Südosteuropa und das moderne Völkerrecht. Eine transregionale und globale Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert [1. ed.] 9783835339033, 9783835346291

283 43 3MB

German Pages 528 Year 2021

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Südosteuropa und das moderne Völkerrecht. Eine transregionale und globale Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert [1. ed.]
 9783835339033, 9783835346291

Table of contents :
Umschlag
Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung
Zum Forschungsstand
Südosteuropa als »Geschichtsregion«
Südosteuropa als völkerrechtsprägende Konfliktregion
Die zentrale Hypothese
Gewaltbegünstigende Faktoren
Die Rolle von Zeit (global condition) und Raum
Zu Methodologie, Quellen und Gliederung der Studie
Vorgehensweise: Fünf Fallbeispiele
Südosteuropa im globalen Kontext
Quellen
Aufbau
Hinweise zur Form
1. Die Orientalische Frage und die Weiterentwicklung des Völkerrechts
Vorbemerkung
Kosmopolitischer Humanitarismus und die Institutionalisierung der Völkerrechtswissenschaft
Der griechische Unabhängigkeitskrieg, 1821-1830
Die Seeschlacht von Navarino in der zeitgenössischen Völkerrechtsliteratur
Der Krimkrieg, 1853-1856
Der Pariser Friedensvertrag (1856) und das Völkerrecht
Die »Große Orientkrise«, 1875-1878
Die humanitäre Militärintervention erneut Gegenstand völkerrechtlicher Debatten
Der Frieden von San Stefano
Der Berliner Kongress (1878) und das Völkerrecht
Die Rechtsfigur der Suzeränität
Zwischenbilanz
2. Völkerrechtliche Innovationen durch die Rechtsprechung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs in südosteuropäischen Streitfällen
Vorbemerkung
Das Minderheitenschutzsystem des Völkerbunds in der Forschung
Minderheitenschutzverträge unter der Ägide des Völkerbunds
Das Petitionsverfahren
Das PCIJ-Gutachten im Fall Exchange of Greek and Turkish Populations: Ein neuer Kurs in der Rechtsprechung des Gerichts
Das PCIJ-Gutachten im Fall The Greco-Bulgarian »Communities«
Das PCIJ-Gutachten zum Fall Minority Schools in Albania: Das Prinzip der »positiven Diskriminierung«
Zwischenbilanz
3. Die Konvention von Lausanne (1923) als völkerrechtliche Blaupause für Bevölkerungstransfers
Vorbemerkung
Südosteuropäische »Vorläufer«
Das erste Transferabkommen unter der Ägide des Völkerbunds
Das griechisch-türkische Paradigma
Vom abschreckenden Beispiel zum Präzedenzfall: Pläne zur Teilung Palästinas
Bevölkerungstransfers in Ostmitteleuropa
Die globale Ausweitung des Lausanner »Modells«
Zwischenbilanz
4. Südosteuropäisches Konfliktgeschehen: Der lange Schatten des Attentats von Marseille (1934)
Vorbemerkung
Zur Vorgeschichte: Der Rumäne Vespasian Pella in der Vorreiterrolle
Das Attentat von Marseille 1934
Der französische Vorentwurf
Das besondere Interesse Rumäniens und Jugoslawiens
Die Anti-Terrorismus-Konvention
Das Statut zur Gründung eines internationalen Strafgerichtshofs
Völkerrechtliche Nachwirkungen
Das Komplementaritätsprinzip
Die Definition von Terrorismus
Zwischenbilanz
5. Die postjugoslawischen Kriege und die Weiterentwicklung des Völkerrechts
Vorbemerkung
Der geschichtsregionale Kontext
Kriege im »globalen Zeitalter«
Der Prägungsfaktor Raum
Die Weiterentwicklung des Völkerrechts
Die Einberufung des ersten Ad-hoc-Tribunals durch den UN-Sicherheitsrat
Vorrangige Zuständigkeit der internationalen Gerichtsbarkeit
Sexuelle Gewalt
Erweiterung des Begriffs des bewaffneten Konflikts
Die Aufgabe der two-box approach
Die Rechtsfigur der responsibility to protect
Die kosovarische Anerkennungsfrage
Rückgängigmachung ethnischer Säuberungen
Zwischenbilanz
Schlussbemerkungen
Dank
Bibliographie
Völkerrechtsliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
Völkerrechtliche und völkerrechtsrelevante Verträge, Konventionen, Urteile, Deklarationen, Berichte und Ähnliches
Sekundärliteratur
Quellen und Literatur in ost- und südosteuropäischen Sprachen
Abkürzungsverzeichnis
Personenregister

Citation preview

Adamantios Theodor Skordos Südosteuropa und das moderne Völkerrecht

Moderne europäische Geschichte Herausgegeben von Hannes Siegrist und Stefan Troebst Band 19

Adamantios Theodor Skordos

Südosteuropa und das moderne Völkerrecht Eine transregionale und globale Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert

WA L L S T EI N V E R L AG

Gedruckt mit Unterstützung des Leibniz-Instituts für Geschichte und Kultur des östlichen Europa e. V. in Leipzig. Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes.

Meinen Eltern Theodora-Maria Rümmele-Skordos und Stavros Skordos

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen  www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond und Frutiger Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf, © SG-Image unter Verwendung von: Umschlagfoto: (vorne) Illustration der Le Petit Journal vom . Oktober  zur »Bosnischen Annexionskrise«. Der österreichische Kaiser Franz Joseph I. und der bulgarische Zar Ferdinand I. reißen Bosnien-Herzegowina und Bulgarien aus dem Osmanischen Reich heraus, während Sultan Abdülhamid II. besorgt zusieht. Quelle: Wikipedia (gemeinfrei), Bosnische Annexionskrise, https://de.wikipedia.org/wiki/ Bosnische_Annexionskrise (letzter Zugriff: ..) (hinten) Emblem des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien. Quelle: Wikipedia (gemeinfrei), Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, https://de.wikipedia.org/wiki/Internationaler_Strafgerichtshof_für_das_ ehemalige_Jugoslawien (letzter Zugriff: ..) ISBN (Print) ---- ISBN (E-Book, pdf ) ----

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Zum Forschungstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Südosteuropa als »Geschichtsregion« . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

Südosteuropa als völkerrechtsprägende Konfliktregion Die zentrale Hypothese . . . . . . . . . . . . . . Gewaltbegünstigende Faktoren . . . . . . . . . . Die Rolle von Zeit (global condition) und Raum . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

24 24 24 36

Zu Methodologie, Quellen und Gliederung der Studie . Vorgehensweise: Fünf Fallbeispiele . . . . . . . . . Südosteuropa im globalen Kontext . . . . . . . . . Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hinweise zur Form . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

41 41 43 44 44 47

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

Kosmopolitischer Humanitarismus und die Institutionalisierung der Völkerrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

. Die Orientalische Frage und die Weiterentwicklung des Völkerrechts

Der griechische Unabhängigkeitskrieg, - . . . . . . . . . . . . . Die Seeschlacht von Navarino in der zeitgenössischen Völkerrechtsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

Der Krimkrieg, - . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Pariser Friedensvertrag () und das Völkerrecht . . . . . . . .

73 78

Die »Große Orientkrise«, - . . . . . . . . . . . . Die humanitäre Militärintervention erneut Gegenstand völkerrechtlicher Debatten. . . . . . . . . . . . . . . . Der Frieden von San Stefano . . . . . . . . . . . . . . Der Berliner Kongress () und das Völkerrecht . . . .

97

. . . . . . .

69

. . . . . . . 106 . . . . . . . 109 . . . . . . . 110

Die Rechtsfigur der Suzeränität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

. Völkerrechtliche Innovationen durch die Rechtsprechung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs in südosteuropäischen Streitfällen Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Das Minderheitenschutzsystem des Völkerbunds in der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Minderheitenschutzverträge unter der Ägide des Völkerbunds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Das Petitionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Das PCIJ-Gutachten im Fall Exchange of Greek and Turkish Populations: Ein neuer Kurs in der Rechtsprechung des Gerichts . . . . . . . . . . . 173 Das PCIJ-Gutachten im Fall The Greco-Bulgarian »Communities«. . . . . 188 Das PCIJ-Gutachten zum Fall Minority Schools in Albania: Das Prinzip der »positiven Diskriminierung« . . . . . . . . . . . . . . . 201 Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

. Die Konvention von Lausanne () als völkerrechtliche Blaupause für Bevölkerungstransfers Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Südosteuropäische »Vorläufer« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Das erste Transferabkommen unter der Ägide des Völkerbunds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Das griechisch-türkische Paradigma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Vom abschreckenden Beispiel zum Präzedenzfall: Pläne zur Teilung Palästinas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Bevölkerungstransfers in Ostmitteleuropa . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Die globale Ausweitung des Lausanner »Modells«. . . . . . . . . . . . . 270 Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

. Südosteuropäisches Konfliktgeschehen und das Völkerstrafrecht: Der lange Schatten des Attentats von Marseille () Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Zur Vorgeschichte: Der Rumäne Vespasian Pella in der Vorreiterrolle . . 292 Das Attentat von Marseille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 Der französische Vorentwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Das besondere Interesse Rumäniens und Jugoslawiens . . . . . . . . . . 317 Die Anti-Terrorismus-Konvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Das Statut zur Gründung eines internationalen Strafgerichtshofs . . . . . 328 Völkerrechtliche Nachwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Das Komplementaritätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Die Definition von Terrorismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

. Die postjugoslawischen Kriege und die Weiterentwicklung des Völkerrechts Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Der geschichtsregionale Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 Kriege im »globalen Zeitalter« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Der Prägungsfaktor Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 Die Weiterentwicklung des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . Die Einberufung des ersten Ad-hoc-Tribunals durch den UN-Sicherheitsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorrangige Zuständigkeit der internationalen Gerichtsbarkeit . Sexuelle Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung des Begriffs des bewaffneten Konflikts . . . . . . Die Aufgabe der two-box approach . . . . . . . . . . . . . . . Die Rechtsfigur der responsibility to protect . . . . . . . . . . . Die kosovarische Anerkennungsfrage . . . . . . . . . . . . . Rückgängigmachung ethnischer Säuberungen . . . . . . . . .

. . . . 389 . . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . . .

390 395 400 418 422 427 445 453

Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464

Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

470

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

486

Bibliographie

Völkerrechtsliteratur des . und frühen . Jahrhunderts . . . . . . Völkerrechtliche und völkerrechtsrelevante Verträge, Konventionen, Urteile, Deklarationen, Berichte und Ähnliches . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen und Literatur in ost- und südosteuropäischen Sprachen . .

. 488 . 489 . 495 . 520

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

523

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

524

Einleitung Um die Wende vom . zum . Jahrhundert betonte der deutsch-jüdische Rechtswissenschaftler Lassa Francis Lawrence Oppenheim, einer der Mitbegründer des modernen Völkerrechts, im American Journal of International Law die Notwendigkeit, den Ursprung jeder völkerrechtlichen Norm zurückzuverfolgen und zu erklären, wie sie sich entwickelt hat und graduell in der Praxis anerkannt wurde. Zugleich rief er seine Kollegen auf, sich der »vernachlässigten Geschichte« des Völkerrechts zu widmen, da diese noch »unkultiviertes Land« sei, das auf seine »Kultivatoren« warte. Dabei betrachtete er die Geschichte des Völkerrechts in Form einer Dogmengeschichte lediglich als Teil einer größeren, noch zu schreibenden Geschichte, nämlich die der »westlichen Zivilisation«: [T]he exposition of the existing recognized rules of international law is often to a certain extent impossible without a knowledge of the history of the rules concerned. There is therefore a historical task for our science. Yet in spite of the vast importance of this task it has as yet hardly been undertaken; the history of international law is certainly the most neglected province of it. Apart from a few points which are dealt with in monographs, the history of international law is virgin land which awaits its cultivators. Whatever may be the merits of the histories and the historical sketches which we possess, they are in the main mere compilations. What is particularly wanted is what the Germans call a »Dogmengeschichte«. The master-historian of international law has still to come. We require to know of each rule of international law how it originated and developed, who first established it, and how it gradually became recognized in practice. […] Of course, such a history of dogmatics can merely supply the building material which the expected master-builder will use for the purpose of a history of international law. For such history is only a branch of the history of Western civilization. All important events in the development of the state system of Europe from the last part of the Middle Ages downward to the French Revolution have had their bearing upon the development, the shaping, and the ultimate victory of international law over international anarchy, and so have all important events in the development of the state system of Europe and America since the French Revolution. And the master-historian, to whose appearance we look forward, will in especial have to bring to light the part certain states have played in the victorious development of certain rules and what were the economic, political, humanitarian, religious, and other interests which have helped to establish the present rules of international law.  Oppenheim, Lassa: The Science of International Law. Its Task and Method. In: The American Journal of International Law  () , -, hier - [Hervorheb. i. O.].

9

Einl e i tu n g

Trotz dieses Aufrufs Oppenheims blieb die Völkerrechtshistoriographie innerhalb der Rechts- und Geschichtswissenschaften über lange Zeit hinweg eine Randdisziplin. Dem finnischen Völkerrechtler Martti Koskenniemi zufolge hat die ab Ende des Zweiten Weltkriegs zugenommene Spezialisierung des Völkerrechts die historische Untersuchung noch stärker an den Rand gedrängt, als es schon der Fall war. Eine Reihe daraus resultierender Aufgaben für Juristen und insbesondere für Völkerrechtler, wie etwa die Mitwirkung bei den Vereinten Nationen, die Ausarbeitung eines internationalen Menschenrechtsschutzes, die Entwicklung besonderer Bestimmungen des Handels- und Umweltrechts und die Teilnahme an internationalen Organisationen, ließ nur wenig Raum für Untersuchungen zu den Ursprüngen völkerrechtlicher Normen übrig. So stellte der niederländische Völkerrechtshistoriker Jan Hendrik Willem Verzijl in einem Vortrag  an der Königlichen Niederländischen Akademie der Wissenschaften fest, dass der Forschungsstand zur Völkerrechtshistoriographie immer noch sehr unzureichend sei. Als er dann fünfzehn Jahre später diesen Vortrag unter dem Titel »Research into the History of the Law of Nations« im ersten Band () seines sich insgesamt aus zwölf Bänden bestehenden Werkes »International Law in Historical Perspective« veröffentlichte, ließ er diese Feststellung unverändert stehen. Offensichtlich hatte Verzijl in diesem Zeitraum keine großen Fortschritte, was die Entwicklung der Völkerrechtsgeschichte betrifft, feststellen können. Auch sein deutscher Kollege Wolfgang Preiser konstatierte Mitte der er Jahre einen unterentwickelten Forschungsstand der Geschichte des Völkerrechts. Ein großer Umbruch fand erst durch das Ende des Kalten Krieges statt. Seitdem wird dermaßen engagiert auf dem Gebiet der Völkerrechtsgeschichte geforscht, dass sich der belgische Rechtshistoriker Randall Lesaffer  optimistisch gab, die Versäumnisse der letzten zweihundert Jahre durch neue Anstrengungen in Kürze vollständig behoben zu haben. Auch Karl-Heinz Ziegler merkte  in der zweiten Auflage seiner »Völkerrechtsgeschichte« an, dass »in den letzten anderthalb Jahrzehnten das Interesse an der Geschichte des Völkerrechts erfreulicherweise, im Inland wie im Ausland, allgemein gestiegen« sei. Ähnlich urteilte der Historiker Marcus M. Payk in seinem  erschienenen  Lesaffer, Randal: International Law and Its History: The Story of an Unrequited Love. In: Time, History and International Law. Hg. v. Matthew Craven, Malgosia Fitzmaurice und Maria Vogiatzi. Leiden [u. a.] , -, hier  f.  Koskenniemi, Martti: Why History of International Law Today? In: Rechtsgeschichte  (), -, hier .  Lesaffer, International Law (wie Anm. ), .  Ebd.  Ebd.  Lesaffer, Randal: Introduction. In: Peace Treaties and International Law in European History. From the Late Middle Ages to World War One. . Aufl. Hg. v. Randal Lesaffer. Cambridge [u. a.] , -, hier .  Ziegler, Karl-Heinz: Völkerrechtsgeschichte. . Aufl. München , vii.

10

Einl e i tu n g

Bericht zur neuesten völkerrechtshistorischen Literatur: »Bei näherer Hinsicht ist unbestreitbar, dass die Fach- und Wissenschaftsgeschichte des Völkerrechts seit über einem Jahrzehnt in einer beachtlichen Aufwärtsentwicklung begriffen ist.« In Anbetracht dieses sprunghaft angestiegenen Interesses an der Völkerrechtsgeschichte in den letzten zwei Jahrzehnten ist von einem turn to history die Rede, der auf dem Gebiet der Völkerrechtsdisziplin eingetreten sei. In der Forschungsliteratur wird das zunehmende Interesse an der historischen Weiterentwicklung des Völkerrechts vor allem durch das Ende des Kalten Krieges und das Aufkommen neuer Gefahren für den Weltfrieden, insbesondere des globalen Terrorismus, erklärt. Aus Sicht Lesaffers und Koskenniemis hätten Völkerrechtler in Zeiten von großen politischen Umbrüchen oder kritischen Momenten in der Geschichte der internationalen Beziehungen, wie z. B. nach den beiden Weltkriegen, das »alltägliche Geschäft« der Analyse und Erklärung bestehender völkerrechtlicher Normen beiseitegelegt und sich mit den Grundsätzen des Völkerrechts eingehender auseinandergesetzt. Eine ähnliche Situation sei Lesaffer zufolge auch nach dem Epochenjahr  eingetreten. Der finnische Völkerrechtler Koskenniemi verbindet ebenso das in den letzten Jahren wachsende Interesse an der Völkerrechtsgeschichte mit der Zäsur des zu Ende gegangenen Kalten Krieges. Bei vielen habe dieses Ereignis die Hoffnung geweckt, das kosmopolitische Projekt eines liberalen Internationalismus, wie dieser ab Mitte des . Jahrhunderts bis zur Zwischenkriegszeit existiert habe, wieder aufzunehmen. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sollte zeigen, welche Aspekte von damals noch in der gegenwärtigen Zeit aktuell seien. Vor allem völkerrechtshistorische Arbeiten, die in den frühen Jahren des postbipolaren Zeitalters aus so einer Perspektive geschrieben worden seien, hätten laut Koskenniemi dazu tendiert, ein Kontinuitätsnarrativ zu entwickeln, indem sie z. B. Parallelen zwischen dem Völkerbund und den Vereinten Nationen gezogen oder Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden ausgearbeitet hätten. Andere hätten wiederum im Vergehen des Kalten Krieges das Ende einer alten internationalen Ordnung gesehen, die auf den Grundsätzen der souveränen Gleichheit der Staaten und der Nicht-Intervention in die inneren Angelegenhei Payk, Marcus M.: Institutionalisierung und Verrechtlichung. Die Geschichte des Völkerrechts im späten . und frühen . Jahrhundert. In: Archiv für Sozialgeschichte  (), -, hier .  Craven, Matthew: Introduction. International Law and its Histories. In: Craven/ Fitzmaurice/Vogiatzi, Time (wie Anm. ), -, hier ; Lesaffer, International Law (wie Anm. ), ; Skouteris, Thomas: The Turn to History in International Law. In: Oxford Bibliographies of International Law, .., http://www.oxfordbibliographies.com/view/document/obo-/obo--.xml (letzter Zugriff: ..).  Lesaffer, International Law (wie Anm. ),  f. Siehe auch Lesaffer, Randall: The End of the Cold War: An Epochal Event in the History of International Law? In: Tilburg Working Paper Series on Jurisprudence and Legal History  (), -.

11

Einl e i tu n g

ten anderer Staaten basierte. Der historische Rückblick auf dieses überholte internationale System habe, so Koskenniemi weiter, vornehmlich der Beschwörung und Besiegelung dessen Niedergangs sowie der Ankündigung einer neuen, sich weniger um den Staat und vielmehr um das Individuum, seine Rechte und Bedürfnisse drehenden Völkerrechtsordnung gedient: At least two reasons for the recent increase of interest in international law’s history are evident. One is constituted of the complex of political transformations that it has become commonplace to call the end of the Cold War. Many have felt that after  it has become »again« possible to continue the cosmopolitan project interrupted by the emergence of totalitarian ideologies in the ’ and ’s, the Second World War and the rise of the iron curtain. In the absence of an overriding ideological opposition, it has seemed important to examine the past – especially the mindset of th century liberal internationalism – in order to find out what aspects of it might still speak to the present. Others have, by contrast, understood the end of the Cold War to mean a final break with the old diplomatic system whose Grundform had consisted of the sovereign equality and non-intervention and which may have obstructed progressive international transformation. From this perspective, the point of historical studies may have been to provide a chronology of the vicissitudes of an outdated system so as to exorcise realist State-centrism and to provide a new language of enthusiasm for international lawyers. Matthew Craven, der auf den Überlegungen Lesaffers und Koskenniemis aufbaut, wenn er die Gründe für die starke Zunahme an völkerrechtshistorischen Studien in den letzten Jahren erkundet, betrachtet ebenfalls das Ende des Kalten Krieges als das Schlüsselereignis in dieser Entwicklung. Dieses habe bei den Völkerrechtlern sehr unterschiedliche Hoffnungen und Befürchtungen hinsichtlich der zukünftigen Rolle des Völkerrechts in den internationalen Beziehungen ausgelöst. Bei vielen machte sich der Optimismus breit, dass mit dem Sieg der westlichen Demokratien über das kommunistische Herrschaftssystem in Osteuropa eine Liberalisierung des Völkerrechts zugunsten der Menschenrechte eintreten werde. Bei anderen nahm hingegen die Angst vor einer Politik des Alleingangs und des Hegemonismus der USA oder einer anderen, zukünftig zu einer Supermacht aufsteigenden Großmacht zu. Diese verschiedenen Stimmungslagen spiegelten sich laut Craven in der neueren Literatur zur Völkerrechtsgeschichte wider.

 Koskenniemi, Why History (wie Anm. ),  [Hervorheb. i. O.].  Craven, Introduction (wie Anm. ), -.

12

Zum Forschungsstand

Der Blick auf diese neuere völkerrechtshistorische Literatur, deren Anfänge Lesaffer, Koskenniemi und Craven auf das Ende des Kalten Krieges und den Beginn eines neuen liberalen Zeitalters zurückführen, belegt eindrucksvoll, dass in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten die Geschichte des modernen Völkerrechts zu einem der am intensivsten beackerten Arbeitsgebiete von Juristen, Historikern, Politologen, Soziologen, Journalisten und anderen avancierte. So wurden etwa in diesem Zeitraum und vor allem ab den frühen er Jahren zahlreiche, historisch angelegte Studien zu den unterschiedlichsten Bereichen, Aspekten, Normen und Grundsätzen des Völkerrechts ausgearbeitet: zu den Ursprüngen und zur historischen Entwicklung der humanitären Intervention, zur Geschichte der Menschen- und Minderheitenrechte inklusive des Selbstbestimmungsrechts der Völker, zur Völkerstrafrechtsgeschichte und zum damit eng verbundenen

 Vgl. z. B. Rodogno, Davide: Against Massacre. Humanitarian Intervention in the Ottoman Empire, -. Princeton ; Wheeler, Nicholas J.: Saving Strangers. Humanitarian Intervention in International Society. Oxford ; Bass, Gary J.: Freedom’s Battle. The Origins of Humanitarian Intervention. New York ; Swatek-Evenstein, Mark: Geschichte der »Humanitären Intervention«. Baden-Baden ; Barnett, Michael: Empire of Humanity: A History of Humanitarianism. New York ; The Emergence of Humanitarian Intervention: Ideas and Practice from the Nineteenth Century to the Present. Hg. v. Fabian Klose. Cambridge ; Humanitarian Intervention: A History. Hg. v. Brendan Simms und David J. B. Trim. Cambridge .  Vgl. z. B. Geschichte der Menschenrechte im . Jahrhundert. Hg. v. Stefan-Ludwig Hoffmann. Göttingen ; Opitz, Peter J.: Menschenrechte und Internationaler Menschenrechtsschutz im . Jahrhundert. München ; Moyn, Samuel: The Last Utopia: Human Rights in History. Cambridge ; Whelan, Daniel J.: Indivisible Human Rights: A History. Philadelphia ; Normand, Roger/Zaidi, Sarah: Human Rights at the UN. The Political History of Universal Justice. Bloomington ; Weitz, Eric D.: From the Vienna to the Paris System: International Politics and the Entangled Histories of Human Rights, Forced Deportations, and Civilizing Missions. In: American Historical Review  () , -; Ishay, Micheline: The History of Human Rights: From Ancient Times to the Globalization Era. Berkeley ; Zur Entstehung des modernen Minderheitenschutzes in Europa. Hg. v. Christoph Pan und Beate Sibylle Pfeil. Wien [u. a.] ; Gornig, Gilbert: Die Definition des Minderheitenbegriffs aus historisch-völkerrechtlicher Sicht. In: Ein Jahrhundert Minderheiten- und Volksgruppenschutz. Hg. v. Dieter Blumenwitz, Gilbert Gornig und Dietrich Murswiek. Köln , -; Fisch, Jörg: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion. München ; Die Verteilung der Welt. Selbstbestimmung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Hg. von Jörg Fisch. München ; Fisch, Jörg: Adolf Hitler und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. In: Historische Zeitschrift  () , -; Ciampi, Annalisa: History, Isolation and Effectiveness of Human Rights. In: History and International Law. An Intertwined Relationship. Hg. v. Annalisa Ciampi. Cheltenham , -; Douglas-Scott, Sionaidh: EU Human Rights Law and History: A Tale of Three Narratives. In: ebd., -.

13

Einl e i tu n g

Gebiet der Terrorismusbekämpfung, zur Entstehungsgeschichte des völkerrechtlichen Instituts des Verbots des (Angriff-)Kriegs und zur Geschichte des Kriegsrechts bzw. des humanitären Völkerrechts im Allgemeinen, zur Entwicklung des Anerkennungsprinzips von Neustaaten, zum Einfluss der Konfrontation europäischer Großmächte und abhängiger Kolonien auf das völkerrechtliche Konzept der Souveränität, zu Friedensverträgen in verschiedenen Epochen der Völkerrechtsgeschichte, zum Einfluss des Kalten Krieges auf das Völker Vgl. z. B. Ahlbrecht, Heiko: Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im . Jahrhundert: Unter besonderer Berücksichtigung der völkerrechtlichen Straftatbestände und der Bemühungen um einen Ständigen Internationalen Strafgerichtshof. Baden-Baden ; Ball, Howard: Prosecuting War Crimes and Genocide. The Twentieth-Century Experience. Lawrence ; Segesser, Daniel Marc: Recht statt Rache oder Rache durch Recht? Die Ahndung von Kriegsverbrechen in der internationalen wissenschaftlichen Debatte -. Paderborn ; Bass, Gary J.: Stay the Hand of Vengeance: The Politics of War Criminals Tribunals. Princeton ; Hankel, Gerd: Die Leipziger Prozesse: Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg. Hamburg ; Marston, Geoffrey: Early Attempts to Suppress Terrorism: The Terrorism and International Criminal Court Conventions of . In: British Yearbook of International Law  () , -; Saul, Ben: The Legal Response of the League of Nations to Terrorism. In: Journal of International Criminal Justice  (), -; Keber, Tobias O.: Der Begriff des Terrorismus im Völkerrecht. Entwicklungslinien im Vertrags- und Gewohnheitsrecht unter besonderer Berücksichtigung der Arbeiten zu einem »Umfassenden Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus«. Frankfurt/M. ; Lewis, Mark: The Birth of the New Justice. The Internationalization of Crime & Punishment, -. Oxford [u. a.] ; Callahan, Michael D.: The League of Nations, International Terrorism, and British Foreign Policy, -. London ; Bekou, Olympia: History and Core International Crimes: Friends or Foes? In: History and International Law (wie Anm. ), .  Vgl. z. B. Roscher, Bernhard: Der Briand-Kellogg-Pakt von . Der Verzicht auf den Krieg als Mittel nationaler Politik im völkerrechtlichen Denken der Zwischenkriegszeit. Baden-Baden ; Aristide Briand, La Société des Nations et l’Europe -. Hg. v. Jacques Bariéty. Straßburg ; Kunde, Martin: Der Präventivkrieg. Geschichtliche Entwicklung und gegenwärtige Bedeutung. Frankfurt/M. [u. a.] .  Vgl. z. B. Neff, Stephen C.: War and the Law of Nation. A General History. Cambridge ; Ben-Nun, Gilad: The Fourth Geneva Convention for Civilians. The History of International Humanitarian Law. London [u. a.] ; ders.: »Treaty after Trauma«: »Protection for All« in the Fourth Geneva Convention. In: History and International Law (wie Anm. ), -.  Vgl. z. B. Hillgruber, Christian: Die Aufnahme neuer Staaten in die Völkerrechtsgemeinschaft: das völkerrechtliche Institut der Anerkennung von Neustaaten in der Praxis des . und . Jahrhunderts. Frankfurt/M. [u. a.]. .  Vgl. z. B. Angy, Antonie: Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law. Cambridge .  Vgl. z. B. Peace Treaties and International Law in European History. From the Late Middle Ages to World War One. Hg. v. Randall Lesaffer. Cambridge [u. a.]  (Originalausgabe ).

14

Zu m F o r s c hu n g s s t a n d

recht und zur Formulierung sozialistischer Völkerrechtsdoktrinen, zur Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, zur wissenschaftlichen Institutionalisierung des Völkerrechts sowie nicht zuletzt zu einzelnen, hervorragenden Persönlichkeiten der Völkerrechtslehre und deren prägender Wirkung auf die Entwicklung des internationalen Rechts, wie z. B. Fëdor Fëdorovič Martens, Johann Caspar Bluntschli, Francis Lieber, Hersch Lauterpacht, Raphael Lemkin und René Cassin. Ergänzt werden diese hoch spezialisierten Studien durch völkerrechtshistorische Gesamtbetrachtungen, in deren Zentrum die Frage nach der Periodisierung der Völkerrechtsgeschichte steht. Bei ihren epochalen Gliederungsversuchen der Geschichte des Völkerrechts orientieren sich die Autoren solcher Studien entweder an völkerrechtlichen Theorieschulen (z. B. »Klassiker« und »Spätklassiker«) oder prägenden Einflüssen auf die internationale Ordnung und die Völkerrechtslehre durch den jeweils in der Welt politisch und geistig führenden Staat (z. B. »spanisches«, »französisches« und »englisches Zeitalter«).  Vgl. z. B. Quigley, John: Soviet Legal Innovation and the Law of the Western World. Cambridge [u. a.] ; Koskenniemi, Martii: History of International Law, since World War II. In: Max Planck Encyclopaedia of Public International Law, Juni , http ://opil.ouplaw.com/view/./law :epil//law-e (letzter Zugriff: ..); Madsen, Mikael Rask: Legal Diplomacy. Die europäische Menschenrechtskonvention und der Kalte Krieg. In: Hoffmann, Geschichte der Menschenrechte im . Jahrhundert (wie Anm. ), -; Weiss-Wendt, Anton: The Soviet Union and the Gutting of the UN Genocide Convention, Madison ; Troebst, Stefan: Eastern Europe’s Imprint on Modern International Law. In: History and International Law (wie Anm. ), -.  Vgl. z. B. Macht und Recht. Hg. v. Ulrich Lappenküpper und Reiner Marcowitz. Paderborn [u. a.] .  Vgl. z. B. Koskenniemi, Martti: The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law -. Cambridge .  Vgl. z. B. Aust, Martin: Völkerrechtstransfer im Zarenreich. Internationalismus und Imperium bei Fedor F. Martens. In: Osteuropa  () , -; Koskenniemi, Martti: Georg Friedrich von Martens (-) and the Origins of Modern International Law. In: Von der Diplomatie zum kodifizierten Völkerrecht:  Jahre Institut für Völkerrecht der Universität Göttingen (-). Hg. v. Christian Callies, Georg Nolte und Peter-Tobias Stoll. Köln , -; Röben, Betsy: Johann Caspar Bluntschli, Francis Lieber und das moderne Völkerrecht -. Baden-Baden ; Lauterpacht, Elihu: The Life of Hersch Lauterpacht. Cambridge ; Segesser, Daniel Marc/Gessler, Myriam: Raphael Lemkin and the International Debate on the Punishment of War Crimes (-). In: Journal of Genocide Research  () , -; Sluga, Glenda: René Cassin: Les droits de l’ homme und die Geschichte der Menschenrechte, -. In: Hoffmann, Geschichte der Menschenrechte im . Jahrhundert (wie Anm. ), -; Herrmann, Florian: Das Standardwerk: Franz von Liszt und das Völkerrecht. Baden-Baden .  Vgl. z. B. Ziegler, Völkerrechtsgeschichte (wie Anm. ); Steiger, Heinhard: From the International Law of Christianity to the International Law of the World Citizen – Reflections on the Formation of the Epochs of the History of International Law. In: Journal of the History of International Law  (), -; Martti Koskenniemi: Review of the Epochs of International Law. In: International and Comparative Law

15

Einl e i tu n g

In diesem Zusammenhang ist für die vorliegende Studie die Frage, inwiefern Völkerrechtsgeschichte auch aus einer regionalen und transregionalen Perspektive erforscht wird, von besonderer Relevanz. Die Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand zeigt, dass in der Völkerrechtsgeschichte ein regionaler Ansatz im Sinne von Area Studies bis jetzt vor allem im Hinblick auf Afrika, Lateinamerika und Asien angewandt wurde. Zu Afrika ist in dieser Hinsicht die von Taslia Olawala Elias erstmals  veröffentlichte Studie »Africa and the Development of International Law« sowie der darauf basierende,  von Jeremy I. Levitt herausgegebene Sammelband »Africa: Mapping New Boundaries in International Law« (mit dem einführenden programmatischen Beitrag »Africa: A Maker of International Law«) zu nennen. Elias hat sich neben den Einflüssen Afrikas auf das Völkerrecht auch mit dem Beitrag Asiens zur Entwicklung des internationalen Rechts beschäftigt. So findet sich etwa in seiner  erschienenen Studie zu »New Horizonts in International Law« ein Kapitel unter dem Titel »The Contribution of Asia and Africa to Contemporary International Law«. Im deutschsprachigen Raum verlieh wiederum die Volkswagen-Stiftung  dem Potsdamer Völkerrechtler Andreas Zimmermann ein opus magnum-Forschungsstipendium zum Thema »Afrika und das Völkerrecht«. Im Forschungsprojekt, das von einem zunehmenden »globalen Geltungsanspruch« Afrikas und dessen »weitreichenden Einfluss auf die Entwicklung des Völkerrechts« ausgeht, wird untersucht, »ob und inwieweit afrikanische Interessen und Staatenpraxis bislang Quarterly  (), -; Butler, William: Periodization and International Law. In: Research Handbook on the Theory and History of International Law. Hg. v. Alexander Orakhelashvili. Cheltenham , -; Diggelmann, Oliver: The Periodization of the History of International Law. In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Hg. v. Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford , -; Rasilla, Ignacio de la: The Problem of Periodization in the History of International Law. In: Law and History Review  () , -. Auf dem Gebiet der Völkerrechtsperiodisierung gab es bereits vor  wichtige Arbeiten, sodass dieses Feld nicht exemplarisch für die Zunahme an völkerrechtshistorischen Studien nach dem Ende der bipolaren Weltordnung ist. Siehe vor allem Grewe, Wilhelm G.: Epochen der Völkerrechtsgeschichte. Baden-Baden ; Preiser, Wilhelm: Die Epochen der antiken Völkerrechtsgeschichte. In: Juristenzeitung  (), -. Auch in völkerrechtlichen Überblicksdarstellungen ist häufig eine Periodisierung anzutreffen. Vgl. z. B. Hobe, Stephan: Einführung in das Völkerrecht. Begründet von Otto Kimminich, ., aktual. und erw. Aufl. Tübingen ,  f. Herdegen, Matthias: Völkerrecht. München , -.  Elias, T. O.: Africa and the Development of International Law. Hg. und überarbeitet v. Richard Akinjide. Dordrecht ; Africa. Mapping New Boundaries in International Law. Hg. v. Jeremy I. Levitt. Oxford [u. a.] .  Elias, T. O.: New Horizons in International Law. Alphen aan den Rijn , -.  Lehrstuhlinhaber: Prof. Dr. iur. Andreas Zimmermann. In: Universität Potsdam. Professur für öffentliches Recht, insbesondere Europa- und Völkerrecht sowie Europäisches Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsvölkerrecht, https://www.uni-potsdam.de/de/ ls-zimmermann/lehrstuhlinhaber.html (letzter Zugriff: ..).

16

Zu m F o r s c hu n g s s t a n d

das regionale oder universelle Völkerrecht moderner Prägung beeinflusst haben bzw. inwieweit sich speziell auf Afrika zugeschnittene Fortentwicklungen des Völkerrechts feststellen lassen oder in der Zukunft noch zu erwarten sind«. Einer ähnlichen Fragestellung hinsichtlich Lateinamerikas widmet sich Mary Ann Glendon in ihrem  erschienenen Aufsatz »The Forgotten Crucible: The Latin Amerika Influence on the Universal Human Rights Idea«. Die USamerikanische Rechtswissenschaftlerin und Politikerin zeigt, dass etliche Bestimmungen der  von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die insbesondere den Schutz der Familie sowie die sozioökonomische Gerechtigkeit betrafen, auf »lateinamerikanische Modelle« zurückzuführen sind. Im Allgemeinen hätten Glendon zufolge lateinamerikanische Diplomaten, Konzepte und Traditionen dermaßen großen Einfluss auf die UN-Menschenrechtscharta genommen, dass es gerechtfertigt sei, Lateinamerika (und nicht Europa oder die USA) als Wiege der modernen Menschenrechtsidee zu betrachten. Nicht unerwähnt bleiben sollte in diesem Kontext der  veröffentlichte Aufsatz des Wiener Rechtswissenschaftlers Stephan Verosta zu »Regionen und Perioden der Geschichte des Völkerrechts«, in dem der Autor geographische Zentren der Entwicklung des Völkerrechts von der Antike bis zur neueren Zeit (Westasien/Vorderer Orient, Mittelmeergebiet, Europa, die islamische Völkerfamilie, das indische Staatensystem, Ostasien) festlegt. Schließlich bedient sich das  erschienene »Oxford Handbook of the History of International Law« eines globalhistorisch-geschichtsregionalen Ansatzes. Dies geschieht vor allem im dritten Abschnitt »Regions«, dessen vier Haupteile einen eindeutigen regionalen Schwerpunkt haben. Ergänzt werden diese durch einen fünften Teil zu »Encounters«, dessen  Afrika und das Völkerrecht/Africa and International Law. In: Universität Potsdam. Professur für öffentliches Recht, insbesondere Europa- und Völkerrecht sowie Europäisches Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsvölkerrecht, http://www.uni-potsdam.de/lszimmermann/forschungsprojekte/afrika-und-das-voelkerrecht-africa-and-international-law-volkswagenstiftung.html (letzter Zugriff: ..).  Glendon, Mary Ann: The Forgotten Crucible: The Latin Amerika Influence on the Universal Human Rights Idea. In: Harvard Human Rights Journal  (), -.  Verosta, Stephan: Regionen und Perioden der Geschichte des Völkerrechts (zu Bruno Paradisis »Civitas Maxima«). In: Österr. ZöR, N. F.  (),  ff., zit. n. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte (wie Anm. ),  f. Siehe auch Verosta, Stephan: History of International Law,  to . In: Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Juni , http://opil.ouplaw.com/view/./law:epil// law--e?rskey=naoE&result=&prd=EPIL (letzter Zugriff: ..).  I. »Africa und Arabia« mit folgenden Beiträgen: Sahli, Fatiha/El Quazzani, Abdelmalek: Africa North of the Sahara and Arab Countries. In: The Oxford Handbook of the History of International Law (wie Anm. ), -; Gathii, James Thugo: Africa. In: ebd., -; Özsu, Umut: Ottoman Empire. In: ebd., -; II. »Asia« mit folgenden Beiträgen: Kawashima, Shin: China. In: ebd., -; Yanagihara, Masaharu: Japan: ebd., -; Patel, Bimal N.: India. In: ebd., -; III, »The Americas and the Caribbean« mit folgenden Beiträgen: Janis, Mark W.: North America: American

17

Einl e i tu n g

Kapitel mehrheitlich einer transregionalen und transferhistorischen Perspektive verpflichtet sind. Hierbei stehen Verbindungen, Interaktionen und Austausch zwischen Europa und anderen Teilen der Welt im Mittelpunkt des Interesses. In Anlehnung an die genannte Forschungsliteratur beabsichtigt die vorliegende Studie die große Bedeutung des südosteuropäischen Konfliktgeschehens für die Fortentwicklung von internationaler Staatenpraxis und Völkerrecht in Zeiten intensiver Deterritorialisierungs- und Reterritorialisierungsprozesse und globaler Umbruchsituationen aufzuzeigen. Hierbei steht zweierlei im Mittelpunkt des Interesses: zum einen die Beteiligung südosteuropäischer Akteure, insbesondere Völkerrechtler, Diplomaten und Politiker an transnationalen Netzwerken und internationalen Verrechtlichungsprozessen, zum anderen die wichtige Rolle, die Südosteuropa vornehmlich als Konfliktregion in den Überlegungen, Strategien und Diskursen einflussreicher außerregionaler Akteure einnahm. Den methodologischen Ausgangspunkt dieser Studie stellt das kulturhistorisch angelegte Verständnis Südosteuropas als eine besondere Geschichtsregion dar. Südosteuropa als »Geschichtsregion«

Beim Konzept der Geschichtsregion handelt es sich um einen kulturhistorischen Forschungsansatz älteren Datums, der infolge des in den späten er Jahren in den Kulturstudien eingeleiteten spatial turn erneut in den Fokus rückte. Es war vor allem der US-amerikanische Exilpole Oskar Halecki, der mit seinem  erschienenen Buch »The Limits and Divisions of European History« einen Meilenstein in der geschichtsregionalen Forschung setzte. Darin unterschied er zwischen vier neuzeitlichen europäischen Geschichtsregionen mit mittelalterlichen Wurzeln: Westeuropa, Westmitteleuropa (Deutschland und Österreich), Ostmitteleuropa sowie Osteuropa (Russland bzw. die Sowjetunion). Südosteuropa bzw. den »byzantinisch geprägten Balkan samt Griechenland« bezog er in die Geschichtsregion Ostmitteleuropa ein. Deutsche Osteuropa- und SüdosteuroExceptionalism in International Law. In: ebd., -; Esquirol, Jorge L.: Latin America. In: ebd., -; Berry, David S.: The Caribbean. In: ebd., -; IV. »Europe« mit folgenden Beiträgen: Kintzinger, Martin: From the Late Middle Ages to the Peace of Westphalia. In: ebd., -; Duchhardt, Heinz: From the Peace of Westphalia to the Congress of Vienna. In: ebd., -; Vec, Miloš: From the Congress of Vienna to the Paris Peace Treaties of . In: ebd., -; Krüger, Peter: From the Paris Peace Treaties to the End of the Second World War. In: ebd., -.  Tang, Chi-Hua: China-Europe. In: ebd., -; Akashi, Kinji: Japan-Europe. In: ebd., -; Baxi, Upendra: India-Europe. In: ebd., -; Mälksoo, Lauri: Russia-Europe. In: ebd., -; Coates, Ken: North American Indigenous Peoples’ Encounters. In: ebd., -.  Halecki, Oskar: The Limits and Divisions of European History. London , -; ders: Grenzraum des Abendlandes. Eine Geschichte Ostmitteleuropas. Salzburg ,

18

S ü d o s te u ro p a al s » G e s c hi c h t s re gio n«

pahistoriker wie Klaus Zernack und Mathias Bernath haben in den er und er Jahren die Überlegungen Haleckis aufgegriffen und das geschichtsregionale Konzept weiterentwickelt – darunter auch in die Richtung der Erfassung Osteuropas als übergeordnete Gesamtregion mit Ostmitteleuropa, Südosteuropa und Nordosteuropa als dessen Teilregionen. Laut Stefan Troebst ist der Begriff Geschichtsregion in einem kulturwissenschaftlichen Sinn als »heuristischer Kunstgriff« zu verstehen, »mittels dessen nicht territorialisierte, aber epochal eingegrenzte historische Mesoregionen staaten-, gesellschaften-, nationen-, gar zivilisationsübergreifender Art zur Arbeitshypothese komparatistischer Forschung genommen werden«. Ziel dieser Herangehensweise ist es, »spezifische Cluster von Strukturmerkmalen langer Dauer zu ermitteln und voneinander abzugrenzen«. Mit Mesoregionen sind Holm Sundhaussen zufolge »Räume mittlerer Dimension« gemeint, die »bezogen auf Europa kleiner als der Kontinent sind, aber die Grenzen heutiger Staaten in der Regel überschreiten«. Diese Räume mittlerer Dimension sind keineswegs als statische Gebilde mit konstanten geographischen Grenzen, sondern als »fluktuierende Zonen mit fließenden Übergängen« zu betrachten. Geschichtsregionale Untersuchungen zielen nicht, wie des Öfteren irrtümlich angenommen, auf eine strikte Grenzziehung ab. Vielmehr wird zwischen Zentren und Peripherien innerhalb dieser Zonen unterschieden, um dadurch der besagten Fluktuation



  



- (Originalausgabe: Borderlands of Western Civilization. New York ). In letzterer Publikation werden auf einer Landkarte die »Grenzen des ostmitteleuropäischen Raumes« von der heutigen nördlichsten Spitze Finnlands bis zur südlichsten Spitze Griechenlands (Insel Kreta) und von dem westlichen Teil Österreichs (Vorarlberg) bis zu den östlichen Gebieten der heutigen Republik Moldau gezogen. Halecki, Grenzraum, . In Hinblick auf die Inkorporation Südosteuropas in die Geschichtsregion Ostmitteleuropa ist es bemerkenswert, dass Halecki Griechenland als den einzigen Staat Ostmitteleuropas hervorhebt, der »dank dem Ansehen«, das sein Ministerpräsident Eleftherios Venizelos genoss, einen nichtpermanenten Sitz im Völkerbundsrat zugeteilt bekommen habe. Ebd., . Troebst, Stefan: Le monde méditerranéen – Südosteuropa – Black Sea World: Geschichtsregionen im Süden Europas. In: Der Süden. Neue Perspektiven auf eine europäische Geschichtsregion. Hg. v. Frithjof Benjamin Schenk und Martina Winkler. Frankfurt/M. [u. a.] , -, hier . Troebst, Stefan: Vom spatial turn zum regional turn? Geschichtsregionale Konzeptionen in den Kulturwissenschaften. In: Dimensionen der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte. Hg. v. Matthias Middell. Leipzig , -, hier . Ebd. Sundhaussen, Holm: Die Wiederentdeckung des Raumes: Über Nutzen und Nachteil von Geschichtsregionen. In: Südosteuropa. Von vormoderner Vielfalt und nationalstaatlicher Vereinheitlichung. Festschrift für Edgar Hösch. Hg. v. Konrad Clewing und Oliver Jens Schmitt. München , -, hier  f. Strohmeyer, Arno: Historische Komparatistik und die Konstruktion von Geschichtsregionen: der Vergleich als Methode der historischen Europaforschung. In: Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas  (), -, hier .

19

Einl e i tu n g

der Grenzen einer Geschichtsregion Rechnung zu tragen. Die Frage etwa, wo genau die Geschichtsregion Südosteuropa im Norden anfängt bzw. endet, ist nicht nur deshalb so schwierig zu beantworten, weil die Antwort häufig von aktuellen politischen Interessen abhängig gemacht wird, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass die Gebiete an der äußersten Nordperipherie für viele Jahrhunderte unter den prägenden Einwirkungen zweier verschiedener politischer, religiöser und kultureller Zentren standen, nämlich Wiens und Konstantinopels (Istanbuls). Geschichtsregionale Studien nehmen ihren räumlichen Untersuchungsraum aus einer »Vogelperspektive« wahr. Dadurch fallen die Unterschiede innerhalb des zu untersuchenden Raumes weniger ins Gewicht als die großen, von weitem leicht zu erkennenden Besonderheiten, die diesen Raum ausmachen und von anderen Räumen abtrennen. Bei diesen Besonderheiten handelt es sich um langlebige Strukturen und langfristige Kontinuitäten, die eine Geschichtsregion prägen und von anderen Geschichtsregionen abgrenzen. Als Strukturen bezeichnet Sundhaussen »historisch gewachsene Ordnungsgefüge, Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster«, die politische und ökonomische Zäsuren überdauern und sich zwar im Laufe der Zeit verändern, dennoch diesen Veränderungsprozess in einem langsamen Tempo vollziehen. Im Fall Südosteuropas stellt etwa die Orthodoxie eine derartige Struktur dar. Seit byzantinischer Zeit überdauerte sie große Epocheneinschnitte und bestimmt bis heute zu einem großen Teil den Alltag, das Verhalten, die Identität und die Wahrnehmung der Menschen auf der balkanischen Halbinsel. Maria Todorova bezeichnet diese langfristigen, epochenübergreifenden Strukturen als »historische Vermächtnisse«, die in der Form eines von den Menschen der Region nicht aktiv und bewusst übernommenen Erbes ihre politischen, kulturellen, ökonomischen und sozialen Lebenssphären über einen langen Zeitraum hinweg stark prägen. Für die US-amerikanische Südosteuropahistorikerin ist demzufolge eine Region, insbesondere Südosteuropa, als das »vielschichtige Ergebnis des Zusammenspiels von zahlreichen historischen Perioden, Traditionen und Vermächtnissen« zu verstehen. Unter historischen Perioden versteht Todorova wiederum die »Zeitspanne«, die »über einen gewissen inneren Zusammenhang verfügt« sowie »über einen Anfang und ein Ende, die mehr oder weniger deutlich feststellbar sind und zumeist auf (einer Häufung von) bedeutungs Troebst, Stefan: »Geschichtsregion«: Historisch-mesoregionale Konzeptionen in den Kulturwissenschaften. In: EGO – Europäische Geschichte Online. Hg. v. Institut für Europäische Geschichte, .., http://www.ieg-ego.eu/troebsts--de (letzter Zugriff: ..).  Wachtel, Andrew Baruch: The Balkans in World History. New York ,  f.  Sundhaussen, Die Wiederentdeckung (wie Anm. ), .  Todorova, Maria: Historische Vermächtnisse als Analysekategorie. Der Fall Südosteuropa. In: Europa und die Grenzen im Kopf. Hg. v. Karl Kaser, Dagmar GramshammerHohl und Robert Pichler. Klagenfurt [u. a.] , -, hier -.

20

S ü d o s te u ro p a al s » G e s c hi c h t s re gio n«

vollen Ereignissen basieren«. Den Begriff »historische Tradition« verbindet sie schließlich – in Abgrenzung zu dem des »historischen Vermächtnisses« – mit der »bewussten Selektion und Höherbewertung von Elementen« aus der Vergangenheit seitens der Zeitgenossen. Auch wenn sich Todorova ursprünglich weigerte, aufgrund des Vorwurfs des Essentialismus den Erkenntniswert der geschichtsregionalen Forschungsmethode anzuerkennen, unterscheiden sich ihre »historischen Vermächtnisse«, »Traditionen« und »historischen Perioden«, wenn überhaupt, nur gering von den eine Geschichtsregion prägenden Strukturen Sundhaussens und Troebsts. Denn was Sundhaussen, wie bereits zitiert, unter Geschichtsregionen formende und prägende Strukturen versteht, nämlich »historisch gewachsene Ordnungsgefüge, Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster«, unterscheidet sich, wenn überhaupt, nur gering von den oben genannten Kategorien Todorovas. Interessanterweise reduziert Todorova die historischen Vermächtnisse, die aus ihrer Sicht Südosteuropa als besondere Region ausmachen, auf ein einzelnes, nämlich auf das osmanische. Allerdings ist sie in diesem Punkt in ihrer Argumentation inkonsequent: Obgleich sie an strukturalistisch-geschichtsregionalen Ansätzen zu Osteuropa ausdrücklich kritisiert, dass diese das »jüngste Vermächtnis« des Kommunismus »komplett« vernachlässigten, tut sie das Gleiche im Falle Südosteuropas. In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass nicht nur ein Vermächtnis oder nur eine Struktur, sondern zahlreiche, an Veränderungen anpassungsfähige und deswegen auch langlebige und epochenübergreifend wirksame Strukturen das Wesen der Geschichtsregion Südosteuropas ausmachen. Diese ist nicht nur, wie Todorova betont, durch das osmanische, sondern auch durch das kommunistische Vermächtnis ebenso wie durch das byzantinisch-orthodoxe Erbe stark geprägt. Letzteres beispielsweise bewirkte und bewirkt immer noch in Kombination mit anderen Faktoren in der Region eine »anti-westliche Grunddisposition« in Form einer »kulturellen Distanz gegenüber West- und Mitteleuropa« – um an dieser Stelle nur zwei von den insgesamt neun, langfristig strukturprägenden Merkmalen Südosteuropas, die Sundhaussen ausgearbeitet hat, zu nennen und in einen Kausalzusammenhang zu bringen. Das eine oder andere Strukturmerkmal kann gleichzeitig oder auch asynchron in mehr als einer Geschichtsregion anzutreffen sein. Dennoch tritt es in jedem  Ebd., .  Ebd., .  Vgl. dazu auch Troebst, Stefan: Maria Todorova als Balkan-, Osteuropa- und Europahistorikerin (Vorwort). In: Maria Todorova: Die Kategorie der Zeit in der Geschichtsschreibung über das östliche Europa. Hg. v. Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO). Leipzig , -, hier .  Todorova: Historische Vermächtnisse (wie Anm. ), .  Sundhaussen, Die Wiederentdeckung (wie Anm. ), .  Ders.: Südosteuropa und der Balkan. Begriffe, Grenzen, Merkmale. In: Handbuch der Südosteuropa-Linguistik. Hg. v. Uwe Hinrichs. Wiesbaden , -, hier  f.

21

Einl e i tu n g

Fall in einem einzigartigen Zusammenwirken mit anderen Strukturmerkmalen in Erscheinung. Dadurch ergibt sich für jede Geschichtsregion ein spezifisches Cluster an Merkmalen, das sie von anderen deutlich unterscheidet. So haben etwa die Geschichtsregionen Südosteuropa und Ostmitteleuropa die Strukturmerkmale der verspäteten Industrialisierung und der Multiethnizität gemein, unterscheiden sich dennoch in Hinsicht auf andere Strukturmerkmale sehr deutlich voneinander – hier der byzantinische und osmanische Einfluss, dort die westliche Prägung durch die von Rom ausgehende Christianisierung und durch das Magdeburger Recht, hier die verspätete Nationsbildung im späten . und . Jahrhundert, dort die Gründung ostmitteleuropäischer Staaten und die Gesellschaftsbildung bereits im Mittelalter unter nationalem Vorzeichen. Andererseits gilt es in dieser Hinsicht zu bedenken, dass etliche Gebiete aufgrund der dauernden Grenzverschiebungen zwischen den Großreichen sowohl byzantinisch-osmanisch als auch habsburgisch geprägt sind. Das Ende des Ersten Weltkriegs ist insofern eine einschneidende Zäsur, als durch die Bildung neuer Staaten in Ostmittel- und Südosteuropa ehemals habsburgische Gebiete in Staatsgebilden eingegliedert wurden, deren große Teile durch das (ost)römischbyzantinische und das osmanische Erbe geprägt waren (Jugoslawien und Rumänien). Unter Berücksichtigung langfristiger strukturprägender Merkmale wird hier Südosteuropa in Anlehnung an Sundhaussen als die Region definiert, die im »Westen, Süden und Osten durch fünf Meere begrenzt [wird]: durch Adria, Ionisches Meer, Ägäis, Marmarameer und Schwarzes Meer«. In Richtung Norden ist die Eingrenzung der Region ein schwierigeres Unterfangen: Wendet man eine geographisch enger gefasste Definition an, die auf der Grundlage der Priorisierung der Strukturmerkmale des byzantinisch-orthodoxen Erbes und des osmanisch-islamischen Erbes erfolgt, dann bilden die Flussläufe von Save und unterer Donau die natürliche Grenze Südosteuropas zu Ostmitteleuropa. Dieses »kleine« Südosteuropa erstreckt sich im Wesentlichen auf die Gebiete der heutigen Balkanstaaten (Serbien, Mazedonien, Bulgarien, Kosovo, Albanien und Griechenland) und den europäischen Teil der Türkei. Werden hingegen auch die südlichen und östlichen Gebiete des heutigen Rumäniens, die zu einem großen Teil (Fürstentümer Walachei und Moldau) seit dem . Jahrhundert unter osmanischer Kontrolle standen, sowie die früheren Länder der heiligen Stephanskrone (die Slowakei, das heutige Ungarn, Kroatien, die Wojwodina, das rumänische Banat und Siebenbürgen) zu Südosteuropa gezählt, dann verläuft  Zu Ostmitteleuropa als Geschichtsregion sowie zu einer Infragestellung mehrerer als spezifisch ostmitteleuropäisch geltender Strukturmerkmale siehe Ther, Philipp: Von Ostmitteleuropa nach Zentraleuropa – Kulturgeschichte als Area Studies. In: Themenportal Europäische Geschichte, , https://www.europa.clio-online.de/essay/id/ fdae- (letzter Zugriff: ..).  Calic, Marie-Janine: Südosteuropa. Weltgeschichte einer Region. München , .  Sundhaussen, Südosteuropa (wie Anm. ), .  Ebd., .

22

S ü d o s te u ro p a al s » G e s c hi c h t s re gio n«

die Nordgrenze dieser Region »von der nördlichen Adria entlang der Ostalpen, der kleinen Karpaten und der Beskiden und folgt dem Flusslauf des Dnjestr bis zur Einmündung ins Schwarze Meer«. Die Unterscheidung zwischen einem enger und einem breiter gefassten Südosteuropa (in Form einer Differenzierung des balkanischen Kernraums vom Rest Südosteuropas) erfolgt auf der Grundlage der unterschiedlichen Verdichtung von Strukturmerkmalen. Die einzelnen langfristig strukturprägenden Elemente, die in einer einzigartigen Zusammensetzung das Cluster bzw. die Geschichtsregion des »kleinen« Südosteuropa südlich von mittlerer Donau und Save, also des balkanischen Kernraums, ausmachen, wurden von Sundhaussen wie folgt bestimmt: a) Die Instabilität der Siedlungsverhältnisse und die daraus resultierenden ethnischen Gemengelagen auf kleinem Raum; […] b) das byzantinisch-orthodoxe Erbe; […] c) das osmanisch-islamische Erbe; […] d) die gesellschaftliche und ökonomische Rückständigkeit in der Neuzeit; […] e) der komplizierte, wechselhaft verlaufende Prozess der »Europäisierung«, der im Verlauf des . Jahrhunderts mit der Rezeption/Adaption der westlichen und mitteleuropäischen Modelle von Nation und Nationalstaat einsetzte; […] f ) die Intervention der europäischen Großmächte und interbalkanische Rivalitäten. Von den oben genannten Strukturmerkmalen sind die Elemente der Zugehörigkeit zu den beiden Großreichen Byzanz und Osmanisches Reich für insgesamt fast . Jahrhunderte und der erheblichen ethnischen Durchmischung die langlebigsten und tiefgreifendsten Prägungsfaktoren für den historischen Raum, der die Gebiete südlich von Save und Donau sowie die früheren rumänischen Fürstentürmer Walachei und Moldau einschließt. In der vorliegenden Studie stehen im Mittelpunkt der Analyse völkerrechtsprägende Ereignisse, die vornehmlich im enger gefassten, vormals ostkirchlichosmanischen Südosteuropa zu verorten sind (Intervention in den griechischen Unabhängigkeitskrieg, Orientalische Krise der Jahre -). Dennoch werden auch Fälle behandelt, die nicht allein auf dem Balkan, sondern auch im überwiegend westkirchlich-habsburgisch geprägten Teil des erweiterten Südosteuropa stattfanden. Das gilt z. B. für das durch kroatische und makedonische Autonomisten ausgeführte Attentat von Marseille () und die postjugoslawischen Kriege. In Anbetracht dieser Überlegungen zur Frage der Ausdehnung des europäischen Südostens wird hier Südosteuropa als eine im Wesentlichen durch den balkanischen Kernraum bestehende Geschichtsregion betrachtet, die gegenüber Kroatien, Ungarn, Rumänien und Kleinasien und darüber hinausgehenden benachbarten Räumen (»imperial borderlands«) fließende Übergänge und fluk Ebd.  Sundhaussen, Holm: Balkan. In: Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. . erw. und aktual. Aufl. Hg. v. Holm Sundhaussen und Konrad Clewing. Wien [u. a.] , .

23

Einl e i tu n g

tuierende Grenzen hat und ihren distinktiven Charakter auch infolge transregionaler und weltweiter Verflechtungen und Wechselwirkungen erhielt. Südosteuropa als völkerrechtsprägende Konfliktregion Die zentrale Hypothese

Basierend auf dem kulturhistorischen Forschungsparadigma der Geschichtsregion geht die vorliegende Studie von einem Kausalitätsverhältnis zwischen den Strukturmerkmalen, die den geschichtsregionalen Raum Südosteuropa begründen, und der prägenden Wirkung dieses Raumes auf das moderne Völkerrecht aus. Die hier zugrunde liegende Hypothese ist, dass sich im Südosteuropa des . und . Jahrhunderts aufgrund langanhaltender Strukturen ein Konfliktpotential herausgebildet hat, das unter bestimmten Bedingungen und Umständen – wie etwa dem Vordringen des nationalstaatlichen Konzepts in die Region – ein hohes Maß an Intensität annahm und in der »Außenwahrnehmung« besondere Charakteristika aufwies. Im Zusammenhang mit der weiter unten noch zu erläuternden wichtigen geopolitischen Lage des Balkan-Donau-Schwarzmeer-Raumes und in Kombination mit parallel zum regionalen Konfliktgeschehen stattfindenden außerregionalen Entwicklungen globaler Tragweite und Bedeutung übte Südosteuropa einen starken Einfluss auf die Entwicklung von internationaler Staatenpraxis und Völkerrecht aus. Gewaltbegünstigende Faktoren

Anlässlich der nahezu ein Jahrzehnt lang das Interesse der weltweiten Öffentlichkeit fesselnden und das internationale Konfliktmanagement stark herausfordernden postjugoslawischen Kriege haben Experten, insbesondere im deutschsprachigen Raum, den Versuch unternommen, sich dem Konfliktgeschehen im modernen Südosteuropa und dessen Ursachen anhand eines strukturgeschichtlichen Zugriffs anzunähern. Einer davon war in der zweiten Hälfte der er Jahre der Südosteuropahistoriker Wolfgang Höpken, der das Phänomen der Gewalt im Allgemeinen als »mittelbares Ergebnis strukturgeschichtlicher Einflussfaktoren, also als Resultat eines Ensembles aus historisch aufgebauten Strukturen, Institutionen, sozialen Wandlungsprozessen und Weltbildern, die dazu beitragen, dass entweder gewaltintensive oder gewaltarme Räume entstehen«, betrachtete. Konkret zum Südosteuropa der letzten zwei Jahrhunderte  Höpken, Wolfgang: »Blockierte Zivilisierung«? Staatsbildung, Modernisierung und ethnische Gewalt auf dem Balkan (./. Jahrhundert). In: Leviathan  (), , hier .

24

S ü d o s te u ro p a al s vö lke r re c h t s p rä g e n d e Ko nf lik tre gio n

nannte er als strukturgeschichtliche Einflussfaktoren bzw. »strukturelle Veranlagungen«, die »auf das Entstehen und die Formen der Gewalt auf dem Balkan eingewirkt haben, die Art und Weise der Nationswerdung, die Modalitäten der Staatsbildung, möglicherweise auch die jeweils spezifischen Formen des sozialen Wandels«. Indem er für seine Gewaltanalyse gleichfalls eine strukturgeschichtliche Herangehensweise bevorzugte, bestimmte auch Holm Sundhaussen als »interne«, innerregionale Faktoren der Konfliktbegünstigung auf dem Balkan die »ethnischen Siedlungsstrukturen, die ›nationale Frage‹, die Nationalisierung der Religion [und] die Nationalisierung sozioökonomischer Konflikte«. Das Verständnis der »Struktur« des von Höpken und Sundhaussen als Konfliktfaktor identifizierten südosteuropäischen Nationalismus bedarf einer historischen Kontextualisierung. Südosteuropa bildete zu Beginn des nationalen Zeitalters die Schnittstelle der drei »östlichen« Imperien, Österreich-Ungarn, Russland und dem Osmanischen Reich. Innerhalb dieser Vielvölkerreiche staute sich im »langen« . Jahrhundert im Zuge der aufkommenden und miteinander konkurrierenden Nationalismen ein enormes Konfliktpotential. Während in West- und Mitteleuropa entweder eine »Veränderung am und im Staat«, also eine innere Umwandlung bereits bestehender Staatsgebilde auf der Grundlage des nationalen Prinzips stattfand, so etwa in Großbritannien, Frankreich, Spanien und Portugal, oder wie im italienischen und deutschen Fall eine Fusion von mittelgroßen und Kleinststaaten unter nationalen Vorzeichen erfolgte, gingen die neuen Nationalstaaten in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa durch »Rebellion gegen den Staat, Ablösung und Sezession« hervor. Zwar gab es auch in Westeuropa Staaten, die durch Abspaltung von einem Königreich entstanden, insbesondere Belgien, Norwegen, Irland und Island, dennoch erreichte in der westlichen Hälfte des Kontinents das Phänomen bei Weitem nicht das Ausmaß, welches es im östlichen Teil Europas annahm: Von Finnland über das Baltikum und Ostmitteleuropa bis hin zum Balkan war allen Staatsgründungen gemein, dass sie durch Abspaltung von einem Großreich erfolgt waren. Für Gewaltexperten ist es infolgedessen kein Zufall, dass sich eine neue Logik von Massengewalt erstmals in den »imperialen Bruchzonen« (»imperial shatterzones«) Südosteuropas durchgesetzt hat:

 Ebd.  Sundhaussen, Holm: »Wir haben nur Missverständnisse geklärt«. Die Krisenregion Balkan. In: Am Rande Europas? Der Balkan – Raum und Bevölkerung als Wirkungsfelder militärischer Gewalt. Hg. v. Bernhard Chiari und Gerhard P. Groß. München , -, hier -. Siehe auch ders.: Wie »balkanisch« waren die »Balkankriege« des . Jh.s? In: Jahrbuch für Europäische Geschichte  (), -.  Schulze, Hagen: Staat und Nation in der europäischen Geschichte. . Aufl. München ,  [Hervorheb. i. O.].  Ebd.

