage hat der Österreichische Verfassungsgerichtshof mit seiner ständigen Judikatur gegeben, in welcher er betont, daß es dem Landesgesetzgeber von Verfassungs wegen nicht verwehrt sei, "im Zusammenhang mit der zu regelnden Materie alle öffentlichen Zwecke und daher auch die des Bundes zu berücksichtigen" 25• Dieses sogenannte "Berücksichtigungsprinzip"26 ist paritätisch auf beide Gebietskörperschaften anwendbar, jedoch ist ein sachlich gerechtfertigter, hinreichender Anknüpfungspunkt an die Eigenkompetenz erforderlich. Ein solcher Anknüpfungspunkt ist durch den sachlich gerechtfertigten Zusammenhang von medizinischen Maßnahmen mit der Vorsorge für Behinderte gegeben. Ihre Ergänzung vermag dieses Berücksichtigungsprinzip nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes bei der Beantwortung der Zuständigkeitsfrage von sogenannten Querschnittsmaterien durch die sogenannte "Gesichtspunkttheorie" 27 zu erhalten, nach welcher eine Angelegenheit unter verschiedenen Gesichtspunkten in verschiedene Zuständigkeitsbereiche falle. In dieser Sicht können daher auch medizinische Maßnahmen, die eigentlich dem Kompetenztatbestand "Gesundheitswesen" zuzuzählen sind, soweit sie sich auf die Behindertenhilfe beziehen, von den Ländern geregelt werden. Wo die Schwierigkeiten im Zuständigkeitsbereich zu groß sind, ermöglicht der Art. 17 B.-VG. eine Art Flugloch besonderer Art. Wenn nämlich Bund oder Länder in einem Bereich, für den sie nach der Kompetenzverteilung in Gesetzgebung und Hoheitsverwaltung nicht zustän24 Burgenland: LGBl. Nr. 7/1975; Kärnten: LGBl. Nr. 40/1975 i. d. F. LGBl. Nr. 20/1976; Niederösterreich: LGBl. Nr. 9200-0 (78/74); Oberösterreich: LGBl. Nr. 66/1973; Salzburg: LGBl. Nr. 19/1975; Tirol: LGBl. Nr. 105/1973; Vorarlberg: LGBl. Nr. 26/1971; Wien: LGBl. Nr. 11/1973 i. d. F. LGBl. Nr. 38/1975. 25 VfGH Erk. Slg. Nr. 4486/1963 und Nr. 7183/1973. 2' Siehe hiezu Peter Pernthaler, Raumordnung und Verfassung, Wien 1975, S. 216 ff. und Hengstschläger, a.a.O., S. 109. 27 Pernthaler, a.a.O., S. 221 ff. und Hengstschläger, a.a.O.

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dig sind, als Träger von Privatrechten tätig werden, gilt für sie die Kompetenzverteilung nicht. In manchen Fällen stellt daher, wie Hengstschläger auch bemerkte, auf Grund der unklaren Kompetenzrechtsfrage die Flucht in das Privatrecht den einzigen Ausweg dar, um auf dem Gebiet der beruflichen Rehabilitation überhaupt tätig werden zu können28 • Art. 17 B.-VG. ermöglicht aber nicht allein Bund und Ländern privatwirtschaftlich tätig zu werden, sondern auch Rehabilitationsmaßnahmen zu koordinieren, wo sie privatwirtschaftlicher Natur sind. Art. 17 B.-VG. bietet dem Staat weiters die Gelegenheit, sich als Privatrechtssubjekt auch mit privaten Unternehmen und Organisationen zu koordinieren und zu kooperieren. Für die Koordination und Kooperation von Bund und Ländern sowie von Ländern untereinander im Hoheitsbereich gibt die mit B.-VG.-Novelle 1974 eingeführte Möglichkeit des Abschlusses von Gliedstaatsverträgen die entsprechende Gelegenheit29 • Da, wie bereits ausgeführt, Behindertenfragen und Rehabilitationsangelegenheiten zum Großteil sogenannte "Querschnittsmaterien" sind, kann der Art. 15 a B.-VG. mit seinen Gliedstaatsverträgen hier wertvolle Dienste leisten; sie können nämlich zu Vereinbarungen über Gegenstände ihrer Kompetenz in der Gesetzgebung oder bzw. und der Verwaltung führen. Diese Koordinierungs- und Kooperationsmöglichkeit des Art. 15 a B.-VG. auf dem Weg des Abschlusses von Gliedstaatsverträgen kann nicht hoch genug geschätzt und beachtet werden, um den Hauptmängeln der Situation der Behinderten und der Rehabilitation zu begegnen. Als solche Schwierigkeiten nannte Norbert Wimmer schon 1975 in seinen Gedanken über den Behinderten im sozialen Leistungsstaat "das Fehlen eines einheitlichen, für alle Rehabilitationsträger gemeinsamen, den Bedürfnissen der Behinderten und der praktischen Rehabilitationsarbeit entsprechenden Rehabilitationsauftrags ... Ungleiche Rehabilitationschancen bei gleicher Behinderung ... " und "die mangelnde Koordination der Rehabilitationsträger untereinander, die den optimalen Einsatz der zur Verfügung stehenden Rehabilitationsmittel vermittelt, insbesondere das für den Erfolg oft ausschlaggebende Zusammenspiel von medizinischen, beruflichen und sozialen Rehabilitationsmaßnahmen erschwert"30. Hengstschläger, a.a.O., S. 107. Dazu Heinz Peter Rill, Gliedstaatsverträge, Wien 1972, zur Koordination vgl. allgemein Heinz Schäffer, Koordination in der öffentlichen Verwaltung, Wien 1971. ao Wimmer, a.a.O., S. 192. 2s 29

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Für den Behinderten sollten alle Möglichkeiten der Sozialhilfe, insbesondere der Rehabilitation in Zusammenarbeit von Bund und Ländern sowie der Länder untereinander als Träger von Hoheits- und Privatrechten fortgesetzt und ausgebaut werden. In der Behindertenhilfe kann der kooperative Föderalismus zeigen, was er zur Vermenschlichung des sozialen Rechtsstaates beitragen kann. Eine solche "Vereinbarung über Angelegenheiten der Behindertenhilfe" nach Art. 15 a B.-VG. wurde zwischen den Ländern Kärnten, Niederösterreich, Steiermark, Vorarlberg und Wien abgeschlossen und ist am 9. Mai 1979 in Kraft getreten. Ich verweise auf Kärnten: LGBL Nr. 69/1979, Niederösterreich: LGBL 9210/1979, Steiermark: LGBL Nr. 29/1979, Vorarlberg: LGBL Nr. 24/1979 und Wien: LGBl. Nr. 40/1978. Es lassen sich noch weitere Beispiele über Zusammenarbeit im Bereich der Behindertenhilfe überhaupt geben. So enthält bekanntlich das Invalideneinstellungsgesetz 1969, BGBl. Nr. 22/1970, i. d. F. BGBl. Nr. 111/1979 im§ 6 Abs. 5 im Zusammenhang mit Förderungsmaßnahmen die Bestimmung, daß das Landesinvalidenamt vor der Vergabe von Förderungen zur Klärung des Sachverhaltes ein Team, bestehend aus einem Vertreter des Landesinvalidenamtes, des Landesarbeitsamtes, des jeweiligen Bundeslandes wegen dessen Zuständigkeit für Behindertenhilfe, der Arbeiterkammer und der Kammer der gewerblichen Wirtschaft, anzuhören hat.

Weiters sei bemerkt, daß zur Koordination der Rehabilitation ein Muster für Verwaltungsübereinkommen zwischen der jeweiligen Landesregierung und den übrigen mit Rehabilitation befaßten Dienststellen besteht. Ein derartiges Verwaltungsübereinkommen sei - dem Vernehmen nach - bis dato zwischen Wien und den übrigen in Frage kommenden Dienststellen abgeschlossen worden. Hingewiesen sei auch auf die Konferenz der politischen Landessozialreferenten am 10. März 1978 in Innsbruck, an der auch der Bundesminister für soziale Verwaltung teilnahm und dabei sein "Konzept zur Eingliederung Behinderter {Rehabilitationskonzept)" vorstellte. Die Landessozialreferentenkonferenz begrüßte die Initiativen des Bundesmini~teriums für soziale Verwaltung zur Koordinierung der Rehabilitation und sah im vorgelegten Konzept zur Eingliederung Behinderter eine Diskussionsgrundlage. Ein Komitee zur Koordinierung der Arbeiten an diesem Rehabilitationskonzept wurde durch die Landessozialreferentenkonferenz eingesetzt; es besteht aus dem Bundesminister für soziale Verwaltung, den Sozialreferenten der Länder Salzburg, Steiermark,

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Herbert Schambeck

Vorarlberg und Wien sowie einem Vertreter des Hauptverbandes der Österreichischen SozialVersicherungsträger. Im übrigen ist es das Ziel der Konferenz der politischen Sozialreferenten, gegenseitige Information und Koordination im Bereich der Sozialverwaltung sicherzustellen. Die genannte Sozialreferentenkonferenz vom 10. März 1978 setzte auch eine Beamtenarbeitsgruppe, bestehend aus Bundesvertretern, Vertretern jedes Bundeslandes und der Sozialversicherung ein. Hauptaufgabe dieser Arbeitsgruppe ist ein Konzept für die Koordination im Bereich der Behindertenhilfe auszuarbeiten. Diese Arbeitsgruppe tagte bisher einmal in Bregenz, einmal in Wien und einmal in Innsbruck; ihre letzte Sitzung fand am 22. Jänner 1980 in Innsbruck statt. Die bisherige Arbeit konzentrierte sich auf die Vorbereitung von Maßnahmen im Zusammenhang mit geschützten Werkstätten. Ausfluß dieser Kooperation ist auch § 11 des Invalideneinstellungsgesetzes in der heute gültigen Fassung. Neben den genannten schriftlichen und formellen Vereinbarungen, einerseits zwischen den Ländern andererseits zwischen Ländern und sonstigen Dienststellen, funktioniert auf Grund freier Übereinkunft die

Koordination im Bezug auf die Behindertenhilfe in mehreren Bundesländern formfrei. Und zwar finden Koordinierungsberatungen regel-

mäßig monatlich zwischen dem Amt der Landesregierung, dem Landesinvalidenamt, der Arbeitsmarktverwaltung, den Sozialversicherungsträgern, der Arbeiterkammer und der Kammer der gewerblichen Wirtschaft statt. Es wurde das Einvernehmen hergestellt, daß Anträge aus dem Bereich der Behindertenhilfe, die bei einer dieser Stellen eingebracht werden, als bei der zuständigen Stelle eingebracht anzusehen sind. Alle gegenbeteiligten Dienststellen werden vom Antrag sofort in Kenntnis gesetzt. Es handelt sich im wesentlichen um Anträge hinsichtlich baulicher Maßnahmen für Behinderte (Aufzüge, etc.}, Eingliederung von Behinderten in das Berufsleben (geschützte Werkstätten sind nur ein Weg und meist nicht der in erster Linie beschrittene) und um Beihilfen für die Beschaffung von Behindertenkraftfahrzeugen. Der Bund (Bundesministerium für soziale Verwaltung) leistet Beiträge aus dem Ausgleichstaxenfonds, das Landesinvalidenamt unterstützt die Adaptierung der Arbeitsplätze und die Landesregierung (die auch die Organisation dieser Kooperation trägt) leistet die Lohnausgleichszahlungen. Derartige Kooperation besteht in mehreren Ländern und wird anscheinend von allen Beteiligten begrüßt und unterstützt.

Der Behinderte und das Verfassungsrecht

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Nicht zuletzt sei auch darauf hingewiesen, daß von den im Rahmen der Verbindungsstelle der Bundesländer durchgeführten Expertenkonferenzen regelmäßig mehrere Konferenzen auch Fragen aus dem Bereich der Sozialverwaltung betreffen. Aufgabe dieser Expertenberatungen ist ebenfalls gegenseitige Information und Abstimmung. Alle diese Beispiele hoheitsrechtlicher und privatrechtlicher Maßnahmen und Bemühungen für den Behinderten seien auch deshalb genannt, um damit deutlich zu machen, wie viel in Österreich ohne konkreten Verfassungsauftrag, wie dieser in der BRD in Verfassungsrechtssätzen über den sozialen Rechtsstaat und sozialen Bundesstaat beinhaltet ist, auf diesem Gebiet der Sozialverwaltung geschieht. Da unser Bundes-Verfassungsgesetz keinen eigenen Grundrechtskatalog besitzt und diesen ja zum Großteil aus der Dezemberverfassung 1867 mit der Rezeption des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger übemommen hat31 , erhebt sich die abschließend zu beantwortende Frage, welche Bedeutung diese Grundrechte für den Behinderten haben; ich möchte betonen, keine allzu große Bedeutung. Unsere Grundrechte32 gehen auf die mehr liberale Zeit zurück und haben dem Staat mehr ein Unterlassen, als ein Handeln vorgeschrieben. Ein so umfassend positiviertes Grundrecht, wie das der Art. 1 und 2 des Bonner Grundgesetzes der BRD über die Freiheit und Würde des Menschen, kennt unser österreichisches Verfassungsrecht ebenso wenig wie ein verfassungsgesetzlich geschütztes Recht zum Leben33 • Dazu kommt noch ein grundsätzlicher leider viel zu wenig beachteter Umstand. Dem Österreichischen Grundrechtskatalog wird von der Lehre, aber insbesondere vom Verfassungsgerichtshof ein liberales Gepräge gegeben34 • Das bedeutet, daß Grundrechte den Gesetzgeber bei der Regelung eingrenzen, insbesondere dem Gesetzgeber den Eingriff in bestimmte Rechtspositionen des Einzelnen verwehren, darüber hinaus aber keinen Gestaltungsauftrag dem Gesetzgeber gegenüber beinhalRGBl. Nr. 142/1867. SieheKart Korinek I Brigitte Gutknecht, Der Grundrechtsschutz, in: Das Österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1980, S. 291 ff. 33 Dazu Wolfgang Waldstein, Zur Rechtsstellung ungeborener Kinder, in: Kirche und Staat, Fritz Eckert zum 65. Geburtstag, hrsg. von Herbert Schamheck, Berlin 1976, S. 477 ff. 34 Vgl. Ludwig Adamovich, Handbuch des Österreichischen Bundesverfassungsrechts, 6. Aufl., Wien- New York 1971, S. 497 ff.; Robert Walter, österreichisches Bundesverfassungsrecht, Wien 1972, S. 776 ff.; VfGH Erk. Slg. Nr. 31

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Herbert Schamheck

ten35 • Das hat zur Folge, daß zwar bestehende Regelungen gegen Grundrechte verstoßen können, daß aber ein Nichttätigwerden des Gesetzgebers vom Grundrechtskatalog her irrelevant ist. Außerdem werden Grundrechte nur als subjektive Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat verstanden und nicht als Gestaltungsauftrag der Rechtsordnung schlechthin36 • Dies hat sich insbesondere auch bei der Beurteilung der Straffreistellung des Schwangerschaftsabbruches durch den Verfassungsgerichtshof gezeigt. So hat der Verfassungsgerichtshof im sogenannten Fristeulösungserkenntnis behauptet, daß die Tötung der Letbesfrucht durch die Mutter bzw. den Arzt vom Grundrechtskatalog, insbesondere vom Grundrecht auf Leben her nicht geschützt sei, weil Grundrechte nur Eingriffe des Staates gegenüber Einzelnen berücksichtigen. Da nicht der Staat, sondern eine Privatperson die Leibesfrucht tötet, käme die Schutzfunktion der Grundrechte nicht in Betracht37 • Bei einem entsprechenden Wandel des Grundrechtsverständnisses, insbesondere einer Auffassung der Grundrechte als Gestaltungsauftrag für die gesamte Gesetzgebung38 , wären auch für das Recht des Behinderten andere Konsequenzen abzuleiten. Da aber auch der Gleichheitsgrundsatz, der ja in erster Linie für eine sachgerechte Ungleichbehandlung, nämlich Besserstellung des Behinderten in Frage käme, nur bei einer positivrechtlichen Regelung Wirkungen entfalten kann39 , gegenüber dem Untätigwerden des Gesetzgebers aber machtlos ist, lassen sich aus dem Grundrechtskatalog für das Behindertenrecht unmittelbar kaum Konsequenzen ableiten. Bei einem Gesetz, das Behinderte und Nichtbehinderte über einen Leisten schlägt, hätte der Verfassungsgerichtshof aus dem Gesichtspunkt des besonderen Behindertenschutzes lediglich die Möglichkeit, die gesamte Regelung aufzuheben, wodurch den Behinderten aber nicht geholfen wäre. 35 Dazu Hans Spanner, Lebendiges Verfassungsrecht, JBI. 1977, S. 23 f. und Herbert Schambeck, Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungsinterpreta-

tion in Österreich, Juristische Blätter 1980, S. 225 ff., bes. S. 233 ff. ' 8 Siehe die Kritik dazu bei Peter Pernthaler, Entscheidungsbesprechung, JBl. 1975, S. 317 f. und Richard Novak, Das Fristenlösungserkenntnis des Österreichischen Verfassungsgerichtshofes, EuGRZ 1975, S. 198 ff. 37 VfGH Erk. Slg. Nr. 7400/1974. 38 Vgl. dazu Peter Pernthaler, a.a.O., S. 317; Richard Novak, a.a.O., S. 198; Dieter Grimm, Die Fristenlösungsurteile in Österreich und Deutschland, JBl. 1976, S. 76 f.; Hans Spanner, a.a.O., S. 23. 39 Siehe aber das einen gewissen Wandel andeutende Erk. d. VfGH, Slg. Nr. 7947/1976.

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Einen Auftrag an den Gesetzgeber, bei gleichheitswidrigem Handeln eine gleichheitsgemäße Ergänzung im Gesetzgebungswege vorzunehmen, kennt das Österreichische Verfassungsrecht nicht. Es wird wohl mehr nach medizinischen Gesichtspunkten zu beurteilen sein, wo der Behinderte anders als der Nichtbehinderte - Ungleichheit, die sachlich gerechtfertigt ist - behandelt werden will und in welchen Fällen er gleichbehandelt werden will. Ein Kenner der praktischen Behindertenhilfe, Hans Franc, bemerkte hiezu: "Von Behinderten abgelehnt wird, wenn sie durch große karitative Aktionen von einer sozialen Öffentlichkeit mit frommen Durchhalte- und ErmutigungsparoIen empfangen werden. Es bringt ihnen nichts, wenn sie dauernd ihres Andersseins und ihrer Krankheit bewußt werden und Verständnisund Mitleidsbezeugungen bekommen. Der größte Wunsch eines Behinderten ist, akzeptiert zu sein, wie jeder andere lustig sein zu können, Kontakte zu haben, natürlich und unbefangen anderen Menschen zu begegnen40 ." W:ill unsere heutige Gesellschaft in einem Staat mit demokratischrepublikanischer Staatsform ihre Aufgabe gegenüber jedermann erfüllen, dann wird sie in Vollziehung des demokratischen Gleichheitsgebotes, wie es im Art. 2 StGG ebenso enthalten ist, wie im Art. 7 B.-VG., jedermann, ob gesund oder krank, behindert oder gesund, eine Möglichkeit zur entsprechenden Entfaltung seiner Persönlichkeit geben müssen. Ungleichheiten sind dabei nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes dort bekanntlich nicht verfassungswidrig, wo sie sachlich gerechtfertigt sind41 ; die Behinderung ist ein solch sachlich gerechtfertigter Differenzierungsgrund.

Es sei aber bemerkt, daß diese Forderung in bestimmter Weise ein Widerspruch zu einer Tendenz der Demokratie ist, die in einem Konformitätsdruck auf Nivellierung hin gerichtet ist. Je weniger nun die Situation des Behinderten von der auf Normalität ausgerichteten Gesellschaft, die im Industriezeitalter besonders auf Leistung ausgerichtet ist, beachtet wird, desto größer sind die Zwänge dieser Ül.'dnung auf den Behinderten, dessen Ausnahmesituation eine Ausnahmeregelung verlangt. Die heutige Gesellschaft wird aber nur dann den Leistungserfordernissen der Industriegesellschaft gerecht, wenn sie allen ihren Möglichkeiten entsprechend, die Gelegenheit zur Leistungserbringung eröffnet. Franc, a.a.O., S. 469. Beachte Herbert Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Ordnung im sozialen Wandel, Festschrift für Johannes Messner, hrsg. von Alfred Klose u. a., Berlin 1976, S. 480 ff. 40

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Das ist keine Ausnahme vom Gleichheitsgrundsatz, im Gegenteil, es ist seine Erfüllung, denn er verlangt, daß Gleiches gleich, aber auch Ungleiches ungleich behandelt wird. Demnach hat die heutige industrialisierte und technisierte ·Leistungsgesellschaft insoferne auch eine soziale zu sein, daß sie Ausnahmefälle und Grenzsituationen beachtet. Der Sozialhilfeanspruch des Behinderten ist - mehr oder weniger bewußt und ausgedrückt - stillschweigend von jedem Grundrechtskatalog und damit auch dem Verfassungsrecht gedanklich vorausgesetzt worden. Es fußt nämlich auf dem Recht zum Leben42 , dem existentiellsten aller Grundrechte. Dieses Grundrecht, das bei einer Neukodifikation der Grundrechte zu beachten und positivieren wäre, müßte vor allem umfassen: den Schutz des ungeborenen Lebens, von dem Mediziner sagen, es beginnt mit der Empfängnis, den Schutz des Geborenen vor Umweltgefährdungen43 einschließlich des Anspruches auf Sozialhilfe bei Behinderung. Dieses Recht zum Leben ist der oberste Auftrag jeder Verfassung als normative Grundlage des Staates. Welche Rechtsform immer sich für Grundrechte anbietet: ob als subjektiv-öffentliches Recht, Einrichtungsgarantie, Programmsatz und Organisationsvorschrift44, stets vermag sie Auftrag an den Gesetzgeber und ein Gemeinwesen zu sein, deren Sozialsinn auch danach zu beurteilen ist, wie sehr sie sich auch all der Stillen in lauter Welt45 annehmen.

42 Siehe Heribert Berger, Die Heimatlosigkeit des Menschen, Veröffentlichungen der Universität Innsbruck 83, Innsbrucker Universitätsreden VIII, Innsbruck 1974 sowie Wotfgang Watdstein, Zur Rechtsstellung ungeborener Kinder, in: Kirche und Staat, Fritz Eckert zum 65. Geburtstag, hrsg. von Herbert Schambeck, Berlin 1976, S. 477 ff. 4 3 Dazu Hans H. Klein, Ein Grundrecht auf saubere Umwelt?, in: Im Dienst an Recht und Staat, Festschrift für Werner Weber zum 70. Geburtstag, hrsg. von Hans Schneider und Volkmar Götz, Berlin 1974, S. 643 ff. 44 Näher Theodor Tomandl, Der Einbau sozialer Grundrechte in das positive Recht, Tübingen 1967 und Schambeck, Grundrechte und Sozialordnung, insbes. s. 95 ff. 45 Siehe Herbert Schambeck, Die Stellung des Behinderten in der Gesellschaft, Ordensnachrichten 1975, Heft 82, S. 231 ff.

WIRTSCHAFTSETHISCHE ÜBERLEGUNGEN ÜBER LEISTUNG UND VERTEILUNG IM MARXISTISCHEN VERSTÄNDNIS Von Arthur Fridolin Utz I. Die Verteilung als Strukturprinzip der Wirtschaft Die Unterscheidung oder teilweise Trennung von Bedarfsdeckungsund von Erwerbswirtschaft ist nur auf kurze Sicht möglich. Das heißt, sie ist nur vorläufig. Man kann sie nur vornehmen, wenn man zeitliche Teilstücke in Betracht zieht, indem man den Produktionsprozeß von der zur Bedarfsdeckung notwendigen Verteilung trennt. Unter endgültigem Betracht, d. h. vom Endzweck her gesehen, ist jede Wirtschaft auf den Bedarf ausgerichtet. Der Bedarf ist aber erst dann eine ökonomische Größe, wenn der Bedürftige die Mittel besitzt, ihn zu decken, d. h. wenn er (in der arbeitsteiligen Wirtschaftsgesellschaft) Kaufkraft hat. Diese hat er aber erst, nachdem er aus dem vorausgegangenen Produktionsprozeß Einkommen bezogen hat. Von der Art der Verteilung, genauer von der Art der Zurechnung des Leistungserfolges an den Leistenden hängt der gesamte Kreislaufzusammenhang ab, und natürlich auch umgekehrt vom Kreislaufzusammenhang der Erfolg des Leistenden. Wenn die Zurechnung der Leistung nicht entspricht, erfolgt auch keine entsprechende Leistung, da es ohne Zwecksetzung keinen Leistungswillen gibt. Die Verteilung gibt also der Wirtschaft die Struktur (strukturelle Verteilung). Dieser gesamtwirtschaftliche Zusammenhang wird von dem DDRWirtschaftstheoretiker Hans RäßZer mit Nachdruck hervorgehoben: "Nur im Sozialismus können sich Produktion und Befriedigung der Bedürfnisse in Übereinstimmung entwickeln, kann die Verteilung eine solche Verwendung der erzeugten Produkte sichern, daß eine zunehmende Befriedigung der wachsenden Bedürfnisse garantiert und zugleich die Entwicklung von Produktivität und Effektivität der Produktion stimuliert wird. Die für die gesamte sozialistische Gesellschaft bestehenden Wechselbeziehungen zwischen Entwicklung der Produktion, Steigerung der Arbeitsproduktivität sowie Niveau und Dynamik der Bedürfnisbefriedigung werden auch in der Verteilung wirksam. Die Verteilung wiederum fördert die engere Gestaltung dieser Beziehungen. Durch die Verteilung muß der vom Umfang der gesellschaftlichen Arbeit sowie vom Niveau

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ihrer Produktivität bestimmte Zusammenhang zwischen Arbeit und Verbrauch realisiert werden1." An der gerechten Verteilung erkennt man den menschlichen Charakter des Wirtschaftssystems. Der Marxist, dem es in erster Linie um die Humanisierung der Wirtschaft geht, rollt sein gesamtes Ordnungsdenken von diesem Anliegen aus auf. Die gesellschaftliche Arbeit ist sein Ausgangspunkt. Auf das Subjekt, das diese Arbeit geleistet hat, soll aus der Gesellschaft auch der Erfolg zurückfließen. Der Arbeiter soll seinen Bedarf im Hinblick auf die Verwirklichung des Lebenszweckes decken können. Dabei ist impliziert, daß der Arbeiter am produktivsten arbeitet, wenn ihm aus dem Produkt nichts vorenthalten wird, was seiner Arbeit zuzuschreiben ist, d. h. wenn seine Arbeitskraft nicht ausgebeutet wird. Der Kapitalist denkt im Grunde nicht anders, wenigstens insoweit e:r, seinem Wirtschaftssystem konform denkt und nicht Situationen ausnutzt, die durch externe Wirkursachen geschaffen worden sind, d. h. die nicht im System der Konkurrenz der Leistungen verbleiben. Auch nach ihm soll grundsätzlich jeder aus dem Sozialprodukt erhalten, was er als verobjektivierte Leistung hineingearbeitet hat. Der Unterschied besteht im Berechnungsmaßstab und in der Art und Weise, wie dieser Maßstab gefunden wird. Entscheidend ist für beide, daß niemand ausgebeutet wird. Wie ist aber dies zu bewerkstelligen? Der Marxist glaubt, die Arbeit direkt bewerten zu können. Der Kapitalist mißtraut diesem Optimismus, er nimmt den Weg über den Markt.

II. Die Arbeitswertlehre Marx geht von der Vorstellung einer Welt ohne Eigentümer aus. Der Mensch ist darin ein bedürftiges Wesen, das seine Bedürfnisse mittels der Arbeit zu befriedigen sucht. Bei dieser Arbeit mag er sich irgendwelche Produktionsmittel schaffen, einen Hammer, ein Netz usw. Diese Produktionsmittel verdanken ihre wertmäßig erlaßbare Produktivität nur der Arbeit. Als Naturgüter sind sie rein physisch produktiv, haben vom Standpunkt der Bewertung aus keine Produktivität. Ein Naturvorgang ist kein wirtschaftlicher Wert, auch wenn er nützlich, angenehm, praktis'ch usw. sein mag. Wer einem Mitmenschen etwas von ihm selbst Produziertes zum Tausch anbietet, kann daher nur seine Arbeit berechnen, nicht aber das Naturgut. Zwar produziert auch das Naturgut physisch etwas im Produkt der Arbeit, es kann aber keinen Wert schaffen. In dieser Weise ist P. M. Sweezy zu verstehen: "Es stimmt natürlich, daß 1 Hans Rößler, Die sozialistischen Distributionsverhältnisse. In: Hans Rößler I Hilmar Schmidt I Helmut Seidl, Das ökonomische Gesetz der Verteilung nach der Arbeitsleistung, 1978, 12.

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man Material und Maschinen als physisch produktiv bezeichnen kann in dem Sinne, daß die Arbeitskraft mit ihnen zusammen ein größeres Produkt liefert als ohne sie, aber physische Produktivität in diesem Sinne darf unter keinen Umständen mit Wertproduktivität verwechselt werden. Vom Wertstandpunkt aus gibt es keinen Grund anzunehmen, daß Material oder Maschinen letzten Endes mehr zuführen können, als sie selbst enthalten2." Der Kapitalist, der die physische Produktivität des Kapitals als seine eigene ansieht, da er sich als Eigentümer des Kapitals betrachtet, kauft gemäß dem Marxismus Arbeitskraft, die er mit einer Lohnsumme berechnet, die dem Wert der Subsistenzmittel des Arbeiters entspricht. Nach beispielsweise einer Arbeit von fünf Stunden entsteht ein Produkt, dessen ganzer Wert der Wert von fünf Arbeitsstunden ist. Wenn nun der Arbeiter zum gleichen Lohn sechs Stunden arbeitet, dann fällt das Produkt dieser zusätzlichen Stunde dem Kapitalgeber zu. Das heißt, es entsteht ein Mehrwert zugunsten des Kapitalgebers. Hätte der Arbeiter den Vertrag für die zur Erstellung des Produktes "notwendige" Arbeit abgeschlossen und würde der Kapitalgeber das Produkt zum Wert der dazu notwendig gewesenen Arbeit (unter Berechnung der Amortisation des Kapitals und seiner eigenen Arbeitsleistung, die aber nichts mit dem Titel des Eigentümers zu tun haben dürfte) verkaufen, dann entstände kein Mehrwert. Das wäre der Gleichgewichtspreis: Preis gleich Kosten. Es gäbe keine Arbeit für Mehrwert, sondern nur "notwendige" Arbeit. Auf diese Weise gelingt es dem Marxismus, den Wert des Produktes qualitativ zu bestimmen, nach einem echt menschlichen Wert, eben der Arbeit. Diese Arbeit ist aber so lange noch ein abstrakter Begriff, als sie nicht quantifizierbar ist. Wenn die konkrete Leistung abgegolten werden soll, muß sie quantifizierbar sein. Wie soll dies geschehen, da die einzelnen Arbeitsleistungen qualitativ sehr verschieden sind? Um eine kompliziertere Arbeit von einer durchschnittlichen, "einfachen" Arbeit unterscheiden und beide miteinander in Vergleich setzen zu können, wird die kompliziertere Arbeit in die Summe einfacher Arbeiten gebracht. Um eine einfache Arbeit zu taxieren, wird die Arbeitszeit eingesetzt, die unter den bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen zu einer bestimmten Fertigung notwendig ist. Sie heißt darum "gesellschaftlich notwendige Arbeit". Die "gesellschaftlich notwendige Arbeit" hat ihren Namen nicht deswegen, weil sie für die Bedarfsdeckung der Gesellschaft notwendig wäre, sondern insofern sie vom Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Arbeitsbedingungen aus gesehen einen gesellschaftlich legitimierten Durchschnittswert darstellt3. z Paul M. Sweezy, Theorie der kapitalistischen Entwicklung, 1974, 80. Vgl. Paul M. Sweezy, a.a.O. 58. Siehe auch: Karl Kühne, Ökonomie

3

Marxismus, Bd. 1, 1972, 162 ff.

und

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111. Die ethische Beurteilung der Arbeitswertlehre Sehen wir einmal ab vom Problem, ob die Quantifizierung des Arbeitswertes über den Begriff der einfachen Arbeit eine genügende Handhabe gibt, um die verschiedenen Leistungen entsprechend zu bewerten. Verbleiben wir einzig bei der These, daß nur Arbeitsleistungen unter die Bewertung fallen. Ist diese Art der Bewertung des Produkts ethisch haltbar oder nicht? Es ist durchaus legitim, sich eine Wirtschaft ohne Privateigentum vorzustellen. Diese Ausgangsbasis ist sogar ethisch die einzig richtige. Kein Mensch hat die Welt geschaffen. Sie gehört mit ihren Naturschätzen der gesamten Menschheit. Wir sind uns z. B. darin einig, daß wir das wirtschaftliche Wachstum nicht unter jeder Bedingung anstreben dürfen, sondern zugleich an die kommenden Generationen denken müssen. Ein Arbeitsprodukt nach dem Bedarf dessen zu bewerten, mit dem man einen Tausch aushandelt, setzt bereits die Eigentumsordnung voraus. Ein Gut nur nach dem Bedarf des Mitmenschen zu bewerten, kann prinzipiell nicht die Urformel der Güterbewertung sein. Sonst könnte man einem Menschen, der alles hat, nur kein Brot, alles für ein Brot abnehmen. Marx geht in seiner Analyse auf den seiner Meinung nach originären Zustand zurück, in dem die Menschen im Tausch von Waren ihre Arbeit austauschten. Alle anderen Bewertungsmaßstäbe seien geschichtlich geworden und im Sinn der originären Bewertung zu beurteilen. Nur auf diese Weise sei es möglich, über den eigenen geschichtlich gewordenen Zustand hinweg einen universal gültigen Maßstab zu finden. Weil die Kapitalisten nur von ihrer Markt- und Warenwirtschaft aus die wirt~ schaftliehe Entwicklung zu beurteilen verständen, bewiesen sie ihre unhistorische Einstellung. Da sie ihren Standpunkt als den allgemeingültigen betrachten, werde ihre Theorie zur Ideologie.

Alle diese Gedanken finden beim Ethiker Verständnis, allerdings nur im Sinn einer der Praxis noch weit vorausliegenden Bewertung und zudem nur unter der Bedingung, daß der Begriff der Arbeit nicht mit jenem der primitiven Arbeit identifiziert wird, der "originär" vor aller vielfältigen Arbeitsteilung im einfachen Austausch von lebensnotwendigen Produkten als Bewertungsgrundlage galt. In einer primitiven Gesellschaft, in der es allgemein nur um die wichtigsten Bedarfsgüter geht und in der alle sich auf dem mehr oder weniger gleichen Versorgungsniveau befinden, mag die Bewertung nach gesellschaftlich notwendiger Arbeit korrekt sein. Will man die marxistischen Gedanken in eine allgemeinethisch haltbare Formel bringen, dann ist es diese: Demgegenüber, der sich redlich

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bemüht, gemäß seinen Möglichkeiten zu arbeiten, ist die Gesellschaft verpflichtet, für diese Arbeit einen Lohn zu zahlen, der dem Durchschnittsverdienst entspricht, wenngleich sein Arbeitsprodukt gemäß Bemessung nach dem Gebrauchswert einen geringeren Wert darstellen würde. Wir verwirklichen in unserer Wirtschaftsgesellschaft dieses Prinzip in der Kombinierung von Lohn ("ökonomischer Lohn") und sozialer Umverteilung ("sozialer Lohn"). Allerdings ist zu beachten, daß wir im Vergleich zu Marx das Objekt unserer Bewertung gewechselt haben. Marx bewertet das Objekt der Arbeit, nämlich das Produkt, und erklärt, daß sein Wert nur die darin enthaltene Arbeit sei, somit jeder andere Gesichtspunkt, vor allem der Gebrauchswert, aus der Bewertung ausscheide. Der Ethiker spricht in der ersten und obersten Bewertung, in der er noch von einem bestimmten Wirtschaftssystem, also auch vom Eigentum absieht, viel menschlich€r, weil er den Arbeitswert nicht in das Produkt verlagert, sondern ihn bereits im arbeitenden Menschen erfaßt. Die Tatsache, daß ein Mensch gearbeitet hat, um mitzuwirken an der allgemeinen Versorgung, genügt, um die Gesellschaft zu verpflichten, seine Leistung mit jeder anderen gleichzusetzen, wobei dann noch offenbleibt, ob in die Bewertung des Produkts auch noch andere Bewertungsmaßstäbe eingreifen (z. B. der Gebrauchswert), die rückwirkend eine Verschiedenheit in der Arbeitsbewertung zur Folge haben. Marx will natürlich das Leistungsprinzip nicht lahmlegen. Darum muß er die Arbeitseinheiten im Produkt suchen. Die Arbeit muß in irgendeiner Weise sichtbar und meßbar sein. Nur so kommt man zu einer Abwägung verschiedener Leistungen. Auch damit geht der Ethiker einig. Allerdings ist für ihn diese Bewertung bereits der zweite, nach dem soeben genannten ersten, Schritt. Und erst hier stellt sich für ihn die Frage, wie man die im Produkt verwirklichte Arbeit bemessen kann. Die marxistische Formel ist eine Möglichkeit unter vielen. Es erhebt sich aber die Frage, ob es mit ihr gelingt, dem Prinzip gerecht zu werden, wonach jedem das Quantum Arbeit vergolten werden soll, das er in das Produkt eingegeben hat. Mit anderen Worten: reicht die Marxsche Analyse des Produkts aus, um zu bestimmen, was jedem Mitarbeiter am Produkt zusteht? Diese Frage ist nun keine ethische, sondern im Grunde eine empirische.

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IV. Die Frage der Quantifizierung sämtlicher Arbeitsleistungen, die im Produkt verwirklicht sind, und die marxistische Lösung des Problems Helmar Nahr 4 hat die Marxsche Analyse einer sorgfältigen Oberprüfung unterzogen. Den Begriff der "gesellschaftlich notwendigen Arbeit" ersetzt er durch den Begriff der "produktiven Arbeit"; er stellt also auf die Produktivität der Arbeit ab. Dabei behält er zunächst die Vorstellung einer Wirtschaft ohne Privateigentwn bei und setzt ebenfalls voraus, daß es nur "Naturgüter" und "Arbeit" gibt, die "Arbeit" in diesem Fall nun als "produktive Arbeit" verstanden. Damit hat er sich bereits in einem beachtlichen Schritt von der Marxschen Konzeption entfernt. Denn der Marxsche Begriff der "gesellschaftlich notwendigen Arbeit" enthält ein Moment, das vom Produkt ablenkt in einen mit dem Produkt nicht unmittelbar verbundenen Bewertungsmaßstab. Es zeigt sich damit, daß es Marx doch nicht ganz gelungen ist, die Arbeit im Produkt selbst zu sehen. Ob dieser gedankliche Umweg ein Versehen ist oder wesentlich zur Marxschen Konzeption gehört, soll später erörtert werden.

Die Marxsche Analyse setzt voraus, daß die Relation von Produkt und Arbeit bereits erschöpfend erlaßt ist durch die Relation des Produkts zu den unmittelbar an der Produktion Tätigen. Nahr stellt aber fest, daß in der arbeitsteiligen Wirtschaft außer der unmittelbaren Arbeit ("Produktionsarbeit") noch die "strukturerhaltende Arbeit" und die "strukturgestaltende Arbeit" produktiv sind. Eine Maschine muß repariert und schließlich ausgeschieden und durch eine andere ersetzt werden. Reparatur und Neubau sollen die maschine1le Ausstattung auf dem einmal erreichten Stand halten, sie sind somit strukturerhaltende Arbeiten. Diese Art der strukturerhaltenden Arbeit kann man, wie Nahr ausführt, noch in den Begriff der "gesellschaftlich notwendigen Arbeit" einbauen, d. h. man kann sie noch dem Produkt zuschlagen. Das gleiche könnte man von der Ausbildung und den Ersatzinvestitionen sagen. Sie sind der Wertlehre nicht unbekannt. Auch die betriebliche Einarbeitungszeit, obwohl Marx sie nicht kennt, könnte man noch dem Produkt zurechnen. "Schulung, Ausbildung und Einarbeitung sowie einwandfrei funktionierende Produktionsmaschinen setzen den unmittelbaren Produzenten instand, an seinem Arbeitsplatz rationelle Arbeit zu leisten. Ein Industrieprodukt entsteht jedoch nicht an einem einzigen Arbeitsplatz, sondern erst durch das Zusammenwirken mehrerer oder vieler Arbeiter. Deren Zusammenarbeit muß organisiert werden5." Diese Organisationsarbeit, der Nahr den Namen "strukturerhal' HelmaT NahT, Mehrwert heute, Leistung und Verteilung in der Industriegesellschaft, 1977, 204. 5

HelmaT NahT, a.a.O. 160.

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tende Organisations-Arbeit" gibt, kann dem Produkt nicht mehr zugeschlagen werden, weil sie nicht quantifizierbar ist im Hinblick auf ein bestimmtes Produkt, von den weiteren, der Produktion folgenden Arbeiten wie Vertrieb usw. ganz zu schweigen. Auch sie müßten in einer ganzheitlichen Sicht des Produkts in Rechnung gezogen werden, allerdings nicht im einzelnen Produkt, sondern im Ausstoß des ganzen Unternehmens. Aber das bedeutet bereits eine beachtliche Entfernung von der eigentlich Marxschen Konzeption der "gesellschaftlich notwendigen Arbeit". Tatsächlich wird in den sozialistischen Ländern der Begriff der "gesellschaftlich notwendigen Arbeit" auf den gesamten Ausstoß bezogen. Man könnte darum auch noch die von N ahr erwähnte "strukturerhaltende Organisations-Arbeit" mit zur "gesellschaftlich notwendigen Arbeit" rechnen. Anders verhält es sich aber mit der "strukturgestaltenden Arbeit". "Die strukturgestaltende Arbeit dient der Änderung der Struktur des Produktionsprozesses zum Zweck der Erhöhung der Arbeitsproduktivität6." Hier geht es um die nötigen Informationen über die Möglichkeiten der Verbesserung der Arbeitsorganisation, des Vertriebes, der kaufmännischen und technischen Zusammenarbeit, der Organisation des Warenvertriebs usw. Die Quantifizierung der strukturgestaltenden Arbeit ist völlig unmöglich. Und doch muß auch sie berechnet werden. Da sie überbetriebliche, Branchen- und sogar nationale Dimensionen hat, kann man sie nur in einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung erfassen. Das heißt, der Begriff der "gesellschaftlich notwendigen Arbeit" hat sich vollends vom arbeitenden Individuum entfernt und ist nur noch bestimmbar durch diejenigen, die das Produkt der Gesamtwirtschaft planen. Der Begriff der "gesellschaftlich notwendigen Arbeit" erhält nun auf einmal einen zusätzlichen Sinn: er bezeichnet nicht mehr nur den allgemeinen Durchschnittswert der Arbeit eines einzelnen, sondern schließt zugleich die Bedingung ein, daß diese Arbeit ein Teil der gesamten Arbeit ist, die zur Deckung des gesamtgesellschaftlichen Bedarfs notwendig ist. Damit mündet der Begriff, der ursprünglich ein Maß für eine Arbeitseinheit sein sollte, in einen Zweckbegriff ein: nützlich für die Gesamtgesellschaft, und zwar im Sinn eines Gesamtplanes. Daß dieser Gedankengang stimmt, beweist der DDR-Volkswirtschaftler HiZmar Schmidt: "Die Arbeit der Werktätigen ist unmittelbar Bestandteil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit. Sie existiert zugleich als Teil der Arbeit eines Betriebskollektivs, ist also betriebsindividuell verausgabte Arbeit. Das bedeutet, das Verhältnis zwischen der sozialistischen Gesellschaft und dem einzelnen Werktätigen ist auf der Grundlage • Helmar Nahr,

a.a.O. 144.

50 Festschrift f. G. Müller

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der Vereinigung der Betriebe zu einem organischen Ganzen ein reales ökonomisches Verhältnis, das infolge der gesellschaftlichen Aneignung des geschaffenen Produkts direkt und indirekt, vermittelt durch den Betrieb, durch das Produktionskollektiv, auftritt. Auch beim sozialistischen Arbeitslohn wird dieses Verhältnis in doppelter Hinsicht wirksam. In seinem sozialökonomischen Charakter unterscheidet sich das durch den Betrieb vermittelte und daher indirekte Verhältnis nicht von der direkten ökonomischen Beziehung zwischen dem einzelnen Werktätigen und der Gesellschaft. Es resultiert aus dem arbeitsteiligen Realisierungsprozeß des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln und der Tatsache, daß jeder Produzent unmittelbar als Mitglied eines Kollektivs auftritt und innerhalb des Betriebskollektivs seine Eigentümerfunktion verwirklicht7." Das sozialistische System der Zurechnung der im Produkt verkörperten Leistung ist nur verständlich auf der Grundlage der Verstaatlichung sämtlicher Produktionsmittel und der Identifizierung der Arbeitsbewertung, die der einzelne für sich in Anspruch nehmen möchte, mit der, die aus dem Plan stammt. Außerdem ist wesentliche Voraussetzung dieser Art der Distribution des wirtschaftlichen Produkts die geplante Distribution der Arbeitskräfte. "Ehe die Distribution Distribution der Produkte ist, ist sie 1. Distribution der Produktionsmittel, und 2., was eine weitere Bestimmung desselben Verhältnisses ist, Distribution der Mitglieder der Gesellschaft unter die verschiedenen Arten der Produktion (Subsumtion der Individuen unter bestimmte Produktionsverhältnisse). Die Distribution der Produkte ist offenbar nur Resultat dieser Distribution, die innerhalb des Produktionsprozesses einbegriffen ist und die Gliederung der Produktion bestimmts." V. Das leistungsstimulierende Interesse im sozialistischen System der Verteilung

Der wesentliche Bezug jeglicher Einzelarbeit auf die gesellschaftliche Produktion ist der Grund dafür, daß das Motiv der Arbeit immer nur eines sein kann, das gesellschaftliche Interesse, in dem das persönliche Interesse enthalten ist. Diese Identität von Gesellschaftlichem und Individuellem im Motiv setzt eine bestimmte Bewußtseinslage voraus: "Um diese Interessenübereinstimmung als entscheidende Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung im Sozialismus immer vollständiger zu 7 Hilmar Schmidt, Der Arbeitslohn und die Prämie im Sozialismus. In: Hans Rößler I Hilmar Schmidt I Helmut Seidl, a.a.O. 50. 8 K. Marx, Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie. MEW, Bd. 13,

628.