25

Einl e i tu n g

[S]o much of the subsequent violence in Europe was prefigured and initially reached its full expression in Southeast Europe. Here, in the imperial shatterzones, where insurgent nationalizing elites vied with imperial elites – and with one another – to establish fledgling monocultural states by assimilating, deporting and killing ›enemy‹ civilians, was the crucible of a bloody twentieth century. In einem direkten Kausalitätsverhältnis zur Entstehung von Nationalstaaten in Südosteuropa durch Sezession von multiethnischen Imperien steht das Phänomen der »verspäteten« bzw. »nachträglichen« Nationsbildung. Die Nationsbildungsprozesse in Südosteuropa zeichneten sich in ihrer Anfangsphase durch eine schwache Integrationsleistung der neuen Staaten aus, denen es nicht zuletzt wegen der fehlenden Infrastruktur an der Fähigkeit fehlte, politische Loyalitäten zu monopolisieren und eine flächendeckende Wirkung zu erzeugen. Das Nationalismus-Konzept hatten zahlenmäßig kleine, gebildete Eliten in die Region importiert, die vor der schwierigen Aufgabe standen, einer sich mehrheitlich in Kategorien der konfessionellen Zugehörigkeit definierenden Bevölkerung die Vorrangigkeit und übergeordnete Bedeutung der nationalen Idee zu vermitteln. In der Südosteuropaforschung wird häufig diesbezüglich auf die MinderheitMehrheit-Konfliktproblematik hingewiesen, während die Tatsache weitgehend vernachlässigt wird, dass es zwar in den neuen Nationalstaaten eine sprachliche oder religiöse Mehrheit gab, dennoch keine Titularnation. Diese musste erst aus dieser »protonationalen« Mehrheit geschaffen und politisch wirksam werden. Hier lässt sich ein Unterschied im Vergleich zu West- und Mitteleuropa feststellen, wo sich der Nationalismus als Massenbewegung früher und unproblematischer etablieren konnte. In Anbetracht ihrer zunächst begrenzten Möglichkeiten, auf der Grundlage von staatlichen Institutionen (Schulwesen, Universitäten, Armee, bürokratische Verwaltungsstrukturen) nationale Integrationsprozesse zu fördern, schlugen  Bloxham, Donald/Gerwarth, Robert/Conway, Martin/Moses, Dirk, A./Weinhauer, Klaus: Europe in the World. System and Cultures of Violence. In: Political Violence in Twentieth-Century Europe. Hg. v. Donald Bloxham und Robert Gerwarth. Cambridge , -, hier  f.  Vgl. z. B. Zelepos, Ioannis: Die Ethnisierung griechischer Identität, -. Staat und private Akteure vor dem Hintergrund der »Megali Idea«. München ,  f.; Schmitt, Oliver Jens: Die Albaner. Eine Geschichte zwischen Orient und Okzident. München ; Clewing, Konrad: Staatensystem und innerstaatliches Agieren im multiethnischen Raum: Südosteuropa im langen . Jahrhundert. In: Geschichte Südosteuropas. Vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. v. Konrad Clewing und Oliver Jens Schmitt. Regensburg , -, hier .  Biondich, Mark: The Balkans. Revolution, War, and Political Violence since . Oxford ,  f.; Schmitt, Die Albaner (wie Anm. ), .  Zum Institutionen-Aufbau im Südosteuropa der neuen Nationalstaaten nach hauptsächlich westlichem Vorbild siehe Ottomans into Europeans. State and Institution

26

S ü d o s te u ro p a al s vö lke r re c h t s p rä g e n d e Ko nf lik tre gio n

die politischen Eliten in Südosteuropa alternative Wege ein, um diesen Nachteil zu kompensieren. Krieg und Gewalt gehörten dabei zu ihren wichtigsten Instrumentarien. Insbesondere die orthodoxe Landbevölkerung, die sich gegen nationale Infiltration resistent zeigte, wurde letztendlich durch Gewaltanwendung oder Gewaltandrohung genötigt, sich auf die Seite eines der konkurrierenden nationalen Lager zu stellen und somit auch eine nationale Identität anzunehmen. Dies war vor allem im osmanischen Makedonien des ausgehenden . Jahrhunderts der Fall, wo die sich vorwiegend über ihren orthodoxen Glauben definierende Bevölkerung durch bulgarische und griechische Guerilla-Banden gezwungen wurde, sich einem der beiden nationalen Lager anzuschließen. Aber auch innerhalb der Grenzen der neuen Nationalstaaten trieben Konflikte und Kriege die nationale Integration voran. Erst durch die Herauskristallisierung von nationalen Feindbildern und die Abgrenzung davon nahm die Identifikation mit dem »eigenen« Nationalstaat auf einer breiten Basis gefestigte Formen an. Mit Blick auf die Frage nach den Ursachen und Formen ethnonationaler Gewalt in Südosteuropa scheinen zwei in den Entwicklungs- und Entfaltungsgeschichten der meisten südosteuropäischen Nationalismen festzustellenden Gemeinsamkeiten von besonderer Bedeutung zu sein: Zum einen war in den letzten zwei Jahrhunderten die Mehrheit der Nationalstaatsprojekte in der Region durch einen entweder weitgehend unerfüllt gebliebenen und nur kurzfristig und partiell verwirklichten Irredentismus geprägt. Von einer »Großen Idee« – wie die Griechen ihrerseits die expansionistische Traumvorstellung der »Rückeroberung Konstantinopels« und der »Neuerrichtung des byzantinischen Reiches« nannten – wurden in verschiedenen Abschnitten ihrer jüngeren Geschichte Bulgaren, Mazedonier, Albaner, Rumänen sowie nicht zuletzt Serben und Kroaten geleitet – häufig mit verheerenden Folgen, nicht nur für die Angehörigen anderer ethnischer Gruppen, sondern auch für die »eigenen« Landsleute selbst. Lediglich erwähnt seien an dieser Stelle als Beispiele die in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts wiederholt erfolglosen bulgarischen Versuche, das Großbulgarien des San Stefano-Vertrags von  durch die Besatzung serbisch- und griechisch-makedonischer Gebiete wiederherzustellen, der irredentistische Ultranationalismus Rumäniens bezüglich Bess-

   

Building in South-East Europe. Hg. v. Wim van Meurs und Alina Mungiu-Pippidi. London ; Clewing, Staatensystem (wie Anm. ), -. Biondich, The Balkans (wie Anm. ),  f. Livanios, Dimitris: »Conquering the Souls«. Nationalism and Greek Guerrilla Warfare in Ottoman Macedonia, -. In: Byzantine and Modern Greek Studies  (), -. Siehe z. B. für den griechischen Fall Skordos, Adamantios Theodor: Das panslawische Feindbild im Griechenland des . und . Jahrhunderts. In: Südost-Forschungen  (), -. Siehe ausführlicher dazu Opfer, Björn: Im Schatten des Krieges. Besatzung oder Anschluss – Befreiung oder Unterdrückung? Eine komparatistische Untersuchung über

27

Einl e i tu n g

arabiens, die besagte griechische »Große Idee«, die in der »Kleinasiatischen Katastrophe« von  und der »Zypern-Tragödie« von  resultierte, und die großkroatische Ustaša-Vision der Wiederherstellung des mittelalterlichen Kroatiens auf seinem gesamten ethnischen und historischen Territorium, die in einer brutalen Serbenverfolgung mündete. Auch die Serben verfolgten seit dem . Jahrhundert ihre eigene »Große Idee«, die vom »geheimem Programm« Ilija Garašanins zur Wiederherstellung des Reichs Dušans und von den sprachnationalistischen Vorstellungen Vuk Karadžićs geprägt war. Mit Blick auf den gewaltsamen Zerfall Jugoslawiens nach  scheint es wichtig festzuhalten, dass es in den er Jahren zu einer Revitalisierung des irredentistisch-expansionistischen Nationalkonzeptes der Vereinigung aller Serben in einem Staat auf der Grundlage des serbischen Reiches des . Jahrhunderts kam. Aber darauf wird im fünften Kapitel dieser Studie ausführlich eingegangen. Zum anderen wurde dieser territoriale Expansionismus von der Zielsetzung der ethnischen Homogenisierung begleitet. Die im Südosteuropa des . und . Jahrhunderts handelnden Nationaleliten ließen sich von der Prämisse leiten, dass der von ihnen geschaffene oder noch zu schaffende Staat »nur der Staat ihres Volkes ist«. Daher gestanden sie »anderen ethnischen Gruppen entweder gar kein[en] oder zumindest kein[en] institutionalisierten Platz zu«. Dieses ethnische und nicht politische Verständnis des Staates, das keineswegs genuin oder ausschließlich südosteuropäisch ist, kollidierte mit dem multiethnischen Charakter Südosteuropas, insbesondere in den noch bis zu den Balkankriegen / und dem Ersten Weltkrieg unter osmanischer Herrschaft stehenden Gebieten Makedoniens, Thrakiens, des Kosovo und Westanatoliens. Während die neugegründeten Nationalstaaten auf ihrem ursprünglichen Staatsgebiet entweder weit homogener waren, als häufig in der Außenperspektive wahrgenommen

  

   

28

die bulgarische Herrschaft in Vardar-Makedonien - und -. Münster . Vgl. Schmitt, Oliver Jens: Căpitan Codreanu. Aufstieg und Fall des rumänischen Faschistenführers. Wien , -. Vgl. Zelepos, Die Ethnisierung, - (wie Anm. ); Clogg, Richard: A Concise History of Greece. . Aufl. Cambridge , -. Vgl. Calic, Marie-Janine: Geschichte Jugoslawiens im . Jahrhundert. München , ; Sundhaussen, Holm: Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten, -. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen. Wien [u. a.] , -; Ther, Philipp: Die dunkle Seite der Nationalstaaten. »Ethnische Säuberungen« im modernen Europa. Göttingen , -. Sundhaussen, Holm: Geschichte Serbiens, .-. Jahrhundert. Wien [u. a.] , ; Biondich, The Balkans (wie Anm. ), . Calic, Geschichte (wie Anm. ), -. Seewann, Gerhard: Minderheiten. In: Südosteuropa. Ein Handbuch. Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur. Hg. v. Magarditsch Hatschikjan und Stefan Troebst. München , -, hier  f. Clewing, Staatensystem (wie Anm. ), .

S ü d o s te u ro p a al s vö lke r re c h t s p rä g e n d e Ko nf lik tre gio n

wurde, oder überwiegend »integrierbare« Minderheiten beheimateten, wurden auf zahlreichen Nationalitätskarten dieser Zeit die von mehreren Staaten umworbenen Gebiete der sogenannten europäischen Türkei aufgrund ihrer ethnischen Gemengelage als bunter Flickenteppich dargestellt. Dementsprechend spielte zunächst die »homogenisierende und ethnozentrische Ausrichtung der neuen Staaten« weniger in der innerstaatlichen Praxis als vielmehr bei der Gestaltung ihrer Kriegsführung zur Eroberung neuer Territorien eine wichtige Rolle. Letztere war so ausgelegt, dass sie die Ziele der territorialen Erweiterung und der ethnischen Entmischung gleichzeitig verfolgte. Die Vertreibung oder gar die Vernichtung des ethnisch Anderen in den »zu befreienden« bzw. »befreiten« Gebieten stellten im . und . Jahrhundert nicht nur eine Begleiterscheinung, sondern einen »essentiellen Bestandteil« der meisten militärischen Auseinandersetzungen dar, sodass diese den Charakter »ethnischer Staatenkriege« annahmen. Die verheerende Wirkung war deshalb so groß, weil in Südosteuropa dieser bestimmte Typ des »Expansionsnationalismus« auf eine besondere regionale Konstellation von ethnischer Gemengelage, willkürlicher Grenzziehung und staatlicher Fragmentierung traf. Unter Berücksichtigung dieser engen Verbindung zwischen Kriegsgeschehen und ethnischen Purifizierungsstrategien unterscheidet Sundhaussen zwischen »vier großen Homogenisierungswellen« in Südosteuropa, »die in der Regel durch Kriege ausgelöst wurden«. Die erste gewalttätige Purifizierungswelle setzte während des . Jahrhunderts im Gefolge von sezessionistischen Staatsneubildungen, wie etwa der griechischen und serbischen, ein und richtete sich hauptsächlich gegen die im Osmanischen Reich privilegierte Gruppe der Muslime. Diese Bevölkerungsgruppe fiel auch der zweiten großen Vertreibungs- und Umsiedlungswelle in Südosteuropa zum Opfer, deren Höhepunkte die expansionistischen Balkankriege / und der  durch die Lausanner Konvention völkerrechtlich besiegelte griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch waren.  Ebd., -; Weitz, Eric. D.: A Century of Genocide. Utopias of Race and Nation. Princeton [u. a.] , -.  Höpken, »Blockierte Zivilisierung« (wie Anm. ), -.  Diese ist wiederum auch auf die Tatsache zurückzuführen, dass im »langen« . Jahrhundert »die Großmächte kein einvernehmliches Konzept für den Umgang mit dem ›osmanischen Erbe‹ hatten und sich jeweils nur auf einen Minimalkonsens verständigen konnten (Erhaltung des Status quo oder eines – wie immer definierten – Gleichgewichts)«. Sundhaussen, Wie »balkanisch« (wie Anm. ), . Siehe dazu ausführlicher Kapitel  der vorliegenden Studie.  Sundhaussen, Holm: Zwangsmigrationen und ethnische Säuberungen. In: Clewing/ Schmitt, Geschichte Südosteuropas (wie Anm. ), -, hier .  Betroffen von der Gewalt gegen Muslime während des ersten Balkankriegs waren auch zahlreiche albanische Dörfer im Kosovo und in Makedonien, die von serbischen Truppen vernichtet wurden. Biondich, The Balkans (wie Anm. ), ; Michael Schwartz: Ethnische »Säuberungen« in der Moderne. Globale Wechselwirkungen nationalistischer und rassistischer Gewaltpolitik im . und . Jahrhundert. München , .

29

Einl e i tu n g

Neben Muslimen gerieten in dieser Periode auch orthodoxe Christen und Juden ins Vertreibungsvisier jener balkanischen Nationalstaaten, die um dieselben Territorien konkurrierten. Insbesondere im zweiten Balkankrieg, in dem die europäischen Gebiete des Osmanischen Reiches unter den Anrainerstaaten aufgeteilt wurden, setzten Griechen, Bulgaren und Serben die Strategie der ethnischen Säuberung nicht nur gegen Muslime, sondern auch gegeneinander ein. Eine dritte Vertreibungs- und Homogenisierungswelle überflutete Südosteuropa in der Zeit des Zweiten Weltkriegs und unmittelbar danach. Betroffen davon waren mehr als . in die deutschen Vernichtungslager transportierten südosteuropäischen Juden, die deutsche Bevölkerung Jugoslawiens, Rumäniens und Ungarns sowie ungewollte Minderheiten von benachbarten, in Territorialstreitigkeiten verwickelten Staaten. Die vierte und letzte Homogenisierungswelle in Form von ethnischen Säuberungen wurde durch die postjugoslawischen Kriege der er Jahre ausgelöst und erfasste vier bis fünf Millionen Menschen. Die vier großen südosteuropäischen Homogenisierungswellen erfolgten nicht in Friedenszeiten, wie etwa in der Sowjetunion der er Jahre, sondern im Verlauf von sezessionistischen und expansionistisch-irredentistischen Kriegen. Neben diesem auf der balkanischen Halbinsel verbreiteten »Expansionsnationalismus« nahmen in den letzten zwei Jahrhunderten auch andere strukturgeschichtliche Faktoren Einfluss auf das südosteuropäische Gewaltphänomen. Ein Faktor von besonderer Bedeutung ist in dieser Hinsicht der große Anteil paramilitärischer Einheiten an den kriegerischen Auseinandersetzungen im neuzeitlichen und modernen Südosteuropa. Christian Gerlach plädiert in seiner Analyse von Massengewalt im . Jahrhundert dafür, der »Schlüsselbedeutung«, die »Milizen für Massengewalt zu haben scheinen«, »in der künftigen Forschung mehr Aufmerksamkeit« zu schenken. In diesem Zusammenhang unterstreicht er die »wichtige Rolle« der Milizen »bei den Gewalttaten in den jugoslawischen Nachfolgekriegen«. Auch der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler weist in seiner Arbeit zu den »neuen asymmetrischen Kriegen« des postbipolaren Zeitalters auf den zunehmend größeren Einfluss, den Milizen und paramilitärische Einheiten auf die Entstehung von Massengewalt nehmen würden, hin.

 Sundhaussen, Zwangsmigrationen (wie Anm. ), -. Siehe auch Brandes, Detlef/Sundhaussen, Holm/Troebst, Stefan: Vorwort. In: Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung in Südosteuropa. Hg. v. Detlef Brandes, Holm Sundhaussen und Stefan Troebst. Wien [u. a.] , -; Naimark, Norman M.: Stalin und der Genozid. Berlin , - (Originalausgabe: Stalin’s Genocides. Princeton ).  Gerlach, Christian: Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im . Jahrhundert. München ,  (Originalausgabe: Violent Societies: Mass Violence in the Twentieth-Century World. Cambridge ).  Münkler, Herfried: Die neuen Kriege. . Aufl. Hamburg .

30

S ü d o s te u ro p a al s vö lke r re c h t s p rä g e n d e Ko nf lik tre gio n

Blickt man auf die moderne südosteuropäische Konfliktgeschichte, wird man feststellen, dass das Phänomen der Beteiligung bewaffneter Milizen an ethnischer Massengewalt gegen Zivilisten im Balkanraum schon sehr früh in Erscheinung trat. So sind etwa die berüchtigten »Bulgarischen Grausamkeiten« (»Bulgarian atrocities«) während der großen Balkankrise der Jahre - vorwiegend von irregulären Başibozuk-Verbänden im Auftrag des osmanischen Militärs verübt worden. Bei den Mitgliedern der Başibozuk-Einheiten handelte es sich zu einem großen Teil um Tscherkessen, die sich kurz zuvor auf dem Balkan niedergelassen hatten. Offiziellen englischen Quellen zufolge zerstörten diese im Mai  im Sandschak (Sancak) von Philippopel um die  Dörfer und ließen dabei . Tote zurück. Das von muslimischen irregulären Truppen verübte Massaker im Dorf Batak, dem schätzungsweise . Christen, darunter viele Frauen und Kinder, zum Opfer fielen, ging als eines der grausamsten in die bulgarische und südosteuropäische Erinnerungskultur ein. Eine internationale Kommission, die im Auftrag des Carnegie Endowment for International Peace die Kriegsverbrechen der Balkankriege / vor Ort untersuchte und einen Bericht dazu verfasste, konstatierte zur Rolle der Başibozuk-Einheiten bei der Unterdrückung früherer anti-osmanischer Aufstände auf dem Balkan Folgendes: »In all these incidents of repression, the local Moslems had played their part, marching behind the Turkish troops as Başibozuks and joining in the work of pillage and slaughter.« In diesem Zusammenhang wurde festgehalten, dass die Zivilbevölkerung im osmanischen Makedonien seit Längerem Opfer des Kampfes zwischen christlichen Aufständischen und muslimischen Milizen gewesen sei. Auch die Gewaltexzesse in den Balkankriegen / waren vorwiegend das Werk irregulärer Komitadži-, Četnik- und griechisch-gesinnter Makedonomachen-Einheiten. Laut Marco Sigg war der »durch Terror und Untergrundkampf gekennzeichnete Kleinkrieg« irregulärer Kämpfer der Hauptgrund dafür gewesen, dass die Balkankriege »eine für europäische Maßstäbe neue Qualität und Intensität erreichten« und »die bis dato in Europa herrschenden Vorstellungen von Kriegsführung sprengten«. Sundhaussen verweist in seinen Ausführungen  Rodogno, Against Massacre (wie Anm. ),  f.; Bass, Freedom’s Battle (wie Anm. ), -; Sahara, Tetsuya: Two Different Images. Bulgarian and English Sources on the Batak Massacre. In: War and Diplomacy. The Russo-Turkish War of - and the Treaty of Berlin. Hg. v. Hakan M. Yavuz und Peter Sluglett. Salt Lake City , . Zur Bedeutung des »Massakers von Batak« in der bulgarischen Erinnerungskultur siehe Batak kato mjasto na pametta/Batak als bulgarischer Erinnerungsort. Hg. v. Martina Baleva und Ulf Brunnbauer. Sofia .  Report of the International Commission to Inquire into the Causes and Conduct of the Balkan Wars. Hg. v. Carnegie Endowment for International Peace. Washington DC , .  Ebd.  Sigg, Marco: Die Balkankriege /. Bulgarische Kriegsrechtsverletzungen im Spiegel der europäischen Kriegsberichtserstattung und des Carnegie-Berichts. In: Chiari/ Groß, Am Rande Europas (wie Anm. ), -, hier .

31

Einl e i tu n g

zur Massengewalt in den Balkankriegen ebenfalls auf die Rolle der irregulären Banden: Die von Zeitgenossen mit Irritation beobachtete »neue Qualität« der Balkankriege bestand darin, dass die Grenzen zwischen Kriegführenden und Zivilbevölkerung weitgehend missachtet oder gänzlich ignoriert wurden. Ein wesentlicher Grund dafür waren die paramilitärischen Gruppierungen und die Tradition des Bandenkrieges, der seit Ende des . Jahrhunderts in den von mehreren Nationalbewegungen umkämpften Gebieten des Balkanraums kontinuierlich zugenommen hatte. Die Carnegie-Kommission bestätigt an verschiedenen Stellen ihres besagten Berichts die Hauptverantwortung irregulärer Banden für die verübten Grausamkeiten während der Balkankriege /. Beispielhaft dafür sind folgende Ausschnitte: The number of Moslems killed in each village [of the district of Pravishta] varied from one to twenty-five, and the damage done by robbery and looting from hundreds to thousands of pounds. In the villages all these excesses seem to have been the work of local Greek Bands. The most active of these bands was led by a priest and a warlike grocer who was a member of the Bishop’s council. […] The result of leaving Bulgarian bands at large with no adequate control was, if possible, still worse in the Kukush (Kilkish) region. […] The Bulgarian bands in the Kukush region were left for some weeks unmolested in this work of extortion and extermination. There is ample proof that they slaughtered many hundreds of disarmed and disbanded Turkish soldiers. Ziel der vorwiegend durch irreguläre Krieger begangenen Massenhinrichtungen, Verstümmelungen, Vergewaltigungen und Einäscherungen ganzer Dörfer war es, die Flucht der jeweils »fremden« und »unerwünschten« Bevölkerungsgruppen aus den umkämpften Gebieten zu bewirken. Wie auch in den postjugoslawischen Kriegen der er Jahre dienten die Vertreibungen in den Balkankriegen der rapiden Veränderung der ethnologischen Zusammensetzung kürzlich eroberter Territorien zugunsten des jeweiligen Eroberers. Während des Ersten Balkankriegs (September/Oktober -Mai ), in dem Bulgarien, Serbien, Griechenland und Montenegro vereint gegen das Osmanische Reich antraten, fiel nahezu ausschließlich die muslimische Bevölkerung des Kosovo, Makedoniens und Thrakiens ethnischen Säuberungen zum Opfer. Während des Zweiten    

32

Sundhaussen, »Wir haben nur Missverständnisse geklärt« (wie Anm. ), . Carnegie Endowment, Report (wie Anm. ), ,  f. Ther, Die dunkle Seite (wie Anm. ), . Pekesen, Berna: Vertreibung und Abwanderung der Muslime vom Balkan. In: EGO – Europäische Geschichte Online. Hg. v. Institut für Europäische Geschichte, .., http://ieg-ego.eu/de/threads/europa-unterwegs/ethnische-zwangsmigration/berna-peke sen-vertreibung-der-muslime-vom-balkan (letzter Zugriff: ..).

S ü d o s te u ro p a al s vö lke r re c h t s p rä g e n d e Ko nf lik tre gio n

Balkankriegs (Juni–August ) zwischen Bulgarien auf der einen Seite und Griechenland, Serbien, Rumänien sowie dem Osmanischen Reich auf der anderen Seite gerieten dann hauptsächlich die Christen der umkämpften Gebiete ins Visier ethnisch motivierter Vertreibungsgewalt. Hauptvollstrecker dieser Vertreibungsgewalt waren, wie gesagt, irreguläre Einheiten, die seit Ende des . Jahrhunderts im osmanischen Makedonien einen unerbittlichen Guerillakampf gegeneinander führten und die Zivilbevölkerung terrorisierten. Eine Reihe weiterer Beispiele kann an dieser Stelle als Beleg dafür angeführt werden, dass paramilitärische Einheiten auch nach den Balkankriegen / an der Entstehung und Verbreitung von Massengewalt im Südosteuropa des . Jahrhunderts einen großen Anteil hatten. So wurde etwa bei der türkischen Vernichtungsaktion gegen die Armenier  die sogenannte Spezialorganisation (teșkilat-i-mahsusa) von Seiten des türkischen Staates damit beauftragt. Diese war nicht, wie häufig fälschlicherweise angenommen, eine durchorganisierte staatliche Einrichtung, sondern bestand aus zahlreichen kleinen bewaffneten Banden, die sich wiederum vorwiegend aus begnadigten Sträflingen und Banditen zusammensetzten. Auch die von der faschistischen Ustaša-Bewegung (Aufständische) im Zweiten Weltkrieg durchgeführte ethnische Säuberung gegen die serbische Bevölkerung Kroatiens ist ein Beispiel paramilitärischer Massengewalt in Südosteuropa. Lokale Ustaša-Funktionäre, die eine paramilitärisch-terroristische Vergangenheit und Ausbildung hatten, verfügten über einen ausgeweiteten Handlungsspielraum. Die ihnen unterstellten milizähnlichen Kampfverbände setzten die auf zentraler Ebene beschlossene Vertreibungs- und Vernichtungspolitik noch willkürlicher und gewalttätiger um, als man es in Zagreb beabsichtigt hatte. Zugleich waren sie in Kämpfen gegen die paramilitärischen serbischen Četnik-Verbände von Dragoljub (Draža) Mihailović involviert. Letztere wiederum waren einer großserbischen Idee verpflichtet und führten selbst gegen  Vgl. Livanios, »Conquering the Souls« (wie Anm. ); Khan, Mujeeb R.: The Ottoman Eastern Question and the Problematic Origins of Modern Ethnic Cleansing, Genocide, and Humanitarian Interventionism in Europe and the Middle East. In: Yavuz/ Sluglett, The Russo-Turkish War, -; Troebst, Stefan: Nationalismus und Gewalt im Osteuropa der Zwischenkriegszeit. Terroristische Separatismen im Vergleich. In: Osteuropäische Geschichte in vergleichender Sicht. Hg. v. Michael G. Müller, Fikret Adanır, Christian Lübke und Martin Schulze Wessel. Berlin , -; Memoari srpskih ratnika:-. Hg. v. Borislava Lilić. Belgrad ; Vučetić, Biljana: Srpska revolucionarna organizacija u Osmanskom carstvu na početku XX veka. In: Istorijski časopis  (), -. Siehe auch mehrere Beiträge in: Anorthodoxoi polemoi. Makedonia, Emfylios, Kypros. Hg. v. Vasilis K. Gounaris, Stathis Kalyvas und Ioannis D. Stefanidis. Athen  sowie Memoari srpskih ratnika:-. Hg. v. Borislava Lilić. Belgrad .  Gerlach, Extrem gewalttätige Gesellschaften (wie Anm. ), ; Naimark, Norman M.: Flammender Haß. Ethnische Säuberungen im . Jahrhundert. . Aufl. Frankfurt/M. ,  (Originalausgabe: Fires of Hatred. Ethnic Cleansing in TwentiethCentury Europe. Harvard ).

33

Einl e i tu n g

Muslime in Ostbosnien ethnische Säuberungen durch. Bezeichnend für den großen Anteil irregulärer Krieger an ethnonationaler Gewalt in Südosteuropa ist schließlich der bis dato in der Forschung auf wenig Aufmerksamkeit gestoßene Fall des zyprischen Bürgerkriegs der Jahre /. Dieser wurde zu einem großen Teil zwischen griechisch-zyprischen und türkisch-zyprischen paramilitärischen Formationen ausgetragen, die den Großteil ihrer Gewaltaktionen gegen die Zivilbevölkerung richteten. Die schlimmsten Exzesse geschahen in Omorfita, einem Vorort der Hauptstadt Nikosia, wo es zu Plünderungen, Vergewaltigungen und Hinrichtungen von turkophonen Muslimen kam. Verantwortlich dafür waren die griechisch-zyprischen paramilitärischen Einheiten unter dem Befehl von Nikos Sampson, die vor ihrer ethnischen Säuberungsaktion noch die irregulären Truppen der Türkischen Widerstandsorganisation (Türk Mukavemet Teşkilatı) in die Flucht getrieben hatten. Aktionen wie diese von Omorfita zielten darauf ab, kompakte türkisch-zyprische Siedlungen in Nikosia aufzulösen und die »unerwünschten« Bevölkerungsteile zur Auswanderung zu zwingen. In allen oben genannten Fällen agierten die paramilitärischen Verbände entweder im direkten Auftrag eines Staates oder in Zusammenarbeit mit regulären Armeen und anderen staatlichen Institutionen oder zumindest mit deren Duldung. Indem Höpken die Balkankriege von / mit dem Bosnien-Krieg der er Jahre vergleicht, konstatiert er bei beiden militärischen Auseinandersetzungen ein »Neben- und Miteinander staatlich initiierter und staatlich geduldeter Kriegsgewalt«. Dementsprechend spricht er bezugnehmend auf »damals wie heute« von einem »Ineinanderfließen von ›regulärer‹ und ›irregulärer‹ Gewalt, welches für die Betroffenen die Grenze zwischen einem kalkulierbaren, gewaltfreien Raum und den Zonen der Kriegsgewalt völlig aufweichte«. Was die Balkankriege betrifft, bestätigt der Carnegie-Bericht von  insofern diese Feststellung, als darin von irregulären Banden berichtet wird, welche die regulären Streitkräfte begleitet hätten. Ähnlich verlief es auch in den postjugoslawischen Kriegen, wo paramilitärische Einheiten mit regulären Truppen Hand in Hand operierten. Die Ursprünge einer staatlich beauftragten bzw. vom Staat wohlwollend geduldeten irregulären Kriegsführung in Südosteuropa können bis in das osmanische Zeitalter zurückverfolgt werden. Die Hohe Pforte hatte – hauptsächlich in  Ther, Die dunkle Seite (wie Anm. ), ; Sundhaussen, Geschichte (wie Anm. ), .  Siehe ausführlicher dazu Richter, Heinz A.: Geschichte der Insel Zypern. Bd. : . Ruhpolding , -; Skordos, Adamantios Theodor: Ethno-Political Violence in Southeast Europe – The Cyprus Case. In: Austrian Review of International and European Law  (), -.  Höpken, »Blockierte Zivilisierung« (wie Anm. ), . Siehe dazu ausführlicher Kapitel .  Carnegie Endowment, Report (wie Anm. .), .  Höpken, »Blockierte Zivilisierung« (wie Anm. ), .

34

S ü d o s te u ro p a al s vö lke r re c h t s p rä g e n d e Ko nf lik tre gio n

den Randzonen ihres Herrschaftsbereichs – bereits im ausgehenden . Jahrhundert auf den Dienst von Briganten zurückgegriffen, um mit deren Hilfe wichtige Bergpässe zu sichern und Steuern einzutreiben. Die im . Jahrhundert hervorgegangenen Nationalstaaten Südosteuropas ahmten dieses Beispiel nach, indem sie Briganten – nicht selten dieselben, die zuvor für den Sultan tätig waren – zuerst im nationalen Befreiungskampf gegen die Osmanen, dann zur Verwirklichung expansionistischer Pläne gegeneinander einsetzten. Demgemäß spricht Höpken von einer »auch nach der Staatsbildung nie klar unterbrochenen Tradition der ›Volksbewaffnung‹«, bei der »nichtstaatliche Gewaltträger in Gestalt sogenannter ›Banden‹« im Dienste staatlicher Gewalt agierten. John Gledhill und Charles King bezeichnen dieses Phänomen als »violent contracting« und exemplifizieren es am Beispiel der Komitadži-Verbände, die im letzten Viertel des . und in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts in Makedonien und in der Dobrudscha (Dobrudža) für ein »Großbulgarien« kämpften und später auch an den Balkankriegen / teilnahmen. Die für Südosteuropa oben analysierten strukturgeschichtlichen Einflussfaktoren produzieren allerdings nicht per se Gewalt. Höpken zufolge ist es deren Zusammenwirken mit »akteurbezogenen Determinanten« und »situativen Faktoren«, das letztendlich in den meisten Fällen in Südosteuropa zum Gewaltausbruch geführt hat. Die akteurbezogenen Determinanten beziehen sich auf die kulturellen Hintergründe eines Konflikts. Insbesondere sind damit »Weltbilder« gemeint, die »Gewaltbereitschaft transportieren oder blockieren, das Ensemble an Diskursen, historische Erinnerungen und symbolische Deutungen, in denen Gewalterfahrungen – heroisiert in Siegen auf Schlachtfeldern oder betrauert als kollektiv erlittenes Schicksal – aufbewahrt werden«. Unter situativen Faktoren versteht Höpken wiederum »Krisen- und Umbruchsituationen, die ein Ambiente schaffen, aus dem heraus gewaltsame Explosionen entstehen können«. Das Ende des Kalten Krieges stellt beispielsweise eine solche von Höpken gemeinte Umbruchssituation dar, in der ältere, durch eine lange Vorgeschichte belastete und von  bis  im »Eisschrank« der Blockkonfrontation tiefgefrorene, inner- wie zwischenstaatliche Konflikte in Südosteuropa aufgetaut  Ebd., .  Gledhill, John/King, Charles: Institutions, Violence, and Captive States in Balkan History. In: Mungiu-Pippidi/van Meurs, Ottomans into Europeans (wie Anm. ), -. Zu den Komitadži-Verbänden in den Balkankriegen siehe ausführlicher Tankova, Vasilka Atanasova: Balkanskite vojni: - g.: pamet i istorija. Sofia ; Londres, Albert: Les Comitadjis ou le terrorisme dans les Balkans. Paris . Für Räume, in denen Gewalt nicht nur durch ein einziges Gewaltmonopol reguliert und ihr Einsatz zu einem großen Teil durch ökonomische Interessen bestimmt wird, siehe Elwert, Georg: Market of Violence. In: Dynamics of Violence. Processes of Escalation and De-Escalation in Violent Group Conflicts. Hg. v. Georg Elwert und Stephan Feuchtwang. Berlin , -.  Höpken, »Blockierte Zivilisierung« (wie Anm. ),  f.  Ebd., .

35

Einl e i tu n g

wurden. Auf der anderen Seite leitete der Umbruch von / auch den Beginn einer neuen Ära in den internationalen Beziehungen ein, in welcher die Bedeutung der Menschenrechte zunahm und dem Völkerrecht als Gegengewicht zu einem US-amerikanischen Unilateralismus und Hegemoniestreben größeres Gewicht beigemessen wurde. Die Rolle von Zeit (global condition) und Raum

Während Höpken die Bedeutung von Krisen- und Umbruchssituationen als fördernden Faktor für Gewaltausbrüche in Südosteuropa hervorhebt, soll hier ein Schritt weitergegangen werden, indem auf die oben formulierte Haupthypothese der vorliegenden Studie noch einmal Bezug genommen wird: Die Berücksichtigung von inner- und außerregionalen Krisen- und Umbruchssituationen sowie von Entwicklungen globalen Ausmaßes erklärt nicht nur die Entstehung gewaltsamer Konflikte in Südosteuropa, sondern auch deren Einfluss auf die Entwicklung von internationaler Staatenpraxis und Völkerrecht. Im Wesentlichen geht es um den Faktor »Rahmenbedingungen«, der in einer Analyse der völkerrechtsprägenden Wirkung der Konfliktgeschichte Südosteuropas mitberücksichtigt werden muss, da die Ausbrüche von Konflikten in diesem Teil Europas häufig mit Umbruchsphasen in den internationalen Beziehungen und in der Entwicklung des Völkerrechts zusammenfielen. Diese Überlegungen bezüglich überregionaler Rahmenbedingungen, deren Berücksichtigung für das Verständnis der hier vorgestellten Einflussgeschichte unerlässlich ist, befinden sich im Einklang mit neuesten globalhistorischen Erklärungsansätzen, welche die »Heraufkunft, Ausgestaltung und Wirkungsweise« einer global condition zum Gegenstand haben. Mit global condition wird der Zustand um die Mitte des . Jahrhunderts definiert, in dem sich »alle Gesellschaften zur Anpassung an die Strukturen der Weltmärkte und Weltpolitiken gezwungen sahen«. Dabei »setzte ein längerer Prozess der Verwandlung frühneuzeitlicher Imperien in Nationalstaaten mit (teilweise riesigen) imperialen Erzeugungsräumen ein«, der »zum Rahmen wurde, in dem viele Gesellschaften des . Jahrhunderts sich der wachsenden globalen Verflechtung und den Zwängen der  Die »Eisschrank«-Metapher stammt von Jacques Rupnik, zit. n. Troebst, Stefan: Politische Entwicklungen in der Neuzeit. In: Hatschikjan/Troebst, Südosteuropa (wie Anm. ), -, hier .  Brand, Ulrich: Internationale Politik. In: Globalgeschichte, -. Hg. v. Reinhard Siedler und Ernst Langthaler. Wien [u. a.] , -, hier -.  Vgl. z. B. Hadler, Frank/Middell, Matthias: Transnationalisierung in Ostmitteleuropa bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. In: Handbuch einer transnationalen Geschichte Ostmitteleuropas. Bd. : Von der Mitte des . Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. v. Frank Hadler und Matthias Middell. Göttingen [u. a.] , -, hier -, Zitat .

36

S ü d o s te u ro p a al s vö lke r re c h t s p rä g e n d e Ko nf lik tre gio n

heraufziehenden Weltmärkte stellten«. Die Herausbildung eines neuen globalen Rahmens als Resultat einer schon im Laufe des . Jahrhunderts erfolgten Zunahme transkultureller Beziehungen ging Hand in Hand mit einem komplexen Prozess des nation-building, »der weit mehr als den Umbau der staatlichen Strukturen einschloss« und »viele Facetten« hatte, wie etwa den »Aufbau einer bis in die Kapillargefäße der Gesellschaft reichenden Verwaltung und eines auf die Nation ausgerichteten Bildungssektors, de[n] Ausbau von Infrastruktur und Wirtschaftspolitik in einem vor allem national gedachten Rahmen [sowie] die Ausrichtung sozialer Gruppen auf die Nation als Fixpunkte ihrer Identifikationen und die Herausbildung einer weit ausdifferenzierten kulturellen Sphäre, die auf nationale Ursprünge und gemeinsame nationale Werte, Symbole rekurrierte«. Diese um die Mitte des . Jahrhunderts entstandenen Rahmenbedingungen der global condition sind für die hier untersuchte Einflussgeschichte von ebenso großer wie vielfältiger Bedeutung: Zum einen wurde im osmanischen Südosteuropa und habsburgischen Ostmitteleuropa durch den Zustand der global condition ein Prozess der Entstehung von Nationalstaaten und der Nationalisierung von Herrschaftsterritorien in Gang gesetzt, zum anderen haben »die gewaltigen technischen und wirtschaftlichen Entwicklungen«, die sich im besagten Kontext der global condition abspielten, »zu einer ungeheuren Dichte und teilweise neuen Qualität der zwischenstaatlichen Rechtsbeziehungen geführt«. Anders gesagt: Im Hinblick auf die Prozesse der »Vernationalstaatlichung« Südosteuropas und der »Entwicklung und Ausdifferenzierung des Völkerrechts im . Jahrhundert« ist eine Gleichzeitigkeit festzustellen, die im hier skizzenhaft    



Ebd., -. Ebd. Ziegler, Völkerrechtsgeschichte (wie Anm. ), . Konrad Clewing hält fest, dass der Phase der »Vernationalstaatlichung« in Südosteuropa ein Zeitabschnitt von der Französischen Revolution bis  vorging, in dem die Region »wie nie zuvor gesamteuropäisch eingebunden« war. Zudem unterstreicht er »die große Bedeutung«, die die einzelnen südosteuropäischen Nationalgeschichtsschreibungen »dieser verflechtungsgeschichtlichen Achsenzeit um « beimessen. Clewing, Staatensystem (wie Anm. ),  f. Matthias Schulz fasst die »bedeutenden Fortschritte« in diesem Bereich, die in enger Verbindung mit »tief greifenden wirtschaftlichen und sozialen Transformationsprozessen« stattfanden, wie folgt zusammen: »Zu nennen sind etwa die Errichtung der ersten genuin multilateralen Vertragsordnung auf dem Wiener Kongress, die Weiterentwicklung und Kodifizierung des diplomatischen Protokolls und die Errichtung von internationalen Reglements bzw. Verwaltungsorganen für die Schifffahrt auf Rhein, Donau, Kongo, Niger und auf dem Suez-Kanal. Auf der Haben-Seite sind außerdem zu verbuchen die durch das Europäische Konzert ausgeübte gemeinsame Verantwortung der Großmächte für den Frieden in Europa, die teils erfolgreiche Anwendung und Weiterentwicklung von friedlichen Mitteln der Streitbeilegung in Form der (kollektiven) Mediation, der Schiedsgerichtsbarkeit und der internationalen Enquête sowie die Kodifizierung solcher Verfahren auf den Haager

37

Einl e i tu n g

umrissenen Kontext der global condition einzuordnen ist. Ebenfalls zeitgleich und im Rahmen der global condition erlangte das Phänomen der Internationalisierung seit Mitte des . Jahrhunderts durch die Schaffung zahlreicher internationaler Organisationen, die dem Aufbau von grenzüberschreitenden Kontakten und transnationalen Netzwerken dienten und die Zirkulation von Ideen, Informationen und Wissen beförderten, eine neue Qualität. Im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit wird ausführlich darauf eingegangen, wie die Ereignisse in Südosteuropa in der Übergangsphase von der imperialen zur nationalstaatlichen Ordnung zum Gegenstand einer sich zusehends veränderten internationalen Staatenpraxis und Völkerrechtsgemeinschaft wurden. Im Rahmen einer globalgeschichtlichen Betrachtung wird hier auch der große Einfluss der gewalttätigen Auflösung des sozialistischen Jugoslawiens in den er Jahren auf die internationale Staatenpraxis und das Völkerrecht in engster Verbindung mit außerregionalen, also außerhalb Südosteuropas vollzogenen Entwicklungen untersucht. Die Transformation der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen ab  im Zuge der Herausbildung einer neuen Weltordnung weist eindeutig Eigenschaften eines »globalen Moments« auf, den Matthias Middell wie folgt definiert: Hier geht es zunächst um eine zeitlich ungewöhnlich verdichtete (also faktisch synchrone) Beobachtung von Erschütterungen der Stabilität von Gesellschaften bzw. Staaten durch Revolutionen, Rebellionen, Kriege, Bürgerkriege, Staatsstreiche und öffentliche Unruhen. Diese Beobachtung führt mit gewisser Plausibilität Zeitgenossen wie spätere Interpreten zu der Vermutung einer mehr oder minder gemeinsamen Verursachung oder jedenfalls zu der Idee, diese ungewöhnliche Häufung von Krisen in verschiedenen Ländern und Weltregionen innerhalb eines kurzen Zeitraumes sei der Indikator für einen längerfristigen Transformationsprozess. Wie im letzten Kapitel dieser Studie gezeigt wird, gingen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Aufstieg der USA zur alleinigen Supermacht viele Zeitgenossen davon aus, dass ein weltpolitischer Transformationsprozess in Gang gesetzt worden sei, an dessen Ende die globale Durchsetzung der westlichen Grundprinzipien von Freiheit und Menschenrechten stünde. So auch der zen von  und .« Schulz, Matthias: Macht, internationale Politik und Normenwandel im Staatensystem des . Jahrhunderts. In: Lappenküpper/Marcowitz, Macht (wie Anm. ), -, hier .  Naumann, Katja: Zwischen nationaler und transnationaler Geschichtsschreibung: Der ostmitteleuropäische Internationalismus vor dem Ersten Weltkrieg. In: Hadler/ Middell, Handbuch (wie Anm. ), -, hier .  Middell, Matthias: Was ist ein globaler Moment? Überlegungen anhand des Jahres . In: Leipziger Zugänge zur rechtlichen, politischen und kulturellen Verflechtungsgeschichte Ostmitteleuropas. Hg. v. Dietmar Müller und Adamantios Theodor Skordos. Leipzig , -, hier .

38

S ü d o s te u ro p a al s vö lke r re c h t s p rä g e n d e Ko nf lik tre gio n

seinerzeitige US-amerikanische Präsident George Bush senior, der im März  nach der erfolgreichen Militärintervention gegen den Irak davon überzeugt war: Until now, the world we have known has been a world divided – a world of barbed wire and concrete block, conflict and cold war. Now, we can see a new world coming into view […]. A world where the UN, freed from cold war stalemate, is poised to fulfill the historic vision of its founders. A world in which freedom and respect for human rights find a home among all nations. […] The Gulf War put this new World to its first test. And my fellow Americans, we passed this test. Unabhängig davon, ob sich Anfang der er Jahre tatsächlich eine neue Weltordnung herausgebildet hat, löste allein der Glaube daran Vorstellungen und Debatten über eine demokratische Weltrevolution aus, die sich auch auf das Völkerrecht auswirkten. Im Mittelpunkt der völkerrechtlichen Umwälzungen stand die Zurückdrängung des Grundprinzips der staatlichen Souveränität durch das aufkommende Ideal einer universellen Geltung der Menschenrechte als handlungsweisende Maxime der internationalen Politik. Die vorliegende Studie geht davon aus, dass nur in diesem Kontext des »globalen Moments« der anbrechenden er Jahre der völkerrechtsprägende Einfluss des Jugoslawienkonflikts analysiert werden kann. Bei der Analyse der Einflussnahme des südosteuropäischen Konfliktgeschehens auf völkerrechtliche Entwicklungen der letzten zwei Jahrhunderte muss schließlich der Prägefaktor »Raum« in Erwägung gezogen werden. Gemeint sind damit die große geopolitische Bedeutung Südosteuropas und die geographische Nähe zu den euroatlantischen Zentren völkerrechtlicher Entwicklung. Kurzum: Das durch besondere geschichtsregionale Strukturmerkmale begünstigte Konfliktgeschehen in Südosteuropa wirkte sich nur deshalb so prägend auf die Entwicklung des Völkerrechts aus, weil es erstens mit anderen, außerhalb der Region stattfindenden politischen, ökonomischen oder kulturellen Ereignissen zeitlich zusammenfiel bzw. durch diese ausgelöst wurde und weil zweitens Südosteuropas geopolitische Bedeutung in unterschiedlichen europäischen und globalen Machtkonstellationen konstant groß gewesen ist. Dieses Modell des völkerrechtsprägenden Zusammenspiels der drei Faktorenebenen »Strukturen«, »Rahmenbedingungen« und »Raum« soll in der vorliegenden Studie anhand von fünf Fallbeispielen aus dem »langen« . Jahrhundert, der Zwischenkriegszeit und dem ausgehenden . Jahrhundert dargestellt werden. An dieser Stelle ist es jedoch wichtig zu unterstreichen, dass diese Studie nicht von einem übermäßig gewalttätigen Südosteuropa im Vergleich zu anderen Regi Bush, George: Address Before a Joint Session of the Congress on the Cessation of the Persian Gulf Conflict, March , , zit. n. ebd.  Hillgruber, Christian: Macht und Recht in den internationalen Beziehungen. In: Lappenküpper/Marcowitz, Macht und Recht (wie Anm. ), -, hier  f.

39

Einl e i tu n g

onen Europas oder der Welt ausgeht. Auch wird hier keineswegs Gewalt zu einem prägenden Strukturmerkmal der Geschichtsregion Südosteuropa ernannt, geschweige denn der südosteuropäischen Kultur und Lebensart irgendwelche atavistischen oder barbarischen Eigenschaften angeheftet. In diesem Konzeptualisierungsversuch geht es ausschließlich um das Aufzeigen der Bedeutung der zeitlichen und räumlichen Dimensionen für die Einschätzung und Erklärung der völkerrechtsprägenden Wirkung des südosteuropäischen Konfliktgeschehens – auf keinen Fall um die Wiederbelebung eines anachronistischen »Balkanismus«, dessen Existenz sowohl innerhalb der Region selbst als auch in westlichen Diskursen Maria Todorova in ihrem bahnbrechenden Buch »Imagining the Balkans« entlarvt hat. Ethnisch motivierte und staatlich initiierte Gewalt gab es im . und . Jahrhundert nicht nur in Südosteuropa, und die Ausmaße gewaltbedingter humanitärer Katastrophen in anderen Teilen des europäischen Kontinents sind mindestens vergleichbar mit denen in seinem südöstlichen Teil, gemessen in absoluten Zahlen sogar weit größer als jene, die etwa durch die Balkankriege von / oder während des Zerfalls Jugoslawiens in den er Jahren verursacht wurden. Das Phänomen ethnonational begründeter Gewalt ist also keinesfalls ein negatives Alleinstellungsmerkmal Südosteuropas. Was Südosteuropa in dieser Hinsicht wesentlich vom übrigen Europa unterscheidet, ist, dass dort ethnonationale Gewalt in einer ausgeprägten Form früher in Erscheinung trat, was wiederum mit der Durchsetzung im spät- und postosmanischen Donau-Balkan-Raum eines – folgt man der Typologisierung verschiedener Nationalismen Benedict Andersons – auf sprachlich-kulturellen Kriterien basierenden, in seinem Verständnis von Nation ethnisch eingeengten Volksnationalismus in enger Verbindung steht. Allerdings  Todorova, Maria: Imagining the Balkans, Oxford .  Lediglich erwähnt seien an dieser Stelle die stalinistischen Verbrechen gegen nationale Minderheiten in der Zwischenkriegszeit und während des Zweiten Weltkriegs; die Westfront im Ersten Weltkrieg, an der Millionen von Menschen bei aussichtslosen Offensiven gegen verbarrikadierte Schützengräben ihr Leben ließen; der Völkermord an den Juden; sowie die Flucht, Vertreibung und Umsiedlung von Millionen Deutschen aus den früheren Ostgebieten des Deutschen Reichs und dem Sudetenland am Ende des Zweiten Weltkriegs, die von den Alliierten teils gebilligt, teils gar befürwortet wurden. Vgl. u. a. Naimark, Stalin (wie Anm. ); Raphael, Lutz: Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. München ; Baberowski, Jörg: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt. . Aufl. München ; Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des . Jahrhunderts. . Aufl. München  (Originalausgabe: Age of Extremes. The Short Twentieth Century -. London ); Douglas, R. M.: »Ordnungsgemäße Überführung«: Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. München  (Originalausgabe: Orderly and Human: The Expulsion of the Germans after the Second World War. New Haven ); Müller, Dietmar: Das »lange« . Jahrhundert der »ethnischen Säuberungen« in Europa. In: Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas  (), -.  Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. ., erw. Aufl. Frankfurt/M.  (Originalausgabe: Imagined Communities Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London ).

40

Zu M e t h o d o l o gi e , Q u e ll e n u n d G li e d e r u n g d e r Stu di e

stellen der Volksnationalismus und die daraus resultierende angestrebte Nationalstaatlichkeit auf ethnonationaler Grundlage ebenso keine Alleinstellungsmerkmale Südosteuropas gegenüber dem westlichen Teil des europäischen Kontinents dar, und die Berufung allein darauf reicht als Erklärung für das frühere Eintreten ethnonationaler Gewalt in dieser Region nicht aus. Viel entscheidender scheint in dieser Hinsicht die Tatsache zu sein, dass Südosteuropa in seiner Hroch’schen Drei-Phasen-Entwicklung »Nationalbewegung – Nationalstaat – Nation« einen besonderen Weg gegangen ist. Dieser war, wie bereits weiter oben geschildert, bestimmt a) durch die sezessionistische Entstehung von Nationalstaaten statt der in Westeuropa erfolgten inneren Umwandlung bereits bestehender Staatsgebilde; b) durch revolutionäre Nationalbewegungen, die ursprünglich nur von sehr kleinen Eliten getragen und nicht mal ansatzweise auf eine breite Basis politisch loyaler Bürger zurückgreifen konnten; und nicht zuletzt c) durch die Verfolgung territorialer Expansionspläne bezüglich Gebieten, die durch eine ethnische Vielfalt geprägt waren. Zusammengefasst: Zwar ist der Ethnonationalismus keineswegs ein auf den Südosten Europas zu beschränkendes Phänomen, dennoch sind die Bedingungen, unter denen er sich im Balkan-Donau-Raum im »langen« . Jahrhundert zum dominierenden politischen Ordnungssystem entwickelt hat, als regionalspezifisch zu betrachten. Zu Methodologie, Quellen und Gliederung der Studie Vorgehensweise: Fünf Fallbeispiele

Die vorliegende Arbeit verfolgt das übergeordnete Ziel, den prägenden Einfluss der Geschichtsregion Südosteuropa auf die Weiterentwicklung des modernen Völkerrechts aufzuzeigen. Anhand von fünf zeitlich, inhaltlich und in ihrer Schwerpunktsetzung unterschiedlichen Fallbeispielen wird in den darauffolgenden Kapiteln nach Art und Ausmaß des Einflusses sowie nach den internationalen respektive globalen Rahmenbedingungen gefragt, innerhalb derer die Einflussnahme stattgefunden hat. Mit den fünf Fallbeispielen wird der Zeitraum vom beginnenden . Jahrhundert bis zum ausgehenden . Jahrhundert abgedeckt. Auch wenn es an der fünfgliedrigen Kapitelstruktur nicht auf Anhieb erkennbar ist, wird die Zeit des Zweiten Weltkriegs und der darauffolgenden bipolaren Weltordnung in die Untersuchung stark einbezogen. Mit Ausnahme des  Müller, Dietmar: Staatsbürger auf Widerruf. Juden und Muslime als Alteritätspartner im rumänischen und serbischen Nationscode. Ethnonationale Staatsbürgerschaftskonzepte -. Wiesbaden ,  f.  Zum Drei-Phasen-Modell siehe Hroch, Miroslav: Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas. Eine vergleichende Analyse zur gesellschaftlichen Schichtung der patriotischen Gruppen. Prag .  Vgl. dazu Zelepos, Die Ethnisierung (wie Anm. ), -.

41

Einl e i tu n g

ersten, sich auf die Orientalische Frage beziehenden Kapitels dokumentieren die hier vorgestellten Fallbeispiele Wirkungen und Nachwirkungen, die entweder bis tief in die Zeit des Kalten Krieges hineinragen oder ihre Ursprünge in dieser Epoche haben. Schon die Verwendung des Begriffs »Fallbeispiele« zur Bezeichnung der fünf Kapitel lässt deutlich werden, dass die vorliegende Arbeit nicht auf die Darstellung aller Details abzielt und keineswegs einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Wie bereits bei der Formulierung der Hypothese erläutert, wird hier im Wesentlichen der Fokus auf zwei Dimensionen der südosteuropäischen Einflussnahme auf das Völkerrecht gelegt, nämlich auf a) jene der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen infolge der Reaktion der Staatengemeinschaft auf Konfliktlagen und Krisensituationen in Südosteuropa sowie b) der Beteiligung südosteuropäischer und international gut vernetzter Rechtsgelehrter an derartigen Verrechtlichungsprozessen und dadurch an der Entwicklung des Völkerrechts insgesamt: Der Grieche Nikolaos Politis (-), der Rumäne Vespasian (Vespasien) Pella (-), der Serbe Toma Živanović (-) oder der Bulgare Nissim Mevorach (-) können in diesem Zusammenhang als Beispiele genannt werden. Einzelne Aspekte ihres international wirksamen Handelns werden in der vorliegenden Arbeit im Kontext der genannten Schwerpunktsetzung auf die Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf südosteuropäisches Konfliktgeschehen ausführlich besprochen. Anders aber als in Studien mit einem prosopographischen Zugang steht hier die Frage nach Schlüsselerlebnissen in den Biographien dieser Persönlichkeiten, die für deren Werdegang und Denken entscheidend waren, nicht im Mittelpunkt des Interesses und der Analyse. Auch wird in dieser Arbeit der durchaus berechtigten Frage nach den Langzeitwirkungen einer im östlichen Europa seit der Gründung der Sowjetunion und vor allem in der Zeit der Blockkonfrontation entwickelten sozialistischen Völkerrechtslehre nicht nachgegangen. Obgleich z. B. die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien auf den Gebieten des Minderheitenschutzes und des Selbstbestimmungsrechts der Völker wichtige Akzente gesetzt hat und »an der Weiterentwicklung des angeblich ›bourgeoisen‹ VN-Systems aktiv mitwirken und sich an der weiteren Verrechtlichung der internationalen Beziehun-

 Vgl. z. B. Bendikaitė, Eglė: Mittler zwischen den Welten. Shimshon Rosenbaum: Jurist, Zionist, Politiker. In: Osteuropa  () -, -; Müller, Dietmar: Staaten als Opfer, Staaten als Täter. Das Attentat von Marseille  und seine völkerrechtlichen Folgen. In: Mitropa (), -; Troebst, Stefan: Lemkin and Lauterpacht in Lemberg and Later: Pre- and Post-Holocaust Careers of Two East European International Lawyers. In: Institut für die Wissenschaften vom Menschen/Institute for Human Sciences, , http://www.iwm.at/transit/transit-online/lemkin-andlauterpacht-in-lemberg-and-later-pre-and-post-holocaust-careers-of-two-easteuropean-international-lawyers (letzter Zugriff: ..).

42

Zu M e t h o d o l o gi e , Q u e ll e n u n d G li e d e r u n g d e r Stu di e

gen beteiligen konnte«, muss diese Dimension von Einflussnahme aufgrund ihrer andersartigen Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte hier außer Acht gelassen werden. Indem in der vorliegenden Arbeit signifikante Beispiele einer südosteuropäischen Prägungsgeschichte des modernen Völkerrechts, die einem bestimmten Schema zuzuordnen sind, vorgestellt werden, wird beabsichtigt, weitere empirische Arbeiten auf dem Gebiet der südosteuropäischen Prägungsgeschichte des modernen Völkerrechts anzustoßen. Mit dieser Studie, welche die Reaktion von internationaler Gemeinschaft und Völkerrechtswissenschaft auf das südosteuropäische Konfliktgeschehen in den Fokus rücken lässt, soll keine abschließende Betrachtung der Thematik stattfinden, sondern es sollen die Weichen für zukünftige Forschungen zu anderen, hier vernachlässigten Dimensionen gestellt werden. Südosteuropa im globalen Kontext

Die methodologische Grundlage der vorliegenden Arbeit bildet, wie bereits erwähnt, das geschichtsregionale Forschungsparadigma. Hierbei wird die Geschichtsregion Südosteuropa, wie sie oben nachgezeichnet wurde, in den globalen Kontext einer zunehmenden Verrechtlichung der internationalen Beziehungen sowie einer Verwissenschaftlichung, Institutionalisierung und Professionalisierung der Völkerrechtsdisziplin gestellt. In Anbetracht dieses Zugangs reiht sich die Studie in eine Südosteuropäische Geschichte ein, die von ihren Vertreterinnen und Vertretern verstärkt »als global verflochtene Regionalwissenschaft« verstanden und praktiziert wird. Diese Herangehensweise baut auf der Prämisse auf, dass »die spezifischen Ausprägungen der historischen Entwicklungen« in Südosteuropa, die »in der Regel sehr komplexer Natur« waren, »durch größere europäische wie globale Prozesse und Beziehungen« stark beeinflusst wurden. Hier wird diese Perspektive der engen Verflechtung globaler Prozesse und Entwicklungen in Südosteuropa übernommen. Aber sie erfährt insofern eine Erweiterung, als in der vorliegenden Studie Einflussprozesse, die sich in umgekehrter Richtung entwickelten, ebenso Berücksichtigung finden, ja im Mittelpunkt der Analyse stehen. Konkret bedeutet dies, dass hier ein neues Gesamtbild dargestellt wird, in dem Ereignisse in Südosteuropa nicht nur als Folge außerregionaler Abläufe, sondern selbst als Auslöser für neue Vorgänge auf internationaler Ebene oder als Katalysatoren bei der Entwicklung globaler Phänomene präsentiert werden.  Trültzsch, Arno: Völkerrecht und Sozialismus. Sowjetische versus jugoslawische Perspektiven. In: Müller/Skordos, Leipziger Zugänge (wie Anm. ), -, hier .  Grandits, Hannes: Südosteuropäische Geschichte als global verflochtene Regionalwissenschaft. Aktuelle Perspektiven des Berliner Wissenschaftsstandortes. In: Südosteuropäische Hefte  () , -.  Ebd., .

43

Einl e i tu n g

Quellen

Angesichts des Zieles der vorliegenden Arbeit, sowohl die Staatengemeinschaft als auch die Völkerrechtswissenschaft in den Blick zu nehmen, wurden hier Quellen herangezogen, die bei all ihrer Unterschiedlichkeit gemein haben, dass sie einen direkten oder indirekten Einfluss auf den Völkerrechtserzeugungsprozess haben: a) völkerrechtliche Verträge, b) Gerichtsurteile, c) Beschlüsse internationaler Organisationen (z. B. Resolutionen der Vereinten Nationen) und d) völkerrechtliche Abhandlungen prominenter und einflussreicher Rechtsgelehrter. Ergänzt wurde dieses »primäre« Quellenmaterial durch eine umfangreiche völkerrechtliche, historiographische und politikwissenschaftliche Sekundärliteratur sowohl in den internationalen Wissenschaftssprachen wie auch in ost- und südosteuropäischen Sprachen. Aufbau

Im ersten Kapitel wird dargelegt, wie die Orientalische Frage als inner- und außerregionaler Konfliktknoten wichtige Anstöße für die Weiterentwicklung von staatlicher Praxis und völkerrechtlichen Normen gab. Bei der Untersuchung dieses Sachverhalts kommt eine duale Herangehensweise zur Anwendung: Der Fokus richtet sich zum einen auf die europäische Großmachtpolitik im Umgang mit dem vor allem in Südosteuropa in seiner staatlichen Integrität bedrohten Osmanischen Reich. Zum anderen steht das sich im . Jahrhundert im Umbruch befindende Völkerrecht, hierbei vor allem die in vielerlei Hinsicht neue Wege beschreitenden Völkerrechtler, im Mittelpunkt des Interesses. Insbesondere soll gezeigt werden, wie international führende Völkerrechtler die Staatenpraxis in Bezug auf die Orientalische Frage in ihre Abhandlungen einbezogen und dabei neue Doktrinen und Grundsätze formulierten. So wird etwa in Kapitel  die große Bedeutung dokumentiert, die den militärischen Eingriffen der europäischen  Die Völkerrechtslehre unterscheidet zwischen den »echten Völkerrechtsquellen«, die selbst Völkerrechtsregeln hervorbringen, und den »Rechtserkenntnisquellen«, »welche als völkerrechtliche Hilfsmittel die Ermittlung von Völkerrechtsregeln gestatten« und »Rechtsquellen, im weiteren, uneigentlichen Sinn« sind. In die erste Kategorie fallen die völkerrechtlichen Verträge, das Völkergewohnheitsrecht und die sogenannten allgemeinen Rechtsgrundsätze des Völkerrechts. Zu den »Rechtserkenntnisquellen« gehören u. a. auch nationale und internationale Gerichtsentscheidungen sowie die Äußerungen der Völkerrechtslehre. Beschlüsse internationaler Organisationen sind wiederum keine mittelbaren Rechtserzeugungsinstrumente, dennoch können sie »als Katalysatoren bei der Entwicklung des Völkerrechts wirken«, indem sie sich oftmals »in der Zwischenzone von bereits anerkannten Völkerrechtssätzen und noch nicht geltenden Normen« bewegen; demzufolge werden sie und andere vergleichbare Quellen des Völkerrechts als soft law bezeichnet. Herdegen, Völkerrecht (wie Anm. ),  f.

44

Zu M e t h o d o l o gi e , Q u e ll e n u n d G li e d e r u n g d e r Stu di e

Großmächte im osmanischen Südosteuropa von Seiten prominenter Völkerrechtler in deren zeitgenössischen Überlegungen über die Legitimität von Interventionen im Namen der Humanität eingeräumt wurde. Im selben Kapitel wird auch die Rolle des Pariser Friedens von  und der Berliner Kongressakte von , welche die Ergebnisse von militärischen Auseinandersetzungen im Südosten Europas besiegelten, bei der Weiterentwicklung völkerrechtlicher Normen erörtert. Kapitel  beschäftigt sich mit der Rechtsprechung des  seine Tätigkeit aufgenommenen Ständigen Internationalen Gerichtshofs (Permanent Court of International Justice – PCIJ) in Den Haag. Hierbei liegt der Fokus auf der großen völkerrechtlichen Bedeutung dreier Stellungnahmen des neuen »Weltgerichts« zu südosteuropäischen Streitfällen, die den Richtern des PCIJ vom Völkerbundsrat zur Begutachtung vorgelegt wurden. Insbesondere wird der prägende Einfluss dieser drei Stellungnahmen auf die Weiterentwicklung eines auf internationaler Ebene verankerten Minderheitenschutzes analysiert, wobei die Analyse nicht nur die Zwischenkriegszeit, sondern auch die ab Mitte der er Jahre eingesetzten Bestrebungen in den Vereinten Nationen zur Kodifikation gesonderter minderheitenschutzrechtlicher Bestimmungen betrifft. Dem Hauptteil von Kapitel  vorangestellt wurde die Schilderung des im Rahmen des Völkerbunds installierten und auf die östliche Hälfte Europas zugeschnittenen Minderheitenschutzsystems. Im anschließenden dritten Kapitel werden die Nachwirkungen der im Januar  zwischen Griechenland und der Türkei abgeschlossenen Konvention von Lausanne zum gegenseitigen Bevölkerungsaustausch auf die internationale Staatenpraxis und das Völkerrecht in der Zwischenkriegszeit, während des Zweiten Weltkriegs und in der Zeit des Ost-West-Gegensatzes besprochen. Einleitend wird in Kapitel  gezeigt, dass die Konvention von Lausanne nicht das erste Abkommen dieser Art war, sondern auf etlichen, ihr vorangegangenen, zwischen südosteuropäischen Staaten abgeschlossenen Vereinbarungen aufbaute. Diese sich auf den Südosten Europas beschränkende Vorgeschichte zwischenstaatlicher Bevölkerungstransfer-Abkommen hängt wiederum unmittelbar mit der Tatsache zusammen, dass im »langen« . Jahrhundert das Phänomen der Zwangsmigration bzw. der ethnischen Säuberung vor allem in Südosteuropa und im Kaukasus räumlich zu verorten ist. Wie Michael Schwartz anmerkt, »erfolgte die erste ethnoreligiöse ›Säuberung‹ eines ganzen Staates bereits ein volles Jahrhundert vor Lausanne – in Griechenland zwischen  und «. Nach der Vorgeschichte südosteuropäischer Transfer-Abkommen wird in Kapitel  die diplomatische Entstehungsgeschichte der Lausanner Konvention rekonstruiert; hierbei gilt ein besonderes Interesse der Frage nach den Urhebern dieses Vertragstextes. Anschließend wird im Hauptteil dieses Kapitels gezeigt, wie das Abkommen von Lausanne von Umsiedlungsverfechtern unterschiedlicher poli Schwartz, Michael: Ethnische »Säuberungen« in der Moderne: Globale Wechselwirkungen einer Politik der Gewalt. In: Comparativ  () , -, hier .