Leistung und Verteilung im marxistischen Verständnis

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nutzen, muß beachtet werden, daß sich die Menschen ihrer persönlichen Interessen im Alltagsleben bewußt werden, sie sich gewissermaßen als etwas Gegebenes darstellen. Anders jedoch die gesellschaftlichen Interessen. Ihre Erkenntnis erfordert eine bestimmte Verallgemeinerung der Erscheinungen der Wirklichkeit, das Eindringen in ihre Wesenszüge, die Ausdruck der objektiven Bedürfnisse der Entwicklung der gesamten Gesellschaft, Verkörperung des höchsten Kriteriums des gesellschaftlichen Fortschritts sind. (Siehe W. I. Lenin: Das Agrarprogramm der Sozialdemokratie in der ersten russischen Revolution von 1905 bis 1907, in: Werke, Bd. 13, S. 240). Weil sich die gesellschaftlichen Interessen nicht im Selbstlauf verwirklichen und ihre Realisierung stets die Einheit von Objektivem und Subjektivem darstellt, müssen sich die Menschen ihrer auch bewußt werden, um ihnen entsprechend zu handeln, denn alles, ,was die Menschen in Bewegung setzt, muß durch ihren Kopf hindurch'. (Siehe Friedrich Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: MEW, Bd. 21, S. 298). Das verdeutlichen auch die gesetzmäßig wachsenden Anforderungen an den Er~ kenntnisstand und das Bewußtsein der Werktätigen bei der weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft9 ." Hinter dieser Motivierung und Bewußtseinsbildung steht naturgemäß das dem gesamten Gesellschafts- und Wirtschaftsdenken zugrundeliegende Menschenbild. Danach ist jegliches Handlungsmotiv nur legitimiert und entspricht auch nur der Wirklichkeit des Menschen, wenn sich in ihm individuelles und gesellschaftliches Interesse identifizieren. Es ist demnach ausgeschlossen, daß das gesellschaftliche Interesse durch das persönliche Interesse vermittelt (mediatisiert) wird. Der Mensch ist darum nicht ein personales Wesen, das in gesellschaftlicher Beziehung steht; er ist vielmehr als Person gesellschaftliches Wesen. Man kann den Gedanken nicht rundweg negieren. Der Mensch ist tatsächlich nicht geteilt in einen individuellen oder persönlichen und einen gesellschaftlichen Teil. Er ist in seinem Wesen sozial. Die entscheidende Frage ist aber: ist diese soziale Natur ein Auftrag an die Freiheit, die nicht gesellschaftlich begründet, sondern in einer vorgesellschaftlichen, nämlich transzendenten Welt verwurzelt ist, oder ist der Mensch aufgrundseiner Natur mit seiner Freiheit in den durch die wirtschafTache Entwicklung bestimmten Geschichtsprozeß hineinverwoben, so daß ihm nur die Ent.9 (BGBL I S. 565).

"Der freie Beruf" 1979 S. 20. DJT 1976, Gutachten A +B, A 19.

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I. Geringes Interesse der Anwaltschaft am Sozialrecht

Im Sozialrecht4 kommt dieser Problematik eine besondere Bedeutung zu, weil hier eine seit langem zu beobachtende Abneigung der Anwaltschaft gegenüber diesem Bereich immer noch besteht, mag sie auch in den letzten Jahren etwas an Intensität und Voreingenommenheit verloren haben; sie ist aber unter den Anwälten noch sehr verbreitet. Die hierfür maßgeblichen Ursachen sind vielfältiger Natur. Das Sozialrecht vollzog sich nicht in einem geschlossenen Gesetzeswerk wie z. B. das Bürgerliche Gesetzbuch mit seiner vorbildlichen systematischen Geschlossenheit und begrifflichen Genauigkeit, sondern in Rechtsblöcken. Das gilt vor allem für die Kernbereiche dieser Rechtsmaterie, die Sozialversicherung, die Kriegsopferversorgung und die Sozialhilfe. Sie entwickelten sich nicht nach einer vorausschauenden, vorgeplanten, grundlegenden Konzeption, sondern in rascher Folge etappenund stufenweise, vielfach in rechtsdogmatischer Isolation. Freilich ist jedes Recht auf Fortentwicklung angelegt, ein law in action, ein Recht, das unterwegs ist; aber kaum ein anderer Bereich ist so stark den permanenten gesellschaftlichen Veränderungen, dem sich rasch vollziehenden wirtschaftlichen, technischen und sozialen Wandel unterworfen wie das Sozialrecht Es handelt sich hier um eine Rechtsmaterie, die wenig transparent, reichlich unübersichtlich, kasuistisch geregelt und kompliziert angelegt ist5• Es ist zu hoffen, daß das Sozialgesetzbuch diesem Zustand in erheblichem Umfang abhelfen wird. Das Sozialrecht wird aber unverändert eine Rechtsmaterie bleiben, die raschen Änderungen unterworfen ist, die innöherem Maße als andere Rechtsgebiete Differenzierungen hinnehmen muß, um rechtsstaatlich gebotener Einzelgerechtigkeit zu entsprechen und Augenblicksbedürfnisse befriedigen zu können, die sich besonders im politischen Raum gut artikulieren lassen. Das alles erschwert freilich die Einarbeitung in dieses sich rasch ändernde Rechtsgebiet und seine laufende Beherrschung. Andererseits dürfte das juristische Interesse an dieser Rechtsmaterie zunehmen, weil sie stark interdisziplinär angelegt ist. Das zeigt die breite Skala von Bezügen zu den anderen Rechtsgebieten, insbesondere zum Verfassungs-, Verwaltungs-, Arbeits-, Zivil- und Steuerrecht. 4 Hierunter soll das Recht des SQzialgesetzbuchs verstanden werden, wie es in seinem Allgemeinen Teil v. 11. 12. 1975 (BGBl I S. 3015) festgelegt worden ist (die Ausbildungsförderung, die Arbeitsförderung, die Sozialversicherung, die soziale. Entschädigung bei Gesundheitsschäden, das Kindergeld, das Wohngeld, die Sozialhilfe, die Jugendhilfe, das Verwaltungsverfahren einschl. der Beziehungen der Leistungsträger untereinander und zu Dritten). 5 Wannagat, Sozialgesetzbuch, Kommentar 1977, EinführungS. 2 ff.

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Besonders evident ist die Aufeinanderbezogenheit von Verfassungsund Sozialrecht41. Dies verdeutlichen zahlreiche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die sozialrechtliche Vorschriften zum Gegenstand haben. Im Vordergrund stehen hierbei Fragen, die das BürgerStaat-Verhältnis betreffen. Sie erstrecken sich insbesondere auf die Ausdeutung des Sozial- und Rechtsstaatsprinzips, die Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes, die Wahrung der Menschenwürde, die Eigentumsgarantie und den Vertrauensschutz (bis Ende 1979 waren es rd. 100 Entscheidungen, die in die Amtliche Sammlung aufgenommen worden sind und weit über 2 000 Beschlüsse der Dreierausschüsse beider Senate). Starke Berührungspunkte weist das Sozialrecht zu dem VerwaltungsrechF auf, dessen Bestandteil es ist. Das gilt vor allem für den Bereich der gesamten Leistungsverwaltung, die auch im allgemeinen Verwaltungsrecht zunehmend an Bedeutung gewinnt. Diese Kommunikation erfährt eine weitere Belebung und Förderung in den Bereichen der gerichtlichen Prozeßordnungen und des Verwaltungsverfahrens. Dies geschieht insbesondere im Rahmen der Vorbereitung einer gemeinsamen Verwaltungsprozeßordnung für die drei öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten8 und der nach gleichen Grundsätzen ausgerichteten Verfahrensgesetze für die allgemeine Verwaltung 9 , die Finanz- 10 und Sozialverwaltung11. Ein Verwaltungsrecht, das spezifische Entwicklungen aus dem Sozialrecht außer acht läßt, kann nicht mehr als das Verwaltungsrecht unseres sozialen Rechtsstaates angesehen werden. Aus der Fülle der Probleme, die das Sozialrecht mit dem Zivilrecht12 verbindet, sei nur die gegenseitige Verflochtenheit der Ansprüche aus dem Bereich des Sozialrechts und des Familien- und Eherechts erwähnt, wie sie jetzt besonders augenfällig im Versorgungsausgleich bei Scheidung zum Ausdruck kommt. Diese Wechselwirkungen werden sich noch verstärken nach vollzogener Neuregelung der Hinterbliebenenversorgung von Witwern und Witwen und der Verbesserung der sozialen 6 Benda, Die verfassungsrechtliche Relevanz des Sozialrechts, Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichtsverbandes, Band XIV S. 3f,!; derselbe, Bundessozialgericht und Sozialstaatsklausel, NJW 1979 S. 1001 ff.; Wannagat, 10 Jahre Deutscher Sozialgerichtsverband, Schriftenreihe a.a.O. S. 17 ff. 7 Krause, Bundessozialgericht und das allgemeine Verwaltungsrecht, NJW 1979 s. 1007 ff. 8 Entwurf einer Verwaltungsprozeßordnung (Stand: 1. 2. 1980) vorgelegt vom Bundesminister der Justiz, Bonn. 9 Verwaltungsverfahrensgesetz v. 25. 5. 1976 (BGBl I S. 1253). 10 Abgabenordnung v. 16. 3. 1976 (BGBl I. S. 613). 11 Sozialgesetzbuch (Verwaltungsverfahren) v. 26. 8. 1980 (BGBl. I S. 1469). 12 Gitter I Hahn I Kemmler, Die Verdrängung des Zivilrechts durch das Sozialrecht - dargestellt am Unterhaltsrecht (SGb. 1979 S. 195 ff.); Gitter, Bundessozialgericht und Zivilrecht, NJW 1979 S. 1024 ff.

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Sicherung der Frau, wie sie durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. März 1975 veranlaßt worden ist. Bei dem bevorstehenden Reformwerk handelt es sich nämlich nicht "nur" um einen marginalen Bereich der nichtintakten Ehen wie beim Versorgungsausgleich, sondern um die Normalfälle, die ein nicht vergleichbar breiteres und umfassenderes Spektrum haben. Die gegenseitige Kommunikation zwischen diesen beiden Rechtsgebieten besteht bereits in anderen Bereichen seit geraumer Zeit, z. B. bei dem Ineinandergreifen von öffentlich-rechtlicher Entschädigung und zivilrechtlichem Schadensersatz13. Ebenso ergeben sich vielfältige Verbindungen zum Arbeitsrecht14, die vor allem mit dem Arbeitsverhältnis zusammenhängen, das ganz überwiegend ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis ist und nicht nur Ansprüche aus Lohn und Gehalt erzeugt, sondern auch die Grundlage für sozialversicherungsrechtliche Leistungen bildet. Nicht zu leugnen sind schließlich die Bezüge zum Steuerrechtt 5, die sich z. B. im gemeinsamen Rechtsbegriff des entgeltlichen Beschäftigungsverhältnisses zeigen. Sie gewinnen jetzt auch in anderen Bereichen an Aktualität, z. B. bei der Frage der Besteuerung der Beamtenpensionen und Renten, die das Bundesverfassungsgericht am 26. 3. 1980 entschieden hat (JZ 1980, 566 ff.); ferner bei der weiteren Finanzierung der Rentenversicherung. Die Skepsis der Anwaltschaft gegenüber dem Sozialrecht rührt auch aus einer weitgehenden Unkenntnis dieser Rechtsmaterie, die bis vor kurzem in geradezu sträflicher Weise in der juristischen Ausbildung vernachlässigt worden ist. Das gilt sowohl für den universitären Bereich als auch für den juristischen Vorbereitungsdienst. Bis weit in die fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts galt das Sozialrecht als ein völlig uninteressantes, gesellschaftlich nicht hoffähiges, wissenschaftlich unproduktives, wirtschaftlich nicht lukratives und pädagogisch unergiebiges Rechtsgebiet. Demgegenüber blieb es an den Universitäten völlig unterrepräsentiert und die juristischen Studien- und Prüfungsordnungen nahmen von dessen Existenz kaum Notiz. Es bestand ein krasses Mißverhältnis zwischen der Bedeutung des Sozialrechts und seiner Berücksichtigung in Forschung, Lehre und Ausbildung. Eine Tendenzwende brachte in den letzten Jahrzehnten nicht nur die allgemeine sozialpolitische Entwicklung, das gesteigerte soziale Wertbewußtsein, sondern auch das Verfassungsrecht mit seinen Grundta Zacher, Sozialrecht als interdisziplinäre Aufgabe, Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichtsverbandes, Band XIV 8'. 50 [55]. 14 Birk, Bundessozialgericht und Arbeitsrecht, NJW 1979 S. 1017 ff. 15 Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, 1965 S. 210 ff.

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rechten und dem Sozialstaatsprinzip, die erst vielfach im positiven Sozialrecht ihre Konkretisierung und Aktualisierung erfahren; ferner die kodifikatorischen Arbeiten im Rahmen des in Angriff genommenen Sozialgesetzbuchs, die der sozialrechtlichen Diskussion in Wissenschaft und Praxis neue Impulse und Anregungen vermitteln. Hinzu kamen sozialrechtliche Aktivitäten in verschiedenen neu entstandenen sozialrechtlichen Zentren. Bereits seit der Mitte der siebziger Jahre wird das Sozialrecht oder dessen Teile, insbesondere das Sozialversicherungsrecht, als Wahlfach neben den Pflichtfächern an allen juristischen Fakultäten der Bundesrepublik angeboten. In keinem Bundesland bildet es jedoch allein eine Wahlfachgruppe. Es ist auch nirgends Pflichtfach. Lediglich in Hessen gehört das Sozialhilferecht als ein Teil des besonderen Verwaltungsrechts zu den Pflichtfächern. In allen Bundesländern mit Ausnahme des Saarlandes ist es mit arbeitsrechtlichen Teilgebieten - ganz überwiegend mit dem Mitbestimmungs-, Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsrecht- in einer Wahlfachgruppe zusammengefaßt. Im Saarland ist das Sozialrecht in einer besonderen Wahlfachgruppe mit dem Verwaltungsrecht gekoppeltl6 • Im Vorbereitungsdienst wurde bisher von der Möglich!keit des § 5 a DRG (danach können die Referendare nach ihrer Wahl zusätzlich die Ausbildungszeit zum Dienst bei einem Gericht der Verwaltungs-, der Finanz-, der Arbeits- oder Sozialgerichtsbarkeit verwenden), besonders in bezug auf das Sozialrecht kaum Gebrauch gemacht. Das lag daran, daß die Auszubildenden im Hinblick auf den kurzen zweijährigen Vorbereitungsdienst glaubten, die Wahlstelle zu einer Verbesserung der im Rahmen der Pflichtausbildung erworbenen praktischen Kenntnisse zu nutzen. Mitentscheidend ist auch, daß das Sozialrecht in der zweiten Staatsprüfung nur ganz vereinzelt geprüft wird. Die jetzt vorgenommene Verlängerung der Referendarzeit um 1/2 Jaihr (BGBl 1980 S. 1451) sollte zu einer mindestens dreimonatigen sozialrechtlichen Pflichtstation führen, wie es das Land Nordrhein-Westfalen gefordert hatn. Relativ starke Berücksichtigung findet das Sozialrecht in der einstufigen Juristenausbildung, die an den Universitäten Augsburg, Bielefeld, Bremen, Harnburg (FB 2), Hannover, Konstanz, Trier und neuerdings auch in Bayreuth erprobt wird. Hier gelten nicht die allgemeinen juristischen Ausbildungsordnungen mit den erwähnten Wahlfachgruppen, son18 v. Maydell, Untersuchung über die sozialrechtliche Ausbildung der Juristen an den Universitäten der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere im Wahlfachstudium, Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichtsverbandes, Band XVI (1977) S. 110 ff.; Rupert Scholz, Das Sozialrecht im neuen Ausbildungs- und Prüfungsrecht, ZSR 1971 S. 641 ff. 17 BR-Drucks. 566/79.

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dern eigenständige spezielle Regelungen und Studienpläne, die wiederum sehr unterschiedlich von Universität zu Universität ausgestaltet sind18• Ganz überwiegend gehört das Sozialrecht bzw. Teile davon - vor allem das Sozialversicherungsrecht - zu den Pflichtfächern im Hauptstudium. Diese wesentliche Verbesserung im Lehrangebot auf den Universitäten - das noch steigerungsfähig und steigerungsbedürftig ist - und die zu erwartende Intensivierung der sozialrechtlichen Ausbildung während des Vorbereitungsdienstes dürften wesentlich dazu beitragen, daß der anwaltschaftliehe Nachwuchs über das Sozialrecht bessere Informationen erhält und dadurch zur intensiveren Beschäftigung mit diesem Rechtsbereich motiviert wird. Hinzu kommen die vermehrt angebotenen sozialrechtlichen Fortbildungsmöglichkeiten für die postassessorale Zeit. Ihre Aufgabe besteht darin, denjenigen die sich dem Sozialrecht in Verwaltung, Rechtsprechung, Wirtschaft oder Advokatur widmen möchten oder dort bereits tätig sind und das Bedürfnis haben, berufsfeldbezogene Kenntnisse im Sozialrecht zu erwerben, zu vertiefen oder sie den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft anzupassen, praxisgerechte, wissenschaftlich untermauerte Seminare- je nach Bedarf- von unterschiedlicher Dauer und Ausrichtung bereitzustellen. Für den anwaltliehen Bereich sind in diesem Zusammenhang zu nennen: die seit 1978 bestehenden, gut besuchten sozialrechtlichen Fortbildungskurse der vom Deutschen Anwaltverein getragenen "Deutschen Anwaltsakademie" und das von der Bundesrechtsanwaltskammer errichtete "Deutsche Anwaltsinstitut e. V.". Damit übernimmt die Anwaltschaft mit Recht ein Stück Verantwortung für die Ausbildung ihres Nachwuchses und die Fortbildung ihrer Standesmitglieder auch in Bereichen, die noch immer unzulänglich abgedeckt sind. Das entbindet jedoch den sozialen Rechtsstaat nicht von seiner Verpflichtung, vermehrte Anreize für ein stärkeres Engagement der Anwaltschaft auf dem Gebiet des Sozialrechts zu schaffen, die hierfür bestehenden Voraussetzungen zu verbessern und attraktiver zu gestalten, damit der Anwalt wirklich des Bürgers Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten - wie es die Bundesrechtsanwaltsordnung vorsieht -, auch in denen des Sozialrechts mit gutem Gewissen sein kann. 18 v. Maydell, Untersuchung über die sozialrechtliche Ausbildung der Juristen an den Universitäten der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere im Wahlfachstudium, a.a.O. S. 122 ff. mit weiteren Nachweisen; derselbe, Das Sozialrecht in den Prüfungsordnungen und Lehr- und Studienplänen der einstufigen Juristenausbildung - V'bersicht -, Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichtsverbandes, Band XVII S. 166 ff.

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ß. Unbefriedigende gesetzliche Regelungen

Die gegenwärtige Situation läßt in vielfacher Hinsicht zu wünschen übrig. Das gilt insbesondere für den Bereich der Sozialgerichtsbarkeit, deren Zuständigkeit sich hauptsächlich auf öffentlich-rechtliche Streitigkeiten in Angelegenheiten der Sozialversicherung, der Arbeitslosenversicherung und der übrigen Aufgaben der Bundesanstalt für Arbeit sowie der Kriegsopferversorgung erstreckt(§ 51 SGG). Hier geht es darum, das Engagement der Rechtsanwälte in allen Gerichtsinstanzen zu stärken und zu fördern, das Defizit an anwaltschaftlicher Beteiligung recht bald zu beheben. Es läge im Interesse der Bürger und der Anwaltschaft, wenn der Vertretungszwang, der bisher nur für das Verfahren vor dem Bundessoziaigericht besteht(§ 166 SGG), auch für die oberen Landesgerichte, die Landessozialgerichte, eingeführt würde. Das bedeutete keine Schmälerung der Stellung der Verbände- eher ihre Stärkung- noch eine Einschränkung des Vertretungsprivilegs der Behörden. Dem Bürger ermöglichte es eine bessere Vertretung vor den Landessozialgerichten, der letzten Tatsacheninstanz, in der vielfach der restlosen Aufklärung des Sachverhalts eine ganz entscheidende Rolle zukommt. Eine entsprechende Regelung besteht für das arbeitsgerichtliche Verfahren (§ 11 Abs. 2 ArbGG). Ein derartiger Vertretungszwang würde zwar den Rechtsschutz verteuern, entspräche aber letztlich dem wohlverstandenen Interesse der Beteiligten und dem der Rechtspflegetu. Unangemessen und für den minderbemittelten Bürger nachteilig wirkt sich aus, daß in der Sozialgerichtsbarkeit - abweichend von den Regelungen in den anderen Verfahrensordnungen - vor den Tatsacheninstanzen die Bewilligung des Armenrechts und die Beiordnung eines Rechtsanwalts nicht vorgesehen ist (die jetzt seit dem 1. 1. 1975 bestehende Ausnahme - § 72 SGG -, der in der Praxis keine nennenswerte Bedeutung zukommt, kann hier außer Betracht bleiben). Die gegenwärtige Regelung mag nicht verfassungswidrig sein (BVerfGE 9, 124); sie widerspricht jedoch dem Grundsatz der prozessualen Chancengleichheit der Parteien und ist reformbedürftig. Die Vertretungsmöglichkeit durch Verbände löst das Problem nicht. Denn auch denjenigen, die keinem Verband angehören und auch nicht angehören wollen, müßten die gleichen Prozeßchancen eingeräumt sein wie den "Organisierten". 1 g Hoppe, Die Regelung der Vertretung vor den oberen Bundesgerichten bei einer Vereinheitlichung der verwaltungsgerichtlichen Verfahrensordnungen, DVBl. 1968 S. 161.

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Hinzu kommt eine weitere Ungleichgewichtigkeit. In der weitaus überwiegenden Zahl der sozialgerichtlichen Verfahren der ersten und zweiten Instanz stehen dem nicht vertretenen, in der Regel prozessual unerfahrenen Bürger als Prozeßvertreter der anderen Partei sach- und fachkundige Beamte und Angestellte der Sozialversicherungsträger oder der Behörden gegenüber. Hier einen Ausgleich vorzunehmen, bemüht sich das Sozialgerichtsgesetz bedauerlicherweise lediglich im medizinischen, nicht aber im juristischen Bereich (vgl. aber hierzu z. B. die Regelung in § 11 a ArbGG, wonach die arme, nicht durch einen Verband vertretene Partei Anspruch auf Beiordnung eines Rechtsanwalts hat, wenn die Gegenpartei anwaltschaftlieh vertreten ist). Nach § 109 SGG hat das Gericht auf Antrag des Versicherten oder Versorgungsberechtigten einen bestimmten Arzt seines Vertrauens zu hören. Dadurch soll ein Gegengewicht gegenüber dem ärztlichen Dienst der Versicherungs- und Versorgungsträger geschaffen werden20 • Unrichtig ist die gelegentlich geäußerte Meinung21 , die Chancengleichheit der Beteiligten vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit sei dadurch gewährleistet, daß der sozial Schwache durch den hauptamtlichen Richter umfassend aufzuklären und zu beraten ist. Hier wird verkannt, daß Prozeßleitung, mag sie noch so fürsorglich sein, sich grundsätzlich von Interessenwahrnehmung unterscheidet. Der Richter darf sich nicht in die Rolle des Anwalts begeben, der mit dem Kläger überlegt, wie der Widerstand der Verwaltung am geschicktesten überwunden werden könnte. Die Grenzbereiche der gebotenen Erörterung und der verbotenen Beratung hat auch der Richter zu beachten.

Es dürfen nicht in einer dem Rechtsstaatsprinzip widersprechenden Weise die Funktionen der Beratung, der Prozeßvertretung und der Entscheidung vermischt und vermengt werden22 • Der Richter muß zwar dem rechtsuchenden Bürger Hilfe leisten, damit er seine berechtigten Ansprüche durchsetzen kann. Auf diese Hilfe ist aber auch die Verwaltung angewiesen, die sich vielfach im Spannungsverhältnis gegensätzlicher Interessen befindet und der nicht selten nur mangelhafte Gesetze zur Verfügung stehen. Der Richter ist Schlichter und Mittler. Er versetzt sich rückwärtsgewandt in die Rolle des Klägers und des Beklagten23 • 20 Wannagat, Der Richter der Sozialgerichtsbarkeit und die Sozialordnung, in: Jahrbuch "Die Sozialordnung der Gegenwart" Band 12 (1973) S. 43 [48]. 21 z. B. Geschwinder, Mutwillenskosten für den Anwalt vor den Sozialgerichten?, SGb. 1975 S. 440 ff. 22 PZagemann, Das Armenrecht im sozialgerichtlichen Verfahren, SGb. 1976 s. 165 ff. 23 Wannagat, Zur Bedeutung des gerichtlichen Verfahrens, SGb. 1976 S. 469 ff.; derselbe, Für ein stärkeres Engagement der Anwaltschaft in der Sozialgerichtsbarkeit, NJW 1977 S. 878 ff.

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111. Günstigere Neuregelungen

Erhebliche Verbesserungen bringt das neue Prozeßkostenhilfegesetz vom 13. 6. 1980 (BGBl I S. 677), das am 1. 1. 1981 in Kraft tritt. Es löst das unzulängliche Armenrecht, wie es in §§ 114 ff. ZPO geregelt ist, ab. Der Bürger mit geringem Einkommen soll in die Lage versetzt werden, vor den Gerichten seine Rechte in gleicher Weise verfolgen zu können, Wiie dies einer vermögenden Partei möglich ist. Für Rechtsuchende, die bestimmte Einkommensgrenzen nicht erreichen, ist völlige Kostenfreiheit vorgesehen. Bürgern, deren Einkünfte zwar oberhalb dieser Grenze liegen, aber ihre Rechte nur unter erheblich,er Einschränkung ihrer angemessenen Lebenshaltung durchsetzen können, wird Ratenzahlung eingeräumt. Der die Prozeßkostenhilfe in Anspruch nehmenden Partei wird die freie Wahl eines Anwalts ihres Vertrauens garantiert. Die Beiordnung erfolgt bei Anwaltszwang immer, ansonsten wenn im Einzelfall eine Vertretung durch Anwälte geboten ist oder- und das ist neu (in Anlehnung an die in § 11 a ArbGG getroffene Regelung) -unabhängig davon, wenn auch der Gegner durch einen Rechtsanwalt vertreten ist. Die Gebühren, die der im Wege der Prozeßkostenhilfe beigeordnete Anwalt aus der Staatskasse erhält, werden gegenüber den bisherigen Armenrechtsgebühren - vor allem in den unteren Bereichen - angehoben. Unverändert bleibt jedoch der Grundsatz bestehen, daß das Honorar des beigeordneten Anwalts geringer ist als die Regelgebühr. Das ist unbefriedigend24, zumal im vergleichbaren Sozialhilfebereich der Arzt für die Behandlung Sozialbedürftiger die Regelvergütung erhält (§ 37 Abs. 3 BSHG). Diese schlechtere Vergütungsregelung für Anwälte ist weder begründet noch überzeugend. Es soll aber nicht verkannt werden, daß das Gesetz im großen und ganzen wesentliche Verbesserungen für den beigeordneten Anwalt enthält. Diese Prozeßkostenhilfe gilt uneingeschränkt für den Bereich der Sozialgerichtsbarkeit, also auch für das Verfahren vor den Sozialgerichten und Landessozialgerichten. Als eine Ergänzung des Prozeßkostenhilfegesetzes stellt sich das Beratungshilfegesetz vom 18. 6. 1980 dar25 • Danach besteht die in Aussicht genommene Hilfe in der Beratung und Vertretung im vor- und außergerichtlichen Bereich. Das Gesetz26 will sicherstellen, daß minderbemittelte Bürger wegen ihrer finanziellen Lage außerhalb 24

Kollhoser, Prozeßkosten als Sozialhilfe in besonderen Lebenslagen, ZRP

1979 s. 297 [301 f.].

Es tritt auch am 1. 1. 1981 in Kraft (BGBI. I S. 689). Zur parlamentarischen Beratung lag auch der Gesetzentwurf der CDU/ CSU-Fraktion v. 17. 4. 1978 (BT-Drucks. 8/1713) vor. 25

28

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eines gerichtlichen Verfahrens nicht des unabhängigen und sachkundigen Rechtsrats entbehren müssen. Sie sollen ebenso wie die Rechtsuchenden, die über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, in die Lage versetzt werden, sich zur Wahrung ihrer Interessen der Hilfe eines Rechtsanwalts zu bedienen, dessen Sache es sein soll, auch hilfsbedürftige Bürger rechtlich zu betreuen. Dem Rechtsuchenden ist - soweit ihm nicht mit einer sofortigen Auskunft geholfen oder wenn er nicht an eine andere Auskunftsstelle weiterverwiesen werden kannein Berechtigungsschein zur Inanspruchnahme eines Rechtsanwalts seiner Wahl auszustellen. Dieser ist grundsätzlich verpflichtet, die notwendige Hilfe zu gewähren. Er wird für seine Tätigkeit durch eine pauschalierte, vom Gegenstandswert unabhängige Vergütung- was Auseinandersetzungen über die Umstände des § 12 BRAGO erspart- aus öffentlichen Mitteln entschädigt. Für den Ratsuchenden sind Beratung und Vertretung, abgesehen von einer geringen Anerkennungsgebühr, kostenfrei. Die Prüfung der Voraussetzungen für die InanspruchPahme der Beratungshilfe obliegt den Amtsgerichten, und zwar den Rechtspflegern. Der Anwalt prüft - unabhängig von der erteilten Bewilligung- selbständig, in welchem Umfang Beratung und sonstiger Beistand erforderlich sind. In Eilfällen soll der Rechtsanwalt unter bestimmten, engumgrenzten Voraussetzungen selbst über die Berechtigung zur Inanspruchnahme des Betreuungssystems entscheiden können. Der Rechtsuchende muß dem Anwalt seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse glaubhaft machen und versichern, daß ihm in dieser Sache Beratungshilfe weder gewährt noch abgelehnt worden ist. Die Eigenleistung von 10 DM zahlt er an den Anwalt, der diesen Betrag aUf seinen Vergütungsanspruch gegen den Fiskus anzurechnen hat. Das gilt allerdings nur für die Rat- oder Auskunftserteilung. Hält der Anwalt eine Vertretung für erforderlich, so bedarf es zunächst der Bewilligung des Amtsgerichts. Diese an sich sehr begrüßenswerte Regelung erstreckt sich aber nur auf Angelegenheiten aus den Bereichen des Zivil-, Straf-, Verwaltungs- und Verfassungsrechts. Ausgenommen hiervon sind- was äußerst bedauerlich ist- die Rechtsgebiete des Arbeits- und Sozialrechts. Soweit es sich um den Ausschluß des Sozialrechts handelt- und hierauf sollen die nachstehenden Darlegungen beschränkt bleiben- verletzt das Gesetz die angestrebte Chancengleichheit. Gerade sie soll dadurch verwirklicht werden, daß es Bürgern mit geringem Einkommen und Vermögen - und das sind überwiegend die potentiellen Ratsuchenden aus dem Bereich des Sozialrechts - ermöglicht wird, sich anwaltschaftlich im gleichen Maße beraten zu lassen, wie es den Vermögenden im Hinblick auf ihre finanzielle Lage längst offensteht27 •

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Die Tatsache, daß die §§ 14 und 15 Sozialgesetzbuch- Allgemeiner Teil- jedem einen Anspruch auf unentgeltliche Beratung und Auskunft über seine Rechte und Pflichten nach diesem Gesetzbuch einräumen, macht eine anwaltliehe Beratung und Vertretung nicht überflüssig. Denn einmal ist die Beratungspflicht inhaltlich auf den Bereich des jeweiligen Leistungsträgers begrenzt, so daß bei übergreifenden Rechtsfragen ganz erhebliche Schwierigkeiten, insbesondere im Hinblick auf die Kompliziertheit und Unübersichtlichkeit des Sozialrechts auftreten können; zum anderen wird sich der Bürger vor allem in den Fällen, in denen er einen Rechtsstreit befürchtet, nicht gerade von seinem künftigen prozessualen Gegner Rechtsrat holen wollen28 • Auch überzeugt nicht der Einwand, der hier in Betracht kommende Personenkreis könne sich bei den zuständigen Verbänden mit sozialpolitischer Zielsetzung (den Gewerkschaften, Kriegsopferorganisationen, Arbt>itgeberverbänden usw.) fachkundig beraten lassen; das entspräche auch weitgehend der Praxis. Dies alles mag zutreffen; es darf aber nicht dazu führen, daß Bürger, die keinem Verband angehören, schlechter gestellt werden als die anderen, zumal das Grundanliegen des Gesetzentwurfs darin besteht, dem Minderbemittelten Rechtsberatung durch Inanspruchnahme eines unabhängigen Organs der Rechtspflege, des Anwalts seiner Wahl, seines Vertrauens zu gewähren. Schließlich würde die Aufnahme des Sozialrechts in den Katalog der für die Beratungshilfe zugelassenen Rechtsgebiete auch das Interesse und das Engagement der Anwaltschaft für dieses Rechtsgebiet stärken und fördern. IV. Fachanwälte für Sozialrecht, besondere Zulassung für die Vertretung vor dem Bundessozialgericht Diesem Ziel könnte die Einführung von Fachgebietsbezeichnungen (z. B. für Steuer-, Verwaltungs-, Arbeits- und Sozialrecht) für Rechtsanwälte dienen, die sich durch besondere Kenntnisse und Erfahrungen auf dem jeweiligen Rechtsgebiet ausweisen. Diese Berechtigung sollten die zuständigen Anwaltskammern nach möglichst einheitlichen Gesichtspunkten aussprechen29 • Dadurch wäre für den Rechtsuchenden, aber auch 27 a. M.: Baumgärtel, Außergerichtliche Rechtsberatung Minderbemittelter, ZRP 1979 S. 302 [305], der sich lediglich gegen den Ausschluß des Arbeitsrechts von der Beratungshilfe wendet. 28 Rüfner, in: Wannagat, Sozialgesetzbuch, Kommentar a.a.O. zu§ 14 Randziff. 4 und 5. 29 So auch Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer v. 17. 11. 1978, K-A 12 zum Referentenentwurf eines Gesetzes über die Vertretung vor dem

51•

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für die Gerichte und Verwaltungen besser erkennbar, wo eine sachgerechte, fachlich hochqualifizierte anwaltliehe Beratung und Vertretung in Fragen des Sozialrechts zur Verfügung steht. Auf diese Anwälte könnte dann auch die Prozeßvertretungsbefugnis vor dem Bundessoziaigericht beschränkt sein30 • Von der Notwendigkeit einer besonderen Prozeßvertretung bei den obersten Gerichtshöfen des Bundes geht auch der Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums für ein Gesetz über die Vertretung vor dem Bundesverwaltungsgericht, dem Bundesfinanzhof, dem Bundesarbeitsgericht und dem Bundessozialgericht (Stand: 1. 7. 1978) aus 31 • Er sieht aber für die Auswahl der Rechtsanwälte ein besonderes staatliches Zulassungsverfahren vor. Danach sollen vor dem Bundessozialgericht nur Anwälte auftreten dürfen, die durch besondere bei diesem Gerichtshof gebildete Ausschüsse32 zugelassen sind. Ist die Antwort auf die Frage, auf welchem Wege die Prozeßvertretungsbefugnis erlangt werden kann, noch umstritten, so besteht jedoch weitgehend Einigkeit darüber, daß die Regelung einer besonderen Prozeßvertretung bei den obersten Gerichtshöfen des Bundes (für den Bundesgerichtshof besteht sie längst-§§ 162 ff. BRAO) dringend notwendig ist. Nur so kann das Ziel erreicht werden sicherzustellen, daß Parteien in dem Verfahren vor dem Bundessozialgericht durch Rechtsanwälte vertreten werden, von denen eine optimale Wahrnehmung der Interessen ihrer Mandanten erwartet werden kann. Ein Prozeßvertreter kann die Erfolgsaussichten einer Revision oder einer Nichtzulassungsbeschwerde nur dann mit der gebotenen Zuverlässigkeit beurteilen, wenn er über besondere Kenntnisse auf dem Gebiet des Sozialrechts verfügt, des öfteren vor dem Bundessozialgericht auftritt und mit dessen Rechtsprechung ausreichend vertraut ist. Die hohe Zahl der Nichtzulassungsbeschwerden, die seit Einführung dieses Rechtsmittels mit Wirkung vom 1. Januar 1975 als unzulässig von den Senaten des Bundessozialgerichts verworfen werden mußten33, verdeutlicht dieses Problem. Bundesverwaltungsgericht, dem Bundesfinanzhof, dem Bundesarbeitsgericht und dem Bundessozialgericht (Stand: 1. 7. 1978). 30 Vgl. auch Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer a.a.O., die sich gegen die "Einrichtung einer quasi-staatlich lizenzierten ,Fachanwaltschaft' wendet". 31 (Vgl. dazu für das Bundesarbeitsgericht die Schriftliche Anfrage, BTDrucks. 8/1288, Fragen B 85 und 86 sowie die Antwort in den Stenographischen Berichten des Deutschen Bundestages, 8. Wahlperiode, 61. Sitzung v. 8. 12. 1977, s. 4765.) 32 Dem Zulassungsausschuß sollen angehören: der Präsident des Gerichts als Vorsitzender, zwei weitere Richter sowie drei Rechtsanwälte (§ 3 des Referentenentwurfs). 33 1976 ........ 76 Gfo 1978 ........ 84 °/o 1977 ........ 79 Ofo 1979 ........ 78 Ofo

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V. Wirtschaftlicher Anreiz Abschließend sei noch darauf hingewiesen, daß die Anwälte ebenso wie die Angehörigen der anderen freien Berufe bei dem Einsatz ihrer Arbeitskraft auch auf wirtschaftliche Gesichtspunkte Rücksicht nehmen müssen. Das gilt nicht minder für den Bereich des Sozialrechts. Ihr Engagement auf diesem Rechtsgebiet hängt daher in nicht unbeträchtlichem Maße von dem Honorar ab, das ihnen als Äquivalent für ihre Tätigkeit zufließt. Es sollte angepaßt sein an die Gebühren, die dem Anwalt bei Vertretung in Zivilprozessen zugestanden werden. Die Beachtung dieses Grundsatzes erscheint im Hinblick auf den Schwierigkeitsgrad des Sozialrechts (Kompliziertheit und rasche Änderungen dieser Rechtsmaterie) und die erforderliche längere Einarbeitungszeit (auch wegen der unzureichenden Berücksichtigung dieser Rechtsdisziplin in der juristischen Ausbildung) besonders gerechtfertigt. Einen ersten Schritt in diese Richtung enthält das Kostenänderungsgesetz34. Es durchbricht das bisher für das sozialgerichtliche Verfahren bestandene Prinzip, Rechtsanwaltsgebühren nach pauschalierten Rahmensätzen zu berechnen, und läßt in mehreren Bereichen die Berechnung der Gebühren nach dem Gegenstandswert zu. Das gilt für Verfahren aufgrund a) der Beziehungen zwischen Ärzten, Zahnärzten und Krankenkassen sowie öffentlich-rechtlicher Versicherungsträger untereinander und b) öffentlich-rechtlicher Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern und der Bundesanstalt für Arbeit oder einer Berufsgenossenschaft (§ 116 Abs. 2 BRAGO). Ferner ist für das sozialgerichtliche Verfahren das früher geltende Verbot der Honorarvereinbarung aufgehoben worden. Weitere Verbesserungen bei der Honorierung der Tätigkeit der Anwälte im sozialrechtlichen Bereich sollten folgen, damit ihr Engagement auf diesem Gebiet durch eine höhere wirtschaftliche Attraktivität gefördert wird. Der soziale Rechtsstaat sollte ein vitales Interesse daran haben, daß ein für seine Fortentwicklung so bedeutsames Rechtsgebiet wie das Sozialrecht auch von der freien Advokatur mitgeprägt und mitgestaltet wird.

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v. 20. 8. 1975 (BGBl I S. 2189).

"WIRTSCHAFTLICHE VERNUNFT" ALS MAXIME SOZIALER MITVERWALTUNG Von Herbert Wiedemann I. Thema Wie weit praktische Vernunft rechtliche Entscheidungen prägen kann und tatsächlich mitgestaltet, ist seit alters bestritten1 • Nicht bestritten ist jedoch, daß wirtschaftliche Überlegungen und wirtschaftliche Betrachtungsweisen als Argumentationswerte in den Prozeß der Rechtsgewinnung einfließen müssen, und daß selbst dort, wo konträre ideologische Positionen unversöhnlich aufeinandertreffen, eine Lösung angestrebt werden soll, die auch den Vorzug wirtschaftlicher Rationalität und Praktikabilität auf ihrer Seite hat. Angesichts der hohen Konsensfähigkeit des Prinzips der wirtschaftlichen Vernunft wollen wir daher die Frage aufwerfen, ob es nicht auch für die Bewältigung sozialer Konflikte im Arbeits- und Wirtschaftsleben nutzbar gemacht werden kann. Anlaß und Bedürfnis hierzu sind in dreifacher Hinsicht feststellbar: Das Prinzip der wirtschaftlichen Vernunft könnte einmal dazu dienen, überflüssige Auseinandersetzungen zwischen den sozialen Gegenspielern zu vermeiden. Dabei ist an Tarüauseinandersetzungen zu denken, die lediglich beabsichtigen, unumgängliche wirtschaftliche Maßnahmen des Arbeitgebers hinauszuzögern, oder den Widerstand der Gewerkschaften durch vollendete Tatsachen gegenstandslos zu machen. Weiter könnte die Maxime der wirtschaftlichen Vernunft einen Maßstab für die Inhaltskontrolle von Kampfforderungen und Kollektivvereinbarungen bilden. Damit könnte das Vernunftsprinzip schließlich die Grenze koalitionsmäßiger Betätigungsfreiheit darstellen, deren Überschreiten die Rechtswidrigkeit der betreffenden Maßnahmen und Schadenersatzpflichten nach sich zieht. Dabei sei gleich zu Beginn klargestellt, daß es nicht darum geht, ein neuartiges Rechtsprinzip zu entwickeln und eine juristische Allzweckwaffe des kollektiven Arbeitsrechts einzuführen, die überall dort zum Einsatz käme, wo soziale Konflikte einen unerwünscht erscheinenden 1 Vgl. zuletzt Kriele, Recht und praktische Vernunft, 1979; Larenz, Methqdenlehre der Rechtswissenschaft (4. Aufl. 1979) 1 S. 144, ·

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Verlauf zu nehmen drohen. Anliegen der Überlegungen ist es vielmehr, das Prinzip wirtschaftlicher Vernunft als systemimmanentes Strukturelement der bestehenden Arbeits- und Sozialordnung nachzuweisen (II) und die Möglichkeiten und Grenzen seiner Anwendung im Bereich des Tarifvertrags- und Arbeitskampfrechts aufzuzeigen (III). II. Bestandsaufnahme 1. Betriebsverfassungsrecht

"Im Betriebsverfassungsrecht ist Leitlinie für das Verhältnis zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber/Unternehmer der zugleich humane und wirtschaftlich arbeitende Betrieb und das humane und wirtschaftlich arbeitende Unternehmen (§§ 2 Abs. 1, 76 Abs. 5 Satz 3, 4, 112 Abs. 4 Satz 2 BetrVG). Das Betriebsverfassungsgesetz ist bei seiner Regelung des Verhältnisses zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber/Unternehmer mehr und anderes als eine bloße Konfliktsordnung - die von ihm gesetzte Zielbestimmung ist die Zusammenarbeit im Interesse der Menschen und der Wirtschaft einschließlich des wirtschaftlichen Ergebnisses"2. Mit diesen Worten hat der Jubilar, dem der vorliegende Beitrag gewidmet ist, die dem Betriebsverfassungsrecht zugrundeliegende Kooperationsmaxime charakterisiert: die von§ 2 Abs. 1 BetrVG 1972 geforderte vertrauensvolle Zusammenarbeit bedeutet nicht nur, daß die Betriebspartner im Umgang miteinander die Regeln des fair play einzuhalten haben; sie sind vielmehr verpflichtet, in einer Atmosphäre gegenseitiger Offenheit3 möglichst ohne Einschalten der Einigungsstelle zu sachlich angemessenen Lösungen zu gelangen. Parameter für die sachliche Angemessenheit sind die Belange des Betriebs und der betroffenen Arbeitnehmer, deren Verwirklichung- jedenfalls idealiter- das gemeinsame Ziel von Arbeitgeber und Betriebsrat sein soll 4• Daraus folgt, daß jede Partei verpflichtet ist, bei den betriebsinternen Auseinandersetzungen auchdie Interessen der anderen Seite zu berücksichtigen; der Arbeitgeber hat also auch die sozialen Belange der Belegschaft, der Betriebsrat die wirtschaftlichen und unternehmerischen Notwendigkeiten zu respektieren5. Kommt eine Einigung auf dieser Basis nicht zustande, so wird sie im Bereich dererzwingbaren Mitbestimmung durch den Spruch der Einigungsstelle ersetzt, die ihre Beschlüsse "unter angemessener Berücksichtigung der Belange des Betriebs und der betroffenen Arbeitnehmer nach billigem Ermessen" trifft; vgl. § 76 Abs. 5 Satz 3 BetrVG 1972. Noch deutlicher kommt der gleiche Gedanke in § 112 Abs. 4 Satz 2 BetrVG 1972 Gerhard Müller, RdA 1979, S. 361, 365; ders., ZfA 1972, S. 213, 236. Vgl. BAG AP Nr. 3 zu§ 23 BetrVG 1952. 4 Fitting I Auffarth I Kaiser, BetrVG, 12. Aufl. 1977, § 2, Rdnr. 2 a. 5 Ähnlich für die Stellung der Gewerkschaften in der Betriebsverfassung G. Müller, RdA 1979, S. 361, 366. 2

3

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für die Aufstellung eines Sozialplans im Wege der Zwangsschlichtung zum Ausdruck: "Die Einigungsstelle hat dabei sowohl die sozialen Belange der betroffenen Arbeitnehmer zu berücksichtigen als auch auf die wirtschaftliche Vertretbarkeit ihrer Entscheidung für das Unternehmen zu achten." Die Einigungsstelle hat innerhalb des durch § 76 Abs. 5 Satz 3 und § 112 Abs. 4 Satz 2 BetrVG 1972 vorgegebenen Ermessensrahmens so zu

entscheiden, wie sich Arbeitgeber und Betriebsrat vernünftigerweise freiwillig geeinigt hätten6 • Durch dieses "Surrogatprinzip" wird wirtschaftliche Vernunft im Rahmen der Betriebsverfassung erzwingbar. Widersetzt sich der Betriebsrat wirtschaftlich gebotenen Maßnahmen des Arbeitgebers, wie z. B. der Einführung von Kurzarbeit bei nachhaltigem Auftragsrückgang, ohne seinerseits triftige Gründe vortragen zu können, so kann der Arbeitgeber der wirtschaftlichen Vernunft- spätestensdurch Anrufen der Einigungsstelle und des Arbeitsgerichts zum Durchbruch verhelfen. Freilich darf nicht übersehen werden, daß die Interessen des Unternehmens einerseits und der Belegschaft andererseits oftmals in einem Spannungsverhältnis stehen, so daß die von der Einigungsstelle zu beschließende "vernünftige Regelung" keinesfalls mit der für das Unternehmen wirtschaftlich optimalen Lösung identisch zu sein braucht. Immerhin ist eine teilweise Deckungsgleichheit erkennbar: weder der Arbeitgeber noch die Belegschaft haben bei verständiger Betrachtung ein Interesse an zeitraubenden Scheingefechten, durch die unumgängliche Maßnahmen unter Herbeireden zusätzlicher Kosten hinausgezögert werden. Als Beispiel mag die bereits erwähnte Einführung von Kurzarbeit oder die Stillegung unrentabler Betriebsteile dienen. Noch deutlicher wird das Prinzip der wirtschaftlichen Vernunft durch die übereinstimmende Interessenlage gedeckt, wenn die Existenz des Unternehmens selbst auf dem Spiel steht. Man mag diese Erscheinung aus der Sicht der Arbeitnehmer mit der Parömie umschreiben, "daß man die Kuh, die man melkt, nicht schlachtet, auch wenn die Melkleistung zeitweise nicht zufriedenstellend ist"7 • Das von beiden Seiten zu respektierende Interesse an der Erhaltung eines wirtschaftlich arbeitenden Betriebes spielt aber keineswegs nur in akuten Unternehmenskrisen eine Rolle; es bildet vielmehr eine allgemein zu beachtende Grenze, jenseits derer die Durchsetzung gruppenegoistischer Ziele nicht mehr zulässig ist. Die Einigungsstelle wird also durch die §§ 76 Abs. 5 Satz 3 und 112 Abs. 4 Satz 2 BetrVG 1972 in die Lage versetzt, für tagespolitische Effekte verwandte Forderungen auf das wirtschaftlich Vernünftige und Angemessene zurückzunehmen. 6

Fitting I Auffarth I Kaiser, § 76

7

Richardi, Sozialplan

s. 76, 77.

BetrVG, Rnr. 32; G. Müller, Betrieb 1973,

im Konkurs (1975), S. 84 ff.

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Daß es sich hier nicht um eine betriebsverfassungsspezifische Überlegung handelt, zeigt die jahrelange Rechtsprechung zur betriebsbedingten Kündigung. Solange die Entscheidung des Arbeitgebers nicht offensichtlich unsachlich oder willkürlich ist, überprüft die Arbeitsgerichtsbarkeit organisatorische oder technische Maßnahmen des Arbeitgebers zur Einsparung von Arbeitsplätzen nicht auf ihre Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeits. Auch im Individualarbeitsrecht sind sachlich gebotene Maßnahmen des Unternehmens hinzunehmen; die gerichtliche Kontrolle greift zuerst gegenüber sachfremden, also rechtsmißbräuchlichen Maßnahmen ein. 2. Unternehmensmitbestimmung

In der Diskussion um die erweiterte Mitbestimmung nachdemMitbestG 1976 ist die Frage in den Vordergrund geruckt worden, ob und gegebenenfalls in welcher Weisetrotz des natürlichen Interessengegensatzes zwischen Kapitaleigner- und Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat des mitbestimmten Unternehmens die Amtsführung dieses Gremiums inhaltlich gebunden bleibt. Als Leitmaximen werden dabei das sog. Gesellschaftsinteresse, das dem Kapitaleignerinteresse in mitbestimmungsfreien Unternehmen entspricht, und das Unternehmensinteresse angeboten, das als mit den Interessen keiner Gruppe identisches Integrationsmittel verwandt wird. Das Argumentationsfeld soll hier nicht erneut aufgerollt werden9 • Bemerkenswert ist im vorliegenden Zusammenhang jedoch, daß mit der einhelligen Anerkennung eines einheitlichen Pflichtenmaßstabs aller Aufsichtsratsmitglieder 10 bereits eine wichtige Vorentscheidung getroffen ist: gemäß § 116 AktG in Verbindung mit § 93 Abs. 1 AktG haben die Aufsichtsratsmitglieder bei ihrer Tätigkeit "die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden"11. Wenn dieser Grundsatz uneingeschränkt auch auf die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat angewandt wird, so kann darin keine zwangsweis.e Vergemeinschaftung von Arbeitnehmer- und Kapitaleignerinteressen erblickt werden. Selbstverständlich vermag die normative Einbindung der Arbeitnehmervertreter eine Interessenausrichtung nicht 8 Vgl. dazu BAG AP Nr. 6 und 7 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung; Neumann, RdA 1979, S. 371, 372. 9 Vgl. dazu Wiedemann, Gesellschaftsrecht, Bd. I (1980), § 11 111, S. 616. 10 Vgl. etwa BGHZ 64, S. 325, 330 f.; Westermann, ZGR 1977, S. 219 ff.; G. Müller, RdA 1979, S. 361, 366; ders., Betrieb-Beilage 511979, 8.12; Meyer I Landrut, AktG-Großkommentar (1973), § 96, Anm. 1; Hoffmann I Lehmann I Weinmann, MitbestG (1978), § 7, Rnr. 129; Wiedemann, BB 1978, S. 5, 10; ders., Anm. zu BVerfG AP Nr. 1 zu§ 1 MitbestG (Bl. 29 R). 11 Bei einer sinngemäßen Ubertragung des § 93 Abs. 1 AktG auf die Verantwortlichkeit der Aufsichtsratsmitglieder wird man wohl von der Sorgfalt eines "ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsmannes" sprechen müssen; so Meyer I Landrut (GroßK), § 96, Anm. 8.

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zu verhindern12 • Die Pflichtenstellung der Aufsichtsratsmitglieder knüpft an ihre Funktion, nicht an ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe an: wer es übernimmt, die Geschäftsführung eines Wirtschaftsunternehmens zu überwachen, muß es sich gefallen lassen, daß seine eigene Aufsichtstätigkeit an den Kriterien kaufmännischer und wirtschaftlicher Sorgfalt gemessen wird. Diese Erkenntnis ist schon deshalb gegenüber dem Verdacht ideologischer Einseitigkeit immun, weil sie die Anerkennung eines bestimmten Wirtschafts- und Gesellschaftssystems nicht voraussetzt, vielmehr für jede denkbare Wirtschaftsordnung gilt. Keine Volkswirtschaft kann es sich leisten, vorhandene Ressourcen zu verschwenden. Zu diesen Ressourcen gehören nicht nur die vielzitierten Rohstoffe und sonstigen Produktionsmittel, sondern auch die vorhandenen Organisationseinheiten. Im Hinblick auf das in ihnen gebundene know-how und die Bedeutung der Betriebe als Existenzgrundlage und soziale Heimat der dort Beschäftigten besteht an ihrer Erhaltung ein hohes Gemeinschaftsinteresse. Das Prinzip wirtschaftlicher Rationalität und Effektivität kann auch in mitbestimmten Unternehmen Geltung beanspruchen. Die an sich zulässige und vom Gesetzgeber sogar beabsichtigte Interessenvertretung durch die Arbeitnehmerbank darf nicht dazu führen, daß wirtschaftlich unvernünftige Maßnahmen toleriert oder umgekehrt aus wirtschaftlicher Sicht zwingend gebotene Entscheidungen (z. B. die Stillegung langfristig unrentabler Betriebseinheiten13) blockiert werden. Das Mitbestimmungsrecht wird also auch hier - ähnlich wie im Betriebsverfassungsrecht - durch den Maßstab wirtschaftlicher Vertretbarkeit eingegrenzt. Debatten über Sachfragen, deren Beantwortung die praktische Vernunft erzwingt, widersprechen dem Geist des Mitbestimmungsrechts und gefährden die Funktionsfähigkeit des Aufsichtsrats14• Ein Aufsichtsratsmitglied, das sich überzeugenden wirtschaftlichen Argumenten aus vermeintlicher Loyalität gegenüber der von ihm repräsentierten Gruppe verschließt, kann seine Amtspflichten nach den §§ 116, 93 Abs. 1 AktG verletzen15 • Dies gilt für die Kapitaleignerseite ebenso wie für die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat. Vgl. Wiedemann, Anm. zu BVerfG AP Nr. 1 zu § 1 MitbestG (Bl. 34 R). Die sich hieraus ergebenden Nachteile für die Arbeitnehmer sind durch einen Sozialplan gemäß § 112 BetrVG auszugleichen. Selbstverständlich muß vor einer solchen schwerwiegenden Maßnahme gründlich geprüft werden, ob sie tatsächlich zwingend geboten ist. Diese Frage bildet auch den Gegenstand eines Interessenausgleichs mit dem Betriebsrat, der gemäß § 111 BetrVG vor Durchführung einer solchen Betriebsänderung zu versuchen ist. 14 Ob mit dem Zweitstimmrecht des Aufsichtsratsvorsitzenden gemäß § 29 Abs. 2 MitbestG einer solchen Gefährdung dauerhaft begegnet werden kann, erscheint fraglich. Jedenfalls vermag das Zweitstimmrecht nicht eine Obstruktionspolitik zu legitimieren, durch die der Aufsichtsrat zu einem auf soziale Konfrontation ausgerichteten "Unternehmensparlament" degeneriert würde. 12

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Herbert Wiedemann 3. Tarifvertragsrecht

Im Gegensatz zwn Betriebsverfassungs- und Mitbestimmungsrecht liegt dem Tarifvertragsrecht ein Konfliktsmodell (auch Gegengewichtsoder Vertragsmodell genannt) zugrunde16. Die Tätigkeit der Kollektivvertragsparteien in den Tarifkommissionen ist nicht auf Kooperation und Integration angelegt; es bestehen zwei deutlich getrennte Fraktionen mit verschiedener Interessenrichtung, die im Verhandlungswege undum eine bekannte Formulierung des Bundesarbeitsgerichts zu übernehmen17- notfalls durch Ausübung von Druck und Gegendruck zwn Abschluß von Tarifverträgen gelangen sollen; erst als Ergebnis des Auseinandersetzungsprozesses wird eine Interesseneinheit gesucht und gefunden18. Grundsätzlich überläßt der Gesetzgeber die Festlegung gerechter Arbeitsbedingungen dem Gegenspiel freier und unabhängiger Koalitionen; er nimmt seine Zuständigkeit auf diesem Gebiet weit zurück 19. Diese Auffassung wird in der jüngsten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Aussperrung nochmals bestätigt: "Eine Kontrolle der Tarifziele durch die Gerichte für Arbeitssachen wäre (von Extremfällen vielleicht abgesehen) ein Eingriff in die Tarifautonomie und kann deshalb bei der Anwendung des arbeitskampfrechtlichen Übermaßverbotes nicht in Betracht kommen"20, Dieser Zurückhaltung entspricht es, daß die maßgebliche Delegationsnorm des Art. 9 Abs. 3 GG lediglich den Umfang der Tarifautonomie bestimmt. Die Ausübung der Tarifmacht wird weder in der Verfassung noch in Vorschriften des Tarifvertragsgesetzes inhaltlich gebunden. 111. Grenzen tarifvertraglicher Konflikte Obwohl das Tarifvertragsrecht im Gegensatz zwn Betriebsverfassungsrecht keinen normativen Pflichtenmaßstab ausdrückt und ein solcher auch nicht- wie im Mitbestimmungsrecht- anderen ergänzenden Rechtsvorschriften unmittelbar entnommen werden kann, erscheint es nicht vertretbar anzunehmen, daß der Gesetzgeber mit der Gewährlei15 Daß die Loyalität gegenüber einer Gruppe hinter gesetzlich auferlegten Pflichten zurückstehen muß, hat der BGH in BGHZ 36, S. 296, 306 f. zutreffend ausgesprochen; ebenso Hoffmann I Lehmann I Weinmann, § 25 MitbestG, Rnr.134. 16 Vgl. dazu Wiedemann I Stumpf, TVG (5. Aufl. 1977), § 1, Rnr. 92 ff. mit weiteren Nachweisen. 17 BAG (GS) AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf (Bl. 7 R). 18 Vgl. Wiedemann, BB 1978, S. 5, 10. 19 Vgl. BVerfGE 44, S. 322, 340 = AP Nr. 15 zu § 5 TVG mit weiteren Nachweisen; AP Nr. 1 zu§ 1 MitbestG. 20 Vgl. BAG, BB Beilage 4/1980, S. 10.

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stung der Tarifautonomie den Tarüvertragsparteien einen Freibrief für wirtschaftswidriges oder verantwortungsloses Handeln ausstellen wollte. Es erhebt sich daher die Frage, ob aus dem bisher in Rechtsprechung und Literatur entwickelten System des Arbeitskampf- und Tarifvertragsrechts eine immanente Beschränkung der Koalitionsbetätigungsfreiheit21 durch die Maxime wirtschaftlicher Vernunft abgeleitet werden kann. 1. Funktionelle Grenzen der Tarifautonomie

Wenig erfolgversprechend ist der Versuch, eine solche inhaltliche Schranke der Tarifautonomie aus ihrer gegenständlichen Begrenzung auf die Regelung von "Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" abzuleiten. Man könnte argumentieren, wirtschaftlich unvernünftige Tarüforderungen und sinnlose Arbeitskämpfe dienten nicht dem wohlverstandenen Arbeitnehmerinteresse und könnten daher nicht dem Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG zugeordnet werden. Dabei würde jedoch übersehen, daß eine funktionale Auslegung des Begriffs der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen sich nicht allein am Schutzbedürfnis der Arbeitnehmer orientieren darf, sondern auch die übrigen Aufgaben der sozialen Selbstverwaltung angemessen berücksichtigt werden müssen 22 • Die Gewerkschaften dürfen sich in Tarifauseinandersetzungen nicht nur von den Interessen ihrer Mitglieder, sondern auch von sekuritätspolitischen Erwägungen leiten lassen. Zweifellos besteht dieses Recht nur innerhalb gewisser Grenzen, die vor allem im Zusammenhang mit den sog. Differenzierungs- und Tarifausschlußklauseln lebhaft diskutiert worden sind 23 • Diese Diskussion ist für das hier interessierende Problem jedoch wenig ergiebig, weil eine Gewerkschaft, die zum Zwecke der Wahlwerbung mit wirtschaftlich unvertretbaren Forderungen in Tarifverhandlungen auftritt und hierüber einen für beide Seiten verlustreichen Arbeitskampf führt, sich hierbei eindeutig innerhalb ihrer funktionellen Zuständigkeit bewegt; anders als bei sekuritätspolitischen Abreden können hier lediglich Motiv und Folgen, nicht jedoch der eigentliche Gegenstand der Kampfforderung (Lohnerhöhung, Urlaubsverlängerung, Rationalisierungsschutz) Bedenken begründen24 . Wenig konsensfähig ist es auch, Grenzen der Tarifautonomie aus (vorgeblichen) über- oder vorgesetzlichen "Grundsätzen des Arbeitsrechts" 21 Vgl. zu dem Begriff BVerfGE 28, S. 295 ff. = AP Nr. 16 zu Art. 9 GG.

Vgl. Wiedemann I Stumpf, TVG,. Ein!., Rnr. 160. s. dazu den Überblick bei Wiedemann I Stumpf, TVG, Ein!., Rnr. 171 ff. 24 Die Konkretisierung des Begriffs der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ist, was die Rand- und Grenzbereiche angeht, eine bis heute ungelöste Aufgabe; vgl. Zöllner, Arbeitsrecht (2. Aufl. 1979), S. 80 ff., 278. Eine überzeugende Antwort zu den anstehenden Fragen der Grenzen der Tarifautonomie (z. B. bei Rationalisierungsmaßnahmen) läßt sich aus der Verfassung schwerlich ablesen. 22

23

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herleiten zu wollen. Im Rahmen von Rationalisierungsmaßnahmen wurde dies versucht, indem die "Bedarfsabhängigkeit der Arbeitsplätze" als tragender Grundsatz des Arbeitslebens entwickelt wurde und tarifvertragliche Besetzungsregelungen dann daran gemessen werden sollten25. Selbst wenn ein derartiges Rechtsprinzip anerkannt wird, wäre es im übrigen mit anderen Rechtswerten zu harmonisieren: das Wirtschaftsprinzip wird im Arbeitsrecht durchweg sozialstaatlich korrigiert; das heißt, daß die Rechtsordnung Kompromisse zwischen dem Sozialschutz und Rentabilitätsinteressen gebietet26 . Im Einzelfall müßten die Tarifvertragsparteien also soziale Gesichtspunkte wie Humanisierung der Arbeit und Arbeitsplatzsicherung gegenüber der - als Grundsatz überzogen formulierten- Bedarfsabhängigkeit der Arbeitsplätze abwägen. 2. Inhaltliche Grenzen der Tarifautonomie

a) Als Einfallstor für die Maxime wirtschaftlich verantwortlichen Koalitionsverhaltens bietet sich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit an, dessen Bedeutung im Arbeitskampfrecht unbestritten ist27• Nach der Terminologie des Bundesarbeitsgerichts umfaßt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Merkmale der Geeignetheit, der Erforderlichkeit (einschließlich des ultima-ratio-Prinzips) und der Proportionalität28 . Das Gebot der Verhältnismäßigkeit, oder besser gesagt, das Verbot der Unverhältnismäßigkeit, stellt ein flexibles Instrument dar, Auswüchse im Arbeitskampfverhalten zu begrenzen; rechtssystematisch handelt es sich um einen Spezialfall des Rechtsmißbrauchs29 • Für die Durchführung von Arbeitskämpfen hat der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts das Übermaßverbot dahingehend konkretisiert, daß hierbei die "wirtschaftlichen Gegebenheiten" zu berücksichtigen seien und das Gemeinwohl nicht offensichtlich verletzt werden dürfe30• DieGemeinwohlbindung der Tarifvertragsparteien wird auch vom Bundesverfassungsgericht als selbstverständlich bejaht31 ; das Schrifttum hat sich dem- wenn auch 25 Vgl. Reuter, ZfA 1978, S. 1, 34 ff. 26 Vgl. dazu ausführlich Zöllner, Gutachten zum 52. Deutschen Juristentag (1978), S. D 72 ff. 27 Grundlegend BAG (GS) AP Nr. 43 zu Art. 9 GG = BAGE 23, S. 292, 306; weiterführend die Aussperrungsurteile BAG, BB Beilage 4/1960, S. 10 ff. 28 Ebenso Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht (1975), S. 146; speziell zur Bedeutung des ultima-ratio-Prinzips vgl. BAG (GS) AP Nr. 1 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = BAGE 1, S. 291, 309; AP Nr. 34 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = BAGE 15, S. 211, 218; AP Nr. 13 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = BAGE 20, S. 175, 195; AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf = BAGE 23, S. 292,306. 29 Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 153; Zöllner, ZfA 1973, S. 227,237. 30 31

AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf, Bl. 6 R. BVerfGE 38, S. 281, 307 = AP Nr. 23 zu Art. 9 GG.

"Wirtschaftliche Vernunft" als Maxime sozialer Mitverwaltung teilweise mit einem deutlichen Unbehagen sen32.

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überwiegend angeschlos-

Hier scheint sich ein Lösungsweg anzubahnen. Wenn die sozialen Gegenspieler bei ihrem Arbeitskampf- und Tarifvertragsverhalten die "wirtschaftlichen Gegebenheiten" zu berücksichtigen haben, liegt offenbar nichts näher, als sie zu einer wirtschaftlich vemünftigen Tarifpolitik zu verpflichten, da überzogene Kampfforderungen und Tarifabschlüsse nicht nur die Existenz der betroffenen Untemehmen gefährden, sondem wegen ihrer Sogwirkung das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht und damit das Gemeinwohl beeinträchtigen können. Die Tarifautonomie wäre demnach, sofern man diesem Lösungsansatz folgt, durch die Maxime der wirtschaftlichen Vemunft begrenzt, deren Inhalt durch die Kriterien der wirtschaftlichen Vertretbarkeit für das jeweils betroffene Untemehmen - analog § 112 Abs. 4 Satz 2 BetrVG 1972 - und die Allgemeinheit konkretisiert würde. b) Dem steht nun freilich ein gewichtiger Einwand entgegen: es entspricht dem Prinzip der staatlichen Neutralität im Bereich des Arbeitskampf- und Tarifvertragsrechts33, daß tarifvertragliche Regelungen und damit auch Kampfforderungen von den Arbeitsgerichten grundsätzlich nicht auf ihre sachliche Berechtigung und wirtschaftliche Angemessenheit nachzuprüfen sind. Gegen eine solche Inhaltskontrolle läßt sich außerdem anführen, daß es unter Zugrundelegung des sog. Gegengewichtsprinzips dem Ermessen der Tarifvertragsparteien überlassen bleiben müsse, welche Tarifvertragsvereinbarungen sie für angemessen und wirtschaftlich vertretbar halten; es ist Sache der Arbeitgeber, ihre Leistungsfähigkeit richtig einzuschätzen und zu weit gehenden Forderungen Widerstand entgegenzusetzen34 • Eine Nachprüfung von Kampfforderungen und Kampfergebnissen auf ihre wirtschaftliche Vertretbarkeit wird nicht zu Unrecht als eine "das bisherige Arbeitskampfrechtssystem überwindende Reform" 35 bezeichnet. Um solchen Befürchtungen entgegenzutreten, hat der Jubilar im Wege der authentischen Interpretation zu verstehen gegeben, daß der Große Senat mit seinen Ausführungen zur Beachtung der wirtschaftlichen Gegebenheiten die Arbeitsgerichte nicht zu Treuhändem der Arbeitmachen wollte 36 •

Vgl. die Übersicht bei Wiedemann I Stumpf, TVG, Einl., Rnr. 194. Dazu ausführlich Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 176 ff. 34 Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 556. Vgl. ferner z. B. Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie (1964), S. 215; Reuß, AuR 1975, S. 289 ff.; Löwisch, ZfA 1971, S. 319, 334 f. 35 Rüthers, in: Das Arbeitsrecht der Gegenwart, Bd. 10 (1973), S. 23, 32; ders., in: Gedächtnisschrift für Rolf Dietz (1973), S. 299, 319 f. 36 Gerhard Müller, GewMH 1972, S. 273, 277 f. 32

33

BIS

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Vor "Holzhammermethoden" 37 ist zu warnen. Ein Staat, der einerseits die Tarifautonomie verfassungsrechtlich garantiert, andererseits die staatlichen Gerichte über die Vernünftigkeit und Angemessenheit von Tarifregelungen wachen läßt, nimmt mit der einen Hand, was er mit der anderen gegeben hat. Ein unverzichtbares Wesensmerkmal tarifvertraglicher Gestaltung liegt gerade darin, daß ihre Träger - innerhalb der durch Recht und Gesetz vorgegebenen Grenzen - grundsätzlich eigenverantwortlich darüber entscheiden, welche Regelungen sie für verhältnismäßig, wirtschaftlich vernünftig und gemeinwohlverträglich halten38• Indem der Verfassungsgeber den Koalitionen das Tarifvertragssystem zur Verfügung stellte, nahm er in Kauf, daß vernünftige Regelungen oftmals erst nach langwierigen, für beide Seiten verlustreichen und - aus der Perspektive des allgemeinen Beobachters - möglicherweise sogar überflüssigen Auseinandersetzungen gefunden werden. Und selbst wenn vom Standpunkt eines "billig und gerecht Denkenden" noch nicht einmal das Ergebnis eines solchen Prozesses dem Gebot wirtschaftlicher Vernunft entspricht- man denke etwa an unverhältnismäßige Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienst - so ist damit allein der Weg zu einer gerichtlichen Tarifzensur oder Tarifkorrektur nicht eröffnet. c) Was bleibt nach alledem von der eingangs erwähnten Verpflichtung der Tarifvertragsparteien auf wirtschaftlich vernünftiges Verhalten? Moralische Appelle (moraL suasion) gegenüber den Tarifvertragsparteien haben die gleiche Berechtigung, aber auch die gleich begrenzte Wirkung, wie gegenüber anderen Wirtschaftskräften. Wenn man es nicht dabei belassen will, müssen trotz der dargelegten Vorbehalte an den Verstoß gegen die wirtschaftliche Vernunft Rechtsfolgen geknüpft werden. Hierfür lassen sich beachtenswerte Argumente anführen. Auch wenn der Verfassungsgeber den Tarifvertragsparteien mit dem Tarifsystem einen von Drittkontrolle freien Handlungsspielraum zur Verfügung stellen wollte, so kann dessen Begrenzung doch nicht allein Sache der Tarifvertragsparteien sein. Eine absolute Tarifautonomie ist mit dem Rechts- und Sozialstaatsprinzip des Art. 20 GG unvereinbar3 9 • Wie jede Rechtsausübung unterliegt auch die Ausübung der staatlich verliehenen Tarifautonomie den Schranken des institutionellen und individuellen Rechtsmißbrauchs40 • Ein institutioneller Mißbrauch der Tarifautonomie So drastisch, aber in der Sache zutreffend Reuß, AuR 1975, S. 289. In diesem Sinne bereits Schönberg, Deutsche Revue 23/4 (1898), S. 349, 350 (zitiert bei Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 177, Fußn. 19): "Ob die Arbeitsbedingungen, welche die Arbeiter fordern, nach der Lage der Verhältnisse berechtigte oder unberechtigte, vernünftige oder unvernünftige sind, ist für die Frage der Sanktionierung des Rechts zu streiken irrelevant." 39 Vgl. dazu auch Wiedemann I Stumpf, TVG, Einl., Rnr. 199. 40 Vgl. dazu Wiedemann, ZGR 1980, S. 147, 161 ff., 164. 37

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kann gegeben sein, wenn die Tarifvertragsparteien davon in einer der Leitidee dieses Rechtsinstituts zuwiderlaufenden Weise Gebrauch machen. Die inhaltliche Bindung der kollektiven Gestaltungsfreiheit folgt auch hier aus einem funktionsbezogenen Ansatz: Aufgabe der Tarifautonomie ist es, innerhalb einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung Interessenkonflikte über Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen- notfalls unter Einsatz von Kampfmitteln - auszutragen und zum Ausgleich zu bringen41 • Diese Ordnungs- und Friedensfunktion der Tarifautonomie ist nur dann gewährleistet, wenn die Tarifvertragsparteien unbeschadet ihrer gegensätzlichen Interessen die vorhandenen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen anerkennen und zur Grundlage ihrer Beratungen machen. Die Wahr11.ng und Förderung der Arbeits- und WirtschaftsbP~ dingungen durch die Kollektivvertragsparteien setzt voraus, daß sie den wirtschaftlichen Ist-Zustand zur Kenntnis nehmen und auf einer realistischen Basis die ihnen zugedachte Aufgabe wahrnehmen. Eine Koalition, die die wirtschaftlichen Verhältnisse ignorieren und ihre Verhandlungs- und Arbeitskampftaktik allein nach sekuritätspolitischen oder ideologischen Gesichtspunkten ausrichten würde, müßte sich selbst in Frage gestellt sehen. Die Koalitionsbetätigungsfreiheit wäre zum Selbstzweck degradiert, so daß keine angemessene Relation zwischen dem Wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Nutzen der Tarifautonomie und den tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Kosten für die Allgemeinheit bestünde. Das vom Großen Senat des Bundesarbeitsgerichts konstatierte Gebot der Beachtung der wirtschaftlichen Gegebenheiten findet mithin im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und im Verbot des Rechtsmißbrauchs eine rechtliche Legitimation. Um zu verhindern, daß durch die Verpflichtung der Tarifvertragsparteien zu wirtschaftlich vernünftigem Verhalten eine generelle Tarifzensur eingeführt wird, müssen rechtliche Sanktionen auf diejenigen Fälle beschränkt bleiben, in denen die Verletzung dieses Prinzips für den sachkundigen Beobachter offensichtZieh ist. Diese wesentliche Einschränkung ist schon deshalb geboten, weil den Tarifvertragsparteien ein weiter Beurteilungsspielraum hinsichtlich dessen zusteht, was angesichts der wirtschaftlichen Tatsachen sinnvoll und vertretbar ist. Es kann nicht darum gehen, diesen Beurteilungsspielraum zu beschneiden, sondern eine offensichtliche Ausuferung zu unterbinden42 • Die gerichtliche Kontrolle bezieht sich also nicht auf die sachlicheAngemessenheit des Kampfzieles oder des Tarifvertragsabschlusses, sondern lediglich auf die Einhaltung äußerster Schranken koalitionsmäßiger Betätigung, jenseits derer die Berufung auf die Tarifautonomie als Rechtsmißbrauch erscheint. 41 Vgl. BAG AP Nr. 43 zu Art. 9 GG, BI. 6 R; zu den einzelnen Funktionsschichten der Tarifautonomie Wiedemann I Stumpf, TVG, Einl., Rnr. 1 ff., mit weiteren Nachweisen. 42 Vgl. Gerhard Müller, GewMH 1972, S. 273, 277 f.

S2 Festschrift f. G. Müller

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Herbert Wiedemann 3. Schlußfolgerungen

Hinsichtlich der Rechtsfolgen, die an den Mißbrauch kollektiver Gestaltungsfreiheit zu knüpfen sind, ist danach zu unterscheiden, ob durch die Mißachtung der wirtschaftlichen Gegebenheiten der jeweilige soziale Gegenspieler oder zusätzlich die an den Tarifauseinandersetzungen nicht unmittelbar beteiligte Allgemeinheit betroffen wird. Im letzteren Fall haben wir es mit der bereits erwähnten, in Rechtsprechung und Literatur vielfach diskutierten Problematik der Gemeinwohlbindung zu tun, die hier nicht erneut aufgerollt werden soll43 • Das Hauptaugenmerk soll im Rahmen dieser Untersuchung vielmehr auf diejenigen Fälle gerichtet werden, in denen sich eine Tarifvertragspartei zum Nachteil des sozialen Gegenspielers der Einsicht in die wirtschaftliche Notwendigkeit (etwa einer Betriebseinschränkung oder Rationalisierungsmaßnahme) verschließt. a) Die Maxime wirtschaftlicher Vertretbarkeit als Grenze koalitionsmäßiger Betätigungsfreiheit wirkt sich zunächst dann aus, wenn eine Partei der anderen eine tarifvertragliche Regelung aufzuzwingen sucht, die die Leistungs- und Existenzfähigkeit des bzw. der betroffenen Unternehmen nachhaltig gefährden kann. Eine solche Gefährdung ist in doppelter Hinsicht denkbar: zum einen kann das angestrebte Verhandlungsziel als solches unvernünftig oder unverantwortlich erscheinen (wenn etwa die mit der Streikandrohung untermauerte Lohnforderung für ein Unternehmen offensichtlich unannehmbar ist); darüber hinaus ist es vorstellbar, daß bereits durch die Herbeiführung einer Tarifauseinandersetzung das Unternehmen in seiner Handlungs- und Leistungsfähigkeit empfindlich beeinträchtigt wird (so etwa, wenn eine Gewerkschaft die "Basis" mobilisiert, um die Unternehmensleitung unter dem Einfluß der Streikdrohung von der Durchführung unumgänglicher Unternehmensmaßnahmen abzuhalten). Man wird in derartigen Fällen den sozialen Gegenspieler nicht an der - sonst zweifellos vorhandenen4 ' Verhandlungspflicht festhalten können. Keine Partei ist verpflichtet, sich in offensichtlich destruktive Verhandlungen einzulassen. Dabei ist allerdings zu beachten, daß es namentlich bei Lohnverhandlungen zu dem bekannten Kampfritual gehört, den sozialen Gegenspieler mit Maximalforderungen zu konfrontieren, um sich einen möglichst großen Verhandlungsspielraum zu verschaffen. Solange es lediglich um quantitative Momente geht, kann eine drastische Forderung immer noch im Verhandlungsweg auf das wirtschaftlich Vernünftige und Angemessene zurückgenommen werden. 43 Vgl. statt dessen den Überblick bei Wiedemann I Stumpf, TVG, Einl., Rnr. 193 ff. 44 Vgl. Wiedemann I Stumpf, TVG, § 1, Rnr. 80 f., mit weiteren Nachweisen.

"Wirtschaftliche Vernunft" als Maxime sozialer Mitverwaltung

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Ein Wegfall des Verhandlungsanspruchs wird daher eher gegenüber solchen Tarifforderungen in Betracht kommen, die auf eine unter Wirtschafts- und Wettbewerbsgesichtspunkten schlechterdings nicht vertretbare qualitative Veränderung der Marktsituation des Unternehmens hinauslaufen. Zwingend gebotene Unternehmerische Sachentscheidungen dürfen- unheselladet der Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats - nicht durch langwierige Tarifauseinandersetzungen blockiert werden45 • Von Sinnwidrigkeit wird man dann sprechen dürfen, wenn das Beharren der Gegenseite auf dem Verhandlungsanspruch offensichtlich nur dazu dienen kann, eine unumgängliche Maßnahme zeitlich zu verzögern. b) In Fällen des Rechtsmißbrauchs muß als weitere Konsequenz neben dem Wegfall des Verhandlungsanspruchs auch die Rechtswidrigkeit der sich unter Umständen anschließenden Arbeitskampfmaßnahmen überprüft werden. Eine Gewerkschaft, die einen Streik für wirtschaftlich sinnlose Forderungen ausruft, kann sich - trotz formaler Einhaltung des ultima-ratio-Prinzips 46 - nicht auf ihre Arbeitskampffreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG berufen. Es ist weder erforderlich noch verhältnismäßig, eine Tarifforderung, über die wirtschaftlich denkende Unternehmensangehörige nicht sinnvoll diskutieren können, mit der scharfen und die Allgemeinheit ebenfalls beeinträchtigenden Waffe des Arbeitskampfes durchsetzen zu wollen. Sollte das Unternehmen unter dem Druck eines solchen Arbeitskampfes zu einem Tarifvertrag gezwungen werden, so macht sich die Gewerkschaft nach§ 823 Abs. 1 BGB und darüber hinaus unter Umständen auch der einzelne Arbeitnehmer schadensersatzpflichtig. c) Als äußerste Rechtsfolge kommt schließlich die Unwirksamkeit eines inhaltlich untragbaren Tarifvertrages in Betracht. Man könnte einwenden: "volenti non fit iniuria"; zumindest im Rahmen freiwilliger, das heißt nicht durch Arbeitskämpfe erzwungener Tarifvereinbarungen müsse es dem Unternehmen selbst überlassen bleiben, die eigene Belastbarkeit einzuschätzen. Ähnlich wie im Individualvertragsrecht gilt jedoch auch im Kollektivvertragsrecht der Gedanke des Selbstschutzes. Die Zustimmung zum Vertragsschluß beinhaltet eine notwendige, aber keine hinreichende Legitimation für seine Wirksamkeit. Dem Unternehmen ist der "wirtschaftliche Selbstmord" auch im Allgemeininteresse nicht erlaubt. Dabei ist es eine mehr rechtstechnische Frage, ob der Tarifvertrag entsprechend dem Rechtsgedanken des § 138 Abs. 2 BGB 45 Oftmals dürfte in derartigen Fällen ein Verhandlungsanspruch der Gewerkschaften schon deshalb entfallen, weil Unternehmerische Sachentscheidungen nicht im Tarifvertrag geregelt werden können; vgl. Wiedemann I Stumpf, TVG, Einl., Rnr. 186 ff., mit weiteren Nachweisen. 46 s. dazu Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 513 ff.

52•

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Herbert Wiedemann

nichtig ist47 oder ob der Tarifvertrag lediglich nach§ 123 Abs. 1, 2. Alternative BGB angefochten werden kann. IV. Zusammenfassung Die vorstehenden Betrachtungen sollten zeigen, daß die Maxime der praktischen Vernunft auch in der Arbeits- und Wirtschaftsordnung gilt. Am deutlichsten wird dies in§ 112 Abs. 4 Satz 2 BetrVG, der ausdrücklich von der "wirtschaftlichen Vertretbarkeit" der Entscheidung der Einigungsstelle über den Sozialplan spricht. Aber auch im Bereich der Unternehmensmitbestimmung läßt sich eine Verpflichtung der Mitbestimmungsträger zu wirtschaftlich rationalem Handeln aus den §§ 93 Abs. 1, 116 AktG ableiten. Im Arbeitskampf- und Tarifvertragsrecht muß mit Rücksicht auf den Grundsatz der staatlichen Neutralität gegenüber Kampfforderungen allerdings die Nutzanwendung dieses Prinzips auf Fälle evidenten Rechtsmißbrauchs beschränkt bleiben. Dieser Maßstab hat in der Bundesrepublik bislang kaum praktische Bedeutung erlangt. Allein die Tatsache jedoch, daß die Arbeitsgerichte im Rahmen von Schadenersatzprozessen in den vorstehend beschriebenen Grenzen incidenter auch die wirtschaftliche Vertretbarkeit eines Arbeitskampfes überprüfen können, gibt den Tarifvertragsparteien Anlaß, auch in Zukunft eine sinnvolle Zusammenarbeit anzustreben.

47 Zur Drehungsanfechtung von Tarifverträgen, die durch einen rechtswidrigen Streik erzwungen wurden, vgl. Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, S. 385 f.; allgemein zur Anfechtung von Tarifverträgen Wiedemann I Stumpf, TVG, § 4, Rnr. 25.

111. Staatsordnung, Rechtsordnung, Richteramt

NIETZSCHES "BLICK AUF DEN STAAT"*

Versuch einer systematischen Ordnung Von Klaus Adomeit In seinem 1878 vollendeten Buch "Menschliches, Allzumenschliches", Bd. I, hat Nietzsche ein Kapitel Staat und Politik gewidmet, nirgends sonst in seinem Gesamtwerk. Das "Hauptstück" besteht aus numerierten Abschnitten (438- 482)1, einige als kurze Aphorismen, andere mehrere Seiten lang. Die Reihenfolge erscheint willkürlich. Systematisches Denken hatte Nietzsche nicht gemocht und anders denkenden Kollegen "Mangel an Rechtschaffenheit" vorgeworfen. Diese hätten den Vorwurf leicht zurückwerfen können: Nietzsche kann sich mit seinen vielen Widersprüchen und vorsätzlichen Paradoxien eine Systematisierung am wenigsten leisten, auch müßte manches schön Gesagte als obiter dieturn wegbleiben. Gegen seinen Willen wird hier doch versucht, seine am Stück gelieferten Aphorismen zu ordnen: erst dann werden wir Nietzsches Denken diskutieren und mit anderen politischen Philosophien vergleichen können. I. Die kommende Demokratie 1. Rückblick aufs Ancien Regime

Seine beherrschende politische Empfindung ist die: "Unsere gesellschaftliche Ordnung wird langsam wegschmelzen ... ".Ist das gut so? .. Wünschen kann man ... dies nur•... wenn man sich und seinesgleichen mehr Kraft in Kopf und Herz zutraut als den Vertretern des Bestehenden". (443)

* Mit dieser Festschrift wird ein großer Arbeitsrechtier geehrt, der als hoher Richter und wissenschaftldcher Denker dieses Rechtsgebiet unverlierbar geprägt hat. Wer das Glück hatte, von Gerhard Müller ins Gespräch gezogen zu werden, wird wissen, wie stark thn immer Probleme des Staates bewegt haben. Deshalb darf der nachfulgende Text Gerhard Müller gewidmet sein, so fern seinem Denken auch das Denken Nietzsches stehen mag. Gemeinsam ist bestimmt das Bewußtsein der Wichtigkeit des Denkobjekts, um nicht gleich von Sorge ru sprechen. 1 Im folgenden beziehen sich Nummern ohne Zusatz auf dieses Hauptstück. Bei vorgestellten II, 1 oder II, 2 entstammen sie Bd. II (vollendet 1879/80), 1. Abt. bzw. 2. Abteilung. Benutzt wurde die Ausgabe von Karl Schlechta, 1954.

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Nietzsche wirft den Fortschrittsoptimisten Selbstüberschätzung, Anmaßung vor. Für ihn, dessen politische Heimat die griechische Polis möglichst noch vor der sophistischen Aufklärung, auf dem Höhepunkt der Dionysos-Kulte- ist, der sich gern an den Hof eines Borgia phantasiert, bewegt sich die Entwicklung in genau die falsche Richtung. Menschen "von Geblüt" werde es in Zukunft nicht mehr geben. Denn " ... was ihnen unzweifelhaftes Anrecht auf höhere Schätzung gibt, sind zwei durch Vererbung immer mehr gesteigerte Künste: dde Kunst, befehlen zu können, und die Kunst des stolzen Gehorsams". (440) Das Befehlen gebe es zwar auch "in der großen Kaufmanns- und Industrie-Welt"- aber nicht "die vornehme Haltung im Gehorsam!" Die bisher im Militär- und Beamtenstaat hoch geschätzte Subordination werde uns bald "unglaublich" werden, und dann " ... läßt sich eine Menge der erstaunlichsten Wirkungen nicht mehr erreichen, und die Welt wird ärmer sein". (441) Schwinden werde "der Glaube an unbedingte Autorität", möglich nur durch "die angeerbte Adoration vor dem Fürstlichen wie vor etwas Übermenschlichem". "In freieren Verhältnissen ordnet man sich nur auf Bedingungen unter, infolge gegenseitigen Vertrages, also mit allen Vorbehalten des Eigennutzes." (441)

Nur "im Dienste des Fürsten" könne ein Staatsmann wirklich frei, "völlig rücksichtslos" handeln (445). Die Demokratie werde das Fürstentum aushöhlen. "Um der Gefahr jener Aushöhlung vorzubeugen, halten die Könige jetzt mit den Zähnen an ihrer Würde als Kriegsfürsten fest: dazu brauchen sie Kriege ... , in denen jener langsame, gesetzmäßige Druck der demokratischen Gewalten pausiert." (II, 2, 281) Eine bemerkenswerte Theorie des Imperialismus! (IRe zwanglos auch dessen Scheitern erklärt!) Trotzdem: "Die Demokratisierung Europas ist unaufhaltsam." (II, 2, 275)· 2. Demokratie und Staat

Diese moderne Demokratie aber sei "die historische Form vom Verfall des Staates" (472). Der Staat höre auf, ein Mysterium zu sein, das ehrfürchtige und pietätvolle Verhältnis zu ihm sei erschüttert. "Die Souveränität des Volkes, in der Nähe gesehen, dient dazu, auch den letzten Zauber und Aberglauben auf dem Gebiete dieser Empfindungen zu verscheuchen." (472) An die Stelle trete der bloße Aspekt der Nützlichkeit. Von allen Seiten •:lränge man sich heran, um Einfluß auf den Staat zu bekommen.