45

Einl e i tu n g

tischer Couleur als vermeintlich erfolgreiches Modell zur Lösung ethnonationaler Konfliktknoten in Palästina, Ostmitteleuropa und im indischen Subkontinent propagiert und bei diversen Planungen als vergleichender Maßstab herangezogen wurde. Kapitel  beschreibt die Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft auf das Attentat von Marseille, das  kroatische und makedonische Separatisten auf den jugoslawischen König Alexander I. Karađorđević und den französischen Außenminister Louis Barthou verübten. Diese Reaktion konzentrierte sich auf den Versuch, das in der Zwischenkriegszeit vor allem in Südosteuropa verbreitete Phänomen des Terrorismus (als Folge ethnopolitischer Konflikte) durch dessen erstmalige Erfassung als völkerstrafrechtlichen Tatbestand und die parallele Errichtung eines internationalen Strafgerichtshofs zu unterbinden. Zunächst wird in diesem Kapitel gezeigt, dass seit dem letzten Drittel des . Jahrhunderts von Seiten international agierender Juristen Bemühungen stattfanden, Strafrechtsnormen im Völkerrecht durchzusetzen und in diesem Zusammenhang auch eine völkerrechtliche Strafgerichtsbarkeit einzuführen. Die Verrechtlichung solcher Überlegungen prallte aber an der im Souveränitätsgedanken verankerten Abwehrposition der Staaten sowie der negativen Haltung einflussreicher Militärs ab. Das Attentat von Marseille und vor allem die aus der Weigerung Italiens, die Attentäter auszuliefern, resultierenden diplomatischen Komplikationen verhalfen dem in seiner Entstehung befindenden Völkerstrafrecht zu einem ersten kleinen Durchbruch. Zum ersten Mal signalisierte die internationale Staatengemeinschaft Bereitschaft, die Etablierung einer individuellen völkerstrafrechtlichen Verantwortlichkeit sowie die Errichtung eines internationalen Strafgerichtshofs in Erwägung zu ziehen. Das Ergebnis waren zwei unter der Ägide des Völkerbunds zustande gekommene Konventionen zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs. Im Hauptteil von Kapitel  wird gezeigt, dass es vor allem die von terroristischen Angriffen betroffenen ostmittel- und südosteuropäischen Staaten waren, die bei der Ausarbeitung der Konventionen federführend agierten. Die Konventionen traten zwar nie in Kraft, dennoch hinterließen sie tiefe völkerrechtliche Spuren. Hieran anknüpfend wird geschildert, wie der das Verhältnis zwischen internationaler Gerichtsbarkeit und nationaler Jurisdiktion regelnde und erstmals in den beiden Konventionen von  vorkommende Komplementaritätsgrundsatz ab den er Jahren bis zur Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal Court – ICC) zu Beginn des . Jahrhunderts immer wieder Gegenstand von Debatten in der UN Völkerrechtskommission war und sich im Zentrum von völkerstrafrechtlichen Überlegungen befand. Schließlich widmet sich Kapitel  den Neuerungen im Völkerrecht und auf dem Gebiet der internationalen Konfliktregulierung, die durch die postjugoslawischen Kriege der er Jahre angestoßen wurden. Diese sind dermaßen zahlreich und vielfältig, dass hier weder alle ausführlich besprochen noch deren Wirkmächtigkeit in ihrer kompletten Breite und Tiefe erfasst werden können. 46

Zu M e t h o d o l o gi e , Q u e ll e n u n d G li e d e r u n g d e r Stu di e

Nichtsdestoweniger findet im letzten Kapitel dieser Studie der Versuch statt, anhand der Auswahl von Beispielen aus verschiedenen Bereichen ein repräsentatives Bild davon zu zeichnen. Hierbei erstrecken sich die Beispiele von der Bedeutung des Ad-hoc-Tribunals für Jugoslawien für die Gründung des ICC über die normsetzende Qualität seiner Rechtsprechung bis hin zur kosovarischen Anerkennungsfrage. Vor der Darstellung der prägenden Wirkung des Konflikts im zerfallenden Jugoslawien auf staatliche Praxis und Völkerrecht erfolgt allerdings eine geschichtsregionale Kontextualisierung dieses aufgrund der Gewaltexzesse gegen die Zivilbevölkerung die Weltöffentlichkeit schockierenden Ereignisses, indem strukturelle Ähnlichkeiten und Unterschiede zu früheren militärischen Auseinandersetzungen in Südosteuropa aufgezeigt werden. Hinweise zur Form

Alle deutschsprachigen Zitate aus Texten des . und frühen . Jahrhunderts wurden der Leserfreundlichkeit halber der neuen Rechtschreibung angepasst. Auf die Doppelnennung femininer und maskuliner Formen (z. B. Völkerrechtler und Völkerrechtlerinnen) als Form der sprachlichen Gleichstellung wurde aus sprachökonomischen Gründen verzichtet. Stattdessen werden Kurzformen im Plural verwendet (Autoren, Experten etc.). Die Wiedergabe von Orts-, Personennamen und Literaturangaben aus dem Kyrillischen erfolgt nach der wissenschaftlichen Transliteration, die von griechischen und osmanischen/türkischen Eigennamen orientiert sich indes aus Gründen der besseren Lesbarkeit weitgehend an landesüblichen Transkriptionsformen. Für südosteuropäische Ortsnamen werden in der Regel die historischen bzw. jeweils zeitgenössischen Bezeichnungen (z. B. Smyrna, Konstantinopel, Selânik, Üsküp) verwendet, während die aktuell gebräuchlichen Namensformen (z. B. Izmir, Istanbul, Thessaloniki, Skopje) oder »parallele« Bezeichnungen (z. B. Famagusta/Ammochostos) zusätzlich in Klammern angeführt werden. Hierbei ließ sich aufgrund der besonders dynamischen Geschichte des modernen Südosteuropas manche Inkonsequenz nicht vermeiden. Bei der Angabe indirekter Primärquellen (Sekundärzitate) wurde die ursprüngliche Zitierweise aus der Sekundärliteratur beibehalten.

47

1. Die Orientalische Frage und die Weiterentwicklung des Völkerrechts Vorbemerkung

Südosteuropa war, wie schon in der Einleitung angedeutet, im »langen« . Jahrhundert aufgrund seiner geopolitischen Situation als Land- und Meeresbrücke zum Nahen Osten und zur Levante eine umkämpfte Region zwischen den Großmächten. Während Russland durch die Unterstützung revolutionärer Nationalbewegungen auf dem Balkan und »humanitäre« Militärinterventionen auf den Zerfall des Osmanischen Reiches abzielte, versuchten Wien, Paris und vor allem London, dessen Desintegration durch politische, ökonomische und administrative Reformen aufzuhalten. Die Münchner Südosteuropahistorikerin Marie-Janine Calic hat in ihrer einem globalhistorischen Zugang verpflichteten Studie über die Geschichte Südosteuropas die konfliktreiche Interessenkonstellation bezüglich dieser Region wie folgt konzise dargestellt: Die Grundkonstellation des gefährlichen Mächtegegensatzes, der noch das gesamte . Jahrhundert prägte, war in aller Klarheit erkennbar: Russlands Drang, die Meerengen zu kontrollieren und ins Mittelmeer vorzustoßen, Englands und Frankreichs Sorge, dies könne die Handelswege zu den Kolonien beeinträchtigen, und Österreichs Begierde, sich einen kolonialen Vorhof in Südosteuropa zu erschließen. Die  in Wien ausgehandelte europäische Ordnung, die im Wesentlichen auf dem Prinzip eines fairen Interessenausgleichs, auf Multipolarität und auf einem von den Großmächten reklamierten Interventionsrecht zur Aufrechterhaltung des monarchisch-dynastischen Status quo basierte, geriet durch die Orientalische Frage schnell ins Wanken. Während sich die sogenannte Pentarchie in Wien auf »außenpolitische Zurückhaltung, Vertragstreue und die stärkere Beachtung von Völkerrechtsnormen« verständigt hatte, herrschte, was die Behandlung der Orientalischen Frage betraf, erneut jene kompromisslose Großmachtpolitik, von der man sich eigentlich in der Wiener Kongressakte vom . Juni  verabschiedet hatte. Einer der wichtigsten Gründe, weshalb das beim Wiener Kongress erstellte Regelwerk internationaler Diplomatie durch die Orientalische Frage stark herausgefordert wurde, war die Tatsache, dass das Osmanische Reich kein Mitglied im europäischen Konzert der Mächte war. Demzufolge waren die Wiener Vereinbarungen nur in einem geringen Umfang auf die  Calic, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung), .  Ebd., ; Duchhardt, Heinz: Der Wiener Kongress. Die Neugestaltung Europas /. München , -.  Ebd., .

49

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

Problemlage in Südosteuropa übertragbar. Heinz Duchhardt hält dazu Folgendes fest: Das Fehlen des Osmanischen Reiches ist sicher eins der empfindlichsten Defizite des Wiener Befriedigungs- und Stabilisierungswerks, dessen sich viele Teilnehmer auch voll bewusst waren. Insofern war es kein Zufall, dass Metternich auf britische Empfehlung hin der Pforte zu Beginn der Wiener Verhandlungen ein Angebot unterbreitete, von den Mächten eine Garantie ihres Territoriums zu erbitten, was von Konstantinopel wegen ihrer ausgeprägten Animositäten gegenüber Russland dann aber abgelehnt wurde – insofern war das Wiener Friedenswerk auch nicht wirklich europäisch. In diesem Zusammenhang erwies sich auch eine weitere Schwäche der Wiener Kongressakte, insbesondere im Hinblick auf das osmanische Südosteuropa, als verhängnisvoll. Wie bereits Zeitgenossen als Kritik an der Friedensordnung von  anbrachten, waren den Architekten der Wiener Kongressakte »die nationalen und liberalen Unterströmungen des Zeitalters so völlig vernachlässigenswert geblieben«, dass besonders von Seiten der Vertreter der Heiligen Allianz (Russland, Österreich, Preußen) »den ethnischen Gegebenheiten oder gewachsenen Animositäten« keinerlei Rechnung getragen wurde. Stattdessen erklärten die Herrscher der drei, im Krieg gegen das napoleonische Frankreich als Sieger hervorgegangenen Kontinentalmächte die christliche Religion und ihre »durch die Bande einer wahren und unauflöslichen Brüderlichkeit« vereinigten Monarchien zur Grundlage des neuen Friedenssystems und des europäischen Völkerrechts. Diese Prinzipien waren allerdings weder zeitgemäß, noch konnten sie, wie der renommierte Schweizer Völkerrechtler Johann Caspar Bluntschli  bemerkte, als Teil des modernen Völkerrechts anerkannt werden. Dies galt insbesondere mit Blick auf Südosteuropa, wo nationalrevolutionäre Bewegungen, die unter dem starken Einfluss der Französischen Revolution standen und sich an Werten und Ordnungsentwürfen frühbürgerlichen Zuschnitts orientierten, auf dem Vormarsch waren. Das  in Wien für das christlich-dynastische Europa geschaffene Stabilisierungswerk war der Herausforderung einer durch das Vordringen der nationalstaatlichen Idee in Südosteuropa in Bedrängnis geratenen muslimischen Monarchie nicht gewachsen und auch nicht dafür geschaffen worden. Dieser Erkenntnis konnten sich im Verlauf der kommenden Jahrzehnte auch die europäischen Krisenmanager nicht verschließen. Es war vor allem der  zwischen      

50

Calic, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung), . Duchhardt, Der Wiener Kongress (wie Anm. ), . Ebd.,  f., . Ebd. Ziegler, Völkerrechtsgeschichte (wie Anm. , Einleitung), . Calic, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung), .

Vo r b e m e r ku n g

Russland und dem Osmanischen Reich ausgebrochene Krimkrieg mit der späteren Beteiligung Frankreichs, Großbritanniens und Piemont-Sardiniens, der den Zeitgenossen offenbarte, »dass es ein Nachteil des Wiener Systems war, die Stellung des Osmanischen Reiches im Verhältnis zum christlichen Europa nicht geregelt zu haben«. Wie noch in diesem Kapitel gezeigt wird, versuchte man diesbezüglich eine Korrektur vorzunehmen, indem vier Jahrzehnte nach dem Wiener Kongress das Osmanische Reich in das Europäische Konzert der Mächte förmlich aufgenommen und als Mitglied des europäischen Völkerrechts anerkannt wurde. Die Aufgabe der christlichen Exklusivität, was die Mitgliedschaft in der europäischen Völkerrechtsgemeinschaft betraf, war ein Meilenstein in der Weiterentwicklung des modernen Völkerrechts, worauf weiter unten noch ausführlich eingegangen wird. Ausgangspunkt dieses ersten Kapitels ist die These, dass sich die entgegengesetzten Interessen der Großmächte gegenüber dem Osmanischen Reich, aber auch der sich im Entstehungsprozess befindenden Nationalstaaten Südosteuropas im europäischen Völkerrecht (»Le droit public de l’Europe«) des »langen« . Jahrhunderts als prägende Einflüsse niederschlugen. Diese Prägungen reichten von der besagten Aufnahme des Osmanischen Reiches in die europäische Völkerrechtsgemeinschaft und der stark auf die Orientalische Frage bezogenen Rechtsfigur der Suzeränität bis hin zur Verknüpfung der Anerkennung von Staaten mit Auflagen und Konditionen. Ziel dieses Kapitels ist es, aufzuzeigen, dass die ununterbrochene Präsenz der Orientalischen Frage als Sonderproblem auf der Tagesordnung der internationalen Politik des »langen« . Jahrhunderts die Krisenmanager dieser Zeit verpflichtete, alte bzw. in der Wiener Kongressakte von  festgelegte Prinzipien, Strategien und Instrumente der Krisenprävention und -bewältigung aufzugeben und Neuerungen auf diesem Gebiet vorzunehmen, die von erheblicher völkerrechtlicher Tragweite waren. Hatte noch Sankt Petersburg  in Wien als Mitglied der Heiligen Allianz das Prinzip der legitimistischen Intervention zur Rettung der bedrohten Monarchien vehement verteidigt, während London wiederum am Gegenprinzip der Nicht-Intervention in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates festhielt, wandten sich nun beide Mächte bereits im ersten Drittel des . Jahrhunderts anlässlich des griechischen Aufstands von ihren Grundpositionen in der Interventionsfrage ab und intervenierten militärisch nicht zur Aufrechterhaltung der monarchischen Herrschaft des Sultans, sondern zugunsten der aufständischen Griechen. Dadurch »wurde der griechische Aufstand zur Geburtsstunde eines neuen Ansatzes  Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des . Jahrhunderts. . Aufl. München , .  Osterhammel, Jürgen: Krieg im Frieden. Zu Form und Typologie imperialer Interventionen. In: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaates. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich. Hg. v. Jürgen Osterhammel. . Aufl. Göttingen , -, hier .

51

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

internationaler Konfliktbewältigung: der ›Humanitätsintervention‹«. Auch darauf, nämlich wie aus der Intervention als ein Instrument der kollektiven Aufstandsunterdrückung ein Instrument der Abwendung von Gewalt gegen Zivilisten wurde und was für eine hervorragende Rolle die Orientalische Frage dabei spielte, wird in diesem Kapitel näher einzugehen sein. Vor dem Hintergrund der Stabilisierung Südosteuropas fanden weitere völkerrechtlich relevante Entwicklungen im späten . und beginnenden . Jahrhundert statt, die auf den darauffolgenden Seiten ebenfalls Erwähnung finden sollen. Bezeichnend für die Position, die das südosteuropäische Konfliktgeschehen in der internationalen Politik des »langen« . Jahrhunderts einnahm, ist die Tatsache, dass  von den insgesamt  dokumentierten Konferenzen und Kongressen der Großmächte, die zwischen  und  abgehalten wurden, das Osmanische Reich und dessen Nachfolgestaaten bzw. die Orientalische Frage zum Gegenstand hatten. Bevor allerdings der prägende Einfluss der Orientalischen Frage auf die internationale Staatenpraxis und das Völkerrecht des »langen« . Jahrhunderts analysiert wird, müssen Prozesse angesprochen und in den Blick genommen werden, die über die Grenzen der historischen Region Südosteuropa und auch über die des europäischen Kontinents hinausgingen. Deren Berücksichtigung ist für die konkrete Fragestellung dieses Kapitels insofern von großer Bedeutung, als ohne sie der hier postulierte prägende Einfluss des südosteuropäischen Konfliktgeschehens auf das Völkerrecht nicht stattgefunden hätte. So waren insbesondere die ab Mitte des . Jahrhunderts zunehmende Verwissenschaftlichung und akademische Institutionalisierung der Disziplin des internationalen Rechts sowie die Durchsetzung des Positivismus in der Völkerrechtslehre eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Ad-hoc-Reaktionen der Großmächte in der Orientalischen Frage zu rechtlichen Doktrinen und Rechtsfiguren mit einer universalen Geltung werden konnten. Das starke Engagement vorwiegend liberal gesinnter »Kosmopoliten« für eine humanitärere Weltordnung, das in unterschiedlichen Bereichen – von der Abschaffung der Sklaverei über die Stärkung der Rechte von Arbeitern bis hin zur Kodifizierung des Kriegsvölkerrechts – in Erscheinung trat, gehört ebenso zu den Faktoren, die den Einfluss der Orientalischen Frage auf die Entwicklung des Völkerrechts begünstigten. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Michael Barnett hat in seiner  erschienenen »Geschichte des Humanitarismus« drei Zeitalter des Humanitarismus ausgemacht. Eine davon sei die Epoche des imperialen Humanitarismus (-), in dem sich  Calic, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung), .  Rathberger, Andreas: The Ambassador’s Conference of Constantinople, the Cretan Crisis, and the Plans for an International Condominium over the Ottoman Empire -. In: Südost-Forschungen  (), -, hier . Siehe dazu auch die tabellarische Aufstellung der Kongresse und Konferenzen des Europäischen Konzerts (-), in: Schulz, Matthias: Normen und Praxis. Das Europäische Konzert der Großmächte als Sicherheitsrat, -. München ,  f.

52

Ko s m o p o li ti s c h e r H u m a ni t a ri s m u s

neue »Ideologien der Humanität« entwickelt und zunehmend an Geltungskraft gewonnen hätten. Kosmopolitischer Humanitarismus und die Institutionalisierung der Völkerrechtswissenschaft

Im »langen« . Jahrhundert avancierte die Friedensfrage zu einem zentralen Thema der internationalen Politik. Bei der Gestaltung aktiver Friedenspolitik spielten soziale Bewegungen, Privatpersonen und nichtstaatliche Organisationen eine federführende Rolle. Innerhalb dieser internationalen Friedensbewegung formierte sich eine Strömung, die ihr pazifistisches Hauptanliegen »weniger in der Abrüstung als im Aufbau einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit« sah. Zu den Vertretern dieser Strömung gehörten auch Juristen, die in den transnationalen Netzwerken des Pazifismus eine wichtige Position einnahmen. Überhaupt wurde der Begriff »Pazifismus« erstmals  vom französischen Juristen und Präsidenten der  gegründeten Ligue Internationale de la Paix et de la Liberté Émile Arnaud benutzt. Er verwendete ihn, um eine Bewegung zu beschreiben, die die Lösung von Konflikten durch die Anwendung von Arbitration und Mediation anstrebte. Etliche Marksteine in der Geschichte der internationalen Friedensbewegung des . Jahrhunderts trugen die Handschrift von Juristen, wie beispielsweise die Resolution, die auf der großen Pariser Friedenskonferenz von  verabschiedet wurde und von einem neuen Pragmatismus geprägt war. Sie ging über die simple Verdammung des Kriegs hinaus, indem sie u. a. die Organisation eines Völkerkongresses zur Weiterentwicklung des Völkerrechts und die Gründung eines höheren Gerichts zur Beilegung zwischenstaatlicher Differenzen vorschlug. Darüber hinaus haben rechtswissenschaftliche Vereinigungen einen starken Einfluss auf die Entwicklung der pazifistischen Bewegung genommen. Der deutsche Historiker und Pazifist Ludwig Quidde, langjähriger Vorsitzender der Deutschen Friedensgesellschaft und Friedensnobelpreisträger von , hat  in seiner »Geschichte des Pazifismus« auf die wesentliche Förderung der pazifistischen Entwicklung durch das Institut de

 Barnett, Empire (wie Anm. , Einleitung), .  Osterhammel, Die Verwandlung (wie Anm. ), .  Housden, Martyn: The League of Nations and the Organisation of Peace. Harlow , .  Mazower, Mark: Governing the World. The History of an Idea. London [u. a.] ,  f.  Zu Quidde siehe Holl, Karl: Der Historiker und Pazifist Ludwig Quidde (-) – Träger des Friedensnobelpreises von . In: Die Friedens-Warte  () , .

53

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

Droit International und die Gesellschaft für Reform und Kodifikation des Völkerrechts, beide  jeweils in Genf und Brüssel gegründet, hingewiesen. Die Beteiligung von Juristen an der Friedensbewegung und ihre Einflussnahme darauf müssen in Zusammenhang mit einer inter- und transnational ausgerichteten Parallelentwicklung in der Völkerrechtswissenschaft betrachtet werden. Ab Mitte des . Jahrhunderts formierte sich in Europa, in den USA und in einem geringeren Maße auch in Lateinamerika eine Bewegung von liberalen und international ausgerichteten Rechtswissenschaftlern, die sich für die Durchsetzung eines über die Sammlung zwischenstaatlicher Verträge hinausgehenden und auf bindende Normen basierenden Völkerrechts, vor allem auf dem Gebiet des ius in bello, einsetzte. Es waren renommierte Rechtsgelehrte wie der Schweizer Johann Caspar Bluntschli, der Tübinger Staatsrechtler Robert von Mohl und der US-Amerikaner deutscher Abstammung Francis Lieber, die in ihren völkerrechtlichen Studien eine gemeinsame und autoritative Aussprache von Völkerrechtsgrundsätzen verlangten und darauf drängten, dass die Regeln des Kriegsvölkerrechts bzw. des humanitären Völkerrechts in der Form internationaler Vereinbarungen verbindlich festgehalten werden. Diese Gelehrten gaben sich nicht mehr mit der Existenz ausschließlich von Normen gewohnheitsrechtlicher Natur zufrieden und arbeiteten intensiv daran, dass das Völkerrecht eine Anerkennung als bindendes Recht finden würde. Damit richteten sie sich auch gegen die sogenannten Völkerrechtsleugner, wie etwa Thomas Hobbes, John Austin und Adolf Lasson, welche die Position vertraten, dass es keinen Gerichtshof über den souveränen Staat geben könne, und im Allgemeinen den Rechtscharakter des Völkerrechts verneinten. Schließlich arbeiteten sie an der Einführung und Etablierung des Völkerrechts als wissenschaftliche Disziplin. Die Institutionalisierung und Professionalisierung der Völkerrechtswissenschaft durch ihre Verankerung als selbständiges juristisches Fach an den Universitäten war ein langwieriger und von Land zu Land sehr unterschiedlich verlaufender Prozess. Für die er Jahre kann von einer eigenständigen Existenz der Völkerrechtsdisziplin an den juristischen Fakultäten europäischer Hochschulen nicht die Rede sein. Erst im letzten Viertel des . Jahrhunderts können die ersten deutlichen Anzeichen eines Durchbruchs auf diesem Gebiet registriert werden, wobei auch danach der Institutionalisierungsprozess nicht geradlinig verlief. Bezeichnend für die Durchsetzungsschwierigkeiten der Völkerrechtsdisziplin  Quidde, Ludwig: Die Geschichte des Pazifismus. Berlin  (Nachdruck der Erstveröffentlichung von ).  Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, ,  (wie Anm. ); Osterhammel, Die Verwandlung (wie Anm. ), -; Hobe, Einführung (wie Anm. , Einleitung), -; Segesser, Daniel Marc: Kontinuität oder Bruch? Die Diskussion über militär- und völkerrechtliche Bestimmungen zur Ahndung von Verstößen gegen die Bestimmungen des Ius in Bello in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts. In: Militär und Recht vom . bis . Jahrhundert: Gelehrter Diskurs – Praxis – Transformationen. Hg. v. Jutta Nowosadtko, Diethelm Klippel und Kai Lohsträter. Göttingen , -, hier .

54

Ko s m o p o li ti s c h e r H u m a ni t a ri s m u s

an den universitären Einrichtungen Europas ist Frankreich. Dort war um die er Jahre die »exegetische Schule«, deren Vertreter ausschließlich den code civil als positive Rechtsquelle anerkannten, weiterhin dominant. Bis spät in das . Jahrhundert hinein war die vorherrschende Völkerrechtsperspektive in Frankreich eine naturrechtliche. So hielt etwa Laurent-Basile Hautefeuille  in seiner Studie zu den »Rechten und Pflichten der Neutralen während eines Seekrieges« (»Des droits et des devoirs des nations neutres en temps de guerre maritime«) zu den Ursprüngen des Völkerrechts Folgendes fest: »International law finds its basis in divine and primitive law; it is completely derived from this source. With the help of only this law, I firmly believe that it is not only possible but even easy to regulate all relations that exist or might exist between all the peoples of the universe.« Als Folge solcher Ansichten trug die im Collège de France für Völkerrecht zuständige Lehrkanzel noch in den er Jahren den Titel »Professur für Natur- und Völkerrecht« (»Droit de la nature et des gens«). Außerdem wurden im Rahmen der bereits  in Paris eingerichteten Völkerrechtsprofessur nur Lehrveranstaltungen angeboten, deren Schwerpunkt auf der Diplomatiegeschichte (und nicht auf dem positiven Recht) lag; und dies obwohl sie für einen längeren Zeitraum die einzige Völkerrechtsprofessur in ganz Frankreich war, nachdem  die Professur für Internationales Recht in Straßburg abgeschafft worden war. Erst  wurde Völkerrecht als Pflicht- bzw. Prüfungsfach an den französischen Universitäten eingeführt. In den Niederlanden wiederum wurde  ein Gesetz verabschiedet, das Völkerrechtsseminare an den staatlichen Universitäten vorschrieb, wenngleich es zu diesem Zeitpunkt keinen einzigen entsprechenden Lehrstuhl im Land gab. Die Universität Brüssel beauftragte erst  Alphonse Rivier mit der Völkerrechtslehre, wobei dieser eigentlich ein Experte für Römisches Recht und Rechtsphilosophie war. In Deutschland kam es schließlich erst Mitte der er Jahre und als Folge des Ersten Weltkriegs zu nennenswerten Entwicklungen auf dem Gebiet der universitären Institutionalisierung der Völkerrechtsdisziplin. Bis zu diesem Zeitpunkt »gab es keine speziellen Lehrstühle für Völkerrecht und nur wenige gute Bibliotheken und Dokumentationszentren«. Es ist bezeichnend für den späten Eintritt dieser Entwicklung in Deutschland, dass es Theodor Niemeyer erst  gelang, an der Universität Kiel ein Institut für Völkerrecht zu gründen. Der ungefähr zur selben Zeit von Walther Schücking unternommene Versuch, mit Unterstützung der Carnegie-Stiftung ein Seminar für Völkerrecht zu gründen, scheiterte sangund klanglos.  folgte dann inmitten des Ersten Weltkriegs die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, in der über aktuelle völkerrechtliche Fragen debattiert wurde. Schließlich wurde / in Berlin im Zuge des für  Zit. n. Koskenniemi, The Gentle Civilizer (wie Anm. , Einleitung), .  Stolleis, Michael: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. : -. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur, -. München , .

55

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

die deutsche Völkerrechtswissenschaft und die deutsche Politik wichtigen Kampfes zur Revision des Versailler Vertrags das Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht unter der Leitung von Viktor Bruns gegründet. In Zusammenhang mit den besagten Anstrengungen zur Verankerung des Völkerrechts als Wissenschaft nimmt auch das Schrifttum zu völkerrechtlichen Fragen im . Jahrhundert enorm zu. Eine Reihe renommierter Juristen verfasste Völkerrechtslehrbücher, mit denen sie einen wichtigen Beitrag zur weiteren Kodifikation des Völkerrechts leisteten. Lediglich erwähnt seien an dieser Stelle die zwischen  und , in vier Bänden erschienene Abhandlung »Commentaries upon International Law« des englischen Richters Sir Robert Phillimore, das erstmals  erschienene und in neun Hauptteile gegliederte »Moderne Völkerrecht der civilisirten Staaten als Rechtsbuch dargestellt« von Bluntschli, die  veröffentlichte, zweibändige, russischsprachige Darstellung des »Völkerrechts der zivilisierten Nationen« von Fëdor Fëdorovič Martens sowie das / in zwei Bänden publizierte und mehrmals neu aufgelegte Lehrbuch »International Law: A Treatise« von Lassa Francis Lawrence Oppenheim. All diese Werke, in denen sich der rechtswissenschaftliche Positivismus gegenüber dem in der Aufklärung begründeten Naturrecht durchgesetzt hatte, räumten der Entwicklung des humanitären Völkerrechts eine hervorgehobene Bedeutung ein. Parallel dazu wurden auch die ersten einschlägigen wissenschaftlichen Zeitschriften gegründet, wie etwa die Revue de Droit International et de Législation Comparée, die Rivista di Diritto Internazionale e di Legislazione Comparata, die Zeitschrift für internationales Privat- und Strafrecht, die Zeitschrift für Völkerrecht sowie das American Journal of International Law.  riefen schließlich namhafte Völkerrechtler das besagte Institut de Droit International ins Leben, das sich die Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere des humanitären Völkerrechts, zu seiner Hauptaufgabe gemacht hatte. Sein Beitrag auf diesem Gebiet, aber auch zur Entstehung eines transnationalen Netzwerkes war, wie etwa Karl-Heinz Ziegler in seiner völkerrechtshistorischen Überblicksdarstellung festhält, von großer Bedeutung. Der Berner Historiker Daniel Marc Segesser hält in Bezug auf die  Ebd.; Lange, Felix: Wider das »völkerrechtliche Geschwafel« – Hermann Mosler und die praxisorientierte Herangehensweise an das Völkerrecht im Rahmen des MaxPlanck-Instituts. In: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht  (), -, hier .  Ziegler, Völkerrechtsgeschichte (wie Anm. , Einleitung),  f.  Ebd., .  Koskenniemi, The Gentle Civilizer (wie Anm. , Einleitung), -; Osterhammel, Die Verwandlung (wie Anm. ),  f.; Hobe, Einführung (wie Anm. , Einleitung), -; Ziegler, Völkerrechtsgeschichte (wie Anm. , Kap. ), ; Segesser, Recht (wie Anm. , Einleitung), -; Heraclides, Alexis/Dialla, Ada: Humanitarian Intervention in the Long Nineteenth Century. Manchester , .  Ziegler, Völkerrechtsgeschichte (wie Anm. , Einleitung), .

56

Ko s m o p o li ti s c h e r H u m a ni t a ri s m u s

Transnationalität der an der Gründung des Instituts beteiligten Juristen fest, dass letztere »davon überzeugt waren, nicht nur Angehörige ihres jeweiligen Nationalstaates, sondern auch Teil einer Gemeinschaft zu sein, die darüber hinausging«. Bezeichnend für den die nationale, regionale und teils auch kontinentale Grenze überschreitenden Charakter des Instituts ist die Tatsache, dass zu den elf Mitbegründern auch der Argentinier Carlos Calvo und der US-Amerikaner David Dudley Field gehörten. Beim Institut de Droit International handelt es sich um die erste, keineswegs aber einzige Gründung einer völkerrechtswissenschaftlichen Vereinigung im späten . und frühen . Jahrhundert. Weitere waren die ebenso  in Brüssel gegründete International Law Association (ILA), die Association Internationale de Droit Pénal (ADIP), die  in Paris ins Leben gerufen wurde, sowie das  gegründete International Law Institute. In diesen für die Weiterentwicklung völkerrechtlicher Normen federführenden Vereinigungen spielten Völkerrechtler mit einem osteuropäischen Hintergrund eine gewichtige Rolle. Lediglich erwähnt seien an dieser Stelle Dmitrij Ivanovič Kačenovski, Vladimir Bezobrazov, André N. Mandelstam und Fëdor Fëdorovič Martens aus Russland, der Rumäne Vespasian (Verspasien) Pella, Ludwik Ehrlich und Raphael Lemkin aus Polen und Nikolaos Politis aus Griechenland. Die Universitäten mit den neu eingerichteten völkerrechtlichen Lehrstühlen, die Fachzeitschriften sowie das Institut de Droit International und die anderen völkerrechtswissenschaftlichen Vereinigungen bildeten unterschiedliche Kanäle der Kommunikation, Interaktion und des Austausches und stellten somit die Grundpfeiler eines neuen, von den Völkerrechtswissenschaftlern geschaffenen transnationalen Raumes dar. Mit der Institutionalisierung und Professionalisierung der Völkerrechtswissenschaft entstand ein transnationaler Raum am Schnittpunkt beginnender globaler Prozesse. Die Völkerrechtler des . Jahrhunderts, die sich an der Entstehung einer transnationalen Gelehrtengesellschaft beteiligten, bekannten sich mehrheitlich zur Idee der Zivilisierung der außereuropäischen Welt durch die Vermittlung der Grundprinzipien des Völkerrechts der sogenannten zivilisierten Staaten an die nichtzivilisierten Völker. Zu diesem Zeitpunkt war die Völkerrechtsgemeinschaft eine noch ausschließlich europäische Gesellschaft, die sich aus den »zivilisierten Staaten« zusammensetzte. Bemerkenswerterweise erfolgte die Aufnahme des Osmanischen Reiches  in die europäische Völkerrechtsgemeinschaft als erster Staat der nichtchristlichen Welt nicht auf einer gleichberechtigten Basis, sondern im Sinne einer civilizing mission. Selbst außereuropäische Akteure, wie etwa der besagte Calvo, vertraten die Meinung, dass »das Völkerrecht eine der wertvollsten Früchte der Zivilisa Segesser, Recht (wie Anm. , Einleitung), .  Cabanes, Bruno: The Great War and the Origins of Humanitarianism, -. New York [u. a.] , .  Koskenniemi, The Gentle Civilizer (wie Anm. , Einleitung), -; Segesser, Recht (wie Anm. , Einleitung), -.  Ziegler, Völkerrechtsgeschichte (wie Anm. , Einleitung),  f.

57

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

tion« sei und dass die »zivilisierten Nationen« die ehrenvolle Mission hätten, »die Zivilisierung der wilden Völker zu fördern, das Territorium der zivilisierten Staaten auszubreiten und zivilisierte Institutionen in großen Teilen der barbarischen Welt zu errichten«. Calvo und seine Gleichgesinnten waren kosmopolitisch ausgerichtet, aber ihr Kosmopolitismus war stark durch den europäischen Kolonialismus geprägt. Jürgen Osterhammel konstatiert für den Übergang von der Neuzeit zur Moderne eine Ablösung des »Anerkennungskosmopolitismus« von einem »Verantwortungskosmopolitismus«. Während der erstere Typ von Kosmopolitismus »die anderen nicht als ›barbarisch‹ oder ›rückständig‹, sondern als gleichrangige, Respekt verdienende und vertragsfähige Partner, denen man die Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten zutraute«, betrachtete, stand der »Verantwortungskosmopolitismus« in engster Verbindung zum europäischen Kolonialismus: Der voll entwickelte Kolonialismus des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts entwickelte dann die Idee der teils christlich, teils säkular verstandenen Zivilisierungsmission. Sie setzte keine starr rassistisch geordneten Herrschaftsverhältnisse voraus, sondern die Bildbarkeit des Menschen und die Pflicht der Machthabenden, »Zivilisierten«, zur, wie es damals hieß, »Hebung« der übrigen Menschheit beizutragen. Das war im Rahmen des imperialen Machtgefälles durchaus kosmopolitisch gedacht. Der »Verantwortungskosmopolitismus« des . Jahrhunderts ist insofern bis heute einflussreich geblieben, als »ein gewundener Weg von einem solchen hierarchischen Kosmopolitismus der Zivilisierungsmission über Idee und Praxis von ›colonial development‹ und die nachkoloniale Entwicklungshilfe zum egalitären Verantwortungskosmopolitismus der ›Responsibility to Protect‹ führt«. Angesichts dieser Entwicklungen konstatiert Osterhammel in seinem Standardwerk zur Geschichte des . Jahrhunderts, dass um die er Jahre »das alte ›ius gentium‹ in einen rechtlichen ›standard of civilization‹ von allgemeiner Verbindlichkeit umgeformt wurde«. Wie bereits einleitend erwähnt, fanden im . Jahrhundert auf dem Gebiet der Humanisierung der Kriegsführung als Teil eines allumfassenden Prozesses der Durchsetzung der Idee der Zivilisierung bahnbrechende Entwicklungen statt. Einen Wendepunkt in vielerlei Hinsicht stellt die Gründung des Internationalen Roten Kreuzes auf Initiative des Genfer Kaufmannes Henri Dunant  Calvo, Carlo: Dictionnaire de droit international public et privé. Bd. . Berlin ,  f., zit. n. Obregón, Liliana: The Civilized and the Uncivilized. In: Fassbender/Peters, The Oxford Handbook (wie Anm. , Einleitung), -, hier .  Osterhammel, Jürgen: Cosmopolis und Imperium. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. , .., .  Ebd.  Osterhammel, Die Verwandlung (wie Anm. ), .  Ebd., , .

58

Ko s m o p o li ti s c h e r H u m a ni t a ri s m u s

dar. Sein Bestreben resultierte aus seiner persönlichen Erfahrung mit dem Elend der verwundeten und toten Soldaten auf dem Schlachtfeld von Solferino im Juni . Durch die Gründung des Roten Kreuzes entstand erstmals ein transnationaler Raum des Zusammentreffens von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren auf dem Gebiet des humanitären Völkerrechts. Sie fällt in die er Jahre hinein, in die »entscheidende Gründungsperiode für International Governmental Organizations«, die trotz ihres privatrechtlichen Charakters staatliche Unterstützung erhielten. An der Gründungskonferenz des Roten Kreuzes  in Genf nahmen nicht nur Privatpersonen und nichtstaatliche Organisationen, sondern auch Vertreter von  Regierungen teil. Vereinbart wurden die Gründung privater Gesellschaften in den Ländern, deren Regierungen sich an der Konferenz beteiligten, ebenso wie die Einrichtung des Internationalen Komitees des Roten Kreuzen (IKRK). Im Anschluss daran fand im August  die Erste Genfer Konferenz mit  Vertretern aus  Staaten sowie privat angereisten Interessenten statt. Dabei kam es zur Verabschiedung der Genfer Konvention zur Verbesserung des Loses der verwundeten Soldaten der Armeen im Felde. Juristen waren ab der ersten Stunde an dem Entstehungsprozess dieses neuen Feldes der Zusammenarbeit zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren beteiligt. Insbesondere der Schweizer Juraprofessor Gustave Moynier, der von  bis zu seinem Lebensende  das Amt des Präsidenten des IKRK innehatte, ist an dieser Stelle zu nennen. Moynier spielte auch bei der Gründung des bereits erwähnten Institut de Droit International , der ersten internationalen völkerrechtlichen Wissenschaftsgesellschaft, eine federführende Rolle. Juristen wie er waren Träger des besagten neuen Kosmopolitismus, welcher die »Unterordnung nationaler Interessen unter menschheitliche Gemeinwohlziele« voraussetzte. Unter ihrem Einfluss entwickelte sich das IKRK zu einer »einlussreichen Lobby, das humanitäre Werte forderte« und »vom Enthusiasmus Hunderter und Tausender von Freiwilligen getragen« wurde. Das im »langen« . Jahrhundert auf nationale Homogenität abzielende und von den Phänomenen der irregulären Kriegsführung und ethnoreligiösen Säuberung stark geprägte Konfliktgeschehen auf dem Balkan fiel also in eine Zeit, in der sich ein »Grundstock von Normen« der Zivilisation als »international anwendbarer standard of civilization« herausgebildet hatte und das »Recht zum wichtigsten Medium transkultureller Prozesse der Zivilisierung« geworden war. Laut Osterhammel »hebt sich das . Jahrhundert aus der Kette der Epochen dadurch heraus, dass niemals zuvor und in solcher Unbefangenheit seit dem  Ebd., . Eine weitere Organisationsgründung dieser Art stellte die Internationale Telegraphenunion  dar.  Ebd., -.  Osterhammel, Cosmopolis (wie Anm. ).  Housden, The League (wie Anm. ), .  Osterhammel, Die Verwandlung (wie Anm. ), .  Ebd.,  f.

59

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

Ersten Weltkrieg auch nicht wieder die Herrschafts- und Bildungseliten Europas derart selbstsicher überzeugt waren, an der Spitze des Fortschritts zu stehen und eine Zivilisation von weltweiter Maßstäblichkeit zu verkörpern«. Insbesondere in den kosmopolitischen Kreisen des mit der universalen Vorstellung einer Zivilisierungsmission eng verbundenen Humanitarismus wurde das Kriegsgeschehen im südöstlichen Europa als besonders gewalttätig und grausam empfunden und führte zu einer erstmaligen Stigmatisierung der bis dahin weitgehend unbekannten Region. Der Historiker Mark Mazower erklärt sich diese Stigmatisierung des Balkans als permanente Krisenregion nicht so sehr durch die Quantität, sondern vielmehr die Qualität der dortigen Gewalt. Während im »zivilisierten« Westeuropa, wie bereits erwähnt, zu Beginn des . Jahrhunderts ein Prozess des Umdenkens bezüglich der zuvor gängigen Praxis der gezielten Zufügung von Schmerz in der Öffentlichkeit einsetzte, sodass ältere Formen der Bestrafung wie die Folter, das Verbrennen oder das Enthaupten zunehmend als unzivilisiert betrachtet wurden, hätten laut Mazower die neuen Normen der zivilisierten Bestrafung und Kriegsführung erst mit einer gewissen Verspätung Südosteuropa erreicht, und selbst dann seien sie nur unvollständig übernommen worden. Folge dieses verspäteten und unvollständigen West-Ost-Transfers war eine differenzierte Wahrnehmung von Grausamkeit in südost- und westeuropäischen Gesellschaften und Öffentlichkeiten, was wiederum dazu führte, dass die Kriegsführung auf dem Balkan aus Sicht der oben genannten Zivilisierungsagenten, unter denen sich auch zahlreiche Rechtstheoretiker befanden, als barbarisch empfunden und daher für dringend regulierungsbedürftig betrachtet wurde. Eine besondere Rolle spielte in dieser Hinsicht der »hybride« Charakter der Kriege in Südosteuropa im letzten Drittel des . und vor allem in den ersten Jahrzehnten des . Jahrhunderts. Deren Hybridität machte im Wesentlichen die Ambivalenz aus, dass die in Südosteuropa geführten Kriege einerseits von zusehends moderner und zahlenmäßig stärker werdenden Armeen geführt wurden, die sich andererseits im Dienst von Staaten befanden, die in infrastruktureller, wirtschaftlicher, politischer und rechtlicher Hinsicht den Modernisierungsstand anderer europäischer Staaten noch nicht erreicht hatten. Dies hatte beispielsweise zur Folge, dass die Betreuung und der Transport verwundeter und kranker Soldaten durch die in der Entstehungsphase befindenden Sanitätsdienste der an dem Kriegsgeschehen beteiligten Staaten nicht zeitgemäß waren.

 Ebd., .  Mazower, Mark: Der Balkan. . Aufl. Berlin , - (Originalausgabe: The Balkans. A Short History, London ).  Höpken, Wolfgang: »Modern Wars« and »Backward Societies«: The Balkan Wars in the History of Twentieth-Century European Warfare. In: The Wars of Yesterday. The Balkan Wars and the Emergence of Modern Military Conflict, -. Hg. v. Katrin Boeckh und Sabine Rutar. New York [u. a.] , -.

60

Der griechische Unabhängigkeitskrieg, 1821-1830

Die unmittelbare Nähe Südosteuropas zu Österreich-Ungarn und dem Zarenreich hatte zur Folge, dass der Balkan-Schwarzmeer-Raum, insbesondere ab der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts, zum primären Feld russischer und österreichisch-ungarischer Außen-, Macht- und Expansionspolitik wurde. Der Südosteuropahistoriker Holm Sundhaussen fasste die geopolitische Bedeutung der balkanischen Halbinsel für die Habsburgermonarchie und das Zarenreich folgendermaßen zusammen: Obwohl der Balkanraum südlich von Save und Donau mit rund . km nur knapp   der Fläche Europas einnimmt, fiel ihm als Landbrücke zwischen Mitteleuropa (Österreich) und dem Vorderen Orient auf der einen sowie zwischen Russland und dem Mittelmeerraum auf der anderen Seite eine herausragende geopolitische Bedeutung zu. Aufgrund der eigenen existenziellen Interessen auf dem Balkan versuchte Österreich-Ungarn, das russische Vordringen in den Südosten Europas mittels der Wiederherstellung des Status quo ante zu verhindern. Die Befriedung der europäischen Territorien des Osmanischen Reiches sollte aus Wiener Sicht der Entstehung solcher Krisen entgegenwirken, auf die sich der Zar als Beschützer der orthodoxen Christen berufen könnte, um eine militärische Intervention in der Region zu rechtfertigen. Ein großes Interesse an der balkanischen Halbinsel hegte aus geopolitischen Gründen auch Großbritannien. Das Londoner Interesse galt der Kontrolle des östlichen Mittelmeers und der Dardanellen-Meerenge, durch welche die Ägäis mit dem Schwarzen Meer verbunden ist. Wie die Österreicher verfolgten auch die Briten konsequent das Ziel der Eindämmung der russischen Expansion in Südosteuropa. Eine Ausweitung der russischen Einflusssphäre auf den Bosporus und die Ägäis stellte aus Londoner Sicht eine Gefahr für die britische Vormachtstellung im Mittelmeer sowie die Kommunikationslinien des Empire nach Indien dar. Dieser Interessenkonflikt um das osmanische Südosteuropa brachte die Wiener Restaurationsordnung von  ins Wanken, kaum nachdem diese errichtet worden war. Denn es war ein südosteuropäisches Ereignis, nämlich der griechische Unabhängigkeitskrieg in den er Jahren, der bewirkte, dass Russland und Großbritannien in der Frage des Interventionsrechts ihre erst wenige Jahre zuvor auf dem Wiener Kongress bestätigten Grundpositionen verließen und mit den jeweiligen Leitprinzipien der legitimistischen Intervention respektive der NichtIntervention in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten brachen. Der  ausgebrochene griechisch-osmanische Krieg als Folge eines ursprünglich in der  Sundhaussen, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), .  Schumacher, Leslie Rogne: The Eastern Question as a Europe Question: Viewing the Ascent of »Europe« through the Lens of Ottoman Decline. In: Journal of European Studies  () , -.

61

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

Moldau und der Walachei missglückten, aber im Anschluss daran auf dem Peloponnes erfolgreich durchgeführten Aufstands der griechisch-orthodoxen Bevölkerung war von Anfang an durch beispiellose Grausamkeit geprägt. Es waren die griechischen Aufständischen, die zuerst eine verbrecherische, gegen muslimische Zivilisten gerichtete Kriegsführung anwandten, indem sie Tausende Männer, Frauen und Kinder aus den großen peloponnesischen Städten, wie Tripolitsa oder Kalamata, vertrieben und deren Häuser niederbrannten. In mehreren Fällen kam es zu Hinrichtungen und vereinzelt auch zu Massakern. Mehr als . Muslime wurden schon in den ersten Monaten des Aufstands ermordet. Die osmanischen Militär- und Polizeikräfte und vor allem die mit ihnen kooperierenden Irregulären reagierten darauf mit Gewaltexzessen, die in ihrer Brutalität selbst die der Aufständischen übertrafen, indem sie z. B. Gefangene köpften oder pfählten. Berichte darüber sorgten in der europäischen Öffentlichkeit für Empörung und zunehmende Solidarität mit der christlichen Bevölkerung. Vor allem das Massaker von Chios im Frühjahr , als die Osmanen die ostägäische Insel von den Aufständischen zurückeroberten und vier Fünftel der Bevölkerung entweder töteten oder versklavten, stellte einen Wendepunkt in der Geschichte der philhellenischen Bewegung dar, den der US-amerikanische Historiker Jon Western wie folgt beschreibt: The massacre of Chios transformed the disparate philhellenic movement into a more focused and coherent advocacy community. Lord Byron and the Romantics led the campaign to challenge the British government’s indifference to the Greeks. Their effort was not cast simply as an appeal to support the Greek insurgents but as a broader appeal to recast the Greek struggles as one in which humanity was fighting against both liberalism and conservatism. For the Romantics, identity and culture were the antidotes to the crass materialism and egoism of the Enlightenment and utilitarian notions of political economy. Other progressive Europeans and Americans also held romanticized visions of ancient Greece and joined in support of the Greek struggle. The London Greek Committee provided the organizational capacity to mobilize support. Während die osmanischen Gräuel an der griechisch-orthodoxen Bevölkerung der aufständischen Gebiete, aber auch die Gewalttaten gegen Griechen in Konstantinopel (Istanbul), Selânik (Thessaloniki) und Smyrna (Izmir) immer stärker ins Zentrum des Interesses der europäischen Öffentlichkeit rückten, wurden die nicht selten auf gleichermaßen brutale Art verübten Verbrechen gegen muslimi Western, Jon: Prudence or Outrage? Public Opinion and Humanitarian Intervention in Historical and Comparative Perspective. In: Klose, The Emergence (wie Anm. , Einleitung), -, hier .  Ebd., ; siehe auch Troebst, Stefan: Von den Fanarioten zur UÇK. Nationalrevolutionäre Bewegungen auf dem Balkan und die »Ressource Weltöffentlichkeit«. In: Europäische Öffentlichkeit. Transnationale Kommunikation seit dem . Jahrhundert. Hg. v. Jörg Requate und Martin Schulze Wessel. Frankfurt/M. [u. a.] , -.

62

D e r g ri e c hi s c h e U n a b h ä n gi g ke i t s k ri e g , 18 21-18 3 0

sche Zivilisten weitgehend ignoriert. Neben England, wo das besagte London Greek Committee und prominente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, allen voran der europaweit bekannte englische Dichter Lord George Gordon Byron (. Baron Byron), London zum Zentrum des europäischen Philhellenismus machten, entstanden auch in Deutschland, Frankreich, der Schweiz, Russland, Italien, Spanien sowie in den USA Unterstützerkreise des griechischen Freiheitskampfes. Die diversen Vereine der Philhellenen standen den Aufständischen bei, indem sie ihnen große Geldbeträge zukommen ließen und öffentlichen Druck auf die Regierungen der Großmächte ausübten, in den griechischosmanischen Krieg zugunsten der Aufständischen zu intervenieren. Russland ergriff als erste Großmacht unter Berufung auf seine im Frieden von Küçük Kaynarca () niedergeschriebene Rolle der Schutzmacht für die orthodoxen Christen im Osmanischen Reich für die griechische Seite Partei und forderte einen militärischen Eingriff zur Rettung der aus Sankt Petersburger Sicht von einer Vernichtung akut bedrohten Christen. Schon im Juni  warf der russische Botschafter in Konstantinopel (Istanbul) Dmitrij Vasil’evič Daškov der Hohen Pforte »die Absicht der Vernichtung eines ganzen Volkes« vor und warnte den Sultan, dass die »fernere Koexistenz« seines Reiches davon abhängig sei, »dass die Pforte die christliche Religion nicht mit Krieg und Beschimpfung bedrohe«. Damit machte das Zarenreich schon sehr früh klar, dass es in der Griechischen Frage das Legitimitätsprinzip monarchischer Herrschaft aufgeben würde. Die britische Regierung hingegen beharrte für längere Zeit auf ihrem Prinzip der Nicht-Intervention und versuchte zudem, den Zaren Alexander I. von einer russischen Einmischung abzuhalten. Der seit  als Außenminister dienende Lord Castlereagh (Henry Robert Stewart, Marquess of Londonderry), ein bekennender Verfechter der Doktrin der Nicht-Intervention, hatte noch kurz vor seinem Tod  Alexander I. eindringlich ins Gewissen geredet, indem er das russische Staatsoberhaupt darauf hinwies, dass die Unterstützung der griechischen Revolte einem Verrat an den grundsätzlichen Prinzipien der Heiligen Allianz gleichkäme. Seine Worte zeigten Wirkung, und Sankt Petersburg hielt sich erstmal in der Griechischen Frage zurück. Mit dem Tod Castlereaghs verloren die Verfechter des europäischen Gleichgewichtsbündnisses und des Prinzips der Nicht-Intervention einen ihrer bedeutendsten Vertreter. Sein Nachfolger und  Calic, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung), -; Zelepos, Ioannis: Griechischer Unabhängigkeitskrieg (-). In: Europäische Geschichte Online (EGO). Hg. v. Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), .., http://www. ieg-ego.eu/zeleposi--de (letzter Zugriff: ..).  Siehe dazu ausführlicher Družinina, Elena I.: Kjučuk-Kajnardžijskij mir  goda: Ego podgotovka i zaključenie. Moskau .  Calic, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung), .  Bew, John: »From an Empire to a Competitor«: Castlereagh, Canning and the Issue of International Intervention in the Wake of the Napoleonic Wars. In: Simms/Trim, Humanitarian Intervention (wie Anm. , Einleitung), -, hier .

63

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

politischer Erzrivale George Canning und die Whig-Partei, der er angehörte, setzten zunächst die nicht-interventionistische Außenpolitik der Tories-Partei fort. Allerdings hatten Canning und seine Partei früher interventionistische Ansichten im Hinblick auf die britische Außenpolitik vertreten, sodass sich in philhellenischen Kreisen die Hoffnung breitmachte, dass London nun eine progriechische Haltung einnehmen würde. Aber der neue Außenminister behielt in der Griechischen Frage anfangs den Kurs Castlereaghs bei. Als ihn der Zar im Dezember  zu einem Kongress zu diesem Thema einlud, schlug er sogar die Einladung aus. Die britische Regierung zeigte sich in den ersten Jahren des griechisch-osmanischen Krieges entschlossen, nicht nur vom russischen Druck, sondern auch von anderen Entwicklungen unbeirrt zu bleiben und an ihrer Grundposition festzuhalten. Im April  verlor Lord Byron in der heute westgriechischen Hafenstadt Messolongi am Golf von Patras, wohin er Anfang  mit anderen Freiwilligen aus Westeuropa zur Unterstützung der durch osmanische Truppen belagerten Griechen angereist war, infolge einer Lungenentzündung sein Leben für den griechischen Freiheitskampf. Er wurde nicht nur von den Aufständischen, sondern auch in der britischen Öffentlichkeit zu einem Märtyrer des Philhellenismus stilisiert. Der Druck auf die britische Regierung anlässlich dieses Ereignisses zu handeln, stieg an. Einen Wendepunkt in der Frage der Einmischung der europäischen Großmächte zugunsten der Aufständischen markiert die Entscheidung des Sultans Mahmud II. , den Gouverneur von Ägypten Muhammad Ali Pascha (Paşa) mit der Niederschlagung der griechischen Revolte zu beauftragen. Als Belohnung für die erfolgreiche Bekämpfung der Aufständischen hatte ihm die Hohe Pforte den Peloponnes sowie Kreta in Aussicht gestellt. Sein Sohn Ibrahim Pascha (Paşa) sollte dort der neue Statthalter werden. In den europäischen Hauptstädten hegte man die Befürchtung, dass sich der Peloponnes unter der Herrschaft der Ägypter zu einem Zentrum der Piraterie, des Menschenraubs, des Sklavenhandels und anderer verbrecherischer Aktivitäten entwickeln würde. Mit der Landung der von Ibrahim angeführten Truppen auf dem Peloponnes nahm im Februar  die Brutalität der osmanischen Kriegsführung, vor allem gegen Zivilisten, stark zu. Der russische Botschafter in London Christoph Fürst von Lieven warnte im Oktober  die britische Öffentlichkeit vor der Existenz eines sogenannten Barbarisierungsplans der Osmanen, der das Ziel verfolge, die griechisch-orthodoxe Bevölkerung zu deportieren, zu versklaven und zu islamisieren. Trotz eines osmanischen Dementis war die europäische Öffentlichkeit von dieser Nachricht sowie den von grausamen Verbrechen be     

64

Ebd., . Ebd., . Calic, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung),  f. Zelepos, Griechischer Unabhängigkeitskrieg (wie Anm. ). Calic, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung), . Bew, Intervention (wie Anm. ), .

D e r g ri e c hi s c h e U n a b h ä n gi g ke i t s k ri e g , 18 21-18 3 0

gleiteten militärischen Erfolgen der Truppen Ibrahims aufgebracht. Anfang  signalisierte eine Aussage Cannings den bevorstehenden Kurswechsel der britischen Politik in der Griechischen Frage: [D]er Verkauf in die Sklaverei – die Zwangskonversionen – die Entvölkerung von den Christen – die Rekrutierungen aus den islamischen Ländern – die bevorstehende Einrichtung einer neuen Macht der Barbaresken in Europa – dies sind […] neue Fakten, deren Konsequenzen unvorhersehbar sind, [und] die […] zur Grundlage einer neuen Art des Redens und Handelns gemacht werden können. Der britische Außenminister reagierte damit auf den zunehmenden Druck der britischen Öffentlichkeit, die ihn persönlich für das schlechte Krisenmanagement verantwortlich machte. Die modifizierte Position Cannings war aber auch das Ergebnis der Verschlechterung seines von Anfang an schwierigen Verhältnisses zum österreichischen Staatskanzler Clemens Fürst von Metternich. Letzterer gehörte zu den erbittertsten Gegnern des griechischen Unabhängigkeitskampfes, da er diesen als eine große Gefahr für die im Wiener Kongress geschaffene Ordnung und demzufolge auch für den Zusammenhalt des Habsburger Vielvölkerreichs betrachtete. Während Metternich mit Castlereagh einen verlässlichen Partner auf britischer Seite hatte, war ihm Canning, der eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber der Heiligen Allianz einnahm, höchst unsympathisch. In Wien registrierte man mit Unbehagen, dass Canning sich zunehmend weniger an die Prinzipien der Allianz gebunden sah. Cannings Position gegenüber dem griechischen Unabhängigkeitskampf veränderte sich auch als Folge der Erkenntnis, dass sich die Lage der Aufständischen trotz der vielen militärischen Rückschläge auf dem Peloponnes stabilisiert hatte. Dementsprechend wurde ihnen  von London der Status der Kriegspartei zuerkannt. Vor allem aber war es die Angst vor einem russischen Alleingang in der Griechischen Frage, welche die britische Regierung zwang, ihre außenpolitische Grundeinstellung der Nicht-Intervention in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates aufzugeben und gemeinsam mit Russland (und später auch Frankreich) zugunsten der rebellierrenden und einer zusehends exzessiveren Unterdrückungsgewalt ausgesetzten Griechen militärisch zu intervenieren.  Brewer, David: The Greek War of Indepedence: The Struggle for Freedom from Ottoman Oppression. New York [u. a.] ,  f.; Calic, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung),  f.  Zit. n. ebd., .  Western, Prudence (wie Anm. ), .  Calic, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung), .  Western, Public Opinion (wie Anm. ), .  Ebd.  Bew, Intervention (wie Anm. ), .  Ebd.; Western, Prudence, .

65

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

Im April  vereinbarten Großbritannien und Russland im Sankt Petersburger Protokoll, in der Griechischen Frage nach den »Geboten der Religion, der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit« zu handeln und von Osmanen und Griechen ein Ende der militärischen Auseinandersetzung zu verlangen. Zudem einigten sie sich darauf, dass nach Ende der Kampfhandlungen aus den aufständischen Gebieten ein tributpflichtiges Fürstentum des Osmanischen Reiches werden sollte. Schließlich verpflichteten sie sich gegenseitig, keine territorialen Ansprüche auf Gebiete der betreffenden Region zu erheben. Den beiden Großmächten schloss sich ein Jahr später auch Frankreich an. Diese drei Mächte unterzeichneten am . Juli  den Londoner Vertrag, in dem noch einmal das unverzügliche Einstellen der Kampfhandlungen in den »griechischen Provinzen und den Inseln des Archipels« gefordert und die Gründung einer autonomen, tributpflichtigen Provinz Griechenland innerhalb des Osmanischen Reiches beschlossen wurden. In einem zusätzlichen, geheimen Artikel wurde die Entscheidung der drei Mächte niedergeschrieben, Osmanen und Griechen unter Anwendung »aller Mittel« zu einem Waffenstillstand zu zwingen, sollten diese einen Monat nach Unterzeichnung des Londoner Vertrags ihre Kampfhandlungen nicht eingestellt haben: In the Name of the Most Holy and Undivided Trinity. His Majesty the King of the United Kingdom of Great Britain and Ireland, His Majesty the King of France and Navarre, and His Majesty the Emperor of All the Russias, penetrated with the necessity of putting an end to the sanguinary struggle which, while it abandons the Greek Provinces and the Islands of the Archipelago to all the disorders of anarchy, daily causes fresh impediments to the commerce of the States of Europe, and gives opportunity for acts of Piracy which not only expose the subjects of the High Contracting Parties to grievous losses, but also render necessary measures which are burthensome for their observation and suppression; His Majesty the King of the United Kingdom of Great Britain and Ireland, and His Majesty the King of France and Navarre, having moreover received from the Greeks an earnest invitation to interpose their Mediation with the Ottoman Porte; and, together with His Majesty the Emperor of All the Russians, being animated with the desire of putting a stop to the effusion of blood, and of preventing the evils of every kind which the continuance of such a state of affairs may produce; They have resolved to combine their efforts, and to regulate the operation thereof, by a formal Treaty, for the object of re-establishing peace between the contending parties, by means of an arrangement called for, no less by sentiments of humanity, than by interests for the tranquility of Europe. […] Additional Article. In case the Ottoman Porte should not, within the space of one month, accept the Mediation which is to be proposed to it, the High Con Calic, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung), ; Bew, Intervention (wie Anm. ), .

66

D e r g ri e c hi s c h e U n a b h ä n gi g ke i t s k ri e g , 18 21-18 3 0

tracting Parties agree upon the following measures: Commercial Relations to be entered into with Greece in case of Turkish Refusal of Mediation. § I. It shall be declared to the Porte, by their Representatives at Constantinople, that the inconveniences and evils described in the patent Treaty as inseparable from the state of things which has, for six years, existed in the East, and the termination of which, by the means at the command of the Sublime Ottoman Porte, appears to be still distant, impose upon the High Contracting Parties the necessity of taking immediate measures for forming a connection with the Greeks. It is understood that this shall be effected by establishing commercial relations with the Greeks, and by sending to and receiving from them, for this purpose, Consular Agents, provided there shall exist in Greece authorities capable of supporting such relations. § II. If, within the said term of one month, the Porte does not accept the Armistice proposed in Article I of the patent Treaty, or if the Greeks refuse to carry it into execution, the High Contracting Powers shall declare to either of the Contending Parties which may be disposed to continue hostilities, or to both of them, if necessary, that the said High Powers intend to exert all the means which circumstances may suggest to their prudence, for the purpose of obtaining the immediate effects of the Armistice of which they desire the execution, by preventing, as far as possible, all collision between the Contending Parties; and in consequence, immediately after the above-mentioned declaration, the High Powers will, jointly, exert all their efforts to accomplish the object of such Armistice, without, however, taking any part in the hostilities between the Two Contending Parties. Immediately after the signature of the present Additional Article, the High Contracting Powers will, consequently, transmit to the Admirals commanding their respective squadrons in the Levant, conditional Instructions in conformity to the arrangements above declared. Measures to be adopted in case of Refusal of Ottoman Porte. § III. Finally, if, contrary to all expectation, these measures do not prove sufficient to produce the adoption of the propositions of the High Contracting Parties by the Ottoman Porte; or if, on the other hand, the Greeks decline the conditions stipulated in their favour, by the Treaty of this date, the High Contracting Powers will, nevertheless, continue to pursue the work of pacification, on the bases upon which they have agreed; and, in consequence, they authorize, from the present moment, their Representatives at London, to discuss and determine the future measures which it may become necessary to employ. The present Additional Article shall have the same force and validity as if it were inserted, word for word, in the Treaty of this day. It shall be ratified, and the Ratifications shall be exchanged at the same time is those of the said Treaty.  Treaty between Great Britain, France, and Russia, for the Pacification of Greece. Signed at London, th July, . In: The Map of Europe by Treaty Showing the Various Political and Territorial Changes which Have Taken Place since the General Peace of . Bd. . Hg. v. Edward Hertslet. London , -, hier , -.

67

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

Wien lehnte eine Beteiligung an dem Vorhaben ab, da man österreichischerseits der nationalrevolutionären Bewegung auf der Halbinsel Morea eindeutig feindlich gegenüberstand. Metternich befürchtete, wie gesagt, eine Ansteckungsgefahr im eigenen Vielvölkerstaat. Zudem war die österreichische Regierung der Ansicht, dass durch das britisch-russisch-französische Abkommen der Expansionismus Sankt Petersburgs in Südosteuropa begünstigt, während der Habsburger Einfluss auf die Region geschwächt würde. Die Österreicher hielten an dem Grundprinzip ihrer Südosteuropapolitik des Weiterbestehens des Osmanischen Reiches als wichtigstes Hindernis für die russische Ausbreitung in Richtung Süden fest. Schon Kaiser Joseph II. hatte einen Gesandten wissen lassen: »Die Nachbarschaft des Turbans wird für Wien weniger gefährlich sein, als die der Hüte.« Demzufolge blieb Österreich einer Intervention zugunsten der Griechen fern. Dieselbe Position nahm auch das mit Wien eng verbündete Preußen ein. Nachdem die Hohe Pforte das im Londoner Abkommen festgelegte Ultimatum zur Einstellung der Kampfhandlungen ignorierte, beorderten die drei Großmächte ihre alliierte Kriegsflotte zur peloponnesischen Halbinsel mit dem Auftrag, den Waffenstillstand durchzusetzen. Als Mitte Oktober  in der Bucht von Navarino Nachschub für die Truppen von Ibrahim Pascha (Paşa) ankam, erhielt der Kommandant der alliierten Flotte Edward Codrington den Befehl, sich dorthin zu begeben und vor Anker zu gehen, um Ibrahim zu zwingen, den brutalen Vernichtungskrieg, den sein ägyptisches Expeditionskorps gegen die griechisch-orthodoxe Bevölkerung führte, zu beenden. Infolge einer von Codrington errichteten Blockade kam es zwischen den alliierten Seestreitkräften und der osmanisch-ägyptischen Flotte zu einer dreitägigen Seeschlacht, bei der letztere komplett vernichtet wurde und um die . Seeleute ums Leben kamen. Daraufhin marschierte Russland in die unter osmanischer Herrschaft stehenden Donaufürstentümer ein und erklärte im April  dem Sultan offiziell den Krieg, während im September desselben Jahres französische Truppen in einer Stärke von . Mann im Auftrag der drei alliierten Großmächte auf dem Peloponnes landeten, um den Abzug der Armee Ibrahims sicherzustellen und zu überwachen. Dazu hatte sich Muhammad Ali Pascha (Paşa) im Abkommen von Alexandria vom . Juli  verpflichtet. Der  Monate lang dauernde Krieg zwischen Russland und dem Osmanischen Reich endete im September  mit dem Frieden von Adrianopel (Edirne), zu dem die Hohe Pforte nach der Einnahme der gleichnamigen Stadt durch russische Truppen gezwungen wurde. Darin musste der Sultan u. a. die Entstehung eines griechischen Staates unter osmanischer Oberhoheit anerkennen. Schlussendlich wurde in dem von Großbritannien, Frankreich und Russland am . Februar  unter Zit. n. Calic, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung), .  Ebd., .  Temperley, Harold: The Foreign Policy of Canning, -. England, the Neo-Holy Alliance, and the New World. London , -.

68

D e r g ri e c hi s c h e U n a b h ä n gi g ke i t s k ri e g , 18 21-18 3 0

zeichneten Londoner Protokoll die Gründung eines souveränen griechischen Königreichs bestehend aus dem Peloponnes, dem südlichen Teil des heutigen Mittelgriechenlands und einigen kleineren Ägäis-Inseln beschlossen. Die Seeschlacht von Navarino in der zeitgenössischen Völkerrechtsliteratur

Der militärische Eingriff der Alliierten bei Navarino, der zur Gründung des ersten Nationalstaates in Südosteuropa führte, wird in der jüngsten Fachliteratur als der »erste Präzedenzfall« einer »humanitären Intervention« angeführt. Der »Präzedenzwert des griechischen Falles« lässt sich dem Völkerrechtshistoriker Mark Swatek-Evenstein zufolge »eher aus seiner Rezeption und seinem Ergebnis – der Aufnahme Griechenlands in die europäische Staatenwelt – als aus den Vorgängen selbst« ableiten: Obwohl die Zerstörung der osmanisch-ägyptischen Flotte kein geplanter, sondern ein versehentlicher militärischer Eingriff gewesen sei, hätten renommierte Rechtsgelehrte des . Jahrhunderts diesen als einen Fall humanitärer Intervention behandelt. Einer der ersten, der die Einmischung der Großmächte in den griechisch-osmanischen Krieg auf diese Weise interpretierte, war der US-amerikanische Völkerrechtler Henry Wheaton im ersten Band seines  erschienenen Standardwerks »Elements of International Law«. Obwohl er im Allgemeinen die Intervention »in die innere Entwicklung eines Staates oder die Übernahme dessen Kolonien« für unrechtmäßig hielt, hieß Wheaton ausnahmsweise den militärischen Eingriff Großbritanniens, Frankreichs und Russlands in der Bucht von Navarino im Namen der »Humanität« für »völlig rechtmäßig«. In seiner Argumentation stützte er sich insbesondere auf das »oberste Gebot der Selbsterhaltung« und auf das daraus resultierende Recht eines Drittstaats, nach dem Hilferuf einer sich in akuter Gefahr befindenden Nation zu ihren Gunsten einzugreifen, um ein solches Gut zu verteidigen, das der intervenierende Drittstaat auch in seinem eigenen Interesse verteidigt hätte: The interference of the Christian powers of Europe in favour of the Greeks, who, after enduring ages of cruel oppression, had shaken off the Ottoman yoke, affords a further illustration of the principles of international law authorizing such an interference, not only where the interests and safety of the other powers are immediately affected by the internal transactions of a particular state, but where the general interests of humanity are infringed by the  Calic, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung), -; Schulz, Oliver: Ein Sieg der zivilisierten Welt? Die Intervention der europäischen Großmächte im griechischen Unabhängigkeitskrieg (-). Berlin , -.  Swatek-Evenstein, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), ,  f.  Segesser, Daniel Marc: Humanitarian Intervention and the Issue of State Sovereignty in the Discourse of Legal Experts between the s and the First World War. In: Klose, The Emergence (wie Anm. , Einleitung), -, hier  f.

69

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

excesses of a barbarian and despotic government. These principles are fully recognised in the treaty for the pacification of Greece, signed at London on the th of July, . [T]he interference of the Christian powers of Europe to rescue a whole nation, not merely from religious persecution, but from the cruel alternative of being transported from their native land into Egyptian bondage, or exterminated by their merciless oppressors was justifiable. The rights of human nature, wantonly outraged by this cruel warfare, prosecuted for six years against a civilized and Christian people, to whose ancestors mankind are so largely indebted for the blessings of arts and of letters, were but tardily and imperfectly vindicated by this measure; but its principle was fully justified by the great paramount law of self-preservation. »Whatever a nation may lawfully defend for itself, it may defend for another people, if called upon to interpose.« The interference of the Christian powers to put an end to this bloody contest might therefore have been safely rested upon this ground alone, without appealing to the interests of commerce and of the repose of Europe, which, as well as the interests of humanity, are alluded to in the treaty as the determining motives of the high contracting parties. Im weiteren Verlauf des . und beginnenden . Jahrhunderts wurde die Seeschlacht von Navarino in völkerrechtlichen Abhandlungen wiederholt diskutiert und im Sinne des Schutzes »zivilisierter« Christen vor barbarischen »Muslimen« als eine rechtmäßige Intervention mit humanitärem Hintergrund angeführt. So hatte z. B. der einflussreiche liberale englische Denker John Stuart Mill  bezugnehmend auf den griechischen Fall Folgendes konstatiert: »Intervention of this description has been repeatedly practised during the present generation, with such general approval, that its legitimacy may be considered to have passed into a maxim of what is called international law.« In der  erschienenen siebten (und vom Straßburger Professor für Völkerrecht und Staatswissenschaft Friedrich Heinrich Geffcken überarbeiteten) Auflage der erstmalig  veröffentlichten Völkerrechtsabhandlung von August Wilhelm Heffter wird unter Berücksichtigung des Vorfalls von Navarino die Voraussetzung des Bürgerkriegs und des Hilfeersuchens seitens einer der darin involvierten Kriegsparteien als notwendiges Kriterium für die völkerrechtliche Legitimität einer militärischen Intervention herangezogen: Sofern es sich nicht von schon drohenden Rechtsverletzungen oder Gefahren handelt, kann selbst die schreiendste Ungerechtigkeit, welche in einem Staate  Wheaton, Henry: Elements of International Law with a Sketch of the History of the Science. Philadelphia , , .  Swatek-Evenstein, Geschichte (wie Anm. , Einleitung),  f; siehe auch Onuf, Nicholas: Humanitarian Intervention: The Early Years. In: Florida Journal of International Law  () , -.  Mill, John Stuart: A few words on Non-Intervention. In: Fraser’s Magazine (). Nachgedruckt in: Foreign Policy Perspectives  (), -, hier .

70

D e r g ri e c hi s c h e U n a b h ä n gi g ke i t s k ri e g , 18 21-18 3 0

begangen wird, keinen anderen zu einem eigenwilligen Einschreiten gegen den ersteren berechtigen; denn kein Staat ist zum Richter des anderen gesetzt. Indessen gebietet und rechtfertigt die moralische Pflicht den Versuch gütlicher Intercession zur Abwendung der Ungerechtigkeit, und wenn dennoch dabei beharrt werden sollte, wenn vorzüglich eine Gewaltherrschaft alles Recht mit Füßen tritt, die völlige Abbrechung jeder Verbindung. Eine weitere Befugnis, nämlich zu einer tätlichen Kooperation eröffnet sich, wenn in einem Staate ein innerer Krieg wirklich ausgebrochen ist und ein anderer Staat von dem im Recht befindlichen aber widerrechtlich bedrängten Teil um Hilfe angerufen wird. Es ist schon das Recht jedes einzelnen Menschen, dem widerrechtlich Gekränkten zu seiner und seines Rechtes Erhaltung beizustehen; es muß auch das Recht der Staaten sein. Der Gebrauch darf freilich kein leichtsinniger sein; denn das Urteil über Recht und Unrecht im einzelnen Fall kann leicht trügen; die Hilfeleistung nimmt zugleich Leben und Vermögen der Untertanen in Anspruch; es kann die Gefahr und der schlimmste Erfolg auf den Hilfeleistenden selbst zurückfallen. Unter allen Umständen muss die Kooperation in den natürlichen Schranken des Accessorischen bleiben; sie kann nicht aufgedrungen werden, nicht weitergehen als der Wille der Hauptpartei und muss aufhören, wenn diese selbst nicht mehr existiert oder sich unterwirft. Nach diesen Grundsätzen entscheidet sich u. a., inwiefern eine Einmischung in Religionsangelegenheiten eines fremden Staates, namentlich bei religiösen Verfolgungen und Maßregeln der Intoleranz zulässig sei. Eben darauf beruhte die Interpretation für Griechenland und die Rechtmäßigkeit der Schlacht von Navarino. Eine teils modifizierte Position nahm der  im böhmischen Petrowitz geborene Emanuel von Ullmann ein. Der in Prag habilitierte und in Innsbruck und Wien lehrende Strafrechtler, der  an der Universität München die Nachfolge des Staats- und Völkerrechtsprofessors Franz von Holtzendorff antrat, erklärte die militärische Intervention der drei alliierten Großmächte in Navarino für rechtmäßig auf der Grundlage der Tatsache, dass die im aufständischen Gebiet entstandene Situation eine Gefahr für andere, im Konflikt nicht involvierte Staaten dargestellt habe. Bemerkenswerterweise hat er zuvor noch klargestellt, dass die Intervention aus humanitären Gründen im Allgemeinen keine völkerrechtliche Legitimation genieße. Eine völkergewohnheitsrechtliche Ausnahme stelle lediglich der Fall der Intervention zum Schutz der in nichtchristlichen  Heffter, August Wilhelm: Das europäische Völkerecht der Gegenwart auf den bisherigen Grundlagen. . Aufl., überarbeitet von Friedrich Heinrich Geffcken. Berlin ,  f.  Zu seinem Lebenslauf und zu seinen Ansichten bezüglich des Verhältnisses von Völkerrecht und Staatsrecht siehe Wiederhold, Steffen: Die Lehren vom Monismus mit Primat staatlichen Denkens. Sonderwege deutschen Völkerrechtsdenkens im Kaiserreich und deren Bewahrung durch die Bonner Schule. Baden-Baden , -.

71

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

Staaten unterdrückten christlichen Minderheiten in der internationalen Staatenpraxis dar. Nichtsdestoweniger erklärte von Ullmann das militärische Eingreifen der Großmächte in den griechisch-osmanischen Krieg nicht unter Berufung auf die humanitäre Notlage der christlichen Bevölkerung, sondern auf der besagten Grundlage einer existierenden Bedrohung für Drittstaaten bzw. für den Weltfrieden für legitim: In Fällen religiöser Bedrückung der Untertanen eines Staates negiert die heutige Doktrin die Zulässigkeit der Intervention. Dagegen wird gegenüber nichtchristlichen Staaten in Fällen barbarischer Verfolgung der christlichen Bevölkerung die Intervention der christlichen Mächte befürwortet. Hartnäckig geführte Bürgerkriege, anarchische Zustände können unter Umständen ein Eingreifen dritter Staaten rechtfertigen, so namentlich dann, wenn die Gewaltakte über die Grenzen des insurgierten Landes hinaus die Interessen anderer Staaten konstant gefährden. So z. B. in dem Falle der Intervention der Mächte in Griechenland, die mit der Bildung des Königreiches Griechenland (durch den Vertrag vom . Mai ) endigte. Auch der Straßburger Völkerrechtsprofessor Friedrich Heinrich Geffcken hielt die militärische Intervention der Großmächte zugunsten der Griechen  insofern für rechtmäßig, als sie der Beendung des Blutvergießens und eines über die Staatsgrenzen hinausgehenden, den Weltfrieden bedrohenden Bürgerkriegs gedient habe: Anders steht schon die Intervention, welche durch die behauptete Notwendigkeit begründet wird, einem verlängerten Blutvergießen, der Anarchie und dem Bürgerkrieg in einem Staate ein Ende zu machen; unzweifelhaft gibt es Fälle, wo starke Gründe zu Gunsten eines solchen Einschreitens sprechen. [Bei] der Intervention der drei Mächte in der Griechischen Sache […] war der Grund, dem Blutvergießen und der erbarmungslosen Abschlachtung einer christlichen Bevölkerung durch Ibrahim Pascha ein Ende zu machen allerdings mitbestimmend, aber keineswegs allein entscheidend, es lag ein Bürgerkrieg vor, der sich nicht bloß im Inneren eines Staates abspielte, sondern durch Seeräuberei und Anarchie zur See die Interessen der Untertanen anderer Mächte erheblich gefährdete. In dem erstmals  erschienenen Standardwerk des in Göttingen promovierten und zuerst in Freiburg, anschließend in Basel und London und schließlich an der Universität Cambridge lehrenden Völkerrechtlers deutsch-jüdischer Ab Ullmann, Emanuel von: Völkerrecht. Neubearbeitung auf der Grundlage der . Auflage () im »Handbuch des öffentlichen Rechts«. Tübingen ,  f.  Geffcken, Friedrich Heinrich: Das Recht der Intervention. Separat-Abdruck des im Erscheinen begriffenen Handbuchs des Völkerrechts. Hg. v. Prof. Dr. von Holtzendorff. Hamburg , .

72

D e r K rim k ri e g , 18 53 -18 5 6

stammung Lassa Francis Lawrence Oppenheim wird schließlich die alliierte Intervention in den griechischen Unabhängigkeitskampf als Präzedenzfall für eine im Entstehen begriffene völkerrechtliche Doktrin behandelt: § . In contradistinction to intervention by right, there are other interventions which must be considered admissible, although they violate the independence or the territorial or personal supremacy of the State concerned, and although such State has by no means any legal duty to submit patiently and suffer the intervention. Of such interventions in default of right there are two kinds generally admitted and excused – namely, such as are necessary in selfpreservation and such as are necessary in the interest of the balance of power. […] § . Many jurists maintain that intervention is likewise admissible, or even has a basis of right, when exercised in the interest of humanity for the purpose of stopping religious persecution and endless cruelties in time of peace and war. That the Powers have in the past exercised intervention on these grounds, there is no doubt. Thus Great Britain, France, and Russia intervened in  in the struggle between revolutionary Greece and Turkey, because public opinion was horrified at the cruelties committed during this struggle. And many a time interventions have taken place to stop the persecution of Christians in Turkey. But whether there is really a rule of the Law of Nations which admits such interventions may well be doubted. Yet, on the other hand, it cannot be denied that public opinion and the attitude of the Powers are in favour of such interventions, and it may perhaps be said that in time the Law of Nations will recognise the rule that interventions in the interest of humanity are admissible, provided they are exercised in the form of a collective intervention of the Powers.

Der Krimkrieg, 1853-1856

Der Druck von Sankt Petersburg auf die anderen Großmächte, in die Griechische Frage einzugreifen, war nur der Anfang einer während des . Jahrhunderts nahezu ununterbrochenen russischen Interventionspolitik in das osmanische Südosteuropa. Nach dem letzten russischen Feldzug gegen die Osmanen  hatte Sankt Petersburg in der Orientalischen Frage eine konsequente Politik der Schwächung des »kranken Mannes am Bosporus« verfolgt. Den Grundpfeiler der russischen Zermürbungstaktik bildete der »Einsatz der Religion unterstützt durch eine anhaltende militärische Bedrohung«. Dreh- und Angelpunkt der  Oppenheim, Lassa: International Law. A Treatise. Bd. : Peace. . Aufl. London [u. a.] , ,  [Hervorheb. i. O.].  Figes, Orlando: Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug. Berlin ,  (Originalausgabe: Crimea. The Last Crusade. London ).

73

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

Sankt Petersburger Rhetorik zur Begründung der Einmischung in die Angelegenheiten des benachbarten Staates war der besagte traditionelle Anspruch Russlands, die orthodoxen Christen des Osmanischen Reiches anzuführen und zu beschützen. Diese stellten mit über zehn Millionen Untertanen des Sultans das größte christliche millet (millet-i-Rûm) dar. Dieser Anspruch wurde von Seiten des Zaren Nikolaus I.  gegen die Hohe Pforte zum wiederholten Mal mit großem Nachdruck erhoben. Auslöser dafür war die Rivalität zwischen Katholiken und Orthodoxen in der Frage der Kontrolle über die Kirche vom Heiligen Grab in Jerusalem sowie die Geburtskirche in Bethlehem. Seit Längerem stritten sich die beiden Religionsgemeinschaften über – mehr oder weniger wichtige – Angelegenheiten, die sich größtenteils auf die Nutzungsrechte der Grabeskirche bezogen. Die Rivalität hatte sich im Jahr  stark zugespitzt, als das römisch-katholische Osterfest mit dem griechisch-orthodoxen zusammenfiel und sich die Priester der beiden Kirchen in einen Wettlauf begaben, wer als Erster sein Tuch über den Altar legen würde. Jerusalem spielte für alle Konfessionen des christlichen Glaubens eine wichtige Rolle, so auch bei den orthodoxen Russen, was sich u. a. in der Tatsache widerspiegelte, dass in den ersten Jahrzehnten des . Jahrhunderts die Pilger aus Russland kontinuierlich die Mehrheit der zum Osterfest nach Jerusalem anreisenden Gläubigen ausmachten. Die tiefe Leidenschaft und religiöse Hingabe orthodoxer Pilger, vor allem der russischen, die in westlichen Augen bei der Ausführung ihres Glaubensbekenntnisses »seltsame Rituale« anwandten und in ein »wildes Gebaren« verfielen, sorgten bei den eher zurückhaltenden Katholiken und Protestanten für Irritation und Ernüchterung. Die wachsende Präsenz der Russen im Heiligen Land, die auch mit der Errichtung eines Gebäudekomplexes zur Unterstützung der eigenen Pilger (bestehend aus Herberge, Krankenhaus, Kapelle, Schule und Marktplatz) zum Ausdruck kam, beunruhigte den Westen zusätzlich. Die größte Sorge um diese Entwicklung trugen die Franzosen, die eine bis zu den Kreuzzügen zurückreichende besondere historische Beziehung ihres Staates zu Palästina beanspruchten. Ihr starkes Interesse an den heiligen Stätten, die sie nicht der russischen Kontrolle überlassen wollten, bekundeten sie mit der Einrichtung eines Konsulats in Jerusalem .  standen sich Russen und Franzosen in der Angelegenheit der Reparatur des Daches der Grabeskirche, die sowohl die Katholiken als auch die Orthodoxen für sich beanspruchten, direkt gegenüber. Die große Bereitschaft, die Restauration zu übernehmen, resultierte aus der Hoffnung, dadurch bei der Hohen Pforte als legitimer Eigentümer zu erscheinen, denn nach einem osmanischen Gesetz war der Besitzer des Daches auch der Besitzer des Hauses. Der französische Kaiser Napoleon III. unterstützte die Forderung der Katholiken, mit der Ausbesserung des Daches der Grabeskirche beauftragt zu werden, wäh Ebd., .  Ebd.

74

D e r K rim k ri e g , 18 53 -18 5 6

rend Russland auf ähnliche Weise für die orthodoxe Kirche Stellung bezog. Dabei berief sich Nikolaus I. auf den Friedensvertrag von Küçük Kaynarca aus dem Jahr , der nach Sankt Petersburger Lesart Russland ein Schutzrecht auf die orthodoxen Untertanen des Sultans einräumte. In der Tat wurde darin Russland das Recht anerkannt, die Rechte der orthodoxen Bevölkerung in den Donaufürstentümern zu schützen und »diplomatisch zugunsten einer neu in Konstantinopel (Istanbul) zu errichtenden orthodoxen Kirche und ihres Klerus vorzusprechen«. Allerdings zwang der französische Druck auf die Hohe Pforte, der mit der Entsendung eines Kriegsschiffes durch die Dardanellen im Mai  bedrohliche Gestalt annahm, den Sultan Abdülmecid I., im November desselben Jahres eine neue Regelung zu erlassen, die den Katholiken den freien Zugang zur Krippenkapelle und zur Geburtsgrotte sowie den Besitz eines Schlüssels zur Geburtskirche in Bethlehem gewährte. Der Zar reagierte erzürnt darauf und befahl die Mobilisierung seiner Armee für einen Einmarsch in die Donaufürstentümer. Zugleich ersuchte er um die Intervention der Briten, die die Franzosen in der Frage der Kontrollrechte über die Heiligen Stätten zurückhalten und die Vertragsrechte Russlands bei der Hohen Pforte durchsetzen sollten. Der Zar schmiedete zudem Aufteilungspläne bezüglich des Osmanischen Reiches, für die er sich ebenso die Unterstützung Großbritanniens erhoffte. Während Russland, Österreich und England sich die osmanische Beute im Einvernehmen unter sich aufteilen würden, sollte nach Vorstellung Nikolaus’ Frankreich aus den Verhandlungen ausgeschlossen werden. In einer Notiz, die der Zar Ende  verfasste, schrieb er seine konkreten Wünsche für ein postosmanisches Südosteuropa nieder: Russland würde die Donaufürstentümer und die Dobrudscha (Dobrudža) annektieren; Serbien und Bulgarien sollten unabhängige Staaten unter russischem Schutz werden; die Adriaküste sollte an Österreich fallen, während Großbritannien in den Besitz von Ägypten, Zypern und Rhodos gelangte; Kreta und etliche andere Ägäis-Inseln kämen an Frankreich; schließlich sollte aus Konstantinopel (Istanbul) bei Verwirklichung der zarischen Pläne eine freie Stadt unter internationalem Schutz werden, wobei der Bosporus durch eine russische Festung kontrolliert werden sollte. Um seine gegen die Integrität des Osmanischen Reiches gerichteten Pläne voranzutreiben, versuchte Nikolaus, neben dem Streit um die Vorrechte im Heiligen Land auch den österreichisch-osmanischen Zwiespalt um Montenegro, zu dessen Entstehung Russland wesentlich beigetragen hatte, zu nutzen. Auf russische Ermunterung hin hatte sich der orthodoxe Bischof von Montenegro Danilo Petrović-Njegoš im November  zum ersten weltlichen Erbfürsten ernannt. Montenegro befand sich zu diesem Zeitpunkt unter osmanischer Suzeränität. Der Sultan befürchtete, dass die Säkularisierung der Herrschaft Danilos  Schulz, Normen (wie Anm. ), .  Ebd., ; Figes, Krimkrieg (wie Anm. ),  f.  Schulz, Normen (wie Anm. ), ; Figes, Krimkrieg (wie Anm. ),  f.

75

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

die Vorstufe einer montenegrinischen Unabhängigkeitserklärung bedeuten würde, und ließ daraufhin Ende  seine Truppen in Montenegro einmarschieren. Danilo ersuchte wiederum Sankt Petersburg und Wien um Hilfe. Die Habsburger, die ihren Einfluss in Südosteuropa zu wahren versuchten und eine allgemeine Destabilisierung der Region befürchteten, verlangten von den Osmanen, den Angriff einzustellen und ihre Streitkräfte abzuziehen. Dabei drohten sie dem Sultan mit Krieg, sollte er diesen Forderungen nicht nachkommen. Der Zar erklärte sich bereit, in einem Kriegsfall Österreich beizustehen. Unter dem Druck der beiden Mächte lenkte die Hohe Pforte ein, zog die osmanischen Truppen aus Montenegro ab und zollte der neuen Herrschaft Danilos ihre Anerkennung. Nikolaus hatte eigentlich gehofft, dass sich der Sultan unnachgiebig zeigte und es zu einem Krieg käme, der die Desintegration des Osmanischen Reiches weiter beschleunigen würde. Trotz der aus seiner Sicht negativen Entwicklung im Konflikt um Montenegro, setzte der Zar seine Eskalationsstrategie konsequent fort. Im Februar  verlangte er von Konstantinopel (Istanbul), nicht nur die russischen Forderungen hinsichtlich der Heiligen Stätte zu akzeptieren, sondern zusätzlich noch seine Anerkennung als Protektor aller osmanischen Untertanen orthodoxen Glaubens, des gesamten orthodoxen Klerus sowie aller orthodoxen Kirchen im Osmanischen Reich. Seine Forderungen hatten den Charakter eines Ultimatums, da Nikolaus bei Nichterfüllung der russischen Ansprüche mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen drohte, was wiederum die Gefahr des Ausbruchs eines russisch-osmanischen Krieges stark erhöhte. Großbritannien, das sich von allen Großmächten am intensivsten um eine Deeskalation des Konflikts bemühte, empfahl der Hohen Pforte, in der Prestigefrage der Kontrolle über die Heilige Stätte Russland möglichst entgegenzukommen. Alle anderen Forderungen und Zumutungen des Zaren sollte Konstantinopel (Istanbul) hingegen ablehnen. Der Große Rat hielt sich nach Absprache mit Stratford Canning, der gerade seinen Posten als Botschafter in Konstantinopel (Istanbul) erneut bezogen hatte, an diese Empfehlung, als er im April der russischen Seite mitteilte, dass man bereit sei, über den Konflikt um das Heilige Land zu verhandeln, jedoch keine allgemeine Erweiterung der Schutzrechte Russlands hinsichtlich des orthodoxen millet in Erwägung ziehen wolle. Nachdem das osmanische Kabinett Mitte Mai ein revidiertes, etwas abgemildertes Forderungspaket Sankt Petersburgs erneut abgelehnt hatte, wurde schließlich im Mai  die Schließung der russischen Botschaft in Konstantinopel (Istanbul) vollzogen. Der Zar hatte, wie bereits erwähnt, ein großes Truppenkontingent von rund . Soldaten an die Grenze zu den Fürstentümern beordert, um diesen die Besetzung dieser Gebiete zu befehlen, falls der Sultan  Clewing, Staatensystem (wie Anm. , Einleitung),  f.  Schulz, Normen (wie Anm. ), .  Ebd., .

76

D e r K rim k ri e g , 18 53 -18 5 6

seinen Forderungen nicht nachkommen sollte. Nikolaus befahl Ende Juni seiner Armee, den Pruth zu überschreiten und die Drohung von der Besetzung der Moldau und der Walachei wahr zu machen. Nachdem London diese Aktion harsch verurteilt hatte, setzte der Zar seine Hoffnung auf die österreichische Unterstützung, damit der völkerrechtswidrige Einmarsch in die Fürstentümer nicht zu einem europäischen Krieg führen würde. In der Tat berief die österreichische Regierung am . Juli die Wiener Botschafterkonferenz ein, mit dem Ziel, eine Deeskalation im russisch-osmanischen Konflikt herbeizuführen und somit einen Krieg abzuwenden. Allerdings wurde der von den Vertretern Frankreichs, Großbritanniens, Österreichs und Preußens ausgearbeitete Notenentwurf von der Hohen Pforte abgelehnt, da aus Konstantinopler Sicht dadurch der Eindruck erweckt werden könnte, dass das jahrhundertealte Schutzsystem zugunsten der orthodoxen Kirche im Osmanischen Reich nicht das Ergebnis souveräner Akte des Sultans gewesen sei, sondern bi- und multilateraler Verträge, die der russische Zar diktiert hätte. Konstantinopel (Istanbul) zeigte sich außerdem darüber besorgt, dass im Kompromissangebot der russischen Politik, sich »in osmanische Angelegenheiten einzumischen, keine erkennbare Grenze gesetzt wurde«. Nach weiteren, erfolglosen Verhandlungen zur Verbesserung der Wiener Note, sodass sie für beide Konfliktparteien akzeptabel sein würde, forderte die osmanische Regierung im Oktober  Russland auf, binnen  Tagen die völkerrechtswidrige Besetzung der Donaufürstentümer zu beenden. Andernfalls würde der Befehlshaber der rumelischen Streitkräfte Omer Pascha (Paşa) nach Ablauf des Ultimatums die Kampfhandlungen eröffnen. Der daraufhin ausgebrochene russisch-osmanische Krieg endete für Sankt Petersburg nach dem britisch-französischen Kriegseintritt im September  auf Seiten des Sultans und der alliierten Einnahme Sewastopols in einem Fiasko. Während Nikolaus I. im Laufe des dreijährigen Krimkriegs verstarb, musste sein Nachfolger Alexander II. im Frieden von Paris der Entmilitarisierung des Schwarzen Meeres und der Internationalisierung der Donau zustimmen und den Verlust des Protektorats über die Moldau und die Walachei akzeptieren.

 Dass es sich dabei um einen Rechtsbruch handelte, wurde später auch von russischer Seite anerkannt. Maria Alexandrowna, die Ehefrau des nächsten Zaren, Alexander II., sagte  zum Krimkrieg Folgendes: »Unser Unglück besteht darin, dass wir nur schweigen können, dass wir dem Land nicht sagen können, dass dieser Krieg auf unschöne Weise begonnen wurde, durch ein taktloses und rechtswidriges Vorgehen – die Besetzung der Fürstentümer […] dass unsere Politik schon lange auf dem falschen Wege war und dass uns alles in jene Lage gebracht hat, in der wir uns jetzt befinden.« Zit. n. Schulz, Normen (wie Anm. ), .  Figes, Krimkrieg (wie Anm. ), .  Ebd., .  Calic, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung), .

77

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

Der Pariser Friedensvertrag (1856) und das Völkerrecht

Dem renommierten, zeitgenössischen deutschen Völkerrechtler Franz von Liszt zufolge war der Pariser Frieden für die Weiterbildung des Völkerrechts von »größter Bedeutung«, zumal damit eine neue Periode im Völkerrecht eingeleitet worden sei. Er begründete diese Einschätzung in der Einleitung seines erstmals  erschienenen Standardwerks »Das Völkerrecht: systematisch dargestellt« folgendermaßen: Für die Weiterbildung des Völkerrechts war der Pariser Frieden von größter Bedeutung. Die Türkei, deren Neugestaltung England und Frankreich erwarteten, wurde in das »Europäische Konzert« aufgenommen; das von den seit  beherrschten Donaumündungen abgedrängte Russland musste in die Neutralisierung des Schwarzen Meeres willigen (Aufhebung durch den Londoner Vertrag vom . März ; unter § ) und seinem ausschließlichen Schutzrecht über die Christen in der Türkei entsagen. […] Die Freiheit der Donauschifffahrt wurde von den Mächten ausgesprochen und ihre Durchführung einer europäischen Kommission übertragen (unter § ). Von besonderer Wichtigkeit war aber die Seerechtsdeklaration vom . April , hervorgegangen aus der Einigung der beiden großen Seemächte England und Frankreich, unterzeichnet von Preußen, Österreich, Frankreich, Großbritannien, Russland, Sardinien und der Pforte. Aus Sicht der heutigen Völkerrechtshistoriographie markierte der Pariser Friedensvertrag vor allem deshalb einen Wendepunkt, weil damit das Osmanische Reich in die bis dato ausschließlich christliche Völkerrechtsgemeinschaft als gleichberechtigter Staat aufgenommen und seine Souveränität und territoriale Integrität unter den Schutz des Europäischen Konzerts gestellt worden seien. Mit der Zulassung des Osmanischen Reiches als erster nichtchristlicher Staat zum Europäischen Konzert der Mächte habe die Völkerrechtsgemeinschaft ihren exklusiv christlich-europäischen Charakter aufgegeben und sich für die außereuropäische Staatenwelt geöffnet. Art.  des Friedensvertrags, der die Teilnahme der Hohen Pforte an den Privilegien der damaligen Gesellschaft der »zivilisierten Nationen« zuließ, lautete folgendermaßen: Article VII. Her Majesty the Queen of the United Kingdom of Great Britain and Ireland, His Majesty the Emperor of Austria, His Majesty the Emperor of the French, His Majesty the King of Prussia, His Majesty the Emperor of All the Russians, and His Majesty the King of Sardinia, declare the Sublime Porte admitted to participate in the advantages of the public law and system (Concert) of Europe. The Majesties engage, each on his part, to respect the inde Liszt, Franz von: Das Völkerrecht: systematisch dargestellt. ., durchaus umgearbeitete Aufl. Berlin ,  f.  Ziegler, Völkerrechtsgeschichte (wie Anm. ),  f.

78

D e r K rim k ri e g , 18 53 -18 5 6

pendence and the territorial integrity of the Ottoman Empire; guarantee in common the strict observance of that engagement; and will, in consequence, consider any act tending to its violation as a question of general interest. Die Ansicht, dass die Ausdehnung des internationalen Rechts in seiner europäischen Fassung auf das Herrschaftsgebiet des osmanischen Sultans einen Meilenstein in der Geschichte der Fortentwicklung des Völkerrechts von einer europäischen zu einer universellen Rechtsordnung darstellt, wurde bereits von Völkerrechtsgelehrten der zweiten Hälfte des . und frühen . Jahrhunderts vertreten. Bezeichnend dafür sind die Ausführungen Bluntschlis in der  erschienenen dritten Auflage seines Standardwerks »Das moderne Völkerrecht der zivilisierten Staaten« bezüglich der großen Bedeutung des Friedens von Paris für die Ausweitung des Kreises der Völkerrechtssubjekte auf die außereuropäische und nichtchristliche Staatenwelt: Noch die sogenannte Heilige Allianz vom September  wollte ein ausschließlich christliches Völkerrecht begründen und schützen. Allerdings war sie nicht mehr ganz so enge, wie das mittelalterliche Glaubensrecht. Sie unterschied nicht mehr zwischen rechtgläubigen und nicht-rechtgläubigen christlichen Bekenntnissen und beseitigte die feindliche Scheidung der verschiedenen Konfessionen. In ihr verband sich der katholische Kaiser von Österreich mit dem protestantischen König von Preußen und dem griechischen Zaren von Russland. Die verschiedenen Konfessionen sollten nur eine christliche Völkerfamilie bilden. Aber man wollte doch nicht über die Grenze der Christenheit hinausgehen und meinte in der christlichen Religion die Grundlage des neuen Völkerrechts zu finden. Die Türkei blieb noch ausgeschlossen von der europäischen Staatengemeinschaft. Freilich hatte man es schon seit Jahrhunderten nicht vermeiden können, auch mit der hohen Pforte völkerrechtliche Verträge abzuschließen. Aber erst auf dem Pariser Friedenskongress vom Jahre  wurde die Türkei als ein berechtigtes Glied in die europäische Staatengenossenschaft aufgenommen und dadurch der allgemeinmenschliche Charakter des Völkerrechts bewährt. Seither ist es auch in der Praxis anerkannt, dass die Grenzen der Christenheit nicht zugleich Grenzen des Völkerrechts seien. Unbedenklich breitet sich dasselbe über andere mohammedanische Staaten und ebenso über China und Japan aus und fordert von allen Völkern Achtung seiner Rechtsgrundsätze, mögen dieselben nun Gott nach der Weise der Christen oder der Buddhisten, nach Art der Mohammedaner  Peace Treaty Concerning the Termination of the Crimean War/Paris,  March  [im Folgenden: Treaty of Paris, ]. In: Fontes Historiae Iuris Gentium. Quellen zur Geschichte des Völkerrechts. Bd. /: -. Hg. v. Wilhelm G. Grewe. Berlin [u. a.] , -, hier . Nachgedruckt auch in The American Journal of International Law  () , - (Provisions Concerning the Neutralization of the Black Sea and Danube River Contained in the General Treaty Between Great Britain, Austria, France, Prussia, Russia, Sardinia, and Turkey. Signed March , ).

79

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

oder der Schüler des Confucius verehren. Endlich ist die Wahrheit durchgedrungen: Der religiöse Glaube begründet nicht und behindert nicht die Rechtspflicht. Lassa Oppenheim weist der Zulassung des Osmanischen Reiches zur Teilnahme an den Vorteilen der europäischen Staatengemeinschaft für die Universalisierung des Völkerrechts dieselbe große Bedeutung zu. In der  erschienenen dritten Auflage seines autoritativen Völkerrechtslehrbuchs »International Law. A Treatise« hält er dazu Folgendes fest: With the reception of Turkey into the Family of Nations International Law ceased to be a law between Christian States solely. This reception took place expressly through Article  of the Peace Treaty of Paris of , in which the five Great European Powers of the time, namely, France, Austria, England, Prussia, and Russia, and besides those Sardinia, the nucleus of the future Great Power Italy, expressly »déclarent la Sublime Porte admise à participer aux avantages du droit public et du concert européens«. From that time until the outbreak of the World War Turkey was invited to send delegates to every general congress which took place. Viele zeitgenössische Rechtstheoretiker, wie z. B. Heinrich Bernhard Oppenheim, William Edward Hall, John Westlake und Alphonse Rivier, nahmen in ihren Studien explizit die Position ein, dass das Osmanische Reich erst durch Art.  des Pariser Friedensvertrags von  in die Völkerrechtsgemeinschaft einbezogen wurde. Dieser Ansicht widersprach der englische Völkerrechtsexperte Herbert Arthur Smith  im ersten Band seiner Studie »Great Britain and the Law of Nations«. Darin verwies er auf die völkerrechtlichen Verträge, welche die Hohe Pforte mit den europäischen Großmächten vor  abgeschlossen hatte, und führte diese als Beleg dafür an, dass das Osmanische Reich schon vor dem Pariser Frieden Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft gewesen sei. Durch Art.  des Pariser Friedensvertrags habe lediglich eine Aufnahme der Hohen Pforte in das Europäische Konzert der Mächte stattgefunden, nicht hingegen in die Völkerrechtsgemeinschaft, zu der das Osmanische Reich seit Längerem schon dazugehört habe. Der Meinung Smiths schloss sich der britische Rechtsanwalt Hugh McKinnon Wood an. Ähnlich wie Smith stellt der ehemalige Direktor der Rechtssektion des Völkerbunds in einem  erschienenen Aufsatz eine Reihe von Verträgen dar, die die Hohe Pforte in der ersten Hälfte  Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staaten als Rechtsbuch dargestellt, dritte, mit Rücksicht auf die neueren Ereignisse bis  ergänzte Auflage. Nördlingen , .  Oppenheim, International Law (wie Anm. ), .  Wood, Hugh McKinnon: The Treaty of Paris and Turkey’s Status in International Law. In: The American Journal of International Law  () , -, hier  f.  Ebd.,  f.

80

D e r K rim k ri e g , 18 53 -18 5 6

des . Jahrhunderts mit den Großmächten, insbesondere Russland, abgeschlossen hatte. Diese hätten eine indirekte bzw. in der Praxis erfolgte Anerkennung der osmanischen Völkerrechtssubjektivität bedeutet. Des Weiteren schildert Smith die »Vorgeschichte« von Art. , die im März  beginnt, als Großbritannien und Frankreich in ihrer Kriegserklärung an Russland die Integrität des Osmanischen Reiches zum Bestandteil der Doktrin der Erhaltung des sogenannten Mächtegleichgewichts zwischen den europäischen Mächten erklärten. In Anlehnung daran schlug der Außenminister der Hohen Pforte Ali Pascha (Paşa) im April  im Laufe der vorbereitenden Beratungen zu den Friedensverhandlungen eine Formulierung zur Konkretisierung der Position des Osmanischen Reiches im System der europäischen Großmächte vor. Diese beinhaltete den Passus, dass »die Vertragsparteien die Bedeutung manifestieren möchten, der sie beimessen, dass das Osmanische Reich an den Vorteilen des Konzerts teilnimmt, die aus dem öffentlichen Recht zwischen den verschiedenen europäischen Staaten resultieren«. Indem Wood im besagten Aufsatz den terminologischen Änderungen nachgeht, denen dieser Passus in den verschiedenen Entwürfen des Friedensvertrags unterzogen wurde, gelangt er zum Schluss, dass die in Paris versammelten Politiker und Diplomaten von einer seit Längerem bestehenden Vollmitgliedschaft des Osmanischen Reiches in der Völkerrechtsgemeinschaft ausgingen, die durch Art.  lediglich bestätigt worden sei. Deren mit Art.  verbundene Absicht sei nicht gewesen, die förmliche Aufnahme des Osmanischen Reiches in die Völkerrechtsgemeinschaft zu beschließen, sondern die für die Hohe Pforte aus ihrer Teilnahme am Europäischen Konzert abzuleitenden Rechte und Vorteile ausdrücklich anzuerkennen. Der britische Rechtsexperte merkt abschließend an, dass zeitgenössische Völkerrechtler in ihrer Auslegung von Art.  aufgrund der Erwähnung des europäischen öffentlichen Rechts irregeführt worden seien und fälschlicherweise die These der Aufnahme des Osmanischen Reiches in den Kreis der Völkerrechtssubjekte aufgestellt hätten. Diese Gegenposition zur oben besagten Mehrheitsmeinung ist auch in der modernen Völkerrechtsliteratur anzutreffen. So schreibt der Bonner Rechtshistoriker Christian Hillgruber zum Missverständnis der Bedeutung von Art.  Folgendes:

 Ebd., .  Im französischen Original hieß es: »Les Parties Contractantes voulant manifester l’importance qu’elles attachent à ce que l’Empire Ottoman participe aux avantages du concert établi par le droit public entre les différents Etats Européens, déclarent considérer désormais cet Empire comme partie intégrante de ce concert de ce concert et s’engagent à respecter son intégrité territoriale et son indépendance comme condition essentielle de l’équilibre général.« Zit. n. ebd., ; siehe auch Kleinschmidt, Harald: Geschichte des Völkerrechts in Krieg und Frieden. Tübingen ,   Wood (wie Anm. ), The Treaty, .  Ebd., .

81

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

Wenn die europäischen Großmächte im Pariser Frieden von  die Hohe Pforte »der Vorteile des europäischen Rechts für teilhaftig« erklärten und zum Europäischen Konzert zuließen (Art. VII), so bedeutete dies nicht, wie vielfach behauptet, dass die Türkei erst dadurch Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft im weiteren Sinne geworden wäre; vielmehr war das Osmanische Reich bereits längst mit der europäischen Staatenwelt völkerrechtlich eng verbunden. Der prominente Völkerrechtler und Rechtsprofessor Wilhelm Grewe hat  insofern eine »Zwischenposition« eingenommen, als er den Inhalt von Art.  als eine Aufnahme in die Völkerrechtsgemeinschaft deutete, dennoch eine implizite Unterscheidung zwischen einem »regionalen europäischen Sondervölkerrecht«, zu dem das Osmanische Reich erst  zugelassen worden sei, und einem allgemeinen Völkerrecht, dem die Hohe Pforte offensichtlich schon früher angehört habe, vornimmt: Die im Art.  des Friedensvertrags von  ausgesprochene Zulassung der Türkei zu den »avantages du droit public et du concert européen«, über deren Bedeutung viel gestritten worden ist, hat im Grunde einen ziemlich klaren und eindeutigen Sinn: Es handelt sich um die Einbeziehung der Türkei in das regionale europäische Sondervölkerrecht und in das institutionelle Gefüge des »europäischen Konzerts« – an dessen Konferenzen und Kongressen die Türkei von diesem Zeitpunkt an teilnahm. Unabhängig von der tatsächlichen Intention, die sich hinter der strittigen Formulierung in Art.  verbarg, war dessen Nachwirkung aufgrund der oben genannten Interpretation Bluntschlis, Oppenheims und anderer prominenter Völkerrechtsexperten des . und frühen . Jahrhunderts in Bezug auf die Aufgabe der christlichen Exklusivität der Völkerrechtsgemeinschaft und die dadurch stattgefundene Ausweitung des Geltungsbereichs des Völkerrechts über den christlich-abendländischen Kulturkreis hinaus von großer Bedeutung. In der Theorie ging man nun davon aus, dass das Völkerrecht auch für außereuropäische und nichtchristliche Staaten gelte, wenn diese die allgemeinen Rechtsgrundsätze der »zivilisierten Staaten« befolgten. Demzufolge markiert in der Völkerrechtslehre und -geschichte der Pariser Friedensvertrag von  aufgrund seines Türkei-Artikels den Übergang vom europäischen Völkerrecht zum Völkerrecht der »zivilisierten Staaten«. Für die Völkerrechtstheoretiker der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts war infolge des Pariser Friedensvertrags die Erfüllung der Voraussetzung der »Gesittung« nach europäischen Maßstäben das be Hillgruber, Christian: Der Staat im Völkerrecht. In: Zeitschrift für Rechtsphilosophie  () -, -, hier .  Grewe, Wilhelm G.: Vom europäischem zum universellen Völkerrecht. Zur Frage der Revision des »eurozentrischen Bildes« der Völkerrechtsgeschichte: In: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht  (), -, hier .

82

D e r K rim k ri e g , 18 53 -18 5 6

stimmende Kriterium für die An- oder Aberkennung der Völkerrechtsfähigkeit eines Staates. Hierbei wurde in der Regel eine Unterscheidung zwischen »zivilisierten« und »halbzivilisierten« Staaten, partiell sogar »zivilisierten« Staaten »fremder«, das heißt nichteuropäischer »Gesittung« vorgenommen. Während bis zur Mitte des . Jahrhunderts die dominierende Kategorie der christlicheuropäischen Zugehörigkeit eine exkludierende Funktion gegenüber außereuropäischen und nichtchristlichen Weltregionen hatte, »konstruierte hingegen ab der Mitte des . Jahrhunderts die Kategorie der ›Zivilisation‹ eine theoretische Grundlage auch für die Inklusion bisher völkerrechtsfremder Gesellschaften«. Bemerkenswerterweise wandten die zeitgenössischen Völkerrechtsautoren das neue Konzept der Zivilisation im Fall Chinas oder Japans relativ vorbehaltlos an, wohingegen die Völkerrechtssubjektivität des Osmanischen Reiches trotz seiner expliziten Aufnahme in das Europäische Konzert  weiterhin infrage gestellt wurde. Vor allem die russische Völkerrechtslehre sprach – sicherlich auch aus politischen Gründen – dem Osmanischen Reich die Zugehörigkeit zur Völkerrechtsgemeinschaft der »zivilisierten Staaten« weiterhin kategorisch ab. Bezeichnend dafür sind die Ausführungen des wichtigsten russischen Völkerrechtsgelehrten im . Jahrhundert Fëdor Fëdorovič Martens in der  erschienenen deutschsprachigen Ausgabe seiner Dissertation über das »Konsularwesen und die Konsularjurisdiktion im Orient«: Allen zuvor scheint uns vollkommen unbegründet, die Türkei den zivilisierten Staaten Europas und Amerikas beizuzählen. Wir sind nicht im Stande […] in dem oben angeführten Artikel des Pariser Traktates [von ] einen so großen Fortschritt auf der Bahn der progressiven Entwicklung des internationalen Lebens und des Völkerrechts zu sehen. [Wir erkennen allein] als Mitglieder der internationalen Gemeinschaft und Subjekte des modernen europäischen Völkerrechts nur diejenigen Staaten an, die auf einer wesentlich gleichen Stufe der Kultur und Zivilisation, von einer der Natur nach gleichen Weltanschauung durchdrungen und durch eine Gemeinsamkeit der Bestrebungen und des Rechtsbewusstseins verbunden sind. […] Wenn dagegen die Verbindlichkeit und Geltung des internationalen Rechts nur von dem Gutdünken irgendeines Staatsmannes abhängt; wenn die in allen zivilisierten Staaten den Ausländern zugestandenen Rechte jeden Augenblick den Angriffen einer rohen, ungebildeten Volksmasse ausgesetzt sind; wenn endlich weder die einheimischen Gerichte noch die Exekutivgewalt im Stande sind, allen Ungefährdetheit des Lebens und Unverletzlichkeit des Eigentums zu sichern, so kann nicht der geringste Zweifel obwalten, dass ein Staat, in welchem sol Kroll, Stefan: Normgenese durch Re-Interpretation. China und das europäische Völkerrecht im . und . Jahrhundert. Frankfurt/M. ,  f.  Ebd., .  Mälksoo, Lauri: Russian Approaches to International Law. Oxford , .

83

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

che Zustände herrschen, zu der Familie der zivilisierten Staaten nicht zugezählt werden kann. Trotz der russischen Einwände gegen die Völkerrechtsfähigkeit des Osmanischen Reiches aufgrund seines niedrigen Zivilisationsgrads musste Sankt Petersburg im Pariser Frieden  infolge der Niederlage im Krimkrieg die Teilnahme der Hohen Pforte an den Vorteilen des Europäischen Konzerts akzeptieren. Die Vorteile, die sich für den Sultan aus der expliziten Anerkennung der Zugehörigkeit seines Staates zum Europäischen Konzert ableiten ließen, betrafen im Wesentlichen die von den Großmächten übernommene Garantie der Unabhängigkeit und territorialen Integrität des Osmanischen Reiches. Diese Garantie beinhaltete allerdings keine militärische Beistandsverpflichtung. In Art.  des Friedensvertrags von Paris legten sich die Vertragsparteien lediglich darauf fest, dass im Fall einer Auseinandersetzung zwischen dem Osmanischen Reich und einer anderen Großmacht eine diplomatische Intervention in Form einer Mediation zur Deeskalation des Konflikts vorzunehmen sei: Article VIII. If there should arise between the Sublime Porte and one or more of the other signing Powers, any misunderstanding which might endanger the maintenance of their relations, the Sublime Porte, and each of such Powers, before having recourse to the use of force, shall afford to other Contracting Parties the opportunity of preventing such an extremity by means of their mediation. Die Aufnahme der Hohen Pforte in das Europäische Konzert und die damit verbundenen Vorteile, insbesondere der Schutz der Unabhängigkeit und territorialen Integrität des Osmanischen Reiches, den die anderen Großmächte dem Sultan in Aussicht stellten, waren an mehrere Bedingungen geknüpft. Insbesondere wurde Konstantinopel (Istanbul) auferlegt, Verpflichtungen hinsichtlich der gleichberechtigten Stellung seiner ethnischen und religiösen Minderheiten mit der muslimischen Mehrheitsgesellschaft einzugehen. Noch vor der Eröffnung des Pariser Kongresses am . Februar  musste der Sultan in einem Ferman (sultanisches Dekret), dem sogenannten hatt-ı hümayun, die Gleichstellung aller Kulturen und Rassen proklamieren sowie den nicht-muslimischen Untertanen die zivilrechtliche Gleichstellung mit den Muslimen gewähren. Diese rechtliche Gleichheit sah u. a. die Einberufung von gemischten Gerichten bei Streitfällen zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, den ausschließlich leistungsabhängigen Zugang zu öffentlichen Ämtern, dieselben Eigentumsrechte und Steuergleichheit für alle Untertanen vor. Außerdem wurde im Ferman eine Kodifikation des Handels- und Strafrechts in Aussicht gestellt und die Vorbereitung eines neuen Rekrutierungsgesetzes, das auch die christlichen Un

Martens, F. [Fëdor Fëdorovič]: Das Consularwesen und die Consularjurisdiction im Orient. Berlin ,  f. [Hervorheb. i. O.].  Ebd.

84

D e r K rim k ri e g , 18 53 -18 5 6

tertanen betreffen sollte, angekündigt. Der Erlass des Sultans beinhaltete aber auch Bestimmungen, welche die Selbstverwaltungsrechte der orthodoxen Kirche einschränkten und die Säkularisierung des orthodoxen millet forderten. So hob etwa eine dieser Bestimmungen die weltliche und richterliche Gewalt des Konstantinopeler Patriarchen über seine Glaubensangehörigen auf. Außerdem wurde die Verwaltung des kirchlichen Eigentums der ausschließlichen Kontrolle des Klerus entzogen, indem die Laienschaft ein Mitspracherecht erhielt. Schließlich ersetzte man die kirchliche Zinse jeglicher Art durch eine feste Besoldung des Klerus. Durch diese Trennung der geistlichen und weltlichen Gewalt sollte vorrangig dem Ziel der Eindämmung des russischen Einflusses auf das Patriarchat und folglich auch der Verringerung der Interventionsmöglichkeiten Sankt Petersburgs in die inneren Angelegenheiten des Osmanischen Reiches gedient werden. Die Hohe Pforte versprach sich wiederum von den gegenüber den Großmächten zugestandenen Reformen eine zukünftig geringere europäische Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Osmanischen Reiches. Dieser Erwartung wurde im neunten Artikel des Pariser Friedensvertrags von , der den hatt-ı hümayun lobend zur Kenntnis nahm, auch Rechnung getragen. Article IX. His Imperial Majesty the Sultan, having, in his constant solicitude for the welfare of his subjects, issued a Firman (No. ), which, while ameliorating their condition without distinction of religion or of race, records his generous intentions towards the Christian populations of His Empire, and wishing to give a further proof of his sentiments in that respect, has resolved to communicate to the Contacting Parties the said Firman, emanating spontaneously from his sovereign will. The Contracting Powers recognise the high value of this communication. It is clearly understood that it cannot, in any case, give to the said Powers the right to interfere, either collectively or separately, in the relations of His Majesty the Sultan with his subjects, nor in the internal administration of his Empire. Dem Genfer Historiker Matthias Schulz zufolge stellte Art.  »eine enge Verbindung zwischen der Annahme des europäischen Zivilisationsstandards, der Garantie der osmanischen Souveränität und der Zulassung der Pforte zum Europäischen Konzert her«. Die Aussage von Anton Prokesch von Osten, dem österreichischen Diplomaten, der bei der Ausarbeitung des Fermans direkt betei

Baumgart, Winfried: Der Friede von Paris . Studien zum Verhältnis von Kriegsführung, Politik und Friedensbewegung. München [u. a.] ,  f.; Paz, Reut Yael: »If I forget thee, O Jerusalem«, Religion, International Law, and Jerusalem. In: International Law and Religion. Historical and Contemporary Perspectives. Hg. v. Martti Koskenniemi, Mónica García-Salmones Rovira und Paolo Amorosa. Oxford , -, hier -.  Figes, Krimkrieg (wie Anm. ), .  Treaty of Paris,  (wie Anm. ),  f.  Schulz, Normen (wie Anm. ), .

85

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

ligt war, bestätigt die weitreichende Bedeutung, die der osmanische Erlass zur religiösen Gleichstellung für die Anerkennung des Osmanischen Reiches als europäische Großmacht hatte: La S. Porte n’a jamais émané un acte plus complet et plus incisif dans le sens de la refonte de l’organisation de cet Empire. Elle ne pouvait plus s’en dispenser dès que l’existence de la vieille Turquie est devenue de fait incompatible avec les exigences de l’Europe civilisée et avec la place que les Puissances ont consigné à cet Empire dans la famille Européenne. Ces réformes mèneront ou à la réorganisation de l’Empire sur des bases analogues à celles des Etats civilisés ou à la destruction du pouvoir musulman. Die Verknüpfung der Zulassung des Osmanischen Reiches zum europäischen Staatensystem mit Vorbedingungen, welche die Implementierung religiöser Freiheiten und die (zumindest förmliche) Abschaffung einer auf das Kriterium des muslimischen Glaubens aufgebauten Zwei-Klassen-Gesellschaft betrafen, stellt einen wichtigen Markstein in einer sich im Laufe des »langen« . Jahrhunderts weiterentwickelten Praxis der europäischen Großmächte dar. Wie noch weiter unten gezeigt wird, machten die Großmächte die völkerrechtliche Anerkennung neuer südost- und ostmitteleuropäischer Staaten im Berliner Vertrag von  und in den Friedensverträgen nach dem Ersten Weltkrieg von der Erfüllung bestimmter, vor allem minderheitenbezogener Konditionen abhängig. Ein weiterer wichtiger, ebenfalls durch den Pariser Vertrag eingeleiteter völkerrechtlicher Fortschritt war die Verankerung des Grundsatzes der bewaffneten Neutralität. Das Prinzip der bewaffneten Neutralität hatte erstmals die russische  Anton Prokesch von Osten war einer der wichtigsten österreichischen Diplomaten des . Jahrhunderts, der über eine ausgeprägte Orient-Expertise verfügte. Diese hatte er sich als Diplomat in Ägypten, als österreichischer Gesandter beim griechischen König Otto I. und als Botschafter in Konstantinopel (Istanbul) zugelegt. Dank seiner persönlichen Freundschaft mit Muhammad/Mehmet Ali Pascha (Paşa) pflegte er besondere Beziehungen zur Hohen Pforte. Neben seiner diplomatischen Tätigkeit zeichnete er sich als Schriftsteller, Numismatiker und Altertumskundler aus. Zu seinem vielfältigen Werk siehe Bertsch, Daniel: Anton Prokesch von Osten (-). Ein Diplomat Österreichs in Athen und an der Hohen Pforte. Beiträge zur Wahrnehmung des Orients im Europa des . Jahrhunderts. München ; Moutafidou, Ariadni: Anton Prokesch von Osten in Athen -. Ein Beitrag zu einem differenzierten Bild seiner politischen Ziele und seines Staatskonzepts. In: Österreichische Osthefte  (), -. Prokesch von Osten hatte, wie gesagt, an den Beratungen zur Ausarbeitung des hatt-ı hümayun mitgewirkt. Außer ihm hatten an den Beratungen die Botschafter Großbritanniens und Frankreichs, Stratford Canning und Édouard Antoine de Thouvenel, und von osmanischer Seite Fuad Pascha (Paşa) und Ali Pascha (Paşa) teilgenommen. Baumgart, Der Friede,  (wie Anm. ); Kürkçüoğlü, Ömer: The Adoption and Use of Permanent Diplomacy. In: Ottoman Diplomacy. Conventional or Unconventional?. Hg. v. A. Nuri Yurdusev. New York , -, hier .  Prokesch-Osten an Buol, Konstantinopel . März , zit. n. Baumgart, Der Friede (wie Anm. ), .

86

D e r K rim k ri e g , 18 53 -18 5 6

Kaiserin Katharina II.  in ihrer »Deklaration an die Höfe von London, Versailles und Madrid« formuliert. Dieses sah vor, dass die Schiffe neutraler Staaten von den sich im Krieg befindenden Marinen nicht angegriffen werden dürfen. Hintergrund für den Vorstoß der Kaiserin waren die Angriffe britischer und spanischer Kaper auf die Handelsschiffe der neutralen Nordstaaten Russland, Schweden und Dänemark während des nordamerikanischen Freiheitskrieges. Katharina formulierte in ihrer besagten Deklaration fünf Regeln, die Folgendes bestimmten: a) Dass die neutralen Schiffe ungehindert von Hafen zu Hafen und die Küsten der kriegführenden entlangfahren dürfen; b) dass die den Untertanen der kriegführenden Mächte gehörigen Güter (ausgenommen Kriegskonterbande) auf neutralen Schiffen frei sein sollen (frei Schiff, frei Gut); c) dass hinsichtlich des Begriffes der Kriegskonterbande der Handelsvertrag Russlands mit England von  maßgebend und auf alle kriegführende Staaten ausgedehnt sein soll. […]; d) dass ein Hafen nur dann als blockiert gelte, wenn infolge von Vorkehrungen der Macht, die den Hafen mit nahe genug herangeführten und dort stationierten Schiffen attackiert, die Einfahrt in diesen mit augenscheinlicher Gefahr verbunden ist; e) dass diese Grundsätze in den Prozessen und Urteilen über die Legalität der Prisen zur Anwendung kommen sollen. Die Kaiserin warnte die Adressaten ihrer Deklaration, also Briten, Spanier und Franzosen, dass sie zur Aufrechterhaltung dieser Prinzipien und zur »Beschützung der Ehre Ihrer Flagge sowie der Sicherheit des Handels und der Schifffahrt Ihrer Untertanen, gegen wen immer es sei, einen ansehnlichen Teil Ihrer Seemacht segelfertig stellen« lassen werde. Trotz dieser Warnung Katharinas zeigten sich die Briten uneinsichtig und hielten an ihrer Auffassung fest, dass ein kriegführender Staat das Recht habe, feindliches Privateigentum auch von neutralen Schiffen zu beschlagnahmen. Franzosen und Spanier andererseits bestä Von Liszt, Das Völkerrecht (wie Anm. ),  f.  Bergbohm, Carl: Die Bewaffnete Neutralität, -. Eine Entwicklungsphase des Völkerrechts im Seekriege. Berlin ,  f.  Großbritannien verfolgte seit Längerem in der Frage des neutralen Seehandels eine restriktive Praxis, die während des Siebenjährigen Krieges ihren Niederschlag in der »Rule of War of « und in der »Doctrine of Continuous Voyage« gefunden hatte. Die erste Regelung verweigerte einem Neutralen das Recht, in den Diensten einer Kriegspartei Handel zu treiben. Damit reagierten die Briten auf die Pariser Bestrebungen, Güter aus ihren Kolonien auf Schiffen neutraler Staaten nach Frankreich transportieren zu lassen – eine Notmaßnahme, zu der die maritime Überlegenheit Großbritanniens die Franzosen gezwungen hatte. Unter Berufung auf die »Rule of War« beschlagnahmte Großbritannien neutrale Schiffe mit dem Argument, es würde sich um französische Schiffe handeln. Das »Konzept der fortgesetzten Reise« bezog sich wiederum auf den Fall, dass feindliches Gut über die Zwischenstation eines neutralen Hafens feindliches Land erreichen sollte. Die neutralen Schiffe, die den Zwischentransport bis zum neutralen Hafen durchführten, durften beschlagnahmt werden. Siehe ausführlicher dazu Vitzthum, Wolfgang: Seerechtsglobalisierung: von der

87

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

tigten in ihrer Antwort an die Kaiserin die von ihr angeführten Prinzipien und empfanden sie als gerecht. Allerdings benutzten sie vorwiegend die russische Deklaration, um Großbritannien die alleinige Schuld für das Kapern von Handelsschiffen zuzuweisen. Die Briten hätten die Praxis der Konfiskation feindlichen Gutes unter neutraler Flagge dermaßen aggressiv praktiziert, dass sie ihre Feinde letztendlich gezwungen hätten, ähnliche Methoden anzuwenden. Daher hinge es ausschließlich von »Englands fernerem Verhalten« ab, ob man in Zukunft und auf Dauer die seerechtlichen Prinzipien der Deklaration vom . Februar  respektieren würde. Der russischen Deklaration schlossen sich unverzüglich Schweden und Dänemark an. Das grundsätzliche Übereinkommen der drei Nordmächte kulminierte  in einer russisch-dänischen und russisch-schwedischen Konvention zum Schutz des Handels und der Schifffahrt der Neutralen, die beide im Wortlaut nahezu identisch waren, aus zwölf Artikeln bestanden und die »Verfassungsurkunden« des Grundsatzes der bewaffneten Neutralität darstellten. Einleitend erklärten die drei Mächte noch einmal den Hintergrund ihres gemeinsamen Handelns. Anschließend bekundeten Schweden und Dänemark bzw. ihre Oberhäupter, König Gustav III. und König Christian IX., ihre Bereitschaft, sich dem Projekt Katharinas anzuschließen. Die Vereinbarungen Russlands mit den beiden skandinavischen Königreichen zur Protektion ihrer Schifffahrts- und Handelsinteressen als neutrale Nationen beinhalteten eine höhere Anzahl von Artikeln als die Deklaration vom . Februar . Der jeweilige Art.  der beiden Vereinbarungen umfasste Bestimmungen zur Definition der Konterbande. Dabei bezogen sich die drei Nordmächte auf »Handelstraktate«, die sie mit einer der Kriegsparteien Großbritannien, Frankreich und Spanien geschlossen hatten, und dehnten die entsprechenden Regelungen auch auf die jeweils anderen zwei kriegführenden Mächte aus. Die Konventionen wurden London, Paris und Madrid zugeleitet. Während Frankreich die Vertragsparteien zu dem wohlgelungenen Unternehmen beglückwünschte, zeigten Briten und Spanier ihre Missbilligung für das gemeinsame russisch-schwedisch-dänische Vorgehen dadurch, dass sie die Mitteilung über die Konventionen schweigend zur Kenntnis nahmen. In den Jahren - sind dem Prinzip der bewaffneten Neutralität entweder durch förmliche Konventionen oder durch die Anerkennung der Seerechtsprinzipien vom . Februar  auch die Niederlande, Portugal, Preußen,

    

88

schen Epoche bis zur Ära der Vereinten Nationen. In: Praxis-Handbuch UNO. Die Vereinten Nationen im Lichte globaler Herausforderungen. Hg. v. Sabine von Schorlemer. Berlin [u. a.] , -, hier -. Bergbohm, Die Bewaffnete Neutralität (wie Anm. ), -. Ebd., -. Ebd.,  f. Ebd.,  f. Ebd., .

D e r K rim k ri e g , 18 53 -18 5 6

Österreich und das Königreich beider Sizilien beigetreten. Katharina beabsichtigte durch die ständige Ausweitung des Bundes der Staaten, die sich zum Grundsatz der bewaffneten Neutralität bekannten, diese Norm zu einer völkerrechtlichen Rechtsfigur von allgemeiner Anerkennung und dauerhaften Geltung zu entwickeln. Ihre Anstrengungen blieben aber aufgrund der ablehnenden Haltung der Briten weitgehend erfolglos. Im Pariser Frieden von  zwischen Großbritannien einerseits und seinen ehemaligen nordamerikanischen Kolonien, Frankreich und Spanien andererseits, in dem alle früheren Verträge seit dem Westfälischen Frieden bekräftigt und bestätigt wurden, blieben die fünf Punkte der Deklaration vom . Februar  unerwähnt. Auch nach  kam es zu keinem multilateralen internationalen Abkommen bezüglich der Grundsätze der bewaffneten Neutralität, sodass sich die Praxis des Abschlusses ausschließlich bilateraler Verträge, in denen Angelegenheiten des Seehandels unter Berücksichtigung der Prinzipien Katharinas geregelt wurden, fortsetzte. Großbritannien weigerte sich weiterhin, vertragliche Vereinbarungen über Neutralitätsrechte mit anderen Staaten einzugehen. Die entscheidende Wende trat erst infolge des Krimkriegs ein, als das Bündnis zwischen Briten und Franzosen dazu führte, dass die am Kriegsgeschehen beteiligten Staaten auf die Praxis der Kaperei als Teil der maritimen Kriegsführung verzichteten. Erstmals zeigte sich Großbritannien in den folgenden Friedensverhandlungen bereit, sein Bestehen auf Geltung des »alten Seerechts« aufzugeben. Bei Beginn der Pariser Friedenskonferenz am . Februar  stand die Frage der Entwicklung des internationalen Seerechts zunächst nicht auf der ThemenAgenda. Demzufolge zeigten sich einige der Kongressteilnehmer überrascht, als der polnischstämmige französische Außenminister und Konferenzpräsident Alexandre Florian Joseph Graf von Colonna-Walewski am . April seinen Vorschlag zur fundamentalen Veränderung des völkerrechtlichen Seekriegsrechts durch die Abschaffung der Kaperei unterbreitete. Vorher hatte er noch den britischen Außenminister Lord George Clarendon (George William Frederick Villiers, . Earl of Clarendon) darüber informiert und sich die Unterstützung Londons für den beabsichtigten Vorstoß zugesichert. In der britischen Regierung gehörte insbesondere Premierminister Lord Palmerston (Henry John Temple, . Viscount Palmerston) zu den Verfechtern der Abschaffung der staatlich lizensierten Seeräuberei. Wie er seinem Außenminister darlegte, erhoffte er sich von einem Kapereiverbot Vorteile für sein Land als stärkste Seemacht der Welt: Privateering is a practice most inconvenient to the power which has the largest number of merchant men at sea, and the least useful to the power which has     

Ebd., -. Ebd., . Ebd., . Ebd., . Jan Martin Lemnitzer: Power, Law and the End of Privateering. New York , .

89

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

the largest war navy. England is that power and we should therefore willingly agree to abolish that practice in regard to all powers which would enter into the same engagement towards us. The United States have hitherto declined, but if all the Powers of Europe, and those not represented in congress might be invited to join were to unite in such an agreement the United States could scarcely refuse to accede, and the engagement might ultimately like the abolition of slave trade become universal among all maritime states. Diese Ansicht teilte die Mehrheit des britischen Regierungskabinetts, u. a. auch Kriegsminister Baron Panmure, der sich durch die Abschaffung der Kaperei vor allem eine Schwächung der USA versprach. Wie aus den positiven Stellungnahmen Palmerstons, Panmures und anderer Kabinettsmitglieder zum französischen Vorschlag deutlich hervorgeht, ging der britische Kurswechsel in der Frage der Kaperei hauptsächlich auf antiamerikanische Überlegungen zurück. Ausschlaggebend war insbesondere die Londoner Angst vor der Bedrohung, die für den britischen Handel im Fall eines Krieges von amerikanischen Kapern ausgehen würde. Dass der Hauptgrund für Großbritannien, seine alte Position zu revidieren, in seinem Konflikt mit den USA lag, bestätigt auch die Haltung von Edward Stanley (. Baron Stanley of Alderley), dem einzigen Minister, der sich strikt gegen ein uneingeschränktes Kapereiverbot aussprach. Der Handelsminister hegte die Befürchtung, dass die neue Regelung zuungunsten Großbritanniens ausfallen würde, wenn man sich in einem Kriegszustand mit den USA befände und diese sich nicht zur Einhaltung derselben Prinzipien im Seekrieg verpflichtet hätten: »Without their assent we shall be the only losers.« Premierminister Palmerston und das Außenministerium zeigten sich in dieser Hinsicht nicht besorgt, da der Einsatz der Kaper von Seiten eines Kriegsgegners ihrer Auffassung nach Großbritannien berechtigen würde, sich von der Kapereiverbotsregelung zu lösen und gleichermaßen zu handeln. Nachdem das Kabinett mit Ausnahme von Stanley für den Verzicht der traditionellen britischen Position in der Frage der Freiheit der Meere gestimmt hatte, erhielt Clarendon von seinem Premierminister die entsprechende befürwortende Nachricht mit einer zusätzlichen Klarstellung, die insbesondere die USA betraf: We agree with you that it is scarcely probable that in any future War, we should abstain from the same Declaration of our former Rules about neutrals  Clarendon to Palmerston, . April , AGKK III/, No. , S. , zit. n. ebd.; siehe auch Lambert, Andrew D.: The Crimean War Blockade, -. In: Naval Blockades and Seapower. Strategies and Counter-Strategies, -. Hg. v. Bruce A. Elleman und S. C. M. Paine. London [u. a.] , -, hier .  Lemnitzer, Power (wie Anm. ), .  Cabinet Minutes respecting the Declaration of Paris of , TNA, FO//, zit. n. ebd., .  Rindfleisch, Alexander: Zwischen Kriegserwartung und Verrechtlichung: Die internationalen Debatten über das Seekriegsrecht, -. Norderstedt , .