Nietzsches "Blick auf den Staat"

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"Aber diese Konkurrenz wird bald zu groß, die Menschen und Parteien wechseln zu schnell, stürzen sich gegenseitig zu wild vom Berge wieder herab, nachdem sie kaum oben angelangt sind." (472) [Weimar!] Es fehle allen Maßnahmen der Regierung "die Bürgschaft ihrer Dauer": " ... man scheut vor Unternehmungen zurück, welche auf Jahrzehnte, Jahrhunderte hinaus ein stilles Wachstum haben müßten, um reife Früchte zu zeigen." (472) Betroffen sei auch das Verhältnis zum Gesetz: "Niemand fühlt eine andere Verpflichtung gegen ein Gesetz mehr als die, sich augenblicklich der Gewalt, welche ein Gesetz einbrachte, zu beugen: sofort geht man aLer daran, es durch eine neue Gewalt, eine neu zu bildende Majorität zu unterminieren." (472) Bei Max Weber findet sich eine ähnliche Bemerkung über den reinen Zweckcharakter des Gesetzes im modernen Staat. Um das, was nach dessen "Entzauberung" fehlt, charakterisieren zu können, mußte M. Weber die sehr unsoziologische Vokabel "Charisma" einführen. 3. Masse, Parteien, Demagogie

Die neu ins politische Spiel getretenen Schichten werden "Masse" genannt - später wird Ortega (Le Bon) diese Bezeichnung aufgreifen. Nunmehr handle es sich bei aller Politik darum, möglichst vielen das Leben erträglich zu machen, und " . . . so mögen immerhin diese Möglichst-Vielen auch bestimmen, was sie unter einem erträglichen Leben verstehen." (438) Aber: " ... trauen sie sich den Intellekt zu, auch die richtigen Mittel zu diesem Ziele zu finden?" Schon Voltaire habe richtig gesagt: "quand la populace se mele de raisonner, tout est perdu". Ein sehr unfreundlicher Satz! Die Parteien seien allesamt genötigt, "ihre Prinzipien zu großen Alfresco Dummheiten umzuwandeln", um auf diese Massen zu wirken. Notstände- "zum Beispiel die Gebrechen einer Verwaltung, Bestechlichkeit und Gunstwillkür in politischen oder gelehrten Körperschaften" -würden erst bei grob überzeichneter Darstellung angefaßt -:daher, vor allem in der Presse, ein "allzulauter Ton bei Beschwerden" (448). Das Volk habe das allgemeine Stimmrecht empfangen und vorläufig angenommen, solle es daher am besten wieder zurückgeben, wenn seine Hoffnungen nicht erfüllt würden.

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" ... wenn bei irgendeiner Gelegenheit, wo es gebraucht wird, kaum zwei Drittel, ja vielleicht nicht einmal die Majorität aller Stimmberechtigten an die Stimm-Urne kommt, so ist dies ein Votum gegen das ganze Stimmsystem überhaupt." (II, 2, 276) Solche Überdruß-Phänomene und entsprechende Verzichts-Forderungen findet man heute noch z. B. bei Universitäts- oder Sozialwahlen. 4. Demokratisierung

Die Durchsetzung der Demokratie im Staate werde Weiterungen bringen. Es sei "ein Stück vererbter politischer Empfindung", daß Regierung und Volk zwei getrennte Sphären, die eine hoch, die andere niedrig seien. Jetzt solle man lernen " ... gemäß einem Prinzip, welches rein aus dem Kopfe entsprungen ist -daß Regierung nichts als ein Organ des Volkes sei ... " (450) Bevorman diese unhistorische Vorstellung realisiere, möge man " ... doch ja die Folgen erwägen: denn das Verhältnis zwischen Volk und Regierung ist das stärkste vorbildliche Verhältnis, nach dessen Muster sich unwillkürlich der Verkehr zwischen Lehrer und Schüler, Hausherrn und Dienerschaft, Vater und Familie, Heerführer und Soldat, Meister und Lehrling bildet." (450) Nietzsche bringt ein bemerkenswertvollständiges rechtspolitisches Programmunserer Demokratisierungsprozesse! Nur wertet er sie negativ: "Alle diese Verhältnisse gestalten sich jetzt, unter dem Einfluß der herrschenden konstitutionellen Regierungsform, ein wenig um: sie werden Kompromisse. Aber wie müssen sie sich verkehren und verschieben, Namen und Wesen wechseln, wenn jener allerneueste Begriff überall sich der Köpfe bemeistert hat!" (450) " ... woru es aber wohl ein Jahrhundert noch brauchen dürfte." [Eine präzise Zeitansage!] 1878 war wohl "Kompromiß" das Modewort, heute wäre es "Dialog". 5. "Der große Mann der Masse"

"Die demokratischen Einrichtungen sind Quarantäne-Anstalten gegen die alte Pest tyrannenhafter GelJüste: als solche sehr nützlich und sehr langweilig." (II, 2, 289) Wiederum finde man auch in der Masse, "gerade in den niederen Schichten des Volkes", das "Bedürfnis des Machtgefühls". Die Masse sei dann bereit, "ihr Leben, ihr Vermögen, ihr Gewissen, ihre Tugend daranzusetzen, ... um jenen ihren höchsten Genuß sich zu schaffen und als siegreiche, tyrannisch willkürliche Nation über andere Nationen zu schalten (oder sich schaltend zu denken)." (Morgenröte Nr. 189).

Nietzsches "Blick auf den Staat"

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Nietzsche bringt einen Beitrag zur Psychologie der Masse, wohl hoffentlich nicht billigend, sondern feststellend. Aber er gibt ein "Rezept", wie man von dieser Masse als großer Mann anerkannt werden könne: "Unter allen Umständen verschaffe man ihr etwas, das ihr sehr angenehm ist, oder setze ihr erst in den Kopf, daß dies und jenes sehr angenehm wäre, und gebe es ihr dann. Doch um keinen Preis sofort: sondern man erkämpfe es mit großer Anstrengung oder scheine es zu erkämpfen. Die Masse muß den Eindruck haben, daß eine mächtige, ja unbezwingliche Willenskraft da sei, mindestens muß sie da zu sein scheinen. Den starken Willen bewundert jedermann ...". (460) Nietzsche schickt sich an, jemandem "Mein Kampf" in die Feder zu diktieren. Diese macchiavellistische Beratung künftiger faschistischer Führer gehört zu den schwärzesten Zügen seiner Philosophie. Die unerbittliche Abwertung aller Moral rächt sich, ihm fehlt jedes kritische Instrument, jede Möglichkeit der Abgrenzung. Der "große Mann" " ... habe alle Eigenschaften der Masse: um so weniger schämt sie sich vor ihm, um so mehr ist er populär. Also: er sei gewalttätig, neidisch, ausbeuterisch, intrigant, schmeichlerisch, kriechend, aufgeblasen, je nach Umständen alles." (460) Ein knabenhaftes Zündeln am Höllenfeuer! Nietzsche hätte sich selbst sagen müssen, daß etwas an seiner Konzeption nicht stimmen kann, wenn sein politischer Tagtraum, die prächtige Amoralität des Renaissance-Fürsten, auf dem Wege über die von ihm verachtete Masse wirklich werden soll. Oder (bei ihm ist jede Interpretation möglich): will er warnen? 6. Staat und Religion

Nr. 472 bringt die neuestens wieder ernst genommene Frage, wie man, vor allem der Staat, ohne Religion auskommen wolle; auch schon Hinweise auf Sekten. Eine "Fülle von Drachenzähnen" sei gesät worden, als man die Religion zur Privatsache gemacht habe. Es wandle sich nämlich die Stimmung " ... der noch religiös bewegten Menschen, welche früher den Staat als etwas halb oder ganz Heiliges adorierten, in eine entschieden staatsfeindliche um; sie lauern den Maßregeln der Regierung auf, suchen zu hemmen, zu kreuzen, zu beunruhigen, soviel sie können ... " (472). Bei den grünen Gruppen ist eine solche Verbindung von quasi-religiöser Bewegtheit und irrationaler Staatsfeindschaft rein zu beobachten. Platon hatte schon gesehen, daß ein liberaler Staat, je weniger er sich bemerkbar mache, desto weniger Anhänger finde, daß der geringe von ihm noch geübte Druck schwerer erträglich wirke, als der weit härtere des despotischen Staates. Hier liegt ein Grundproblem des Liberalismus. Vermutlich ist es so, daß ein unsichtbar gewordener Staat, der seine

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Bürger nie anspricht, nichts von ihnen fordert, diesen ein Gefühl vermittelt, vaterlos und überflüssig zu sein, was subjektiv als Druck empfunden wird, obwohl es sich um Unter-Druck handelt. Dies würde auch erklären, daß die offenbar despotischen Züge im real existierenden sozialistischen System (dazu gleich) dessen Attraktivität kaum mindern, jedenfalls nicht aufheben, für einige vielleicht sogar (altgermanische Gewaltanbetung?) erhöhen.

II. Der kommende Sozialismus 1. Reichtum als Problem

Ob Nietzsche einen Text von Marx gekannt hat, ist ungewiß, dagegen hat er als Zeitungsleser Lassalles Wirken verfolgt!. Sein Begriff "Sozialismus" ist naiv und ungenau. Es sei ein Zeichen der Zeit, daß die Ungerechtigkeit des Besitzes stark empfunden werde - "der Zeiger der großen Uhr ist einmal wieder an dieser Stelle" (II, 2, 285). Man wolle nicht mehr anerkennen, daß der Reichtum notwendig eine "Aristokratie der Rasse" erzeuge: durch " ... die größere Freiheit des Gemüts, die Abwesenheit des Erbärmlich-Kleinen, der Erniedrigung vor Brotgebern, der Pfennig-Sparsamkeit". (479) Man vertrage schließlich nur eine einzige Gattung von Reichen: solche, die sich ihres Reichtums schämten (II, 2, 209). Die demonstrative Besitzliebe der meisten Reichen trage dazu bei, die "sozialistische Herzenskrätze" zu verbreiten (II, 1, 304). 2. Gegen Platon, gegen Rousseau

Das Bild der großen Uhr war treffend, weil in der (Denk-)Geschichte zyklisch oft genug sozialistische Ideen ausgebreitet wurden. Nietzsche reiht sich ein in die Front der Gegner und wiederholt Einwände, die schon Aristoteles gegen Platon, Voltaire gegen Rousseau vorgebracht hatten. Nietzsches Kritik ist also keineswegs originell. Es sei zerstörerisch, das Ackerland "der Gemeinde zurückzugeben und den einzelnen nur zum zeitweiligen Pächter zu machen". "Denn der Mensch ist gegen alles, was er nur vorübergehend beSitzt, ohne Vorsorge und Aufopferung, er verfährt damit ausbeuterisch, als Räuber oder als liederlicher Verschwender." (II, 2, 285) Wenn Platon meine, die Selbstsucht werde mit der Aufhebung des Besitzes aufgehoben, so verkenne er den Menschen, aber auch die posi2 Brief v. 16. 2. 1868 an Carl v. Gersdorff: " ... die irrationale Größe Lassalles . . . . Leider sehe ich keine Möglichkeit ab, wie ich dessen Schriften in meine Hände bekommen könnte! ... ". Bd. III, 991.

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tive Funktion aller Selbstsucht. Auch Rousseau habe an eine ursprüngliche, gleichsam verschüttete Güte der menschlichen Natur geglaubt und den Institutionen der Kultur, in Gesellschaft, Staat, Erziehung alle Schuld an jener Verschüttung beigemessen: gefährliche Träume, Aberglaube. "Rousseaus leidenschaftliche Torheiten und Halblügen haben den optimistischen Geist der Revolution wachgerufen, gegen den ich rufe: "Ecrasez l'infäme!" Durch ihn ist der Geist der Aufklärung und der fortschreitenden Entwicklung auf lange verscheucht worden." (463)

Nietzsche als Advokat der Aufklärung und des Fortschritts macht keine so gute Figur, und mit der Eleganz des Voltaireschen Spotts kann er den Vergleich nun wirklich nicht wagen ("egalite" im Philosoph. Wörterbuch). [Dictionnaire Philosophique Portatif, 1764] Wenn es wahr ist, " ... daß jeder solche Umsturz die wildesten Energien als die längst begrabenen Fruchtbarkeiten und Maßlosigkeiten fernster Zeitalter von neuem zur Auferstehung bringt ... ",

dann müssen wir Nietzsche schon sehr mißverstanden haben, wenn nicht gerade er solchen Archaismen das Lied gesungen hat. Außerdem bleibt seine Sozialismus-Kritik auf vormodernem Niveau, fällt hinter das schon 30 Jahre alte kommunistische Manifest zurück, denkt nicht an industrielle Produktion - auch in der Landwirtschaft -, die "Vorsorge" und "Aufopferung" leicht ("im Prinzip" leicht!) durch Befehlsstrukturen ersetzen kann. 3. Sozialismus als Taktik, als Terror

Die mögliche "Erhebung der jahrtausendelang Gedrückten, Niedergehaltenen", also der ganze Sozialismus, sei kein Problem des Rechts, sondern ein Problem der Macht: " ... wie weit kann man seine Forderungen benutzen?" (446) Diese prä-leninistische Erwägung wird noch illustriert durch das Beispiel der Dampfkraft: so wie diese als "Maschinengott", so könne man auch "Begehrlichkeit" (451) oder "Neid" (480), wenn nicht gar "Faulheit" (480), als politische Mittel einsetzen. Die Menschheit müsse bei jeder großen Kraft "- und sei es die gefährlichste - daran denken, aus ihr ein Werkzeug ihrer Absichten zu machen" (446), der Staatsmann, ein "Steuermann der Leidenschaften" (453) zu sein. "Um jene Machtfrage zu lösen, muß man wissen, wie stark der Sozialismus ist, in welcher Modifikation er noch als mächtiger Hebel innerhalb des jetzigen politischen Kräftespiels benutzt werden kann; unter Umständen müßte man selbst alles tun, um ihn zu kräftigen." (446)

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Nietzsche dient sich nunmehr ganz anderen Leuten an. Noch e1mge solcher Talentproben, und er kann Mitarbeiter von "lskra" werden (gegründet erst 1900}. Leider redet er etwas viel und wäre schwer unter revolutionäre Disziplin zu bringen. Nämlich: "Der Sozialismus ist der phantastische jüngere Bruder des fast abgelebten Despotismus, den er beerben will . . . . Denn er begehrt eine Fülle der Staatsgewalt, wie sie nur je der Despotismus gehabt hat, ja er überbietet alles Vergangene dadurch, daß er die förmliche Vernichtung des Indivdduums anstrebt: als welches ihm wie ein unberechtigter Luxus der Natur vorkommt und durch ihn in ein zweckmäßiges Organ des Gemeinwesens umgebessert werden soll." (473) Dieser wichtige Text ist zu knapp gehalten. An welchen Despotismus ist gedacht? An welche Form des Sozialismus? Auch fehlt ganz der ökonomische Aspekt; denn es könnte sein, daß die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln gefordert oder - einmal durchgesetzt - trotz evidenter Unproduktivität beibehalten wird, nicht im Interesse der an ihnen Arbeitenden, sondern nur im Interesse der Machtkonzentration (eine Umkehrung der Basis/Überbau-Lehre!}. Noch nicht diskutieren konnte Nietzsche die Frage, ob nicht präzis mit dem Ziel "Vernichtung des Individuums" der Leninismus sich vom Marxismus abgestoßen hat.- Weiter seine Kritik: "Aber selbst diese Erbschaft (die des Despotismus) würde für seine Zwecke nicht ausreichen, er braucht die alleruntertänigste Niederwerfung aller Bürger vor dem unbedingten Staat wie niemals etwas Gleiches existiert hat; und da er nicht einmal auf die alte religiöse Pietät gegen den Staat mehr rechnen darf, ... kann er sich nur auf kurze Zeiten, durch den äußersten Terrorismus, hier und da einmal auf Existenz Hoffnung machen." (473) Den "äußersten Terrorismus" kann man abhaken. Der unberechtigte Optimismus der "kurzen Zeiten" beruht auf mangelnder Phantasie für neue soziotechnische Möglichkeiten, vor allem für die leninistische Kader-Partei. Insofern hat Nietzsche über "Gehorsam" und "Subordination" doch nicht lange genug nachgedacht. Sonst hätte er auch nicht über die "geschlossene Taktik der Jesuiten" (441} nur in der Vergangenheitsform gesprochen. Und wie sehr man "die alte religiöse Pietät" pflegt, nur auf neue Ikonen gelenkt, liegt offen. 4. Friedricll Nietzsclle löst die soziale Frage

Nietzsches Rund-um-Sensibilität erlaubt ihm auch, sich in die Lage des Arbeiters zu versetzen. Diesem geht es an der Maschine nicht gut: "Die Maschine, selbst ein Erzeugnis der höchsten Denkkräfte, setzt bei den Personen, welche sie bedienen,. fast nur die niederen, gedankenlosen Kräfte in Bewegung." (II, 2, 220)

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Noch subversiver: "Die Maschine ist unpersönlich, sie entzieht dem Stück Arbeit [???] seinen Stolz, sein individuell Gutes und Fehlerhaftes, was an jeder Nicht-Maschinenarbeit klebt,- also sein bißeben Humanität." (II, 2, 288) Nietzsche geht so weit, die "Ausbeutung des Arbeiters" abschaffen zu wollen, aber - das ist ihm sehr wichtig - nicht unter dem Aspekt der Gerechtigkeit, sondern dem der Nützlichkeit, was jeder so sehen müsse, der " ... auf Dauerhaftigkeit aller Zustände sinnt und deshalb auch das Wohl des Arbeiters, seine leibliche und seelische Zufriedenheit ins Auge faßt, - damit er und seine Nachkommen gut auch für unsere Nachkommen arbeiten ... ". (II, 2, 286)

Die Klassen-Trennung bleibt also bis ins nächste Glied und immerfort erhalten! Es kann, wer in aller Sozialpolitik nur bürgerliche Taktik zur Aufrechterhaltung ancienner Herrschaft sieht, sich auf Nietzsche als Kronzeugen berufen! "Die Ausbeutung des Arbeiters war ... eine Dummheit, ein Raub-Bau auf Kosten der Zu~unft, eine Gefährduillg der Gesellschaft. Jetzt hat man schon fast den Krieg [Klassenkampf!]: und jedenfalls werden die Kosten, um den Frieden zu erhalten, um Verträge zu schließen und Vertrauen zu erlangen, nunmehr sehr groß sein, weil die Torheit der Ausbeutenden sehr groß und langdauernd war." (II, 2, 2186) [ist so unser Arb€itsrecht z,u sehen?] Nicht gewaltsame (Um-)Verteilung, sondern allmähliclle Umschaffung des Besitz-Sinnes täte not. Die ungerechte Gesinnung stecke auch noch in den Seelen der Nicht-Besitzenden (452). Ein gutes Mittel: Vermögensbildung! "Damit der Besitz fürderhin mehr Vertrauen einflöße und moralischer werde, halte man alle Arbeitswege zum kleinen Vermögen offen, aber verhindere die mühelose, die plötzliche Bereicherung; man ziehe alle Zweige des Transports und Handels, welche der Anhäufung großer Vermögen günstig sind, also namentlich den Geldhandel, aus den Händen der Privaten und Privatgesellschaften - und betrachte ebenso die Zuviel- wie die Nichts-Besitzer als gefährliche Wesen." (II, 2, 285) Also: Nietzsche will die Banken verstaatlichen! Im folgenden experimentiert er sogar mit dem kleinbürgerlichen Vorschlag, "sowohl den Besitzlosen als den eigentlich Reichen das politische Stimmrecht abzusprechen" (II, 2, 293). Im übrigen werde die Demokratie für sozialen Ausgleich sorgen: "Das Volk ist vom Sozialismus, als einer Lehre von der Veränderung des Eigentumserwerbes, am entferntesten: und wenn es erst einmal die Steuerschraube in den Händen hat, durch die großen Majoritäten seiner Parlamente, dann wird es mit der Progressivsteuer dem Kapitalisten-, Kaufmanns- und Börsenfürstentum an den Leib gehen und in der Tat langsam einen Mittelstand schaffen, der den Sozialismus wie eine überstandene Krankheit vergessen darf." (II, 2, 292)

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In diesem Zukunfts-Portrait (sehr ähnlich: F. Lassalle, Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes, Berliner Rede von 1862 im Handwerkerverein der Oranienburger Vorstadt) müssen wir immerhin einige Züge unserer Gegenwart wiedererkennen.

111. Kriege, Abrüstung, internationale Entwicklungen 1. Leiden am Glück

Keine Demokratie, mit oder ohne Sozialismus, werde ein glückliches Zeitalter herbeiführen: das sei gar nicht möglich, " ... weil die Menschen es nur wünschen wollen, aber nicht haben wollen, und jeder einzelne, wenn ihm gute Tage kommen, förmlich um Unruhe und Elend beten lernt." (471) Im Leben könne es glückliche Augenblicke, nicht aber ganze Zeiträume im Zustand des Glücks geben. Der dies verhindernde Dämon sei die Liebe zur Macht: "Man gebe ihnen alles, Gesundheit, Nahrung, Wohnung, Unterhaltung sie sind und bleiben unglücklich und grillig: denn der Dämon wartet und wartet und will befriedigt sein." (Morgenröte Nr. 262) Solcherlei Tiefenpsychologie - ähnlich Dostojewski im "Großinquisitor" - könnte eher überzeugen, hätte man nicht den Eindruck, daß der miles gloriosus nur seine am Schreibtisch ausgelebten kriegerischen Neigungen rationalisieren will. 2. "Der Krieg unentbehrlich"

Von der Menschheit sei nichts mehr zu erwarten, wenn sie verlernt habe, Kriege zu führen. Die repubLikanische Staatsform werde jedes Volk "schwächer, zerrissener und kriegsunfähig,er" machen (453); um so nötiger sei es vom Krieg zu sprechen. "Einstweilen kennen wir keine anderen Mittel, wodurch mattwerdenden Völkern jene rauhe Energie des Feldlagers, jener tiefe unpersönliche Haß, jene Mörder-Kaltblütigkeit mit gutem Gewissen, jene stolze Gleichgültigkeit gegen große Verluste usw. usf.3 ebenso stark und sicher mitgeteilt werden könnte, wie dies jeder große Krieg tut ..." (477) Die heutzutage hochkultivierten und damit matten Europäer bedürften " ... nicht nur der Kriege, sondern der größten und furchtbarsten Kriege also zeitweiliger Rückfälle in die Barbarei -, um nicht an den Mitteln der Kultur ihre Kultur und ihr Dasein selber einzubüßen". (477) 3

,;usw. usf." stehen für Auslassungen.

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Solches Bramarbasieren hat schon manchen dazu gebracht, das Buch zuzuschlagen und auf jede weitere Nietzsche-Lektüre zu verzichten. Die mildeste Kritik wäre noch zu sagen, daß sein Denken beträchtlich zeitgebunden war, eben so schwer zu verstehen ist wie dessen praktische Umsetzung August 1914 (dieser Kriegsausbruch brachte ihn nicht zufällig geradezu in Mode). Man vergleiche damit den gesammelten Ernst, den Jaspers, Die Atombombe und die Zukunft des Menschen, 1958, demselben Thema widmet! Allenfalls könnten einige Tropfen aus Nietzsches Giftflasche heilsam sein für Fälle, in denen mit der Vorstellung des Angriffskrieges auch die der eventuell einmal notwendigen Verteidigung zu schwinden droht. 3. Der große Tag der Abrüstung

Nietzsche wäre nicht Nietzsche, wenn er nicht auch den Gegen-Standpunkt des extremen Pazifismus mit gleichen Aplomb verträte. In II, 2, 284 finden wir folgendes Raisonnement: KeineRegierung unterhalte jetzt ein Heer, um Eroberungsgelüste zu befriedigen, jedes Heer solle nur noch der Verteidigung dienen, der Notwehr. Der jeweilige Nachbar werde damit als angrüfs- und eroberungslustig gedacht. Man behalte sich die Moralität, dem Nachbarn die ImmoraLität vo;z:; " ... überdies erklärt man ihn, der genau ebenso wie unser Staat die Angriffslust leugnet und auch seinerseits das Heer vorgeblich nur aus Notwehrgründen unterhält, durch unsere Erklärung, weshalb wir ein Heer brauchen, für einen Heuchler und listigen Verbrecher, welcher gar zu gern ein harmloses und ungeschicktes Opfer ohne allen Kampf überfallen möchte". (II, 2, 284) Präzis die Paradoxie gegenwärtiger Militärpolitik! Und was wäre zu tun? Nietzsche: " ... es kommt vielleicht ein großer Tag, an welchem ein Volk ... , durch die höchste Ausbildung der militärischen Ordnung und Intelligenz ausgezeichnet und gewöhnt, diesen Dingen die schwersten Opfer zu bringen, freiwillig ausruft: ,wir zerbrechen das Schwert!' und sein gesamtes Heerwesen bis in seine letzten Fundamente zertrümmert." Platons Idealvorstellung, alle Staaten von Philosophen geführt zu sehen, wird einem spätestens bei fortgesetzter Nietzsche-Lektüre suspekt; will er nun Kriegsgott Mars oder Bertha von Suttner vertreten? 4. Europa, die Welt

Zuweilen denkt Nietzsch:e weit über seine Zeit hinaus, er war wenigstens kein Nationalist (481: "Große Politik und ihre Einbußen") und kein Rassist, insofern konnten die NS-Führer nicht "bei ihm ihr Bild bestellen" (G. Benn). Handel und Industrie, neue Mittel der Kommunikation, "das jetzige Nomadenleben aller Nicht-Landbesitzer" (!) würden 53 Festschrift f. G. Müller

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Klaus Adomeit

bald eine Schwächung und zuletzt eine Vernichtung der Nationen, mindestens der europäischen, mit sich bringen: " ... hat man dies einmal erkannt, so soll man sich nur ungescheut als guten Europäer ausgeben und durch die Tat an der Verschmelzung der Nationen arbeiten." (475)" Was er in diesem Zusammenhang über das jüdische Volk sagt, "welches, nicht ohne unser aller Schuld, die leidvollste Geschichte unter allen Völkern gehabt hat, und dem man den edelsten Menschen (Christus), den reinsten Weisen (Spinoza), das mächtigste Buch und das wirkungsvollste Sittengesetz der Welt verdankt". (475) ist sehr schön, für den entschlossenen Kämpfer gegen Moral und Christentum eigentlich zu schön (interessant der Aspekt, gerade die Juden hätten sich dafür eingesetzt, "Europas Aufgabe und Geschichte zu einer Fortsetzung der griechischen zu machen"). "Das praktische Ergebnis . . . wird zunächst ein europäischer Völkerbund sein, in welchem jedes einzelne Volk, nach geographischen Zweckmäßigkeiten abgegrenzt, die Stellung eines Kantons und dessen Sonderrechte innehat: mit den historischen Erinnerungen der bisherigen Völker wird dabei wenig noch gerechnet werden ... " (II, 2, 292) Noch weitersehend: aus Mangel an Arbeitskräften werde man " ... vielleicht auch dann Chinesen hereinholen: und diese würden die Denk~ und Lebensweise mitbringen, welche sich für arbeitsame Ameisen schickt. [??] Ja, sie könnten im ganzen dazu helfen, dem unruhigen und sich aufreibenden Europa etwas asiatische Ruhe und Betrachtsamkeit und - was am meisten wohl not tut- asiatische Dauerhaftigkeit ins Geblüt zu geben." (Morgenröte Nr. 206) Das letzte Wort vom großen Freund des Abendlandes und des Griechentums?

IV. Erste, vorläufige Wertungen 1. Nietzsche bringt in seiner politischen Philosophie keine große, ein, heitliche Konzeption, wie Platon, wie Marx sie gebracht hatten. Seine Gedankenwelt ist widerspruchsvoll, nervös, uneinheitlich.

2. Vorherrschend ist die Skepsis gegenüber aller Entwicklung in Richtung modern. Man tut Nietzsche kein Unrecht, wenn man ihn reaktionär nennt. Wir werden auch nicht nachträglich von ihm verlangen, Fortschrittsfreund gewesen zu sein. Dafür ist seit 1878 zu viel passiert. 3. Die Philosophie der Grausamkeit, der prächtigen Amoralität des Renaissance-Fürsten und dergleichen, vergißt man am besten, auch in 4

Vgl. auch II, 1, 323: "Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen."

Nietzsches "Blick auf den Staat"

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seinem Interesse (oder: man vergesse, daß Nietzsche bei der oft eindrucksvollen Schilderung des Bösen sich auf die falsche Seite stellt). 4. Bei seinem lebenslangen Kampf gegen die Moral und alle moralischen Wertungen hat der Pastorensohn nicht bedacht, daß er sein Denken jedes kritischen Instruments beraubte, sich in eine Lage manövl'ierte, in der er jedes wie auch immer beschaffene Phänomen hinnehmen mußte Konsequenz vorausgesetzt. Statt dessen wertet er unablässig, häufig durchaus im Sinne der alten Moral. 5. Man kann ihn nicht als Nazi abtun: er war kein Nationalist, kein Rassist, kein Antisemit. 6. Sein Denken bringt Ahnungen und Aufschlüsse, mit denen er vielen Ereignissen vorauseilt: Lenin ist schon präzis gesehen, ebenso Hitler. "Was tun?" bzw. "Mein Kampf" braucht nicht mehr zu lesen, wer Nietzsche gelesen hat und ein wenig extrapolieren kann. 7. Für Probleme der Demokratie, im Staat und in anderen Bereichen, hat er ein empfindliches Sensorium, es lohnt sich, ihm zuzuhören. 8. Unsere gewaltsame Systematisierung ist jetzt, nachdem ihr Zweck erreicht ist, wieder aufzulösen. Nietzsches Textfolge wirkt zuerst willkürlich, aber, je genauer man sie studiert, desto zwingender. Wem von uns drängten sich nicht immer neue, nicht zu vereinbarende Aspekte und Wertungen auf? Den "Blick auf den Staat" kann man lesen wie einen platonischen Dialog, bloß daß bei ihm nicht mehrere sich im Geiste bekämpfen, nur einer.

53•

GRUNDWERTE-GRUNDGESETZ-RICHTERAMT Von Ernst Benda I.

Die Grundwertediskussion der vergangeneu Jahre wird Gerhard Müller nicht überrascht haben. Wer ihn kennt und die Fülle seiner Veröffentlichungen durchsieht, weiß, daß der scheidende Präsident des Bundesarbeitsgerichts seit zwei Dutzend Jahren nicht nur zu juristischen Fachfragen geschrieben, sondern immer wieder zu grundsätzlichen Problemen der Wert-, Rechts- und Gesellschaftsordnung Stellung genommen und dabei ganz bewußt auch persönliche Akzente gesetzt hat. So machte er aus der Verbundenheit mit seiner Kirche nie ein Hehl, forderte mit deutlichen Worten zu einer "Rückkehr zum Christentum" auf1 oder schrieb über "Die Situation der katholischen Kirche in unserer Gesellschaft"2 • 1979 erschien sein Beitrag "Für eine Reform der Reform. Warum der Paragraph 218 einer Neufassung bedarf"3 , dem der Hinweis vorangeht, hier spreche der Autor "nicht als Präsident, sondern als Mensch, Christ und Bürger". Die hierin zum Ausdruck kommende Frage nach der richtigen Differenzierung und Integration der verschiedenen, je für sich bewußt empfundenen und gestalteten Lebensrollen hat ihn auch sonst beschäftigt. So geht eine ähnliche Bemerkung verschiedenen rechtspolitischen Äußerungen voraus, die er auch im Zuständigkeitsbereich seiner eigenen Gerichtsbarkeit nicht gescheut hat. In einem Aufsatz über "Rechtspolitische Gedanken zum Betriebsverfassungsrecht"4 heißt es: "Die rechtspolitische Sicht zum Betriebsverfassungsrecht hier erfolgt aus der Sicht eines Richters. Der Richter ist, im Rahmen des dem Menschen überhaupt Möglichen, nicht nur zur Objektivität verpflichtet, diese Objektivität bestimmt und trägt in einer ganz besonderen Weise seine Tätigkeit. Die Haltung der Objektivität ist dabei - ohne daß das menschliche Engagement zu leiden braucht - stets mit einer gewissen Art von DistanziertheU verbunden. Gleichwohl ist es angebracht, daß sich auch der Richter rechtspolitische Gedanken macht. Er hat danach nicht Recht zu sprechen. Vielmehr soll er aus sei1 2

3 4

Gesellschaftspolitische Kommentare 1971, 97. Gesellschaftspolitische Kommentare 1972, 25. Rheinischer Merkur vom 7. September 1979. Der Betrieb 1970, 1023.

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ner ganz spezifischen Erfahrung in der Anwendung der Normen, Rechtskomplexe und Rechtsgedanken, einen Beitrag für die gesetzgeberische Arbeit leisten ... " Darin wird zugleich etwas deutlich von Gerhard Müllers steter Suche, in seinem Richteramt die nie ganz auszuschließende Spannung zwischen vorgelagertem Wertverständnis und Gesetzeswortlaut aufzuspüren und in gesetzesloyaler Gestaltungsbereitschaft oder - im Arbeitsrecht nicht selten- notfalls ohne gesetzgebensehe Einzelregelung zur fallgerechten Auflösung zu bringen. Er scheute sich nicht, zu bemängeln, daß "im Alltag des Richterdaseins ... berufsethische Fragen leider zu wenig erörtert" werden5 und an anderer Stelle selbstkritisch zu bekennen: "Vor-Urteile haben auch der Richter und der Wissenschaftler. Sie soweit wie möglich bewußt zu erfassen und sie dann als solche, also als Vor-Urteile, nicht zur Wirkung zu bringen, dazu kann die geistige Auseinandersetzung entscheidend beitragen. Sie muß nur auf beiden Seiten in selbstkritischer Weise stattfindene." Schon früher hatte Gerhard Müller in diesem Sinne formuliert: "Die Entscheidung nach dem Gewissen verlangt nämlich etwas, was beinah übermenschlich schwer zu leisten ist, nämlich Distanz gegenüber sich selbst ... Distanz nehmen zu seinen höchstpersönlichen Vorstellungen ... "7. Diese Anforderung zielt auf die Gabe der Unterscheidung: zwischen dem, was zu Recht "höchstpersönliche Vorstellung" ist und bleiben muß, und zwischen jenem, das jenseits der eigenen Wertung nach dem Ver~ ständnis unserer Rechtsordnung auch bei einer "distanzierten" Rechtsfindung an Wertverständnis und Wertvorgaben in die Gesetzesauslegung einfließen darf. In dem vorstehend zitierten Festschriftbeitrag stellt er fest, jede Rechtsordnung, trotz aller notwendigen Unterscheidung zwischen Moral und Recht, beziehe ihre innere Autorität aus der sittlichen Verbindlichkeit des Rechts. Der Richter dürfe daher durchaus auf einen allgemeinen Rechtsgedanken, auf einen Kernbestand von sittlichen Vorstellungen zurückgreifen und sie als solche bewußt machen. Ja, der langjährige Praktiker der Arbeitsgerichtsbarkeit geht noch weiter: " ... in alledem ist sehr oft eingeschlossen, daß der Richterspruch sich bei der Anwendung positiver Normen häufig nicht mit deren bloßer Anwendung begnügen darf, vielmehr ihre SachgemäßheU oder doch ihre Vertretbarkeit wird aufzeigen müssen." (S. 883) 5 Neuere Entwicklungen im Prozeßrecht der Bundesrepublik Deutschland, Published by The World Association of Judges, 1977, 7. 8 Das Bundesarbeitsgericht und die Arbeitsrechtswissenschaft, in: Arbeit und Recht, 1977, 306. 7 Die Autorität der Gerichte, in: Dimensionen des Rechts, Gedächtnisschrift für Rene Marcic, 1974, s. 884.

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Dabei macht er deutlich, daß er sich als Richter nicht nach zusätzlichen Kompetenzen drängt. So schreibt er in einer Besprechung des Mitbestimmungsurteils des Bundesverfassungsgerichts vom 1. März 19798 über mögliche Folgerungen bis ins Arbeitskampfrecht hinein: "Im Sinne der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts liegt es, das alles als primär von der Gesetzgebung zu leistende Arbeit anzusehen und nicht in diesen wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitisch so wichtigen Fragen der Rechtsprechung im Ergebnis wiederum eine Vorreiterrolle zuzuweisen." Daß er später von "equilibristischen Kopfständen" der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts spricht, soll Verfassungsrichter im Nachhinein zu sportlichen Übungen angeregt haben; es mag als Beispiel eines durchaus zupackenden Sprachvergnügens angemerkt werden. Und der Appell an den Gesetzgeber erfolgt offenbar trotz seiner recht nüchternen Erkenntnis, daß "(die) sehr wirksame Organisation von Interessen und die große Pluralität in Weltanschauungsfragen ... nicht selten zu Gesetzen (führen), die nur noch dem Wort nach eine übereinkunft darstellen; ... das Gesetz kann daher in vielen Fällen nur allgemeine Markierungspunkte setzen; die Generalklausel spielt im Recht eine größere Rolle als wohl je zuvor"'· - womit sich wieder neu die Frage nach der richterlichen Auslegung stellt. Aber trotz allem: Der Richter Gerhard Müller möchte den Gesetzgeber nicht aus der Verantwortung entlassen, jedenfalls die Grundstrukturen festzulegen. Dabei scheint er im Ergebnis eher zuversichtlich, daß im Zusammenwirken von Parlament, gesellschaftlichen Gruppen und (Arbeits-)Gerichtsbarkeit eine dem Gemeinwohl dienliche Lösung erreichbar ist: "Interessen zu haben, Interessen zu verfolgen und Interessen erfüllt zu sehen, ist etwas zutiefst Menschliches, und in einer jedenfalls sehr großen Zahl von Fällen handelt es sich dabei um sogar jeweils existenzwichtige Interessen. Das Grundproblem des Arbeitsrechts und damit der arbeitsrechtlichen Rechtsprechung ist die Frage nach der Wahrung der Interessenbelange und die sich gleichzeitig stellende Frage nach einer Ordnung der Gesamtgemeinschaft, die die Interessenbelange anerkennt und zugleich durch die Gestaltung und die Tätigkeit der Gesamtgemeinschaft die Position aller sichert10," Gerhard Müller bejaht dabei die Rolle der Verbände, die er aber zugleich in die Pflicht nimmt: "Bei komplizierter werdenden Zusammenhängen besteht die Gefahr einer Herrschaft der Technokraten, die wohl zu einer großen sozialpsychologischen Belastung der Bürger führen müßte. Es besteht ferner die Gefahr, daß man nach dem ,starken Mann' ruft. Zu ihrem Teil können dem die wechselseitigen Der Betrieb 1979, Beilage 5 zu Heft 16, S. 12. Die Autorität der Gerichte, a.a.O., S. 881. 10 Die staatspolitische Bedeutung der Arbeitsgerichtsbarkeit, in: Recht der Arbeit, 1978, 342. 8

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Beziehungen zwischen dem Bundesarbeitsgericht und den Verbänden begegnen. Ob sie in diesem Sinne wirksam werden, hängt entscheidend von dem guten Willen aller Beteiligten ab. Gefordert ist das ständige Bestreben, sich nachdrücklich mit einer kompliziert gewordenen und noch immer komplizierter werdenden Rechtswelt zu befassen und eine sinnhafte Verbindung von Interessenverfolgung und dem Bezug zu dem Gemeinwohl als Bedingung des Daseins aller stets zu verwirklichen zu suchen ... "11. So ist es im Ergebnis wohl weniger die sicher unvermeidliche Aufgliederung in verschiedene Interessengruppen, die ihm im Blick auf die Entwicklung unserer Rechtsordnung Sorge bereitet; viel nachdrücklicher belastet ihn insoweit ein anderes, immer wieder von ihm angesprochenes Zeitsymptom: das Schwinden der allgemeinen Rechtsüberzeugung. So stellt er 1971 fest: "Die Rechtsgemeinschaft ist von Auflösung bedroht ... "12. und noch eindringlicher dann drei Jahre später in seinem Beitrag über "Die Autorität der Gerichte" 13 : "Wenn es ... im vorigen Jahrhundert weitgehend genügte, das Gesetz in logischer Subsumtion und Deduktion gegenüber den Sachverhalten zu vollziehen, weil nun einmal im Gesetz die vorgegebene allgemeine Rechtsüberzeugung ihren Niederschlag gefunden hatte, so liegen heute die Dinge anders ... (882) Die allgemeine Rechtsüberzeugung, wie sie im vergangenen Jahrhundert mehr oder weniger existierte, besteht nicht mehr ... (886). Wir sind nach 1945 zunächst in eine Ruhelage gekommen. Sie ist weitgehend zu erklären durch die psychologische Erschöpfung unseres Volkes. Immerhin hatte ein Großteil derjenigen, die damals lebten, zwei Weltkriege mitgemacht; man war ausgepumpt. Heute ist die Frage nach dem Auseinanderfallen von Recht und Rechtsordnung wieder mehr oder weniger lebendig ... (880). Wir haben heute die Diskrepanz zwischen der Rechtsordnung und dem Gerechtigkeitsdenken mehr als früher im Blick; das führt demgemäß auch dazu, die Frage nach der inneren Verbindlichkeit des Rechtsspruches der Gerichte zu stellen (879)u." Um so mehr muß der Richter die Suche nach dem tragfähigen Konsens in den Vordergrund rücken. So ergibt sich die Frage, welche Antwort in dieser Situation von der Verfassung zu erwarten ist. Gerhard Müller hat 1976 - also ganz am Anfang der allgemeinen Grundwertedebatte- seine Meinung klar formuliert und unmißverständlich deutlich gemacht, daß unsere "Verfassung die Grundlage unseres rechtlich verbindlichen Wertsystems" darstellt1 6 • Dieser Ansatz -letztlich also die Frage nach dem Das Bundesarbeitsgericht und die Verbände, in: Arbeit und Recht, 1978, 26. Die Entscheidungsbildung eines Höchstgerichtes, in: Menschen im Entscheidungsprozeß, 1971, 212. 13 a.a.O. 14 Eindringlich auch sein Aufsatz "Keine allgemein bejahte Rechtsüberzeugung mehr.- Zur Problematik der Rechtsprechung und des Richters heute", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. September 1970, Nr. 201, S. 11. 15 Das Wort von der "Demokratisierung der Gesellschaft", in: Ordnung im sozialen Wandel, Festschrift für Johannes Messner, 1976, 247. 11 12

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Verhältnis von Grundwertediskussion und Grundgesetz aus der besonderen Sicht eines Richters - soll nachfolgend durch einige Bemerkungen vertieft werden. II.

Zunächst sei mit em1gen Strichen die Ausgangslage skizziert, vor deren Hintergrund sich meiner Ansicht nach die Grundwertedebatte abspielt. Insgesamt können wir von einem Wohlstand ausgehen, der heute breite Schichten der Bevölkerung umfaßt, bis auf die weitgehend vergessenen oder verdrängten Randgruppen der nicht organisierten Interessen. Weitaus mehr als je in unserer Geschichte steht ein System der sozialen Sicherung zur Verfügung, das auch zur Bewältigung möglicher Krisen geeignet erscheint. Dennoch ergibt sich ein verbreitetes Gefühl der Unsicherheit und der Zukunftsangst. Hierzu tragen vor allem der technische Wandel, der heute nicht mehr unbesehen als technischer Fortschritt bezeichnet wird, und die Komplexität der Lebensverhältnisse bei, die ihrerseits mit jenem Wandel wie auch der zunehmenden weltweiten Verflechtung vieler grundlegender Probleme zusammenhängt (wie Fragen der Energieversorgung oder Umweltprobleme). Dies erzeugt das Bewußtsein einer Zeitenwende, die sich rasch nähert, aber in Richtung und Ausgang nicht vorhersehbar ist. Schon voll im Gange ist der Umbruch innerhalb der Gesellschaft. In ihr sind traditionelle Ordnungsvorstellungen und überkommene Werte zerbrochen, ohne daß hinreichend klare neue Orientierungspunkte an deren Stelle treten. Die heutige Gesellschaft bringt - ganz anders als zu Beginn des J ahrhunderts- dem Einzelnen und den sozialen Gruppen ein hohes Maß an Toleranz entgegen. Der damit verbundene Gewinn an Freiheit erfolgt um den Preis, daß der Einzelne die überlieferten Leitbilder verliert. Er sieht sich ganz unterschiedlichen Wertauffassungen ausgesetzt und wird sich oft überfordert fühlen, wenn von ihm verlangt wird, sich zwischen diesen zu entscheiden. Vorhersehbare Wirtschaftsprobleme und Strukturkrisen werden wahrscheinlich eine weitere Mobilität der Arbeitnehmer erforderlich machen. Die Entwicklung auf eine klassenlose Gesellschaft hin bedeutet einen weiteren Zuwachs an realer Freiheit für den Einzelnen. Auch dieser Gewinn muß aber mit einem Verlust von Orientierungspunkten bezahlt werden: Bindungen an eine gewohnte Umgebung und an Menschen, mit denen bisher Kontakt bestand, müssen aufgegeben werden. Auch der Verlust des bisher ausgeübten Berufes, oft auch der Wechsel von einer selbständigen zu einer abhängigen Tätigkeit, haben ähnliche Wirkungen. Soweit sich das System der sozialen Sicherheit auch gegenüber schweren Belastungen als tragfähig erweisen wird, kann die unmittel-

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bare Existenznot vermieden werden, oder wenigstens können die materiellen Folgen gemildert werden. Nicht weniger schwerwiegend sind aber die Auswirkungen von Konjunkturschwankungen oder Strukturveränderungen im menschlichen Bereich. Sie werden noch verstärkt, weil sie nicht durchschaubar und oft nicht berechenbar sind. Auch hier sieht sich der Einzelne unbestimmbaren und unbeeinflußbaren Faktoren ausgeliefert, und auch hier können Lebens- und Zukunftsangst die Folge sein. Wir erkennen somit im Blick auf die äußeren Lebensumstände ein zunehmendes Maß an Verflechtung, Abhängigkeiten, wohl unumgänglicher staatlicher Vorsorge, zugleich aber auch eine Lockerung früherer Wertautoritäten, ein verwirrendes Angebot sehr unterschiedlich geprägter Sinnvermittlung. Bildlich gesprochen, wird das soziale Netz der materiellen Leistungsangebote immer dichter - wenn auch notwenig kühler und unpersönlicher -, zugleich scheinen die geistigen Orientierungspunkte schwächer zu werden. Nun wäre es zweifellos ein schwerwiegender Fehlschluß, die vorstehende Skizze einfach fortzuschreiben und auch insoweit in erster Linie den Staat in Pflicht zu nehmen und ihm vorzuwerfen, über dem Ausbau des sozialen Netzes die Lieferung eines ebenso geschlossenen Weltbildes versäumt zu haben; der Daseinsvorsorge also nicht auch eine Vorsorge für Sinngebung nachzuliefern. Dies wäre ein Irrweg. Es ist gerade das Kennzeichen freiheitlicher Ordnung, nicht "ewige Wahrheiten" zu verwalten; der parlamentarischen Demokratie ist ein absoluter Wahrheitsanspruch fremd. Sie verzichtet auf die Utopie, ihren Gesellschaftsentwurf aus dogmatischen Erkenntnissen abzuleiten. Dies ist mit Sicherheit der schwierigere Weg. Die daraus folgende Pflicht zu fortwährender, nie ganz beendeter Suche und Anpassung ist der Preis dafür, daß wir darauf verzichten, die Unsicherheit menschlicher Entscheidungen durch die vermeintliche Sicherheit einer angeblichen Gesetzlichkeit der gesellschaftlichen Entwicklung zu ersetzen. Nur totalitäre Systeme beanspruchen, die "Wahrheit" gefunden zu haben. Nicht zuletzt hierauf beruht ja unser Verständnis von persönlicher Freiheit und Verantwortung des Einzelnen, zugleich unser Verständnis von Risiken und Chancen parlamentarischer Demokratie, welche immer neu nach alternativen Vorstellungen, nach der bestmöglichen Lösung sucht, ohne jeweils beanspruchen zu können, sie für alle Zeiten gefunden zu haben. Dennoch kann ein Gemeinwesen ohne Mindestkonsens nicht überdauern. ir~ische

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III. In dieser Ausgangssituation, die in den Grundzügen derjenigen der meisten westlichen Demokratien entsprechen dürfte, ist es in der Bundesrepublik Deutschland die Verfassung unseres Landes, der ganz wesentliche Bedeutung als Integrationsfaktor beigemessen wird. In dem Maße, in dem gemeinsame glaubens- und weltanschauliche Überzeugungen geringer werden oder die von ihnen getragenen Gemeinschaften eine das Verhalten der Bürger durchgängig prägende Kraft zu verlieren scheinen, stellt sich in der Tat die Frage an die staatliche Verfassung, ob und inwieweit sie eine allgemeine Integrationsaufgabe übernehmen kann. Diesem hohen Anspruch kann eine Verfassung nicht gerecht werden, die sich auf die Bereitstellung von Organisationsnormen und Verfahrensregeln beschränkt. So hat das Grundgesetz, oft auch als Grundkonsens bezeichnet, die Aufgabe übernommen, die unterschiedlichen und unterschiedlich intensiv ausgeprägten Wertsysteme der in der pluralistischen Gesellschaft vertretenen Gruppen zusammenzuhalten: weltanschaulich neutral, aber nicht wertneutrat Dabei ist "Grundwert" kein typisch verfassungsrechtlicher Begriff. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird vielmehr seit langen Jahren eher von "Wertentscheidung" und "objektiver Wertordnung" gesprochen. So hat das Gericht schon früher formuliert: "Ebenso richtig ist aber, daß das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will, in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat und daß gerade hierin eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt. Dieses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muß als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereich.e des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und lmpulse18."