90

D e r K rim k ri e g , 18 53 -18 5 6

which we thought it right to adopt at the beginning of this war, and we think that a formal Renunciation of an old Doctrine, or at least a formal Adoption of a new Practice, might be advisable as a general as a General Engagement by maritime Powers, if accompanied by a Renunciation of Privateering. Of course such Engagements would be binding only, as between the Countries which might be parties to them, and if for instance the United States refused to join, neither England nor France would think that the Engagements they had contracted with each other, could bind either as regarded the United States. Winfried Baumgart relativiert in seiner Analyse die Bedeutung des US-amerikanischen Faktors für die Abweichung Londons von den traditionellen britischen Ansichten hinsichtlich der Kaperei. Er sieht vor allem im Wunsch der Briten, Konflikte mit den Neutralen zu vermeiden, den ausschlaggebenden Grund für den Londoner Kurswechsel. Zudem habe die Überzeugung Londons, dass in Kriegszeiten vor allem das auf Importe angewiesene Großbritannien von einer Schutzregelung gegen Kaperei profitieren würde, eine wichtige Rolle gespielt. Folgt man hingegen Alexander Rindfleisch, der in seiner Studie die Entwicklung des Seekriegsrechts in den Jahren - untersucht, dann war die Londoner Abweichung von den traditionellen britischen Ansichten die direkte Folge eines US-amerikanischen Vorstoßes während der Pariser Friedenskonferenz. In einem Rundschreiben hatte Washington den an der Konferenz beteiligten Großmächten vorgeschlagen, sich auf eine Regelung zum Schutz feindlichen Gutes durch die neutrale Flagge zu einigen. Dieser Vorschlag hatte insofern eine antibritische Stoßrichtung, als Großbritannien bis zu diesem Zeitpunkt jegliche Unternehmungen zur Abschaffung des Kapereirechts konsequent bekämpft hatte. Primär von der Absicht geleitet, die USA auszumanövrieren, unterstützte dann Großbritannien statt des Vorschlags Washingtons die vollständige Abschaffung der Kaperei. Der Vorstoß von Graf von Colonna-Walewski am . April fand wie gesagt nach Rücksprache mit London statt. Unabhängig von den tatsächlichen Hintergründen des britischen Umschwenkens wurde anlässlich des Krimkriegs der langandauernden Unsicherheit über die Rechte und Pflichten von Kriegführenden und Neutralen ein Ende gesetzt. Die Seerechtsdeklaration vom . April , die von den am Pariser Friedenskongress teilnehmenden Mächten unterzeichnet wurde, regelte die Rechte des neutralen Seehandels nach den Postulaten der bewaffneten Neutralität in vier Punkten, die wiederum von der russischen Kaiserin Katharina konzipiert und in ihrem besagten Zirkular von  niedergeschrieben worden waren. Der große  Palmerston to Clarendon, . April , BL, Add. , f /, zit. n. Lemnitzer, Power (wie Anm. ), .  Baumgart, Der Friede (wie Anm. ), .  Rindfleisch, Zwischen Kriegserwartung (wie Anm. ), .  Lemnitzer, Power (wie Anm. ), 

91

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

Einfluss der von Kaiserin Katharina formulierten Grundsätze auf die Pariser Seerechtsdeklaration ist insbesondere an den Art. ,  und  erkennbar, welche die Prinzipien Katharinas zur Aufhebung der Kaperei, Effektivität der Blockade und Immunität feindlicher Waren auf neutralen Schiffen sinngemäß wiedergaben. Ein Novum im Vergleich zum Zirkular von  stellte lediglich Art.  dar, der die Immunität neutraler Waren auf feindlichen Schiffen vorsah. Mit folgenden Bestimmungen »wurde nicht nur die aus dem Mittelalter überkommene Kaperei abgeschafft, sondern [es wurde] auch bekräftigt, dass Schiffe unter neutraler Frage grundsätzlich frei sind und dass auf Schiffen unter feindlicher Flagge neutrales Gut nicht dem Prisenrecht unterliegt«: The Plenipotentiaries who signed the Treaty of Paris of the th of March , assembled in Conference, considering: that maritime law, in time of war, has long been the subject of deplorable disputes; that the uncertainty of the law and of the duties in such a matter, gives rise to differences of opinion between neutrals and belligerents which may occasion serious difficulties, and even conflicts; that it is consequently advantageous to establish a uniform doctrine on so important a point; that the Plenipotentiaries assembled in Congress at Paris cannot better respond to the intentions by which their governments are animated than by seeking to introduce into international relations fixed principles in this respect. The above-mentioned Plenipotentiaries, being duly authorized, resolved to concert among themselves as to the means of attaining this object; and having come to an agreement, have adopted the following solemn Declaration: Privateering. . Privateering is and remains abolished. Neutral Flag. . The Neutral Flag covers enemy’s goods, with the exception of contraband of War. Neutral Goods. . Neutral goods, with the exception of contraband of war, are not liable to capture under Enemy’s flag. Blockades. . Blockades, in order to be binding, must be effective, that is to say, maintained by a force sufficient really to prevent access to the coast of enemy. The Governments of the undersigned Plenipotentiaries engage to bring the present declaration to the knowledge of the States which have not taken part in the Congress of Paris, and to invite them to accede it. Convinced that the maxims which they now proclaim cannot but be received with gratitude by the whole world, the undersigned Plenipotentiaries doubt not that the efforts of their governments to obtain the general adoption thereof will be crowned with full success. The present declaration is not and shall not be binding, except between these Powers who have acceded, or shall accede, to it.  Kunz, Josef L.: Kriegsrecht und Neutralitätsrecht. Berlin [u. a.] , .  Ziegler, Völkerrechtsgeschichte (wie Anm. , Einleitung), .  Paris Declaration Respecting Maritime Law,  April . In: Grewe, Fontes Historiae, Bd. / (wie Anm. ), -, hier  f.

92

D e r K rim k ri e g , 18 53 -18 5 6

Die Pariser Seerechtsdeklaration vom . April  nimmt in der Geschichte des Seevölkerrechts eine besondere Position ein, da sie »die erste generelle, auch über den europäischen Völkerrechtskreis hinaus geltende Seekriegsvereinbarung darstellte, der in der Folgezeit von den maritimen Staaten nur die USA, Spanien und einige südamerikanische Staaten fernblieben«. Einer der ersten Zeitgenossen, die auf ihre große völkerrechtliche Bedeutung hinwiesen, war der Präsident der Pariser Friedenskonferenz Graf von Colonna-Walewski, der letztere wegen der Abschaffung der Kaperei und der Bekräftigung der Rechte der Neutralen im Seekrieg in eine Reihe mit dem Westfälischen Frieden und dem Wiener Kongress stellte: Le Congrès de Westphalie a consacré la liberté de conscience, le Congrès de Vienne l’abolition de la traite des noirs et la liberté de la navigation des fleuves. Il serait digne du Congrès de Paris de mettre fin à de trop longues dissidences en posant les bases d’un droit maritime uniforme en temps de guerre. Zudem wurde im Pariser Friedensvertrag die erstmalige Neutralisation von Meeresteilen beschlossen. Dies geschah durch Art.  des Pariser Friedens von , der bestimmte, dass »die Gewässer und Häfen des Schwarzen Meeres (mit Einschluss also der Küstengewässer) den Kriegsschiffen nicht nur der Uferstaaten, sondern auch anderen Mächten in Krieg und Frieden ›auf ewig‹ verschlossen« blieben: Neutralization of the Black Sea. Article XI. The Black Sea is neutralized; its waters and its ports, thrown open to the mercantile marine of every nation, are formally and in perpetuity interdicted to the flag of war, either of the Powers possessing its coasts, or of any other power, with the exceptions mentioned in Articles XIV and XIX of the present treaty. Commercial Regulations in the Black Sea. Art. XII. Free from any impediment, the commerce in the ports and waters of the Black Sea shall be subject only to regulations of health, customs, and police, framed in a spirit favorable to the development of commercial transactions. Appointment of Foreign Consuls in Ports of Black Sea. In order to afford to the commercial and maritime interests of every nation, the security which is desired, Russia and the Sublime Porte will admit consuls into their ports situated upon the coast of the Black Sea, in conformity with the principles of international law. Military-Maritime Arsenals not to Established or Maintained on Coasts of Black Sea. Article XIII. The Black Sea being neutralized according to the terms of Article XI, the maintenance or establishment upon its coast of military-maritime arsenals becomes alike unnecessary  Baumgart, Der Friede (wie Anm. ), .  Recueil des traités de la France. Bearbeitet von [Alexandre Jean Henri] De Clereq. Bd. VII: -, Paris ,  f., zit. n. ebd., .  Von Liszt, Das Völkerrecht (wie Anm. ), .

93

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

and purposeless; in consequence, His Majesty the Emperor of all the Russias, and His Imperial Majesty the Sultan engage not to establish or to maintain upon that coast any military-maritime arsenal. Article XIV. Their majesties the Emperor of all the Russias and the Sultan having concluded a Convention for the purpose of settling the force and the number of light vessels, necessary for the service of their coasts, which they reserve to themselves to maintain in the Black Sea, that Convention is annexed to the present Treaty, and shall have the same force and validity as if it formed an integral part thereof. It cannot be either annulled or modified without the assent of powers signing the present treaty. Die Neutralisation bzw. Demilitarisierung eines Gebiets fand mit diesen Regelungen nicht zum ersten Mal statt; sie hatte als staatliche Praxis bereits im . Jahrhundert eingesetzt – öfters in Verbindung mit der Vernichtung von Befestigungsanlagen. So bestimmte z. B. der am . Oktober  zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich abgeschlossene Vertrag von Münster, der Teil des Westfälischen Friedens war, die vollständige Zerstörung der Befestigungsanlagen entlang des Rheins. Auch in den späteren Friedensverträgen von Utrecht () und von Antwerpen (»Barriere-Vertrag«, ) war vorgesehen, dass die Befestigung der Städte Dünkirchen und Lüttich vollkommen vernichtet würde. Danach folgten die Abkommen zu der von den Großmächten garantierten Neutralität der Schweiz () und Belgiens (). Die zum Schutz der territorialen Integrität des Osmanischen Reiches beschlossene Entmilitarisierung des Schwarzen Meeres, die u. a. die Auflösung der russischen Schwarzmeerflotte und die Zerstörung der russischen Marinestützpunkte zur Folge hatte, war die erste Regelung ihrer Art, die nicht ein Land-, sondern ein Meeresgebiet und dessen Küsten betraf. Im Wesentlichen leitete sie sich von dem von Hugo Grotius formulierten Grundsatz der Meeresfreiheit her: The neutralization of the Black Sea was, in a sense, an innovation in international law, since it attempted to apply to a sea a new conception, that of neutralization, to be added to those of the simple categories of Grotius, free sea and territorial sea (mare apertum, mare liberum and mare clausum). It was an application to the sea of a principle hitherto confined to land. Eine andere, aus völkerrechtlicher Sicht bemerkenswerte Bestimmung des Pariser Friedens von  war jene zur Freiheit der Donauschifffahrt. Aufgrund der vorangegangenen Regelung zur Internationalisierung der Rheinschifffahrt vom  Treaty of Paris,  (wie Anm. ), -.  Shotwell, James T./Deák, Francis: Turkey and the Straits. A Short History. New York , ; siehe auch Dekker, Guido den: The Law of Arms Control. International Supervision and Enforcement. Den Haag ,  f.; Oral, Nilufer: Regional Cooperation and Protection of the Marine Environment under International Law. Leiden , .

94

D e r K rim k ri e g , 18 53 -18 5 6

März  stellen die Bestimmungen bezüglich der Donau nicht einen völkerrechtlichen Präzedenzfall, sondern lediglich die Bestätigung der Durchsetzung des Prinzips der Öffnung von Flüssen für die internationale Schifffahrt in der internationalen Staatenpraxis dar. Der  im Anhang Nummer  der Wiener Kongressakte festgehaltene Beschluss über das freie Durchfahrtsrecht auf dem Rhein – das  in Paris als Vorbild für die Regelung des Status der Donau genommen wurde – bestimmte Folgendes: The navigation of the Rhine, along its whole course, from the point where it becomes navigable to the sea, either in ascending or descending, shall be entirely free, and shall not, in respect to commerce, be prohibited to any one: due regard, however, being had to the regulations established with respect to its police, which shall be framed alike for all, and as favourable as possible to the commerce of all nations. Eine durch denselben Beschluss gegründete Zentralkommission für die Rheinschifffahrt wurde mit den Aufgaben der Kontrolle über die Einhaltung des gemeinschaftlichen Reglements, der Besorgung der amtlichen Mitteilungen zwischen den Uferstaaten sowie der jährlichen Berichterstattung über den Zustand der Rheinschifffahrt beauftragt. Es war vorgesehen, dass jeder Uferstaat einen Kommissar in die Zentral-Kommission berief. In der Wiener Kongressakte vom . Juni  wurde die Absicht deklariert, die den Rhein betreffenden Bestimmungen auf alle europäischen, mehrere Staaten durchquerenden Flüsse auszudehnen: Article CVIII. The Powers whose states are separated or crossed by the same navigable River, engage to regulate, by common consent, all that regards its navigation. For this purpose, they will name Commissioners, who shall assemble, at latest, within six months after the termination of the Congress, and  Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass »es keinen Satz des allgemeinen Völkerrechts gibt, aus dem die Freiheit der Schifffahrt auf Flüssen grundsätzlich hergeleitet werden könnte«. Selbst bei »internationalen Wasserläufen«, also »natürlichen Ströme[n], die auf ihrem Wege zum Meer entweder mehrere Staaten durchqueren (z. B. Nil, Niger) oder streckenweise die Grenze zwischen zwei Staaten bilden (z. B. Pruth, Kongo, Paraná) oder – wie meist – beide Merkmale erfüllen (z. B. Rhein, Donau), […] hat jeder Anlieger über seinen Teil des internationalen Flusses volle Gewalt inne«. Nach herrschender Meinung im Völkerrecht hätten auch »benachbarte Anliegerstaaten kein Anspruchsrecht auf grenzüberschreitende freie Schifffahrt«. Bechert, Erwin/Breuer, Gerhard: Öffentliches Seerecht. Berlin [u. a.] ,  f.  Regulation of Navigation by the Congress of Vienna,  March , Regulation for the Free Navigation of Rivers. In: Grewe, Fontes Historiae Iuris Gentium. Bd. / (wie Anm. ), -, hier .  Ebd., . Zur Zentral-Kommission für die Rheinschifffahrt siehe Cogen, Marc: An Introduction to European Intergovernmental Organizations. Burlington [u. a.] , -.

95

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

who shall adopt as the basis of their proceedings, the principles established by the following articles. Article CIX. The navigation of the Rivers, along their whole course, referred to in the preceding article, from the point where each of them becomes navigable, of its mouth, shall be entirely free, and shall not, in respect to commerce, be prohibited to any one; it being understood that the regulations established with regard to the police of this navigation shall be respected; as they will be framed alike for all, and as favourable as possible to the commerce of all nations. Wie bereits erwähnt, bildete das Rhein-Modell die Blaupause für die durch den Pariser Friedensvertrag von  eingeführte Transitfreiheit der Schifffahrt auf der Donau. Der erste diesbezügliche Artikel berief sich auf den in der Wiener Kongressakte von  festgehaltenen Grundsatz der Internationalisierung wichtiger schiffbarer Flüsse: Free Navigation of the Danube. Article XV. The Act of the Congress of Vienna, having established the principles intended to regulate the navigation of rivers which separate or traverse different states, the Contracting Powers stipulate among themselves that those principles shall in future be equally applied to the Danube and its mouths. They declare that its arrangement henceforth forms a part of the Public Law of Europe, and take it under their guarantee. Im selben Artikel, Abs. , legten die Vertragsparteien Regeln zur uneingeschränkten Schifffahrtsfreiheit der Donau fest, die zum einen die Gleichstellung aller Durchfahrenden, zum anderen die Sicherheit der Uferstaaten garantierten: The Navigation of the Danube cannot be subjected to any impediment or charge not expressly provided for by the stipulations contained in the following Articles: in consequence, there shall not be levied any toll founded solely upon the fact of the navigation of the river, nor any duty upon the goods which may be on board of vessels. The regulation of police and of quarantine to be established for the safety of the states separated or traversed by that river, shall be so framed as to facilitate, as much as possible, the passage of vessels. With the exception of such regulations, no obstacle whatever shall be opposed to free navigation. Dem Rhein-Beispiel folgend wurde eine ständige Kommission, bestehend aus einem Vertreter jedes Uferstaates und der drei unter osmanischer Suzeränität stehenden Donau-Fürstentümer, gegründet. Ihre Hauptaufgaben bestanden 

Act of the Congress of Vienna,  June , Art. - Concerning Navigation/ Wiener Kongress-Akte, . Juni , Art. - betreffend die Schifffahrt. In: Grewe, Fontes Historiae Iuris Gentium. Bd. / (wie Anm. ), -, hier  f.  Treaty of Paris,  (wie Anm. ), .  Ebd.

96

D i e » G ro ß e O ri e n t k ri s e «, 18 75 -18 78

darin, Verfügungen für die Schifffahrt und die Wasserschutzpolizei auf der Grundlage des Regelwerkes der Wiener Kongressakte zu erarbeiten, für deren Einhaltung zu sorgen und im Allgemeinen die ungehinderte Durchfahrt der Donau zu gewährleisten: Article XVII. A Commission shall be established, and shall be composed of delegates of Austria, Bavaria, the Sublime Porte, and Wurtemberg (one for each of those Powers), to whom shall be added Commissioners from the Three Danubian Principalities, whose nomination shall have been approved by the Porte. This Commission, which shall be permanent: . Shall prepare regulations of navigation and river police; . Shall remove the impediments, of whatever nature they may be, which still prevent the application to the Danube of the arrangements of the Treaty of Vienna; . Shall order and cause to be executed the necessary works throughout the whole course of the river; and . Shall, after the dissolution of the European Commission, see to maintaining the mouths of the Danube and the neighbouring parts of the Sea in a navigable state.

Die »Große Orientkrise«, 1875-1878

Die europäischen Gebiete des Osmanischen Reiches auf der balkanischen Halbinsel blieben trotz der formellen Aufnahme der Hohen Pforte in die europäischen Staatenwelt  auch in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts im Visier der Großmachtpolitik von Österreich-Ungarn, Russland und Großbritannien. Deren Einflussnahme und Zugriffsmöglichkeiten auf die nach Unabhängigkeit von den Osmanen strebenden orthodoxen Balkanvölker nahmen weiterhin zu und waren im Vergleich zum Beginn des Jahrhunderts wesentlich größer. Mitte der er Jahre brach im Südosten Europas die nächste große Krise aus, die zu einem neuen russisch-osmanischen Krieg führte. Im Juli  kam es in Bosnien und der Herzegowina aufgrund unerträglicher Steuer- und Abgabenlasten, welche der christlichen Bauernbevölkerung von der osmanischen Verwaltung auferlegt worden waren, sowie wegen Gewaltexzessen bei der Steuereintreibung zu einer Revolte. Im darauffolgenden April  riefen auch bulgarische Sozialrevolutionäre und Intellektuelle, angetrieben von der Erhebung in Bosnien und der Herzegowina, zu einem Aufstand gegen die Osmanen auf. Sie verfolgten dieses Ziel seit längerer Zeit. Bereits in den frühen er Jahren hatten Bulgaren in Belgrad, Odessa und Bukarest eine zunehmend intensiver werdende Tätigkeit entwickelt, die auf die Organisation und Durchführung eines antiosmanischen Aufstands abzielte. Eine der federführenden Persönlichkeiten war der Dichter  Ebd.,  f.  Calic, Marie-Janine: Geschichte Jugoslawiens im . Jahrhundert. München , .

97

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

und Journalist Georgi Rakovski, der  in Belgrad eine antiosmanische Freiwilligenschar aufgestellt hatte. Fünf Jahre später gründete er in Bukarest das Geheime Bulgarische Zentralkomitee mit dem Ziel der Vorbereitung eines Aufstands zur Befreiung Südosteuropas vom »türkischen Joch«. Nach seinem Tod übernahmen  der ehemalige Mönch Vasil Levski und der liberale Intellektuelle Ljuben Karavelov die Führung des Zentralkomitees. Die vom Zentralkomitee initiierte bulgarische Erhebung im April  war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Je näher der Beginn der Revolte rückte, desto schwieriger wurde die Ausgangslage der Revolutionäre. Zentrum des Aufstands war die Gebirgskette Sredna Gora. Die massive Präsenz osmanischer Truppen in Plovdiv, in der Hauptstadt des Verwaltungsgebiets, zwang die Aufständischen, ihr Hauptquartier kurzfristig in das Bergstädtchen Panagjurište zu verlegen. Noch entscheidender auf den Ausgang des Aufstands wirkte sich die Tatsache aus, dass der für den . Mai geplante Beginn der Erhebung auf den . April vorverlegt werden musste, da die osmanischen Behörden von der sich in Vorbereitung befindenden Revolte erfuhren und ihre Gendarmerie sowie die berüchtigten muslimischen Başibozuk-Irregulären mobilisierten. Mit nur leichten Waffen ausgerüstet und von der großen Mehrheit der Bevölkerung allein gelassen, gerieten die Aufständischen sehr schnell in Bedrängnis. Sie mussten es mit Tausenden von schwer bewaffneten osmanischen Soldaten, Polizisten und Milizionären aufnehmen. Panagjurište wurde bereits am . April von den Truppen Abdul Kerims eingenommen. In etlichen Dörfern in der Umgebung von Plovdiv, die sich dem Aufstand angeschlossen hatten, verübten die im Dienst der Hohen Pforte stehenden Başibozuk-Milizen grauenvolle Gewalttaten gegen Männer, Frauen und Kinder. Tausende Zivilisten starben oder mussten die Flucht ergreifen. Die internationale Öffentlichkeit reagierte auf die Nachrichten aus der Region empört. Es waren vor allem britische Journalisten, Politiker und Publizisten liberaler Couleur, die die osmanischen Vergeltungsmassaker an der zivilen Bevölkerung zu einem wichtigen Thema im öffentlichen Diskurs Europas und bestimmenden Faktor der internationalen Politik machten. Korrespondenten britischer Zeitungen begaben sich in den Monaten nach der Niederschlagung des Aufstands in die Rhodopen und übermittelten von dort Bilder des Grauens und Schreckens. Bezeichnend dafür sind die Schilderungen des US-Amerikaners Januarius Aloysius MacGahan, der im August  das verwüstete Bergdorf Batak besucht hatte, in der Daily News: As we approached Batak our attention was drawn to some dogs on a slope overlooking the town. We turned aside from the road, and passing over the debris of two or three walls and through several gardens, urged our horses up  Hösch, Edgar: Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart. ., aktual. und erw. Aufl. München , ; Calic, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung), -.  Ebd., -.

98

D i e » G ro ß e O ri e n t k ri s e «, 18 75 -18 78

the ascent toward the dogs. They barked at us in an angry manner, and then ran off into the adjoining fields. I observed nothing peculiar as we mounted until my horse stumbled, when looking down I perceived he had stepped on a human skull partly hid among the grass. It was quite hard and dry, and might, to all appearances, have been there two or three years, so well had the dogs done their work. A few steps further there was another and part of a skeleton, likewise, white and dry. As we ascended, bones, skulls, and skeletons became more frequent, but here they had not been picked so clean, for there were fragments of half dry, half putrid flesh attached to them. At last we came to a little plateau or shelf on the hillside, where the ground was nearly level, with the exception of a little indentation, where the head of a hollow broke through. We rode toward this with the intention of crossing it, but all suddenly drew reign with an exclamation of horror, for right before us, almost beneath our horses’ feet, was a sight that made us shudder. It was a heap of skulls, intermingled with bones from all parts of the human body, skeletons nearly entire and rotting, clothing, human hair and putrid flesh lying there in one foul heap, around which the grass was growing luxuriantly. It emitted a sickening odour, like that of a dead horse, and it was here that the dogs had been seeking a hasty repast when our untimely approach interrupted them. Noch grauenhafter war die Situation, die er in der ausgebrannten Kirche vorfand: The church was not a very large one, and it was surrounded by a low stone wall, enclosing a small churchyard about fifty yards wide by seventy-five long. At first we perceive nothing in particular, and the stench was so great that we scarcely care to look about us, but we see that the place is heaped up with stones and rubbish to the height of five or six feet above the level of the street, and upon inspection we discover that what appeared to be a mass of stones and rubbish is in reality an immense heap of human bodies covered over with a thin layer of stones. The whole of the little churchyard is heaped up with them to the depth of three or four feet, and it is from here that the fearful odour comes. Some weeks after the massacre, orders were sent to bury the dead. But the stench at that time had become so deadly that it was impossible to execute the order, or even to remain in the neighbourhood of the village. The men sent to perform the work contented themselves with burying a few bodies, throwing a little earth over others as they lay, and here in the church MacGahan, Januarius Aloysius: The Turkish Atrocities: Horrible Scenes at Batak. In: Daily News, ..,  f., zit. n. Sergeant, Jean-Claude: When Gladstone and W. T. Stead Campaigned against the »Bulgarian Horrors«. In: Southern Horrors. Northern Visions of the Mediterranean World. Hg. v. Gilbert Bonifas und Martine Monacelli. Cambridge , -, hier . In voller Länge nachgedruckt in: W. T. Stead Resource Site, https://www.attackingthedevil.co.uk/related/macgahan.php (letzter Zugriff: ..).

99

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

yard they had tried to cover this immense heap of festering humanity by throwing in stones and rubbish over the walls, without daring to enter. They had only partially succeeded. The dogs had been at work there since, and now could be seen projecting from this monster grave, heads, arms, legs, feet, and hands, in horrid confusion. We were told there were three thousand people lying here in this little churchyard alone, and we could well believe it. It was a fearful sight – a sight to haunt one through life. There were little curly heads there in that festering mass, crushed down by heavy stones; little feet not as long as your finger on which the flesh was dried hard, by the ardent heat before it had time to decompose; little baby hands stretched out as if for help; babes that had died wondering at the bright gleam of sabres and the red hands of the fierce-eyed men who wielded them; children who had died shrinking with fright and terror; young girls who had died weeping and sobbing and begging for mercy; mothers who died trying to shield their little ones with their own weak bodies, all lying there together, festering in one horrid mass. They are silent enough now. Als federführend in der medialen Kampagne für die Rettung der Bulgaren erwies sich der ehemalige britische Premierminister und frühere Verfechter des Weiterbestehens des Osmanischen Reiches William Ewart Gladstone mit seinem berühmten Pamphlet »Bulgarian Horrors and the Question of the East«. Premierminister Benjamin Disraeli (. Earl of Beaconsfield), der strikt gegen eine Intervention der Großmächte zugunsten der Bulgaren war und die Meinung vertrat, dass die vermeintlichen Gräuel eine »russische Falle« seien, um die Verdrängung der Osmanen aus Europa zu bewirken, geriet zunehmend unter Druck. In der Krisenregion selbst war die öffentliche Erregung, begleitet durch den Aufruf zur Intervention zugunsten der Aufständischen, noch größer als in Westeuropa. Angetrieben von einer kriegsbegeisterten Öffentlichkeit, die auf eine Einmischung Russlands in das Konfliktgeschehen hoffte, erklärte Fürst Milan I. Obrenović, das Oberhaupt des autonomen Fürstentums Serbien, dem Osmanischen Reich am . Juni  den Krieg. Desgleichen tat am . Juli  auch das ebenso unter osmanischer Suzeränität befindende Fürstentum Montenegro des Fürsten Nikola I. Petrović-Njegoš. Die schlecht ausgebildete Armee der Serben, die vom russischen General Mihail Grigorijevič Černjajev – einem glühenden Panslawisten – angeführt wurde, geriet nach der schweren Niederlage in Aleksinac im September  in arge Bedrängnis. Daraufhin ersuchte Belgrad bei den Signatarmächten des Pariser Friedensvertrags um die Vermittlung eines Waffenstillstands bei der osmanischen Regierung. Die Montenegriner schlossen  Ebd., zit. n. Bass, Freedom’s Battle (wie Anm. , Einleitung), .  Temperley, Harold: The Bulgarian and Other Atrocities, -, in the light of Historical Criticism. London , .  Hösch, Geschichte (wie Anm. ), .

100

D i e » G ro ß e O ri e n t k ri s e «, 18 75 -18 78

sich dem Ansuchen Belgrads an. Im Dezember  trafen sich in Konstantinopel (Istanbul) die Botschafter der europäischen Großmächte, um die Implementierung eines Reformprogramms zu besprechen, das vor allem die südosteuropäischen Gebiete des Osmanischen Reiches betraf. Manchen Autoren zufolge habe der neue Sultan Abdülhamid II. die Konferenz initiiert und die Verabschiedung einer Verfassung und die Gründung eines osmanischen »Parlaments« in Aussicht gestellt, um einem seinerseits befürchteten Eingriff der Großmächte in Südosteuropas entgegenzuwirken. Der Genfer Historiker Davide Rodogno vertritt wiederum die Meinung, die Konferenz gehe auf Lord Derby (Edward Henry Stanley, . Earl of Derby) zurück, der über Lord Salisbury (Robert Arthur Talbot Gascoyne-Cecil, . Marquess of Salisbury), den Bevollmächtigten Großbritanniens bei der Konferenz, die osmanische Regierung wissen ließ, dass es das Recht der Großmächte sei, im Namen des Friedens Forderungen zu stellen. Dieselbe Botschaft war in der an die Hohe Pforte gerichteten Ansage der Vertreter der europäischen Großmächte zu Beginn der Konferenz enthalten: It is a question which does not interest Russia alone, but the whole of Europe, the general prosperity, humanity, and Christian civilization. May the peace of Europe and the well-being of the Christian populations of Turkey serve as a recompense for the troubles and difficulties connected with the undertaking [of the conference]. Trotz der vielen und großen Meinungsverschiedenheiten zwischen Großbritannien und Russland konnten sich die europäischen Großmächte auf einen konkreten Plan zur Befriedung des sich in großer Unruhe befindenden Balkans ei Ebd., .  Blomeyer-Bartenstein, Horst: Conferences of Ambassadors. In: History of International Law. Foundations and Principles of International Law, Sources of International Law, Law of Treaties. Hg. v. Yong Zhou. Amsterdam ,  f.; Saab, Ann Pottinger: Reluctant Icon. Gladstone, Bulgaria and the Working Classes, -. Cambridge , .  Pohanka, Reinhard: Das Osmanische Reich. Wiesbaden , ; Bernath, Mathias: Das Osmanische Reich und Südosteuropa, -. In: Handbuch der europäischen Geschichte. Bd. : Europa von der Französischen Revolution zu den nationalstaatlichen Bewegungen des . Jahrhunderts. . Aufl. Hg. v. Walter Bussmann. Stuttgart , -, hier ; Steele, David: Lord Salisbury. A Political Biography. London , .  Rodogno, Against Massacre (wie Anm. , Einleitung), ; siehe auch Marsh, Peter: Lord Salisbury and the Ottoman Massacres. In: Journal of British Studies  (), -.  A. & P., Conference at Constantinople, Doc. No. , Salisbury to Derby, Pera, . December , received . Dezember, Inclosure , Réunions Préliminaires, compterendu no.  – Séance du  Décembre , zit. n. Rodogno, Against Massacre (wie Anm. , Einleitung), .

101

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

nigen. Der Vorschlag, den deren Vertreter dem Sultan machten, sah einen erweiterten Autonomiestatus für Bosnien und Herzegowina sowie die Errichtung eines autonomen Fürstentums Bulgarien vor, dessen Grenzen vom östlichen Mittelalbanien über Nord- und Zentralmakedonien bis zur Norddobrudscha reichen sollten. Der Reformplan der Botschafterkonferenz sah vor, dass die autonomen Provinzen von einem durch die Hohe Pforte eingesetzten Generalgouverneur regiert würden. Dieser sollte der lokalen christlichen Bevölkerung entstammen und von den Großmächten genehmigt werden. Im Weiteren wurde von der osmanischen Regierung verlangt, zerstörte Häuser und Kirchen zu renovieren, christliche Opfer zu entschädigen und Flüchtlingen die Repatriierung zu ermöglichen. Außerdem sollten die aufständischen Bulgaren amnestiert werden, während die Verantwortlichen für die an der christlichen Zivilbevölkerung verübten Gräueltaten streng zu bestrafen wären. Zudem wurden die Entwaffnung der muslimischen Başibozuk-Milizen, die sofortige Beendung der Ansiedlung anatolischer Muslime in Südosteuropa und die Rückführung der bereits Niedergelassenen in ihre Ursprungsregionen gefordert. Die Überwachung der Implementierung dieser Maßnahmen in Bosnien, der Herzegowina und Bulgarien sollte eine internationale Kommission übernehmen, der ein bis zu . Männer starkes, mit Sicherheitskräften aus verschiedenen europäischen Staaten zu besetzendes Gendarmen-Kontingent zur Seite stehen würde. Für die Kosten hätten die autonomen Provinzen selbst aufzukommen. Aus diesem ursprünglich ausländischen Truppenkontingent sollte sich sukzessive durch die Rekrutierung von Männern aus der lokalen Bevölkerung eine nach europäischen Standards funktionierende Polizei für die autonomen Provinzen entwickeln. Die auf der Konferenz von Konstantinopel (Istanbul) vorgeschlagenen Reformen waren dermaßen weittragend, dass Davide Rodogno diese mit den Folgen einer humanitären Militärintervention vergleicht: The conclusion reached at the conference did not amount to a forcible humanitarian intervention. However, the degree of interference by the European powers in the internal affairs of the Ottoman Empire was considerable. The Europeans acted as if the Ottoman government was the target state of an intervention caused by its unwillingness or incapacity to protect its Christian population. They implicitly assumed that Muslim populations were the perpetrators of massacre and atrocities and had to pay the price of the intervention, and that local Christian populations were the victims of massacres and atrocities, which was correct to a certain extent. As the Russian government put it, the decisions reached during the conference were also humanitarian. They were a minimum irréductible aimed at the »security of the Christians« and at their »effective and palpable improvement«. Ignatyev [Count Nikolaj Pavlovič Ignat’ev] hoped that the European powers would not »lose sight of  Ebd.,  f.; Bass, Freedom’s Battle (wie Anm. , Einleitung),  f.

102

D i e » G ro ß e O ri e n t k ri s e «, 18 75 -18 78

the grave responsibility which devolv[ed] upon them before history and before humanity«. […] The plan elaborated by the European plenipotentiaries during  Conference of Constantinople was quite close to a humanitarian intervention for it encompassed coercive measures to enforce the reforms and aimed at avoiding the repletion of massacre in the future. Die Hohe Pforte reagierte auf das ihr von den Großmächten vorgeschlagene Reformprogramm empört. In ihrer ablehnenden Antwort bezeichnete sie es als einen direkten Eingriff in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates und als einen Versuch der Institutionalisierung der externen Einflussnahme auf das Osmanische Reich. Dass die Vorschläge der Großmächte so weit gingen, war im Wesentlichen die Folge der unnachgiebigen Haltung Sankt Petersburgs, dessen Vertreter und Botschafter in Konstantinopel (Istanbul), Graf Nikolaj Pavlovič Ignat’ev, die Entsendung russischer Truppen nach Bulgarien als Schutzmacht der dortigen christlichen Bevölkerung verlangt hatte. Lord Salisbury gelang es zwar, diese russische Forderung mit dem Kompromissvorschlag der Errichtung der oben erwähnten internationalen Gendarmen-Einheit abzuwehren. Dennoch machte man sich in London keine Illusionen, dass Konstantinopel (Istanbul) diesen Vorschlag akzeptieren würde. Sein Premierminister Disraeli kommentierte jedenfalls in resigniertem Ton: »It is a case for mezzo termine. The Russians shrink from war: the Porte cannot accept the preposterous proposals.« Auch wenn den europäischen Regierungen das Ausmaß des Eingriffs in die inneren Angelegenheiten bewusst war, zogen alle Mächte, die an der Konferenz teilgenommen hatten, nach der Absage Konstantinopels (Istanbuls) als Protestaktion ihre Botschafter aus der osmanischen Hauptstadt ab. In Russland wiederum geriet Zar Alexander II. infolge der ergebnislosen Botschafterkonferenz unter den noch stärkeren Druck der einheimischen Panslawisten, die ihn zum Handeln ermahnten und daran erinnerten, dass er selbst den Schutz der orthodoxen Christen des Osmanischen Reiches zur »heiligen Mission« Russlands erklärt hatte. Zudem wurden die antiwestlichen Töne immer schärfer. Der bekannte Schriftsteller Fëdor Mihajlovič Dostoevskij, der von einer russischen Eroberung Konstantinopels (Istanbuls) träumte, warf z. B. den Briten vor, dass sie »die komplette Vernichtung der christlichen Bevölkerung«  Rodogno, Against Massacre (wie Anm. , Einleitung), , .  Steele, Lord Salisbury (wie Anm. ), ; Bass, Freedom’s Battle (wie Anm. , Einleitung),  f.  Ebd.  Zit. n. Buckle, George Eagle [in succession to W. P. Monypenny]: The Life of Benjamin Disraeli, Earl of Beaconsfield. Bd. : -. London , .  Rodogno, Against Massacre (wie Anm. , Einleitung), .  Yavuz, Hakan M./Sluglett, Peter: Introduction. In: War and Diplomacy. The RussoTurkish War of - and the Treaty of Berlin. Hg. v. Hakan M. Yavuz und Peter Sluglett. Salt Lake City , -, hier .

103

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

Südosteuropas bezweckten und demzufolge auf weitere Massaker hofften. Sankt Petersburg liebäugelte mit einer militärischen Intervention und berief sich dabei auf die Gefahr, in der sich die christliche Bevölkerung befand. Im Oktober  ließ der russische Außenminister Aleksandr Gorčakov den britischen Botschafter in der russischen Hauptstadt, Lord Augustus Loftus, Folgendes wissen: »[I]f the Powers want serious results they must agree that the independence and integrity of Turkey should be subordinated to the guarantees demanded by humanity, Christian Europe, and interests of peace.« Dem Genfer Historiker Matthias Schulz zufolge gab diese Aussage die russische Doktrin einer humanitären Intervention verkürzt wieder. Bereits im August  hatte der russische Außenminister den anderen Großmächten einen Bericht zukommen lassen, in dem die Gräueltaten gegen die bulgarische Bevölkerung ausführlich dokumentiert wurden. Begleitet wurde dieser von der Aufforderung Gorčakovs, »diesem Blutvergießen, das ein Gefühl des Horrors und der Verärgerung« hervorrufe, ein Ende zu setzen. Am . November  ermahnte der britische Premierminister Benjamin Disraeli Russland, seine Anstrengungen, eine militärische Konfrontation mit dem Osmanischen Reich herbeizuführen, einzustellen. Gorčakov zeigte sich davon unbeeindruckt und appellierte wenige Tage später erneut an die Pflicht Europas, in den blutigen Konflikt auf dem Balkan im Sinne der Humanität einzugreifen: »It is not a political question; it is one of humanity – which equally regards all Europe.« Im März  begann Alexander II. eine neue Initiative zur Lösung des Konflikts im osmanischen Südosteuropa. Er beauftragte Ignat’ev, die wichtigsten europäischen Hauptstädte zu besuchen, um die Unterstützung der anderen Großmächte für ein neues, von Sankt Petersburg ausgearbeitetes Reformprogramm für die europäischen Gebiete des Osmanischen Reiches zu gewinnen. Die Überwachung der Implementierung der Reformen sollte direkt von den Großmächten übernommen werden. Die Verhandlungen führten am . März  zur Unterzeichnung des Londoner Protokolls, in dem die Großmächte »ihr gemeinsames Interesse an der Verbesserung des Loses der christlichen Bevölkerung in der Türkei« bekundeten. Sie ermahnten die Hohe Pforte, ihre Verpflichtungen, die sie gegenüber der christlichen Bevölkerung im Vertrag von  Bass, Freedom’s Battle (wie Anm. , Einleitung), .  Loftus to Derby, . Oct. , telegraphic. In: British Documents of Foreign Affairs, I, B, vol. , doc. , , zit. n. Schulz, Matthias: The Guarantees of Humanity: the Concert of Europe and the Origins of the Russo-Ottoman War of . In: Simms/ Trim, Humanitarian Intervention (wie Anm. , Einleitung), -, hier .  Ebd.  FO //, Loftus to Derby, . August , zit. n. Bass, Freedom’s Battle (wie Anm. , Einleitung),  f.  FO //, Loftus to Derby, . November , zit. n. ebd., .  Bass, Freedom’s Battle (wie Anm. , Einleitung), -.  Rodogno, Against Massacre (wie Anm. , Einleitung), .

104

D i e » G ro ß e O ri e n t k ri s e «, 18 75 -18 78

Paris  eingegangen sei, einzuhalten. Art.  des Protokolls ermächtigte die sechs Signatarmächte, »eng zu überwachen, wie die osmanische Regierung ihre Versprechen einlösen« würde. Das Protokoll sah für den Fall, dass man »ein weiteres Mal« von der Hohen Pforte »enttäuscht« würde, eine gemeinsame Operation der europäischen Großmächte vor. Vorerst wurden aber Konstantinopel (Istanbul) und Sankt Petersburg aufgefordert, ihre Armeen aus der Krisenregion zurückzuziehen und diesen Rückzug nur im Fall erneuter Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung zu überdenken. Das Protokoll schloss mit einem Absatz ab, der die Tür für eine militärische Intervention offenhielt: If their hopes should once more be disappointed, and if the condition of the Christian subjects of the Sultan should not be improved in a manner to prevent the return of the complications which periodically disturb the peace of the East, they [the Powers who have undertaken the pacification of the East] think it right to declare that such a state of affair s would be incompatible with their interests and those of Europe in general. In such case they reserve to themselves to consider in common as to the means which they may deem best fitted to secure the wellbeing of the Christian populations and the interests of the general peace. Der britische Premierminister Disraeli betrachtete das Protokoll als einen riesigen Erfolg der Diplomatie seines Landes, dachte er doch, dass damit die Gefahr eines russischen Eingreifens in das Konfliktgeschehen auf dem Balkan endgültig abgewendet worden sei: »In fact Russia has surrendered at discretion and England has completely triumphed in her main object: prevented her Invasion of Turkey! […] Firmness and tact will, I think, carry us through. […] It is nearly all up with Gorchakov [Gorčakov]. What fun!« Disraelis Freude war aber verfrüht. Die Hohe Pforte lehnte die Bedingungen des Londoner Protokolls als einen höchst erniedrigenden Akt gegen die Souveränität des Osmanischen Reiches ab: »The Imperial Government does not comprehend […] why it has forfeited justice and civilization up to a point where it sees itself reduced to a humiliating position without example in the world.« Sie bewertete die Einmischung  Siehe dazu insbesondere Art.  der Pariser Friedensakte von .  Rodogno, Against Massacre (wie Anm. , Einleitung), .  Protocol Relative to the Affairs of Turkey, signed at London, March , . In: Colonist, Volume XIX, Issue , . Juni . Nachgedruckt in: Papers Past. National Library of New Zealand, https://paperspast.natlib.govt.nz/newspapers/TC. .. (letzter Zugriff: ..). Siehe auch Londoner Protokoll vom . März . In: Dokumentarium zur Vorgeschichte des Weltkrieges -. Hg. v. Bernhard Schwertfeger. Berlin , -.  Disraeli to Bradford, . April . In: The Letters of Disraeli to Lady Chesterfield and Lady Bradford. Bd. : -. Hg. v. Marquis of Zetland. New York , , zit. n. Bass, Freedom’s Battle (wie Anm. , Einleitung), .  British Documents of Foreign Affairs, I, B, vol. , doc. , , zit. n. Schulz, The Guarantees (wie Anm. ), .

105

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

in die inneren Angelegenheiten des Osmanischen Reiches als einen Verstoß gegen den Pariser Friedensvertrag von , in dem ein ausdrückliches Interventionsverbot niedergeschrieben worden war. Infolge der osmanischen Ablehnung des Londoner Protokolls erklärte Sankt Petersburg am . April  dem Osmanischen Reich den Krieg. Dabei berief sich Russland auf sein Recht und seine Pflicht, das Leben und die Würde der christlich-orthodoxen Untertanen des Sultans zu schützen. Die Frage, ob angesichts des besagten Interventionsverbots die russische Kriegserklärung völkerrechtsmäßig oder -widrig war, beschäftigte die zeitgenössischen Rechtsgelehrten stark. Die humanitäre Militärintervention erneut Gegenstand völkerrechtlicher Debatten

Schon vor dem Ausbruch des russisch-osmanischen Krieges hatten sich Völkerrechtler zu Wort gemeldet, die eine Intervention der Großmächte im osmanischen Südosteuropa aus Gründen der Humanität und der Friedenssicherung forderten und angesichts der dort stattfindenden Menschenrechtsverletzungen für rechtmäßig erklärten. Der belgische Jurist und Politiker Gustave Henry Ange Hippolyte Rolin-Jaequemyns, Mitbegründer des Institut de Droit International, veröffentlichte  in der von ihm gemeinsam mit Tobias Asser und John Westlake  ins Leben gerufenen Fachzeitschrift Revue de Droit International et de Législation Comparée einen Beitrag zum Thema »Das Völkerrecht und die aktuelle Phase der Orientalischen Frage«. Darin vertrat er die Meinung, dass die Großmächte im Namen der Humanität und der Bewahrung des internationalen Friedens ein Recht auf eine kollektive Intervention in die osmanischen Angelegenheiten hätten. Das völkerrechtliche Primat der Unverletzlichkeit der staatlichen Souveränität müsse in diesem Fall infolge der erwiesenen Unfähigkeit der Hohen Pforte, ihre Staatsbürger zu schützen, außer Acht gelassen werden. Schließlich kritisierte er die britische Regierung wegen ihrer fehlenden Bereitschaft, sich an einer kollektiven Inter-

 Siehe dazu insbesondere Art.  der Pariser Friedensakte von .  Sundhaussen, Holm: Orientalische Krise (-). In: Sundhaussen/Clewing, Lexikon (wie Anm. , Einleitung), .  Ungern-Sternberg, Antje von: Religion and Religious Intervention. In: Fassbender/ Peters, The Oxford Handbook (wie Anm. , Einleitung), -, hier .  Zum wichtigen Beitrag von Rolin-Jaequemyns zur Weiterentwicklung des Völkerrechts im . Jahrhundert siehe Lachs, Manfred: The Teacher in International Law (Teachings and Teaching). Den Haag [u. a.] , ; Jouannet, Emmanuelle: The Liberal-Welfarist Law of Nations: A History of International Law. Cambridge [u. a.] , ; Koskenniemi, Martti: Gustave Rolin-Jaequemyns and the Establishment of the Institut de Droit International (). In: Revue Belge de Droit International () , -.

106

D i e » G ro ß e O ri e n t k ri s e «, 18 75 -18 78

vention zu beteiligen. Rolin-Jaequemyns, der sich später auch für eine militärische Intervention zur Rettung der im Osmanischen Reich lebenden Armenier einsetzen sollte, erhielt für seinen Vorstoß Unterstützung von Aegidius Rudolph Nicolaus Arntz, einem an der Universität Brüssel lehrenden liberalen deutschen Rechtsprofessor. Dieser formulierte in derselben Ausgabe der Revue de Droit International et de Législation Comparée einen Ansatz der humanitären Intervention, der gegenwärtigen Interventionstheorien sehr nahe ist: Wenn eine Regierung, obgleich vollkommen in den Grenzen ihrer souveränen Rechte handelnd, die Rechte der Menschlichkeit verletzt, sei es durch Exzesse der Ungerechtigkeit und Grausamkeit, die zutiefst unsere Sitten und unsere Zivilisation verletzen, so gibt es ein legitimes Interventionsrecht. Denn so achtenswert die Souveränitätsrechte und die Unabhängigkeit eines Staates auch sein mögen, so gibt es doch etwas noch höher zu achtendes, nämlich das Recht der Menschlichkeit oder der menschlichen Gesellschaft, das nicht beleidigt werden darf. Ebenso wie im Staate die Freiheit des Individuums beschränkt werden muss oder beschränkt wird durch das Recht und die Sitten der Gesellschaft, so muss auch die individuelle Freiheit der Staaten durch die Rechte der menschlichen Gesellschaft eingeschränkt werden. Nach der Kriegserklärung des Zaren an die Hohe Pforte ergriff auch der federführende russische Völkerrechtler und Diplomat Fëdor Fëdorovič Martens Position für die Rechtmäßigkeit der Militärintervention seines Landes. Er schrieb einen historisch angelegten Beitrag zur »Politik Russlands in der Orien Rolin-Jaequemyns, Gustave: Le Droit International et la Phase Actuelle de la Question d’Orient. In: Revue de Droit International et de Législation Comparée  (), -, zit. n. Segesser, Humanitarian Intervention (wie Anm. , Einleitung), .  Siehe Rolin-Jaequemyns, Gustave: Armenia, the Armenians, and the Treaties. Translated from the Revue de Droit International et de Législation Comparée (Brussels) and Revised by the Author. London .  Zitiert in: Rolin-Jaequemyns, Gustave: Note sur la Théorie de Droit d’Intervention – A propos d’une lettre de M. le professeur Arntz. In: Revue de Droit International et de Législation Comparée  (), -, hier , zit. n. Swatek-Evenstein, Geschichte (wie Anm. , Einleitung),  f.  Zu Martens als dem wichtigsten Völkerrechtsexperten Russlands in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts siehe Pustogarov, Vladimir Vasil’evich: Our Martens. F. F. Martens, International Lawyer and Architect of Peace. Den Haag ; Aust, Martin: Völkerrechtstransfer im Zarenreich. Internationalismus und Imperium bei Fedor F. Martens. In: Osteuropa  (), -; Mälksoo, Lauri: Friedrich Fromhold von Martens (Fyodor Fyodorovich Martens), -. In: Fassbender/Peters, The Oxford Handbook (wie Anm. , Einleitung), -; Holquist; Peter: Bureaucratic Diaries and Imperial Experts. Autobiographical Writing in Tsarist Russia in the late Nineteenth Century: Fëdor Martens, Dmitrii Miliutin, Pëtr Valuev. In: Imperial Subjects. Autobiographische Praxis in den Vielvölkerreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen im . und frühen . Jahrhundert. Hg. v. Martin Aust und Frithjof Benjamin Schenk. Wien [u. a.] , -.

107

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

talischen Frage«, den er  ebenfalls in der Revue de Droit International et de Législation Comparée veröffentlichte. Martens zufolge sei das Vorgehen des Zaren legitim gewesen, da es im Namen der Humanität und zur Beendung der »intolerablen Zustände«, in denen die Christen unter osmanischer Herrschaft gelebt hätten, stattgefunden habe. Er hielt zwar den Alleingang Russlands nicht für die Ideallösung, aber angesichts der passiven Haltung der anderen Großmächte für alternativlos. Als im Laufe des Krieges das Institut de Droit International einen Bericht über Kriegsverbrechen der russischen Armee an osmanischen Zivilisten herausgeben wollte, verhinderte Martens dies. Der Schweizer Rechtshistoriker und Staatsrechtslehrer Johan Caspar Bluntschli, der wie RolinJaequemyns zu den Mitbegründern des Institut de Droit International gehörte, befand ebenso die russische Intervention für rechtmäßig. In der  »dritte[n] mit Rücksicht auf die neueren Ereignisse bis  ergänzte[n] Auflage« seines Völkerrechtslehrbuchs schrieb er dazu Folgendes: Werden infolge der Verfassungskämpfe das allgemein als notwendig anerkannte Menschenrecht oder das Völkerrecht verletzt, dann wird auch eine Intervention zum Schutze desselben aus denselben Gründen gerechtfertigt, wie das Einschreiten der zivilisierten Staaten überhaupt bei gemeingefährlichen Rechtsverletzungen. […] In solchen Fällen mag auch eine unterdrückte Partei die Intervention anrufen, nicht im Namen des Staates, sondern nach Maßgabe des Völkerrechts. Die Christen in der Türkei haben das wiederholt mit Erfolg getan. Zuletzt hat Russland / zum Schutz derselben, zunächst der Bulgaren, den Krieg gegen die Türkei durchgeführt. Die »frühere Russische Intervention in der Türkei«  hielt er indessen für unrechtmäßig, was wiederum die »Westmächte« berechtigt habe, den »orientalischen Krieg« gegen den Zaren zu führen. Sie hätten letztendlich dafür Sorge getragen, »dass diese Intervention wieder aufhöre und nicht zur Verletzung der Weltordnung missbraucht werde«. Während also aus Sicht Bluntschlis die im Zuge der »Großen Orientkrise« von  bis  verübten Gewaltexzesse gegen die christliche Zivilbevölkerung eine ausreichende Rechtfertigung für einen militärischen Eingriff böten, habe im Fall des russischen Einmarsches in die Donaufürstentümer im Juli  eine entsprechende rechtliche Grundlage gefehlt.

 Martens, Fëdor Fëdorovič: Étude historique sur la politique russe dans la question d’Orient. In: Revue de Droit International et de Législation Comparée  (),  ff., zit. n. Swatek-Evenstein, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), , .  Ebd.  Bluntschli, Das moderne Völkerrecht (wie Anm. ), .  Ebd.

108

D i e » G ro ß e O ri e n t k ri s e «, 18 75 -18 78

Der Frieden von San Stefano

Der vierte und letzte russisch-türkische Krieg des . Jahrhunderts bewirkte die weitere Schwächung des Osmanischen Reiches und führte zu einer von Staatsgründungen begleiteten Neuverteilung des südosteuropäischen Territoriums. Die russischen Truppen, die zunächst im Kaukasus angriffen, waren von Anfang den osmanischen deutlich überlegen, sodass sie bereits im Juni  die Donau überqueren konnten. In Anbetracht dieser Entwicklung sah sich London gezwungen, die britische Flotte in die Nähe der Dardanellen zu beordern, um im Notfall die Einnahme der osmanischen Hauptstadt durch russische Soldaten zu verhindern. Ende August ließ der britische Premierminister Disraeli den Zaren wissen, dass er mit der Kriegserklärung Großbritanniens rechnen müsse, sollte er versuchen, Konstantinopel (Istanbul) anzugreifen und einzunehmen. Sankt Petersburg zeigte sich vorerst von dieser Warnung unbeeindruckt. Im Dezember  fiel nach mehrmonatigem osmanischem Widerstand die Festung von Plewen in russische Hand, kurz danach marschierten die Russen in Adrianopel (Edirne) ein. Anfang  mussten die osmanischen Truppen schließlich kapitulieren. Daraufhin ließ London die britische Flotte direkt vor Konstantinopel (Istanbul) vor Anker gehen. Die an Sankt Petersburg gerichtete Botschaft war unmissverständlich: Ein russischer Angriff auf die osmanische Hauptstadt würde den Krieg mit Großbritannien zur Folge haben. Die moderaten Kräfte in Russland, die so eine Entwicklung seit Längerem befürchteten und abzuwenden versuchten, konnten sich in letzter Sekunde gegenüber Ignat’ev und anderen panslawistischen Scharfmachern durchsetzen, sodass der Zar seinen Truppen kurz vor Konstantinopel (Istanbul) befahl anzuhalten. Am . März  diktierte Russland dem militärisch geschlagenen Osmanischen Reich den Frieden von San Stefano. Dieser sah die Schaffung eines großbulgarischen Staates vor, der sich von der Donau im Norden und dem Schwarzen Meer im Osten bis zur Ägäis-Küste im Süden und dem Ohrid-See im Westen erstrecken würde. Die anderen Großmächte, vor allem Großbritannien und Österreich-Ungarn, empfanden die Gründung eines unter russischen Einfluss stehenden Großbulgarien, das bis an die Ägäis gelangen und sehr nahe an die Meerenge der Dardanellen heranrücken würde, als eine ernsthafte Bedrohung ihrer geopolitischen und ökonomischen Interessen in der Region. Der Friedensvertrag beinhaltete auch beträchtliche Gebietserweiterungen für Montenegro, Serbien und Rumänien. Disraeli drohte dem Zaren mit einem Krieg, sollte die im Friedensvertrag von San Stefano vorgenommene Grenzziehung nicht rückgängig gemacht werden. Wien erhöhte ebenfalls den Druck auf Sankt Petersburg, indem es Kriegskredite aufnahm und seine Streitkräfte an der Grenze zu Russland in Alarmbereitschaft

 Bass, Freedom’s Battle (wie Anm. , Einleitung), -; Calic, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung), ; Clewing, Staatensystem (wie Anm. , Einleitung), .

109

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

versetzte. Alexander II., dem die ökonomischen Probleme seines Reiches und die Überlastung seiner Armee große Sorgen bereiteten, ließ sich auf eine Neuverhandlung der Ergebnisse seines Sieges über die Osmanen ein. Der deutsche Kanzler Otto von Bismarck bot sich als Vermittler an und schlug den anderen Großmächten die Abhaltung eines Kongresses in Berlin vor. Im Vorfeld des Kongresses handelten der kürzlich zum Außenminister ernannte Lord Salisbury und sein russischer Kollege, Graf Pëtr Šuvalov, ein geheimes Abkommen aus. Dieses sah die Zustimmung Russlands zur Annullierung der Gründung eines großbulgarischen Staates vor. Dafür würde Großbritannien die russische Annexion Bessarabiens, Batumis, der Provinz Kars und der Stadt Ardahan anerkennen. Gesonderte Vorverhandlungen führte Salisbury auch mit ÖsterreichUngarn und dem Osmanischen Reich. Dabei gelang es ihm, auch mit Wien und Konstantinopel (Istanbul) geheime Abkommen abzuschließen. Eines davon ermöglichte London die Besetzung Zyperns. Der Berliner Kongress (1878) und das Völkerrecht

Der Berliner Kongress, der am . Juni  begann und am . Juli desselben Jahres endete, war im Laufe des . Jahrhunderts bereits die dritte große Zusammenkunft nach dem Wiener Kongress von  und der Pariser Friedenskonferenz von , die die friedliche Neuordnung Europas nach einem großen Krieg zum Gegenstand hatte. In der Geschichte des modernen Völkerrechts nimmt er die Position eines Marksteins ein. Der renommierten Historikerin Carole Fink zufolge habe der Berliner Kongress eine grundsätzliche Änderung der Handlungsmaximen in der internationalen Politik eingeleitet. Wie bereits erwähnt, waren die meisten Punkte des Friedensvertrags schon bei den besagten Londoner Vorberatungen ausgehandelt worden. Hauptziel des Kongresses war es, eine neue Friedensordnung für Südosteuropa nach der »Großen Orientkrise« von - auszuhandeln. Österreich-Ungarn, Großbritannien und Frankreich strebten insbesondere eine Revision des im März  dem Osmanischen Reich von Russland diktierten Friedensvertrags von San Stefano an. Durch mehrere Artikel der Berliner Kongressakte wurden die Beschlüsse von San Stefano hinsichtlich Bulgariens stark revidiert: Aus dem unabhängigen Großbulgarien mit einer Gebietsfläche von  Jovanovski, Dalibor: Balkanot od  do  godina. Skopje , -.  Crampton, R. J.: A Concise History of Bulgaria. . Aufl. Cambridge [u. a.] , ; Bass, Freedom’s Battle (wie Anm. , Einleitung), -; Fink, Carole: Defending the Rights of Others. The Great Powers, the Jews, and International Minority Protection, -. Cambridge [u. a] , -.  Rodogno, Against Massacre (wie Anm. , Einleitung), .  Tokay, Gül: A Reassessment of the Macedonian Question, -. In: Yavuz/Sluglett (wie Anm. ), War, -, hier .  Fink, Defending (wie Anm. ), .

110

D i e » G ro ß e O ri e n t k ri s e «, 18 75 -18 78

. km, das der San Stefano-Vertrag vorsah, wurde ein territorial stark verkleinertes, unter osmanischer Suzeränität stehendes und gegenüber der Hohen Pforte tributpflichtiges Fürstentum Bulgarien gemacht. Der makedonische Westen, der im Frieden von San Stefano dem unabhängigen bulgarischen Staat zugeschlagen worden war, kam erneut unter osmanische Herrschaft, während dem ebenfalls als Teil Großbulgariens vorgesehenen südöstlichen Thrakien (Ostumelien) ein erweiterter Autonomie-Status innerhalb des Osmanischen Reiches zugestanden wurde. Etliche Reformvorschläge, die bei der besagten Botschafterkonferenz von Konstantinopel (Dezember  – Januar ) hinsichtlich eines autonomen Bulgarien und Bosnien unterbreitet worden waren und zunächst von der Hohen Pforte abgelehnt worden waren, fanden nun im Fall Ostrumeliens Anwendung. Die auf Bulgarien bezogenen Artikel bestimmten im Detail Folgendes: Article I. Bulgaria is constituted an Autonomous and tributary Principality under the suzerainty of His Imperial Majesty the Sultan; it will have a Christian Government and a national militia. […] Article IX. The amount of the annual tribute which the Principality of Bulgaria shall pay to the Suzerain Court — such amount being paid into whatever bank the Porte may hereafter designate — shall be fixed by an agreement between the Powers Signatory of the present Treaty at the close of the first year of the working of the new organization. This tribute shall be calculated on the mean revenue of the territory of the Principality. As Bulgaria is to bear a portion of the public debt of the Empire, when the Powers fix the tribute they shall take into consideration what portion of that debt can, on the basis of a fair proportion, be assigned to the Principality. […] Article XIII. A province is formed south of the Balkans which will take the name of »Eastern Roumelia«, and will remain under the direct political and military authority of His Imperial Majesty the Sultan, under conditions of administrative autonomy. It shall have a Christian Governor-General. […] Article XV. His Majesty the Sultan shall have the right of providing for the defense of the land and sea frontiers of the province by erecting fortifications on those frontiers, and maintaining troops there. Internal order is maintained in Eastern Roumelia by a native gendarmerie assisted by a local militia. In forming these corps, the officers of which are nominated by the Sultan, regard shall be paid in the different localities to the religion of the inhabitants. His Imperial Majesty the Sultan undertakes not to employ irregular troops, such as Bashi-Bazouks [Başibozuks] and Circassians, in the garrisons of the frontiers. The regular troops detailed for this service must not in any case be billeted on the inhabitants. When they pass through the province they shall not make a stay there. […] Article XVII. The Governor-General of Eastern Roumelia shall be nominated by the Sublime Porte, with the assent of the Powers, for a term of five years. Article VXIII. Immediately after the exchange of the ratifications of the present Treaty, a European Commission shall be formed to arrange, in concert with the Ottoman Porte, the orga111 https://doi.org/10.5771/9783835346291

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

nization of Eastern Roumelia. This Commission will have to determine, within three months, the powers and functions of the Governor-General, as well as the administrative, judicial, and financial system of the province, taking as its basis the various laws for the vilayets [vilâyets] and the proposals made in the eighth sitting of the Conference of Constantinople. The whole of the arrangements determined on for Eastern Roumelia shall form the subject of an Imperial Firman, which will be issued by the Sublime Porte, and which it will communicate to the Powers. Im Weiteren wurde in der Berliner Kongressakte die schon im Friedensvertrag von San Stefano anerkannte Unabhängigkeit Serbiens, Montenegros und Rumäniens bestätigt: Article XXVL. The independence of Montenegro is recognized by the Sublime Porte and by all those of the High Contracting Parties who had not hitherto admitted it. […] Article XXXIV. The High Contracting Parties recognize the independence of the Principality of Serbia, subject to the conditions set forth in the following Article. […] Article XLIII. The High Contracting Parties recognize the independence of Romania, subject to the conditions set forth in the following Articles. Serbien, Montenegro und Griechenland wurden zudem Territorialerweiterungen auf Kosten des Osmanischen Reiches zugesprochen, wobei einige der serbischen und montenegrinischen Gebietsgewinne schon im Vertrag von San Stefano vorgesehen waren. Österreich-Ungarn erhielt wiederum das Recht auf eine Besetzung Bosniens und der Herzegowina sowie auf eine Stationierung von Truppen im sancak von Novi Pazar. Art.  legte Folgendes fest: Article XXV. The Provinces of Bosnia and Herzegovina shall be occupied and administered by Austria-Hungary. The Government of Austria-Hungary, not desiring to undertake the administration of the Sandjak [sancak] of Novi-Bazar, which extends between Serbia and Montenegro in a south-easterly direction to the other side of Mitrovitza [Mitrovica/Mitrovicë], the Ottoman Administration will continue to exercise its functions there. Nevertheless, in order to assure the maintenance of the new political state of affairs, as well as freedom and security of communications, Austria-Hungary reserves the right of keeping garrisons and having military and commercial roads in the whole  Treaty between Great Britain, Germany, Austria, France, Italy, Russia, and Turkey for the Settlement of Affairs in the East: Signed at Berlin, July ,  [im Folgenden: Treaty of Berlin, ]. In: The American Journal of International Law  () , -, hier ,  f.,  f.  Ebd., , , .  Geiss, Imanuel: Einleitung. In: Der Berliner Kongress . Protokolle und Materialien. Hg. v. Imanuel Geiss. Boppard am Rhein , IX-XXXV, hier XXIV.  Bezeichnung für einen Militärbezirk bzw. eine Provinz.

112

D i e » G ro ß e O ri e n t k ri s e «, 18 75 -18 78

of this part of the ancient Vilayet [vilâyet] of Bosnia. To this end the Governments of Austria-Hungary and Turkey reserve to themselves to come to an understanding on the details. Darüber hinaus wurde Frankreich für seine Zustimmung zum Berliner Vertrag mit der Aussicht der Annexion des osmanischen Vasallenstaats Tunis belohnt. Schließlich wurden die russischen Territorialgewinne in Transkaukasien bestätigt. Die vom Berliner Vertrag unmittelbar betroffenen südosteuropäischen Staaten Montenegro, Serbien, Rumänien und Griechenland gehörten nicht zu den Signatarmächten. Bei den Verhandlungen war ihnen keine effektive Teilhabe zugestanden worden. Zwar wurden die Vertreter dieser vier Staaten zu einzelnen Themenaspekten befragt, durften aber selbst keine Verhandlungen führen. Dem Osmanischen Reich, dem einzigen unterzeichnungsberechtigten Staat der Region, wurde wiederum erlaubt, sich an den Konsultationen aktiv zu beteiligen, allerdings blieben die Einflussmöglichkeiten seiner dreiköpfigen Delegation sehr begrenzt. Letzterer gehörten neben dem Botschafter Sadullah Bey der griechisch-orthodoxe Minister für öffentliche Arbeiten Alexandros Karatheodoris Pascha (Paşa) und der  in Magdeburg als Carl Détroit geborene deutsche Konvertit Feldmarschall Mehmed Ali Pascha (Paşa) an. Während Karatheodoris diplomatisches Geschick bewies und dafür den Respekt der Vertreter der anderen Großmächte gewann, wurde die Entsendung eines ehemaligen deutschen Protestanten, der zum Islam übergetreten war, vor allem seitens des Verhandlungsleiters Bismarck als Provokation empfunden. Die Entsandten der Hohen Pforte mussten schnell zur Kenntnis nehmen, dass sie bei den Verhandlungen keine wichtige Rolle spielen würden. Neue Minderheitenschutzbestimmungen

Der Berliner Kongress revidierte den Vertrag von San Stefano nicht allein in territorialer Hinsicht. Während letzterer keinerlei Vorkehrungen zum Schutz von Minderheiten beinhaltete, legte der in Berlin ausgehandelte Nachfolgevertrag den südosteuropäischen Staaten auf, ihren Minderheiten besondere Rechte zuzugestehen. Carole Fink merkte diesbezüglich an, dass die Großmächte in ihrem Versuch, auf dem Balkan eine neue politische und staatliche Ordnung zu errichten, zu der »Agenda der europäischen Diplomatie eine neue wichtige Zu Treaty of Berlin,  (wie Anm. ),  f.  Troebst, Stefan: Berliner Kongreß. In: Hösch/Nehring/Sundhaussen (wie Anm. , Einleitung), Lexikon,  f.  Zur Karriere des »Neo-Phanarioten« Alexandros Karatheodoris im osmanischen Staatsapparat siehe Efe, Peri: Ein Bürokrat und Gelehrter aus Milet-i Rum im Osmanischen Reich des . Jahrhunderts: Alexandros Karatheodoris, Diplomarbeit, Universität Wien .  Clewing, Staatensystem (wie Anm. , Einleitung), .

113

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

tat ergänzten«, die des Minderheitenschutzes. Starke Impulse kamen dabei von den westeuropäischen Juden, die ihren ganzen Einfluss dafür einsetzten, dass die Mitglieder ihrer Religionsgemeinschaft in Südosteuropa, vor allem in Rumänien, einen völkerrechtlichen Schutz vor Diskriminierung und Unterdrückung erhielten. Diese Intervention hat eine längere Vorgeschichte. Schon während des Wiener Kongresses  hatten deutsch-jüdische Akteure erfolglos versucht, einen Emanzipationsartikel bezüglich der jüdischen Bevölkerung in die Verfassung der neuen deutschen Konföderation einzubringen. Im Laufe des . Jahrhunderts bildete sich eine einflussreiche, transnationale jüdische Lobby heraus, deren Hauptziel es war, die Staatengemeinschaft zur Errichtung eines internationalen Minderheitensystems zu bewegen. Dadurch sollte der Widerwillen der einzelnen Staaten, ihren Minderheiten Rechte einzuräumen, überwunden werden. Federführend in dieser Bewegung waren der französische Rechtsanwalt Adolphe Crémieux, ab  Präsident der sich insbesondere für die Rechte der Juden der Moldau und der Walachei einsetzenden Alliance Israélite Universelle, und der britische Unternehmer Moses Montefiore. Crémieux und Montefiore vereinten erstmals ihre Kräfte  anlässlich der »DamaskusAffäre« mit dem Ziel, die Juden von Damaskus vor der folgenreichen Anschuldigung der Praktizierung von Ritualmorden zu schützen. Während des Krimkriegs war es wiederum vor allem die Bankiersfamilie der Rothschilds, die auf die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs sowie die Hohe Pforte einwirkte, um den bevorstehenden Friedenvertrag auch mit Minderheitenrechten für die jüdische Bevölkerung auszustatten. Ihre Anstrengungen zeitigten Wirkung: Kurz vor dem Pariser Kongress trafen sich die Vertreter Großbritanniens, Frankreichs, Österreichs und des Osmanischen Reiches in Konstantinopel (Istanbul), um einen Entwurf des Friedensvertrags mit dem besiegten Russland zu entwerfen. Während der Gespräche schlug der französische Botschafter Édouard Antoine Thouvenel unerwartet eine Reihe von Bestimmungen zugunsten der in der Moldau und Walachei lebenden Minderheiten vor. Dadurch sollten in den beiden – in einem Vasallenverhältnis zum Sultan stehenden – Fürstentümern die Gleichstellung und der Schutz aller Religionen, dieselben politischen, Eigentums- und Bürgerrechte für alle Einwohner sowie die Chancengleichheit bei der Besetzung von Stellen des öffentlichen Dienstes garantiert werden. Auch wenn nicht explizit genannt, beabsichtigte Thouvenel mit diesen Regelungen die vollständige Emanzipation der Juden Rumäniens. Die Proteste der politischen Führungen in der Moldau und Walachei gegen den Vorschlag des französischen Diplomaten bei den Regierungen in London und Paris waren heftig. Man warnte die Großmächte, dass die Einräumung von bürgerlichen, politischen und    

114

Fink, Defending (wie Anm. ), . Ebd., . Ebd. Ebd., .

D i e » G ro ß e O ri e n t k ri s e «, 18 75 -18 78

Eigentumsrechten an die Juden die beiden Fürstentümer in den »Ruin« treiben würde. Letztendlich fanden die Vorschläge von Thouvenel im Pariser Vertrag keine Berücksichtigung. Das Thema war aber nur vorläufig vom Tisch. Die bereits erwähnten Anstrengungen der Botschafter in Konstantinopel (Istanbul), nach dem bulgarischen Aufstand und dessen Niederschlagung nach Wegen zur Deeskalation der angespannten Situation auf dem osmanischen Balkan zu suchen, veranlassten jüdische Vereine dazu, sich erneut für die Verbesserung der Lage der jüdischen Bevölkerung in Südosteuropa zu engagieren. Während die Botschafter der Großmächte in der Hauptstadt des Osmanischen Reiches tagten, trafen sich Vertreter jüdischer Organisationen und Vereine aus zahlreichen Ländern (Frankreich, Großbritannien, Holland, Belgien, USA, Schweiz, Italien, Deutschland, Österreich-Ungarn u. a.) in Paris, um die Durchsetzung der Gleichberechtigung in den Staaten Südosteuropas voranzutreiben und dadurch die innerstaatliche und verfassungsmäßige Stellung der dortigen Juden zu verbessern. Vor allem die jüngsten Verfolgungen der Juden in den seit  vereinigten Fürstentümern Moldau und Walachei hatten ihre Glaubensgenossen in Zentral- und Westeuropa alarmiert. Die Verbesserung der Rechtsverhältnisse für Minoritäten in den Staaten Südosteuropas schien den in Paris versammelten jüdischen Vertretern dringlicher als je zuvor. Diese Verbesserung sollte nach deren Vorstellungen hauptsächlich durch den Transfer westlicher Kultur- und Staatsideale eintreten. Wie Björn Siegel in seiner Dissertation zur Israelischen Allianz zu Wien konstatiert, wurden »die Annäherung der östlichen Völker an Westeuropa und die mögliche Autonomie bzw. Unabhängigkeit der Balkanprovinzen zu den Ausgangspunkten für die jüdischen Institutionen, ihr Kulturgut und ihr politisch-kulturelles Verständnis zum Vorbild für diese Gebiete zu erklären und es als den idealen Weg in die Moderne zu propagieren«. Im Vorfeld des Berliner Kongresses verstärkten die Vorkämpfer der Gleichstellung der Juden Südosteuropas ihre Anstrengungen. Eine hervorragende Rolle spielte dabei der einflussreiche deutsch-jüdische Bankier Gerson von Bleichröder, der eine enge Beziehung zu Bismarck pflegte und als einer seiner wichtigsten Berater in wirtschaftlichen Angelegenheiten galt. Im Gegensatz zur Alliance Israélite Universelle, die sich für direkte Verhandlungen zwischen den südosteuropäischen Juden und Regierenden in Serbien und Rumänien aussprach, vertrat Bleichröder die Position, dass die Durchsetzung der jüdischen Interessen nur über die Großmächte erfolgen könnte. In einem Brief Ende Dezember  an den deutschen Reichskanzler erinnerte er ihn an seine langjährigen, treuen Dienste als dessen Berater und Vertrauensmann und bat Bismarck, sich für die  Ebd.  Siegel, Björn: Österreichisches Judentum zwischen Ost und West. Die Israelitische Allianz zu Wien -. Frankfurt/M. , .  Ebd.  Siehe dazu ausführlicher Stern, Fritz: Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder. Berlin (West) .

115

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

Gleichberechtigung der rumänischen Juden einzusetzen. Letzterer, der sich nicht nur von seinem Verhältnis zu Bleichröder, sondern auch von deutschen ökonomischen Interessen in Südosteuropa leiten ließ, wurde tatsächlich zu einem großen Verfechter der Verankerung der Rechte der jüdischen Bevölkerung Südosteuropas in der Berliner Kongressakte. Für sein Anliegen konnte er die Unterstützung auch der anderen Großmächte gewinnen, die aus jeweils unterschiedlichen Gründen der Auferlegung von Minderheitenschutzbestimmungen zustimmten. Trotz heftiger Proteste von Seiten der betroffenen Staaten beinhaltete der Berliner Vertrag letztendlich mehrere Artikel zum Schutz religiöser und sprachlicher Minderheiten in Südosteuropa. Wie bereits erwähnt, stand mit Blick auf das Problem der Diskriminierung der südosteuropäischen Juden vor allem Rumänien im Mittelpunkt des Interesses. Mit Art.  und  wurde seine völkerrechtliche Anerkennung als unabhängiger Staat ausdrücklich an die Voraussetzung der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Gleichberechtigung seiner Minderheiten, vor allem der jüdischen, sowie der Rückgabe Bessarabiens an Russland geknüpft: Article XLIV. In Romania the difference of religious creeds and confessions shall not be alleged against any person as a ground for exclusion or incapacity in matters relating to the enjoyment of civil and political rights, admission to public employments, functions, and honours, or the exercise of the various professions and industries in any locality whatsoever. The freedom and outward exercise of all forms of worship shall be assured to all persons belonging to Romania, as well as to foreigners, and no hindrance shall be offered either to the hierarchical organization of the different communions, or to their relations with their spiritual chiefs. The subjects and citizens of all the Powers, traders or others, shall be treated in Romania without distinction of creed, on a footing of perfect equality. Article XLV. The Principality of Romania restores to His Majesty the Emperor of Russia that portion of the Bessarabian territory detached from Russia by the Treaty of Paris of , bounded on the west by the mid-channel of the Pruth, and on the south by the mid-channel of the Kilia Branch and the Stary-Stamboul mouth. Auch Montenegro und Serbien mussten sich widerwillig zur Gleichberechtigung aller auf deren Territorium lebenden Personen verpflichten, um als vollständig souveräne Staaten anerkannt zu werden:     

116

Fink, Defending (wie Anm. ), . Ebd., . Ebd., . Treaty of Berlin,  (wie Anm. ), . Auf der Sitzung des Berliner Kongresses am . Juni  hatte der russische Außenminister Gorčakov noch erfolgslos versucht, Serbien vor der Auferlegung von Minderheitenschutzverpflichtungen zu bewahren. Dabei warnte er die Vertreter der

D i e » G ro ß e O ri e n t k ri s e «, 18 75 -18 78

Article XXVII. The High Contracting Parties are agreed on the following conditions: In Montenegro the difference of religious creeds and confessions shall not be alleged against any person as a ground for exclusion or incapacity in matters relating to the enjoyment of civil and political rights, admission to public employments, functions, and honours, or the exercise of the various professions and industries in any locality whatsoever. The freedom and outward exercise of all forms of worship shall be assured to all persons belonging to Montenegro, as well as to foreigners, and no hindrance shall be offered either to the hierarchical organization of the different communions, or to their relations with their spiritual chiefs. Article XXXV. In Serbia the difference of religious creeds and confessions shall not be alleged against any person as a ground for exclusion or incapacity in matters relating to the enjoyment of civil and political rights, admission to public employments, functions, and honours, or the exercise of the various professions and industries, in any locality whatsoever. The freedom and outward exercise of all forms of worship shall be assured to all persons belonging to Serbia, as well as to foreigners, and no hindrance shall be offered either to the hierarchical organization of the different communions, or to their relations with their spiritual chiefs. Das Osmanische Reich musste sich ebenso zur Aufnahme von Minderheitenschutzbestimmungen verpflichten, auch wenn es – im Gegensatz zu Rumänien, Montenegro und Serbien – keinen neugegründeten Staat darstellte. Diese in Art.  und  enthaltenen Bestimmungen betrafen im Allgemeinen die nichtmuslimischen Untertanen des Sultans, denen die politische, soziale, ökonomische und rechtliche Gleichstellung mit der muslimischen Mehrheit in Aussicht gestellt wurde, und im Besonderen die den Angriffen von Tscherkessen und Kurden ausgesetzte armenische Bevölkerung in Ostanatolien sowie die Mönche des Bergs Athos: Article LXI. The Sublime Porte undertakes to carry out, without further delay, the improvements and reforms demanded by local requirements in the provinces inhabited by the Armenians, and to guarantee their security against the Circassians and Kurds. It will periodically make known the steps taken to this effect to the Powers, who will superintend their application. Article LXII. The Sublime Porte having expressed the intention to maintain the principle of religious liberty, and give it the widest scope, the Contracting Parties take note of this spontaneous declaration. In no part of the Ottoman Empire shall difference of religion be alleged against any person as a ground for exclusion or ren Großmächte, dass die Juden Südosteuropas nicht mit den »Israeliten« von Berlin, Paris, London oder Wien gleichzusetzen seien. Fink, Defending (wie Anm. ), .  Treaty of Berlin,  (wie Anm. ), .  Ebd., .

117

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

incapacity as regards the discharge of civil and political rights, admission to the public employments, functions and honours, or the exercise of the various professions and industries. All persons shall be admitted, without distinction of religion, to give evidence before the tribunals. The freedom and outward exercise of all forms of worship are assured to all, and no hindrance shall be offered either to the hierarchical organization of the various communions or to their relations with their spiritual chiefs. Ecclesiastics, pilgrims, and monks of all nationalities travelling in Turkey in Europe, or in Turkey in Asia, shall enjoy the same rights, advantages, and privileges. The right of official protection by the Diplomatic and Consular Agents of the Powers in Turkey is recognized both as regards the above-mentioned persons and their religious, charitable, and other establishments in the Holy Places and elsewhere. The rights possessed by France are expressly reserved, and it is well understood that no alterations can be made in the status quo in the Holy Places. The monks of Mount Athos, of whatever country they may be natives, shall be maintained in their former possessions and advantages, and shall enjoy, without any exception, complete equality of rights and prerogatives. Die Ergebnisse des Berliner Kongresses wurden, wie auch die der anderen großen Kongresse des . Jahrhunderts, mit größter Aufmerksamkeit von den zeitgenössischen Völkerrechtsgelehrten zur Kenntnis genommen und in ihre theoretischen Überlegungen als Beispiele oder sogar Präzedenzfälle einbezogen. Insbesondere das Thema der Einführung und Etablierung eines unter völkerrechtlichen Garantien stehenden Minderheitenschutzsystems stand im Mittelpunkt des Interesses renommierter Völkerrechtler der Jahrhundertwende, obgleich das Völkerrecht zu dieser Zeit Minderheitenrechte als Kategorie noch nicht kannte. Es ist bezeichnend, dass Oppenheim in der  erschienenen dritten Auflage seines autoritativen Völkerrechtslehrbuchs weiterhin nicht den Begriff »Minderheitenschutz« verwendete, sondern von »besonderen Rechten von Individuen in fremden Ländern auf der Grundlage besonderer internationaler Verträge zwischen zwei oder mehreren Staaten« schrieb. Verträge dieser Art würden Oppenheim zufolge keine international anerkannten Rechte begründen, sondern die jeweilige Vertragspartei verpflichten, diese »besonderen Rechte« in ihrer inneren Gesetzgebung zu berücksichtigen. Seine Ausführungen basierten auf dem Beispiel der Berliner Kongressakte von : In fact, such [international] treaties do not create these rights, but they impose the duty upon the contracting States of calling these rights into existence by their Municipal Laws. Again, where States stipulate by international treaties certain favours for individuals other than their own subjects, these individuals do not acquire any international rights under these treaties, but the State whose subjects they are has an obligation towards the other States of  Ebd.,  f.

118

D i e » G ro ß e O ri e n t k ri s e «, 18 75 -18 78

granting such favours by its Municipal Law. Thus, for example, when Articles , , , and  of the Treaty of Berlin, , made it a condition of the recognition of Bulgaria, Montenegro, Serbia, and Romania, that these States should not impose any religious disability upon their subjects, the latter did not thereby acquire any international rights. Auch der Berliner Rechtsprofessor Franz von Liszt widmete sich in seinem zwischen  und  in insgesamt elf Auflagen publizierten Lehrbuch einer besonderen Kategorie von Rechten, die in der modernen Völkerrechtslehre teils oder gänzlich den Gebieten des Minderheitenschutzes oder der Menschenrechte zuzuordnen wären. Er bezeichnete diese besonderen Rechte als »Vereinbarungen zum Schutz ideeller Interessen« und unterschied dabei zwischen »religiösen«, »sittlichen und humanitären« und »wissenschaftlichen Interessen«. Ähnlich wie Oppenheim vertrat Liszt die Ansicht, dass durch den Berliner Vertrag von  eine erweiterte Religionsfreiheit als Recht begründet wurde, das erstmals über die Grenzen der christlichen Glaubensgemeinschaft hinausging und Angehörige anderer Religionsbekenntnisse, namentlich Muslime und Juden, einschloss: § . Vereinbarungen zum Schutz ideeller Interessen. I. Der Schutz religiöser Interessen. . Im Verhältnis der christlichen Staaten zu einander ist die Freiheit der Religionsausübung seit dem Westfälischen Frieden auch ohne besondere Vereinbarung als zugestanden anzunehmen. […] . Über die Wahrung der Interessen der eigenen Staatsangehörigen hinausgehend, hat der Berliner Kongress von  die Balkanstaaten verpflichtet, die Gleichheit der Religionsbekenntnisse in Gesetzgebung und Verwaltung ausnahmslos durchzuführen. Verknüpfung der völkerrechtlichen Anerkennung mit Bedingungen

Ein weiterer Aspekt, wofür der Berliner Kongress im Mittelpunkt des Interesses der zeitgenössischen Völkerrechtler stand, betraf die Verknüpfung der Anerkennung eines Staates mit einzugehenden Verpflichtungen. Eine Reihe von renommierten Rechtsgelehrten griff die in der Berliner Kongressakte dokumentierte Anerkennungspraxis auf, um die Thematik der Konditionalität zu behandelt. So etwa Franz von Liszt, der Folgendes dazu schrieb:  Oppenheim, International Law (wie Anm. ), .  Von Liszt, Das Völkerrecht (wie Anm. ),  f.  Bei der »Konditionalität« der Anerkennung »geht es nicht um bedingte Anerkennungen, sondern um politische Vorbedingungen für die Anerkennung«. In diesem Fall wird »[d]ie Anerkennung – möglicherweise prospektiv – noch während eines laufenden Staatenwandels an vom neuen Staat einzuhaltende Verhaltensanforderungen und/oder Zusagen geknüpft, dadurch funktionalisiert, instrumentalisiert und zu Steuerungszwecken eingesetzt«. Saxer, Urs: Die internationale Steuerung der Selbstbestimmung und der Staatsentstehung. Selbstbestimmung, Konfliktmanagement,

119

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

Ein Staat, der neu entstanden ist oder bisher der Völkerrechtsgemeinschaft noch nicht angehört hat, bedarf, um völkerrechtliches Rechtssubjekt zu werden, der Anerkennung (reconnaissance) durch die übrigen Mächte. Nicht sein Dasein als Staat, sondern sein Eintritt in die Völkerrechtsgemeinschaft ist durch die Anerkennung bedingt. Die Anerkennung setzt voraus, dass der um den Eintritt in die Völkerrechtsgemeinschaft sich bewerbende Staat die Gewähr für die Beachtung der völkerrechtlichen Rechtsnormen bietet. Ist diese Voraussetzung gegeben, so ist die Legitimität der Staatsgründung nicht weiter zu prüfen; auch der auf dem Wege der Gewalt, etwa durch bewaffnete Losreißung vom Mutterlande, entstandene Staat hat Anspruch auf die Anerkennung. […] Die Anerkennung kann ausdrücklich, so in feierlicher Weise auf Kongressen, oder auch stillschweigend, so durch Anknüpfung oder Unterhaltung diplomatischer Beziehungen, geschehen. Beispiele bieten: die Anerkennung des Kongostaates durch den Berliner Kongress von ; die Anerkennung von Montenegro, Serbien, Rumänien durch den Berliner Kongress von . Die Türkei ist  feierlich in das »Europäische Konzert« aufgenommen worden; Japan  ohne Sang und Klang in die Völkerrechtsgemeinschaft eingetreten. Sie kann unbedingt erfolgen oder an »Bedingungen« geknüpft sein. Dabei kann freilich im Einzelfall die Entscheidung der Frage schwierig sein, ob es sich wirklich um (aufschiebende oder auflösende) Bedingungen oder aber um Auflagen handelt. Die den Balkanstaaten durch den Berliner Kongress von  auferlegten Verpflichtungen sind nicht als auflösende Bedingungen zu betrachten, deren Nichterfüllung die Vertragsmächte zum Widerruf der Anerkennung berechtigen würde; sondern als Auflagen, deren Erfüllung durch gewaltsame Intervention durchgesetzt werden könnte. […] Der Beweis für die fortdauernde Souveränität liegt darin, dass der verpflichtete Staat der übernommenen Verpflichtung zuwiderhandeln kann und sich durch dieses Zuwiderhandeln völkerrechtlich verantwortlich macht; dass also die gegen die Verpflichtung vorgenommenen Handlungen Rechtswirkung erzeugen. Das muss auch dann angenommen werden, wenn die Auferlegung der Verpflichtung durch den einseitigen Beschluss dritter Mächte erfolgt ist. So ist durch die Art. ,  und  des Berliner Vertrages von  die Freiheit der Religionsbekenntnisse in Serbien, Rumänien wie in der Türkei ausgesprochen worden, obwohl der Vertrag von den neu anerkannten Staaten Serbien und Rumänien nicht mitunterzeichnet, also nicht mit geschlossen wurde. Auch Lassa Oppenheim bezog sich in seiner Völkerrechtsabhandlung im Kapitel zum Thema der »Anerkennung von Staaten als Völkerrechtssubjekte« auf die Anerkennungspraxis der Großmächte auf dem Berliner Kongress, die an die Formulierung von Bedingungen geknüpft war. Wie diese gezeigt habe, seien die Anerkennung und Staatennachfolge in der neueren Völkerrechtspraxis. Heidelberg [u. a.] , .  Von Liszt, Das Völkerrecht (wie Anm. ),  f., .

120

D i e » G ro ß e O ri e n t k ri s e «, 18 75 -18 78

Auferlegung von Verpflichtungen und deren Einhaltung als Voraussetzung für die Anerkennung von Staaten ein Vorgehen, das zwar einer rechtlichen Grundlage entbehre, dennoch von Seiten der internationalen Staatengemeinschaft als zulässig betrachtet werde: § . Recognition will, as a rule, be given without any conditions whatever, provided the new State is safely and permanently established. Since, however, the granting of recognition is a matter of policy, and not of law, nothing prevents an old State from making the recognition of a new state dependent upon the latter fulfilling certain conditions. Thus the Powers assembled at the Berlin Congress in  recognised Bulgaria, Montenegro, Serbia, and Romania under the condition that these States should not impose any religious disabilities on any of their subjects. The meaning of such conditional recognition is not that recognition can be withdrawn in case the condition is not complied with. The nature of the thing makes recognition, if once given, incapable of withdrawal. But conditional recognition, if accepted by the new State, imposes the internationally legal duty upon such State of complying with the condition; failing which a right of intervention is given to the other party for the purpose of making the recognised State comply with the imposed condition. Ein weiteres Beispiel dafür, dass die Berliner Kongressakte vor allem aufgrund der darin verfolgten Anerkennungspraxis die Aufmerksamkeit der zeitgenössischen Völkerrechtler auf sich zog, ist das  publizierte »Handbuch des Völkerrechts« des Berliner Rechtsgelehrten Franz von Holtzendorff. Im zweiten Kapitel über »Entstehung und Untergang der Staaten«, insbesondere in dessen Unterkapitel »Formen und Modalitäten der Anerkennung der Neustaaten«, zog er aus dem Berliner Präzedenzfall folgende Schlussfolgerung: Die Gewährung der Anerkennung kann von mancherlei Modalitäten abhängig gemacht werden. Zunächst von vorgängigen Gegenleistungen eines anzuerkennenden Staates, dem beispielsweise die Herstellung zuverlässiger Grenzzeichen auferlegt sein kann, oder von der Beifügung von Bedingungen, deren Erfüllung abgewartet werden soll. Da es unvernünftig sein würde, den Bestand souveräner Gemeinwesen von einem Zufall oder von dem willkürlichen Verhalten dritter Staaten abhängig zu machen, können solche Bedingungen nur den Charakter sogenannter Potestativbedingungen an sich tragen. Sie erscheinen somit vielmehr als Stipulationen einer Gegenleistung und dürfen das Grundwesen eines souveränen Staates begriffsmäßig nicht verletzen. Theoretisch genommen wäre es richtiger, die Zulässigkeit einer Bedingung neben der Anerkennung zu bestreiten. Verlangt man beispielsweise, wie durch den Berliner Traktat vom Jahre  geschah, gewisse gesetzgeberische Leistungen  Oppenheim, International Law (wie Anm. ),  f.

121

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

von neuformierten Gemeinwesen vor der Genehmigung der Anerkennung, so bleibt nur die Alternative: Entweder hat man in der Stipulation eines zukünftigen Gesetzgebungsaktes eine bereits gegebene Rechtsvollkommenheit zur Emanation von Gesetzen zugestanden, oder man versagt indirekt die Anerkennung voller Souveränität wenigstens dann, wenn man der Bestätigung freier Gesetzgebungsgewalt in inneren Angelegenheiten für alle Zukunft eine bleibende Beschränkung auferlegt. Der englische Völkerrechtler Thomas Joseph Lawrence berief sich ebenso in seinem erstmals  veröffentlichten und mehrmals neu aufgelegten »Handbook of International Law« auf die Berliner Kongressakte, um neben der »absoluten« auch das Vorhandensein einer »konditionalen« Anerkennung von Staaten zu belegen: Recognition is expressed or implied. The former is given by special treaty stipulations, the latter when conventions are negotiated, diplomatic representatives accredited, or other acts done such as independent States alone can be parties too. As a rule, Recognition is absolute, but there a few cases where it has been conditional. For instance, by the Treaty of Berlin of  the Great Powers recognised the independence of Montenegro, Serbia, and Romania, on condition that complete religious liberty was granted within their territories. Desgleichen tat auch Martens, als er im ersten Band seiner  in deutscher Übersetzung erschienenen völkerrechtlichen Abhandlung zwischen einer »unbedingten« und »bedingten« Anerkennung unterschied und letztere an den »Feststellungen des Berliner Vertrags vom Jahre , soweit sie die Unabhängigkeit Rumäniens, Serbiens und Montenegros betreffen«, exemplifizierte. Erwähnenswert in dieser Hinsicht ist schließlich die Meinung des in Prag habilitierten und anschließend auf eine Professur der Rechte an der Universität München berufenen Juristen Emanuel von Ullmann, der »das Vorgehen des Berliner Kongresses  gegenüber Serbien, Rumänien und Montenegro« aufgrund der Tatsache, dass »deren Anerkennung als selbständige Staaten von der landesrechtlichen Normierung bestimmter Toleranzvorschriften abhängig gemacht wurde«,  Holtzendorff, Franz von: Handbuch des Völkerrechts. Auf Grundlage europäischer Staatspraxis, Bd. : Die völkerrechtliche Verfassung und Grundordnung der auswärtigen Staatsbeziehungen. Hamburg ,  f.  Zu seinem beruflichen Werdegang als Dozent an mehreren universitären Einrichtungen Großbritanniens siehe Scott, James Brown: In Memoriam. Thomas Joseph Lawrence, -. In: The American Journal of International Law  () , -.  Lawrence, Thomas Joseph: A Handbook of Public International Law. . Aufl. London , .  Martens, Friedrich von [Martens, Fëdor Fëdorovič]: Völkerrecht. Das internationale Recht der civilisirten Nationen. Bd. . Berlin , .

122

D i e » G ro ß e O ri e n t k ri s e «, 18 75 -18 78

als »eigenartig« bezeichnete. Dass der Berliner Kongress eine gewisse »Eigenartigkeit« bzw. historische Einzigartigkeit in Bezug auf die Anerkennung der neuen Staaten auf dem Balkan aufwies, war schließlich auch den zeitgenössischen politischen Akteuren bewusst. Dies geht beispielsweise aus der Antwort von Lord Salisbury an die Anglo-Jewish Association im Juli  hervor, in der es unter anderem hieß: Jene Übelstände zogen die Aufmerksamkeit der Mächte in Berlin auf sich und dieselben wählten den etwas ungewöhnlichen, wenn nicht unerhörten Ausweg, ihre Anerkennung einer großen politischen Veränderung von gewissen Abänderungen der inneren Landesgesetze abhängig zu machen. Ein neues Interventionsrecht

Aus Sicht der zeitgenössischen Völkerrechtslehre stellte die Berliner Kongressakte nicht nur aufgrund ihrer Minderheitenschutzregelungen und der damit verknüpften Auflagen für die Anerkennung von neuen Staaten in Südosteuropa einen Markstein in der Geschichte des Völkerrechts dar. Renommierte Rechtsgelehrte des späten . und frühen . Jahrhunderts räumten in ihren Abhandlungen dem Berliner Friedensvertrag auch deshalb viel Platz ein, weil sie in dessen Vorgeschichte sowie in seinen Bestimmungen zum Schutz der Armenier im Osmanischen Reich den Ansatz eines neuen völkerrechtlichen Interventionsprinzips sahen. Auf die große Bedeutung der Beschlüsse des Berliner Kongresses für die Anerkennung eines Interventionsrechts im Völkerrecht wies bereits  Hermann Strauch hin, wobei der Heidelberger Rechtsprofessor den Anwendungsbereich der rechtmäßigen Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes auf »kulturell zurückstehende Staaten« beschränkte: Ich habe die Entstehungsgeschichte und wenige Hauptmomente des Berliner Vertrags kurz angedeutet, um hierauf folgende allgemeine Betrachtungen über die Bedeutung dieses Vertrags für die Interventionslehre zu unterstützen. Die vorläufige Regelung, welche die Intervention der Mächte in die inneren Angelegenheiten der Türkei durch den Berliner Vertrag gefunden hat, ist nach verschiedenen Richtungen hin sehr interessant. Es enthält dieser Vertrag nämlich die formelle Anerkennung der Unentbehrlichkeit einer Interventionspolitik bezüglich der inneren türkischen Angelegenheiten und zugleich den ersten Versuch, dieser Interventionspolitik für die Zukunft eine gewisse Direktive zu geben, durch welche Streitigkeiten der Mächte über die Grenzen ihrer Interventionsrechte vermieden werden sollen. Diesen Zweck sucht der Berliner Vertrag zu erreichen, einmal durch Herstellung gewisser Organe,  Ullmann, Emanuel von: Völkerrecht. Neubearbeitung auf der Grundlage der . Auflage () im »Handbuch des öffentlichen Rechts«. Tübingen , .  Zit. n. Geffcken, Das Recht der Intervention (wie Anm. ), .

123

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

Kommissionen, Verständigung über die Durchführung bestimmter gemeinsamer Interventionsrechte, dann durch Lokalisierung des, wenn ich so sagen darf, administrativen Interventionsrechts einzelner Mächte auf bestimmte Gebiete. In der Initiative dieses Versuchs aber liegt die dauernde Bedeutung des Berliner Vertrags, mag auch die Durchführung der betreffenden Gedanken recht viel zu wünschen übrig lassen. Denn es ist hiermit der Weg gewiesen, welchen die Interventionspolitik der Mächte in die inneren Angelegenheiten kulturell zurückstehender Staaten in Zukunft wird wandeln müssen. Und das ist wichtig, vor allem, weil die Unentbehrlichkeit solcher Interventionspolitik sich immer mehr zeigen wird, wie bisher der Türkei so künftig hin wohl zunächst den ostasiatischen Reichen gegenüber, bezüglich deren sie schon begonnen hat. Eine ähnliche Meinung vertrat Franz von Liszt, der vor allem die in Art.  der Berliner Kongressakte enthaltenen Bestimmungen zum Schutz der im osmanischen Reich lebenden armenischen Minderheit als Beispiel für eine legitime »kollektive Intervention« auf vertraglicher Grundlage anführte. Der Berliner Straf- und Völkerrechtler merkte zudem an, dass bereits vor dem Berliner Kongress der Pariser Friedensvertrag von  das völkerrechtliche Interventionsrecht entscheidend gestärkt hatte: [D]as Recht zum Einschreiten kann auch einer Mehrzahl von Staaten gemeinschaftlich zustehen (sogenannte Kollektiv-Intervention). So hat der Berliner Vertrag  das Recht der Großmächte zur Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Türkei bezüglich der armenischen Provinzen ausdrücklich anerkannt. Vergleiche Berliner Vertrag Art. : »Die Hohe Pforte verpflichtet sich, ohne weiteren Zeitverlust die Verbesserungen und Reformen ins Leben zu rufen, welche die örtlichen Bedürfnisse in den von den Armeniern bewohnten Provinzen erfordern, und für die Sicherheit derselben gegen die Tscherkessen und Kurden einzustehen. Sie wird in bestimmten Zeiträumen von den zu diesem Zwecke getroffenen Maßregeln den Mächten, welche die Ausführung derselben überwachen werden, Kenntnis geben.« Auf diesem Artikel beruhte das Einschreiten der Mächte zu Gunsten der Armenier im Jahre . Aber auch allgemein liegt in der durch den Pariser Frieden von  ausgesprochene Kollektivgarantie des osmanischen Gebietes, sowie der Rechtsstellung Bulgariens, Ostrumeliens und Kretas durch die Großmächte, die Begründung eines Interventionsrechtes für diese. Auch Antoine Rougier unterstrich  in seinem viel zitierten Aufsatz »La Théorie de l’intervention d’humanité«, der in Band  der Revue Générale de Droit  Strauch, Hermann: Zur Interventions-Lehre. Eine völkerrechtliche Studie. Heidelberg ,  f. Siehe auch Kroll, Stefan: The Legal Justification of International Intervention. In: Klose, The Emergence (wie Anm. , Einleitung), -, hier  f.  Von Liszt, Das Völkerrecht (wie Anm. ), .

124

D i e » G ro ß e O ri e n t k ri s e «, 18 75 -18 78

International Public (S. -) erschien, die große Bedeutung des Berliner Kongresses für die Entstehung und Etablierung einer völkerrechtlichen Interventionsdoktrin. Er tat dies, indem er ihn als wichtigen Teil der Vorgeschichte der Herausbildung einer Norm der humanitären Intervention betrachtete. Insbesondere sah der französische Völkerrechtler in den Bestimmungen der Berliner Kongressakte die Grundlage für eine neue »Theorie der Intervention aus religiösen Gründen«. Letztere habe sich im Laufe der Zeit und im Zuge der Säkularisierung von Staaten in eine Theorie der humanitären Intervention weiterentwickelt: Le traité de Berlin, il est vrai, a imposé à la Porte le respect de la liberté religieuse ainsi entendue, mais c’était dans le but de prévenir les conflits sanglants et féroces qui marquent dans cet Empire la lutte des Musulmans et des Chrétiens. Si l’État intervenant agit pour soutenir des coreligionnaires, l’humanité n’est plus en jeu et c’est une autre théorie qui trouve son application: la théorie de l’intervention pour cause religieuse. Cette doctrine très importante avant que fût dégagé le principe de laïcité de l’État et qui ne s’applique plus guère aujourd’hui qu’aux protectorats religieux d’Orient ne rentre pas dans le cadre de notre étude. Nichtsdestoweniger hielt Rougier den russischen Krieg gegen das Osmanische Reich, der dem Berliner Kongress vorausgegangen war, für völkerrechtswidrig, da er infolge machtpolitischer und nicht aufgrund humanitärer oder religiöser Interessen stattgefunden habe: La conduite de la Russie envers la Porte en  et celle des États-Unis envers l’Espagne en - paraissent être des exemples d’intervention intéressée. Sans doute la Russie intervenait pour faire cesser les atrocités dont la Bulgarie était le théâtre; mais, dès l’instant qu’elle était obligée de sortir des limites de l’intervention pour recourir à la guerre, les intérêts politiques qu’elle poursuivait apparaissaient trop clairement; ils apparurent surtout à la conclusion du traité de San Stefano. Auch der Straßburger Völkerrechtsprofessor Friedrich Heinrich Geffcken sprach der russischen Kriegserklärung von  jegliche Legitimität ab, da Sankt Peters Rougier, Antoine: La Théorie de l’intervention d’humanité. Extrait de la Revue Générale de Droit International Public. Paris , . Rougier stellte als erster eine Liste von Kriterien und Voraussetzungen bezüglich der Rechtmäßigkeit einer humanitären Intervention auf; Heraclides/Dialla, International and Humanitarian Intervention (wie Anm. ), . Zur Interventionstheorie Rougiers siehe auch Swatek-Evenstein, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), , Anm. ; Christophersen, Claas: Kritik der transnationalen Gewalt. Souveränität, Menschenrechte und Demokratie im Übergang zur Weltgesellschaft. Bielefeld , ; Özsu, Umut: Formalizing Displacement. International Law and Population Transfer. New York , .  Rougier, La Théorie de l’intervention d’humanité (wie Anm. ), .

125

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

burg weder mit einem besonderen Schutzrecht gegenüber den orthodoxen Christen des Osmanischen Reiches ausgestattet gewesen sei noch humanitäre Ziele mit dem Krieg gegen den Sultan verfolgt habe. Auf dem Berliner Kongress habe man den russischen Angriffskrieg, so Geffcken weiter, nicht legitimiert, sondern im Gegenteil für unrechtmäßig erklärt. Dies geschah dadurch, dass der Präliminarfrieden von San Stefano zuungunsten Russlands stark revidiert worden sei: Russland hat, wie gezeigt, keinerlei vertragsmäßiges oder moralisches Recht, in Bulgarien eine vorherrschende Stellung einzunehmen. Interessen, welche, wie der russische Regierungsanzeiger vom . Dezember  behauptet, »ihren Grund in seinen historischen Beziehungen zu den Orientalischen Glaubensgenossen haben«, bestehen rechtlich nicht. Diese angeblichen Interessen sind nur der Vorwand zu Angriffskriegen gegen die Türkei gewesen, welche diesmal mit Eroberungen endeten, während die Lage der christlichen Untertanen der Pforte dieselbe blieb. Ein Interventionsrecht einer Regierung auf Grund von Glaubensgemeinschaft mit Untertanen eines anderen Staates ist schlechthin unvereinbar mit der Autonomie desselben und könnte sicher am wenigsten von Russland beansprucht werden, welches die evangelische Religion in den Ostseeprovinzen, die katholische in Polen auf das rücksichtsloseste unterdrückt und dessen Gesetz noch heute den Übertritt von dem orthodoxen Bekenntnis zu einem anderen mit schwerer Strafe belegt. Ähnlich argumentierte der deutsch-französische Staats- und Völkerrechtler Robert Redslob, der die Integrität des Osmanischen Reiches infolge des Pariser Vertrags von  für unantastbar hielt und demgemäß die militärische Intervention Russlands von  für völkerrechtswidrig erklärte. Unter diesem Aspekt betrachtete er wiederum die darauffolgende Einmischung Österreichs und Großbritanniens in den russisch-osmanischen Krieg zum Schutz der osmanischen Integrität als rechtskonform: L’Autriche et l’Angleterre protestent contre la paix de San Stefano, conclue en  entre la Russie victorieuse et la Porte. L’Autriche mobilise des troupes et les masse du côté du bas Danube et de l’Illyrie. D’autre part, la flotte anglaise passe les Dardanelles et vient mouiller aux iles des Princes, en vue de Constantinople; si bien que les Russes, pour éviter une descente britannique, doivent s’engager à ne pas entrer dans la capitale ottomane. Le sens de cette intervention est d’empêcher la Russie d’étendre sa puissance dans les Balkans et la Méditerranée. Cependant l’intervention austro-britannique est justifiée en droit parce qu’elle se met au service de l’intégrité ottomane, norme stipulée par la Paix de Paris en .  Geffcken, Das Recht der Intervention (wie Anm. ), .  Redslob, Robert: Histoire des grands principes du droit des gens. Depuis l’antiquité jusqu’a la veille de la grande guerre. Paris ,  f.

126

D i e » G ro ß e O ri e n t k ri s e «, 18 75 -18 78

Die entgegengesetzte Perspektive in Bezug auf die Rechtmäßigkeit der russischen Kriegserklärung vom . April  nahm Martens ein. Ohne sie oder den Berliner Kongress namentlich zu nennen, gab der Sankt Petersburger Völkerrechtler im besagten ersten Band seiner  in deutscher Übersetzung erschienenen Abhandlung eindeutig zu erkennen, dass er die Militärintervention Russlands sowie die in der Berliner Kongressakte verankerten Interventionsrechte der Großmächte bei Nichteinhaltung der Minderheitenschutzbestimmungen von Seiten der Hohen Pforte für rechtmäßig hielt. Den Ausgangspunkt seiner Position stellte die Auffassung dar, dass das Osmanische Reich trotz seiner Aufnahme  in das europäische Konzert der Mächte ein unzivilisierter Staat geblieben sei. In seiner Interventionstheorie unterschied Martens grundsätzlich zwischen Interventionen in die inneren Angelegenheiten einer zivilisierten Nation, die »prinzipiell unzulässig und immer unerlaubt« seien, und solchen »in die Angelegenheiten zwischen zivilisierten und unzivilisierten Völkern«, die »volle Anwendung« fänden, wenn »die Einmischung vertragsmäßig begründet« sei oder »die innere Staatsumwälzung positive Rechte anderer Mächte« verletze oder »die Intervention durch die Einmischung eines anderen Staates herausgefordert« werde. Im Fall »der Türkei, Chinas, Japans und anderer asiatischer Staaten« sei »die Einmischung der Kulturstaaten prinzipiell rechtmäßig, sobald die christliche Bevölkerung jener Länder barbarischen Verfolgungen oder Schlächtereien ausgesetzt« sei. In solchen Fällen rechtfertige sich die Intervention »durch die Gemeinsamkeit der religiösen Interessen und die Gebote der Humanität«, also durch »die Prinzipien des natürlichen Rechts, welche im Allgemeinen die Beziehungen der kultivierten Nationen zu ungesitteten normieren« würden. Im zweiten Band seiner völkerrechtlichen Abhandlung kam dann Martens auch konkret auf den Berliner Vertrag zu sprechen, der »in einer Reihe von Punkten das Kollektiv-Protektorat der Mächte zu Gunsten der christlichen Untertanen der Türkei sanktioniert« habe. Hierbei merkte er an, dass »das Gewicht und die Bedeutung dieses Protektorats und der Intervention Europas zu Gunsten der türkischen Christen proportional der Schwäche der Regierung und der Mangelhaftigkeit der inneren Zustände des Türkenreichs sein« würden. Zuvor hatte er noch einmal klargestellt, dass »die bekannte Phrase des Pariser Traktates über die Aufnahme der Türkei in das ›Konzert der Mächte‹ (Art. ) diesen Staat ohne Zweifel noch nicht zu einem wirklichen Mitglied der ›Familie der zivilisierten

 Ausführlich Stellung zur Frage der Zugehörigkeit des Osmanischen Reiches zur Völkerrechtsgemeinschaft der zivilisierten Staaten hatte Martens in seiner  erschienenen deutschsprachigen Ausgabe seiner Dissertation über das »Konsularwesen im Orient« bezogen. Martens, Das Consularwesen (wie Anm. ),  f.  Von Martens, Völkerrecht (wie Anm. ),  f.  Ebd.,  f.  Martens, Friedrich von [Martens, Fëdor Fëdorovič]: Völkerrecht. Das internationale Recht der civilisirten Nationen. Bd. . Berlin ,  f.

127

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

Staaten‹ machte«, da »nach wie vor in der Türkei Bedrückungen und Vergewaltigungen, nicht selten blutige, wider die christlichen Rajah geübt« würden. Eine Zwischenposition hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Interventionsbestimmungen des Berliner Kongresses vertrat der englische Völkerrechtler William Edward Hall, der Interventionen, auch solche aus humanitären Gründen, im Allgemeinen ablehnte. Die einzige Ausnahme, die er auf einer »moralischen«, jedoch nicht rechtlichen Basis gelten ließ, war die Kollektivintervention im allgemeinen Interesse der Staatengemeinschaft zur Beendung einer für den Weltfrieden bedrohlichen Situation. Als Beispiele dafür nannte er die Haltung der Großmächte bei der Staatsgründung Belgiens und die im Berliner Kongress getroffenen Entscheidungen zur Orientalischen Frage: § . A somewhat wider range of intervention than that which is possessed by individual states may perhaps be conceded to the body of states, or to some of them acting for the whole in good faith with sufficient warrant. In the general interests of Europe, for example, an end might be put to a civil war by the compulsory separation of the parties to it, or a particular family or a particular form of government might be established and maintained in a country, if the interests to be guarded were strictly international, and if the maintenance of the state of things set up were a reasonable way of attaining the required object. […] Is then such intervention justified by its probable or actual results? Certainly, there must always be a likelihood that powers with divergent indi Ebd., .  »Tyrannical conduct of a governments towards its subjects, massacres and brutality in a civil war, or religious persecutions, are acts which have nothing to do directly or indirectly with such relations [between states]. On what ground then can international law take cognizance of them? Apparently on one only, if indeed it be competent to take cognizance of them at all. It may be supposed to declare that acts of the kind mentioned are so inconsistent with the character of a moral being as to constitute a public scandal, which the body of states, or one or more states as representative of it, are competent to suppress. [R]eligious oppression, short of a cruelty which would rank as tyranny, has ceased to be recognised as an independent ground of intervention, but it is still used as between Europe and the East as an accessory motive, which seems to be thought by many persons sufficiently praiseworthy to excuse the commission of acts in other respects grossly immoral. Not only in fact is the propriety or impropriety of an intervention directed against an alleged scandal judged by the popular mind upon considerations of sentiment to the exclusion of law, but sentiment has been allowed to influence the more deliberately formed opinions of jurists. That the latter should have taken place cannot be too much regretted. In giving their sanction to interventions of the kind in question jurists have imparted an aspect of legality to a species of intervention, which make a deep inroad into one of the cardinal doctrines of international law; of which the principle is not even intended to be equally applied to the cases covered by it; and which by the readiness with which it lends itself to the uses of selfish ambition becomes as dangerous in practice as it is plausible in appearance.« Hall, William Edward: A Treatise on International Law. . Aufl. Oxford ,  f.

128

D i e » G ro ß e O ri e n t k ri s e «, 18 75 -18 78

vidual interests, acting in common, will prefer the general good to the selfish objects of a particular state. […] In one or two instances, as, for example, in that of the formation of Belgium, and in the recent one of the arrangements made by the Congress of Berlin, and of the minor interventions springing out of it, settlements have been arrived at, or collisions have been postponed, when without common action an era of disturbance might have been indefinitely prolonged, and its effects indefinitely extended. There is fair reason consequently for hoping that intervention by, or under the sanction of, the body of states on grounds forbidden to single states, may be useful and even beneficent. Still, from the point of view of law, it is always to be remembered that states so intervening are going beyond their legal powers. Their excuse of their justification can only be a moral one. Denselben Standpunkt in Bezug auf die zwar moralisch gerechtfertigte, dennoch völkerrechtswidrige Intervention der Großmächte in die inneren Angelegenheiten der neuen Staaten in Südosteuropa, wie sie etwa in der Berliner Kongressakte von  durch die Verknüpfung der völkerrechtlichen Anerkennung mit Minderheitenschutzverpflichtungen erfolgt sei, vertrat auch der Brite Thomas Joseph Lawrence: But, as we have already discovered, interventions on the ground of humanity have under very exceptional circumstances a moral, though not a legal, justification. [W]hen in  the Great Powers intervened to put a stop to the persecution and massacre of Christians in the district of Mount Lebanon, their proceedings were worthy of commendation, though they could not be brought within the strict letter of the law; and the same may probably be said of the indirect intervention whereby in  the signatory powers of the Treaty of Berlin recognized the independence of Montenegro, Romania and Serbia, on condition that no person in those states should be under legal disability on account of his religious belief, or suffer molestation in the public worship prescribed by his creed. Wie bereits in den Ausführungen Halls und Lawrences andeutungsweise zum Ausdruck kommt, gab es neben den Unterstützern der Rechtmäßigkeit der Interventionen der Großmächte in die inneren Angelegenheiten des Osmanischen Reiches und der anderen neusouveränen Staaten Südosteuropas auch eine beachtliche Anzahl von Rechtsgelehrten, welche diese und auch alle anderen Interventionen, die die Souveränität eines Staates verletzten, als illegitim bewerteten. Einer der zeitgenössischen Völkerrechtler, die von den Bestimmungen des Berliner Kongresses unbeeinflusst blieben und keinerlei humanitär bedingte Aus Ebd.,  f.  Lawrence, Thomas Joseph: The Principles of International Law. London [u. a.] ,  f.

129

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

nahmen beim Interventionsverbot akzeptierten, war der Nachfolger Bluntschlis in Heidelberg, der gebürtige Deutschbalte August von Bulmerincq: Kein souveräner, sich selbst regierender Staat hat, soweit er nicht selbst dazu aufgefordert hat oder vertragsmäßig dazu verpflichtet ist, eine Einmischung eines anderen Staates in seine Angelegenheiten zu dulden. Dennoch haben vielfach Interventionen und zwar selbst gewalttätige stattgefunden, auch auf Beschluss mehrerer Staaten auf Kongressen. Ein Staat ist nur dann berechtigt zu einer gewalttätigen Intervention gegen einen anderen Staat, wenn dieser ihm als intervenierenden das Recht dazu erteilt hat oder er vertragsmäßig dazu als garantierende bundes- oder schutzherrliche Macht autorisiert ist. Unbezweifelbar ist jeder Staat berechtigt eine jede andere Intervention als eine unbefugte Einmischung in seine Angelegenheiten zurückzuweisen. Noch expliziter als Bulmerincq verneinte der Lyoner Richter Paul Pradier-Fodéré das Recht auf eine humanitäre Intervention. Ohne Rücksicht auf die Berliner Kongressakte zu nehmen, schrieb er in dem  publizierten ersten Band seiner neunbändigen Völkerrechtsabhandlung: L’intervention n’est donc pas un droit, car il n’y a pas de droit contre le droit; et la souveraineté des États est un principe essentiel du droit des gens. [I]l n’y a pas de droit contre le droit. Le droit c’est l’indépendance; l’intervention, c’est la violation de l’indépendance. Il ne peut y avoir un droit à violer un droit absolu. [L]es actes d’inhumanité, quelque condamnables qu’ils soient, tant qu’ils ne portent aucune atteinte, ni aucune menace aux droit d’autres États, ne donnent à ces derniers aucun droit d’intervention, car nul État ne peut s’ériger en juge de la conduite des autres. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Südosteuropa in den völkerrechtlichen Diskursen und Entwicklungen des »langen« . Jahrhunderts bezüglich des Schutzes von Minderheiten- und Menschenrechten eine prominente Stellung einnahm. Die Debatten um die Rechtmäßigkeit von Interventionen in die inneren Angelegenheiten eines Staates aus humanitären Gründen wurden insbesondere anlässlich der Staatenpraxis in der Orientalischen Frage geführt. Infolge des Berliner Kongresses nahm die Beschäftigung der zeitgenössischen Völkerrechtler  Bulmerincq, August von: Das Völkerrecht oder das internationale Recht. Systematisch dargestellt. . Aufl. (mit einem Nachtrag vermehrte Ausgabe). Freiburg (Breisgau) , . Interessanterweise bewertete von Bulmerincq die in Art.  des Berliner Vertrags beschlossene Okkupation der osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina durch Österreich nicht als eine die staatliche Souveränität des Osmanischen Reiches verletzende Intervention, sondern als »Selbstbeschränkungen«, die sich »noch in allerneuster Zeit die Türkei« auferlegt habe. Ebd., .  Pradier-Fodéré, Paul: Traité de Droit International Public Européen et Américain. Bd. . Paris , , , , zit. n. Segesser, Humanitarian Intervention (wie Anm. ),  f.

130

D i e Re c h t s f i g u r d e r S uze rä ni t ä t

mit dieser Thematik stark zu. Hierbei ging es sowohl um militärische Interventionen, die mit humanitären Motiven gerechtfertigt wurden, als auch um vertragliche Interventionsrechte, wie sie etwa in der Berliner Kongressakte für den Fall einer Fortsetzung der Gewalttaten gegen die armenische Bevölkerung niedergelegt worden waren. Die völkerrechtliche Diskussion über die Rechtmäßigkeit der Interventionen in das Osmanische Reich fand in der Übergangszeit von einem christlich-europäischen Völkerrecht zu einem Völkerrecht der »zivilisierten Staaten« statt, das den »Unzivilisierten« die Völkerrechtssubjektivität und somit auch den Schutz vor Interventionen verwehrte. In diesem Kontext wurde dem Zivilisationsgrad des Osmanischen Reiches für die rechtliche Bewertung der Einmischung der Großmächte in die inneren Angelegenheiten der Hohen Pforte eine wichtige Rolle beigemessen. Insbesondere die russische Völkerrechtslehre, vertreten vor allem durch Martens, berief sich auf die mangelnde Zivilisiertheit der Osmanen, um daraus ein Interventionsrecht abzuleiten. Die Rechtsfigur der Suzeränität

Ein weiteres, unmittelbar mit der Orientalischen Frage in Verbindung stehendes völkerrechtliches Phänomen, das im Schrifttum des »langen« . Jahrhunderts immer wieder thematisiert wird, ist jenes der Suzeränität. Dieser Begriff bezog sich nahezu exklusiv auf das Verhältnis des Sultans zu den christlichen Fürstentürmern im osmanischen Südosteuropa und den islamischen Staaten im Nahen Osten, die trotz ihrer weitgehenden Autonomie und administrativen Selbständigkeit verpflichtet waren, die Oberhoheit der Hohen Pforte anzuerkennen. Wie der serbische Diplomat Miloš Bogićević in seiner  veröffentlichten Studie zur Halbsouveränität unterstreicht, »taucht« der Begriff der Suzeränität im Sinne der Bestimmung eines zwischenstaatlichen Abhängigkeits- und Unterordnungsverhältnisses »erst in den Staatsverträgen des . Jahrhunderts zum ersten Male auf«. Noch im . und . Jahrhundert kam das Wort als völkerrechtlicher Terminus »überhaupt nicht vor«. Der an der Universität Cambridge lehrende Völkerrechtsprofessor und  zum Ehrenpräsidenten des Institut de Droit International ernannte John Westlake schreibt in seiner  in zweiter Auflage erschienenen Völkerrechtsabhandlung, dass die Suzeränität als Begriff des Völkerrechts in West- und Mitteleuropa bis zum Aufkommen der Orientalischen Frage wenig angewandt worden sei. Es sei erst im . Jahrhundert in Verbindung mit den Unabhängigkeitsbestrebungen der christlichen Provin Zu seinem Leben und Werk siehe ausführlicher Petrović, Nenad Ž.: Kontroverzni život, publicističko i političko delovanje pravnika i diplomate Miloša Bogićevića. In: Republika () /, -, http://www.republika.co.rs/-/.html (letzter Zugriff: ..)  Boghitchévitch [Bogićević], Miloš: Halbsouveränität. Administrative und politische Autonomie seit dem Pariser Vertrage (). Berlin [u. a.] , .

131

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

zen des Osmanischen Reiches zu einer stärkeren Verwendung des Begriffs gekommen: The term »suzerainty«, little used in Western or Central Europe since , has since been revived in connection with the gradual emancipation of the provinces of the Turkish Empire chiefly inhabited by Christians. The Ottoman sultans created a privileged position for Moldavia and Wallachia by ordinances, called capitulations, of which the earliest dates from ; and when in  those provinces and Serbia were erected by the Treaty of Paris into autonomous principalities, that is principalities enjoying separate internal government, the name of suzerainty was given to the position reserved to Turkey with regard to them. Westlake zufolge sei das Herrschaftsverhältnis zwischen dem Osmanischen Reich als »Oberstaat« bzw. »Suzerän« und den sich in einem Übergangsstadium zur vollständigen Souveränität befindenden südosteuropäischen Protektoraten durch einen niedrigen Grad der Abhängigkeit gekennzeichnet gewesen. Um den Zustand der in zeitgenössischen völkerrechtlichen Verträgen nicht weiter definierten Suzeränität zu konkretisieren und gegenüber anderen Formen und Auslegungen von beschränkter Souveränität abzugrenzen, zog er den bulgarischen Fall heran. Hier habe das Suzeränitätsverhältnis dem unter dem Schutz der Großmächte stehenden Fürstentum Bulgarien ein sehr hohes Maß an Autonomie gewährt, sodass dieses Staatsgebilde vor allen nach außen als halbsouveräner Staat agiert habe. Hierbei deutet Westlake an, dass andere Konstellationen beschränkter staatlicher Rechts- und Handlungsfähigkeit derartige Autonomierechte nicht gewährleisteten: [W]hen in  these principalities [Moldavia and Wallachia] became independent states by the treaty of Berlin, Bulgaria was made an autonomous principality under the suzerainty of the sultan, which she remained until she became an independent kingdom in . Each of these treaties defined certain points in the relations between the principalities in question on the one hand and the suzerain power and foreign states on the other hand, but neither defined the suzerainty, and the correlative description given to Bulgaria at Berlin was not vassal but tributary. In practice, the tendency was to allow to Bulgaria the powers left open by the treaty of Berlin, and so it may be said that, as in the later days of the Holy Roman Empire, the presumption in doubtful points was against the suzerain. […] During her vassality Bulgaria had direct relations with foreign states and concluded treaties with them, at least on certain subjects, though no doubt the consent of the Sultan would have been required to important treaties concerning her. She had therefore to be described as a semi-sovereign state, but Turkey, the state which retained so  Westlake, John: International Law. Bd. : Peace. . Aufl. Cambridge ,  f.

132

D i e Re c h t s f i g u r d e r S uze rä ni t ä t

much of the sovereignty as did not belong to Bulgaria, could not without absurdity be described as holding a protectorate over her. Bulgaria was rather under the simple, but not formally promised, protection of the great powers. Die Meinung, dass der Begriff der Suzeränität insbesondere das Verhältnis der Hohe Pforte zu den in Südosteuropa durch Erhebungen gegen die Osmanische Herrschaft entstandenen Staatsgebilden bezeichne, teilte in der zweiten überarbeiteten Fassung seiner völkerrechtlichen Abhandlung aus dem Jahr  Emanuel von Ullmann. Ähnlich wie Westlake machte er als distinktives Merkmal dieser Rechtsfigur gegenüber anderen Formen der Teilsouveränität den auf die Politik der Großmächte in der Orientalischen Frage zurückzuführenden hohen Grad an Autonomie zugunsten des halbsouveränen Staates aus. In seinen Ausführungen stellte der Münchner Völkerrechtler fest, dass das Unterordnungsverhältnis der Suzeränität insofern besondere Züge aufweise, als die Hohe Pforte in der Ausübung ihrer Politik gegenüber den südosteuropäischen Unterstaaten keine vollständige Souveränität genieße, sondern sich selbst in einem Abhängigkeitsverhältnis zu den Großmächten befinde: Die hier in Frage kommenden Abhängigkeitsverhältnisse hängen in älterer Zeit mit dem Lehensverband zusammen; dieses Verhältnis vasallitischer Unterordnung unter einen souveränen Staat (den Suzerän) wurde im Okzident und im Orient angewendet. Für das heutige Recht kommen als typische Gestaltungen der vasallitischen Unterordnung vornehmlich die im Bereich der osmanischen Herrschaft im Laufe der Zeit durch Lockerung des staatsrechtlichen Verbandes mit der Pforte entstandenen Gemeinwesen in Betracht. […] Formell beruht die Autonomie dieser Länder auf Privilegien, die ihnen die Pforte erteilt hat; es stehen ihnen also nur die ausdrücklich übertragenen Rechte zu. Im Ganzen ist aber das Verhältnis der Unterordnung so locker, dass selbst der Krieg zwischen beiden Staaten und eine diplomatische Vertretung des Vasallenstaates beim Suzerän nicht ausgeschlossen ist. Die rechtliche Grundlage des Verhältnisses sind in neuer Zeit nicht bloß die Verträge und sonstigen Staatsakte der beteiligten Staaten; die den Vasallenstaaten eingeräumte Autonomie, ihre Rechte und die Aufrechterhaltung ihrer Verfassung wurde und ist unter den Schutz der Großmächte gestellt. So wurde durch Art.  des Pariser Vertrages vom Jahr  die Autonomie und rechtliche Stellung der Moldau und Walachei gegenüber der Pforte unter die Kollektivgarantie der Großmächte gestellt und damit das Verhältnis selbst zu einem Gegenstand des internationalen Rechts gemacht, indem die Pforte in Angelegenheiten der Donaufürstentümer nicht mehr einseitig, sondern nur im Einvernehmen mit den Großmächten vorgehen durfte.  Ebd., .  Von Ullmann, Völkerrecht (wie Anm. ), .

133

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

Von Liszt machte ebenfalls den besonderen Charakter der im . Jahrhundert auf den südosteuropäischen Territorien des Osmanischen Reiches existierenden Halb- oder Teilsouveränität an dem lockeren Verhältnis der Unterordnung sowie an der völkerrechtlichen Garantie der Großmächte, unter der dieses Rechtsverhältnis stand, fest: Die Souveränität wird nicht vollständig, wohl aber teilweise ausgeschlossen durch die Oberherrlichkeit (Suzeränität) eines anderen Staates. […] Es handelt sich hier um eine geschichtliche Übergangsstufe in der Entwicklung, sei es von der völligen Abhängigkeit zur uneingeschränkten Selbstständigkeit, sei es umgekehrt. Die Rechtsstellung des halbsouveränen Staates ist daher von Fall zu Fall zu prüfen und festzustellen. Meist ist die diplomatische Vertretung dem oberherrlichen Staate vollständig übertragen (Tunis kann Vertreter empfangen, aber nicht schicken), das Recht der Kriegführung auf Verteidigungskrieg beschränkt, das Vertragsrecht dagegen in nicht rein politischen Beziehungen eingeräumt. So sind an Handelsverträgen, Litterarkonventionen, am Weltpostverein, an Eisenbahn- und Telegraphen-Übereinkommen auch die halbsouveränen Staaten regelmäßig beteiligt; Bulgarien hat auch an der Haager Friedenskonferenz teilgenommen. In diesem kann der halbsouveräne Staat innerhalb seiner Selbstständigkeit selbst mit dem Oberstaat Verträge schließen (vgl. das türkisch-bulgarische Eisenbahnübereinkommen von ). […] Die Rechtsstellung des halbsouveränen Staates dem oberherrlichen Staate gegenüber kann unter die Garantie dritter Mächte gestellt sein. Auch Lawrence behandelte  in der siebten Auflage seines Völkerrechtshandbuchs die Suzeränität als eine Art Unter- oder Sonderkategorie der Halbsouveränität. In seiner Darstellung bezog er sich auf den Fall der gegenüber dem Sultan tributpflichtigen autonomen Insel Kreta, den er als Beispiel für einen »Klientelstaat« mit erweiterten Autonomierechten analysierte: All the subjects of International Law do not stand on the same footing with regard to it. Its rules govern their mutual relations in a greater or less degree, according to the circumstances set forth in the rest of the chapter. They may be classified as follows: () Sovereign States. […] () Part-sovereign States. A Part-sovereign State, in the sense given to the term in International Law, is a political community in which part of the powers of external sovereignty are exercised by the home government, and part are vested in or controlled by some other political body or bodies. […] They may be divided into two classes: (a) Client States. By this phrase we signify those States who are obliged to share in any degree, large or small, the control of their external relations with some foreign power or powers. Such States require an appropriate name to mark them off from fully sovereign States on the one hand, and on the  Von Liszt, Das Völkerrecht (wie Anm. ), -.

134

D i e Re c h t s f i g u r d e r S uze rä ni t ä t

other from another kind of part-sovereign State which we will describe immediately [= members of a confederation]. The terms Protectorate and Suzerainty are used too loosely to be of any use for purposes of scientific classification; and sometimes for diplomatic reasons neither is applied where there is undoubtedly a great derogation of full sovereignty. Thus, for instance Cuba, which is called an independent State, [although] her government is seriously limited in the exercise of external sovereignty, and the powers which it lacks are vested in the authorities at Washington. She is, therefore, a Client State, like Crete, which is described as autonomous and under the suzerainty of the Porte, but which governs itself in its own way, except that it must not join the Greek kingdom and must display the Turkish flag at one spot in the island. Bluntschli begründete wiederum  die Besonderheit der Halbsouveränität im osmanischen Südosteuropa vor allem in der Situation der Donaufürstentümer, die »zunächst Vasallenstaaten der osmanischen Pforte und zugleich Schutzstaaten der europäischen Großmächte« gewesen seien. Diese besondere Konstellation des Schutzverhältnisses habe eher dazu gedient, »ihr Wachstum zur Unabhängigkeit von der türkischen Herrschaft zu fördern, als ihre freie Entwicklung zu gefährden«. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen des Schweizer Völkerrechtlers zur Zukunft der Rechtsfigur der Halbsouveränität. Insbesondere verwies er auf die seinerzeitigen Ereignisse im Osmanischen Reich, vor allem auf die Entstehung unabhängiger Staaten in Südosteuropa, um seine Position stark zu machen, dass es sich bei der »Vasallensouveränität« um ein Auslaufmodell im modernen Völkerrecht handele. In Anbetracht dieser Erkenntnis plädierte Bluntschli dafür, dass sich das Völkerrecht an diese zeitgenössischen Entwicklungen anpasse und nicht wider den Geist der Zeit versuche, die zunehmende Tendenz der Aufhebung von Vasallenstaaten zu verhindern: Da die Souveränität, in welcher sich die Einheit und Hoheit des Staates gipfelt, eine natürliche Tendenz zur Einheit hat, so ist diese Spaltung derselben in eine Oberherrliche [Souveränität] und in eine Vasallensouveränität nicht dauerhaft. Entweder erheben sich im Laufe der Zeit die Vasallenstaaten zu vollsouveränen Staaten, indem die Oberherrlichkeit immer mehr zur bloßen Form und ohnmächtig wird, oder der oberherrliche Staat zieht hinwieder die verliehenen Hoheitsrechte an sich und einverleibt sich den Vasallenstaat. Die geschichtliche Entwicklung beweist die Wahrheit dieses Satzes. Im Mittelalter gab es eine große Masse von Vasallenstaaten, sowohl in Europa als in Asien. Gegenwärtig sind fast alle verschwunden, weil sie in Einheitsstaaten umgewandelt worden sind. Gegenwärtig vollzieht sich dieser Umbildungsprozess auch im Osmanischen Reich. Das Völkerrecht muss diese natürliche Ent Lawrence, A Handbook (wie Anm. ),  f.  Bluntschli, Das moderne Völkerrecht (wie Anm. ), .

135

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

wicklung beachten und es soll sie schützen, es darf sie nicht hemmen wollen, dass es unhaltbare Formen der älteren Rechtsbildung zu verewigen sucht. Martens schließlich stimmte mit Bluntschli insofern überein, als auch er die Halbsouveränität für keinen dauerhaften, sondern nur einen temporären Zustand im Prozess der Herausbildung eines Staates hielt. Der russische Völkerrechtler unterschied zwischen zwei Fortentwicklungen, welche die halbsouveräne Rechtsstellung eines Unterstaats nehmen kann: Die erste Fortentwicklung eröffne dem teilsouveränen Staat die Möglichkeit, »vollkommen unabhängig und damit ein völkerrechtliches Subjekt für sich zu werden«. Diese Form, so Martens weiter, herrsche, »wie Geschichte und Gegenwart lehren, im Orient bei den Staaten vor, welche die europäische Diplomatie aus ehemaligen Provinzen des osmanischen Reiches geschaffen hat«. Die zweite, der ersten entgegengesetzte Form der Fortentwicklung des halbsouveränen Zustands sei im »Westen« anzutreffen, wo »gewöhnlich die Protektion europäischer Mächte zum endgültigen Verlust aller Unabhängigkeit für den protegierten Staat« führe, »wie dies z. B. mit der Republik Krakau der Fall« gewesen sei. Zwischenbilanz

In Kapitel  wurden einleitend die allgemeinen Rahmenbedingungen, die für das Verständnis des prägenden Einflusses der Orientalischen Frage auf das moderne Völkerrecht unerlässlich sind, behandelt. Hierbei wurde gezeigt, dass im »langen« . Jahrhundert im Hinblick auf die Etablierung des Völkerrechts als Rechtsgebiet mit eigenständiger Geltungsautorität sowie dessen normative Weiterentwicklung und akademisch-disziplinäre Ausformung wichtige Entwicklungen stattgefunden haben. Insbesondere hat im sogenannten Englischen Zeitalter die bis dato in der internationalen Rechtsordnung und Völkerrechtslehre    

Ebd.,  f. Martens, Völkerrecht. Bd.  (wie Anm. ),  f. Ebd.,  f. Ebd., . Krakau wurde  auf dem Wiener Kongress zur »freien, unabhängigen und streng neutralen Stadt« unter dem gemeinsamen Protektorat von Russland, Österreich und Preußen erklärt.  kam es nach einem erfolgslosen Aufstand in Galizien, in dessen Mittelpunkt sich der Stadtstaat Krakau befand, zur Eingliederung der Republik Krakau (bezeichnet auch als Freie Stadt Krakau) in das Habsburgerreich. Siehe ausführlicher dazu Kieniewicz, Stefan: The Free State of Cracow -. In: The Slavonic and East European Review  () , -.  Nach der von Wolfgang Preiser und Wilhelm Grewe begründeten Periodisierung der Völkerrechtsgeschichte beginnt das »Englische Zeitalter« mit dem Wiener Kongress () und endet mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs (). Diese Völkerrechtsepoche bezieht ihre Bezeichnung aus der führenden Rolle Großbritanniens auf der Welt als größtes Kolonialreich und stärkste Seemacht und der »politisch-geistigen

136

Zw i s c h e n b ila nz

vorherrschende Meinung der übergeordneten Stellung der Normen naturrechtlichen Ursprungs gegenüber dem vom menschlichen Gesetzgeber gesetzten Recht (Rechtspositivismus) ihre Vormachtstellung verloren. Zusehends wurden in der Völkerrechtstheorie die »naturrechtlichen Rechtfertigungsmuster aus der Rechtsquellenlehre« ausgeschlossen und die völkerrechtlichen Grundsätze ausschließlich auf Verträge und das sogenannte Gewohnheitsrecht zurückgeführt. Zudem ließ zur selben Zeit die Kritik hinsichtlich eines fehlenden Durchsetzungsvermögens und demzufolge eingeschränkten bzw. inexistenten Rechtscharakters des Völkerrechts nach. In diesem Zusammenhang setzte ab der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts ein Prozess der fortschreitenden Institutionalisierung der Völkerrechtswissenschaft ein, der sich in Gestalt erster universitärer völkerrechtlicher Lehrstühle, der Formierung internationaler Völkerrechtsgesellschaften und der Gründung der ersten Fachzeitschriften vollzog. Darüber hinaus begannen das Völkerrecht und seine Wissenschaft im Laufe des . Jahrhunderts Wirkung außerhalb Europas zu entfalten. Diese Entwicklungen gingen mit einem starken Verrechtlichungsschub in den internationalen Beziehungen einher, wobei das Völkerrecht weiterhin überwiegend von der Staatenpraxis und weniger von kodifizierten Normen bestimmt wurde. Der historische Zusammenhang, in dem Völkerrecht und Völkerrechtswissenschaft im »langen« . Jahrhundert die genannten grundlegenden Veränderungen erfuhren, war einer der zunehmenden Internationalisierung und Transnationalisierung in zahlreichen Bereichen von Politik, Wirtschaft und Kultur, der Verdichtung globaler Verflechtungsprozesse infolge technologischer Fortschritte und der Genese weltgesellschaftlicher Strukturen sowie des Aufkommens eines



   

rungsmacht« der Briten auf dem Gebiet des Völkerrechts. Siehe ausführlicher dazu Ziegler, Völkerrechtsgeschichte (wie Anm. , Einleitung),  f. In der Naturrechtslehre, die heutzutage allgemein als überholt gilt, wurde davon ausgegangen, dass es rechtliche Grundsätze gibt, die ihren Ursprung in der Natur der Sache oder der Natur des Menschen haben. Hierbei wurde die rechtliche Geltungskraft naturrechtlicher Normen von einer moralischen Geltung abgeleitet. Wichtige Vertreter des modernen Naturrechts waren im . und . Jahrhundert Francisco Suárez, Hugo Grotius und Samuel von Pufendorf. Kiste, Stephan: Naturrecht und Positives Recht. In: Handbuch Rechtsphilosophie. Hg. v. Eric Hilgendorf und Jan C. Joerden. Stuttgart , -. Lovrić-Pernak, Kristina: Morale internationale und humanité im Völkerrecht des späten . Jahrhunderts. Bedeutung und Funktion in Staatenpraxis und Wissenschaft. Frankfurt/M. , . Ebd.; Campagna, Norbert: Völkerrecht. In: Hilgendorf/Joerden, Handbuch (wie Anm. ), -, hier . Kroll, Stefan: Normgenese durch Re-Interpretation. China und das europäische Völkerrecht im . und . Jahrhundert. Frankfurt/M. ,  f. Lovrić-Pernak, Morale internationale (wie Anm. ), .