An anderer Stelle heißt es: "Das Grundgesetz ist eine wertgebundene Ordnung, die den Schutz von Freiheit und Menschenwürde als den obersten Zweck allen Rechts erkennt; sein Menschenbild ist nicht das des selbstherrlichen Individuums, sondern das der in der Gemeinschaft stehenden und ihr vielfältig verpflichteten Persönlichkeitt7."

In einer Entscheidung aus dem Jahre 1971 18 wird ausgeführt: " ... (der anstehende Konflikt sei) nach Maßgabe der grundgesetzliehen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems durch Verfassungsauslegung zu lösen." te BVerfGE 7, 198 (205).

BVerfGE 12, 45 (51). ts BVerfGE 30, 173 (193).

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Innerhalb der Grundordnung kommt der Würde des Menschen der höchste Rang zu (Art. 1 GG). Die Menschenwürde ist der "Grund der Grundrechte" (Isensee). Aus dieser wichtigsten Entscheidung der Verfassung ergibt sich das "Menschenbild" des Grundgesetzes als eines nicht isolierten souveränen, sondern gemeinschaftsbezogenen und -gebundenen Menschen, dem dennoch ein unantastbarer Eigenwert zukommt. Die weiteren Grundwerte, zu denen sich das Grundgesetz bekennt, entsprechen der demokratischen Tradition, den Ideen der freiheitlichen Denker, der historischen Erfahrung und dem Bewußtsein der heute Lebenden: insbesondere Freiheit und Entfaltung der Persönlichkeit, Gleichheit vor dem Gesetz, Glaubensfreiheit, das Recht der freien Meinungsäußerung und Pressefreiheit, Schutz von Ehe und Familie, Versammlungs-, Vereinigungs- und Berufsfreiheit, Brilefigeheimnis, Unverletzlichkeit der Wohnung, Gewährleistung und Sozialgebundenheit des Eigentums. Alle diese Wertentscheidungen der Verfassung verbinden sich mit deren übrigen Vorschriften zu einer den gesamten Bereich des staatlichen Lebens beeinflussenden Wertordnung. So sind die genannten, im wesentlichen in den Artikeln 1- 19 GG verankerten Wertvorstellungen unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten noch um weitere Grundentscheidungen zu ergänzen. Ich zitiere hier beispielhaft das Urteil zum Verbot der Sozialistischen Reichspartei (SRP), in dem eine später viel verwendete, manchmal leider etwas breitgetretene Formulierung von der freiheitlichen demokratischen Grundordnung näher entwickelt wird; übrigens ist diese zugleich eine der ganz wenigen Entscheidungen, in denen das Verfassungsgericht den Begriff "Grundwerte" selbst verwendet hat. Nach einem Hinweis auf den notwendigen Schutz "oberster Grundwerte" des Verfassungsstaates fährt der Senat fort: "Dieser Grundordnung liegt letztlich nach der im Grundgesetz getroffenen verfassungspolitischen Entscheidung die Vorstellung zugrunde, daß der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen Wert besitzt und Freiheit und Gleichheit dauernde Grundwerte der staatlichen Einheit sind. Daher ist die Grundordnung eine wertgebundene Ordnung. Sie ist das Gegenteil des totalen Staates, der als ausschließliche Herrschaftsmacht Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ablehnt ... So läßt sich die freiheitliche demokratische Grundordnung als eine Ordnung bestimmen, die unter Ausschluß jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle

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politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Oppositionn." In diesem Zusammenhang ist auf Art. 79 Abs. 3 GG zu verweisen, nach dem die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze (betreffend etwa Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechtsbindung, Demokratie, sozialer Rechtsstaat) einer Verfassungsänderung entzogen werden. Sie gehören so unbedingt zum Selbstverständnis dieses Staates, daßer-nach der Regelung des Grundgesetzes - in seiner Identität verändert wird, wenn diese Ecksteine herausgenommen würden. Bei alledem geht es nicht primär um ethische oder moralische Forderungen. Vielmehr handelt es sich bei der Verfassung um die juristische Erscheinungsform jener Grundwerte, über die ein Konsens besteht und die als Basis für das Zusammenleben in einer staatlich organisierten Gemeinschaft erforderlich sind. Das Grundgesetz ist, soweit es sich nicht um wenige fundamentale Prinzipien handelt, der Verfassungsänderung zugänglich, freilich nicht durch einfache Mehrheit des Parlaments. Nur wenn eine abweichende Beurteilung bestehender Grundgesetzregelungen eine breite Basis gewinnt, sollen diese ausdrücklich geändert werden dürfen. So wird ein gemeinsamer Raum gesichert, innerhalb dessen sich die gesellschaftlichen und politischen Kräfte frei entfalten können und sollen. Spannungen und Konflikte sind dabei nicht ausgeschlossen, sondern können sogar als Motor des Wandels begrüßt werden, weil Fortentwicklung sich aus lebendiger Auseinandersetzung ergibt. IV. Die Bindung aller staatlichen Gewalt an das Grundgesetz, das bewußt keine wertneutrale Ordnung sein will, schafft somit einen Wechselbezug zwischen Staat, Grundrechten und Grundwerten. Aber dies kann nur den Rahmen bilden, den eine staatlich organisierte Gemeinschaft braucht, um zusammenzubleiben, um überhaupt, auch als Staat, inn€re Konturen und eine eigene Identität entstehen zu lassen; die Wertordnung der Verfassung hat das innere Erscheinungsbild unseres Gemeinwesens - in Anknüpfung an eine gute Tradition der deutschen Geschichte- maßgeblich mitgeprägt. Doch es wäre irreführend, wollte man aus dem zutreffenden und wichtigen Hinweis auf die Wertordnung der Verfassung eine Hauptverantwortung des Staates zur Verwirklichung der Grundwerte ableiten. Vielmehr ist es vor allem Sache jedes einzelnen Bürgers und der gesellschaftlichen Gruppen, die Wertbegriffe 19

BVerfGE 2, 1 (12 f.).

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des Grundgesetzes in den Alltag umzusetzen, sie also mit Leben zu erfüllen. Nicht alle für das menschliche Zusammenleben unverzichtbaren Grundwerte sind ja auch Bestandteil der Verfassungsordnung. Die in der Grundwertediskussion immer wieder, wenn auch in unterschiedlicher Akzentuierung genannten Hauptwerte "Freiheit, Solidarität oder Brüderlichkeit, Gerechtigkeit oder Gleichheit" haben zwar unmittelbare Bezüge zu einzelnen Verfassungsnormen; aber andere Werte scheinen sich jeder rechtlichen Festlegung zu entziehen: man kann solche Werte wie Klugheit, Geborgenheit, Tapferkeit, auch in der Form der Zivilcourage, nicht durch Gesetz erzwingen, sondern nur unterstützend fördern. Der Grundwert der Schönheit wird nicht vom Gesetzgeber reali-. siert; allenfalls kann dieser, etwa im Baurecht, der Häßlichkeit entgegentreten. Rene Marcic hat einmal davon gesprochen, daß im sozialen Staat der Einzelne "von Rechts wegen zur Nächstenliebe angehalten" werde. Damit wird aber wohl von der Rechtsordnung zu viel erwartet; sie kann uneigennütziges Verhalten ermutigen oder grob asozialem Verhalten entgegentreten, aber nicht eine christliche oder humanistische Gesinnung erzwingen. Damit bleiben unmittelbar die Einzelnen, die kirchlichen oder politischen Gemeinschaften und die privaten Vereinigungen angesprochen. Ob Grundwerte im Alltag Leben gewinnen - und das gilt auch für die in der Verfassung, zumal in ihrem Grundrechtsteil verankerten Leitlinien -, liegt damit nicht in erster Linie in der Verantwortung des Staates. Aber der Staat - in all seinen Erscheinungsformen, als Gesetzgeber, als Regierung und Verwaltung, als Rechtsprechung- muß dazu beitragen, das Bekenntnis der Verfassung zu einer Wertordnung glaubwürdig zu machen. Selbstverständliche Grundlage ist die unbestrittene Verfassungsbindung aller staatlichen Gewalt. Hinzu kommt nach dem besonderen Willen des Grundgesetzes die zusätzliche Sicherung durch ein Verfassungsgerlebt mit umfassender Kontrollzuständigkeit. Je mehr der Einzelne durch Verwaltungsakt und Richterspruch im täglichen Leben mit der Staatsgewalt in Berührung kommt, je unüberschaubarer die Fülle der Normen wird, um so wichtiger scheint es zu werden, daß der Bürger jedenfalls das Grundvertrauen behält, daß sich alle Hoheitsakte, mögen sie auch im Einzelfall umstritten oder nachteilig sein, doch innerhalb eines Konsensrahmens bewegen, den so der Einzelne jedenfalls grundsätzlich akzeptieren kann. Schon die Möglichkeit, die Einhaltung dieses Vedassungsrahmens im Streitfall nachprüfen zu lassen, kann hier eine wichtige Rolle spielen. Hinzu kommt das Institut der konkreten Normenkontrolle: Kein Richter ist ver-

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pflichtet, widerspruchslos eine Norm anzuwenden, die seiner Auffassung nach mit der Wertordnung des Grundgesetzes nicht vereinbar ist. Der Richter kann das Verfahren aussetzen - und seinen inneren Konflikt zunächst einmal nach Karlsruhe delegieren. Es würde hier zu weit führen, die juristischen Probleme zu vertiefen, die sich etwa in diesem Zusammenhang in der Methodendiskussion an Begriffe wie Einheit der Verfassung, Wertordnung und Einbeziehung sozialen Wandels anschließen. Unstreitig ist jedenfalls, daß kein Gericht, auch nicht das Bundesverfassungsgericht, aufgerufen ist, im Streitfall über die Auslegung bestimmter Wertbegriffe das eigene Wertverständnis stellvertretend einzubringen. Vielmehr geht es um die nicht einfache Aufgabe, mit Hilfe logisch nachvollziehbarer juristischer Auslegungsmethodendie Antwort aus dem Grundgesetz zu finden. Gerhard Müller hat zustimmende Worte für solches Bemühen gefunden, wenn er etwa schreibt: "Die inhaltliche Umschreibung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durch das Bundesverfassungsgericht ist als geglückt anzusehen ... " 20 •

Er hat aber auch mit kollegialer Kritik nicht gespart, wo ihm diese berechtigt erschien. Das Bundesverfassungsgericht hat niemals den Anspruch erhoben, im kritikfreien Raum zu entscheiden. Dafür erleben seine Mitglieder Tag um Tag viel zu deutlich die besondere juristische Verantwortung und die von Gerhard Müller schon früh angesprochenen Bezüge zwischen Wertordnung, gesetztem (Verfassungs-)Recht und Richteramt. Und schließlich: Kritik wird um so ernster genommen, wenn sie von jemandem stammt, der freimütig zugibt, nicht die Wahrheit gepachtet zu haben. Auch das gehört zu Gerhard Müller, daß er als Präsident des Bundesarbeitsgerichts bekennt: "Daß allerdings alles menschliche Tun immer nur Stückwerk ist und daß menschliches Versagen auf allen Ebenen- auch die Richter und die Rechtsgelehrten sollten sich nicht ausschließen - vorkommt, ist ebenfalls zu bedenken. Utopien jeder Art sind mit das Schlimmste, was es gibt 21 ."

Mit diesen Worten wie mit seinem langjährigen richterlichen Wirken hat Gerhard Müller Maßstäbe gesetzt, welche die Zeit seiner Amtstätigkeit überdauern werden.

Das Wort von der Demokratisierung der Gesellschaft, a.a.O., 251. Zur Stellung der Verbände im neuen Betriebsverfassungsrecht, in: Zeitschrift für Arbeitsrecht, 1972, 245. 20

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MINIMA NON CURAT PRAETOR Von Otto Rudolf Kissel Unter diesem nach klassischer römischer Jurisprudenz klingenden Schlagwort1, das teilweise mit dem Anschein eines Rechtssatzes oder doch der allgerneinen Überzeugung in die juristische Umgangssprache Eingang gefunden hat, sind Tendenzen und auch Regelungen zu erfassen, die unter betriebswirtschaftliehen Kosten-Nutzen-Denkweisen oder zur Verwirklichung eines in ganz bestimmte Richtung gehenden Verständnisses von den Aufgaben des Richters sog. Bagatellsachen von richterlicher Beurteilung ausschließen oder fernhalten wollen. Wertvolle richterliche Arbeitskraft, zudem angesichts der modernen Entwicklung der Justiz knapp geworden2 , soll zur Vermeidung eines Mißverhältnisses zwischen dem Wert und der Bedeutung der Streitsache einerseits und der zu ihrer Entscheidung erforderlichen Personal- und Sachaufwendung andererseits von sog. Bagatellsachen ("Kleinkram") freigehalten, entlastet werden. Ganz anders unser Jubilar. Sein Schlußwort anläßlich der Feier zum 25jährigen Bestehen des Bundesarbeitsgerichts arn 12. Oktober 1978 enthält den Satz, daß nur der Richter in der Arbeitsgerichtsbarkeit sein kann, "der ein Herz hat für den Arbeitnehmer", und der Zusammenhang der Rede macht ganz deutlich, daß er den einzelnen Arbeitnehmer meint mit allen seinen Belangen und Nöten (bei allem ausdrücklich betonten Respekt vor der Funktion des Unternehmers wie auch der Verbände). Eine zunächst erstaunliche Aussage angesichts der besonderen (im weitesten Sinne) sozial- und wirtschaftspolitischen Dimension und Auswirkung der Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts; erstaunlich auch angesichts der ständigen Bemühungen, das Bundesarbeitsgericht wie alle obersten Gerichtshöfe des Bundes in ihrer Arbeitslast zu beschränken und zu konzentrieren auf allgernein "bedeutsame" Sachen, was sich dokumentiert in der Entwicklung des Revisionsrechts. Diese ist gekennzeichnet durch eine starke Zurückdrängung des individuellen Rechtsschutzes; die ursprüngliche Bedeutung der Revisionsentscheidung als Urteil für den Einzelfall tritt immer mehr zurück hinter 1 Einen solchen allgemein gehaltenen Rechtssatz kannte weder das Römische noch das Gemeine Recht; vgl. im Anschluß an D 4.1.4: Kaser, Das Römische Zivilprozeßrecht (München MCMLXVI), S. 331. ! Benda DRiZ 1979 S. 362.

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der Auffassung, daß die Bedeutung des Revisionsgerichts, bei allem Respekt vor der individuellen Rechtssuche und den Wirkungen der Revisionsentscheidung für die Prozeßparteien unmittelbar, doch vornehmlich auf der Rechtseinheit und der Rechtsfortbildung beruht. Diese Überlegungen haben sich verdichtet zu der Auffassung, es müßten künftig die obersten Gerichtshöfe des Bundes mehr als bisher auf ihre eigentlichen Aufgaben, nämlich die Erhaltung der Rechtseinheit und die Rechtsfortbildung ausgerichtet sein. Das Interesse der Prozeßparteien an der Beseitigung von ihrer Ansicht nach unrichtigen Entscheidungen in den ersten beiden Instanzen müsse demgegenüber zurück:treten3 • Diese Eingangsbetrachtung führt uns, verallgemeinert auf alle Gerichtsbarkeiten und jeden Staatsbürger, der sein Anliegen, seine Rechte vor unsere Gerichte bringen will oder auch muß, zu der Frage, ob es Mindestgrenzen geben kann für die Inanspruchnahme des Gerichts, unterhalb deren (also in "Bagatellsachen") die Gerichte nicht tätig werden ~ wobei hier die Geltendmachung von Rechten vor Gericht im weitesten Sinne verstanden wird, in allen Gerichtsbarkeiten und Verfahrensarten, als Kläger, Beklagter, auch als Angeklagter usw. Diese Frage führt in das auch aus anderen Problembereichen geläufige Spannungsfeld zwischen dem unbeschränkten Gerichtsschutz der Individualinteressen auf der einen Seite und auf der anderen Seite den Belangen der Allgemeinheit, daß nämlich die Gerichte im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit nur mit wirklich "wichtigen" Verfahren belastet werden, wichtig für die Allgemeinheit, oder auch für den einzelnen Staatsbürger aus der Sicht der Allgemeinheit. Die Frage geht also dahin, ob es mit Rücksicht auf die Gemeinsch:aftsbezogenheit4 der Individualrechte für das dem Grunde nach unbestreitbare Recht auf Gerichtsschutz, im Interesse der Funktionsfähigkeit der Justiz und damit im allgemeinen Interesse eine Mindestgrenze für die Inanspruchnahme des Gerichtsschutzes gibt, unterhalb deren das Gericht nicht angerufen werden kann oder tätig wird; ob Rechte also ohne gerichtliche Schutz- und Durchsetzungsmöglichkeit bleiben, justizfrei, justizlos, im Ergebnis somit rechtlose Rechte sind bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Verbots der Selbsthilfe, das seinerseits seine Rechtfertigung allein hat im 3 Vgl. BTagsDrucks. 8/1567 S. 20; vgl. auch BTagsDrucks. VI/3252, 7/444 und 7/3654; Vogel NJW 1975 S. 1299; Salger I Münchbach DRiZ 1977 S. 264. Im Zuge dieser Entwicklung gilt die reine Zulassungsrevision für die Arbeitsgerichtsbarkeit (§ 72 ArbGG seit 1. 7. 1979 i. d. F. des Gesetzes zur Beschleunigung und Bereinigung des arbeitsgerichtliehen Verfahrens vom 21. 5. 1979, BGBl. I S. 545), ebenso in der Sozialgerichtsbarkeit (§ 160 SozGG) und in der Verwaltungsgerichtsbarkeit (§§ 132, 133 VwGO). In der Finanzgerichtsbarkeit wie in der ordentl. Gerichtsbarkeit besteht ein Mischsystem (vgl. unten Anm. 14). 4 Vgl. zuletzt BVerfGE 33 S. 303, 334; 38 S. 105, 115; 45 S. 187, 228; 50S. 166, 175.

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staatlichen Rechtsprechungs- und Gewaltmonopol, korrespondierend mit dem umfassenden Rechtsschutz. Die so prononciert gestellte Frage wird von uns auf Anhieb kaum bejaht werden, die Unbedingtheit des Art. 19 Abs. 4 GG, längst über seinen unmittelbaren Anwendungsbereich hinaus Bestandteil unseres Rechtsbewußtseins, und unsere uns zur Selbstverständlichkeit gewordenen rechtsstaatliehen Gedanken stehen dem entgegen. Und doch! Viele Vorschriften des geltenden Rechts lassen implizite, wenn auch vielleicht weitgehend unbewußt, auf eine Bejahung der Frage schließen; entsprechendes gilt für die Rechtsprechung und manche rechtspolitische Überlegung. Zwar gibt es keine ausdrückliche Vorschrift über Beschränkungen des erstinstanzliehen Zugangs für den Bürger zum Gericht nach quantitativen Mindestmerkmalen5 ; eine Ausnahme gilt nur für das Strafrecht, das (jedenfalls auch) den Schutz der Rechte des einzelnen Bürgers bezweckt: Hier besteht nicht nur die Möglichkeit, ohne Rücksicht auf den "Wert" des verletzten Rechts bei geringer Schuld oder fehlendem öffentlichen Interesse von der Strafverfolgung abzusehen (§§ 153 a ff., 376 StPO), es sind auch bei Verletzung "geringwertiger" Rechtsgüter herabgesetzte Strafverfolgungsmöglichkeiten geschaffen11 • Aber innerhalb des eröffneten Zugangs zum Gericht lassen sich abgestuft doch mehrere Gruppen von verringerten Rechtsschutzmöglichkeiten allein aus Gründen der geringen Quantität feststellen: Hier ist zunächst die rein quantitativ bedingte Aufspaltung der erstinstanzliehen Zuständigkeit in der ordentlichen Gerichtsbarkeit zwischen Amtsgericht und Landgericht und die sich daraus ergebende Unterschiedlichkeit des Rechtsmittelzugs7 aufzuführen- ein historisches Relikt, das sich in den anderen Gerichtsbarkeiten nicht findet; diese quantitative Aufspaltung gilt sowohl für Zivilsachen(§ 23 GVG) als auch für Strafsachen in Abhängigkeit von der zu erwartenden Strafe(§ 24 GVG) 8 • Eine Beschränkung des an sich gegebenen gerichtlichen Rechtsschutzes allein wegen der "geringen" Höhe des Streitgegenstandes fand sich bis zum 1. 7. 1977 im Schiedsgerichtsverfahren des§ 510 c ZPO, wonach bei einem Wert des Streitgegenstandes unter 50,- DM das Gericht sein 5 Ausschließungen des Zugangs zum Gericht aus anderen Gründen bleiben hier außer Betracht, z. B. wegen Exterritorialität (§§ 18 ff. GVG), wegen Immunität (Art. 46 GG) usw. 8 §§ 73 c, 243 Abs. 2, 248 a, 265 a Abs. 3, 266 Abs. 3 StGB. 7 Eingehend Kissel ZRP 1976 S. 10 ff. 8 Die Durchbrechungen dieser Zuständigkeitsregelung durch ausschließliche Zuständigkeiten sowohl des AG als auch des LG ohne Rücksicht auf den Wert des Streitgegenstandes (§§ 23 a ff., § 71 GVG) sollen hier nicht weiter verfolgt werden.

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Verfahren nach freiem Ermessen bestimmte und gegen das Urteil kein Rechtsmittel statthaft war'; demgegenüber ist die im§ 128 Abs. 3 ZPO vorgesehene Möglichkeit der schriftlichen Verhandlung bei einem Streitwert unter 500,- DM systematisch als Erleichterung für eine Prozeßpartei gedacht und beinhaltet keine Beschränkung des Gerichtsschutzes. Gravierend sind jedoch die Beschränkungen des Rechtsschutzes für "geringe" Streitwerte bei der Statthaftigkeit von Rechtsmitteln. Die Berufung ist vor den ordentlichen Gerichten nur bei einem Wert des Beschwerdegegenstandes über 500,- DM statthaft (§ 511 a ZP0) 10 ; in der Arbeitsgerichtsbarkeit über 800,- DM, wenn nicht die Zulassung ohne Rücksicht auf die Höhe des Beschwerdegegenstandes erfolgt (§ 64 ArbGG); in der Sozialgerichtsbarkeit über 500,- DM mangels Zulassung, auch ist die Berufung wegen bestimmter zeitlich bedingter Leistungen limitiert (§§ 144 f. SozGG); in der Verwaltungsgerichtsbarkeit abweichend von der allgemeinen Regelung bis 31. 12. 1983 nur über 500,-/ 5 000,- DM11 • Vergleichbares gilt für die Beschwerde; sie ist in der ordentlichen Gerichtsbarkeit nur zulässig bei einem Wert des Beschwerdegegenstandes über 100,- DM(§ 567 Abs. 2 ZPO, § 304 Abs. 3 StF0) 12 ; gleiches gilt für die Arbeitsgerichtsbarkeit (§ 78 ArbGG), sowie in Streitigkeiten über Kosten, Gebühren und Auslagen in der Finanzgerichtsbarkeit (§ 128 Abs. 3 FGO) und in der Verwaltungsgerichtsbarkeit (§ 146 Abs. 3 VwGO). Während die Regelung für die Zulässigkeit der Revision tendenziell zur reinen Zulassungsrevision geht13 und diese in der Arbeits-, Verwaltungs- und Sozialgerichtsbarkeit bereits ausschließlich gilt, ist in der ordentlichen Gerichtsbarkeit daneben auch noch die Streitwertrevision vorgesehen, aber nur, wenn in vermögensrechtlichen Streitigkeiten der Wert der Beschwer 40 000,- DM übersteigt(§ 546 ZPO), und in der Finanzgerichtsbarkeit, wenn der Wert des Streitgegenstandes 5 000,- DM übersteigtt4. Darüber hinaus sind in vielen Vorschriften weitere Sonderregelungen für "geringe" Werte enthalten. So sind einerseits Urteile ohne Sicheru § 510 c war u. a. im arbeitsgerichtl. Verfahren nicht anwendbar. Die Vorschrift wurde durch Art. 1 Nr. 54 der Beschleunigungsnovelle vom 3. 12. 1976 (BGBl. I S. 3281) mit Rücksicht auf den neuen § 128 Abs. 3 ZPO aufgehoben (vgl. BTagsDrucks. VI/790 S. 60). 10 In Strafsachen besteht unter diesem Aspekt keine Rechtsmittelbeschränkung. 11 § 4 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit vom 31. 3. 1978 (BGBl. I S. 446). 12 Entsprechende Vorschriften enthalten die §§ 5, 25, 34, 72 GKG; §§ 14, 31, 139 KostO; § 16 ZuSEG; §§ 10, 98, 100, 128 BRAGO; § 13 JVKostO; §§ 9, 11 GVKostG; §§ 12, 13 EhrenRichterEG; § 20 a FGG; §§ 34, 46 LwVerfG; Art. XI § 1 Kost.ÄndG; § 45 WEG (50 DM);§ 14 HausratsVO (500 DM). 13 Vgl. oben Fußnote 3. 14 § 115 Abs. 1 FGO in Verbindung mit Art. 1 des Gesetzes zur Entlastung des BFH vom 8. 7. 1975 (BGBl. I S. 1861).

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heitsleistung für vorläufig vollstreckbar zu erklären, wenn der Gegenstand der Verurteilung 1500,- DM nicht übersteigt(§ 708 Nr. 11 ZPO); andererseits darf im Rahmen der Zwangsvollstreckung eine Zwangshypothek nur für einen Betrag von mehr als 500,- DM eingetragen werden (§ 866 Abs. 3, § 870 a Abs. 2 ZPO, § 322 AO), während es einen solchen Mindestbetrag für die rechtsgeschäftliche Eintragung einer Hypothek nicht gibt, ebensowenig für die Zwangsversteigerung15 • Auch bestehen Vorschriften über das Auf- oder Abrunden von Pfennigbeträgen 1~, über Mindestgebühren17, über die fehlende Möglichkeit, eine Verjährung zu unterbrechen18, über den Verzicht auf die Zahlungsanforderung19 , über die Beschränkung der Einziehung eines Gegenstandes (§ 87 Abs. 5 OWiG) und über die Niederschlagung von Forderungen, wenn die Kosten ihrer Einziehung außer Verhältnis zur Höhe des Anspruchs stehen (§ 59 BHaushaltsO). In der Rechtsprechung ist die Zulässigkeit der Inanspruchnahme der Gerichte unter Privaten wegen kleiner Beträge nicht erörtert20 , wohl aber ist in einigen Entscheidungen der Verwaltungsgerichte der Rechtsschutz auch wegen kleiner Beträge gewährt; so hat das OVG Münstet.-2 1 den Rechtsschutz wegen einer Postgebühr von -,20 DM gewährt, der HessVGff22 wegen der Gebühr für einen Meldeschein über -,25 DM. Jedoch findet sich in einer Entscheidung des BV:erfG zur Zulässigkeit einer Pflichtmitgliedschaft die Begründung, die Beiträge seien so gering, "daß eine fühlbare Belastung des einzelnen Arbeitnehmers nicht entsteht" 23 • Auf dem für den Schutz privater Rechte bedeutsamen Gebiet des Strafrechts sind Entscheidungen wegen der Verletzung "geringwertiger" Rechtsgüter jenseits solcher ausdrücklich normierter Begriffe und damit über die Grenzen des strafrechtlichen Schutzes "geringer" Werte selten24 • Wohl aber bedarf es eines Hinweises auf die Einschränkungen Vgl. Gaul JZ 1974 S. 283. § 11 GKG; § 12 ZuSEG; § 11 BRAGO; § 33 KostO; § 13 GVKostG; § 27 KostVfg. 17 § 11 GKG; § 11 BRAGO; § 33 KostO. 18 § 10 GKG; § 17 KostO; § 12 GVKostG. 19 Vorl. VV zu§ 59 BHaushO; z. B. HessJMBl. 1976 S. 214, 215 (unter 5 DM). 20 Eine Ausnahme macht nur die Entscheidung AG Säekingen (JuS 1975 Heft 9 S. VII): Der 8 cm große gebrauchte Kinderball hat keinen wirtschaftlichen Wert. 21 NJW 1961 S. 1643. 22 OS II 143/63. 23 BVerfGE 38 S. 281, 311. 24 z. B. Ausmaß des Züchtigungsrechts (zuletzt BayObLG NJW 1979 S. 1371), Haarabschneiden (BGH NJW 1953 S. 1440) oder Plakatkleben auf einen Verteilerkasten (BGH NJW 1980 S. 350). Schlagzeilen machte Anfang 1980 die Meldung, daß eine Frau wegen des Ladendiebstahls von Teebeuteln im Werte von 0,99 DM verfolgt wurde. 15

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des Notwehrrechts (§ 32 StGB, § 227 BGB) durch Lehre und Rechtsprechung ohne konkreten gesetzlichen Anhalt, indem die Notwehrbefugnis u. a. eingeschränkt wurde wegen eines Mißverhältnisses zwischen den beteiligten Rechtsgütern- "die Geschichte des Notwehrrechts in unserem Jahrhundert ist im wesentlichen die Geschichte seiner Einschränkungen"25. Wiederholt entschieden wurde die Frage nach der Behandlung von: sog. Kleinbeträgen im Rahmen der Zwangsvollstreckung unter Privaten. Als wohl jetzt h. M. läßt sich feststellen, daß die Zwangsvollstreckung von "Minimalforderungen" wegen deren "geringer" Höhe allein nicht unzulässig ist26 . So wurde die Vollstreckung wegen einer Forderung über -,15 DM im Jahre 1901 vom RG für zulässig angesehen27 , von -,50 DM zuzüglich Kosten28, von -,56 DM2 9, von -,71 DM30, wegen Zinsen in Höhe von 2,37 DM sowie Kosten des darauf bezüglichen Aufforderungsschreibens über 18,66 DM31 , wegen Zinsen aus gezahlter Hauptforderung von 177,2732, wegen einer Forderung über 16,- DM zuzüglich 46,50 DM Verfahrenskosten33, wegen 22,17 DM33a. Besonderer Erwähnung bedarf das Konkursverfahren: Zwar besteht im Gegensatz zu ausländischen Rechten keine Vorschrift über die Mindesthöhe einer Forderung, wegen der ein Gläubiger nach § 103 KO das Konkursverfahren beantragen kann. Es wird jedoch in Rechtsprechung34 und Literatur die Ansicht vertreten, einem solchen Antrag dürfe nicht entsprochen werden, wenn die Forderung des Gläubigers unter Berücksichtigung des Grundsatzes von Treu und Glauben und im Hinblick auf die Bedeutung und die Auswirkungen des Konkursverfahre~_so geringfügig sei, daß ihm am Konkurs ein schutzwürdiges InterEingehend zuletzt Krey JZ 1979 S. 702 ff.; Krause GA 1979 S. 329. Eingehend zuletzt Braun DGVZ 1979 ,s. 129 ff. und Morgenstern NJW 1979 S. 2277 ff.; vgl. auch die Beispiele bei Schneider DGVZ 1978 S. 166, der allerdings für Beträge unter 5 DM die Unzulässigkeit annimmt. 27 RGZ 49 S. 398. 2s LG Stade DGVZ 1978 S. 171. 29 LG Lübeck DGVZ 1979 S. 73. 3o AG Staufen DGVZ 1978 S. 189. 3t LG Wuppertal NJW 1980 S. 297. 32 AG Würzburg JurBüro 1979 Sp. 1081. 33 BVerfGE 48 S. 396 = NJW 1978 S. 2023. aaa OLG Düsseldorf NJW 1980 S. 1171. 34 OLG Stuttgart Rpfleger 1973 S. 255 (144,85 DM); OLG Harnburg MDR 1973 S. 415 = Rpfleger 1973 S. 254 (unter 1 000 DM); LG Nürnberg-Fürth Rpfleger 1968 S. 57 (127 DM); LG Bremen Rpfleger 1972 S. 27 (115 DM); AG Hildesheim Rpfleger 1972 S. 61 (unter 300 DM); AG Köln JMBlNRW 1967 S. 128 (37,70 DM); LG Lübeck SchlHAnz 1964 S. 194 (31,25 DM); Böhle I Stamschräder § 105 Anm. 4; Jaeger I Weber § 103 RdNr. 6; Mentzel I Kuhn § 105 Anm.6. 25

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esse abgesprochen werden müsse. Demgegenüber wird darauf hingewiesen35, daß diese Begrenzung dem Gesetz widerspreche, weil der Gesetzgeber ausgesprochenermaßen auf eine Mindestforderung verzichtet habe36, und zudem die fehlende Festlegung und Voraussehbarkeit der jeweils vom Gericht geforderten Mindesthöhe sowohl die Rechtssicherheit gefährde als auch eine Quelle für Regreßansprüche geschaffen werde. In der rechtspolitischen Literatur wird die Forderung erhoben, Sachen unterhalb eines bestimmten Streitwerts37 sollten nicht justitd.abel sein. Darüber hinaus sollte eine Klage a limine abgewiesen werden können, wenn sie "aus frivolen Beweggründen, kleinlicher Pfennigfuchserei, Rechthaberei, Rach- oder Zanksucht, Prozeßlust, Eigensinn, nachbarlicher Streitsucht oder zur Befriedigung persönlicher Gehässigkeit erhoben wird"38 • In der rechtspolitischen Diskussion findet sich weiter der Vorschlag39, für "Sachen von objektiver geringer Bedeutung", sog. Bagatellsachen, ein vereinfachtes Verfahren vorzusehen. Unter solchen Sachen von objektiv geringer Bedeutung sollen vermögensrechtliche Streitigkeiten bis zu einem Streitwert von 500,- bis 1 000,- DM verstanden werden. Dieses vereinfachte Verfahren findet vor dem Einzelrichter statt, der "über größere Erfahrungen verfügen" soll und auf diese Verfahren spezialisiert ist. Er "kann das Verfahren im wesentlichen frei bestimmen und danach ausrichten, was nach Lage des Falles sachgerecht ist". Insbesondere ist er hinsichtlich der Tatsachenfeststellung nicht an die Anträge der Parteien gebunden40 • Gegen die im vereinfachten Verfahren ergangenen Urteile soll kein Rechtsmittel statthaft sein41 • In der rechtspolitischen Diskussion wird weiter für "geringe" Streitwerte die Entscheidung 35 Gerhardt, Festschrift für Friedrich Weber, 1975, S. 189 ff.; Mohrbutte.,. KTS 1973 S. 190; ähnlich Gaul JZ 1974 S. 283. 3G Uhlenbruck AnwB11972 S. 155. 37 Schiffer, Die Deutsche Justiz, 2. Aufl. 1949 S. 131 ff.: Eine Goldmark im Jahr 1923. 38 Schiffer a.a.O. S. 134; vgl. den Bericht von Günter DRiZ 1980 S. 247. 39 Arbeitsgruppe B des Bundesministeriums der Justiz und der Landesjustizverwaltungen; Kommission des Deutschen Richterbundes für Verfahrensrecht und Gerichtsaufbau, vgl. Rogge DRiZ 1970 S. 150 unter 5; Gerner DRiZ 1971 S. 407 unter 2 b; Wagner, Der Richter, S. 199 f.- Eingehende Erörterungen fanden auf dem 36. Deutschen Juristentag 1930 in Lübeck statt unter der Frage: "Empfiehlt es sich, bei der grundlegenden .Änderung der Gerichtsverfassung besondere Einrichtungen für die Erledigung von Zivil- und Strafsachen geringerer Bedeutung zu schaffen?"; Gutachten von Ernst und Fischer im Gutachtenband I S. 455, 484; die Diskussion ist abgedruckt im Stenographischen Bericht S. 736 ff., der Bericht a.a.O. S. 836; Seetzen DRiZ 1980 s. 177. 40 Eingehend Kissel, Der dreistufige Aufbau in der ordentl. Gerichtsbarkeit, s. 43 f. 41 Gerner DRiZ 1971 S. 407 unter 2 a ee.

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durch einen Friedensrichter gefordert: Dieser Friedensrichter soll aus dem Kreis der Rechtspfleger hervorgehen und eine besondere (zusätzliche) Ausbildung auf einer Fachschule erhalten. Er soll vermögensrechtliche Streitigkeiten bis zu einem Wert von 500,- DM entscheiden, wobei die Rechtsmittelmöglichkeit für diese Streitigkeiten noch eingeschränkt sein soll: In Streitigkeiten bis zu 100,- DM soll ein Rechtsmittel nicht statthaft sein, im übrigen soll über das Rechtsmittel das Eingangsgericht abschließend entscheiden42 • Hier sind auch zu erwähnen die überlegungen zu besonderen Regelungen für die sog. Bagatellkriminalität43, auch für Ladendiebstähle. Allgemein sind gegenwärtig mit Rücksicht auf die ständig steigende Belastung der Gerichte aller Gerichtsbarkeiten und die auch durch die nicht ausreichende personelle Ausstattung der Gerichte bedingte Verzögerung in der Erledigung starke Tendenzen erkennbar, die Gerichte von sog. Bagatellsachen zu entlasten44 • Die geschilderten Besonderheiten im Rechtsschutz und im rechtspolitischen Denken zu "Bagatellsachen" stehen auch im Einklangmit sich zunehmend verbreitenden Denkweisen im allgemeinen Lebensbereich. Das altehrwürdige Sprichwort "Wer den Pfennig Illi.cht ehrt, ist des Talers nicht wert" wird ebenso belächelt wie die Bemerkung "Pfennigrechnung vorgeschrieben" von den Speisekarten längst verschwunden ist. Banken und Sparkassen schließen bei der Prozentrechnung die dritte Stelle hinter dem Komma aus, gleiches gilt für viele andere Bereiche45 • Aber die Geringachtung der kleinen Quantität geht viel weiter. Man denke nur an die 5 Ofo-Klausel des Wahlrechts und die Vorschriften über die Mindestzahl für eine Parlamentsfraktion, deren verfassungsrechtliche ZulässigkeitM' ebenso unbestritten ist wie die Nichtberücksichtigung der dahinter stehenden Zahl von Staatsbürgerntrotz aller Überlegungen zur Funktionsfähigkeit unserer Parlamente, gewonnen auch aus der leidvollen Geschichte, doch nachdenklich macht. Gewiß, im Falle des lösungsbedürftigen Konflikts zwischen zwei Rechtsgütern muß eines von ihnen zurückstehen. Die Formel, daß nach einer Güterahwägung das weniger Bedeutsame, Geringwertige zurücktreten muß, geht uns ebenso leicht wie vordergründig überzeugend von Vgl. Kisset a.a.O. S. 47 und Zukunft der Justiz S. 134, 173. Vgl. Baumann ZRP 1976 S. 268; Benz ZRP 1977 S. 60, 61; Peters 52. DJT C 17 ff.; Mertins GA 1980 S. 47 ff.; Hirsch ZStrW 1980 S. 218. 44 Vgl. Schneider ZZP 79 (1966) S. 46; Bettermann ZZP 91 (1978) S. 380; Benda DRiZ 1979 S. 362, 363; Witte DRiZ 1980 S. 1. 45 In apartem Kontrast dazu steht die gelegentlich im Wirtschaftsleben erscheinende symbolische "eine" Mark, z. B. beim Verkauf eines heruntergewirtschafteten Unternehmens. 4• BVerfGE 1 S. 208, 256; 4 S. 31, 40; 5 S. 77, 83; 6 S. 84, 94; 7 S. 99, 107; 42

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den Lippen, wie die darin liegende jeweilige konkrete Bewertung oftmals nicht nur unter den unmittelbar Beteiligten kontrovers ist. Die geringere Bewertung eines Rechtsguts in einer konkreten Kollision von Rechtsgütern mag und muß hingehen. Aber es mehren sich Anzeichen für einen Umschlag dieser Denkweise zur Konfliktslösung ins Generalisierende, Allgemeine, daß nämlich Güter oder Mengen von "geringem" Wert nicht mehr als Rechtsgut, als rechtlich schutzwürdig angesehen werden. Man denke nur an die Auffassung, daß Gewalt gegen Sachen aus politischen Gründen stets zulässig sei, ohne das hier näher abhandeln zu können47 • Versuchen wir, nach dem (notwendigerweise unvollständigen) Überblick über die rechtliche Behandlung und die allgemeine Denkweise zu "Bagatellsachen" eine Wertung, dann wird sie teilweise bekenntnishaft sein müssen, denn die eingangs aufgezeigte Spannungslage ist rein logisch nicht vollständig auflösbar. Es genügt auch für sich allein nicht, die sonst gängige Abwägung einander widerstreitender Interessen, wie wir sie gerade aus dem Verfassungsrecht besonders kennen, hier also ob etwa Art. 19 Abs. 4 GG überhaupt einschränkbar ist und ob es mit der Idee des Rechtsstaats vereinbar ist, Rechte wegen ihres "Bagatell"Charakters ohne Gerichtsschutz zu lassen und damit sie letztlich dem Inhaber zu entziehen (der Gedanke der Aufopferung drängt sich dann auf). Die Antwort geht an die Grundlagen des Verständnisses vom Rechtsstaat wie auch vom Menschenbild überhaupt. Für die rechtliche Überlegung ist davon auszugehen, daß die Offenheit des Rechtswegs ein Wesenselement der Rechtsstaatlichkeit ist48 • Es ist ein Gebot des Gleichheitssatzesund der Verwirklichung des sozialen Rechtsstaates, daß alle Rechtsstreitigkeiten ohne Rücksicht auf die Höhe des Streitwertes oder die Art des Gegenstandes des Rechtsstreites als gleich bedeutsam zu behandeln sind. Das gilt einmal für den einzelnen, betroffenen StaatS·· bürger, für seine Rechte, die der Staat zu gewährleisten und im Streit·· fall durch seine staatlichen Gerichte zu verwirklichen, durchzusetzen hat ohne Rücksicht auf die Höhe der Forderung oder die Art des geltend gemachten Rechts. Die Notwendigkeit der Gleichbehandlung aller Streitsachen ohne Rücksicht auf den ziffernmäßigen Wert des geltend gemachten Rechts oder die Art des geltend gemachten Rechts gilt aber auch im Verhältnis zur Allgemeinheit. Denn Rechtssicherheit und Gerechtigkeit sind keine Prinzipien, die eine Aufspaltung erfahren können je nach der ziffernmäßigen Höhe oder Art des geltend gemachten Rechts. Die Rechtsordnung kann nicht für Rechtsverletzungen oder Rechtsansprüche unterhalb einer bestimmten Höhe weniger rechtsstaatliche Sicherheiten für die Feststellung des Sachverhaltes und den Ausspruch Eingehend Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol1975, S. 42 ff. Fechner JZ 1969 S. 353; Däubler BB 1969 S. 550; vgl. Kissel in Festschrift für Schiedermair 1976, S. 314 ff. 47

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der rechtlichen Konsequenzen vorsehen als für Streitigkeiten oberhalb einer bestimmten finanziellen Grenze. Mit einer verweigerten Justitiabilität für eine "geringe" Geldforderung würde leicht eine Entwicklung eingeleitet, die über nichtjustitiable "geringfügige" Ehrverletzungen, "leichteste" Körperverletzungen usw. ins krasse Unrecht führen kann - man denke nur an die Vernichtung "lebensunwerten" Lebens. Hinzu kommt, daß der Wert einer Sache kein Gradmesser für ihre Bedeutung ist, weder für den einzelnen noch für die Gesamtheit. Unsere gesamte Sozialstruktur ist derart differenziert, daß die allbekannte und unbestrittene Überlegung nach wie vor Gültigkeit hat, daß ein Prozeß um "wenige" Mark für den einzelnen erhebliche Bedeutung für seine Lebensführung haben und ein Prozeß um 1 000,- DM für ihn eine Existenzfrage sein kann. Wenige Beispiele mögen auch belegen, daß Rechtsstreitigkeiten von rein zahlenmäßig "geringer" Höhe ganz erhebliche Auswirkungen haben können: Der wirtschaftspolitisch weitreichende Streit um den Hausarbeitstag hatte ursprünglich einen Streitwert von 8,- DM49 ; dem Streit um die Aussperrung liegen Lohnzahlungsklagen um 140,- DM zugrunde; die wirtschaftlich wegen ihrer Zahl weitreichenden Prozesse um die teilweise Verweigerung der Bezahlung von Stromrechnungen durch Atomkraftgegner drehen sich um etwa 50,- DM50 ; d·ie erste bekanntgewordene auf dem gleichen Denken beruhende Teilweigerung bei der Bezahlung der Benzinrechnung wegen überhöhter "Profite" der Mineralöl-Multis betraf 1,50 DM; die Entscheidung des BGH um die Pflicht zur Zahlung einer angemessenen Fangprämie durch Ladendiebe betraf 50,- DM51 ; die Entscheidung über die Zulässigkeit des Einforderns eines erhöhten Fahrgeldes von Schwarzfahrern betraf 20,- DM52 ; die Parkuhrenentscheidung des BVerwG betraf 0,10 DM52 a. Die Antwort auf unsere Frage hat aber über die unmittelbare rechtliche Seite hinaus auch eine menschliche, eine anthropologische Seite: sie gibt Auskunft über das Menschenbild einer Rechtsordnung. Die Menschenwürde (Art. 1 GG) wie auch das Recht auf freie Entfaltung der Persön49 BAGE 1 S. 51 = NJW 1954 S. 1301; BAGE 13 S. 1; vgl. zuletzt BVerfG NJW 1980 S. 823 = DB 1980 S. 404. Vgl. Kissel, Der dreistufige Aufbau, S. 34. 50 AG Stuttgart NJW 1979 S. 2047 = JZ 1979 S. 809; AG Harnburg NJW 1979 S. 2315. Die Urteile waren nicht berufungsfähig (§ 511 a ZPO), die gegen sie erhobene Verfassungsbeschwerde wurde nicht angenommen. Zur Problematik vgl. Schultz MDR 1979 S. 902; Lüke NJW 1979 S. 2049; Schwerdtner JZ 1979 S. 810; Waldner NJW 1980 S. 217; Kissel DRiZ 1980 S. 84. 51 NJW 1980 S. 119 = DRiZ 1980 S. 379. 52 AG Frankfurt NJW 1976 S. 853. 52a NJW 1980 S. 850.