137

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

idealistischen Humanitarismus und frühen Menschenrechtsinterventionismus unter kosmopolitischem Vorzeichen. Im Anschluss an die Darstellung von Prozessen der Verwissenschaftlichung der Völkerrechtslehre, der Humanisierung verschiedener Bereiche des menschlichen Handels und der globalen Verflechtung, die im »langen« . Jahrhundert zur Entstehung eines fruchtbaren Bodens für die prägende Einflussnahme des südosteuropäischen Konfliktgeschehens auf das Völkerrecht beitrugen, wurden im ersten Kapitel die Faktoren und Bedingungen aufgezeigt, welche die Orientalische Frage – der Begriff steht für die aus dem Zerfallsprozess des Osmanischen Reiches hervorgegangenen Probleme – ab  zum »Dauerbrenner« der europäischen Diplomatie machten. Zusammenfassend waren es die folgenden: Erstens stellte der südosteuropäische Raum den Überschneidungspunkt der Expansions- und Herrschaftslinien dreier Vielvölkerimperien (Österreich-Ungarn, Russland, Osmanisches Reich) sowie der Handelsinteressen der Weltmacht Großbritannien im östlichen Mittelmeerraum und im Nahen Osten dar. Zweitens schlug sich die unter den europäischen Entscheidungsträgern weitverbreitete Perzeption der Osmanen als »barbarisch« in der Politik der Großmächte dahingehend nieder, dass das Osmanische Reich – selbst nach dem Pariser Frieden von  – als »außereuropäischer Raum« wahrgenommen wurde, auf dessen Terrain die Grundsätze des Völkerrechts der »zivilisierten Staaten« Europas keine Anwendung fanden und Interventionen und Expansionskriege erlaubt waren. Drittens wurde die Orientalische Frage auf dem Wiener Kongress von  ausgeklammert mit der Folge, dass sich die europäischen Großmächte auf keine gemeinsame Position in der Frage des Umgangs mit möglichen Veränderungen des politischen und territorialen Status quo im osmanischen Südosteuropa verständigt hatten. Viertens stellte im »langen« . Jahrhundert der Balkan-Donau-Raum die Region Europas dar, in der die meisten Staatenbildungen erfolgten (Albanien, Bulgarien, Griechenland, Montenegro, Rumänien, Serbien). Bemerkenswerterweise waren alle diese Staatenbildungen das Produkt von Sezessionen, die aber (aufgrund des fehlenden militärischen Durchsetzungsvermögens der Aufständischen und der darauffolgenden Einschaltung der europäischen Großmächte) nicht direkt, sondern in Etappen, das heißt über eine oder mehrere Zwischenphasen der eingeschränkten Souveränität, zur Erlangung von Nationalstaatlichkeit und völkerrechtlicher Anerkennung führten.

 Osterhammel, Jürgen: Schutz, Macht und Verantwortung. Protektion im Zeitalter der Imperien und danach. In: Die Flughöhe der Adler. Historische Essays zur globalen Gegenwart. Hg. v. Jürgen Osterhammel. München , -.  Schulz, Oliver: »This clumsy fabric of barbarous power«. Die europäische Außenpolitik und der Europäische Raum am Beispiel des Osmanischen Reiches. In: Das europäische Mächtekonzert. Friedens- und Sicherheitspolitik vom Wiener Kongreß zum Krimkrieg. Hg. v. Wolfram Pyta. Wien [u. a.] , -.  Clewing, Staatensystem (wie Anm. , Einleitung), -.

138

Zw i s c h e n b ila nz

Diese Faktorenkonstellation spiegelt sich – wie im Hauptteil von Kapitel  besprochen – in einer Reihe von durch die Orientalische Frage angestoßenen völkerrechtlichen Neuerungen wider, die mehrheitlich das Ergebnis des Ad-hocUmgangs der europäischen Großmächte mit dem südosteuropäischen Konfliktknoten waren. Synoptisch hier noch einmal dargestellt betrafen diese, in den völkerrechtlichen Standardwerken des . und frühen . Jahrhunderts dokumentierten Neuerungen folgende Bereiche: erstens den Bereich der staatlichen Souveränität, durch die Herausbildung eines neuen Interventionsrechts, das nicht ausschließlich zur Wahrung der monarchisch-dynastischen Legitimität, sondern auch im Sinne des Schutzes bedrohter – vornehmlich »christlich-zivilisierter« – Menschen und der Aufrechterhaltung des allgemeinen Friedens zur Anwendung gebracht wurde. Hierbei haben die oben genannten Entwicklungen auf globaler Ebene hinsichtlich der Entstehung einer modernen pazifistischen Bewegung, des Aufkommens humanitärer Werte in Gesellschaft, (Völkerrechts-) Wissenschaft und Kultur und der Öffnung neuer Kommunikationsräume durch täglich erscheinende Zeitungen eine nicht unerhebliche Rolle gespielt. Zweitens wurde durch die Politik der europäischen Großmächte in der Orientalischen Frage das Gebiet der völkerrechtlichen Anerkennung von Staaten insofern geprägt, als erstmals die Anerkennung eines neuen Staates an Bedingungen geknüpft wurde. Allerdings bezog sich diese Konditionalität nicht auf vorhandene oder fehlende Staatsmerkmale (Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt), sondern betraf die Gewährleistung und den Schutz von Minderheitenrechten. Bemerkenswerterweise wurde dieser anlässlich der Orientalischen Frage in die Staatenpraxis eingeführten Tendenz nicht nur nach dem Ersten Weltkrieg bei der Anerkennung der neuen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas (bzw. ihrer territorialen Vergrößerung) gefolgt, sondern auch zu Beginn der er Jahre, als die Europäische Gemeinschaft »Richtlinien« für die Anerkennung der aus der Auflösung der Sowjetunion und Jugoslawiens hervorgegangenen Staaten verabschiedete; diese setzten u. a. die Achtung der Bestimmungen der UN-Charta und der Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen sowie Garantien für die Rechte von Minderheiten von Seiten der neuen Staaten voraus. In einem direkten Zusammenhang zur besagten Konditionalität stehen die durch die Orientalische Frage initiierten Entwicklungen in einem weiteren völkerrechtlichen Bereich, nämlich dem des Minderheiten- bzw. Menschenrechtsschutzes. Dieser hatte sich im . Jahrhundert weder als Teilgebiet des modernen Völkerrechts etabliert – eine Völkerrechtssubjektivität wurde ausschließlich Staaten zuerkannt –, noch war er unter dieser Bezeichnung in der zeitgenössischen Völkerrechtsliteratur anzutreffen; stattdessen verwendete z. B. Lassa Oppenheim den Begriff »besondere Rechte«, während Franz von Liszt für denselben Sachverhalt die Kategorie der »ideellen Interessen« entwarf. Nichtsdestoweniger waren die minderheitenbezogenen Schutzbestimmungen, zu denen sich zuerst das Osma Herdegen, Völkerrecht (wie Anm. , Einleitung),  f.

139

D i e O ri e n t ali s c h e Fra g e

nische Reich (Pariser Frieden, ) und später auch die neugegründeten bzw. territorial vergrößerten souveränen Nationalstaaten Südosteuropas (Berliner Kongress, ) verpflichteten, in vielerlei Hinsicht innovativ und für spätere Entwicklungen im Bereich des völkerrechtlichen Minderheitenschutzes von großer Bedeutung. Bahnbrechend war vor allem, dass das Diskriminierungsverbot nicht nur christliche Minderheiten, sondern auch Muslime und Juden betraf. In der Forschung wird häufig die Tatsache verkannt, dass in diesen nach dem Krimkrieg (-) und der Großen Orientkrise (-) vertraglich verankerten Verpflichtungen und nicht etwa in den darauffolgenden und darauf aufbauenden Vereinbarungen zum Schutz von Minderheiten im Rahmen des Völkerbunds die eigentliche Wurzel des modernen Menschenrechtsschutzes liegt. Viertens bewirkte die Orientalische Frage die erstmalige Öffnung des bis Mitte des . Jahrhunderts ausschließlich zwischen den christlichen Nationen Europas praktizierten Ius Publicum Europaeum (Droit public de l’Europe/europäisches öffentliches Recht) für nichtchristliche Staaten. Insbesondere geschah dies durch die im Pariser Friedensvertrag von  (Art. ) beschlossene »Zulassung der Hohen Pforte zur Teilnahme an den Vorteilen des öffentlichen Rechts und des europäischen Konzerts« (»la Sublime Porte admise à participer aux avantages du droit public et du concert Européen«), die von der Mehrheit der zeitgenössischen Völkerrechtler als eine ausdrückliche Aufnahme der Türkei in die Völkerrechtsgemeinschaft interpretiert wurde. In Verbindung mit der in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts eingetretenen Transformation des europäischen Völkerrechts zu einem Völkerrecht der »zivilisierten Staaten« war diese Zulassung einer der Wendepunkte für die spätere Anerkennung weiterer nichtchristlicher Staaten, wie etwa von China, Japan, Siam (Thailand) und Persien (Iran), als Mitglieder einer sich neu formierenden internationalen Gemeinschaft. Fünftens wurde im völkerrechtlichen Schrifttum des »langen« . Jahrhunderts, das während dieser Zeit enorm zunahm, anhand der südosteuropäischen, aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches hervorgegangenen, aber in erster Phase noch keine völlige Unabhängigkeit erlangten Fürstentümer (Montenegro, Serbien, Moldau, Walachei, Bulgarien) verschiedene Formen und Kategorien des Rechtszustands der eingeschränkten staatlichen Souveränität (Halbsouveränität, Suzeränität, Vasallität, Protektorat) dargestellt und analysiert. Alles in allem bot der Umgang der europäischen Großmächte mit der Orientalischen Frage für die sich ab Mitte des . Jahrhunderts unter dem tonangebenden Positivismus in einem Institutionalisierungs- und Professionalisierungsprozess befindende Völkerrechtswissenschaft ein reiches Anschauungsmaterial zur Ableitung völkerrechtlicher Normen aus der Staatenpraxis.

140

2. Völkerrechtliche Innovationen durch die Rechtsprechung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs in südosteuropäischen Streitfällen Vorbemerkung

Kapitel  dieser Studie untersucht die völkerrechtsprägende Wirkung der Rechtsprechung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs (Permanent Court of International Justice – PCIJ) in drei südosteuropäischen minderheitenbezogenen Streitfällen. Nach Ende des Ersten Weltkriegs und vor dem Hintergrund seiner verheerenden Folgen nahm die bereits im . Jahrhundert einsetzende Tendenz zur Ausweitung des Wirkungsbereichs des Völkerrechts zu. Während sich das Völkerrecht bis dahin auf die Regelung der Kriegsführung und der Formalitäten von Kriegsbeginn und Kriegsende beschränkte, wurden nun die Weichen dafür gestellt, dass bereits in der Zwischenkriegszeit und vor allem ab  die Entscheidung eines Staates für den Krieg »zur Rechtsfrage« wurde, »die einer Nachprüfung durch eine internationale Instanz unterworfen war«. Demzufolge enthielt der Völkerbund schon in seiner Satzung ein partielles Kriegsverbot, das durch den am . August  von  Staaten in Paris unterzeichneten Vertrag über die Ächtung des Krieges (Briand-Kellogg-Pakt) zu einem generellen Kriegsverbot ausgeweitet wurde. Diese Entwicklung und etliche andere, wie etwa im Bereich der Abrüstung oder der Ahndung von Kriegsverbrechen, dienten während der »Völkerbundsära« der übergeordneten Zielsetzung der Friedenssicherung, wobei der Anspruch auf »Frieden durch Recht« weit »weniger einem strategischem Kalkül als politischen Zwängen, Erwartungen und Bindungen großer normativer Kraft« entsprang. In diesem Kontext der Schaffung einer Weltfriedensordnung entstand in der Zwischenkriegszeit ein komplexer Mechanismus der Kriegsprävention und Kriegsverhinderung, der trotz des schlussendlich gescheiterten Experiments des Völkerbunds und des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs beachtliche innovative Maßnahmen enthielt. Wichtige Bestandteile dieses Mechanismus waren u. a. der PCIJ, der Minderheitenschutz des Völkerbunds und die zwischenstaatlich vereinbarten Bevölkerungstransfers. Auf alle drei Komponenten und ihr Ineinandergreifen wird in diesem und im darauffolgenden Kapitel ausführlich eingegangen. Der PCIJ wurde  als Schiedsgerichtshof ins Leben gerufen, um die friedliche Beilegung von Konflikten zwischen den Mitgliedern des Völkerbunds und  Kimminich, Otto: Einführung in das Völkerrecht. ., vollst. überarb. Aufl. München [u. a.] , .  Hobe, Einführung (wie Anm. , Einleitung), -.  Payk, Marcus M.: Frieden durch Recht? Der Aufstieg des modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg. Berlin [u. a.] , .

141

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

unter bestimmten Voraussetzungen auch von Nichtmitgliedern zu unterstützen. Seine Gerichtsbarkeit beruhte auf drei Artikeln der Satzung des Völkerbunds: Art.  legte ein »gestuftes Streiterledigungsverfahren« fest, an das sich die Bundesmitglieder bei Streitigkeiten zu halten hatten und zu dem auch die internationale Schiedsgerichtsbarkeit gehörte: The Members of the League agree that, if there should arise between them any dispute likely to lead to a rupture they will submit the matter either to arbitration or judicial settlement or to enquiry by the Council, and they agree in no case to resort to war until three months after the award by the arbitrators or the judicial decision, or the report by the Council. In any case under this Article the award of the arbitrators or the judicial decision shall be made within a reasonable time, and the report of the Council shall be made within six months after the submission of the dispute. Der darauffolgende Art.  bestimmte, welche Angelegenheiten Gegenstand einer internationalen Schiedsgerichtsbarkeit sein könnten, konkretisierte darüber hinaus den Rahmen des Verfahrens und garantierte die Verbindlichkeit des gesprochenen Urteils: The Members of the League agree that, whenever any dispute shall arise between them which they recognise to be suitable for submission to arbitration or judicial settlement, and which cannot be satisfactorily settled by diplomacy, they will submit the whole subject-matter to arbitration or judicial settlement. Disputes as to the interpretation of a Treaty, as to any question of international law, as to the existence of any fact which, if established, would constitute a breach of any international obligation, or as to the extent and nature of the reparation to be made for any such breach, are declared to be among those which are generally suitable for submission to arbitration or judicial settlement. For the consideration of any such dispute, the Court to which the case is referred shall be the Permanent Court of International Justice, established in accordance with Article , or any tribunal agreed on by the parties to the dispute or stipulated in any Convention existing between them. The Members of the League agree that they will carry out in full good faith any award or decision that may be rendered, and that they will not resort  Justenhoven, Heinz-Gerhard: Internationale Schiedsgerichtsbarkeit. Ethische Norm und Rechtswirklichkeit. Stuttgart ,  f.  Treaty Series No.  (). The Covenant of the League of Nations Embodying an Amendment of Article , in Force for August , , and Amendments of Articles ,  and , in Force from September ,  [im Folgenden: The Covenant]. In: Department of State. Office of the Historian, https://history.state.gov/historicaldocuments/ frusParisv/chsubch (letzter Zugriff: ..). Für die deutsche Fassung siehe Satzung des Völkerbunds (Art. - des Versailler Vertrages). In: Fontes Historiae Iuris Gentium. Quellen zur Geschichte des Völkerrechts. Bd. /: -. Hg. v. Wilhelm G. Grewe. Berlin [u. a.] , -, hier  f.

142

Vo r b e m e r ku n g

to war against a Member of the League which complies therewith. In the event of any failure to carry out such an award or decision, the Council shall propose what steps should be taken to give effect thereto. Schließlich wurde mit Art.  der Völkerbundsrat mit den Vorbereitungen der Gründung eines PCIJ als das zentrale Organ dieser internationalen Schiedsgerichtsbarkeit beauftragt: The Council shall formulate and submit to the Members of the League, for adoption plans for the establishment of a Permanent Court of International Justice. The Court shall be competent to hear and determine any dispute of an international character which the parties thereto submit to it. The Court may also give an advisory opinion upon any dispute or question referred to it by the Council or by the Assembly. Im Anschluss an seine zweite Sitzung setzte der Völkerbundsrat am . Februar  eine zehnköpfige beratende Juristenkommission zur Umsetzung von Art.  der Völkerbundssatzung ein. Nachdem diese vom . Juni bis zum . Juli  im Friedenspalast von Den Haag getagt hatte, legte sie den Entwurf eines Statuts für einen PCIJ vor, der mit wenigen Änderungen vom Völkerbundsrat an die Völkerbundsversammlung weitergeleitet wurde. Diese nahm am . Dezember  den ihr vorgelegten Entwurf als Statut des neuen Gerichtshofs an. Unabhängig von dem schon existierenden Ständigen Schiedshof in Den Haag wurde somit »erstmals in der Geschichte ein Weltgerichtshof« geschaffen, »dessen  revidierte Verfahrensordnung so vorzüglich war, dass sie nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend für den Internationalen Gerichtshof übernommen werden konnte«. Die Zuständigkeit des neuen Gerichtshofs erstreckte sich gemäß Art.  PCIJ-Statut auf alle Rechtsangelegenheiten, die ihm von den Parteien zugewiesen würden oder in Verträgen und Konventionen vorgesehen waren, und resultierte aus einer vorab getroffenen Vereinbarung der Streitparteien, ihren Disput dem PCIJ vorzulegen. Demzufolge verfügte das neue Weltgericht über keine obligatorische Zuständigkeit für Streitigkeiten der Mitgliedstaaten, sondern seine Gerichtsbarkeit beruhte entweder auf einem allgemeinen Abkommen zwischen zwei Staaten, bei Streitigkeiten den PCIJ einzuschalten, oder auf einem Ad-hoc-Übereinkommen der Streitparteien mit einmaliger Geltung:  The Covenant (wie Anm. ).  Ebd.  The Permanent Court of International Justice. -. Hg. v. Registry of the International Court of Justice. Maubeuge ,  f.  Ziegler, Völkerrechtsgeschichte (wie Anm. , Einleitung), .  Will, Martin: Internationaler Gerichtshof (IGH). In: Völkerrecht. Lexikon zentraler Begriffe und Themen. Hg. v. Burkhard Schöbener. Heidelberg [u. a.] , -, hier .

143

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

The jurisdiction of the Court comprises all cases which the parties refer to it and all matters specially provided for in Treaties and Conventions in force. The Members of the League of Nations and the States mentioned in the Annex to the Covenant may, either when signing or ratifying the protocol to which the present Statute is adjoined, or at a later moment, declare that they recognize as compulsory, ipso facto and without special agreement, in relation to any other Member or State accepting the same obligation, the jurisdiction of the Court in all or any of the classes of legal disputes concerning: a) The interpretation of a Treaty; b) Any question of International Law; c) The existence of any fact which, if established, would constitute a breach of an international obligation; d) The nature or extent of the reparation to be made for the breach of an international obligation. The declaration referred to above may be made unconditionally or on condition of reciprocity on the part of several or certain Members or States, or for a certain time. In the event of a dispute as to whether the Court has jurisdiction, the matter shall be settled by the decision of the Court. In der  von der Kanzlei des Internationalen Gerichtshofs (International Court of Justice – ICJ) veröffentlichen Festschrift anlässlich des -jährigen Bestehens des PCIJ wurde die »spezifische«, in vielerlei Hinsicht bemerkenswerte Rolle des PCIJ gewürdigt. Die Besonderheit seiner Funktion habe vor allem darin gelegen, dass sich das neue Gericht infolge der durch den Ersten Weltkrieg und die Pariser Friedensverträge verursachten territorialen Verschiebungen intensiv mit Fragen von Eigentums- und Minderheitenrechten beschäftigt habe: Firstly, the  peace treaties had linked the maintenance of peace to the judicial settlement of the problems created by the First World War. The PCIJ was thus entrusted with a specific task in addition to its general jurisdiction. It was often requested to consider questions relating to the transfer of territories carried out under the peace treaties, most of which concerned the direct or indirect consequences of such transfers on the property of individuals and the rights of national minorities. This important task accounted for nearly half of the cases dealt by the Permanent Court, namely,  cases out of a total of , and more than half of the advisory opinions, namely,  opinions out of . Die drei hier zu besprechenden südosteuropäischen Streitfälle handeln von Sachverhalten, die weitgehend in diesen Kontext einzuordnen sind. Aufgrund einer spezifischen Faktorenkonstellation war die Wahrscheinlichkeit, dass ein in Südosteuropa lokalisierter Rechtsstreit über die Situation einer Minderheit und  Statute for the Permanent Court of Internationale Justice. In: The Permanent Court of Internationale Justice. Statute and Rules. Hg. v. International Intermediary Institute, The Hague. Leiden , -, hier . Siehe auch Ralston, Jackson Harvey: International Arbitration from Athens to Locarno. Stanford [u. a.] , -.  Registry, The Permanent Court (wie Anm. ), .

144

Da s M in d e r h e i te n s c hu t z s y s te m d e s Vö lke r b u n d s

damit verbundene Eigentums- und Entschädigungsprobleme vor den PCIJ kam, relativ hoch. Die Faktoren, die eine solche Entwicklung begünstigten, waren a) die Minderheitenverträge, die alle südosteuropäischen Staaten nach Ende des Ersten Weltkriegs unterzeichnen mussten; b) die zahlreichen Grenzverschiebungen im Zuge der Balkankriege -, des Ersten Weltkriegs und des darauffolgenden griechisch-türkischen Krieges in Westanatolien; c) die von Bulgarien, Griechenland und der Türkei unter der Ägide des Völkerbunds abgeschlossenen Bevölkerungstransferabkommen; und d) das konstant hohe Konfliktpotential in den zwischenstaatlichen Beziehungen Südosteuropas. Bevor allerdings die Rechtsprechung des PCIJ in den drei südosteuropäischen Streitfällen besprochen werden kann, muss das Minderheitenschutzsystem des Völkerbunds mit dem sogenannten Petitionsverfahren in dessen Zentrum dargestellt werden. Das Minderheitenschutzsystem des Völkerbunds in der Forschung

In der Forschungsliteratur wird das Minderheitenschutzsystem des Völkerbunds mehrheitlich als ineffizient und gescheitert bewertet. Eine wichtige Rolle bei der Bildung dieses Urteils spielten Studien, die bereits in der Zwischenkriegszeit, insbesondere kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erschienen. Unter dem Eindruck der zahlreichen Konfliktlagen in Europa und der Instrumentalisierung der volksdeutschen Minoritäten Ostmitteleuropas durch das Nazi-Regime attestierten die Autoren dieser Studien der  in Paris geschaffenen internationalen Neuordnung ein fehlgeschlagenes Minderheitenregime. Der Minderheitenschutz, der in ihren Augen versagt hatte, wurde für den allgemeinen Misserfolg des Völkerbunds in seiner friedensstiftenden Mission und für die Durchsetzung des Machtprinzips in der Außenpolitik gegenüber einer durch völkerrechtliche Grundsätze bestimmten internationalen Politik als exemplarisch betrachtet. Als wichtigster Grund für das Scheitern des Minderheitenschutzsystems des Völkerbunds wird dessen Ungerechtigkeit zu Lasten der Verlierer des Ersten Weltkriegs, aber auch gegenüber den neugeschaffenen bzw. territorial vergrö-

 Lemberg, Hans: Sind nationale Minderheiten Ursachen für Konflikte? Entstehung des Problems und Lösungskonzepte in der Zwischenkriegszeit. In: Definitionsmacht, Utopie, Vergeltung. »Ethnische Säuberung« im östlichen Europa des . Jahrhunderts. Hg. v. Ulf Brunnbauer, Michael G. Esch und Holm Sundhaussen. Berlin , -, hier .  Kiessling, Friedrich: Macht – Recht – Legitimität. Aufstieg und Verfall von Verrechtlichung und kollektiver Sicherheit in den internationalen Beziehungen der Zwischenkriegszeit. In: Lappenküpper/Marcowitz, Macht (wie Anm. , Einleitung), -, hier .

145

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

ßerten Staaten Ostmittel- und Südosteuropas genannt. Während diesen Ländern Minderheitenschutzbestimmungen von den siegreichen Großmächten auferlegt wurden, lehnten letztere eine Generalisierung des Minderheitenregimes nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten entschlossen ab. Die Folge war, dass der bei der Pariser Friedenskonferenz ausgearbeitete Minderheitenschutz von den sogenannten Minderheitenstaaten ständig in Frage gestellt wurde. Auch in dieser Hinsicht wurde das Minderheitenschutzsystem als bezeichnend für die zahlreichen »inhärenten Mängel und Defizite« der »neuen Ordnung« der Zwischenkriegszeit gehalten. Außer den Minderheitenstaaten übten auch die unter der Protektion des Völkerbunds stehenden Minoritäten heftige Kritik an dem neuen System. Nicht zu Unrecht beschwerten sich deren Vertreter darüber, dass die Organe des Völkerbunds den von ihnen angezeigten Fällen von Minderheitenrechtsverletzungen allzu selten nachgingen. Spätere Untersuchungen ergaben, dass knapp die Hälfte aller Fälle, in denen eine Minderheit beim Sekretariat des Völkerbunds eine Beschwerde gegen einen Staat einreichte, diese aus formalen Gründen abgewiesen wurde, bevor sie die zuständigen Kontrollorgane erreichen konnte. Demzufolge erhoben Vertreter von Minderheiten immer wieder den Vorwurf gegen den Völkerbund, dass dieser trotz seines Minderheitenschutzverfahrens letztendlich die Assimilationspolitik des zentralistischen Nationalstaates begünstigte. Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich an der grundsätzlich negativen Bewertung wenig: So urteilte etwa der US-amerikanische Politologe Inis L. Claude in seinem  erschienenen Buch »National Minorities. An International Problem«, dass die Fehler und Defekte des Systems des Völkerbunds bedeutender gewesen seien als seine Leistungen. Als Gründe des Versagens führte er neben der besagten mangelnden Bereitschaft der Minderheitenstaaten, ihre Verpflichtungen zu erfüllen, drei weitere Faktoren an: Die Verantwortungslosigkeit der seinerzeitigen Siegermächte für die Aufrechterhaltung des Systems; die Bewegungen, die sich als Ziel gesteckt hatten, die ihnen verweigerte Selbstbestimmung (damals ausschließlich als jus secessi Hoffmann, Stefan-Ludwig: Zur Genealogie der Menschenrechte. In: Menschenrechte in der Weltgesellschaft. Hg. v. Bettina Heintz und Britta Leisering. Deutungswandel und Wirkungsweise eines globalen Leitwerts. Frankfurt/M. , -, hier .  Weber, Hermann: Der Minderheitenschutz des Völkerbundes. In: Friedenssichernde Aspekte des Minderheitenschutzes in der Ära des Völkerbundes und der Vereinten Nationen in Europa. Hg. v. Manfred Mohr. Berlin [u. a.] , -, hier  f.  Kiessling, Macht (wie Anm. ), .  Christoph Gütermann hat festgestellt, dass von den insgesamt  Petitionen, die beim Sekretariat des Völkerbunds eingingen,  letztendlich für zulässig erklärt wurden. Gütermann, Christoph: Das Minderheitenschutzverfahren des Völkerbundes. Berlin (West) , .  Weber, Der Minderheitenschutz (wie Anm. ), .

146

Da s M in d e r h e i te n s c hu t z s y s te m d e s Vö lke r b u n d s

onis zu verstehen), doch noch zu erreichen; und die schwankende Politik der Völkerbundorgane, die noch immer die Souveränität der Mitgliedstaaten als Tabu ansahen, sodass der Mechanismus der Komitees des Völkerbundes nicht funktionieren konnte. Die Übernahme nach Ende des Zweiten Weltkriegs der in der Zwischenkriegszeit entwickelten kanonisierten Darstellung des fehlgeschlagenen Minderheitenschutzsystems des Völkerbunds führte u. a. dazu, dass in der Anfangsphase der Vereinten Nationen die Einrichtung eines neuen Minderheitenschutzsystems auf internationaler Basis abgelehnt und stattdessen ein Menschenrechtsregime aufgebaut wurde. Auch heute noch wird in vielen Arbeiten das Minderheitenschutzsystem des Völkerbunds ausschließlich negativ bewertet. So schreibt beispielsweise StefanLudwig Hoffmann in einem  erschienenen Beitrag, dass »an der Frage der Minderheitenrechte auch der  in Versailles geschaffene Völkerbund gescheitert« sei. Der Schweizer Historiker Jörg Fisch bezeichnet wiederum in seiner  veröffentlichten Arbeit zur historischen Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts der Völker das Minderheitenschutzregime des Völkerbunds als »wenig wirksam«. Die »prekäre« Lage der Minderheiten in den Staaten mit Minderheitenschutzverträgen sei »in der Regel kaum besser [gewesen] als in Staaten, die keine entsprechenden Verpflichtungen hatten eingehen müssen«. Etliche Autoren beziehen sich in ihren kritischen Ausführungen auf Carole Fink, die in ihrer bekannten Studie zur Entwicklung der Minderheitenrechte zwischen  und  eine negative Bilanz zum Minderheitenschutzsystem des Völkerbunds zieht. Exemplarisch dafür kann folgender Ausschnitt aus ihrem Buch angeführt werden: To be sure, League officials, in their handling of their minorities problem were scarcely evenhanded. Bound by the principle of state sovereignty, they not only guarded the minority states’ interests and dismissed all but the most politically explosive complaints; they also blocked outside improvement proposals, shrouded their work in secrecy, and excluded petitioners from every

 Claude, Inis L.: National Minorities. An International Problem. Cambridge , zit. n. Ermacora, Felix: Minderheiten als Brücken und Gräben zwischen Staaten und Völkern. In: Die Minderheiten zwischen den beiden Weltkriegen. Hg. v. Umberto Corsini und Davide Zaffi. Berlin , -, hier  (Originalausgabe: Le minoranze tra le due guerre. Hg. v. Umberto Corsini und Davide Zaffi. Bologna ).  Schulz, Matthias: Internationale Institutionen. In: Dimensionen internationaler Geschichte. Hg. v. Jost Dülffer und Wilfried Loth. München , -, hier .  Hoffmann, Zur Genealogie (wie Anm. ), .  Fisch, Jörg: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion. München , .

147

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

stage of the investigations. Colban, who defined his task as transforming  million individuals into »loyal citizens«, was unmoved by criticism. Neben den zahlreichen Büchern und Aufsätzen, die ein ausschließlich negatives Bild vom Minderheitenschutzsystem des Völkerbunds zeichnen, gibt es in einem geringeren Umfang auch Studien, die die minderheitenrechtlichen Schutzmaßnahmen als einen Mechanismus beschreiben, der nicht nur Schwächen, sondern auch beachtliche Erfolge aufzuweisen hatte. Eine der ersten Arbeiten im deutschsprachigen Raum, die dem unter der Ägide des Völkerbunds errichteten Schutzsystem für Minoritäten außer Defiziten auch viele gute Ansätze zuschrieb, war die  veröffentlichte Wiener Dissertation von Christoph Gütermann zum »Minderheitenschutzverfahren des Völkerbundes«. Es ist aus zweierlei Gründen sinnvoll, Ausschnitte aus der Schlussbetrachtung Gütermanns zu zitieren: Zum einen wird darin die oben getroffene Aussage bezüglich der in der Forschungsliteratur vorherrschenden Tendenz der absoluten Negativbewertung des Minderheitenschutzregimes der Zwischenkriegszeit bestätigt. Zum anderen verdeutlichen sie den Versuch des Autors, eine erstmals ausgeglichene, auf einer breiteren Kriteriengrundlage zu vollziehende Bewertung des unter der Garantie des Völkerbunds stehenden Systems abzugeben: Das Minderheitenschutzverfahren des Völkerbunds wurde oft geschmäht und des totalen Versagens bezichtigt. Zur Zeit seines Bestehens, als die Emotionen noch hochgingen, war dies zu verstehen. […] Nichts liegt mir ferner, als hier ein endgültiges Urteil fällen zu wollen. Allerdings, so finde ich, sollte man das Minderheitenschutzsystem des Völkerbunds nie an irgendwelchen Idealzuständen messen, deren mögliche Verwirklichung ohnedies sehr zu bezweifeln ist. […] In diesem Zusammenhang ist es daher auch viel sinnvoller, die Lage der Minderheiten in der Zwischenkriegszeit mit derjenigen vor dem ersten Weltkrieg zu vergleichen: obwohl dies nicht quantifizierbar ist, wurde durch das Völkerbundsystem den Minderheiten viel Unterdrückung erspart. Außerdem wurden durch die Verträge und die Praxis ihrer Anwendung Normen für die Behandlung von Minderheiten gesetzt. Nicht zuletzt wurden durch die Internationalisierung bilaterale Spannungen vermieden, die Rechte der nationalen Minderheiten wurden zu einem Anliegen der internationalen Gemeinschaft: das Minderheitenschutzsystem des Völkerbunds trug damit zur Erhaltung des Weltfriedens bei. Auch in der neueren englischsprachigen Literatur finden sich Studien, in denen die dominante Sichtweise eines kompletten Versagens des Völkerbunds auf dem Gebiet des Minderheitenschutzes nicht unhinterfragt übernommen wird. Als  Fink, Defending (wie Anm. , Kap. ),  f. Siehe auch dies.: Writing th Century International History: Explorations and Examples. Göttingen , -.  Housden, The League (wie Anm. , Einleitung),  f.  Gütermann, Das Minderheitenschutzverfahren (wie Anm. ), -.

148

Da s M in d e r h e i te n s c hu t z s y s te m d e s Vö lke r b u n d s

Beispiel dafür kann an dieser Stelle ein Aufsatz des britischen Historikers Mark Mazower angeführt werden, in dem zuerst die gängige Kritik an dem aus nur nominell existierenden Minderheitenrechten, Garantien und Mechanismen bestehenden Pariser Regelungswerk wiederholt wird, dann aber auch mehrere Errungenschaften dieses Systems aufgezählt werden, die das Gesamtbild wesentlich verbessern: But the role of the League itself in this [minority protection] system was ambiguous. It was difficult to bring cases to the League’s attention, and even more difficult to push them through the Geneva machine and have them taken up by the Council. Although the League had the power to refer cases to the Permanent Court of Justice in The Hague, it rarely acted on it. On the other hand, it jealously guarded this power and blocked proposals to allow minorities to appeal to the Court directly. The League Secretariat did not see itself as a »champion of minorities« but more modestly as an interlocutor helping governments carry out their own obligations. […] Let us not, however, be too hasty in writing off the League’s minority system altogether. In the first place, it did notch up a few successes that offered valuable lessons for the future and showed what was possible with astute and far-sighted government. If these today have been forgotten, it is perhaps only because they were too peaceful for the history books. The Aaland islands dispute between Sweden and Finland, for instance, was resolved quietly in : the islands remained Finish, but the Swedish islanders were granted a high degree of administrative autonomy. This compact formed the basis of a solution that removed a major source of tension between the two countries. The Estonian government took the remarkable step of granting cultural autonomy to its »national minorities«; the Latvians did not go quite this far but did offer some concessions in education. Martyn Housden, Spezialist für die Geschichte des Völkerbunds, nimmt ebenfalls eine »revidierende« Position in der Frage des vermeintlich komplett ineffizienten Minderheitenschutzes der Zwischenkriegszeit ein. Für die vernichtende Kritik macht er weniger die fehlenden Erfolge des Völkerbunds, sondern dessen mangelhafte Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich. Hierbei bezieht er sich auf Robert Cecil, den britischen Präsidenten des Völkerbunds von  bis zur Auflösung der Organisation, der in seinen  erschienenen Memoiren (»All the Way«) den Minderheitenschutz des Völkerbunds gegen seine Kritiker verteidigt hatte: If nothing else, the League should have done more to publicise its successes in the field of minority protection, in order to win over the hearts and minds off all those who were unsure about the project and to give confidence to those  Mazower, Mark: Minorities and the League of Nations in Interwar Europe. In: Human Diversity  () , -, hier , .

149

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

whom it was supposed to be protecting. The judgement of Robert Cecil is about right: in his memoirs he concluded that »the minority work of the League has been beneficial and that the treatment of the minorities within its scope has been better than that of those outside it«. But still he felt the League could have done better. Völkerrechtshistorische Studien jüngsten Datums gehen einen entscheidenden Schritt weiter und lassen in ihrer Bewertung erstmals auch die Urteile und Gutachten des PCIJ zu minderheitenbezogenen Streitfällen einfließen, die mehrheitlich zugunsten der klagenden Minderheiten ausfielen. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang, dass in früheren Studien diese Gerichtssprüche weitgehend ignoriert wurden. Bezeichnend dafür sind die zwei deutschsprachigen Standardwerke zum Minderheitenschutzsystem des Völkerbunds, nämlich das bereits genannte Buch Gütermanns und die  publizierte Marburger Dissertation Martin Scheuermanns. In beiden Studien endet die Untersuchung des hier noch vorzustellenden Petitionsverfahrens beim Völkerbundsrat als »letzte« Instanz. Die  Fälle, die dem PCIJ vom Rat zur Überprüfung weitergeleitet wurden, bleiben in den Darstellungen und Ausführungen Gütermanns und Scheuermanns unberücksichtigt. Im Gegensatz dazu schenken völkerrechtshistorische Studien den »zahlreichen einschlägigen Entscheidungen« des PCIJ besondere Aufmerksamkeit, zumal sie »zur Weiterentwicklung des völkerrechtlichen Minderheitenschutzes beitrugen«. Vor diesem Hintergrund zieht die niederländische Völkerrechtlerin Janne Nijman in ihrem Beitrag für das autoritative »Oxford Handbook of the History of International Law« eine insgesamt positive Bilanz: Public and scholarly opinion on the League in general and on its system of minorities protection in particular changed in the course of the s. Initially, there had been excitement and hope; for example, of fostering political democracy and economic liberalism in Central and Eastern Europe. From the s on, however, it became commonplace to refer to the League’s minorities protection system as a failure. Be that as it may, the system has had a lasting impact on the development of international law as such and of the notion of sovereignty in particular. The system of minority protection under the League of Nations may have been an »experiment« but it cannot be set aside as merely a »historical experiment« without lasting legacy.

 Housden, The League (wie Anm. , Einleitung), .  Gütermann, Das Minderheitenschutzverfahren (wie Anm. ).  Scheuermann, Martin: Minderheitenschutz contra Konfliktverhütung? Die Minderheitenpolitik des Völkerbunds in den zwanziger Jahren. Marburg .  Irmscher, Tobias H.: Minderheiten und Volksgruppen. In: Schöbener, Völkerrecht (wie Anm. ), -, hier .  Nijman, Janne E.: Minorities and Majorities. In: Fassbender/Peters, The Oxford Handbook (wie Anm. , Einleitung), -, hier  f.

150

M in d e r h e i te n s c hu t z ve r t rä g e u n te r d e r Ägi d e d e s Vö lke r b u n d s

Sehr positiv fällt auch die Bewertung des ungarischen Völkerrechtlers und Minderheitenrechtsexperten Péter Kovács in seinem Beitrag zum »Oxford Handbook of International Human Rights Law« aus, wo er auf die bahnbrechende Rechtsprechung des PCIJ verweist: The minority protection efforts of the League of Nations with their semisuccesses and inherent problems are appreciated much more today than they were in the s, s, or the s. The contributions of the system became clearer when problems of the coexistence of different linguistic, ethnic, or religious communities repeatedly emerged in the latter part of the twentieth century. […] In substantive law, by the s and s, the PCIJ had already formulated the doctrine of freedom of choice of identity and the notion of affirmative action, i. e. that the adoption of special measures in favour of genuine social equality is compatible with the prohibition of discrimination. […] In retrospect, the foremost consequence of the League of Nations minority protection system in the international legal order is most certainly the changed perception of what issues belong »solely within the domestic jurisdiction« of a state. […] To sum up, the protection of national minorities under the auspices of the League of Nations undoubtedly contributed to the evolution of international human rights law. It is an early example of how a multilateral framework could institutionalize this issue. Even if it left behind bitter remembrances, partly due to wilful misinterpretations as an element of postWar policies of the former Allies who sought to have their policy of appeasement in / forgotten, it should be considered with all its advantages and disadvantages, strengths and weaknesses.

Minderheitenschutzverträge unter der Ägide des Völkerbunds

Der Aufstieg der USA zu einer Großmacht, die in die europäischen Angelegenheiten eingreift, leitete das Ende des »weltweiten Regelungsvorrangs der europäischen Großmächte« ein. Der von US-amerikanischen Vorstellungen stark geprägte Völkerbund war in vielerlei Hinsicht der treibende Motor dieser Wandlungsprozesse, auch wenn ihm mit den USA letztendlich der bereits mächtigste Staat der Welt fernblieb. Die Hauptaufgaben dieses sich sukzessive zu einer »internationalen Organisation« entwickelnden »gemeinschaftlichen Zu Kovács, Péter: The Protection of Minorities under the Auspices of the League of Nations. In: The Oxford Handbook of International Human Rights Laws. Hg. v. Dinah Shelton. Oxford , -, hier -.  Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht (wie Anm. , Einleitung), .  Ebd.

151

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

sammenschlusses« souveräner Staaten »mit verlässlichen Mechanismen der Koordination, der Konfliktregulierung und Sanktion« bestand darin, das Staatensystem und die internationalen Beziehungen dahingehend global neu auszurichten und so zu ordnen, dass die »aggressive Willkür einzelner Nationen« gebändigt und die Friedenssicherung gewährleistet wird. Außer der nackten Machtpolitik, die zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs geführt hatte, gab es auch jüngere Entwicklungen, die unter bestimmten Bedingungen eine Bedrohung für den Weltfrieden hätten darstellen können und denen mit der Institutionalisierung der internationalen Gemeinschaft in Form des Völkerbunds entgegengewirkt werden sollte. Eine der »konfliktträchtigsten Neuerungen des Ersten Weltkriegs« war die »Einführung des Prinzips der Selbstbestimmung als Alternative zum und Konkurrenz für das Siegerrecht«. Der US-amerikanische Präsident Woodrow Wilson und seine Mitstreiter betrachteten dieses Prinzip als ein wichtiges Instrument, um ein von der Willkür des Mächtigeren bestimmtes internationales System gerechter zu gestalten. Allerdings sah die US-amerikanische Auslegung des Rechts der Selbstbestimmung nicht die zwangsläufige Realisierung des Zieles der eigenständigen staatlichen Existenz vor, sondern bezog sich vielmehr auf das Recht der »demokratischen Repräsentation, der Mitsprache und der Mitbestimmung« innerhalb eines bereits existierenden Staates. Der Völkerbund sollte u. a. eine Garantie dafür sein, dass der Gebrauch bzw. »Missbrauch« vom Recht der Selbstbestimmung sich nicht zu einer Gefährdung des Weltfriedens entwickeln. Im Januar  fasste Wilson seine Vorstellungen bezüglich einer neuen europäischen und globalen Weltordnung in  Punkten zusammen. Mehrere Punkte betrafen die Regelung territorialer und ethnonationaler Fragen, die in der östlichen Hälfte Europas lokalisiert waren. Auf der Grundlage des Nationalitätenund Selbstbestimmungsprinzips trat Wilson u. a. für die Gründung eines unabhängigen polnischen Staates, die »freieste Möglichkeit autonomer Entwicklung« der Völker Österreichs-Ungarns, die Neuziehung der Grenzen zwischen den Balkanstaaten und die »absolut ungestörte Möglichkeit der autonomen Entwicklung« der nicht-türkischen »Nationalitäten« im Osmanischen Reich ein. Im April desselben Jahres trafen sich im Exil lebende tschechische, slowakische, polnische, rumänische und südslawische Vertreter der »von Habsburg unterdrückten Völker« in Rom und forderten unter Berufung auf das -PunkteProgramm Wilsons das Recht einer jeden Nation auf einen eigenen Staat. Vor    

Payk, Frieden (wie Anm. ), . Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht (wie Anm. , Einleitung), . Payk, Frieden (wie Anm. ), . Schöllgen, Gregor: Das Zeitalter des Imperialismus. . Aufl. München , ; Hahn, Hans Henning/Hahn, Eva: Die Vertreibung im deutschen Erinnern: Legende, Geschichte, Mythos. Paderborn [u. a.] ,  f.  Calic, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung), ; Carteny, Andrea: All against One: The Congress of Oppressed Nationalities of Austria-Hungary (), Working Paper

152

M in d e r h e i te n s c hu t z ve r t rä g e u n te r d e r Ägi d e d e s Vö lke r b u n d s

allem auf südslawischer Seite existierten diesbezüglich fortgeschrittene Vorarbeiten. Bereits im November  hatten südslawische Emigranten, die mehrheitlich aus Gebieten der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie stammten (Ante Trumbić, Frano Supilo, Ivan Meštrović), den Jugoslawischen Ausschuss mit Sitz in London ins Leben gerufen. In dessen »Südslawischem Programm« wurden Serben, Kroaten und Slowenen zu »ein- und demselben Volk mit drei verschiedenen Namen« erklärt und die Gründung eines gemeinsamen Staates Jugoslawien gefordert. Im Juli  unterzeichneten dann Trumbić als Vorsitzender des Jugoslawischen Ausschusses und der Außenminister Serbiens Nikola Pašić die Deklaration von Korfu, in der die Gründung eines jugoslawischen Königreichs unter der Herrschaft der Karađorđević-Dynastie proklamiert wurde. Auch Tschechen und Slowaken arbeiteten seit Längerem unter der Federführung von Tomáš Garrigue Masaryk und Edvard Beneš auf die Errichtung eines tschechoslowakischen Staates hin. Nach dem jugoslawischen Vorbild war im Februar  ein Tschechoslowakischer Nationalausschuss gegründet worden. Im Mai  kamen tschechische und slowakische Vertreter in Pittsburgh überein, einen gemeinsamen Staat bestehend aus den alten böhmischen Ländern und der Slowakei auszurufen. Angesichts des Zerfalls der drei Vielvölkerimperien (Österreich-Ungarn, Zaren-Reich, Osmanisches Reich) und der ethnischen Aufgliederung der Bevölkerung Ostmittel- und Südosteuropas bestand aus Sicht der Architekten der Pariser Ordnung die Gefahr der gewalttätigen Zersplitterung dieser Region in zahlreiche Kleinstaaten. Die durch die Einwirkung des Selbstbestimmungsprinzips eskalierte Situation im östlichen Mitteleuropa sollte in ihren Planungen durch »ein stabiles Gliederungsgefüge unabhängiger Staaten« entschärft werden, die durch »ein Mindestmaß an nationaler Selbstbestimmtheit und Teilhabe« im Inneren in der Lage sein würden, »alle revolutionären Verwerfungen letztlich selbst abschütteln zu können«. In diesem Sinne wurden von den siegreichen Großmächten die Aufnahme von »Minderheitsklauseln« in die Friedensverträge mit Österreich, Bulgarien und dem Osmanischen Reich und der Abschluss gesonderter Minderheitenschutzverträge mit neugeschaffenen oder sich territorial

   

No . . In: Department of Communication, University of Toronto, http:// wp.comunite.it/data/wp_no__.pdf (letzter Zugriff: ..). Wachtel, Andrew Baruch: Making a Nation, Breaking a Nation: Literature and Cultural Politics in Yugoslavia. Stanford , . Kessler, Wolfgang: Jugoslawien – Der erste Versuch. Vorgeschichte und Gründung des »ersten Jugoslawien«. In: Eine europäische Krisenregion in Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Jürgen Elvert. Stuttgart , -, hier . Calic, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung),  f.; Suppan, Arnold: Hitler – Beneš – Tito. Konflikt, Krieg und Völkermord in Ostmittel- und Südosteuropa. Bd. /. Wien , , , . Payk, Frieden (wie Anm. ), . Siehe auch Sharp, Alan: The Versailles Settlement. Peacemaking after the First World War, -. . Aufl. London , -.

153

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

vergrößernden Staaten, insbesondere mit Polen, der Tschechoslowakei, dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, Rumänien und Griechenland diktiert. Auch die spätere Aufnahme der baltischen Staaten und Albaniens in den Völkerbund wurde von der Abgabe entsprechender Minderheitenschutzerklärungen abhängig gemacht. Die betroffenen Staaten, die nur sehr widerwillig ihren Minderheiten diesen Schutz einräumten, sahen in diesem System eine Verletzung ihrer staatlichen Souveränität, nicht nur aufgrund der Tatsache, dass ihnen die Minderschutzverträge aufoktroyiert wurden, sondern auch, weil der Völkerbundsrat mit dem Recht ausgestattet war, bei Nichteinhaltung der Minderheitenschutzverpflichtungen einzugreifen. Polen, in dem Millionen von Juden lebten und außer ihnen noch Litauer, Weißrussen, Ukrainer und Deutsche große Minderheitengruppen ausmachten, war der erste von den neugegründeten Staaten Ostmittel- und Südosteuropas, der zur Einräumung von Minderheitenrechten verpflichtet wurde. Polen garantierte laut Vertrag »allen Bewohnern seines Territoriums gleiche Bürgerrechte, religiöse Freiheit sowie besondere sprachlich-kulturelle Rechte, vor allem den Zugang zu Behörden und die Einrichtung von muttersprachlichem Unterricht«. Weiter wurden »allen Bewohnern nicht-polnischer Nationalität die Staatsangehörigkeit Polens und wahlweise Optionsrechte zugestanden«. Zudem sicherte Warschau der jüdischen Bevölkerung den Schutz des Sabbats, auch in Gerichtsprozessen und bei Wahlen, zu. Von großer Bedeutung war Art.  des Minderheitenschutzvertrags, der die Bestimmungen zum Schutz der in Polen lebenden »völkischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten unter die Garantie des Völkerbunds« stellte. Diese Bestimmungen konnten »nur mit Zustimmung der Mehrheit des Völkerbunds geändert  Gütermann, Das Minderheitenschutzverfahren (wie Anm. ); Gornig, Gilbert H.: Die Definition des Minderheitenbegriffs aus historisch-völkerrechtlicher Sicht. In: Minderheitenschutz und Menschenrechte. Hg. v. Dieter Blumenwitz, Gilbert H. Gornig und Dietrich Murswiek. Köln , -; Bartsch, Sebastian: Minderheitenschutz in der internationalen Politik. Völkerbund und KSZE/OSZE in neuer Perspektive. Opladen ; Pernthaler, Peter: Die Entstehung des völkerrechtlichen Menschenrechts- und Minderheitenschutzes im . und . Jahrhundert. Wien ; Nijman, Minorities (wie Anm. ), -; Scheuermann, Minderheitenschutz (wie Anm. ), ; Meijknecht, Anna: Towards International Personality: The Position of Minorities and Indigenous Peoples in International Law. Antwerpen [u. a.] ,   Insgesamt  Prozent der Bevölkerung des neugebildeten polnischen Staates gehörten einer Minderheit an. Weber, Der Minderheitenschutz des Völkerbundes (wie Anm. ), .  Raphael, Lutz: Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa -, München , .  Treaty of Peace between the United States of America, the British Empire, France, Italy, and Japan and Poland, signed at Versailles, . Juni  [im Folgenden: Treaty Poland], Senate, Document No. , Presented by Mr. Lodge. Washington , .  Ebd.  Ebd., .

154

M in d e r h e i te n s c hu t z ve r t rä g e u n te r d e r Ägi d e d e s Vö lke r b u n d s

werden«. Außerdem musste Polen im selben Artikel akzeptieren, dass »jedes Mitglied des Völkerbundsrats befugt ist, die Aufmerksamkeit des Rates auf jede Verletzung oder jede Gefahr einer Verletzung irgendeiner dieser Verpflichtungen zu lenken, und dass der Rat befugt ist, alle Maßnahmen zu treffen und alle Weisungen zu geben, die nach Lage des Falles zweckmäßig und wirksam erscheinen«. Ferner musste sich Polen damit einverstanden erklären, dass »im Falle einer Meinungsverschiedenheit zwischen der polnischen Regierung und einer alliierten und assoziierten Hauptmacht oder jeder Macht, die Mitglied des Völkerbundsrats ist, über die rechtlichen und tatsächlichen Fragen, die diese Artikel betreffen, diese Meinungsverschiedenheit als Streit anzusehen ist, die im Sinne des Art.  der Satzung des Völkerbunds internationalen Charakter trägt«. In diesem Zusammenhang wurde schließlich von Warschau das Zugeständnis abverlangt, »dass jeder Streit dieser Art auf Verlangen des anderen Teiles vor den Ständigen Internationalen Gerichtshof gebracht« werden könne. Die Entscheidung des PICJ würde dann endgültig sein und »dieselbe Kraft und Wirkung wie eine auf Grund des Art.  der Satzung des Völkerbunds gefällte Entscheidung« haben. Begründet wurde dieses Verfahren damit, dass diese Bestimmungen »von internationalem Interesse« seien. Der von Warschau unterzeichnete Minderheitenschutzvertrag wurde als Vorlage für die entsprechenden Verträge mit den anderen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas genommen, sodass diese Vertragstexte bis auf »geringfügige Abweichungen« dem polnischen Vertrag entsprachen. Aber darauf ist weiter unten ausführlicher zurückzukommen. Die polnische Regierung hatte versucht, sich gegen dieses Vorgehen, das die Gewährung von Minderheitenrechten zur unabdingbaren Voraussetzung für die internationale Anerkennung eines neuen Staates machte, zu wehren. Allerdings befand sich Warschau aufgrund antijüdischer Pogrome, wie z. B. das von Lemberg im November , bei dem mindestens  Juden ums Leben kamen, in einer äußerst schwierigen Position. Jüdische Organisationen in den USA, die sonst in Vielem uneinig waren, »hatten sich in der Forderung vereinigt, die Juden in Polen als eine nationale Gruppe anzuerkennen«. In diesem Zusammenhang verlangten sie auch »internationale Garantien für die jüdische Minderheit im wiederentstandenen polnischen Staat«. Ihre Kampagne gegen den Antisemitismus in Polen führte dazu, dass der US-amerikanische Senat die polnischen    

Ebd.,  f. Ebd. Ebd. Scheuermann, Minderheitenschutz (wie Anm. ), ; Meijknecht, Towards International Personality (wie Anm. ), .  Sierpowski, Stanislaw: Die Stellung Polens zu den Bestimmungen des Völkerbunds über die nationalen Minderheiten. In: Mohr, Friedenssichernde Aspekte (wie Anm. ), -, hier .  Ebd.; siehe auch Payk, Frieden (wie Anm. ),  f.

155

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

Pogrome am . Mai  verurteilte. Überdies wurden in Washington Überlegungen angestellt, die Anerkennung Polens zurückzunehmen. Gegen den vehementen Widerstand der polnischen Vertretung, aber auch, wie noch zu zeigen ist, der rumänischen Delegation traf der Oberste Rat der Alliierten die Entscheidung, die Friedensverträge mit den neugegründeten oder ihr Territorium vergrößernden Staaten Ostmittel- und Südosteuropas durch Zusatzverträge zu ergänzen, welche die Minderheitenrechte in diesen Ländern garantieren würden. Als sich Warschau über diese Bevormundung beschwerte, wies der französische Premierminister und Konferenzpräsident Georges Clemenceau in seiner Mantelnote vom . Juni  darauf hin, dass es seit geraumer Zeit völkerrechtliche Praxis sei, neugeschaffene oder territorial erweiterte Staaten bei ihrer Anerkennung zur Einhaltung »gewisser Regierungsgrundsätze« zu verpflichten: In the first place, I would point out that this Treaty does not constitute any fresh departure. It has for long been the established procedure of the public law of Europe that when a State is created, or even when large accessions of territory are made to an established State, the joint and formal recognition by the Great Powers should be accompanied by the requirement that such State should, in the form of a binding international Convention undertake to comply with certain principles of government. This principle, for which there are numerous other precedents, received the most explicit sanction when at the last great Assembly of European Powers, the Congress of Berlin, the sovereignty and indepedence of Serbia, Montenegro and Romania was recognised. Am . Juni  unterzeichneten die Alliierten und Polen den Minderheitenschutzvertrag. Der sogenannte »kleine Versailler Vertrag« wurde dem Friedensvertrag mit Deutschland als Zusatzvertrag angehängt. Beide Verträge mussten vom polnischen Parlament ratifiziert werden. Der Minderheitenschutzvertrag wurde zuerst nur mit einer knappen Mehrheit von der polnischen Ratifizierungskommission angenommen. Während der Debatte in der Kommission kritisierten viele Mitglieder den Minderheitenschutzvertrag als einen Versuch der Großmächte, »Polen einseitig internationale Verpflichtungen aufzuzwin-

 Ebd.  Appendix I to CF-, WCP-, Draft of the Covering Letter to Be Addressed to M. Paderewski in Transmitting to Him the Treaty to Be Signed by Poland Under Article  of the Treaty of Peace With Germany. In: Papers Relating to the Foreign Relations of the United States. The Paris Peace Conference . Bd. . Hg. v. Department of State Washington. Washington , -, hier ; siehe dazu auch Saxer, Die internationale Steuerung, ; Korzec, Paweł: Polen und der Minderheitenschutzvertrag (). In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas  () , -, hier ; Pritchard, Sarah: Der völkerrechtliche Minderheitenschutz: historische und neuere Entwicklungen. Berlin , .

156

M in d e r h e i te n s c hu t z ve r t rä g e u n te r d e r Ägi d e d e s Vö lke r b u n d s

gen«. Indem man Minderheitenschutzverträge nur einigen Staaten Osteuropas und des Balkans auferlegte, habe eine Einteilung der Mitglieder des Völkerbunds in »bessere« und »schlechtere« und dadurch auch eine Verletzung des völkerrechtlichen Grundsatzes der Gleichheit aller Staaten stattgefunden. Dieselbe Kritik wurde auch im Sejm, dem polnischen Parlament, geäußert, als den Parlamentsabgeordneten im Juli  der Friedensvertrag und der Minderheitenschutzvertrag zur Ratifizierung vorgelegt wurden. Trotzdem segneten letztendlich diese die beiden Verträge mit großer Mehrheit ab. Von Seiten der alliierten Hauptmächte wurde entgegnet, dass die Minderheitenschutzverträge nur für »neue Staaten oder für Territorien, die infolge der Friedensverträge zu bereits existierenden Staaten neu dazukamen,« relevant seien. Wie Warschau sträubte sich zunächst auch die rumänische Regierung vehement gegen die Errichtung eines internationalen Minderheitenschutzregimes. Bei Rumänien handelte es sich zwar nicht wie bei Polen und der Tschechoslowakei um eine Staatsgründung, sondern um einen seit  international anerkannten Staat. Dennoch hatte dieser mit Ende des Ersten Weltkriegs eine große territoriale Erweiterung um Bessarabien, die Bukowina, einen Großteil des Banats und Siebenbürgen erfahren. Der Preis, den Bukarest für die Vergrößerung des Staatsterritoriums zahlen musste, waren Minderheitenschutzklauseln in den Friedensverträgen und die Auferlegung eines separaten Minderheitenschutzvertrags nach polnischem Vorbild. Der Widerstand dagegen war so groß, dass der rumänische Ministerpräsident und Verhandlungschef in Paris Ion I. C. Brătianu protestierend die Friedenskonferenz verließ und anschließend vom Premierministerposten zurücktrat. Es blieb letztendlich seinem Nachfolger Alexandru Vaida-Voevod die undankbare Aufgabe vorbehalten, gegenüber den Forderungen der Großmächte einzulenken. Aber auch er vermied es so weit wie möglich, mit dem rumänischerseits verhassten Minderheitenschutzvertrag direkt in Verbindung gebracht zu werden. So ließ er diesen sowie die Friedensverträge mit Österreich und Bulgarien am . und . Dezember  von seinem Delegierten in Paris, Constantin Coandă, in Vertretung unterzeichnen. Der Vergleich des rumänischen Minderheitenschutzvertrags mit dem polnischen zeigt eine Reihe von Gemeinsamkeiten und wenige »situativ« bedingte Abweichungen zwischen den beiden Vertragstexten. Art. - beider Verträge, die sich mit Angelegenheiten des Staatsbürgerschaftsrechts befassten, ermöglichten auf nahezu identische Weise den Erwerb der polnischen bzw. rumänischen Staatsangehörigkeit und garantierten allen Personen einer fremden Nationalität, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Minderheitenschutzvertrags ihren Wohnsitz auf Territorium     

Sierpowski, Die Stellung Polens (wie Anm. ), . Ebd. Ebd. Payk, Frieden (wie Anm. ), . Müller, Staatsbürger (wie Anm. , Einleitung), .

157

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

des sogenannten Minderheitenstaates hatten oder, falls nicht, dann zumindest auf diesem Territorium von Eltern mit einem dortigen ständigen Wohnsitz geboren worden waren, das Optionsrecht: Article . Poland admits and declares to be Polish nationals ipso facto and without the requirement of any formality German, Austrian, Hungarian or Russian nationals habitually resident at the date of the coming into force of the present Treaty in territory which is or may be recognised as forming part of Poland, but subject to any provision in the Treaties of Peace with Germany or Austria respectively relating to persons who became resident in such a territory after a specified date. […] Article . Poland admits and declares to be Polish nationals ipso facto and without the requirement of any formality persons of German, Austrian, Hungarian or Russian nationality who were born in the said territory of parents habitually resident there, even if at the date of the coming into force of the present Treaty they are not themselves habitually resident there. […] Article . Poland undertakes to put no hindrance in the way of the exercise of the right which the persons concerned have, under the Treaties concluded or to be concluded by the Allied and Associated Powers with Germany, Austria, Hungary or Russia, to choose whether or not the will acquire Polish nationality. Article . All persons born in Polish territory who are not born nationals of another state shall ipso facto become Polish nationals. Article . Subject to the special provisions of the Treaties mentioned below, Romania admits and declares to be Romanian nationals ipso facto and without the requirement of any formality all persons habitually resident at the date of the coming into force of the present Treaty within the whole territory of Romania, including the extensions made by the Treaties of Peace with Austria and Hungary, or any other extensions which may hereafter be made, if such persons are not at that date nationals of a foreign state other than Austria or Hungary. […] Article . Romania admits and declares to be Romanian nationals ipso facto and without the requirement of any formality persons of Austrian or Hungarian nationality who were born in the territory transferred to Romania by the Treaties of Peace with Austria and Hungary or subsequently transferred to her, of parents habitually resident there, even if at the date of the coming into force of the present Treaty they are not themselves habitually resident there. […] Article . Romania undertakes to put no hindrance in the way of the exercise of the right which the persons concerned have, under the Treaties concluded or to be concluded by the Allied and Associated Powers with Austria or Hungary, to choose whether or not they will acquire Romanian nationality. Article . All persons born in Romanian terri Treaty Poland (wie Anm. ),  f.

158

M in d e r h e i te n s c hu t z ve r t rä g e u n te r d e r Ägi d e d e s Vö lke r b u n d s

tory who are not born nationals of another State shall ipso facto become Romanian nationals. In ähnlicher Weise wurden in Art. - bzw. - der beiden Minderheitenschutzverträge die Gleichberechtigung von Minderheiten garantiert und in diesem Zusammenhang auch Angelegenheiten bezüglich der Gründung und der Selbstverwaltung religiöser und sozialer Einrichtungen von Minderheiten sowie des privaten und öffentlichen Schulwesens geklärt: Article . All Polish nationals shall be equal before the law and shall enjoy the same civil and political rights without distinction as to race, language or religion. […] Article . Polish nationals who belong to racial, religious or linguistic minorities shall enjoy the same treatment and security in law and in fact as the other Polish nationals. In particular, they shall have an equal right to establish, manage and control at their own expense charitable, religious and social institutions, schools and other educational establishments, with the right to use their own language and to exercise their religion freely therein. […] Article . Poland will provide in the public educational system in towns and districts in which a considerable proportion of Polish nationals of other than Polish speech are resident adequate facilities for ensuring that in the primary schools the instruction shall be given to the children of such Polish nationals through the medium of their own language. This provision shall not prevent the Polish Government from making the teaching of the Polish language obligatory in the said schools. Article . All Romanian nationals shall be equal before the law and shall enjoy the same civil and political rights without distinction as to race, language or religion. […] Article . Romanian nationals who belong to racial, religious or linguistic minorities shall enjoy the same treatment and security in law and in fact as the other Romanian nationals. In particular, they shall have an equal right to establish, manage and control at their own expense charitable, religious and social institutions, schools and other educational establishments, with the right to use their own language and to exercise their religion freely therein. […] Article . Romania will provide in the public educational system in towns and districts in which a considerable proportion of Romanian nationals of other than Romanian speech are resident adequate facilities for ensuring that in the primary schools the instruction shall be given to the children of such Romanian nationals through the medium of their own language.

 Treaty between the Principal Allied and Associated Powers and Roumania, signed at Paris, December ,  [im Folgenden: Treaty Romania]. In: The American Journal of International Law  (), -, hier  f.  Treaty Poland (wie Anm. ),  f.