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lichkeit (Art. 2 GG) sind ebensowenig quantifizierbar wie der Rechtsstaat selbst. Es gibt kein "bißchen" Freiheit53 , kein "bißchen" Rechtsstaat usw., das draußen vor der Tür der Gerichte bleiben kann. Nehmen wir die Menschenwürde so ernst wie es dem GG vorschwebt, dann muß sin sich, mit vollen rechtlichen Garantien, auch auf alle Emanationen menschlicher Existenz erstrecken, und zwar ungeteilt qualitativ, nicht irgendwie quantitativ, mengenmäßig abgestuft. Es sollte in der Betrachtung auch nicht vernachlässigt werden das Rechtsgefühl des einzelnen Bürgers, das Schaden leiden muß, wenn er einen von ihm als berechtigt angesehenen Anspruch nicht vor Gericht geltend machen kann54 • Es darf beim einzelnen nicht das Gefühl aufkommen, daß seine von ihm als für sich bedeutsam empfundene Rechtssache allein wegen ihrer von anderen als "ger.ingfügig" angesehenen Höhe usw. weniger wichtig genommen Wlird und sich das Gericht überhaupt nicht damit befaßt im Gegensatz zu den Rechtsstreitigkeiten anderer mit einem "höheren" Wert. Eine solche Beeinträchtigung des Rechtsgefühls (das in der rechtspolitischen Diskussion ohnedies weitgehend vernachlässigt wird), müßte nicht nur zum Vorwurf der "Klassenjustiz" oder des "kapitalistischen" Staates führen, sondern weitere negative Folgen haben: Es kann zum Verlust des Vertrauens in die Funktionsfähigkeit und Glaubwürdigkeit des sozialen Rechtsstaates führen, und dieses letztlich zur Staatsverdrossenheit, und damit zur Gefahr für die Existenz des demokratischen Rechtsstaats überhaupt, der von der Identifikation seiner Bürger lebt. "Für einen Staat, der geachtet dastehen will nach Außen, fest und unerschüttert im lnnern, gibt es kein kostbareres Gut, das er zu hüten und zu pflegen hat, als das nationale Rechtsgefühl" hat Ihering 1874 zeitlos formuliert 55 • Darüber hinaus kann das verletzte Rechtsgefühl auch zu neuen Versuchen der Selbsthilfe führen, die zu beseitigen gerade die Aufgabe des sozialen Rechtsstaates ist. Am Anfang des Abgleitens von Michael Kohlhaas stand die Verletzung seines Rechts, für die ihm Rechtsschutz verweigert wurde. Mit welchen Maßstäben soll auch gemessen werden, was für den einzelnen bedeutsam ist, von welcher Menge oder Höhe an ein Recht aus dem Zustand der unbeachtlichien, niclltj,ustitiablen Bagatelle ins respektable Gewand der staatlich anerkannten gerichtswürdigen Bedeutsamkeit schlüpft. Wieviel Unmeßbares spielt hier hinein, auch bei einer 53 Vgl. Kissel, Zukunft der Justiz, S. 173 und Der dreistufige Aufbau der ordentl. Gerichtsbarkeit S. 23, 45, 102; Kurzfristige Beschränkungen ohne Gerichtsschutz, z. B. nach Art. 104 Abs. 2, 3 GG, § 100 b und § 128 StPO; § 13 FreihEntzG usw. sind in unvermeidlichen Sachzwängen im öffentl. Interesse begründet. 54 Kissel, Der dreistufige Aufbau S. 23 und Zukunft der Justiz S. 173. 55 Der Kampf ums Recht, 4. Aufl. 1874, S. 69.

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Otto Rudolf Kissel

"schlichten" Geldforderung auf Schadensersatz. Die Lieblingspuppe eines Kindes, der Fußball eines Schuljungen56, die mühsam gezüchtete Rose eines Gartenliebhabers, der Baum des Naturfreundes, die Wildente der Hedwig in Ibsens Drama - sind sie alle wertlose Objekte, ohne Schutz der staatlichen Gerichte5 7 ? Ich meine, es darf kein Recht geben ohne Gerichtsschutz, wie "gering· fügig" 58 es dem distanzierten, unbeteiligten Betrachter nach dem Gradmesser allgemeiner betriebswirtschaftlicher überlegungen auch erscheinen mag. Der Rechtsschutz darf nicht derart vergröbert werden in einer Zeit, in der die Naturwissenschaft immer mehr Aufmerksamkeit und Bedeutung den kleinen Mengen und Einheiten widmet und die Methode zu ihrer Bestimmung und Gewichtung verfeinert - unter allgemeiner öffentlicher Anerkennung und Unterstützung. Wenn das materielle Recht einen Anspruch anerkennt, muß er auch gerichtlich geltend gemacht und durchgesetzt werden können 59 ; es gibt keinen Rechtsanspruch, der als so gering anzusehen ist, daß er nicht die Inanspruchnahme der staatlichen Rechtsschutzeinrichtungen rechtfertigt80 • Eine ganz andere, hier nicht. zu erörternde Frage ist es, ob die Geltendmachung eines Anspruchs aus anderen Gründen als wegen "Geringfügigkeit" unzulässig erscheint. Deshalb sind alle geschilderten gesetzlichen Vorschriften und Rechtsprechungstendenzenwie auch rechtspolitische Forderungen abzulehnen, die eine Minderbewertung von "Bagatellsachen" darstellen, wie immer sie sich auch auswirken mögen, materiellrechtlich oder verfahrensrechtlich, in der Zuständigkeitsabgrenzung, in den Rechtsmittelmöglichkeiten, in der Zwangsvollstreckung. Der für eine solche Regelung vordergründig sprechende Verhältnismäßigkeitsgrundsatz61 für die Beziehungen zwischen dem einzelnen Staatsbürger und dem in seine Rechte eingreifenden Staat, kann da nicht gelten, wo es um die Wiederherstellung von verletzten Rechten geht oder um deren Ausgleich. Die Ausdeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dahin, daß etwa im Sinne einer Kosten-Nutzen-Analyse a. A. AG Säekingen JuS 1975 Heft 9 S. VII. Der Frage, inwieweit das sog. Affektionsinteresse (Liebhaberinteresse) geschützt wird, kann hier nicht nachgegangen werden. 58 Man beachte die gleichartige Betrachtung in der Bibel, z. B.: Lukas 16, 10; Matthäus 10, 42; 18, 6 und 25, 40. 58 Allorio ZZP 67 (1954) S. 343; Pohle, Festschrift für Lent 1975, S. 198, 219; Eike Schmidt, Der Zweck des Zivilprozesses und seine Ökonomie 1973, S. 44; Stein-Jonas I Schumann-Leipold 19. Aufl., vor § 253 unter III 4 c; Braun DGVZ 1979 S. 133. 60 a. A. nur Schänke in: Das Rechtsschutzbedürfnis 1950, S. 35 f. und in SteinJonas 18. Aufl., Einl. D III 3 c; anders jetzt Schumann I Leipold in 19. Aufl. a.a.O. 81 Zuletzt BVerfGE 50 S. 5, 9 und S. 166, 174. 58

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Minima non curat praetor

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die durch die Inanspruchnahme des Gerichts entstehenden Kosten in einem angemessenen Verhältnis stehen müßten zum "Wert" des geltend gemachten Rechts, wäre eine Verkennung des Sinngehalts des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes62 und ein V:erstoß gegen den Rechtsstaat, weil dieser damit letztlich zu einem von finanziellem Äquivalenzdenken getragenen Wirtschaftsunternehmen degradiert würde. Alle Verzichte des Staats auf "Bagatell"-Forderungen unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten im Verhältnis zum abgabe- und leistungspflichtigen Staatsbürger, so legitim sie auch dort sind, können nicht auf die Rechtsverfolgung des einzelnen Staatsbürgers übertragen werden, weder gegenüber anderen Staatsbürgern noch gegenüber dem Staat. Ob der einzelne für jedes seiner Rechte auch in der Praxis dann Gerichtsschutz begehrt, ist eine ganz andere Frage; das müssen wir dem vielbeschworenen "mündigen" Bürger schon selbst für den Einzelfall überlassen. Man kann Zweifel haben, ob Iherüngs Aufruf zum Kampf ums Recht noch uneingeschränkt höchste sittliche Forderung sein kann. Vielleicht verdient der mehr Respekt, der im Interesse der möglichst optimalen Verwendung der Arbeitskapazität der Gerichte von der Geltendmachung verzichtbarer Rechte Abstand nimmt als Ausdruck seiner Mitverantwortung für die Funktionsfähigkeit des Gemeinwesens; aber aufgrundfreier Willensentscheidung und nicht staatlich erzwungen. Auch minima "curat praetor".

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Gaul JZ 1974 S. 282.

DER KAMPF GEGEN DAS BGB VonErnstWolf I.

Der Kampf gegen ein allgemeines bürgerliches Gesetzbuch für Deutschland begann, als im Jahre 1814 Savigny der von Thibaut vertretenen Forderung nach einem solchen Gesetzbuch1 entgegentrat2 • Diese nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft erhobene Forderungs lag in der Konsequenz der damaligen Kodifikationsbewegung wie auch der Aufklärung und des politischen Liberalismus. Sie bedeutete die Beseitigung des römischen Rechts in den Gebieten Deutschlands, in denen es noch als Gemeines Recht angewandt wurde, wie auch der in anderen Gebieten an dessen Stelle getretenen landesrechtliehen Kodifikationen. Savignys Widerstand gegen diese Forderung hing mit seiner traditionellen Gebundenheit an das römische Recht, dem Einfluß der deutschen idealistischen Philosophie und der politischen Restauration zusammen. Nach Thibaut sollten durch die geforderte Kodifikation die von ihm dargelegten Mißstände auf dem Gebiet des Bürgerlichen Rechts beseitigt werden4 • Nach Savigny entsteht alles Recht als Gewohnheitsrecht im "gemeinsamen Bewußtsein des Volkes". Seine "Wurzel" ist der "Volksglaube" 5• "Das Recht wächst" nach Savigny "mit dem Volk fort, bildet sich aus mit diesem und stirbt endlich ab,. so wie das Volk seine Eigentümlichkeit verliert". Diese "innere Fortbildung auch in der Zeit der Kultur" geschieht im "gemeinsamen Bewußtsein des Volkes", dem "Volksgeist", später im "Bewußtsein der Juristen" "ganz auf organische Weise" "durch innere, stillwirkende Kräfte, nicht durch die Willkür eines Gesetzgebers" 8 • 1 Thibaut, Über die Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland, 1814; abgedruckt in: Hattenhauer, Thibaut und Savigny, 1973 (zit.: Hattenhauer); S. 62 ff., insbesondere S. 67. 2 Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814; abgedruckt in: Hattenhauer, S. 95 ff.; insbesondere S. 123 ff. s Vgl. Hattenhauer, S. 40 ff. 4 Hattenhauer, S. 66 ff. 5 Savigny, System des heutigen römischen Rechts, 1. Band, 1840 (zit.: System), S. 35. 8 Hattenhauer, S. 104 f. Vgl. dazu meine Ausführungen Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, 2. Aufl., 1976 (zit.: Allg. T.) § 17 (523 ff.) m. w. N.; Savigny, System, S. 41 spricht auch vom "Fortschreiten des Rechts".

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ErnstWolf

Der "Inhalt des Gesetzes" ist nach Savigny "das schon vorhandene Volksrecht", "das Gesetz ist das Organ des Volksrechts" 7 • "Das Gesetz" "erfüllt den Beruf der Ergänzung und Nachhilfe". "Dem Gesetzgeber" "muß" "die vollständigste Anschauung des organischen Rechtsinstituts vorschweben, wenn das Gesetz seinem Zweck entsprechen soll, und er muß durch einen künstlichen Prozeß aus dieser Totalanschauung die abstrakte Vorschrift des Gesetzes bilden"8. "Die natürliche fortbildende Kraft des Volksrechts" "kann" "nicht durch den an sich zufälligen Umstand aufgehoben werden", "wenn ein früheres Erzeugnis desselben die Form der Gesetzgebung angenommen hat" 9 • Nach Savigny "entsteht durch die dem Stoff gegebene wissenschaftliche Form, welche seine inwohnende Einheit zu enthüllen und zu vollenden strebt, ein neues organisches Leben, welches bildend auf den Stoff selbst zurückwirkt, so daß auch aus der Wissenschaft als solcher eine neue Art der Rechtserzeugung unaufhaltsam hervorgeht". Die" Urteilssprüche der Gerichte" sind "praktische Formen". In allen diesen "Formen" "erscheint" die "formelle" und "materielle" "Wirksamkeit" des "Juristenstands" als des "Repräsentanten des Ganzen" 10• Savigny definiert die von ihm gebrauchten Ausdrücke nicht. "Wachsen", "innere Fortbildung" und "innere Notwendigkeit" sind andere Benennungen für absolutes geschichtliches "Werden" im Sinn der dynamistischen idealistischen Metaphysik Hegels. Es handelt sich dabei um die selbsttätig fortschreitende widersprüchliche "Verwirklichung" der "Idee" im Sinn dieser Metaphysik, nach der "Denken" und "Sein" als identisch aufgefaßt werden (Identitätsphilosophie). Die "Idee" wird als absolutes innerweltliches dynamisches "Ganzes" geglaubt. "Was in dem einzelnen Volk wirkt, ist" nach Savigny "nur der allgemeine Menschengeist, der sich in ihm auf individuelle Weise offenbart", m. a. W. der "Weltgeist" im Sinn der Philosophie Hegels. Savignys "Volksrecht" ist eineAbwandlung der "Rechtsidee" 11• Diese "Idee" ist mit der Erfahrung nicht zu vereinbaren, existiert also nicht. Dasselbe gilt für ihre vermeintlichen "Formen". Tatbestände und Rechtswirkungen, Gesetze und Gesetzgebung kann es danach nicht geben: Wenn alles nur ein einziger absoluter Werdefluß ist, sind Beständigkeiten, objektive Merkmale, Begriffe, mithin auch Rechtsbegrüfe, Urteile, Gesetze, Logik, Systematik und wissenschaftliches Erkennen nicht möglich. 7 Savigny, System, S. 39. 8 Savigny, System, S. 44. 9 Savigny, System, S. 43. 10 Savigny, System, S. 46. Zu Savignys Zeit waren Rechtsfakultäten zugleich Spruchkörper. 11 Savigny, System, S. 20. Die Identität von Denken und Sein drückt Hegel (Vorrede zur Rechtsphilosophie) mit dem Satz aus: "Was wirklich ist, das ist vernünftig, und was vernünftig ist, das ist wirklich." Vgl. meine Ausführungen Gibt es eine marxistische Wissenschaft, S. 25, 196.

Der Kampf gegen das BGB

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Absolutes "Werden" kann nicht Gegenstand eines Begriffs sein und nicht gedacht werden, weil Begriffe unveränderliche objektive Merkmale enthalten, durch die sie inhaltlich bestimmt und begrenzt sind, also nicht absolut sind. Der fehlerhafte Gebrauch des Wortes "Wissenschaft" in der Bedeutung von irrationalem weltanschaulichem Glauben an die "Idee" oder "Rechtsidee" in der idealistischen Philosophie 12 und Rechtswissenschaft kann daran nichts ändern. Mit einer wissenschaftlichen Rechtslehre haben die Ausführungen Savignys nichts zu tun. "Organisches Leben" ist ein anderer Ausdruck für die in der idealistischen Philosophie geglaubte absolute Harmonie des "Werdens" der Idee. Unter "Totalanschauung" versteht Savigny entsprechend dieser Philosophie eine irrationale ganzheitliche Geistestätigkeit. Die "Gesetzgebung", durch die das als "Stoff" bereits vorhandene "Volksrecht" eine andere "Form" "annimmt" und das "schon vorhandene Volksrecht" "Ergänzung und Nachhilfe" erfährt, ist ungeachtet ihrer Bezeichnung als "künstlicher Prozeß" ebenfalls irrational. Diese "Gesetzgebung" besteht nach Savigny nicht darin, Recht zu setzen und es damit zu erzeugen; denn "schon vorhandenes Volksrecht" kann nicht mehr erzeugt werden. Die "Rechtswissenschaft" besteht nicht darin, Recht zu erkennen, sondern "neues organisches Leben" zu "erzeugen". Gesetzgebung und wissenschaftliche Rechtserkenntnis gibt es nach Savigny nicht. Nach Savigny sind "alle Rechtsinstitute zu einem System verbunden", das eine "organische Natur" habe. Nach ihm besteht "Identität" von "Theorie und Praxis" 13 • Das läßt sich nicht halten. Ein System ist die logische Ordnung der wissenschaftlich erkannten Allgemeinbegriffe, Gesetze und Regeln, die Gegenstände einer Gattung betreffen14• Ein System ist kein Lebewesen und somit nicht organisch15 • Eine Theorie ist ein wissenschaftlich bewiesenes allgemeines Urteil über notwendige Zusammenhänge. Praxis ist praktisches Handeln nach theoretisch begründeten Regeln. Theorie ist allgemein, Praxis individuell. Theorie und Praxis schließen einander logisch aus. Das gilt auch, wenn unter "Praxis" die Rechtsprechung verstanden wird. Mit den Behauptungen, ein "System" habe eine "organi12

196.

Vgl. meine Ausführungen: Gibt es eine marxistische Wissenschaft, S. 25,

u Savigny, System, S. 10 f. Nach Larenz "bedeutet" "der Gedanke des ,Systems'": "Entfaltung einer Einheit in einer Mannigfaltigkeit, die dadurch als ein Sinnzusammenhang erkannt wird" (Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. [zit.: Methodenlehre], S. 20). Diese der Philosophie Kants entsprechende Auffassung läßt sich nicht halten. "Einheit des Mannigfaltigen" ist Einheit des Widersprüchlichen; das ist logisch unmöglich. 15 Anders Larenz (vgl. Methodenlehre, S. 20 f.) im Anschluß an Savigny. 14

55 Festschrift f. G. Müller

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sehe Natur", "Theorie und Praxis" seien "identisch", verwirrt und verneint Savigny diese Begriffe. Savignys Lehre von der "Wissenschaft" als "Rechtsquelle" ist bedingt durch seinen falschen metaphysischen Glauben an die "inwohnende Einheit" von Recht und Wissenschaft. Dieser schließt ein, daß "Recht" nur gedacht sei16 , das als "Recht" "Gedachte" damit auch existiere. Das läßt sich nicht halten. Erkennen ist begründet wahres Beurteilen eines Gegenstands. Ein Urteil ist eine Verknüpfung von Begriffen zu einer Seinsbehauptung. Urteilen ist Denken. Erkennen geschieht also durch Denken. Um erkannt werden zu können, muß ein Gegenstand existieren. Er kann nicht durch Erkennen erzeugt werden. Erkennen ist nicht Erzeugen des Erkenntnisgegenstands, Erzeugen nicht Erkennen. Mit der gegenteiligen Behauptung werden das Existieren der Erkenntnisgegenstände hier der rechtlichen Verhältnisse - und deren Erkennen einschließlich ihres wissenschaftlichen Erkennens verneint. Mit Savignys Lehre von dem im "Volksbewußtsein" oder "Volksgeist" "organisch wachsenden Recht" und der "Rechtserzeugung" durch "Wissenschaft" bricht auch seine Lehre von der "Fortbildung des Rechts" zusammen. Die "lebendige Konstruktion des Rechtsverhältnisses in jedem gegebenen Fall" ist nach Savigny das "geistige Element der juristischen Praxis" im Unterschied zum "bloßen Mechanismus, den so viele Unkundige darin sehen" 17 • Das Wort "Mechanismus" bezieht sich auf methodisches logisches Schließen. Da es ohne solches Schließen kein rechtswissenschaftliches Erkennen gibt, verneint Savigny dieses. Die von ihm angenommene "lebendige Konstruktion des Rechtsverhältnisses" in jedem gegebenen Fall beruht auf dem falschen metaphysischen Glauben an eine ursprüngliche und zielhafte dynamische Einheit von "Recht" und "Rechtserkenntnis" in der "Idee". Das "Recht" wird dabei als mit seinem Gedachtwerden identisch und durch dieses änderbar aufgefaßt. Zwischen dem Gegenstand "Recht" und dem sich darauf beziehenden "Begriff" besteht kein Unterschied. Da diese Ineinssetzung sachlich und logisch unmöglich ist, wird das Denken verwirrt. Das "geistige Element der juristischen Praxis" ist in Wahrheit deren Auflösung. Nach Savigny soll der "Zusammenhang des Rechts mit dem allgemei · nen Volksleben das politische Element, das abgesonderte wissenschaftliche Leben des Rechts aber das technische Element desselben" sein 18 • 16 So meint z. B. Nipperdey (Enneccerus I Nipperdey, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, 15. Aufl., 1. Halbband, 1959, § 7'2, S. 437, Fn. 22), daß "Rechte nicht tatsächlich existieren, sondern Gedankendinge" seien; vgl. dazu meine Ausführungen, Allg. T., § 1 C II f, S. 60 ff. 11 Savigny, System, S. 8. 1s Hattenhauer, S. 104.

Der Kampf gegen das BGB

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Savigny setzt damit einerseits "Wissenschaft", "organische Natur" und "Technik", andererseits aber auch "organische Natur" und "Politik" als identische Totalität. Außerdem sollen auch noch "Theorie und Praxis", also Allgemeines und Individuelles identisch sein. Die logische und sachliche Verworrenheit dieser fehlerhaften Identifikationen ist offensich.tlich. Wenn nach Savigny "das Recht" im "Volksbewußtsein" oder "Volksgeist" "wächst" und "das Volk" "bei steigender Kultur" "in dieser Funktion" vom "Bewußtsein der Juristen repräsentiert" wird 19, setzt er Recht und Rechtserkenntnis, Gegenstand und Begriff, Sein und Denken als dynamische Einheit. Das entspricht der Grundthese der idealistischen Philosophie, daß "Denken" und "Sein" dasselbe seien. Wenn Savigny weiterhin erklärt, "die erste Frage" sei: "Was ist recht und gut" 20 , setzt er dieser Philosophie entsprechend "Recht" und "Sittlichkeit" in eins. Wenn Savigny schließlich einerseits das "klare Bewußtsein" rühmt, das er "in der Jugendzeit der Völker" bemerken zu können glaubt, und dabei zugleich andererseits vom "Fortschreiten" des Rechts und von "Rechtsfortbildung" spricht, handelt es sich um die sich historisch selbsttätig "verwirklichende" unpersönliche "Idee", die als "Urbild" zugleich "Ursprung" und "Ziel" alles dessen sein soll, was es gibt. Die Geschichte als fortschreitende "Verwirklichung" der "Idee" wird als ein dynamisches "Ganzes" ("Geschichtsganzes") gedeutet. "Recht" und "Geschichte", aber auch "Recht" und "Vernunft" oder "Geist" und "Volksganzes" sind nach dieser idealistischen Lehre absolute, überindividuelle, ideale, dynamische Einheit (historische Rechtsauffassung). Die behauptete Einheit der "Idee" widerspricht der Erfahrung, existiert also nicht 21 • Der idealistische Glaube, was "gedacht" werde, das "existiere" auch, ist beweisbar falsch. Ein Gegenstand, auf den sich ein Begriff bezieht, ist nicht dieser Begriff. Zum Beispiel ist ein Hund nicht der in bezug auf ihn gedachte Begriff Hund. Wird der Begriff Hund gedacht, existiert darum noch kein Hund. Ein Hund kann nicht "konstruiert" werden. Das alles gilt auch für rechtliche Verhältnisse und deren "Konstruktion". Die von Savigny angenommene "Anschauung des Rechtsverhältnisses" entfällt auch deshalb, weil rechtliche Verhältnisse nicht sinnlich wahrnehmbar sind. Die mit "Anschauung" gemeinte mystische Intuition und das mit "Konstruktion" gemeinte logisch widersprüchliche Erzeugen im "Bewußtsein" sind nicht wissenschaftliches Erkennen, sondern absolutes weltanschauliches Glauben. Dieser Glaube ist 19 20 21

Hattenhauer, S. 104. Hattenhauer, S. 98, 102.

Vgl. meine Ausführungen, Gibt es eine marxistische Wissenschaft, S.

124 ff., 187 ff., 204.

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notwendig falsch, weil rechtliche Verhältnisse inhaltlich beschränkt und bedingt, also nicht absolut sind und somit nicht Gegenstand eines absoluten Glaubens sein können. Mit dem absoluten Glauben an das "Wachsen" des Rechts im "Volksgeist" werden Recht und wissenschaftliche Rechtserkenntnis verneint. Das Völkerrecht ist nach Savigny "eine unvollendete Rechtsbildung", "weil ihm diejenige reale Grundlage fehlt, die dem Recht der einzelnen Glieder desselben Volkes in der Staatsgewalt und namentlich in dem Richteramt gegeben ist" 22 • Ohne diese "reale Grundlage" ist das nach Savigny in einem "natürlichen Entwicklungsprozeß" 23 im "Volksgeist" "wachsende" "positive" Recht, das Savigny auch "ideales" Recht nennt24, also nicht real. Die "Identität" von "Theorie und Praxis" ist danach eine Einheit von Nichtrealem und Realem. Da Theorie und Praxis, Reales und Nichtreales kontradiktorische Begriffe sind, existiert die behauptete "Einheit" nicht. Das "System des positiven Rechts einer Nation" beruht nach Savigny darauf, daß das "Subjekt", "in welchem und für welches das positive Recht sein Dasein hat, das Volk ist". Das "individuelle Volk als Erzeuger und Träger des positiven oder wirklichen Rechts" ist nach Savigny "ein unsichtbares Naturganzes mit unbestimmten Grenzen". Es sei "das ideale Volk", das "auch die ganze Zukunft in sich" schließe, "also ein unvergängliches Dasein" habe. Das "positive Recht" sei "das ideale Recht des Volks als Naturganzen". Das "Volk" nennt Savigny auch die "Volksgemeinschaft"25. "Positives Recht einer Nation", "individuelles Volk", "wirkliches Recht", "ideales Volk", "ideales Recht" und "Volksgemeinschaft" sind nach diesen Ausführungen Savignys dasselbe "unsichtbare Naturganze mit unbestimmten Grenzen": "die Idee". Außerhalb dieser existiert nichts, in der "absoluten Volksgemeinschaft" gibt es keine individuellen rechtlichen Verhältnisse einzelner Menschen, mithin kein Recht. Das "Volk" ist das einzige "Subjekt". Scheinbare Unterschiede in diesem betreffen nur die Darstellung verschiedener Seiten26 ein und derselben absoluten "Idee". Die "Idee" ist in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft identisch, also ein geschichtliches Ganzes. Auch "Recht" und "Geschichte" sind danach eine absolute "Einheit". "Ein zweifacher Sinn ist" nach Savigny "dem Juristen unentbehrlich: Der historische, um das eigentümliche Savigny, System, S. 33; vgl. auch S. 39. Savigny, System, S. 17. 24 Savigny, System, S. 30. 2s Savigny, System, S. 32, 35; vgl. meine Ausführungen, Allg. T., § 17 (524 f.) 22 23

m.w.N. 28 Das "Wesen" des Rechts ist nach Savigny (Hattenhauer, S. 114 f.) "das Leben der Menschen selbst, von einer besonderen oSeite angesehen".

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jedes Zeitalters und jeder Rechtsform scharf aufzufassen und der systematische, um jeden Begriff und jeden Satz in lebendiger Verbindung und Wechselwirkung mit dem Ganzen anzusehen, d. h. in dem Verhältnis, welches das allein wahre und natürliche ist" 27 • Mit dem Ausdruck "Wechselwirkung" übernimmt Savigny den zentralen Terminus der Hegeischen Dialektik. Logisch und damit auch sachlich gibt es das nicht. Der der historischen Rechtsauffassung zugrundeliegende Glaube an eine absolute Einheit von "Recht" und "Geschichte" läßt sich nicht halten. Geschichte sind die das Sein eines entstandenen Seienden oder mehrerer miteinander zusammenhängender entstandener Seiender bedingenden Tatsachen. Das sind die die Entstehung und späteren Änderungen dieser Seienden bedingenden Tatsachen. Es handelt sich dabei stets um das Sein bestimmter Seiender, z. B. eines oder mehrerer rechtlicher Verhältnisse. Eine Geschichte aller Seiender ist nicht denkbar. "Die Geschichte" gibt es also nicht. Geschichte sind stets mehrere Seiende, die zufällig zueinanderkommen. Der Versuch, Geschichte zu einer Einheit zu verknüpfen, führt notwendig zu Widersprüchen. Gesetze der Geschichte gibt es nicht. Ein "Geschichtsganzes" existiert nicht. Geschichte ist mithin auch nicht selbsttätige Verwirklichung der "Idee", der "Vernunft", des "Weltgeists", oder des "Volksgeists". Vernunft ist Denken, Entschließen und Wollen in Übereinstimmung mit den Gesetzen der Logik. Vernunft existiert nur in einem einzelnen Menschen. Es gibt weder eine "Vernunft" oder einen "Geist" der Geschichte noch eine vernünftige Geschichte oder geschichtliche Vernunft. Geschichte ist nicht Recht und Recht ist nicht Geschichte. Rechtsgeschichte ist Geschichte und somit ebenfalls nicht Recht. Die Frage, wie und wodurch ein Gegenstand entsteht oder sich ändert, ist eine andere als die, was er seinem Wesen nach ist. Nur wenn bekannt ist, was ein Gegenstand ist, kann erkannt werden, wie und wodurch er entsteht und sich ändert. Bei einem seinem Wesen nach unbekannten Gegenstand ist das nicht möglich. Die Erkenntnis der Entstehung und des Änderns setzt die des Wesens voraus. Nach der historischen Rechtsauffassung wird das alles fehlerhaft ineinsgesetzt28. Im Ergebnis werden damit Rechtserkenntnis und Geschichtserkenntnis vermengt, verwirrt und aufgelöst. 21 28

Hattenhauer, S. 125. H. U. Kantorowicz (Rechtshistorische Schriften, 1970, S. 401 f.) führt in

seinem 1911 erschienenen Aufsatz ,Was ist uns Savigny?' zutreffend aus, Historismus sei "jene Einseitigkeit des Denkens, die in dem Gegenstand einer Wissenschaft lediglich oder vorzugsweise einen Gegenstand geschichtlicher Betrachtung" sehe, und legt die Fehlerhaftigkeit dieser Einstellung Savignys dar. Er unterscheidet zwischen Rechtsdogmatik und Rechtsgeschichte. In Einzelheiten kann Kantorowicz allerdings nur teilweise gefolgt werden.

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Wenn gleichwohl in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der publizistische Erfolg auf seiten Savignys und der von diesem begründeten historischen Rechtsschule war29, dürfte dies mit dem mächtigen Einfluß der deutschen idealistischen Philosophie, insbesondere der Geschichtsphilosophie zusammenhängen. Thibaut stand dazu nicht in grundlegendem Gegensatz. Er verbat sich für seine Schule "den anzüglichen Namen: ungeschichtliche Schule" und bezeichnete sie als "nicht-bloß-geschichtliche, oder: geschichtlich-philosophische Schule"30 • Das Wesen der Kodifikation als eines dogmatischen Gesetzeswerks hat Thibaut nicht erkannt. Eine Kodifikation ist die systematische Gesamtregelung der rechtlichen Verhältnisse einer Gattung, hier der bürgerlich-rechtlichen Verhältnisse, durch einen Akt der staatlichen Gesetzgebung. Durch Systematik wird die logische Widerspruchsfreiheit wissenschaftlicher Erkenntnisse gesichert. Eine Wissenschaft muß daher systematisch sein. Die Systematik einer wissenschaftlichen Sachlehre, z. B. der Zivilrechtslehre, ist deren Dogmatikll 1 • In der Kodifikation ist das Problem des Verhältnisses zwischen dem System der natürlichen rechtlichen Verhältnisse und den durch staatliche Gesetzgebung oder rechtsgeschäftliche Regelung hergestellten rechtlichen Verhältnissen grundsätzlich gelöst. Zugleich wird damit dem Bedürfnis der juristischen Praxis nach übersichtlichkeit und Klarheit der gesetzlichen Regelungen genügt. Ohne Kodifikation sind wissenschaftliche Rechtserkenntnisse in Theorie und Praxis, Gesetzesgebundenheit der Rechtsprechung und Rechtsstaat nicht möglich. I I.

Das am 1. Januar 1900 in Kraft getretene BGB ist eine systematisch geschlossene Kodifikation. Vorzüge des BGB sind namentlich: die konsequente Sonderung des sachlichen Rechts vom Prozeßrecht ohne Zerreißung der Zusammenhänge; die Voranstellung der die allgemeinen 29 Um die Mitte des 19. Jahrhunderts vollzog sich eine Wende. Thibaut hatte in seinem Aufsatz "Über die sogenannte historische und nichthistorische Rechtsschule" (AcP XXI [1838], S. 391 ff.; Hattenhauer, S. 274 ff.) den Kampf gegen die historische Rechtsschule wieder aufgenommen. Savignys Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft" ging 1850 ein. In Zusammenhang mit der Deutschen Nationalversammlung, 1848/49 kam es zu einerneuen Kodifikationsbewegung. 3o Hattenhauer, S. 270. 3t Die Ablehnung der Dogmatik in der historischen Rechtsschule hängt zusammen mit Kants scharfen Angriffen gegen den "Dogmatismus" der rationalistischen Philosophie. Diese Angriffe waren begründet, weil es logisch und sachlich unmöglich ist, aus vorausgesetzten absoluten Axiomen, spezielle und individuelle Folgerungen abzuleiten. Mit wissenschaftlicher Dogmatik hat dieser "Dogmatismus" nichts zu tun.

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Grundlagen betreffenden Bestimmtmgen in einem Allgemeinen Teil, das System des Vermögens- und Personenrechts, das System der dinglichen tmd persönlichen, relativen und absoluten rechtlichen Verhältnisse, die strenge Scheidung von Tatbestand und Rechtswirkung, die einheitliche Systematik der Rechtsgeschäfte einschließlich der Verträge, das Recht der Verfügungsgeschäfte zugleich als Grundlage des Zwangsvollstreckungsrechts, das Recht der Bedingungen und der Stellvertretung, die Regelung des Verhältnisses von Schuld und Haftung, die Aus-· arbeitung eines einheitlichen Bereicherungstatbestands auf der Grundlage der Abstraktheit der Vorteilsverschiebungen und eines einheitlichen Deliktstatbestands auf der Grundlage der Unterscheidung von Widerrechtlichkeit und Schuld, die Systematik des Sachenrechts auf der Grundlage eines einheitlichen Begriffs Eigentumsrecht, das Recht der abstraktenSchuldverhältnisse zugleich als Grundlage desWertpapierrechts, das Gemeinschaftsremt. Die Verfasser des BGB haben den gesamten Stoff des römischen Rechts einschließlich der Pandektistik des 19. Jahrhunderts dogmatisch verarbeitet. lnfolge des Einflusses der positivistischen Wissenschaftstheorie entsprechen die bis ins Letzte sorgfältig durchgearbeiteten Regelungen einer realistischen Wissenschaftslehre und Ontologie, die in ihnen als allgemeine Grundlage unausgesprochen vorausgesetzt ist. Die Geschlossenheit der Dogmatik des BGB ermöglichte es seinen Verfassern, Fragen, die nach dem Stand der Rechtswissenschaft nicht entscheidungsreif waren, der Klärung durch die Wissenschaft zu überlassen. In nicht wenigen Punkten, z. B. dem Recht der Rechtsgeschäfte einschließlich des Vertragsrechts und des Verfügtmgsrechts, sind die im BGB getroffenen Regelungen kaum noch verbesserungsfähig. Der Widerstand, der dem BGB von bestimmten Seiten entgegengesetzt wurde, konnte nicht auf Mängel dieses Gesetzbuchs gestützt werden. Der römischrechtliche Einfluß geht in der Endfassung an keiner Stelle über das sachlich Gerechtfertigte hinaus. Daß das BGB nicht in einer volkstümlichen Sprache gefaßt ist, stellt keinen Mangel dar. Die juristische Fachsprache kann nicht volkstümlich sein; die romantische Forderung, sie durch eine volkstümliche Ausdrucksweise zu ersetzen, steht in Gegensatz zu den Erfordemissen der Sache. Der Widerstand gegen das BGB war vorbereitet. Im Einflußbereich der Lehren Savignys war versucht worden, dessen logisch und sachlich unmögliche Lehren vom "Wachsen" des Rechts im "Volksgeist", vom Gewohnheitsrecht, von der Rechtswissenschaft als Rechtsquelle und von der "lebendigen Konstruktion des Rechtsverhältnisses in jedem gegebenen Fall" in der gemeinrechtlichen Praxis dennoch durchzuführen. Das hatte zu dem Bemühen geführt, die vielfach widersprüchlichen, lückenhaften und überholten Sätze des im 6. Jahrhundert

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zusammengestellten Corpus Juris Civilis durch zweckbedingtes Ändern der damit durch Leerwörter ersetzten "Begriffe" in einer Weise anwendbar zu machen, die Jhering so beschreibt: "Die Begriffe sind produktiv, sie paaren sich und zeugen neue" 32 . Da Begriffe in ihren Merkmalen so wenig änderbar sind wie die Gattungen und Arten der Gegenstände, auf die sie sich beziehen, wurden die Begriffe damit aufgegeben und durch begriffswidrige Wortkonstruktionen ersetzt. Die abwegigen Ergebnisse und Begründungen dieser Konstruktionsjurisprudenz führten zu einem Aufstand, der in einem Vortrag eines Praktikers33 "Über die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft" zum Ausdruck kam. Der Angriff traf aber nicht nur die wissenschaftlich unhaltbare Konstruktionsjurisprudenz, sondern die Rechtswissenschaft insgesamt. Ein entsprechender Angriff wurde von Jhering geführt, dessen rechtstheoretische Schriften ungeachtet ihrer wissenschaftlichen Unhaltbarkeit34 breite Wirkung hatten, Jhering nannte die methodisch unmögliche begriffswidrige Konstruktionsjurisprudenz, deren Gründe ihm verborgen waren, in grotesker Wortverdrehung "Begriffsjurisprudenz" 35 und lenkte dadurch den Widerstand gegen die Konstruktionsjurisprudenz auf Begriffe, Logik und wissenschaftliche Methoden der Rechtserkenntnis ab. In seinem Werk "Der Zweck im Recht" bezeichnet Jhering den "Z.weck" als "Schöpfer des gesamten Rechts". An die Stelle des "Volksgeists" setzte er die "Gesellschaft". Die "Gesellschaft" sei ein "Zusammenwirken für gemeinsame Zwecke"38 • Diese sachlich und methodisch falsche teleologische37 Alternative zur "Begriffsjurisprudenz" führte zur dynamischen Anpassung des "Rechts" an fallweise wechselnde "Zwecke", zum Primat der Praxis gegenüber der Theorie, zur absoluten Praxis, zur Ideologisierung und politischen Instrumentalisierung der Rechtslehre und Rechtsprechung38. Mit all dem wurde die wissenschaftliche Rechtserkenntnis aufgelöst39 . 3 2 Jhering hat damit, ohne es freilich zu erkennen, die "synthetische Einheit des Mannigfaltigen" im Sinn des kantischen Transzendental-Idealismus beschrieben, die der Sache nach eine falsche Einheit des Widersprüchlichen (Dialektik) ist. Er hat über seinen zitierten Satz später selbst gespottet. Vgl. Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, 8. Aufl., 1899, S. 7. 33 Staatsanwalt v. Kirchmann, 1847; vgl. dazu Larenz, Methodenlehre, S. 47. 34 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 26 ff., 47 ff. m. w. N. In der Vorrede zu seinem Werk Der Zweck im Recht, Bd. I, 3. Aufl., 1893, S. IX, sagt Ihering, er sei "auf ein Gebiet versetzt, auf dem" er "Dilettant" sei. 35 Zur "Begriffsjurisprudenz" im Sinne Jherings vgl. Kantorowicz, Was ist uns Savigny? (s. oben Fn. 28), S. 415. 38 Rudolf v. Jhering, Der Zweck im Recht, Bd. I, 3. Aufl., 1893, S. 443; vgl.

EUchS. 87.

37 Zweckwahl ist notwendig subjektiv, eine wissenschaftliche Teleologie gibt es daher nicht. 38 Vgl. meine Ausführungen Allg. T., § 17 B (531 ff.).

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In seiner Schrift "Gesetz und Richteramt" 40 verkündete Oskar Bülow unter Berufung auf Jhering "die rechtsproduktive Kraft des Richteramts". "Der Gesetzgeber" bringe "nicht selber die Rechtssubstanz hervor. Er" gebe "nur die Weisung, wo sie zu finden und wie sie zu formen" sei. "Die selbständige Rechtsbestimmungsmacht des Richteramts" vermöge "sogar im Widerspruch zum wirklichen, fest bestimmten Gesetzessinne" "siegreich zum Durchbruch zu kommen". Gegen den ersten Entwurf eines BGB wandten sich Otto v. Gierke u. a. in seiner Schrift "Die soziale Aufgabe des Privatrechts" (1889) und Menger in seiner Schrift "Das BGB und die besitzlosen Volksklassen" (1890). Menger lehnte den Entwurf vom marxistischen Standpunkt ab 41 • Gierke berief sich für seine Ablehnung auf die "soziale Idee" und den "germanischen Rechtsgedanken". Er verlangte die "Durchsickerung" des Privatrechts mit einem "Tropfen sozialistischen Öls" 42 • Beide Auffassungen sind politisch vorfixiert, also ideologisch. Im Vorwort seines dem Kampf gegen das BGB gewidmeten Werks "Deutsches Privatrecht" schreibt Gierke 1895: "Das deutsche Recht ist nicht tot. Es lebt mitten unter uns, es webt und wirkt; es bietet in der Gärung unserer Zeit den festen Grund, auf dem unser Volk stehen muß, wenn es eine Gesundung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse erringen und sich selbst in sittlicher und sozialer Wiedergeburt verjüngen will. Von diesem Allen aber sehen noch immer die meisten Juristen wenig oder nichts." "Noch immer gilt es (sc.: das deutsche Recht) dem Richter und leider auch dem Gesetzgeber als die dienende Magd, die der römischen Königin Gefolgschaft zu leisten und auch ihr ureigenstes Gut zu Lehen aufzutragen hat." "Die germanistische Rechtswissenschaft" "muß" "dem ungebrochenen deutschen Rechtsgedanken" "nachgehen, im innersten Kerne des geltenden Rechts muß sie ihn suchen, die Kraft und Fülle seiner schöpferischen Wirksamkeit muß sie enthüllen." "Dem Blicke, dem sich das Walten der germanischen Rechtsidee im heutigen Recht erschließt, muß sich auch ihr unvergleichlicher Wert für die Weiterbildung unseres Rechts im Geiste einer heilsamen sozialen Ordnung entschleiern." "Und wenn uns wie ein unabwendbares Schicksal in Kürze doch ein deutsches Gesetzbuch übermannen sollte, das mehr römisch als deutsch ist, - wozu dann noch der Kampf für germanisches Recht?" "Unser Volkstum hätte dann eine neue Niederlage auf dem Rechtsgebiet zu verzeichnen. Ja, wer will sagen, welches Verhängnis für die fried39 Zu wissenschaftliche Rechtserkenntnis vgl. meine Ausführungen Allg. T., § 1 A VI (13 ff.). 40 Oskar Bülow, Gesetz und Richteramt, 1885, S. 27, 47, 39; Bülow beruft

sich auf das "richtige Rechtsgefühl der Richter", das ist ein anderer Ausdruck für "Schauen" im Sinn Savignys. 41 Die marxistische Ideologie des "dialektischen und historischen Materialismus" beruht ebenso wie die historische Rechtsauffassung Savignys auf der historischen Weltanschauung Hegels. 42 Vgl. meine Ausführungen, Das Arbeitsverhältnis, Personenrechtliches Gemeinschaftsverhältnis oder Schuldverhältnis, 1970 (zit.: Das Arbeitsverhältnis), S. 57 ff. m. w. N.

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liehe Lösung der unser Volk im Innersten erregenden Fragen sich an die Einführung eines neuen Privatrechts knüpfen könnte, das, wenn es nicht deutsch ist, auch nicht sozial sein kann. Folgte doch einst der Rezeption des volkswidrigen Rechts der im großen Bauernkriege gipfelnde Versuch einer sozialen Revolution! Doch was immer uns bevorstehen mag", "der Kampf für ein deutsches Recht kann und wird nicht ruhen, so lange es ein deutsches Volk gibt. Hat das Corpus Juris das deutsche Recht nicht zu ertöten vermocht, so wird auch ein bürgerliches Gesetzbuch es nicht tötlich verwunden können. Wie vieles kerndeutsche Recht wird außerhalb seines Paragraphengeheges lebendig bleiben, wie zahlreiche deutsche Gedankenelemente muß es trotz Allem in seinem eigenen Bereiche fortpflanzen' 3 !"

Der Inhalt dieser Ausführungen läßt sich dahin zusammenfassen, daß Gierke die soziale Erlösung des deutschen Volkes durch "das Walten der germanischen Rechtsidee" verkündete. "Germanisch", "deutsch" und "sozial" setzt er als identisch. Dem BGB sagt er unter Prophezeihung einer sozialen Revolution bedingungslos den Kampf an. Dieser Kampf sollte durch "die Weiterbildung unseres Rechts im Geiste einer heilsamen sozialen Ordnung" sowohl "außerhalb seines Paragraphengeheges" als auch "in seinem eigenen Bereich" geführt werden. Wie wenig Gierkes "soziale" und "germanische" Konzeption den Anforderungen der Wissenschaftlichkeit genügt, zeigt sich beispielhaft darin, daß er den "Rechtsinstituten" grundlegende rechtssystematische Bedeutung zuspricht«. Das Wort "Institut" hat offensichtlich nichts mit "kerndeutschem Recht" zu tun. Wissenschaftlich unhaltbar ist auch, daß Gierke neben den kontradiktorischen Begriffen Privatrecht und öffentliches Recht als dritten Begriff das "Sozialrecht" unterscheiden zu können glaubte 45 • Nach Gierke "erschauen wir" "erst mit dem an der inneren Erf~hrung geschulten Geistesauge" "individuelle und soziale Lebenszentren, von denen wirkende Kraft ausgeht" 46 • Das ist nicht wissenschaftliches Erkennen, sondern Mystik. Gierke kommt es nicht auf die Erkenntnis des Rechts, sondern darauf an, daß dieses "deutsch" und damit "sozial" sei. Das Ideologische dieser Auffassung bedarf keiner weiteren Darlegung. Die Zugrundelegung der historischen Rechtsauffassung Savignys ist ebenfalls offensichtlich. Die damit verbundene Anknüpfung an die dynamistische Weltanschauung der deutschen idealistischen Philosophie wird durch folgende Ausführungen Gierkes zum "Werden des objektiven Rechts" und zur "Rechtserzeugung überhaupt" bestätigt. 43 Otto von Gierke, Deutsches Privatrecht, 1. Band, 1936. Unveränderter Neudruck der 1. Auf!., 1895 (zit.: Deutsches Privatrecht, 1. Band), S. V bis VII. 44 Gierke, Deutsches Privatrecht, 1. Band, S. 124. 45 Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts (zit.: Die soziale Aufgabe), S. 25; ders., Deutsches Privatrecht, 1. Band, S. 30; ders. in Festschrift für Brunner, S. 37 ff. (68). 48 Gierke, Deutsches Privatrecht, 1. BandJ S. 471.

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"Objektives Recht gab es, seit Menschen leben und gibt es, wo Menschen sind: allein es war und ist in unaufhörlichem Anderswerden begriffen. Die Beobachtung der Gegenwart wie der Geschichte zeigt uns nirgends einen Anfang, überall aber einen Wandel des Rechts. Gerade hieraus schließen wir auf das Wesen des Rechts und suchen wiederum aus diesem Wesen die innere Notwendigkeit der erfahrenen Tatsache zu verstehen." "Dabei unterscheiden wir grundsätzlich nicht zwischen Neuschaffung, Umschaffung und Abschaffung von Rechtssätzen. Wir begreifen also unter Rechtserzeugung auch Rechtszerstörung." "Die Rechtserzeugung ist menschliche Tat. Das Subjekt dieser Tat aber sind nicht Individuen, sondern Gemeinschaften. Der einzelne Mensch, der dabei mitwirkt, handelt stets als Glied und im Dienste einer menschlichen Gemeinschaft47."

Was Savigny "Wachsen des Rechts" im "Volksgeist" nennt, heißt bei Gierke "Werden", "unaufhörliches Anderswerden" und "Wandel". Wie Savigny betont auch Gierke das "Organische" 48 • Der von beiden vertretenen nationalistischen und kollektivistischen Rechtsauffassung fügt Gierke das Element des "Sozialen" und "Sozialistischen" hinzu. Gierke wollte offenbar dem marxistischen Angriff dadurch begegnen, daß er das "Soziale" und "Sozialistische" in ein nationales Programm aufnahm. Im Ergebnis hat er damit der "artgemäßen" nationalsozialistischen Rechtsideologie den Weg bereitet. III. Gegen das BGB gerichtet sind auch die den sogenannten Methodenstreit ausmachenden Lehren von Eugen Ehrlich, H. U. Kantorowicz und Philipp Heck. In Wahrheit handelt es sich dabei keineswegs nur um Methodenlehren, sondern mittelbar zugleich um Sachlehren des Rechts. Da der Gegenstand des Erkennens dessen Methode bedingt, ist in jeder Methodenlehre eine Sachlehre vorausgesetzt, auch wenn das nicht beabsichtigt ist. Eugen Ehrlich wollte unter Zugrundelegung der Lehren Gierkes eine "Soziologie des Rechts" als "wissenschaftliche Lehre vom Recht" aufstellen. Das Recht entsteht nach ihm unmittelbar "in der Gesellschaft selbst". "Entstehung und Fortbildung des Rechts" sind "Entstehung und Umbildung gesellschaftlicher Einrichtungen" 48 • Das BGB kommt in dieser "Rechtslehre" (1912) nicht vor. Da "Gesellschaft" und "gesellschaftliche Einrichtung" keine Rechtsbegriffe sind, stellt Ehrlichs "Soziologie des Rechts" den methodisch unmöglichen Versuch dar, aus Nichtrecht Recht abzuleiten. 47 Gierke, Deutsches Privatrecht, 1. Band, S. 125. 48 z. B. ist das geschäftliche Unternehmen nach Gierke ein "wirtschaftlicher Organismus" (Die soziale Aufgabe, S. 31). Gierke hat eine "organische Staatslehre" aufgestellt.

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Grundlage dieser "Soziologie des Rechts" war Ehrlichs Lehre von der "freien Rechtsfindung". Nach dieser ist "jedes System festgelegter Rechtsregeln seiner Natur nach lückenhaft", "eigentlich schon in dem Augenblick veraltet", "da es festgelegt worden ist", muß "der Rechtssatz nicht als starres Dogma, sondern als lebendige Kraft behandelt werden", "möge der hergebrachten dogmatischen Rechtsauffassung die dynamische entgegengesetzt werden", ist "die technische Rechtsfindung geradezu als Sünde wider den heiligen Geist zu bezeichnen", ist der "freie Rechtsfindung" "als Meister" beherrschende Richter ein "Pfadfinder der Gerechtigkeit". Die "Abneigung gegen die freie Rechtsfindung" hat nach Ehrlich ihre Ursache "in den heute noch herrschenden Vorstellungen von den Grenzen der Staatsmacht und der Trennung der Gewalten" also im Rechtsstaat. "Aber diese Gedankengänge" gehören nach ihm "einer bereits überwundenen Staatslehre an" 49 • Es bedarf keiner näheren Darlegung, daß Ehrlich mit seiner Lehre von der "freien Rechtsfindung" und seiner darauf gestützten "Soziologie des Rechts" dem Richter die totale Verfügungsgewalt über das Recht und den Menschen zusprichtso. Der führende Vertreter der Freirechtslehre, H. U. Kantorowicz, bekennt sich zu den "Hauptsätzen", der "historischen Schule", "daß alles Recht positiv sei, nur dann Recht sei, wenn und insoweit irgendeine Realität (Macht, Wille, Anerkennung) hinter dem Rechtssatz" stehe, und daß "ein Rechtssatz voll nur von dem verstanden werden" könne, der "seine ganze Entwicklung" kenne. Die "Wissenschaft" als "Quelle des Rechts" muß nach Kantorowicz "dieselbe Natur haben", "wie das Recht selbst": sie muß ""'ille sein". Kantorowicz fordert "freie Rechtsschöpfung" durch "Wissenschaft" und "Rechtsprechung". Gerichtliche Rechtserkenntnis "mit Hilfe rein logischer Operationen" verspottet er51 • Für das BGB ist in Kantorowicz' "Methodenlehre" kein Raum. Kantorowicz ersetzt die Identität von "Denken" und "Sein" des intellektualistischen Idealismus durch die irrationalistische und voluntaristische von "Wille" und "Sein". "Realität" hat nach ihm nur die "hinter dem Rechtssatz" stehende "Macht". Allein auf diese kommt es also an. Die Verneinung der Realität des Rechts hat zur Folge, daß die Rechtserkenntnis gegenstandslos wird und der leer gelassene Platz des Rechts durch falsche Gegenstände besetzt wird, die z. T. nicht existieren oder irrig für real 49

Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1929, Vorrede und

50

Eugen Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, 1903,

s. 315.

s. 34, 32.

51 Gnaeus Flavius (H. U. Kantorowicz), Der Kampf um die Rechtswissenschaft, 1906, S. 30, 20, 49, 7; zur Freirechtsbewegung vgl. meine Ausführungen, Lehrbuch des Schuldrechts, 1. Band, 1978 (zit.: SehR I),§ 1 BI c 2 (4 f.).

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gehalten werden, jedenfalls nicht Recht sind (Gegenstandsvertau.schung), bei Kantorowicz durch "Macht", "Wille" und "Anerkennung", bei anderen durch "Idee", "Volk", "Volksgemeinschaft", "Gemeinschaft", "Geschichte", "Zweck", "Gesellschaft", "Wirtschaft", "Interesse", "Rasse", "Institution", "Führerwille", "Werte" und "Wertentscheidung". Die "ganze Entwicklung eines Rechtssatzes" ist weder für die Rechtswissenschaft noch für ein Gericht erkennbar. Damit entfällt die von Kantorowicz als rein historisch aufgefaßte "Wissenschaft". Übrig bleibt allein der richterliche Machtspruch im einzelnen Fall. Gesetz, Recht und Rechtserkenntnis gibt es nach dieser Freirechtslehre nicht. Das folgt auch daraus, daß "Recht" und "Wissenschaft" "Wille" sein sollen. Mit dem Gesetz entfällt die ohne dieses nichtmögliche bürgerlichrechtliche Gleichheit und Freiheit der Menschen. Die von Kantorowicz geforderte "freie Rechtsschöpfung" hat in den zwanziger Jahren zum "Siegeszug" der "Generalklauseln" geführt. Der Freirechtier Fuchs erklärte: "Gut" sei "das BGB nur an einer einzigen Stelle, nämlich" in § 242. "Dieser königliche Paragraph, der auch die §§ 157, 138, 226, 826 schon in sich" berge, sei "der archimedische Punkt, von dem aus die alte juristische Welt aus den Angeln gehoben" worden sei52 • Mit der Aushöhlung des BGB durch die "Generalklauseln" entfiel die gegenüber staatlicher Willkür inhaltlich gesicherte Eigenständigkeit des Bürgerlichen Rechts. Die Lehre Hecks vom "Kampf der Interessen", den "Interessenkonflikten" und der "lnteressenabwägung" 53 bezieht sich ihrem Inhalt nach weder auf bürgerlichrechtliche Verhältnisse noch auf deren Regelung im BGB. Diese werden durch "Interessen" ersetzt und damit beiseitegeschoben. Auch die "Interessenjurisprudenz" richtet sich ungeachtet aller gegenteiligen Behauptungen gegen das BGB. In der Arbeitsrechtslehre wurde unter dem Einfluß geschichtlicher Auffassungen und sozialpolitischer Zielsetzungen die Ansicht vertreten, das Arbeitsverhältnis sei kein Schuldverhältnis und kein individualrechtliches Verhältnis, sondern ein Herrschaftsverhältnis, das "personenrechtliches Gemeinschaftsverhältnis" genannt wurde 54 • Nach Otto v. Gierke ist das geschäftliche Unternehmen ein "privatrechtlicher Herrschaftsverband" und "wirtschaftlicher Organismus" mit "Verbandseinheit", "ein monarchisch organisiertes Ganzes, dessen alleiniger Träger der Vgl. meine Ausführungen, SehR I, § 5 D (296) m. w. N. Zur Interessenjurisprudenz vgl. meine Ausführungen, Allg. T., § 1 C li e (56 ff.); SehR I,§ 1 BI c 4 (7 f.). 54 Diese Auffassung wurde mit Abwandlungen von Potthoff, Sinzheimer, Jacobi, Nikiseh und Molitor vertreten; vgl. dazu meine Ausführungen, Das Arbeitsverhältnis, S. 70 m. w. N. 52

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Unternehmer" sei "und dem Angestellte und Arbeiter als dienende Glieder angehören" 55 • Alle diese Ansichten verstoßen gegen die §§ 611 ff. BOB, nach denen das Arbeitsverhältnis ein schuldrechtliches Dienstverhältnis ist, und den Begriff bürgerlichrechtliches Verhältnis, der Herrschaftsverhältnisse von Menschen über Menschen begrifflich ausschließt. Die damit vollzogene Abkehr vom BGB bekräftigte das Reichsgericht in seinem Urteil vom 6. 2. 1923 zum Kieler Straßenbahnerstreik mit den Worten: "Man darf aber, um zu einer befriedigenden Lösung des Streites zu gelangen, überhaupt nicht von den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs ausgehen, muß vielmehr die sozialen Verhältnisse ins Auge fassen, wie sie sich seitdem entwickelt und in der Gesetzgebung der neuesten Zeit auch ausdrücklich Anerkennung gefunden haben." "Das Bürgerliche Gesetzbuch steht", "den Verhältnissen seiner Entstehungszeit entsprechend, auf einem individualistischen Standpunkt. Inzwischen hat aber der Gedanke der sozialen Arbeits- und Betriebsgemeinschaft Ausbreitung und Anerkennung gefunden." "Es handelt sich nicht mehr nur um das Verhältnis des einzelnen Arbeiters zum Arbeitgeber, sondern um eine Regelung zwischen zwei Gruppen der Gesellschaft, dem Unternehmertum und der Arbeiterschaft58." Da das Arbeitsverhältnis, wie auch das Reichsgericht annimmt, ein Dienstverhältnis ist, für das die Bestimmungen des BGB gelten, hat das Gericht das BGB gesetz-und verfassungswidrig57 nicht angewandt. Die historisierenden und soziologisierenden Ausführungen, mit denen es dies zu begründen versucht, haben keinen rechtlichen Inhalt. Mit diesen ideologischen sozialistischen Ausführungen hat das Reichsgericht der politischen Herrschaftsideologie des Nationalsozialismus den Weg bereitet. Das Reichsarbeitsgericht ist ihm gefolgt68. IV. In Punkt 19 des Programms der NSDAP wurde "Ersatz für das" "römische Recht durch ein deutsches Gemeinrecht" gefordert. Reichsminister Dr. Frank erklärte 1935, "die Anwendung eines volksfremden Gesetzesrechts" habe ein "Ende gefunden" 59 • In seiner Programmschrift der nationalsozialistischen Rechtsideologie60 schreibt Carl Schmitt: Vgl. dazu meine Ausführungen, Das Arbeitsverhältnis, S. 61 f. m. w. N. RG 106, 275. 57 In Art. 102 der Weimarer Reichsverfassung war bestimmt: "Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen." 58 RAG ARS 3, 116 ff. (120 ff.). 59 Dr. Hans Frank, Nationalsozialistisches Handbuch für Recht und Gesetzgebung, 1935, S. XIII. 6 ° Carl Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftliehen Denkens, 1934 (zit.: Carl Schmitt), S. 66 f. 55

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"Jetzt bedarf es eines konkreten Ordnungs- und Gestaltungsdenkens, das den zahlreichen neuen Aufgaben der staatlichen, völkischen, wirtschaftlichen und weltanschaulichen Lage und den neuen Gemeinschaftsformen gewachsen ist." "Die Änderung der rechtswissenschaftliehen Denkweise ist heute mit einer Änderung des gesamten Staatsgefüges verbunden." "Der Staat der Gegenwart ist nicht mehr zweigliedrig nach Staat und Gesellschaft aufgeteilt, sondern in drei Ordnungsreihen nach Staat, Bewegung, Volk aufgebaut. Der Staat als besondere Ordnungsreihe" "hat nicht mehr das Monopol des Politischen, sondern ist nur ein Organ des Führers der Bewegung." Die politische "Einheit" von "Staat, Bewegung, Volk" unterlag dem "Führergrundsatz". "Konkretes Ordnungs- und Gestaltungsd{mken" war ein anderer Ausdruck für "freie Rechtsfindung" im Sinn von Oskar Bülow und Eugen Ehrlich und für "freie Rechtsschöpfung" im Sinn von H. U. Kantorowiczet.. "Am klarsten aber hat der nationalsozialistische Gesetzgeber dem neuen Ordnungsdenken in seinem ,Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit' " "Ausdruck verliehen". Dieses Gesetz ist "ein gewaltiger Schritt, der mit einem Schlage eine ganze Welt individualistischen Vertrags- und Rechtsbeziehungsdenkens hinter sich läßt62." Nach dieser totalitären politischen Ideologie war für Bürgerliches Recht kein Raum. Bügedichrechtliche Verhältnisse sind außerstaatliche rechtliche Verhältnisse, die der freien Selbstbestimmung der an ihnen beteiligten Menschen unterliegen. Solche der Politik entzogenen rechtlichen Verhältnisse kann es für die Ideologie einer totalitären Diktatur nicht geben. Schmitt wandte sich gegen Tatbestände und Allgemeine Teile in Gesetzbüchern. "Die Absonderung ,allgemeiner' Begriffe" erscheine "uns heute nicht mehr als begriffliche Klärung oder als- eine Garantie größerer Rechtssicherheit und Präzision, sondern eher als eine künstliche und sinnwidrige, die natürlich und wirklich gegebenen Lebenszusammenhänge zerreißende Abstraktion". Da es ohne Allgemeinbegriffe und Abstraktion kein Denken gibt, wandte Schmitt sich gegen dieses. Das BGB sollte nach Schmitt über die "Generalklauseln" auf die nationalsozialistische Ideologie umgestellt werden: "Sobald Begriffe wie ,Treu und Glauben', ,gute Sitten' nicht auf die individualistische bürgerliche Verkehrsgesellschaft, sondern auf das Interesse de~ Volksganzen bezogen werden, ändert sich" "das gesamte Recht, ohne daß ein einziges ,positives' Gesetz geändert werden brauchte".

61 Die übereinstimmung der "Interessenjurisprudenz" mit der nationalsozialistischen Rechtsideologie wurde von ihrem Urheber Philipp Heck in AcP 142, 129 ff., 297 ff. dargelegt. 62

Carl Schmitt, S. 64.

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In seiner Schrift "Abschied vom BGB"63 preist der Staatssekretär im Reichsjustizministerium Schlegelherger das Dritte Reich als "seelische und sittliche Wiedergeburt des Deutschen Volkes". Unter Berufung auf Otto v. Gierke und Savigny legt er dar: "Wer das Wesen des Rechts nicht außerhalb des Volkslebens sucht, sondern in ihm nur eine besondere Anschauung des Lebens unter ordnenden Gesichtspunkten erblickt, muß aufs tiefste davon überzeugt sein, daß die Rechtsentwicklung zwangsläufig durch den Wandel der Lebensauffassung und durch die Richtung der völkischen Lebensziele bestimmt wird." "Das BGB ist ein Gesetzbuch der Konstruktionen und Abstraktionen." "Es" bedient sich "einer künstlichen Technik". "Das BGB arbeitet viel zu sehr mit lebensfremden Begriffen." Es verzichtet "auf Volksnähe". "Dem BGB ist" "Eigentum gleich Eigentum, Miete gleich Miete, Vertrag gleich Vertrag". "Das BGB ist ein Werk der Vergangenheit, das beschleunigter Ablösung bedarf." "Dem Dritten Reich ist die Aufgabe zugefallen hier grundsätzlich Wandel zu schaffen und den Grundsatz des BGB: Freiheit von der Gemeinschaft durch den Grundsatz: Freiheit in der Gemeinschaft abzulösen."

Der Sache nach handelt es sich dabei um die totale Verstaatlichung und politische Funktionalisierung des Menschen, also um die Beseitigung seines Rechts und seiner Freiheit. Schlegelherger verkündete, "der Führer und Reichskanzler" habe sich "auf Vortrag" des Justizministers Dr. Gürtner "damit einverstanden erklärt", daß das BGB durch Einzelgesetze ersetzt werde, die das Reichsjustizministerium vorbereiten sollte. Nipperdey vertrat in einer Schrift84 der von Reichsminister Dr. Frank geleiteten Akademie für Deutsches Recht die Auffassung, "das künftige Privatrecht sollte nicht in viele Einzelgesetze zergliedert, sondern in seinen Kernstücken in einem Privatrechtsgesetzbuch zusammenfassend geregelt werden". Nipperdey führt aus: "Das Bürgerliche Gesetzbuch, das dem deutschen Volk auf privatrechtlichem Gebiet die Rechtseinheit brachte", ist "ein bedeutsames, in der Welt anerkanntes Zeugnis des deutschen Rechtsgeistes." "Es ist das Produkt der hoch entwickelten gemeinrechtlichen deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, es vereinigt in sich den Schatz einer 2000jährigen juristischen Erfahrung, so daß etwa das Lückenproblem gar nicht die Rolle spielt, die ihm in der Theorie zuweilen zugemessen wird ... Die Kodifikation errang sich internationales Ansehen und fand mehrfach Nachahmung ... " "Trotzdem wird heute in einsichtigen Kreisen kein Zweifel darüber bestehen, daß das BGB im Dritten Reich fallen muß. Schlegelherger hat in Hei83 Schlegelberger, Abschied vom BGB, 1937, S. 3, 10, 12, 14, 15, 8. Die Schrift enthält einen Vortrag, den Schlegelherger in der Universität Heidelberg, der Wirkungsstätte Thibauts, hielt. Schlegelherger scheut sich nicht, sich für die Beseitigung des BGB auf dessen Vorkämpfer Thibaut zu berufen. 84 Hans Carl Nipperdey, Zur Erneuerung des Bürgerlichen Rechts, Schriften der Akademie für Deutsches Recht, Gruppe Rechtsgrundlagen und Rechtsphilosophie, Nr. 7, 1938, S. 96 f., 98 f.

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delberg den Entschluß des Führers verkündet ... " "Es 1st ... eine politische Unmöglichkeit, daß das nationalsozialistische Deutschland, das auf allen Bereichen unseres kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenlebens die Grundgedanken der neuen Weltanschauung mit gewaltiger Kraft verwirklicht und in bedeutenden Gesetzen niederlegt, das Kernstück des Privatrechts, das BGB, bestehen lassen sollte. Mag das BGB eine vielleicht großartige Kulmination des Rechtsdenkens des 19. Jahrhunderts sein, in das 20. Jahrhundert des deutschen Nationalsozialismus paßt es nicht." "Das neue Rechtsideal will und kann sich nicht darauf beschränken, durch die Einfallpforten der §§ 242 und 138 das geltende Privatrecht zu durchdringen, sondern es will nach seinem Bild aus einem Guß ein neues Privatrecht schaffen." "Denn das große weltanschaulich-rechtspolitische Problem ist, die entscheidenden Leitideen zu erfassen, nach denen ein Privatrechts-Gesetz der deutschen Volksgemeinschaft zu komponieren ist. Nicht nach logisch-systematischen Gesichtspunkten, nicht nach rechtsdogmatischen Lehren, nicht unbedingt nach wirtschaftlichen Zusammenhängen oder dem sog. einheitlichen Lebenstatbestand", "sondern in erster und entscheidender Linie nach den neuen weltanschaulichen Grund- und Ordnungsprinzipien in ihrer Ausprägung für das Privatrecht ist das neue System zu gestalten. Denn das S'Ystem ist für das Recht nicht eine äußere Form, sondern Ausdruck des ihm eigenen Geistes. Daher kommt das sog. Pandektensystem (Hugo, Heise) mit seinen 5 Büchern nicht mehr in Betracht ... ". Bei der Beurteilung dieser widersprüchlichen Ausführungen ist zu beachten, daß Nipperdey nicht zu der Frage argumentiert, ob das BGB abzuschaffen oder beizubehalten sei, sondern von dem von Schlegelherger verkündeten "Entschluß des Führers" als einer Gegebenheit ausgehen mußte. Er trat im Gegensatz zu Schlegelherger für die hohe juristische Qualität des BGB ein und erkannte die Bedeutung seiner geplanten Beseitigung. Nach ihm gab es keine sachlichen Gründe, das BGB aufzugeben, sondern ausschließlich politische. Gegen diese konnte er sich unter den Gegebenheiten des Dritten Reiches nicht stellen, da er weder den von Justizminister Dr. Gürtner veranlaßten "Entschluß des Führers" noch die von Schlegelherger verherrlichte nationalsozialistische Ideologie in Zweifel ziehen konnte. Wollte er etwas erreichen, mußte er die nationalsozialistische Ideologie benutzen und daraus andere Folgerungen abzuleiten versuchen. So verteidigte Nipperdey die "Privatrechtskodifikation" und wies die Forderung zurück, das BGB durch Einzelgesetze zu ersetzen, die das Reichsjustizministerium ausarbeiten sollte. Er trat dem Angriff der Ministerialbürokratie gegen das BGB mit einer hinhaltenden Taktik entgegen, indem er erklärte: "Natürlich ist ein überstürztes Vorgehen weder notwendig noch erwünscht. Schwerlich werden sich im BGB Normen aufweisen lassen, deren Aufrechterhaltung und Anwendung gesundem Volksempfinden ins Gesicht schlägt, so daß der Richter sie nicht mehr zu beachten brauchte. Vor allem aber handelt es sich um eine gewaltige rechtspolitische Aufgabe, die die gesamte geistige Kraft unserer juristischen Generation und darüber hinaus die Mitarbeit 56 Festschrift f. G. Müller

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des ganzen Volkes fordert. Sie kann nicht in wenigen Monaten gelöst werden." Entsprechend der nationalsozialistischen Rechtsideologie führt er aus, das in der "Privatrechtskodifikation" zu regelnde "nationalsozialistische Privatrecht" müsse "volksgenössisches Recht" sein. Das BGB sei durch "ein allgemeines volksgenössisches oder volksbürgerliches Gesetzbuch" zu ersetren. "Eines Allgemeinen Teils" bedürfe "es in der Privatrechtskodifikation nicht". "Die großen Grundsätze der Anerkennung des Privateigentums, der Vertragsfreiheit, des Leistungswettbewerbs und des privaten Vereinigungsrechts haben einen entscheidenden Bedeutungswandel erfahren, in dem sie von vornherein substantiell inhaltlich durch die Pflichtgebundenheit und Verantwortlichkeit gegenüber der Gemeinschaft gestaltet wurden und allein aus dieser Gemeinschaftsbezogenheit ihre innere Rechtfertigung und ihren staatlichen Schutz erfahren." Das "Vordringen des öffentlichen Rechts" und die Ausdehnung des "Sektors des geleiteten und kontrollierten Wirtschaftslebens" sei "für den Nationalsozialismus eine nach der konkreten Situation und den Bedürfnissen der Volksgemeinschaft zu beurteilende Zweckmäßigkeitsfrage". Auf der anderen Seite verwahrt sich Nipperdey gegen "die ungestümen Stimmen" der radikalen Nationalsozialisten, "die uns glauben machen wollten, es gebe keinen Unterschied zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht mehr", und setzt sich für "Privateigentum und Privatinitiative" sowie für die "Existenzberechtigung und die Notwendigkeit des Privatrechts" ein. Der Hauptausschuß der Akademie für Deutsches Recht unter Vorsitz Hedemanns nahm die durch Nipperdey vorbereitete Möglichkeit einer verzögerlichen Behandlung nicht wahr, sondern legte in kürzester Zeit den Entwurf eines nationalsozialistischen "Volksgesetzbuchs" vor65 • Zu gesetzgeberischen Maßnahmen ist es infolge des Endes des Dritten Reiches nicht mehr gekommen.

65 Volksgesetzbuch, Grundregeln und Buch I, vorgelegt von Hedemann, Lehmann und Siebert, 1942, Arbeitsberichte der Akademie für Deutsches

Recht, Nr. 22.

VERÖFFENTLICHUNGEN VON GERHARD MüLLER (Stand: 16. 6. 1980) I. Bücher und selbständige Schriften 1. Arbeitsgerichtsverfahren. Kontrollratsgesetz Nr. 21 (Deutsches Arbeits-

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gerichtsgesetz). Das Arbeitsgerichtsgesetz von 1926 und die Arbeitsgerichtsgesetze der Länder. Mit Rolf Dietz. (Die WK-Reihe. 66.) Frankfurt a. M.: Kommentator-Ver!. 1949. VIII, 115 S. Das Mitbestimmungsrecht der Betriebsräte nach den Betriebsrätegesetzen von Hessen, Württemberg-Baden, Südbaden und Bremen. Heidelberg: Verl. Ges. Recht u. Wirtschaft 1949. 40 S. Kommentar zum Mitbestimmungsgesetz Bergbau und Eisen. Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie. Mit Rudolf Lehmann. (Bücher des Betriebs-Beraters.) Heidelberg: Verl. Ges. Recht u. Wirtschaft 1952. 239 S. Arbeitsfrieden und Arbeitsgerichte. Mit Hans-Joachim Zinkeisen, Hermann Kauffmann. Köln-Deutz: Bund-Verl. 1953. 183 S. Tarifvertrag und Mitbestimmung. Zum Verhältnis beider Ordnungsprinzipien zueinander. Vortrag. (Kleine Schriften zur Sozialpolitik u. zum Arbeitsrecht. Folge 2, H. 4.) München: Institut f. Sozialpolitik u. Arbeitsrecht 1953. 15 S. Zur Tariffähigkeit der unter das Mitbestimmungsgesetz Bergbau und Eisen fallenden Unternehmen. Gutachtlicher Vortrag. (Schriftenreihe der Industriegewerkschaft Metall f. d. Bundesrepublik Deutschland. 15.) Frankfurt a. M.: Industriegewerkschaft Metall f. d. Bundesrepublik Deutschland 1953. 15 S. Arbeitsrecht. Mit Wilhelm Hersehe!. 4. - 6., durchges. u. erg. Aufl. (Schaeffers Grundriß d. Rechts u. d. Wirtschaft. Abt. 1, Bd. 14.) Düsseldorf: Schwann; stuttgart: Kohlhammer 1953. 199 S. Streik und Arbeitsvertrag. Versuch einer rechtsvergleichenden Darstellung. Bundesrepublik Deutschland. Kassel 1954. 25 S. [auch in:] 4. Internat. Kongreß f. Rechtsvergleichung. Deutsche Landesreferate. Paris 1954. 1955. [auch in:] Das Recht der Arbeit. Wien 1954. H. 14, 1. [auch in:] Die Betriebsverfassung. 1955. Nr. 1, 1. Arbeitsgerichtsgesetz vom 3. Sept. 1953. Kommentar. 6., völlig neubearb. Aufl. Mit Hermann Dersch, Karl Fitting u. Günther Schelp. Berlin u. Frankfurt a. M.: Vahlen 1955. XVI, 1245 S. Zum Recht des Ordensvertrages. Eine Untersuchung über die Rechtsverhältnisse der krankenpflegenden Orden zu den nicht in ihrem Eigentum stehenden Krankenhäusern. Veröffentlichung der Arbeitsgemeinschaft Westfalen Ordensgenossenschaft. Paderborn: Schöningh 1956. 64 S.

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11. Der Anwalt im Verfahren vor den Gerichten für Arbeitssachen. (Schriften des Betriebs-Beraters. H. 15.) Heidelberg: Verl. Ges. Recht u. Wirtschaft 1957. 76 s. 12. Entwicklungstendenzen des Arbeitsrechts - gesehen aus dem Blickwinkel

13. 14. 15. 16. 17.

des Bundesarbeitsgerichts. Referat gehalten während der Tagung der Arbeitsrichter der Arbeitsgerichte im Lande Schleswig-Holstein am 10. Oktober 1959 in Kiel. o. 0. 1959. 29 Bl. Gedanken zum Solidaritätsbeitrag. o. 0. 1960. 31 S. Kündigungsschutzgesetz. Handkommentar für die Praxis, unter bes. Berücks. der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Mit Fritz Auffarth. Berlin u. Frankfurt a. M.: Vahlen 1960. XV, 302 S. Struktur und Ressortierung der Rechtspflege. Kassel 1961. VI, 22 S. Die Bedeutung des Arbeitsrechts in unserer heutigen sozialen Ordnung. Vortrag. München: Verein d. Bayer. Chemischen Industrie e. V. 1964. 20 S. Problematik und Probleme des Arbeitskampfes in der Bundesrepublik Deutschland. (Schriftenreihe der Vereinigung der Arbeitgeberverbände in Bayern. H. 1/2.) [München:] Vereinigung d. Arbeitgeberverbände in Bayern 1968. S. 27 - 44. Vermehrte Bearb. [u. d. T.:] Problematik und Probleme des Arbeitskampfrechtes der Bundesrepublik Deutschland. In: Das Recht der Arbeit. Wien

1968, 66. 18. Wem das Grundgesetz die Pressefreiheit anvertraut hat. Ein Diskussionsbeitrag. Frankfurt a. M. 1973: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 16 S. Auszugsweise erschienen in: FAZ. Frankfurter Allgemeine Zeitung 1973. Nr. 190 vom 17. 8.1973, S. 6.

Auszugsweise [u. d. T.:] Wer trägt die Pressefreiheit? In: Die Zeitung 1973, Okt.-Nr. [Zum internen Gebrauch des BDZV.] 19. Zur rechtlichen Stellung des leitenden Arztes. Vortrag [bei d. Jahresversammlung des Westdt. Med. Fakultätentages.] Kassel; [Düsseldorf: Verband d. leit. Krankenhausärzte Deutschlands e. V. in Komm. 1975.] 31, XII S. 20. Neuere Entwicklungen im Prozeßrecht der Bundesrepublik Deutschland. Washington, D. C., 400 Hill Building: World Association of Judges (of the World Peace through Law Center) 1977. 8 8'.

11. Herausgebertätigkeit 1. Sammlung Müller-Gröninger. Praktisches Arbeitsrecht. Gesetzestexte,

Rechtsprechung, Schrifttum. Mit Karl Gröninger. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Verl. Kommentator 1954 - 19. 2. Das Arbeitsrecht der Gegenwart. Jahrbuch f. d. gesamte Arbeitsrecht u. d. Arbeitsgerichtsbarkeit. Bd. 1. Berlin: E. Schmidt 1964- 19. 3. Im Dienste der Sozialreform. Festschrift für Karl Kummer. Hrsg. mit Anton Burghardt, Karl Lugmayer, Erich Machek [u.] Hans Schmitz. Wien: Verl. d. Berichte zur Kultur- u. Zeitgeschichte 1965. 535 S. 4. Internationaler Kongreß. Internationale Gesellschaft für das Recht der Arbeit und der sozialen Sicherheit. München, 12. - 15. September 1978. Berichte und Verhandlungen. Bd. 2, 1.2: (Länderberichte. Hrsg. mit Franz Gamillscheg). Heidelberg: Verl. Ges. Recht u. Wirtschaft (1978). XI, 528 S.; XI S., S. 532 - 1071.

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111. Beiträge zu wissenschaftlichen Sammelwerken, Festschriften, Jahrbüchern, Fortsetzungswerken 1. Das Industrieprinzip als Strukturprinzip des Koalitionswesens. (Probleme des Koalitionsrechts in der sozialen Selbstverwaltung. S. 5- 24.) München 1953: Bayer. Kommunalschriften-Dr. 2. Probleme des Arbeitskampfrechts. (Probleme des Arbeitsrechts. S. 33 - 72.) München 1953: Bayer. Kommunalschriften-Dr. 3. Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache. (Festschrift für Wilhelm Hersehe!. S. 159 - 179.) Stuttgart: Kohlhammer 1955. 4. Gedanken zur Mitwirkung des Betriebsrats in personellen Angelegenheiten. (Beiträge zum Betriebsverfassungsrecht. S. 77- 97.) Düsseldorf: Verl. Handelsblatt 1962. 5. Die Haftung des Arbeitnehmers gegenüber Arbeitgebern, Arbeitskollegen und Dritten. (5e Congres International de Droit du Travail et de la securite Sociale.) Lyon 1963. [Maschinenschr.] 6. Arbeitsgerichtsbarkeit. (Katholisches Soziallexikon. Sp. 29 - 33.) Innsbruck, Wien, München: Tyrolia-Verl. 1964. 7. Privatrecht. (Katholisches Soziallexikon. Sp. 872- 873.) Innsbruck, Wien, München: Tyrolia-Verl. 1964. 8. Rechtsprechung. (Katholisches Soziallexikon. Sp. 920- 921.) Innsbruck, Wien, München: Tyrolia-Verl. 1964. 9. Rechtssicherheit. (Katholisches Soziallexikon. Sp. 921 - 923.) Innsbruck, Wien, München: Tyrolia-Verl. 1964. 10. Die personen- und verhaltensbedingte Kündigung nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. (Das Arbeitsrecht der Gegenwart. Jahrbuch f. d. gesamte Arbeitsrecht. Bd. 1, S. 19- 41.) Berlin: E. Schmidt 1964. 11. Die Drittwirkung der Grundrechte und das Sozialstaatsprinzip. (Im Dienste der Sozialreform. Festschrift für Karl Kummer. S. 369- 388.) Wien: Verl. d. Berichte z. Kultur- u. Zeitgeschichte 1965. [auch in:] Recht der Arbeit. 1964, 121. [auch in:] Betriebliche Altersversorgung. Folge 4, Beil. 12. Die Freiheit von parteipolitischen und kirchlichen Bindungen als eine Voraussetzung für die Tariffähigkeit einer Koalition. (Festschrift f. Hans Carl Nipperdey zum 70. Geburtstag. Bd. 2, S. 435- 451.) München, Berlin: Beck 1965. 13. Der gegenwärtige Stand des Arbeitsrechts und des Rechts der sozialen Sicherheit in Lehre und Forschung und ihre Beziehungen zu den verwandten Sozialwissenschaften. (6e Congres International de Droit du Travail et de la Securite Sociale. Stockholm 1966.) 14. Die Interessenahwägungen bei der arbeitgeberseitigen Kündigung nach dem Kündigungsschutzgesetz in der Bundesrepublik Deutschland gemäß der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. (Festschrift für Hans Schmitz. Bd. 1, S. 248.) Wien, München: Verl. Herold 1967. 15. Die gesellschafts- und staatspolitische Problematik. (Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie als Probleme der modernen Demokratie. Internationale Tagung d. Sozialakademie Dortmund. S. 45 - 58.) Berlin: Duncker & Humblot 1968.

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16. Diskussion zum Vortrag: Die gesellschafts-und staatspolitische Problematik, gef. von Prof. Helmut Duvernell. (Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie als Probleme der modernen Demokratie. S. 226- 228.) Berlin: Duncker & Humblot 1968. 17. L'etat actuel de droit du travail et de la securite sociale dans le domaine de l'enseignement et de la recherche, ainsi que les rapports de cette discipline avec les sciences connexes. Rapport national 1. (Actes du 6e Congres international de droit du travail et de la securite sociale. Stockholm 1966. Tome 3, S. 1 - 23.) Genf: Societe internationale de droit du travail et de securite sociale 1968. 18. Die Koalition in der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Gedanken zu einem Kernbereich des kollektiven Arbeitsrechts. (JuristenJahrbuch. Bd. 10: 1969/70, S. 125- 156.) Köln: 0. Schmidt 1969. [auch in:] Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt a. M. Mitteilungen. N. F. 22. 1969. S. 5 - 30. 19. Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Anfechtung der Betriebsratswahl. (Recht und Rechtsleben in der sozialen Demokratie. Festgabe für Otto Kunze zum 65. Geburtstag. S. 243- 264.) Berlin: Duncker & Humblot 1969. 20. Gedanken zum Koalitionsrecht. (Zwanzig Jahre Verband Oberer Angestellter der Eisen- und Stahlindustrie 1950- 1970. S. 48 - 73.) [Essen:] Verband Oberer Angestellter d. Eisen- u. Stahlindustrie (1970). 21. Zur Entscheidungsbildung eines Höchstgerichtes. (Menschen im Entscheidungsprozeß. S. 201- 214.) Wien, Freiburg: Herder 1971. 22. Die Konfliktsituation in der Einigungsstelle. (Kann das neue Betriebsverfassungsgesetz (BVG) durch veränderte Entscheidungsprozesse in Betrieb und Unternehmen die Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft beeinflussen? Protokoll des Professoren-Kolloquiums der Adolf-Weber-Stiftung am 1. März 1972 in Frankfurt a. M. S. 2 - 12.) Frankfurt a. M. 1972. 23. Die Ausformung des arbeitsgerichtliehen Beschlußverfahrens durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. (Das Arbeitsrecht der Gegenwart. Jahrbuch für das gesamte Arbeitsrecht. Bd. 9, S. 23- 54.) Berlin: E. Schmidt 1972. 24. Die Weisung des Arbeitgebers als arbeitsrechtliches Problem. Diskussionsbeitrag. (Verhandlungen des 4. Österreich. Juristentages Wien 1970. Bd. 2, T. 4, S. 46- 50.) Wien: Manz 1972. 25. Die Stellung des Gesamtbetriebsrates und des Konzernbetriebsrates nach dem neuen Betriebsverfassungsgesetz. (Recht und Staat. Festschrift für Günther Küchenhoff zum 65. Geburtstag. Halbbd. 1, S. 283 - 300.) Berlin: Duncker & Humblot 1972. 26. Zur Anfechtung der BetriebsratswahL (Festschrift für Ludwig Schnorr von Carolsfeld zum 70. Geburtstag, 26. Jan. 1973. S. 367- 396.) Köln: Heymann 1972. 27. Streik und Aussperrung in der Rechtsprechung des deutschen Bundesarbeitsgerichts. (Arbeitskonflikte und Arbeitskampf. S. 63- 91.) Köln: Hanstein 1973. 28. Die Autorität der Gerichte. (Dimensionen des Rechts. Gedächtnisschrift für Rene Marcic. S. 874- 887.) Berlin: Duncker & Humblot 1974.

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29. Der leitende Angestellte. Rechtliche Situation und soziologische Ausblicke. (Evangelische Akademie Hofgeismar. Akademietagung 30. bis 31. März 1973. Protokoll Nr. 67/73. S. 1- 13.) Hofgeismar: Evangelische Akademie 1973. 30. La decision du Tribunal federal du travail de la R.epublique d' Allemagne Federale du mars 1974, concernant le personel d'encardrement. (Etudes de droit du travail offertes a Andre Brun.) Lyon: Univ. 1974. 31. Einigungsstelle und tarifliche Schlichtungsstelle nach dem Betriebsverfassungsgesetz 1972. (Wirtschaftsfragen der Gegenwart. Festschrift für Carl Hans Barz zum 65. Geburtstag am 6. Dezember 1974. S. 489- 508.) Berlin: de Gruyter 1974. 32. Überlegungen zum Recht des Arbeitsverhältnisses und zur Arbeitsge-

richtsbarkeit. Gedanken zur Selbständigkeit des Arbeitsrechts. (Sozialpolitik. Ziele und Wege. [Festschrift] Walther Arendt zur Vollendung des fünfzigsten Lebensjahres [am 17. 1. 1975]. S. 241- 266.) Köln: Verl. Wissenschaft u. Politik. 33. Arbeit und sozialrechtliche Maßnahmen. (Kirche und Wirtschaftsgesellschaft. Eine Sendereihe in Radio Vaticana. Zsgest. v. Karlheinz Hoffmann [u. a.] (Gesellschaft, Kirche, Wirtschaft. Hrsg. von der Internat. Stiftung Humanum. Bd. 3.) S. 161- 164.) Köln: Hanstein 1974. 34. Streik und Aussperrung. (Kirche und Wirtschaftsgesellschaft. Eine Sende-

reihe in Radio Vaticana. Zsgest. v. Karlheinz Hoffmann [u. a.] (Gesellschaft, Kirche, Wirtschaft. Hrsg. von der Internat. Stiftung Humanum. Bd. 3.) S. 165- 168.) Köln: Hanstein 1974. 35. Strikes, lockouts in the jurisdiction of the West German Federal Industrial Court. (Industrial conflicts and their place in modern society. An international symposium ([held under the auspices of] the International Humanum Foundation in Zurich in Nov. 1972). S. 46- 63). London: SCM Press 1974. Erschien in dt. Sprache als: Streik und Aussperrung in der Rechtsprechung des deutschen Bundesarbeitsgerichts. (Arbeitskonflikte und Arbeitskampf S. 63 - 91.) Köln: Hanstein 1973. 36. Arbeitsgerichtsbarkeit. (Handwörterbuch des Personalwesens. Sp. 164176.) Stuttgart: Poeschel 1975. 37. Das Wort von der "Demokratisierung der Gesellschaft". (Ordnung im sozialen Wandel. Festschrift für Johannes Messner zum 85. Geburtstag. S. 247- 254.) Berlin: Duncker & Humblot 1976. 38. Gedanken zur Staatsethik der katholischen Soziallehre heute. (Freiheit

und christliche Soziallehre. (Gesellschaft, Kirche, Wissenschaft. Hrsg. von der Internationalen Stiftung Humanum. Bd. 10.) S. 143- 161.) Köln: Hanstein 1977. 39. Die Arbeit in christlicher Sicht. (Staatsethik. (Gesellschaft, Kirche, Wirtschaft. Hrsg. von der Internationalen Stiftung Humanum. Bd. 9.) S. 101106.) Köln: Hanstein 1977. 40. Das Ethos des Soldaten in der Gesellschaft von morgen. Zusammenfassung der Vorträge der 8. und 9. Tagung. (Gaupp-Berghausen, Georg von: Die Ethik des Soldaten in der Gesellschaft von morgen. Zusammenstellung der 8. und 9. Studientagung, Graz 1976, Wien 1977 der Gesellschaft für politisch-strategische Studien. S. 110- 122.) München: Weltforum Verl. 1978.

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41. Rechtsphilosophie. (Kompendium des modernen christlich freiheitlichen Konservatismus. [Hrsg.:] Konrad Bonkosch. T. 1. S. 427-447. (Politisch theoretische Reihe. Bd. 3.) Bonn: R & S. Verl. 1978. 42. Bemerkungen zur Frage nach einem Verbändegesetz. (Die Sozialpartner in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat. (Sammlung Politeia. Bd. 31.) S. 199- 205.) Stuttgart: Seewald 1979. 43. Die rechtliche Ordnung des Arbeitskampfes und seine ordnungspoliti44. 45. 46. 47.

schen Grenzen. (Die Sozialpartner in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat. (Sammlung Politeia. Bd. 31.) S. 145 - 161.) Stuttgart: Seewald 1979. Die Sozialpartner in Wirtschaft und Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland. (Die Sozialpartner in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat. (Sammlung Politeia. Bd. 31.) S. 46- 60.) Stuttgart: Seewald 1979. Die Gewerkschaften und die Arbeitsgerichtsbarkeit. (Festschrift für Eugen Loderer zum 60. Geb. S. 265- 278.) Köln: Bund-Verl. 1980. Das Koalitionswesen und das Gemeinwohlpostulat. (Das Arbeitsrecht der Gegenwart. Bd. 17: 1979. S. 19- 36.) Berlin: E. Schmidt 1980. Komponenten des Arbeitsverhältnisses. (In: Rehor-Festschrift. Festschrift Grete Rehor zum 70. Geburtstag am 30. 6. 1980. Hrsg.: österr. Arbeiteru. Angestellten-Bund ÖVP, Abt.: Frauen im ÖAAB, A 1082 Wien, Laudongasse 6. [Arbeitstitel.])

IV. Zeitsdlriftenaufsätze 1. Staatspolitische Aufgaben der Arbeitsgerichtsbarkeit. In: Arbeitsblatt 1948, 185.

2. Das Mitbestimmungsrecht der Betriebsräte nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 22 (Betriebsrätegesetz). In: Betriebs-Berater 1948, 106. 3. Der allgemeine Kündigungsschutz in der neuen Ländergesetzgebung unter bes. Berücksichtigung des Hessischen Betriebsrätegesetzes. In: Betriebs-Berater 1948, 534. 4. Der Kündigungsschutz der Betriebsratsmitglieder in der Rechtsprechung. In: Recht der Arbeit 1948/49, I 50. 5. Das Problem des allgemeinen Kündigungsschutzes in der Rechtsprechung der Arbeitsgerichte. In: Deutsche Rechts-Zeitschrift 1948, 122. 6. Unwirksamkeit der Kündigung und Kündigungsschutz. In: Betriebs-Berater 1948, 408. 7. Die Ausbildung der Referendare bei den Arbeitsgerichten. In: Deutsche Rechts-Zeitschrift 1949, 538. 8. Bonner Grundgesetz und ArbeitsplatzwechseL Wiederherstellung der Freizügigkeit. In: Der Betrieb 1949, 347. 9. Die Rechtsstellung der Vorsitzenden bei den Arbeits- und Landesarbeitsgerichten. Gesetzgebungskompetenz des Bundes und der Länder. In: Arbeitsblatt 1949, 477. 10. Die Berufung der Vorsitzenden bei den Arbeits- und Landesarbeitsgerichten. In: Bundesarbeitsblatt 1950, 139. 11. Fragen zum wirtschaftlichen Mitbestimmungsrecht der Betriebsräte nach den Regelungen des Hessischen Betriebsrätegesetzes und des Württemberg-Badischen Beteiligungsgesetzes. In: Betriebs-Berater 1950, 321.

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12. Die Willensbildung und die Erklärungen des Betriebsrates. In: Recht der Arbeit 1950, 206. 13. Hessen: Keine Zuständigkeit der Arbeitsgerichte mehr für vermögensrechtliche Streitigkeiten von Beamten. In: Recht der Arbeit 1950, 415. 14. Betriebsverfassungsrecht und Montan-Mitbestimmungsgesetz. In: Betriebs-Berater 1951, 565. 15. Mitbestimmung durch Vertretung der Arbeitnehmer in Vorstand und Aufsichtsrat und allgemeiner Kündigungsschutz. In: Betriebs-Berater 1951, 339. 16. Grundfragen des Streikrechts. In: Recht der Arbeit 1951, 247. 17. Zur Arbeitsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland. In: Das Recht der Arbeit. Wien 1952, 1. 18. Schutz der negativen Koalitionsfreiheit. In: Betriebs-Berater 1952, 549. 19. Die beiden Arten des Mitbestimmungsrechtes. In: Betriebs-Berater 1953, 329. 20. Das neue Arbeitsgerichtsgesetz. In: Recht der Arbeit 1953, 241. 21. Grundsätzliche Fragen zum Recht des Arbeitskampfes. In: Das Recht der Arbeit. Wien 1953. H. 7, 1. 22. Die Beschaffung von Literatur für den Betriebsrat. In: Die Betriebsverfassung 1954. Nr. 3, 3. 23. Zur Prozeßvertretung vor den Gerichten für Arbeitssachen. In: Arbeit und Recht 1954, 5. 24. Bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Zulässigkeit der Revisionen. Mit Hugo Berger. In: Betriebs-Berater 1954, 597. 25. Die Vertretung der Betriebsräte im arbeitsgerichtliehen Beschlußverfahren. In: Die Betriebsverfassung 1954. Nr. 2, 11. 26. Zur Frage der gerichtlichen Zuständigkeit für die Erledigung von Streitigkeiten aus dem Personalvertretungsgesetz. In: Arbeit und Recht 1955, 143. [U. d. T.:] Verwaltungsgerichte oder Arbeitsgerichte. Zur Frage der Zuständigkeit für Streitigkeiten aus dem Personalvertretungsgesetz. In: Die Dritte Gewalt 1955. H. 9/10, 4. 27. Gedanken zur Forderung nach der Einheit der Rechtspflege. In: Der Betrieb 1955, 473. 28. Streik und Arbeitsvertrag. Versuch einer rechtsvergleichenden Darstellung. In: Die Betriebsverfassung 1955. Nr. 1, 1. 29. Gedanken zur Systematik des Schlichtungsrechts. In: Die Betriebsverfassung 1955. Nr. 4, 1. 30. Zum Problem der Kettenverträge. In: Die Betriebsverfassung 1955. Nr. 2, 4. 31. Das Problem der Kündigung eines Arbeitnehmers wegen seiner Teilnahme an einem Gewerkschaftsstreik um Arbeitsbedingungen. In: Das Recht der Arbeit. Wien 1955. H. 15, 1. 32. Zur Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. In: Betriebs-Berater 1955, 577. 33. Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Zulässigkeit von Revisionen. In: Betriebs-Berater 1955, 642.

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34. Sorgfältiger Ausgleich der Interessenbereiche. Die Belange des Arbeitnehmers und die Erfordernisse der wirtschaftlichen Praxis in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. In: Die Dritte Gewalt 1956. Nr. 3, 10. [U. d. T.:] Die Belange des Arbeitnehmers und die Erfordernisse der wirtschaftlichen Praxis in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. In: Die Betriebsverfassung 1956, 61. 35. Zum Bereich der sozialen Auswahl nach § 1 Abs. 3 Kündigungsschutzgesetz. In: Der Betrieb 1956, 965. 36. Der Gedanke des sozialen Staates in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. (Teil I und II.) In: Der Betrieb 1956, 524 und 549. 37. Kann ein in der Sowjetzone (Ostberlin) zugelassener Anwalt in der Bundesrepublik und Westberlin auftreten? In: Der Betrieb 1956, 59. 38. Das Prinzip des sozialen Staates. Aus der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. In: Die Dritte Gewalt 1956. Nr. 4, 14. 39. Die allgemeine Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur außerordentlichen fristlosen Kündigung aus wichtigem Grund. In: Die Betriebsverfassung 1956, 41. 40. Die Selbständigkeit der einzelnen Gerichtszweige, insbesondere der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit. In: Die Betriebsverfassung 1956, 201. 41. Die Simultanzulassung aller Rechtsanwälte bei dem Bundesarbeitsgericht. In: Der Betrieb 1956, 596. [U. d. T.:] Die Simultanzulassung aller Anwälte bei dem Bundesarbeitsgericht. In: Recht der Arbeit 1959, 11. 42. Der Sinn des Tarifvertragsgedankens. In: Die Dritte Gewalt 1956. Nr. 1, 16. 43. Die Tätigkeit der nichtrechtsgelehrten Vorsitzenden bei den Arbeitsund Sozialgerichten. In: Die Betriebsverfassung 1956, 221. 44. Der Anwendungsbereich der typischen Vertragsabrede und ihre revisionsrechtliche Nachprüfung im Arbeitsgerichtsprozeß. In: Die Betriebsverfassung 1957, 21. 45. Das Einzelarbeitsverhältnis und die Aufgaben der Mitbestimmung. In: Betriebs-Berater 1957, 409. 46. Gedanken zum Koalitionsrecht. In: Der Betrieb 1957, 718. 47. Kritische Gedanken zur Forderung nach der Einheit der Rechtspflege. In: Recht der Arbeit 1957, 313. 48. Präsident a. D. Dr. Hermann Meissinger. In: Recht der Arbeit 1957, 419. 49. Die dem Einzelarbeitsverhältnis vom Arbeitsverband her innewohnende Beeinflussung. (Teil I und II.) In: Der Betrieb 1958, 712 und 740. 50. CDU-Sozialausschüsse. Kollegenschaft im DGB. In: Gesellschaftspolitische Kommentare 1958, 299. 51. Findet der Gleichbehandlungsgrundsatz im überbetrieblichen Raum Anwendung? In: Der Betrieb 1958, 52. 52. Vorzeitige Kündigungsmöglichkeit der Tarifvereinbarung für das Berliner Baugewerbe. In: Die Betriebsverfassung 1958, 104. 53. Zum Problem der Teilkündigung beim Arbeitsverhältnis. In: Die Betriebsverfassung 1958, 21.

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54. Die allgemeine Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur außerordentlichen Kündigung aus wichtigem Grund. In: Der Betrieb 1958, 628. 55. Weihnachtsgeldzahlungen der Arbeitgeber an ausgeschiedene invalide Arbeitnehmer und Hinterbliebene verstorbener Arbeitnehmer. In: Die Betriebsverfassung 1958, 201. 56. Die Entlassung auf Baustellen aus Witterungsgründen (§ 21 Abs. 3 KSchG). In: Die Betriebsverfassung 1959, 1. 57. Der Geltungsbereich des tarifrechtliehen Nachwirkungsgrundsatzes. In: Der Betrieb 1959, 84. 58. IG Metall gegen Kasseler Arbeitsrichter. In: Gesellschaftspolitische Kommentare 1959, 5. 59. Zur arbeitsrechtlichen Problematik der Rechtsbeziehungen des Spitzenfilmdarstellers. In: Archiv für Urheber-, Film-, Funk- u. Theaterrecht 1959, 134. 60. Probleme der Friedenspflicht. In: Der Betrieb 1959, 515. 61. Streikrecht und Kampfmaßnahmen. Tendenzen im Koalitionsrecht nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. In: Die Arbeitskammer 1959, 330. 62. Kasseler Urteil zum Metallarbeiterstreik. In: Gesellschaftspolitische Kommentare 1959, 91. 63. Die Auslegung des normativen Teiles eines Tarifvertrages nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. (Teil I und II.) In: Der Betrieb 1960, 119 und 148. 64. Auswirkungen von Lohnwellen auf das Arbeitsverhältnis. In: Der Betrieb 1960, 322. 65. Naturrechtsgedanken im geltenden Recht. Zum Gemeinwohl als Rechtsprinzip. In: Die Arbeitskammer 1960, 88. 66. Das Kündigungsschutzgesetz und Treu und Glauben unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. - Begründung des allgemeinen Kündigungsschutzes seit 1945 und das Kündigungsschutzgesetz. In: Der Betrieb 1960, 1037. 67. Die Notstandsgesetzgebung und Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz. In: Die Arbeitskammer 1960, 11. 68. Zur Lage der deutschen Gewerkschaftsbewegung. (Teil I- III.) Teil: Bestandsaufnahme 1961. Teil II: Die Gewerkschaften im Umbruch der Gesellschaft. Teil III: Gewerkschaften und Staat. In: Gesellschaftspolitische Kommentare 1961, S. 61, 77 und 88. 69. Die bargeldlose Lohnzahlung an Arbeiter und die Tarifklauseln "Lohnzahlung direkt oder in Lohntüten" sowie "Lohnzahlung während der Arbeitszeit". In: Der Betrieb 1961, 33. 70. Arbeitsrechtliche Probleme im Zusammenhang mit dem Gesetz zur Förderung der Vermögensbildung der Arbeitnehmer. (Teil I und II.) In: Der Betrieb 1961, 1195 und 12'25. 71. Struktur und Ressortierung der Rechtspflege. In: Recht der Arbeit 1961, 344. 72. Zum politischen Streik in Belgien. Zu den Vorgängen in Belgien 1960/61. In: Gesellschaftspolitische Kommentare 1961, 25.

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73. Die Bedeutung des Arbeitsrechts in unserer heutigen sozialen Ordnung. In: Stimmen der Zeit. Bd. 170: 1962, 21. 74. Gedanken zur Mitwirkung des Betriebsrats in personellen Angelegenheiten. (Teil I und II.) In: Der Betrieb 1962, 770 und 802. 75. Die betriebsbedingte Kündigung nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. (Teil I und II.) In: Der Betrieb 1962, 1538 und 1570. 76. Arbeitsverhältnis-Gesellschaftsverhältnis. In: Die Arbeitskammer 1962, 334. 77. Hans-Carl Nipperdey. Der Präsident des Bundesarbeitsgerichts tritt in den Ruhestand. Ein hervorragender Praktiker und Wissenschaftler. In: Film und Recht 1963. Nr. 1, 2. 78. Hans Carl Nipperdey. In: Neue Juristische Wochenschrift 1963, 336. 79. Die gegenwärtige Situation des Gewerkschaftswesens in der Bundesrepublik. [Veröffentlicht unter XXX.] In: Die neue Ordnung 1963, 273. 80. Tendenzen der arbeitsrechtlichen Entwicklung unter dem Blickpunkt der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. (Teil I und Il.) In: Der Betrieb 1964, 733 und 771. 81. Der Sozialstaatsgedanke unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. In: Bundesarbeitsblatt 1964, 723. 82. Grundrechtsordnung und Sozialcharta. In: Gesellschaft und Politik 1965, H. 1, 3. 83. Die Ressortierung der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit. In: Arbeitsund Sozialrecht 1966, 101. In: Recht der Arbeit 1966, 289. 84. Jahresbericht des Bundesarbeitsgerichtspräsidenten. Übersicht 1965. In: Bundesarbeitsblatt 1966, 543. 85. Einflüsse des kollektiven Arbeitsrechts auf das Arbeitsverhältnis. (Teil I und II.) In: Der Betrieb 1967, 903 und 948. 86. Die Frage der Senatsverfassung bei Landesarbeitsgerichten. In: BetriebsBerater 1967, 1009. 87. Mobilität und Arbeitsrecht. In: Bundesarbeitsblatt 1967, 661. In: Betriebliche Altersversorgung 1968. Folge 2/3, 17 [Auszug]. 88. Jahresbericht des Bundesarbeitsgerichts. Übersicht 1966. In: Bundesarbeitsblatt 1967, 352. In: Deutsche Richterzeitung 1967, 342 [Auszug]. 89. Arbeitskampf ein Teilelement formaler Ordnungsmöglichkeiten. Diskussionsbeitrag zum Referat von Professor Dr. B. Külp: Wandlung der Rolle der Tarifpartner in der heutigen Gesellschaft. Gemeinsame Veranstaltung d. Gesellschaft f. sozialen Fortschritt und d. Sozialwissenschaft!. Abteilung d. Ruhr-Universität. In: Sozialer Fortschritt 1967, 107. 90. Jahresbericht des Bundesarbeitsgerichts. Übersicht 1967. In: Bundesarbeitsblatt 1968, 501. In: Deutsche Richterzeitung 1968, 408 [Auszug]. 91. Personen- und verhaltensbedingte Kündigung nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. In: Juristische Praxis. Jg. 17: 1968. H. 154, 1. 92. Problematik und Probleme des Arbeitskampfrechtes der Bundesrepublik Deutschland. Vortrag geh. in Innsbruck auf Einladung d. Rechtsu. staatswiss. Fakultät d. Universität am 7. 7. 1967. In: Das Recht der Arbeit. Wien 1968, 66. Erschien teilw. [u. d. T.:] Problematik und Pro-

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bleme des Arbeitskampfes in der Bundesrepublik Deutschland, mit Theo Mayer-Maly: Betrieb und Gewerkschaft, auch als: Schriftenreihe der Vereinigung der Arbeitgeberverbände in Bayern. H. 1/2. München 1968. 93. Die Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. In: Recht der Arbeit 1968 (H. 11: Gedächtnisheft für Arthur Nikisch), 461. 94. Jahresbericht des Bundesarbeitsgerichts für 1968. In: Bundesarbeitsblatt 1969, 697. 95. Zur arbeitsrechtspolitischen Situation. In: Der Betrieb 1969, 749. 96. Gegenstand und Verwirklichung des betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechts in personellen Angelegenheiten. In: Recht der Arbeit 1969 (H. 7/8: [Festgabe] Alfred Hueck zum 80. Geburtstag), 227. 97. Die Mitbestimmung auf Unternehmensebene. In: Der Betrieb 1969, 1794. 98. Gedanken zur Rechtsstellung der leitenden Angestellten. In: Bergfreiheit 1969, 133. 99. Rechtspolitische Gedanken zum Betriebsverfassungsrecht. (Teil I und II.) In: Der Betrieb 1970, 1023 und 1076. 100. Keine allgemein bejahte Rechtsüberzeugung mehr. Zur Problematik der Rechtsprechung und des Richters heute. In: FAZ. Frankfurter Allgemeine Zeitung 1970, Nr. 201 vom 1. 9. 1970, S. 11. 101. Jahresbericht des Bundesarbeitsgerichts für 1969. In: Bundesarbeitsblatt 1970, 711. In: Betriebliche Altersversorgung 1971, 25 [Auszug]. Abschnitt: Arbeitsrechtliches Versorgungsrecht. 102. Die Rolle der Gewerkschaft in der Industriegesellschaft. Referat zur "Rechtstheorie" anläßl. der 5. Problemtagung der CDA am 26. 9. 1970 in Königswinter. In: Soziale Ordnung. Christlich-Demokratische Blätter der Arbeit. Jg. 1970. Nr. 10, 10. 103. Zur Problematik der Mitbestimmung im öffentlichen Dienst. In: Gesellschaftspolitische Kommentare 1971, 181. 104. Jahresbericht des Bundesarbeitsgerichts für 1970. In: Bundesarbeitsblatt 1971, 544. In: Wege zur Sozialversicherung 1972, 23 [Auszug]. 105. Gedanken zum Neomarxismus. In: Gesellschaftspolitische Kommentare 1971, 97. 106. Aktuelle Fragen des Arbeitskampfrechts. Das Arbeitskampfrecht im Beschluß des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 21. April 1971. (Vortrag vor dem Verein für Wirtschaftsrecht der Univ. zu Köln, gehalten am 13. 7. 1971.) In: Recht der Arbeit 1971, 321. 107. Die Autorität der Gerichte. In: Anstöße. Berichte aus der Arbeit der Evangelischen Akademie Hofgeismar 1971, 182. 108. Fragen zum Arbeitskampfrecht nach dem Beschluß des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 21. April 1971. [Neubearb. von "Das Arbeitskampfrecht im Beschluß des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 21. April 1971 ", veröff. in "Recht der Arbeit" 1971, 321.] In: Gewerkschaftliche Monatshefte 1972, 273. 109. Betriebsverfassungsgesetz. Die Einigungsstelle. In: Der Arbeitgeber 1972, 419.

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110. Die Stellung der Verbände im neuen Betriebsverfassungsrecht In: Zeitschrift für Arbeitsrecht 1972, 213. 111. Der Arbeitskampf als Rechtsinstitution. Gedanken zum Arbeitskampfrecht in der Bundesrepublik Deutschland. In: Arbeit und Recht 1972,1. 112. Jahresbericht des Bundesarbeitsgerichts für 1971. In: Bundesarbeitsblatt 1972, 641. 113. Il trattamento giuridico del lavoro subordinato nelle relazioni italotedesche. In: Rivista di diritto internazianale privato e processuale 1972, 689. [Übersetzung eines Vortrages [u. d. T.:] Die rechtliche Behandlung abhängiger fremdbestimmter Arbeit bei Berührungen mit Deutschland und Italien, geh. anläßl. des 4. Kongresses d. Vereinigung für den Gedankenaustausch zwischen deutschen u. italienischen Juristen, München 13. - 15. 10. 1972.] Erschien gekürzt [u. a. T. :] Die rechtliche Behandlung abhängiger fremdbestimmter Arbeit bei Berührungen mit Deutschland und Italien. In: Recht der Arbeit 1973, 137. 114. Rechtliche Konzeption und soziologische Problematik der Einigungsstelle nach dem BetrVG 72. In: Der Betrieb 1973, 76. In: Der Betr,ieb 1973, 431. [Ergänzende Stellungnahme] 115. 20 Jahre "Arbeit und Recht". In: Arbeit und Recht 1973, 15. 116. Zur Situation Europas. In: Schweizer Rundschau 1973, Nr. 1, 2. 117. Die Arbeit in christlicher Sicht. In: Schweizer Rundschau 1973, Nr. 4 (Juli/ August). 118. Jahresbericht des Bundesarbeitsgerichts für 1972. In: Bundesarbeitsblatt 1973, 439. 119. Die wichtigsten Entscheidungen des BAG zum Betriebsverfassungsgesetz. (Interview.) In: dpa. Sozialpolitische Nachrichten 1973. Nr. 52, 2. 120. Gedanken zu einer Standortbestimmung des Arbeitsrechts. In: Der Betrieb 1974, 41. 121. Die Sozialstaatsmaxime des Grundgesetzes. In: Bundesarbeitsblatt 1974,257. 122. Der Tendenzschutz ist vom Grundgesetz geboten. Gedanken zur Mitbestimmung und zum Gesetzentwurf der Bundesregierung. In: F AZ. Frankfurter Allgemeine Zeitung 1974. Nr. 88 vom 16. 4. 1974, S. 6. 123. Die Zukunft der leitenden Angestellten. In: Frankfurt. Zeitung "Blick durch die Wirtschaft" 1974. Nr. 190 vom 19. 8. 1974, S. 3. 124. Jahresbericht des Bundesarbeitsgerichts für 1973. In: Bundesarbeitsblatt 1974, 697. 125. Gedanken zum Entwurf des Mitbestimmungsgesetzes (MitbestG). In: Der Betrieb 1975, 205 und 253. 126. Der leitende Angestellte des § 5 Abs. 3 Nr. 3 BetrVG 1972 in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. In: Recht der Arbeit 1975, 63. (Festgabe für Eduard Bötticher zum 75. Geburtstag [am 29. 12. 1974].) 127. Bundesarbeitsgericht. Jahresbericht 1974. In: Bundesarbeitsblatt 1975, 387. 128. Tarifkonflikt: Künftig mit härteren Bandagen? "Nicht aus Lust und Laune". WiWo-Gespräch. In: Wirtschaftswoche, Düsseldorf 1975. Nr. 21, S.15.

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129. Bundesarbeitsgericht Jahresbericht 1975. In: Bundesarbeitsblatt 1976, 435. 130. Betriebsratsamt und gewerk,schaftlicher Vertrauensmann. In: Recht der Arbeit 1976. H. 1, S. 46 - 49. 131. Ein Bestandteil der Sozialverfassung. Zum Arbeitskammergedanken. In: Saarbrücker Zeitung 1977. Nr. 115 vom 18. 5. 1977, S. 12. 132. Gedanken zum Richterrecht. In: Arbeit und Recht 1977, 129. 133. Personenwürde im Mittelpunkt. Arbeitsverhältnis und sozialrechtliche Maßnahmen. In: Gesellschaftspolitische Kommentare 1977, S. 121. 134. Das Bundesarbeitsgerdcht und die Arbeitsrechtswissenschaft. In: Arbeit und Recht 1977, S. 303. 135. Jahresbericht (des Bundesarbeitsgerichts) 1976. In: Bundesarbeitsblatt 1977, 527. 136. Das Bundesarbeitsgericht und die Verbände. In: Arbeit und Recht 1978, 14. 137. " ... auf dem Niveau einer reinen Polemik". Warum die Aussperrung rechtens sein und die "kooperation" unrecht haben soll. In: Universität. Arbeitskammer Bremen. kooperation 1978, Nr. 22/23, S. 23. 138. Verfassungsrechtliche Gedanken zur Ressortierung der Arbeitsgerichtsbarkeit. In: Arbeit und Recht 1978, S. 129. 139. Hintergrundfragen des Rechts. In: Gesellschaftspolitische Kommentare 1978,266. 140. Die staatspolitische Bedeutung der Arbeitsgerichtsbark,eit. [Bearb.] Vortrag, gehalten am 9. 5. 1978 vor der Konferenz der Präsidenten der Landesarbeitsgerichte in Mainz. In: Recht der Arbeit 1978, 337. 141. Jahresbericht (des Bundesarbeitsgerichts) 1977. In: Bundesarbeitsblatt 1978, Nr. 11 Beil. In: Bundesarbeitsblatt 1978, 507 [Auszug] 142. Das Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 1. 3. 1979. In: Der Betrieb 1979. Beil. 5 aus H. 16. 143. Rechtsbesinnung - Besinnung auf das Recht? Zugleich Buchbesprechung von: Küchenhoff, Günther: Rechtsbesinnung, eine Rechtsphilosophie. Göttingen 1973. In: Arbeit und Recht 1979, 33. 144. Staatskirchenrecht und normatives Arbeitsrecht. Eine Problemskizze. In: Recht der Arbeit 1979, 71. 145. Das Koalitionswesen, insbesondere das Gewerkschaftswesen, nach dem Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts. In: Recht der Arbeit 1979, 361 - 370. 146. Für eine Reform der Reform. Warum der Paragraph 218 einer Neufassung bedarf. In: Rheinischer Merkur 1979. Nr. 36, S. 28. 147. Die rechtliche, die rechtspolitische und die gesellschaftspolitdsche Problematik des Arbeitnehmerkammerwesens. In: Der Betrieb 1980, S. 91 - 98.

V. Buch- und Urteilsbesprechungen 1. Dietz: Das Arbeitsgerichtsverfahren. 1948. In: Recht der Arbeit 1949, 101. 2. Maus: Der Prozeß vor den Arbeitsgerichten. 1950. In: Recht der Arbeit 1950, 424.

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3. Die Dritte Gewalt. In: Recht der Arbeit 1951, 70. 4. Siebert- Hilger: Arbeitsrecht. 3. Aufl. In: Juristenzeitung 1951, 191. 5. Hueck- Ndpperdey: Tarifvertragsgesetz. 2. Aufl. 1951. In: Neue Juristische Wochenschrift 1952, 375. 6. Zigan: Kommentar zum Schwerbeschädigtengesetz. 1953. In: Recht der Arbeit 1953, 475. 7. Krüger: Arbeitsrecht. 1953. In: Recht der Arbeit 1954, 109. 8. Leifeld: Der Betriebsrat. 1953. In: Recht der Arbeit 1954, 153. 9. Seilmann- Evermann: Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter. 1953. In: Recht der Arbeit 1954, 311. 10. Siebrecht: Die Vorschriften über Arbeitsvermittlung und Arbeitsmarktpolitik, einschließlich Berufsberatung, Berufsförderung, Arbeitsbeschaffung und verwandter Sachgebiete. Grundwerk und 1. Nachtragslieferung 1954. In: Recht der Arbeit 1955, 159. 11. Tschischgale: Das Kostenrecht in Arbeitssachen. 1954. In: Neue Juristische Wochenschrift 1955, 455. 12. Boldt- Steffens: Gewerbeordnung. 1955. In: Recht der Arbeit 1956, 73. 13. Fitting: Personalvertretungsgesetz und Molitor: Personalvertretungsgesetz. In: Arbeit und Recht 1956, 185. 14. Fdtting: Wahlordnung zum Personalvertretungsgesetz. In: Arbeit und Recht 1956, 347. 15. Hersehe!- Steinmann: Kommentar zum Kündigungsschutzgesetz. 3. Aufl. 1955. In: Recht der Arbeit 1956, 73. 16. Katz: Zur Stellung der Dritten Gewalt. 1955. In: Recht der Arbeit 1956, 309. 17. Plassmann: Die Kündigung. 1955. In: Recht der Arbeit 1956, 115. 18. Plassmann: Der Urlaub. 1956. In: Recht der Arbeit 1956, 432. 19. Siebrecht: Die Vorschriften über Arbeitsvermittlung und Arbeitsmarktpoliti~ einschließlich Berufsberatung, Berufsförderung, Arbeitsbeschaffung und verwandter Sachgebiete. 2. Nachtragslieferung. 1956. In: Recht der Arbeit 1956, 238. 20. Stadlbauer: Das Schwerbeschädigtengesetz. 1955. In: Recht der Arbeit 1956, 115. 21. Bauer: Arbeitsrecht. 1956. In: Recht der Arbeit 1957, 34. 22. Dienst für das gemeinsame Beste. 1957. In: Recht der Arbeit 1957, 474. 23. Dietz: Personalvertretungsgesetz. 1956. In: Arbeit und Recht 1957, 215. 24. Erdmann: Die Entwicklung der deutschen Sozialgesetzgebung. 2. Aufl. 1957. In: Recht der Arbeit 1957, 304. 25. Schieckel: A VAVG. Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. 2. Aufl. mit 2 Erg.-Lief. In: Neue Juristische Wochenschrift 1957, 95. 26. Siebrecht: Die Vorschriften über Arbeitsvermittlung und Arbeitsmarktpolitik einschließlich Berufsberatung, Berufsförderung, Arbeitsbeschaffung und verwandter Sachgebiete. 3. Nachtragsldeferung. 1956. In: Recht der Arbeit 1957, 237.

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27. Sozialpolitik, Arbeits- und Sozialrecht. Festschrift für Friedrich Sitzler zu seinem 75. Geburtstag. 1956. In: Recht der Arbeit 1957, 297. 28. Boldt: Mitbestimmungsergänzungsgesetz 1957. In: Recht der Arbeit 1958, 193. 29. Dersch: Arbeitsrecht. 5. Aufl. 1957. In: Neue Juristische Wochenschrift 1958, 941. 30. Fitting- Kraegeloh: Betriebsverfassungsgesetz. 1958. In: Recht der Arbeit 1958, 431. 31. Landshut- Gaebler: Politisches Wörterbuch. 1958. In: Recht der Arbeit 1959, 398. 32. Siebrecht: Die Vorschriften über Arbeitsvermittlung und Arbeitsmarktpolitik, einschließlich Berufsberatung, Berufsförderung, Arbeitsbeschaffung und verwandter Sachgebiete. 4. und 5. Nachtragslieferung 1957 und 1958. In: Recht der Arbeit 1959, 195. 33. Blank: Die Technik und der Techniker im Spannungsfeld nationaler und internationaler Entwicklungen. 1959. In: Recht der Arbeit 1960, 73. 34. Bogs, Festschrift. Sozialreform und Sozialrecht. 1959. In: Recht der Arbeit 1960, 30. 35. Gamillscheg: Internationales Arbeitsrecht. 1959. In: Neue Juristische Wochenschrift 1960, 1658. 36. Heyde: Abriß der Sozialpolitik. 11. Aufl. 1959. In: Recht der Arbeit 1960, 30. 37. Siebrecht: Die Vorschriften über Arbeitsvermittlung und Arbeitsmarktpolitik einschließlich Berufsberatung, Berufsförderung, Arbeitsbeschaffung und verwandter Sachgebiete. 1960. 6. Nachtragslieferung. In: Recht der Arbeit 1961, 292. 38. Elsholz: Sozialpolitische Perspektiven. 1962. In: Recht der Arbeit 1962, 201. 39. Erdmann: Tar·ifautonomie und staatliche Intervention im internationalen Rechtsvergleich. 1962. In: Recht der Arbeit 1962, 243. 40. Hug: Die Sozialgesetzgebung in den Bundesstaaten und in den überstaatlichen europäischen Gemeinschaften. 1960. In: Recht der Arbeit 1962, 121. 41. Neuloh: Der neue BetriebsstiL 1960. In: Der Betriebs-Berater 1962, 768. 42. Schasching: Die soziale Botschaft der Kirche von Leo XIII bis Johannes XXIII. 1962. In: Recht der Arbeit 1962, 204. 43. Siebrecht: Die Vorschriften über Arbeitsvermittlung und Arbeitsmarktpolitik einschließlich Berufsberatung, Berufsförderung, Arbeitsbeschaffung und verwandter Sachgebiete. 7. und 8. Nachtragslieferung. 1960 und 1961. In: Recht der Arbeit 1962, 352. 44. Übersicht über die Soziale Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland. Stand: 1. 4. 1960. In: Recht der Arbeit 1962, 84. 45. Woischnik: Grundlagen der Privatisierungspolitik. 1961. In: Recht der Arbeit 1962, 245. 46. Frey: Der Tendenzbetrieb im Recht der Betriebsverfassung und des Arbeitsverhältnisses. 1959. In: Recht der Arbeit 1961, 80. 57 Festschrift

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47. Kaiser: Der politische Streik. 2. Aufl. 1959. In: Recht der Arbeit 1961, 173. 48. v. Nell-Breuning: Wörterbuch der Politik. 2. Aufl. 1958. In: Recht der Arbeit 1961, 414. 49. Rapp: Bonn auf der Waage. 1959. In: Recht der Arbeit 1961, 411. 50. Die Vertretung der Arbeitnehmer auf Betriebsebene nach dem Recht der Mitgliedstaaten der EGKS. 1959. In: Recht der Arbeit 1961, 83. 51. Stolz, 0.: Die Gewerkschaften in der Sackgasse. 1959. In: Recht der Arbeit 1963, 35. 52. Die Sozialenzyklik.a Papst Johannes' XXIII. Mater et Magistra. 1962. In: Recht der Arbeit 1963, 71. 53. Gottfurcht: Die internationale Gewerkschaftsbewegung im Weltgeschehen. 1962. In: Die neue Ordnung 1963, 319. 54. Külp, B.: Kurzgefaßte Katholische Soziallehre. 1962. In: Recht der Arbeit 1963, 347. 55. Soziale Sicherheit in Österreich. 1962. In: Recht der Arbeit 1963, 345. 56. Borrmann, K.: Kommentar zum Bundesurlaubsgesetz. 1963. In: Der Betriebs-Berater 1964, 92. 57. Elsholz, K.: Die Strukturänderung der Sozialpolitik. 1963. In: Recht der Arbeit 1964, 351. 58. Höffner, J.: Christliche Gesellschaftslehre. 1962. In: Arbeit und Recht 1964, 153. 59. Nitsche, R.: Mehr als Soll und Haben. "Mater et Magistra" in marktwirtschaftlicher Sicht. 1962. In: Recht der Arbeit 1964, 284. 60. Wallmeyer, J.: Die Kündigung des Arbeitsvertrages aus wichtigem Grund. 1962. In: Recht der Arbeit 1964, 193. 61. Eschenburg, Th.: Institutionelle Sorgen in der Bundesrepublik. Politische Aufsätze 1957- 1961. 1965. In: Recht der Arbeit 1965, 75. 62. Handbuch der Sozialerziehung. Bd. 1. 2. 1963-64. In: Recht der Arbeit 1965, 156. 63. Siebrecht, V.: Die Vorschriften über Arbeitsvermittlung und Arbeitsmarktpolitik einschließlich Berufsberatung, Berufsförderung, Berufsausbildung, Arbeitsbeschaffung, Kindergeld, internationalen Arbeitsmarktausgleich und verwandter Sachgebiete. 9. - 11. Nachtragslieferung. 196364. In: Recht der Arbeit 1965, 118. 64. Siebrecht, V.: Die Vorschriften über Arbeitsvermittlung und Arbeitsmarktpolitik, ... 12. Nachtragslieferung. 1965. In: Recht der Arbeit 1966, 154. 65. Siebrecht, V.: Die Vorschriften über Arbeitsvermittlung und Arbeitsmarktpolitik ... 13. Nachtrags1ieferung. 1967. In: Recht der Arbeit 1968, 75. 66. Schambeck, Herbert: Kirche, Staat, Gesellschaft. 1967. In: Recht der Arbeit 1968, 156. 67. Mühlbradt, W.: Hans Constantin Paulssen. 1967. In: Recht der Arbeit 1968, 156.

Veröffentlichungen von Gerhard Müller

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68. Kastner, Fritz, Ralf Leiner u. Hans Sitzmann: Das Tarifrecht der Angestellten und Arbeiter der Krankenkassen und ihrer Verbände. [Losebl.Ausg.] 1967. In: Recht der Arbeit 1968, 274. 69. Müller-Armack, Alfred u. Herbert B. Schmidt: Wirtschafts- und Finanzpolitik im Zeichen der Sozialen Marktwirtschaft. Festschrift für Franz Etzel. 1967. In: Recht der Arbeit 1968, 354. 70. Lampe, Klaus: Wissenschaftliche Beratung der Politik. Ein Beitrag zur Theorie anwendender Sozialwissenschaften. 1966. In: Recht der Arbeit 1968, 357. 71. Klecatsky, Hans R.: Der Rechtsstaat zwischen heute und morgen. 1967. In: Recht der Arbeit 1969, 48. 72. Kastner, Fritz, Rolf Leiner u. Hans Sitzmann: Das Tarifrecht der Angestellten und Arbeiter der Kranken~assen und ihrer Verbände. 2. Lieferung (Stand: Januar 1968.) In: Recht der Arbeit 1969, 90. 73. Ehrengabe für Bruno Heusinger. 1968. In: Recht der Arbeit 1969, 370. 74. Grundfragen der Politik. Wien 1968. (Konfrontationen. 3.) In: Recht der Arbeit 1970, 88. 75. David, Jakob: Das Naturrecht in Krise und Läuterung. Eine kritische Neubesinnung. 1967. In: Recht der Arbeit 1970, 213. 76. Jerusalem, Franz W.: Die Zersetzung im Rechtsdenken. 1968. In: Recht der Arbeit 1970, 375. 77. Floretta, Hans: Rechtsdogmatisches und Rechtspolitisches zur Konstruktion und zum Inhalt des allgemeinen Kündigungs- und Entlassungsschutzes im Arbeitsrecht. Wien 1971. (Schriftenreihe Rechtswissenschaft u. Sozialpolitik. Bd. 8.) In: Recht der Arbeit 1974, 120. 78. Floretta, Hans, Rudolf Strasser: Kommentar zum Betriebsrätegesetz. 2., neubearb. Aufl. Wden 1973. In: Recht der Arbeit 1974, 380. 79. Korinek, Karl: Wirtschaftliche Selbstverwaltung. Eine rechtswissenschaftliche Untersuchung am Beispiel der Österreichischen Rechtsordnung. Wien 1970. In: Recht der Arbeit 1976, 135. 80. Tjaden-Steinhauer, Margarete u. Karl-Hermann Tjaden: Klassenverhältnisse im Spätkapdtalismus Beitrag zur Analyse der Sozialstruktur unter besonderer Berücksichtigung der BRD. Stuttgart 1973. In: Recht der Arbeit 1976, 205. 81. Mayer-Maly, Theo: Arbeiter und Angestellte. Wien 1969. In: Recht der Arbeit 1976, 330. 82. Küchenhoff, Günther: Rechtsbesinnung, eine Rechtsphilosophie. Göttingen 1973. In: Arbeit und Recht 1979, 33.

HERAUSGEBER UND MITARBEITER

Adomeit, Klaus, Professor an der Freien Universität Berlin Auffarth, Fritz, Honorarprofessor, Vizepräsident und Vorsitzender Richter beim Bundesarbeitsgericht, Kassel Benda, Ernst, Honorarprofessor, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Karlsruhe Beuthien, Volker, Professor an der Universität Marburg/Lahn Birk, Rolf, Professor an der Universität Augsburg Blomeyer, Wolfgang, Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg Boldt, Gerhard, Honorarprofessor, Senatspräsident beim Bundesarbeitsgericht a. D., Kassel Buchner, Herbert, Professor an der Universität Augsburg Dapprich, Gerhard, Honorarprofessor, Vorsitzender Richter am Bundessozialgericht a. D. Dütz, Wilhelm, Professor an der Universität Augsburg Floretta, Hans, Professor an der Universität Salzburg Gamillscheg, Franz, Professor an der Universität Göttingen Gitter, Wolfgang, Professor an der Universität Bayreuth Hanau, Peter, Professor an der Universität Köln Herschel, Wilhelm, Honorarprofessor, Ministerialdirektor a. D., Bonn Hilger, Marie-Luise, Honorarprofessor, Vorsitzender Richter beim Bundesarbeitsgericht a. D., Kassel Hofmann, Paul, Professor an der Technischen Hochschule Darmstadt Kissel, Otto Rudolf, Präsident des Bundesarbeitsgerichts, Kassel Konzen, Horst, Professor an der Universität Mainz Kraft, Alfons, Professor an der Universität Mainz Kunze, Otto, Professor, ehemaliger Syndicus des DGB, Düsseldorf List, Heinrich, Honorarprofessor, Präsident des Bundesfinanzhofes, München

Löwisch, Manfred, Professor an der Universität Freiburg i. Br. Martinek, Oswin, Honorarprofessor, Sektionschef im Bundesministerium für soziale Verwaltung, Wien

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Herausgeber und Mitarbeiter

Mayer-Maly, 'IIheo, Professor an der Universität Salzburg Messner, Johannes, em. Professor, Wien Müller, Hans-Peter, Rechtsanwalt, Frankfurt a. M. Nell-Breuning, Oswald von, em. Professor, Frankfurt a. M. Neumann, Dirk, Vorsitzender Richter beim Bundesarbeitsgericht, Kassel Ramm, Thilo, Professor an der Fernhochschule Hagen Reuter, Dieter, Professor an der Universität Tübingen Richardi, Reinhard, Professor an der Universität Regensburg Rüthers, Bernd, Professor an der Universität Konstanz Säcker, Franz-Jürgen, Professor an der Freien Universität Berlin Schambeck, Herbert, Professor an der Universität Linz, Stellvertretender Vorsitzender des Österreichischen Bundesrates Schlochauer, Ursula, Rechtsanwältin, Frankfurt a. M. Schnorr von Carolsfeld, Ludwig, em. Professor, Erlangen Scholz, Rupert, Professor an der Universität München Schwarz, Walter, Professor an der Universität Graz Schwerdtner, Peter, Professor an der Universität Bielefeld Seiter, Hugo, Professor an der Universität Konstanz Strasser, Rudolf, Professor an der Universität Linz Stumpf, Hermann, Honorarprofessor, Vorsitzender Richter beim Bundesarbeitsgericht a. D., Kassel Utz, Artbur Fridolin, Professor an der Universität Fribourg Wannagat, Georg, Honorarprofessor, Präsident des Bundessozialgerichts, Essen Wiedemann, Herbert, Professor an der Universität Köln Wiese, Günther, Professor an der Universität Mannheim Wlotzke, Otfried, Ministerialdirektor im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Bonn Wolf, Ernst, Professor an der Universität Marburg/Lahn Zöllner, Wolfgang, Professor an der Universität Tübingen