159

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

This provision shall not prevent the Romanian Government from making the teaching of the Romanian language obligatory in the said schools. Auf vergleichbare Situationen unterschiedlicher Minderheitengruppen bezog sich der jeweilige Art.  des polnischen und rumänischen Minderheitenschutzvertrags. Während im polnischen Fall damit den Juden der Schutz ihres Sabbats garantiert wurde, gewährte der entsprechende Artikel des rumänischen Vertrags den Gemeinschaften der Szekler und Sachsen in Siebenbürgen eine örtliche Autonomie im Religions- und Schulwesen unter staatlicher Kontrolle: Article . Jews shall not be compelled to perform any act which constitutes a violation of their Sabbath, nor shall they be placed under any disability by reason of their refusal to attend courts of law or to perform any legal business on their Sabbath. This provision however shall not exempt Jews from such obligations as shall be imposed upon all other Polish citizens for the necessary purposes of military service, national defence or the preservation of public order. Poland declares her intention to refrain from ordering or permitting elections, whether general or local, to be held on a Saturday, nor will registration for electoral or other purposes be compelled to be performed on a Saturday. Article . Romania agrees to accord to the communities of the Saxons and Czecklers in Transylvania local autonomy in regard to scholastic and religious matters, subject to the control of the Romanian State. Den rumänischen Besonderheiten angepasst war Art. , durch den Bukarest verpflichtet wurde, allen auf seinem Staatsterritorium lebenden staatenlosen Juden die rumänische Staatsbürgerschaft ohne Berücksichtigung jeglicher Formalitäten zu verleihen: »Romania undertakes to recognise as Romanian nationals ipso facto and without the requirement of any formality Jews inhabiting any Romanian territory, who do not possess another nationality.« Eine ähnliche Bestimmung ist in keinem anderen Minderheitenschutzvertag anzutreffen. Sie resultierte aus der Erkenntnis der internationalen Staatengemeinschaft, dass der Gleichberechtigungsprozess der Juden Rumäniens seit  keinerlei Fortschritte gemacht hatte. Gleich Polen und Rumänien musste auch das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen unter dem Druck der vier alliierten Großmächte ein Minderheitenschutzabkommen unterzeichnen, das von Belgrad gleichfalls als eine starke Einschränkung seiner Souveränität betrachtet wurde. Das jugoslawische König    

Treaty Romania (wie Anm. ), . Treaty Poland (wie Anm. ), . Treaty Romania (wie Anm. ), . Ebd., . Müller, Staatsbürger (wie Anm. , Einleitung), .

160

M in d e r h e i te n s c hu t z ve r t rä g e u n te r d e r Ägi d e d e s Vö lke r b u n d s

reich war insofern ein besonderer Fall, als es sich bei diesem Staatsgebilde um keine Staatsgründung im klassischen Sinn, sondern um einen territorial vergrößerten Nachfolgestaat des bereits vor  existierenden serbischen Königsreichs handelte. Unter Berufung auf den serbischen Vorgängerstaat verlangte die jugoslawische Regierung, dass sich die Minderheitenschutzklausel im Friedensvertag von Saint-Germain-en-Laye mit Österreich und der zusätzliche Minderheitenschutzvertrag nur auf solche Minderheiten beziehen würden, die dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen aus der österreichisch-ungarischen Erbmasse zugefallen waren. Insbesondere wehrte man sich gegen den im Friedensvertrag mit Österreich enthaltenen Art. , der Belgrad zur Einführung von allgemeinen Minderheitenschutzbestimmungen verpflichtete: The Serb-Croat-Slovene State accepts and agrees to embody in a Treaty with the Principal Allied and Associated Powers such provisions as may deemed necessary by these Powers to protect the interests of inhabitants of that State who differ from the majority of the population in race, language or religion. The Serb-Croat-Slovene State further accepts and agrees to embody in a Treaty with the Principal and Allied Associated Powers such provisions as these Powers may deem necessary to protect freedom of transit and equitable treatment of the commerce of other nations. Der profilierte serbische Verfassungsrechtler Slobodan Jovanović, der als Vorsitzender der juristischen Kommission des jugoslawischen Außenministeriums Mitglied der Delegation seines Landes in Paris war, warf den Großmächten vor, mit diesem Vorgehen Jugoslawien wie einen Staat »niedriger Zivilisation« zu behandeln. Gemeinsam mit seinem Delegationschef Nikola Pašić drohten sie, den Friedensvertrag mit Österreich nicht zu unterzeichnen, sollten dem jugoslawischen Königreich von den Großmächten Minderheitenschutzregelungen auferlegt werden. Vor allem widerstrebte es Belgrad, den Bevölkerungen der  in Serbien inkorporierten Vardar-makedonischen und kosovarischen Territorien Minderheitenrechte zuzugestehen. Die jugoslawische Regierung wollte dies auf  Nach den heutigen völkerrechtlichen Typen der Staatensukzession fällt dieser Fall je nach Betrachtungsweise entweder in die Kategorie der »Inkorporation«, also »der Eingliederung eines Staates in einen anderen fortbestehenden Staat unter Verlust seiner bisherigen eigenstaatlichen Existenz«, oder in die eines »Zusammenschlusses zweier oder mehrerer Staaten zu einem neuen Staat unter Aufgabe der Staatlichkeit der Vorgängerstaaten«. Hobe, Einführung (wie Anm. , Einleitung), .  Müller, Staatsbürger (wie Anm. , Einleitung),  f.  Treaty between the Allied and Associated Powers and Austria, signed at St. Germainen-Laye, September , . In: The Treaties of Peace, -. Bd. . Hg. v. Martin Lawrence. New York , -, hier . Siehe auch Gibbons, Herbert Adams: An Introduction to World Politics. New York ,  (Neuauflage der erstmals  veröffentlichten Studie).  Biografija Slobodan Jovanovića. In: Riznica Srpska Književnost, .., http://riznicasrpska.net/knjizevnost/index.php?topic=. (letzter Zugriff: ..).

161

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

jeden Fall vermeiden, da man seit der Eingliederung dieser Gebiete die Position vertrat, dass im sogenannten Südserbien keine Minderheiten existierten. Wie Pašić seinem französischen Kollegen am . September  erklärte, würde ein sich auf Südserbien erstreckendes Minderheitenschutzregime die Einflussmöglichkeiten revisionistischer Mächte, insbesondere Bulgariens, verstärken. Diese Ängste waren nicht unberechtigt. Denn sowohl das offizielle Bulgarien als auch die von makedonisch-bulgarischem Boden aus operierende Innere Makedonische Revolutionäre Organisation (Vnatrešna Makedonska Revolucionerna Organizacija – VMRO) strebten danach, die serbische Herrschaft in Vardar-Makedonien zu untergraben, um die Autonomie dieses Gebiets bzw. dessen späteren Anschluss an Bulgarien zu bewirken. In Anbetracht dieser Situation verlangte Pašić während der Verhandlungen mit den Alliierten, dass das ganze Territorium des Königreichs Serbien, wie es zu Beginn des Krieges bestand, aus dem Gültigkeitsbereich des Minderheitenschutzvertrags ausgenommen würde. Der Präsident der Friedenskonferenz, Clemenceau, lehnte diese Forderung ab. Die Ausklammerung Südserbiens aus dem Minderheitenschutzvertrag hielt er schon allein deshalb für unmöglich, weil einige der für dieses Gebiet vorgesehenen Bestimmungen bereits in der Berliner Schlussakte von  enthalten waren. Serbien hatte sich darin gegenüber seinen nichtchristlichen Minderheiten verpflichtet, diesen die Ausübung ihres Glaubens zu gewähren und die Voraussetzungen für ihre Gleichbehandlung vor dem Gesetz zu schaffen. Letztendlich scheiterte die jugoslawische Delegation in ihren Bemühungen, Vardar-Makedonien und Kosovo aus dem Gültigkeitsbereich des Minderheitenschutzvertrags auszuklammern. Nichtsdestoweniger wollte Belgrad nachträglich eine vermeintlich durch Art.  gewährleistete Ausnahme dieser Gebiete geltend machen. Dieser Artikel, der den Schulunterricht für Mitglieder nationaler, religiöser und sprachlicher Minderheiten regelte, war bis auf seinen letzten Satz nahezu identisch mit dem entsprechenden Artikel der anderen Minderheitenschutzverträge: The Serb-Croat-Slovene Government will provide in the public educational system in towns and districts in which a considerable proportion of SerbCroat-Slovene nationals of other speech than that of the official language are resident adequate facilities for ensuring that in the primary schools the instruction shall be given to the children of such Serb-Croat-Slovene nationals  Zu den jugoslawischen Positionen auf der Pariser Friedenskonferenz siehe Mitrović, Andrej: Jugoslavija na Konferenciji mira -. Belgrad ; Bakić, Dragan: Nikola Pašić and the Foreign Policy of the Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes, . In: Balcanica  (), -; Todorović, Desanka: Jugoslavija i balkanske države, -. Belgrad . Pašić war ursprünglich ein Verfechter einer serbischbulgarischen Föderation. Zur Herausbildung seines bulgarischen Feindbildes infolge des Zweiten Balkankriegs siehe Ristić, Ivan: Nikola Pašić i Bugari: geneza ideoloških i političkih stavova. In: Zbornik Matice srpske za istoriju  (), -.  Evans, Malcom D.: Religious Liberty and International Law in Europe. Cambridge ,  f.

162

M in d e r h e i te n s c hu t z ve r t rä g e u n te r d e r Ägi d e d e s Vö lke r b u n d s

through the medium of their own language. This provision shall not prevent the Serb-Croat-Slovene Government from making the teaching of the official language obligatory in the said schools. In towns and districts where there is a considerable proportion of Serb-Croat-Slovene nationals belonging to racial, religious or linguistic minorities, these minorities shall be assured an equitable share in the enjoyment and application of the sums which may be provided out of public funds under the State, municipal or other budget, for educational, religious or charitable purposes. The provisions of the present Article apply only to territory transferred to Serbia or to the Kingdom of the Serbs, Croats and Slovenes since the st January, . Die serbische Seite interpretierte den letzten Satz, durch den ein rückwirkender Stichtag des Beginns der Geltung der Bestimmungen von Art.  festgelegt wurde, dahingehend, dass Südserbien nicht nur vom territorialen Geltungsbereich des Art. , sondern von allen Minderheitenschutzregeln des Vertrags ausgeklammert worden sei. Diese Auslegung war in zweierlei Hinsicht willkürlich: Zum einen gab es im jugoslawischen Minderheitenschutzabkommen keinen Hinweis darauf, dass die letzte Bestimmung von Art.  auch für die anderen Artikel des Minderheitenschutzvertrags gültig sei. Zum anderen waren im völkerrechtlichen Sinne Vardar-Makedonien und Kosovo erst durch die Unterzeichnung des Bukarester Friedensvertrags vom . Juli bzw. . August , also nach dem in Art.  genannten Stichtag des . Januar , Teile des serbischen Staatsterritoriums geworden. Die serbische Gegenposition berief sich auf das wenig überzeugende Argument, dass für die zeitliche Festlegung der Inkorporation nicht das offizielle Eingliederungsdatum, sondern jenes der militärischen Eroberung Vardar-Makedoniens und des Kosovo durch die serbische Armee entscheidend sei. Tatsächlich hatte diese vor dem Stichtag des . Januar  stattgefunden. Allerdings geht aus dem gesamten Vertragstext eindeutig hervor, dass von Seiten der alliierten Hauptmächte eine Ausklammerung der von Serbien im Zweiten Balkankrieg gewonnenen Gebiete aus dem Minderheitenschutzbereich keineswegs beabsichtigt war. Während der rumänische und polnische Minderheitenschutzvertrag besondere Bestimmungen für die Juden, Siebenbürger Sachsen und Szekler beinhalteten, sah der jugoslawische entsprechende Vorkehrungen zugunsten der Muslime vor. In Art.  ging Belgrad folgende Verpflichtung ein:

 Treaty Between the Principal Allied and Associated Powers and the Serb-Croat-Slovene State, Signed at Saint-Germain-en-Laye, September ,  [Im Folgenden: Treaty Yugoslavia]. In: Yugoslavia through Documents. From its Creation to its Dissolution. Hg. v. Snežana Trifunovska. Dordrecht [u. a.] , -, hier  f.  Müller, Staatsbürger (wie Anm. , Einleitung), .  Sundhaussen, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), .

163

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

The Serb-Croat-Slovene state agrees to grant to the Musulmans in the matter of family law and personal status provisions suitable for regulating these matters in accordance with Musulman usage. The Serb-Croat-Slovene shall take measures to assure the nomination of a Reiss-Ul-Ulema. The Serb-CroatSlovene State undertakes to ensure protection to the mosques, cemeteries and other Musulman religious establishments. Full recognition and facilities shall be assured to Musulman pious foundations (Wakfs [vakıf/vakıflar]) and religious and charitable establishments now existing, and the Serb-Croat-Slovene Government shall not refuse any of the necessary facilities for the creation of new religious and charitable establishments guaranteed to other private establishments of this nature. Wie in den anderen Fällen stand auch das serbische Minderheitenschutzabkommen unter der Garantie des Völkerbundsrats und der alliierten Großmächte. Art.  bestimmte im selben Wortlaut wie in den anderen Minderheitenschutzverträgen Folgendes: The Serb-Croat-Slovene State agrees that the stipulations in the foregoing Articles, so far as they affect persons belonging to racial, religious or linguistic minorities, constitute obligations of international concern and shall be placed under the guarantee of the League of Nations. They shall not be modified without the consent of the Council of the League of Nations. The United States, the British Empire, France, Italy and Japan hereby agree not to withhold their assent from any modification in these Articles which is in due form assented to by a majority of the Council of the League of Nations. The SerbCroat-Slovene State agrees that any member of the Council of the League of Nations shall have the right to bring to the attention of the Council any infraction, or any danger of infraction, of any of these obligations, and that the Council may thereupon take such action and give such directions as it may deem proper and effective in the circumstances. The Serb-Croat-Slovene State further agrees that any difference of opinion as to questions of law or fact arising out of these Articles between the Serb-Croat-Slovene State and any one of the Principal Allied and Associated Powers or any other Power, a member of the Council of the Nations, shall be held to be a dispute of an international character under Article  of the Covenant of the League of Nations. The Serb-Croat-Slovene State hereby consents that any such dispute shall, if the other party thereto demands, be referred to the Permanent Court of International Justice. The decision of the Permanent Court shall be final and shall have the same force and effect as an award under Article  of the Covenant.

 Treaty Yugoslavia (wie Anm. ), .  Ebd.

164

M in d e r h e i te n s c hu t z ve r t rä g e u n te r d e r Ägi d e d e s Vö lke r b u n d s

Ein weiterer südosteuropäischer Staat, dem Minderheitenschutzregelungen auferlegt wurden, war Griechenland, das mit seinem späten Eintritt in den Ersten Weltkrieg auf Seiten der Entente-Mächte sein bereits durch die Balkankriege von / nahezu verdoppeltes Territorium noch einmal signifikant vergrößern konnte. Die beiden Friedensverträge von Neuilly und Sèvres, welche die Siegermächte am . November  und . August  mit Bulgarien und dem Osmanischen Reich abschlossen, bedachten Griechenland mit West- und Ostthrakien und einer zunächst auf fünf Jahre befristeten Verwaltung des Regierungsbezirks von Smyrna (Izmir) in Westkleinasien. Darüber hinaus stellte Italien in einem während der Pariser Konferenz zwischen Rom und Athen vereinbarten Geheimabkommen (»Tittoni-Venizelos-Abkommen«) die Abgabe der Dodekanes mit Ausnahme von Rhodos sowie seine Unterstützung für die griechischen Forderungen bezüglich nordepirotischer Gebiete (heute Südalbanien) in Aussicht. Nach vorgegebenem Muster musste Griechenland am . August in Sèvres ein besonderes Minderheitenschutzabkommen mit den alliierten Großmächten unterzeichnen, das, wie in den vorgenannten Verträgen, neben den »standardisierten« auch solche auf den konkreten griechischen Fall abgestimmte Regelungen beinhaltete. In der hohen Anzahl dieser Sonderregelungen spiegelte sich die ethnische Diversität des epirotischen, makedonischen und thrakischen Nordgriechenland wider. Insbesondere gab es explizite Schutzbestimmungen für die Juden, die Muslime, die Aromunen, aber auch für die nicht-griechischen Mönchsklöster von Athos. Die auf die Juden und Muslime Griechenlands bezogenen Art.  und  ähnelten stark den entsprechenden in den polnischen, rumänischen und jugoslawischen Minderheitenverträgen: Article . In towns and districts where there is resident a considerable proportion of Greek nationals of the Jewish religion, the Greek Government agrees that these Jews shall not be compelled to perform any act which constitutes a violation of their Sabbath, and that they shall not be placed under any disability by reason of their refusal to attend the courts of law or to perform any legal business on their Sabbath. This provision however shall not exempt Jews from such obligations as shall be imposed upon all other Greek nationals for the necessary purposes of military service, national defence or  Treaty of Peace between the Allied and Associated Powers and Bulgaria, signed at Neuilly-sur-Seine, November ,  [im Folgenden: Treaty of Peace Bulgaria]. In: The Treaties of Peace, -. Bd. . Hg. v. Martin Lawrence. New York , , hier - (Art. -).  Treaty of Peace between the Allied and Associated Powers and Turkey, signed at Sèvres, August , . In: ebd., -, hier - (Art. -).  Svolopoulos, Konstantinos: I elliniki exoteriki politiki, -. Bd. . Athen , .  Evans, Religious Liberty (wie Anm. ), .

165

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

the preservation of public order. […] Article . Greece agrees to take all necessary measures in relation to Moslems to enable questions of family law and personal status to be regulated in accordance with Moslem usage. Greece undertakes to afford protection to the mosques, cemeteries and other Moslem religious establishments. Full recognition and all facilities shall be assured to pious foundations (Wakfs [vakıf/vakıflar]) and Moslem religious and charitable establishments now existing, and Greece shall not refuse to the creation of new religious and charitable establishments any of the necessary facilities guaranteed to other private establishments of this nature. In Art.  wurden den rumänischsprachigen Aromunen (Vlachen) des PindosGebirges Autonomierechte zuerkannt nach dem Vorbild des Sonderstatus, den Rumänien seinen Szeklern und Siebenbürger Sachsen zugestanden hatte: »Greece agrees to accord to the communities of the Valachs of Pindus local autonomy, under the control of the Greek state, in regard to religious, charitable or scholastic matters.« Die griechische Delegation hatte während der Vertragsverhandlungen eine einschränkende Modifikation dieser Klausel gefordert. Die Gewährung der Lokal-Autonomie an die Aromunen sollte nur im Falle einer ausdrücklichen Wunschäußerung ihrerseits erfolgen. Dementsprechend schlug die griechische Seite die Ergänzung des ursprünglichen Artikelentwurfs durch einen der beiden Zusätze vor: »As far as they desire« oder »who demanded it through their legal representatives«. Der griechische Vorschlag wurde aber abgelehnt, sodass die ursprüngliche Formulierung, die, wie gesagt, von dem analogen AutonomieArtikel des rumänischen Minderheitenschutzvertrags wörtlich übernommen worden war, unverändert blieb. Trotz des fehlgeschlagenen Versuchs Athens, den definitiven Charakter der Autonomie-Regelung in ein Optionsrecht für die betroffene Gruppe umzuwandeln, stellte Art.  des Minderheitenschutzabkommens aus griechischer Sicht eine Verbesserung gegenüber jenen Verpflichtungen dar, die Griechenland im Bukarester Frieden von  eingegangen war. In der dem damaligen Vertrag angehängten Korrespondenz zwischen Premierminister Eleftherios Venizelos und seinem rumänischen Kollegen Titu Maiorescu war nicht nur eine Autonomie für die aromunischen Schulen und Kirchen Nord-

 Treaty between the Principal Allied and Associated Powers and Greece. Signed at Sèvres, August ,  [im Folgenden: Treaty Greece], Supplement to The American Journal of International Law  () , -, hier .  Ebd., .  D. H. Miller: My Diary at the Peace Conference of Paris. With Documents. Bd. XIII, S. , , , zit. n. Viefhaus, Erwin: Die Minderheitenfrage und die Entstehung der Minderheitenschutzverträge auf der Pariser Friedenskonferenz . Eine Studie zur Geschichte des Nationalitätenproblems im . und . Jahrhundert. Würzburg , .

166

M in d e r h e i te n s c hu t z ve r t rä g e u n te r d e r Ägi d e d e s Vö lke r b u n d s

westgriechenlands vereinbart, sondern dem rumänischen Staat auch das Recht eingeräumt worden, diese Einrichtungen zu finanzieren. Art.  des griechischen Minderheitenschutzvertrags sicherte wiederum den russischen und serbischen orthodoxen Klostergemeinschaften von Athos die Aufrechterhaltung ihres im Berliner Vertrag von  festgelegten Sonderstatus: »Greece undertakes to recognize and maintain the traditional rights and liberties enjoyed by the non-Greek monastic communities of Mount Athos under Article  of the Treaty of Berlin of July , .« Schließlich wurde nach jugoslawischem Vorbild in Art.  des von Griechenland unterzeichneten Abkommens die zeitliche Eingrenzungsbestimmung des . Januar  eingeführt. Einerseits fand dadurch eine Ausklammerung der bereits vor den Balkankriegen zum griechischen Staatsterritorium gehörenden Gebiete aus dem Geltungsbereich der Minderheitenschutzregelungen statt. Andererseits sicherte Art.  Bürgern einer fremden Nationalität, die am Stichtag des . Januar  in den neu inkorporierten Gebieten ansässig waren, das Optionsrecht zu: Article . Greece admits and declares to be Greek nationals ipso facto and without the requirement of any formality Bulgarian or Turkish (or Albanian) nationals habitually resident at the date of the coming into force of the present treaty in territories transferred to Greece by treaties subsequent to January , . Wie die anderen entweder neugegründeten oder sich territorial erweiternden Staaten Ostmittel- und Südosteuropas musste Griechenland in Art.  akzeptieren, dass die vertraglich festgelegten Minderheitenschutzbestimmungen und Autonomierechte unter der Garantie des Völkerbunds standen. Für die Änderung eines Artikels des Minderheitenschutzabkommens war die Zustimmung des Völkerbundsrats notwendig: Greece agrees that the stipulations of the foregoing articles, so far as they affect persons belonging to racial, religious or linguistic minorities, constitute obligations of international concern and shall be placed under the guarantee of the League of Nations. They shall not be modified without the assent of a majority of the Council of the League of Nations. The United States, the British Empire, France, Italy and Japan hereby agree not to withhold their assent from any modification in these articles which is in due form assented to by a majority of the Council of the League of Nations.

 Divani, Lena: Ellada kai meionotites. To systima diethnous prostasias tis Koinonias ton Ethnon. . Aufl. Athen ,  f.  Treaty Greece (wie Anm. ), .  Ebd., .  Ebd.,  f.

167

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

Das Minderheitenschutzsystem des Völkerbunds war insofern »konventionell« und mit anderen völkerrechtlichen Grundsätzen vergleichbar, als seine Wirksamkeit »von der Umsetzung der Staatsverträge in das innerstaatliche Recht« abhängig war. Diese Abhängigkeit spiegelte »das klassische Verhältnis von Völkerrecht zu Landesrecht« wider. Historisch neu war indes die von der Staatengemeinschaft übernommene Garantie für die praktische Umsetzung des völkerrechtlich festgelegten Minderheitenregimes. Hierin lag, wie der Präsident der Pariser Friedenskonferenz, Clemenceau, dem polnischen Vertreter Ignacy Jan Paderewski in seinem besagten Schreiben vom . Juni  erklärte, auch der große Unterschied zur vorherigen Situation: Under the older system the guarantee for the execution of similar provisions was vested in the Great Powers. Experience has shown that this was in practice ineffective, and it was also open to the criticians that it might give to the Great Powers, either individually or in combination, a right to interfere in the internal constitutions of the States affected, which could be used for political purposes. Under the new system, the guarantee is entrusted to the League of Nations. Aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte und Funktion trugen die auf der Pariser Friedenskonferenz ausgearbeiteten Minderheitenschutzverträge einen markanten ostmittel- und südosteuropäischen Stempel. Dem Historiker Hermann Weber zufolge war »der Minderheitenschutz als konkretes Verfahrenskonstrukt des Völkerbunds das Ergebnis der Pariser Friedenskonferenz / vor dem Hintergrund des . Weltkriegs und seiner Vorgeschichte auf dem Balkan«. Seine Begründung für diese Aussage lautet wie folgt: Im Verlauf des . und . Balkankriegs (/) waren Millionen von Bulgaren, Griechen und Muslime aus Westthrazien, Griechenland und aus Kleinasien vertrieben worden.  wurden Hunderttausende von Armeniern Opfer türkischer Massaker und Deportationen in die syrische Wüste. Der Untergang zahlreicher Minderheiten und die Kollektivausweisungen ganzer Bevölkerungsteile auf dem Balkan und in Kleinasien hatte[n] die Pariser Friedenskonferenz für den Schutz von Minderheiten sensibilisiert. Laut Weber sei die regionale Prägung des unter der Ägide des Völkerbunds entstandenen Minderheitenschutzes besonders am Minderheitenverständnis der Friedenskonferenz zu erkennen. Denn dieses »orientierte sich am Nationalitätenkonflikt des . Jahrhunderts, wie er sich besonders in Ost- und Südosteuropa herausgebildet hatte, und damit an der Tatsache, dass die Nationalitätenbewegungen ihre politischen Vorstellungen vor allem am Gedanken des  Ermacora, Minderheiten (wie Anm. ), .  Draft of the Covering Letter to Be Addressed to M. Paderewski (wie Anm. ), .  Weber, Der Minderheitenschutz (wie Anm. ), .

168

M in d e r h e i te n s c hu t z ve r t rä g e u n te r d e r Ägi d e d e s Vö lke r b u n d s

Nationalstaats ausrichteten und den Modellen eines multinationalen Zusammenlebens im Rahmen eines föderativen Staatsaufbaus eher ablehnend gegenüberstanden«. Ähnlich argumentiert auch die Völkerrechtlerin Li-Ann Thion, die den Minderheitenschutzverträgen des Völkerbunds ebenso einen osteuropäischen Zuschnitt attestiert: The Versailles settlement focused on localised minorities’ situations in Central and Eastern Europe. Accordingly, the minorities’ regime bore the character of a particular international law, with the instruments referring to particular states and in some cases, naming specific minorities. References to »minorities« in the treaty texts were descriptive, rather than a defined legal category. Zum selben Ergebnis gelangt der kanadische Völkerrechtler Umut Özsu, wenn er bei der Architektur des Minderheitenschutzsystems des Völkerbunds eine osteuropäische Prägung diagnostiziert, die er als die Folge der direkten Reaktion des Westens auf die ethnologische Situation, die staatliche Neuordnung und die verspätete Nationsbildung in der östlichen Hälfte Europas interpretiert: Minority protection was not designed to apply to the war’s principal victors, or indeed to any Western powers at all – a structural bias made manifest in the fact that its normative architecture was clearly developed in reference to eastern Europe. […] If minority protection came after  to be seen as a necessary precondition for statehood, this was only inasmuch as the state to which recognition was to be extended was always already assumed to deviate from dominant Western paradigms of national statehood. Centuries of state-formation in western Europe, frequently involving massive forced migration, has generated societies with more or less cohesive national identities. Where nationhood had not been »achieved«, though, minority protection was to provide a palliative. Auch der britische Historiker Matthew Frank teilt die Einschätzung hinsichtlich eines Minderheitenschutzsystems des Völkerbunds osteuropäischen Zuschnitts, das letztendlich von westlichen Staatsführern konzipiert worden sei: The decision in  to impose geographically limited minority rights on the eastern half of the Continent and not to adopt a universal system of international protection helped define the minority question – and the solutions that would emerge for dealing with it – as an »eastern« problem that set the »other Europe« apart from, and well behind, the older and more established nation states of western Europe. […] The minorities treaties remained documents of  Ebd., .  Thion, Li-Ann: Managing Babel. The International Legal Protection of Minorities in the Twentieth Century. Leiden [u. a.] , .  Özsu, Formalizing (wie Anm. , Kap. ),  f.

169

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

eastern European backwardness and inferiority, a reminder that in the eyes of the victorious western European great powers the states and national elites of the region could not be trusted to behave appropriately towards their own citizens.

Das Petitionsverfahren

Dreh- und Angelpunkt im Minderheitenschutzsystem der Zwischenkriegszeit war die während der Pariser Friedensverhandlungen ausgehandelte völkerrechtliche Garantie des Völkerbunds. Ursprünglich war das Minderheitenschutzverfahren im Völkerbund so angelegt, dass dieses bei Minderheitenrechtsverletzungen nur von einem Mitglied des Völkerbundsrats aktiviert werden konnte. Konkret hieß es in den Minderheitenschutzverträgen, die den ostmittel- und südosteuropäischen Staaten aufgezwungen worden waren, dass »jedes Mitglied des Völkerbundsrats das Recht hat, den Rat auf jede Verletzung, oder Gefahr von Verletzung einer dieser Verpflichtungen aufmerksam zu machen, und dass der Rat daraufhin auf so eine Weise tätig werden und solche Anordnungen geben kann, die er den Umständen für angemessen und für effektiv erachtet«. Im weiteren Verlauf konnten der Völkerbundsrat und die Vollversammlung der Vertreter aller Mitgliedstaaten im Fall einer Meinungsverschiedenheit in der Auslegung einer Minderheitenbestimmung den PCIJ anrufen und von ihm diesbezüglich eine rechtliche Stellungnahme bzw. ein Gutachten einfordern. Dieses Verfahren beruhte auf Art.  der Satzung des Völkerbunds, dem zufolge »das Gericht auch ein Gutachten zu jedem Disput oder zu jeder Anfrage abgeben kann, zu dessen bzw. zu deren Klärung er vom Rat oder von der Vollversammlung angerufen wurde«. Die einen Minderheitenschutzvertrag unterzeichnet habenden Staaten hatten darüber hinaus akzeptiert, dass eine Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen und »einer der Haupt- und Alliierten Mächte oder jeder anderen Macht, die Mitglied des Völkerbundsrats ist, als ein Disput internationalen Charakters nach Art.  betrachtet« und dem »PCIJ vorgelegt werden kann, wenn es die andere Seite verlangt«. Schließlich mussten sie zustimmen, dass die Entscheidung des PCIJ endgültigen Charakter und dieselbe Rechtswirkung »wie ein Urteil nach Art.  der Konvention« habe. Diesen Bestimmungen zufolge waren also allein die Ratsmitglieder mit dem Recht aus Frank, Matthew: Making Minorities History: Population Transfer in TwentiethCentury Europe. Oxford , .  Siehe z. B. Art.  Abs.  des griechischen Minderheitenschutzvertrags. Treaty Greece (wie Anm. ),   The Covenant (wie Anm. ), .  Siehe z. B. Art.  Abs.  des griechischen Minderheitenschutzvertrags. Treaty Greece (wie Anm. ), .

170

Da s P e ti tio n s ve r fa h re n

gestattet, eine Beschwerde bezüglich einer Minderheitenschutzangelegenheit direkt vor den Völkerbundsrat zu bringen. Die nicht im Rat vertretenen Staaten konnten nur auf indirektem Weg eine Anzeige erstatten, das heißt über ein Ratsmitglied, das dann die Beschwerde als seine eigene dem Rat vorlegte. In derselben Position befanden sich auch die betroffenen Minderheiten. Zwar konnten sie eine Beschwerde an ein Ratsmitglied kommunizieren, dennoch stand der Empfänger nicht in der Pflicht, diese Klage an den Völkerbundsrat weiterzuleiten bzw. als seine eigene einzureichen. Dies alles wurde in einem Bericht festgehalten, der vom Italiener Tommaso Tittoni in seiner Funktion als Rapporteur des Völkerbunds für Minderheitenfragen in Zusammenarbeit mit dem Direktor der Minderheitenabteilung des Völkerbundssekretariats, Erik Colban, verfasst und im Oktober  dem Völkerbundsrat vorgelegt wurde. Letzterer nahm den sogenannten Tittoni-Bericht ohne Gegenstimmen in einer Resolution an. Am Ende der Resolution wurden die Ratsmitglieder aufgefordert, »die Aufmerksamkeit ihrer Regierungen auf die in diesem Bericht dargelegten Schlussfolgerungen zu lenken.« Schon bald nach dem Inkrafttreten der Minderheitenschutzverträge wurde deutlich, dass die im Tittoni-Bericht beschriebene Verfahrensordnung, die allein auf dem Initiativrecht der einzelnen Mitglieder im Völkerbundsrat basierte, ineffektiv war. Zur Verbesserung des Systems schlug der belgische Vertreter bei der Friedenskonferenz, Paul Hymans, die Einführung eines Dreierkomitees vor, das die beim Völkerbund eingegangenen Petitionen entgegennehmen, prüfen und entweder dem Rat zur weiteren Untersuchung vorlegen oder als unzulässig ablehnen würde. Hymans begründete seinen Vorschlag mit dem Hinweis darauf, dass sich die Mitglieder des Völkerbundsrats davor scheuten, den bei ihnen eingereichten Beschwerden nachzugehen, um nicht mit den betroffenen Staaten in Konflikt zu geraten. Dieses Problem wollte Hymans durch die Schaffung des dreiköpfigen Komitees lösen, das immer dann einzuberufen wäre, wenn eine Petition eingereicht würde. Dieses Ad-hoc-Gremium sollte sich aus dem Präsidenten des Völkerbundsrats und zwei weiteren, jedes Mal von ihm neubestimmten Ratsmitgliedern zusammensetzen. Die Mitglieder durften weder aus dem angeklagten Staat kommen noch aus dessen Nachbarstaaten noch einem Land, in dem die Mehrheitsbevölkerung dieselbe Sprache wie die klagende Minderheit sprechen würde. Hymans konnte mit Unterstützung des britischen Delegationsführers beim Völkerbund Arthur James Balfour (. Earl of Balfour) seinen Vorschlag gegen die ihm widersprechenden Colban und Tittoni durchsetzen, die in

 Scheuermann, Minderheitenschutz (wie Anm. ),  f.  Le Conseil invite ses Membres à attire d’une manière toute spécial l’attention de leurs Gouvernements sur les conclusions exposées dans le rapport, zit. n. Gütermann, Das Minderheitenschutzverfahren (wie Anm. ), .

171

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

einem solchen Vorgehen eine Einschränkung des besagten Initiativrechts eines jeden Ratsmitglieds befürchteten. Das auf der Grundlage des Vorschlags von Hymans eingerichtete Petitionsverfahren ermöglichte den Minderheiten, eine Beschwerde beim Generalsekretariat des Völkerbunds einzureichen. Nach einer ersten Prüfung der eingegangenen Klage durch das Sekretariat leitete man diese bei Erfüllung der formalen Voraussetzungen kommentarlos an den Rat weiter. Andernfalls wurde das Verfahren direkt eingestellt, ohne darüber die klagende Minderheit zu informieren. Erreichte die Petition den Rat, dann nahm dieser mit der Regierung des Staates, gegen den sich die Klage der Minderheit richtete, Kontakt auf mit der Forderung, innerhalb von zwei Monaten dazu Stellung zu beziehen. Diese Maßnahme hatten die an Minderheitenschutzverträge gebundenen Staaten, insbesondere Polen und die Tschechoslowakei, durchgesetzt, da sie einen Imageschaden aufgrund der beim Rat eingehenden Petitionen befürchteten. Wenn in der Stellungnahme des betroffenen Staates Einwände faktischer oder rechtlicher Natur erhoben wurden, berief der Völkerbundsrat das besagte Dreierkomitee ein, um die vorgelegten Dokumente zu prüfen, einen Bericht über den Streitfall zu erstellen und diesen erneut der betroffenen Regierung zur Kommentierung vorzulegen. In der Zwischenzeit leitete man ex officio die von der Minderheit eingereichte Petition sowie die erste Stellungnahme der Regierung an die Ratsmitglieder weiter. Auch Mitglieder der Generalversammlung hatten die Möglichkeit, Einsicht in das bereitgestellte Material zu nehmen. In einer großen Anzahl der Streitfälle übernahm das Dreierkomitee in seinem Bericht die Ansicht des angeklagten Staates, was auch das unverzügliche Ende des Verfahrens herbeiführte, da die klagende Minderheit über kein Anfechtungsrecht verfügte. Im Gegensatz dazu konnte die betroffene Regierung mehrere Änderungsvorschläge unterbreiten, wenn sie mit dem Bericht nicht einverstanden war. Käme der Rat dennoch zum Ergebnis, dass die Behandlung einer Petition völkerrechtliche Expertise verlangte oder dass es unmöglich wäre, mit dem betroffenen Staat zu einer Einigung zu gelangen, dann wurde der Fall an de PCIJ weitergegeben. Allerdings mussten dazu alle Ratsmitglieder ihre Zustimmung geben. Es lag u. a. auch an diesem Kriterium des einstimmigen Ratsbeschlusses, dass letztendlich nur wenige Fälle von Minderheitenrechtsverletzungen vor das »Weltgericht« kamen. Der PCIJ verfasste in der Zeit seines Bestehens von September  bis April  zehn Gutachten und fällte sechs Urteile zu Streitigkeiten mit einem direk Ebd., -; Scheuermann, Minderheitenschutz (wie Anm. ), .  Ebd., ; Kovács, The Protection (wie Anm. ), -; Paech, Norman/Stuby, Gerhard: Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen, aktualisierte Ausgabe. Hamburg , -; Meijknecht, Anna: Minority Protection System between World War I and World War II. In: Max Planck Encyclopedia of Public International Law (letzte Aktualisierung: Oktober ), http://opil.ouplaw. com/view/./law:epil//law--e?rskey=ugwUmd &result=&prd=EPIL (letzter Zugriff: ..).

172

Da s P C I J - G u t a c h te n im Fall E xc h a n g e of G re e k a n d Tu r ki s h P o p ula tio n s

ten oder indirekten Minderheitenbezug. Bemerkenswerterweise waren alle  Streitfälle geographisch im östlichen Europa lokalisiert, davon wiederum fünf in Südosteuropa. Im Hinblick auf den Gegenstand der Minderheitendispute, mit denen sich der Völkerbundsrat und der PCIJ zu befassen hatten, lassen sich diese in sechs Kategorien unterteilen: a) Landkonfiszierungen oder Beschränkungen in der Nutzung von Land im Rahmen von Agrarreformen, insbesondere Art und Umfang von Enteignungen und Entschädigungen; b) Behinderung des Betriebs von Minderheitenschulen; c) Eingriffe in die Autonomieverwaltung von Minderheiten; d) Einschränkungen der Religionsfreiheit; e) Druckausübung auf Minderheitenangehörige zur Aufgabe ihrer Muttersprache; und schließlich f ) Staatsangehörigkeitsprobleme einzelner Individuen oder auch ganzer Gruppen. Etliche der Gutachten und Urteile des PCIJ zu diesen Fällen waren, wie gesagt, für die Fortbildung des Völkerrechts von großer Bedeutung. Anschließend sollen die Stellungnahmen des PCIJ in drei südosteuropäischen Streitfällen ausführlich besprochen und der Frage nachgegangen werden, wie diese zur Weiterentwicklung des völkerrechtlichen Minderheitenschutzes beitrugen. Das PCIJ-Gutachten im Fall Exchange of Greek and Turkish Populations: Ein neuer Kurs in der Rechtsprechung des Gerichts

Der am . August  zwischen den alliierten und assoziierten Mächten und der Türkei abgeschlossene Vertrag von Sèvres sah u. a. vor, dass die Hafenstadt Smyrna (Izmir) und die umliegenden kleinasiatischen Gebiete (Provinz Aydin) einer vorübergehenden Verwaltung Griechenlands unterstellt würden. Nach fünf Jahren sollte in dem von der griechischen Armee kontrollierten Territorium ein Referendum über die Eingliederung von Smyrna (Izmir) und der umliegenden Umgebung in das Königreich Griechenland stattfinden:

 Gutachten zu Minderheitendisputen: Settlers of German Origin in Poland; Acquisition of Polish Nationality; Exchange of Greek and Turkish Populations; Interpretation of the Greco-Turkish Agreement of  December ; Greco-Bulgarian Communities; Access to German Minority Schools in Upper Silesia; Treatment of Polish Nationals and Other Persons of Polish Origin or Speech in the Danzig territory; Interpretation of the Greco-Bulgarian Agreement of  December ; Minority Schools in Albania. Urteile zu minderheitenbezogenen Streitigkeiten: Certain German Interests in Polish Upper Silesia (Germany v Poland); Factory at Chorzów; Rights of Minorities in Upper Silesia (Minority Schools) (Germany v Poland); Interpretation of the Statute of the Memed Treaty (UK v Lithuania); Administration of Prince von Pless (Germany v Poland); Polish Agrarian Reform and German Minority (Germany v Poland). Kovács, The Protection (wie Anm. ), .  Ebd., ; Gütermann, Das Minderheitenschutzverfahren (wie Anm. ), -.

173

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

Article . The city of Smyrna and the territory defined in Article  remain under Turkish sovereignty. Turkey, however, transfers to the Greek Government the exercise of her rights of sovereignty over the city of Smyrna and the said territory. In witness of such sovereignty the Turkish flag shall remain permanently hoisted over an outer fort in the town of Smyrna. The fort will be designated by the Principal Allied Powers. Article . The Greek Government will be responsible for the administration of the city of Smyrna and the territory defined in Article , and will effect this administration by means of a body of officials which it will appoint specially for the purpose. Article . The Greek Government shall be entitled to maintain in the city of Smyrna and the territory defined in Article  the military forces required for the maintenance of order and public security. Article . A local parliament shall be set up with an electoral system calculated to ensure proportional representation of all sections of the population, including racial, linguistic and religious minorities. Within six months from the coming into force of the present Treaty the Greek Government shall submit to the Council of the League of Nations a scheme for an electoral system complying with the above requirements; this scheme shall not come into force until approved by a majority of the Council. The Greek Government shall be entitled to postpone the elections for so long as may be required for the return of the inhabitants who have been banished or deported by the Turkish authorities, but such postponement shall not exceed a period of one year from the coming into force of the present Treaty. […] Article . When a period of five years shall have elapsed after the coming into force of the present Treaty the local parliament referred to in Article  may, by a majority of votes, ask the Council of the League of Nations for the definitive incorporation in the Kingdom of Greece of the city of Smyrna and the territory defined in Article . The Council may require, as a preliminary, a plebiscite under conditions which it will lay down. In the event of such incorporation as a result of the application of the foregoing paragraph, the Turkish sovereignty referred to in Article  shall cease. Turkey hereby renounces in that event in favour of Greece all rights and title over the city of Smyrna and the territory defined in Article . Briten, Franzosen und US-Amerikaner hatten bereits vor Abschluss des Friedensvertrags von Sèvres griechischen Truppen erlaubt, in Smyrna (Izmir) zu landen, um für Ordnung in der Stadt und vor allem für die Sicherheit der christlichen Bevölkerung zu sorgen. Griechenland wurde von Seiten der Alliierten gegenüber Italien, das ebenfalls das Gebiet um Smyrna (Izmir) besetzen wollte, Vorrang gegeben. Während sich Rom bei seinen Ansprüchen auf das Abkommen von Saint-Jean-de-Maurienne aus dem Jahr  berief, in dem die umstrittenen  Treaty of Peace between the Allied Powers and Turkey, Signed at Sèvres. In: The American Journal of International Law  ()  [Supplement], -, hier -.

174

Da s P C I J - G u t a c h te n im Fall E xc h a n g e of G re e k a n d Tu r ki s h P o p ula tio n s

Gebiete der italienischen Einflusssphäre zugesprochen worden waren, griff Athen auf ethnisch-religiöse Argumente, nämlich auf die Präsenz circa einer Million griechisch-orthodoxer Christen in Westanatolien, zurück. Einer Denkschrift des britischen Kriegsministeriums zufolge trafen die Alliierten ihre Entscheidung zugunsten Griechenlands auf der Grundlage des Nationalitätenprinzips und des Selbstbestimmungsrechts der Völker: The handing over of nearly a million Greeks in western Asia Minor to Italian rule would be a gross violation of the principles of nationality and self-determination, and would perpetuate hatred between Italy and Greece, with the certainty of more irredentist agitations, suppressed or open rebellion, and finally war. Am . Mai  marschierten rund . griechische Soldaten in Smyrna (Izmir) ein. Die türkische Empörung über die Besetzung Smyrnas (Izmirs) und der umliegenden Gebiete war groß. Schnell formierte sich ein von General Mustafa Kemal Pascha (Atatürk) organisierter Widerstand gegen die griechische Präsenz in Kleinasien. Bereits Ende September  unterlag fast ganz Anatolien mit Ausnahme des durch Griechenland besetzten Territoriums der Kontrolle der Armee Kemals. Nach der britischen Besetzung Konstantinopels (Istanbuls) im März  brachen die türkischen Nationalisten mit der Sultansregierung. Das von ihnen in Ankara eingerichtete Parlament lehnte die Bedingungen des Vertrags von Sèvres sowie den Sultan und seine Regierung als legitime Vertreter des türkischen Volkes ab. In Anbetracht der geringen alliierten Truppenstärke auf türkischem Boden wurden im Frühjahr  die in Kleinasien stationierten griechischen Truppen mit der Durchsetzung des Vertrags von Sèvres beauftragt. Daraufhin drang die griechische Armee rund  Kilometer ins Landesinnere vor, wo sie auf den erbitterten Widerstand der türkischen Verbände stieß. Nach einem abgewehrten Vorstoß der Griechen in Richtung Ankara gingen die Truppen Kemals zum siegreichen Gegenangriff über. Die türkische Einnahme Smyrnas (Izmirs) im Spätsommer  wurde von Massakern an orthodoxen Christen, Plünderungen, der Brandschatzung der griechischen und armenischen Stadtviertel und schließlich der Vertreibung der christlichen Bevölkerung Kleinasiens begleitet. Bis zu einer Million osmanischer Staatsbürger griechisch-ortho-



Banken, Roland: Die Verträge von Sèvres  und Lausanne . Eine völkerrechtliche Untersuchung zur Beendigung des Ersten Weltkrieges und zur Auflösung der sogenannten »Orientalischen Frage« durch die Friedensverträge zwischen den alliierten Mächten und der Türkei. Berlin , .  George, David Lloyd: The Truth about the Peace. Bd. . London , , zit. n. ebd.  Ebd.,  f.; Gerwarth, Robert: Die Besiegten: Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs. Berlin , - (Originalausgabe: The Vanquished. Why the First World War Failed to End, -. London ).

175

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

doxen Bekenntnisses wurden unter chaotischen Bedingungen zur Flucht nach Griechenland gezwungen. Die Konvention von Lausanne, die am . Januar  zwischen Griechenland und der Türkei unterzeichnet und einen Bevölkerungsaustausch zwischen den beiden Ländern festlegte, war in vielerlei Hinsicht innovativ und sollte in den kommenden Jahrzehnten trotz der anfänglich heftigen Kritik wegen ihrer Inhumanität zu einem Vorbild für vertraglich geregelte Bevölkerungstransfers werden. Im Vergleich zu vorausgegangenen ähnlichen Abkommen war die Lausanner Konvention der erste Vertragstext, der einen obligatorischen Bevölkerungsaustausch zwischen zwei benachbarten Staaten vorsah. Außerdem war die Tatsache, dass die Konvention unter der Ägide des Völkerbunds ausgehandelt und anschließend in die Praxis umgesetzt wurde, von besonderer Bedeutung. Mit der nachträglichen Legitimierung der Vertreibung der griechisch-orthodoxen Bevölkerung Westanatoliens sowie durch die im Vertragstext vorgeschriebene Umsiedlung von circa . Muslimen aus Griechenland in die Türkei leitete die Konvention einen neuen Umgang in der völkerrechtlichen Behandlung von ethnischen Säuberungen, aber auch von Minderheitenproblemen im Allgemeinen ein. In Kapitel  der vorliegenden Arbeit wird die Entstehungsgeschichte der Lausanner Konvention noch einmal ausführlicher dargestellt und ihre Vorbildfunktion für zukünftige Bevölkerungstransfers gesondert untersucht. Im Folgenden geht es ausschließlich um die Befassung des PCIJ mit einer Ausnahmeregelung der Konvention, welche die sogenannten griechischen Einwohner Konstantinopels (Istanbuls) betraf und zu deren Auslegung Griechenland und die Türkei unterschiedliche Auffassungen vertraten. Das vom PCIJ diesbezüglich verfasste Gutachten war, wie weiter unten noch gezeigt wird, in mehrerlei Hinsicht von besonderer völkerrechtlicher Bedeutung. In den Verhandlungen auf der Lausanner Friedenskonferenz hatte die von Eleftherios Venizelos angeführte griechische Delegation darauf bestanden, dass die Angehörigen der griechisch-orthodoxen Gemeinde in Konstantinopel (Istanbul) vom obligatorischen Bevölkerungsaustausch ausgenommen wurden. Im Gegenzug dafür müsste Athen den rund . Muslimen Westthrakiens ebenso ein Bleiberecht einräumen. Aus dem Bevölkerungstransfer ausgenommen wurden nachträglich durch Art.  des am . Juli  zwischen der Türkei und Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan, Griechenland, Rumänien und  Calic, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung),  f.  Siehe dazu ausführlicher unter Kapitel .  Barutciski, Michael: Lausanne Revisited: Population Exchanges in International Law and Policy. In: Crossing the Aegean. An Appraisal of the  Compulsory Population Exchange Between Greece and Turkey. . Aufl. Hg. v. Renée Hirschon. New York [u. a.] , -, hier ; Hirschon, Renée: Preface. In: ebd., x-xvii, hier x. Zu Zeugenaussagen von nach Griechenland geflüchteten oder infolge der Lausanner Konvention umgesiedelten kleinasiatischen orthodoxen Christen und deren Nachkommen siehe Yalçın, Kemal: Emanet Çeyiz: Mübadele İnsanları. Istanbul .

176

Da s P C I J - G u t a c h te n im Fall E xc h a n g e of G re e k a n d Tu r ki s h P o p ula tio n s

dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen abgeschlossenen Friedensvertrags von Lausanne auch die circa . griechisch-orthodoxen Christen, die auf den beiden, am Eingang der Dardanellen gelegenen Inseln Imvros (Gökceada) und Tenedos (Bozcaada) lebten. Art.  der bereits am . Januar  von Griechenland und der Türkei unterzeichneten Lausanner Konvention bestimmte durch die Festlegung eines Stichtags die Personen, die das Recht hatten, vom obligatorischen Bevölkerungsaustausch ausgenommen zu werden: Article . The following persons shall not be included in the exchange provided for in Article : (a) The Greek inhabitants of Constantinople. (b) The Moslem inhabitants of Western Thrace. All Greeks who were already established before the October , , within the areas under the Prefecture of the City of Constantinople, as defined by the law of , shall be considered as Greek inhabitants of Constantinople. All Moslems established in the region to the east of the frontier line laid down in  by the Treaty of Bucharest shall be considered as Moslem inhabitants of Western Thrace. Der Stichtag des . Oktober  war eine Forderung, die von türkischer Seite erhoben wurde, um zu verhindern, dass auch die etwa . bis . erst während der britischen Besetzung Konstantinopels (Istanbuls) niedergelassenen griechischen Staatsbürger ein Bleiberecht geltend machten. Die in Art.  enthaltene erklärende Bestimmung im Hinblick auf die Frage, wer als »griechischer Einwohner von Konstantinopel« zu betrachten sei, nämlich derjenige, der sich in der Stadt vor dem . Oktober  niedergelassen hatte, bildete nach Ratifizierung des Abkommens einen Streitgegenstand zwischen Athen und Ankara, dessen Einzelheiten hier anschließend zu besprechen sind. Nach Art.  der Lausanner Konvention war für die Überwachung der Umsetzung des vereinbarten Bevölkerungstransfers eine elfköpfige gemischte Kommission zuständig, die  »Article . The islands of Imbros [Imvros] and Tenedos, remaining under Turkish sovereignty, shall enjoy a special administrative organisation composed of local elements and furnishing every guarantee for the native non-Moslem population in so far as concerns local administration and the protection of person and property. The maintenance of order will be assured therein by a police force recruited from amongst the local population by the local administration above provided for and placed under its orders. The agreements which have been, or may be concluded between Greece and Turkey relating to the exchange of the Greek and Turkish populations will not be applied to the inhabitants of the islands of Imbros [Imvros] and Tenedos.« Peace Treaty with Turkey, July , . In: Grewe, Fontes Historiae Iuris Gentium. Bd. / (wie Anm. ), -, hier .  No. , Greece and Turkey. Convention Concerning the Exchange of Greek and Turkish Populations and Protocol, signed at Lausanne, January ,  [im Folgenden: Lausanne Convention]. In: League of Nations. Treaty Series. Publication of Treaties and International Engagements Registered with the Secretariat of League of Nations. Bd. . Hg. v. League of Nations. Genf , -, hier .  Banken, Die Verträge (wie Anm. ), .

177

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

sich aus Vertretern der beiden Signatarstaaten und des Völkerbundsrats zusammensetzte. Diese Kommission musste unter Anwendung von Art.  auch darüber entscheiden, wer von den orthodoxen Griechen Konstantinopels (Istanbuls) ein Bleiberecht genieße und wer in den Bevölkerungsaustausch einzubeziehen sei. Die Vertreter der beiden Regierungen in der Kommission vertraten entgegengesetzte Positionen. Insbesondere die türkische Seite wollte unter Berufung auf die nationale Gesetzgebung nur jene Griechen als »niedergelassen/ansässig« (eng. »established«, franz. »établis«) anerkennen und ihnen ein Bleiberecht einräumen, die sich nach einem osmanischen Gesetz aus dem Jahr  in einem Melderegister eingetragen hatten. Die griechischen Mitglieder der Kommission vertraten hingegen die Position, dass nicht die Erfüllung melderechtlicher Formalitäten, sondern der von Fall zu Fall unterschiedlich zu erbringende Nachweis eines ständigen Wohnsitzes in Konstantinopel (Istanbul) vor dem . Oktober  das ausschlaggebende Kriterium sein sollte. Da innerhalb der Kommission keine Einigkeit erreicht werden konnte und die Türkei mit der Aussiedlung der nicht angemeldeten Konstantinopler Griechen begann, wandte sich Athen mit dem strittigen Sachverhalt an den Völkerbundsrat. Dieser rief wiederum am . Dezember  den PCIJ an, ein Gutachten dazu zu verfassen. Insbesondere wurden die Richter vom Rat ersucht, eine Stellungnahme zu folgenden zwei Fragen abzugeben: The Council of the League of Nations, having been asked by the Mixed Commission for the Exchange of Greek and Turkish populations to obtain from the Permanent Court of International Justice an Advisory Opinion on the dispute regarding the interpretation of Article  of the Convention on the Exchange of Greek and Turkish populations, signed at Lausanne on January th, , has decided to ask the Permanent Court of International Justice to give an advisory opinion on the following question. »What meaning and scope should be attributed to the word ›established‹ in Article  of the Convention of Lausanne of January th, , regarding the exchange of Greek and Turkish populations, in regard to which discussions have arisen and arguments have been put forward which are contained in the documents communicated by the Mixed Commission? And what conditions must the persons who are described in Article  of the Convention of Lausanne under the name of ›Greek inhabitants of Constantinople‹ fulfil in order that they may

 Lausanne Convention (wie. Anm. ), .  Banken, Die Verträge (wie Anm. ), .  Leontiades, Leonidas: Der griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch. In: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht  (), -, hier  f.

178

Da s P C I J - G u t a c h te n im Fall E xc h a n g e of G re e k a n d Tu r ki s h P o p ula tio n s

be considered as ›established‹ under the terms of the Convention and exempt from compulsory exchange?« Die beiden Streitparteien, Griechenland und die Türkei, wurden daraufhin vom PCIJ aufgefordert, dem Gericht Memoranden mit ihren Positionen vorzulegen und auch mündlich die von ihnen vertretenen Standpunkte vorzutragen. Nach türkischer Ansicht musste der Status eines in Konstantinopel (Istanbul) »niedergelassenen/ansässigen« Griechen nicht nur auf der Grundlage des besagten Art.  der Lausanner Konvention, sondern auch unter Berücksichtigung von zwei osmanischen Gesetzen aus den Jahren  und  definiert werden. Ankara versprach sich von der Heranziehung der nationalen Gesetzgebung, die Zahl der von der zwangsweisen Umsiedlung ausgenommenen Istanbuler Griechen reduzieren zu können. Dem türkischen Vertreter und späteren Präsidenten der Bundesversammlung des Völkerbunds, Tevfik Rüștü Aras Bey, zufolge würde die Nichtberücksichtigung der nationalen Legislation die souveränen Rechte der Türkei verletzten. Seine Argumentation vor dem PCIJ lautete folgendermaßen: There is in Turkey a law regarding persons »established«. This law applies without distinction to minorities as well as to the majority of the country. It is obvious that to attempt for any reason to suspend the application of this law to any portion of the citizens of a country is tantamount to granting such citizens a privilege and also to an infringement of the rights of other minorities and of the majority. Until it is proved that under the terms of the Convention this law must be modified or suspended, it cannot be touched without infringing the sovereign rights of Turkey and the Turkish nation. [A]ny decision or act involving the non-observance of the laws of a country by its citizens, will lead to administrative anarchy and may affect the domestic peace of the country concerned. Die griechische Gegenposition vor dem PCIJ vertrat der international anerkannte Völkerrechtler und frühere griechische Außenminister Nikolaos Politis. Dieser argumentierte dahingehend, dass der Begriff »niedergelassen/ansässig« (»established«) eigenständig und ausschließlich im Rahmen der Lausanner Konvention definiert werden müsse und keineswegs im Zusammenhang mit der nationalen Gesetzgebung. In seinem Plädoyer konzentrierte er sich auf drei Aspekte:

 Series B – No. , February st . Collection of Advisory Opinions. Exchange of Greek and Turkish Populations (Lausanne Convention VI, January th, , Article ) [im Folgenden: PCIJ, Greece v. Turkey, Advisory Opinion]. Hg. v. PCIJ. Leiden ,  f.  Ebd., .  Ebd.,  f.

179

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

() That the word »established« means inhabitants of Constantinople who had taken up their residence there before October th, , with the intention of habitually residing there. () That, to be exempt from exchange, a person must have arrived at Constantinople before October th, , from any other place whatsoever, whether from another part of Turkey or a foreign country, and, also before that date, have manifested, either by an official formality or by some unequivocal fact such, for instance, as the exercise of a permanent profession, trade, industry, etc., or in any other similar manner, the value of which the Mixed Commission – which is sole judge – may estimate after consideration of any evidence, written or oral, or on the basis of mere indications, his intention to make it the centre of his interests and occupations. () That, furthermore, quite apart from any question of establishment, at Constantinople, Prelates of the Orthodox Church who, by reason of their functions, must reside there to carry on the services of the Ecumenical Patriarchate under the conditions agreed upon at Lausanne on January th, , between Turkey and the Allied Powers, are also exempt from exchange. Der letzte Punkt bezog sich auf das jüngst aufgetretene Problem der Ausweisung des Oberhaupts der orthodoxen Kirche, des Konstantinopeler Patriarchen Konstantin VI., in sein Heimatland Griechenland. Nach Auffassung von Politis habe dieses in engster Verbindung zum strittigen Sachverhalt gestanden, zu dem das Gericht tagte. Die türkischen Behörden hatten den Patriarchen als »austauschbar« (»exchangeable«) eingestuft, da sich Konstantin Araboglou, so der bürgerliche Name des Patriarchen, erst  in Istanbul niedergelassen hatte. Ungeachtet der Warnungen, die von der griechischen und türkischen Regierung gegenüber der Heiligen Synode mit dem Hinweis auf den in der Lausanner Konvention enthaltenen Stichtag des . Oktober  ausgesprochen worden waren, wählte diese am . Dezember  Araboglou, der bis zu diesem Zeitpunkt Metropolit von Derkos (Durusu) war, zum neuen Patriarchen Konstantin VI. Am . Januar  wurde das frisch gewählte Oberhaupt der orthodoxen Kirche nach Griechenland ausgewiesen, nachdem zuvor auch die gemischte Kommission bestätigt hatte, dass er kein Bleiberecht genieße. Athen hatte noch vergeblich versucht, bei der türkischen Regierung zu intervenieren, um die Ausweisung zu verhindern. Dabei brachte die griechische Regierung das Argument vor, dass die Mitglieder der Heiligen Synode unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Niederlassung in Konstantinopel (Istanbul) vom Austausch ausgenommen werden sollten, da sie für das weitere Bestehen des Ökumenischen Patriarchats und dessen Betrieb unentbehrlich seien. Diese Meinung vertrat Politis in seiner oben zitierten  Ebd., .  Alexandris, Alexis: The Expulsion of Constantine VI: The Ecumenical Patriarchate and Greek Turkish Relations, -. In: Balkan Studies  () , -; Kamouzis, Dimitris: Incorporating the Ecumenical Patriarchate into Modern Turkey: The Legacy of the  Patriarchal Election. In: When Greeks and Turks Meet.

180

Da s P C I J - G u t a c h te n im Fall E xc h a n g e of G re e k a n d Tu r ki s h P o p ula tio n s

Stellungnahme. Trotz der Verknüpfung des konkreten Falles mit dem zu prüfenden Gegenstand lehnten es die Richter ab, zur Frage der Ausweisung des Ökumenischen Patriarchen Stellung zu beziehen, mit der Begründung, dass die Anfrage des Völkerbundsrats keine entsprechende Aufforderung enthalten habe: The Request makes no reference to the special position of the Ecumenical Patriarchate of Constantinople resulting, according to the oral statements of H. E. M. Politis, from, amongst other things, the investiture decrees known as bérats given to the successive Patriarchs and from the agreement said to have been reached at Lausanne on January th, , between Turkey and the Allied Powers. The Council, if it had wished also to obtain the Court’s opinion on this point, which was the subject of discussion at Lausanne, would not have failed to say so in terms. In these circumstances the Court does not consider that it has cognizance of this question. Im Gegensatz zum zweitrangigen Thema der Ausweisung des Patriarchen, das zuungunsten Griechenlands entschieden wurde, folgte das Gericht in der Hauptfrage der Argumentation Athens, indem es die Position einnahm, dass der in Art.  der Lausanner Konvention angeführte Begriff »established« ausschließlich im Rahmen dieser Konvention und ohne Berücksichtigung der nationalen Gesetzgebung auszulegen sei. Anders als in Staatsangehörigkeitsfällen, die in den Zuständigkeitsbereich der nationalen Legislation fielen, gebe es in der türkischen Gesetzgebung keine Anhaltspunkte für eine Bestimmung des Zustands der »lokalen Anbindung«, die dem Sinn und der Tragweite des Wortes »established« entspreche. Hätten die Verfasser der Konvention, so die Richter in ihrem Gutachten weiter, die in den nationalen Gesetzen verankerten Kriterien zur Bestimmung des Niederlassungsstatus für die nähere Festlegung des Begriffs »established« für relevant und berücksichtigungswürdig gehalten, dann hätten sie es im Vertragstext niedergeschrieben und ausdrücklich darauf verwiesen, wobei allerdings ein derartiger Verweis dem Geist des Abkommens widersprochen hätte. Die Entscheidung des Gerichts lautete wie folgt: It should in the first place be observed that it does not necessarily follow that, by reason of the nature of the situation contemplated in the Convention, there must be an implied reference to national legislation. Whereas the national status of a person belonging to a State can only be based on the law of that State, and whereas, therefore, any convention dealing with this status must implicitly refer to the national legislation, there is no reason why the local tie indicated by the word »established« should be determined by the application of some particular law. It may very well be that the Convention contemplated a mere situation of fact, sufficiently defined by the Convention plinary Perspectives on the Relationship since . Hg. v. Vally Lytra. Surrey , -.  PCIJ, Greece v. Turkey, Advisory Opinion (wie Anm. ), .

181

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

itself without any reference to national legislation. The Court is of opinion that this is the case as regards the condition implied by the word »established« in Article  of the Convention. As has been said above, the word »established«, taken in conjunction with the references to date and place indicated in this article, is to serve to distinguish between the exchangeable and the non-exchangeable parts both of the Greek population of Constantinople and of the Moslem population of Western Thrace. It is hardly likely that the intention was to fix this criterion by means of a reference to national legislation. It is a well-known fact that the legislation of different States takes into account various kinds of local personal ties and deals with them in different ways. The application of Turkish and Greek law would probably have resulted in uncertainties, difficulties and delays incompatible with the speedy fulfilment always regarded as essential to the Convention under consideration. Moreover, it might well happen that a reference to Turkish and Greek legislation would lead to the division of the population being carried out in a different manner in Turkey and in Greece. This, again, would not be in accordance with the spirit of the Convention, the intention of which is undoubtedly to ensure, by means of the application of identical and reciprocal measures in the territory of the two States, that the same treatment is accorded to the Greek and Turkish populations. Nor is there any indication that the authors of the Convention, when they adopted the word which has given rise to the present controversy, had in mind national legislation at all. Everything therefore seems to indicate that, in regard to this point, the Convention is self-contained and that the Mixed Commission in order to decide what constitutes an established inhabitant must rely on the natural meaning of the words as already explained. Auf der Grundlage des PCIJ-Gutachtens schlossen Athen und Ankara am . Juni  ein neues Abkommen, in dem u. a. festgelegt wurde, dass als »niedergelassen/ansässig« (»established«) jeder orthodoxe Grieche angesehen wurde, der vor dem . Oktober  nach Konstantinopel (Istanbul) zugezogen und entweder in der Stadt weiterhin anwesend sei oder mittlerweile anderswo lebe, aber den ständigen Wohnsitz für die Zeit vor dem . Oktober  in Konstantinopel (Istanbul) nachweisen könne. Die Entscheidung des PCIJ im Fall Exchange of Greek and Turkish Populations ist aus mehreren Gründen von besonderer völkerrechtlicher Bedeutung: Die Richter zogen nicht nur eine klare Trennlinie zwischen internationalem und nationalem Recht, sondern sie räumten erstmals bei der Auslegung eines internationalen Vertrags dem Völkerrecht eine eindeutige Vorrangstellung gegenüber der innerstaatlichen Gesetzgebung ein. Darüber hinaus betrachteten sie das  Ebd.,  f.  Leontiades, Der griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch (wie Anm. ), .

182

Da s P C I J - G u t a c h te n im Fall E xc h a n g e of G re e k a n d Tu r ki s h P o p ula tio n s

Landesrecht für ihre Entscheidungsfindung als Mitglieder eines internationalen Gerichts als irrelevant. Wie das Gericht unmissverständlich erklärte, würde es sich nicht in der Verpflichtung sehen, die nationalen Gesetze der Türkei auf ihre Kompatibilität hin zur Lausanner Konvention prüfen zu müssen: »Having thus made it clear that the Convention does not refer to national laws, the Court does not feel it to be necessary to consider whether any particular provisions of the Turkish laws of  and  are or are not contrary to the Convention.« Der griechisch-türkische Auslegungsstreit um die »ansässige« griechische Bevölkerung Konstantinopels (Istanbuls) und die Stellungnahme des PCIJ dazu stehen am Anfang der sogenannten zweiten Phase des Haager Gerichtshofs. Dem dänischen Völkerrechtler Ole Spiermann zufolge, der sich in seiner Dissertation mit der Rechtsprechung des PCIJ eingehend beschäftigt hat, nahmen die Richter des internationalen Gerichtshofs in dieser zweiten, durch die Präsidentschaft des Schweizer Max Huber geprägten Phase bei ihrer Entscheidungsfindung und Rechtsprechung zunehmend die »Perspektive des Völkerrechtlers« (»international lawyer’s approach«) ein und folgten dementsprechend der Idee der »Ko-Existenz« von Staaten als Subjekte einer internationalen Rechtsordnung bzw. als Völkerrechtssubjekte. Dadurch unterschied sich diese zweite Phase eindeutig von der ersten der Jahre -, in der der PCIJ seine Aufgabe noch wie ein klassisches Schiedsgericht erfüllte. Die zweite Periode unterschied sich aber auch gegenüber der dritten und letzten Phase stark, welche Anfang der er Jahre einsetzte. In letzterer setzten sich Richter mit ihren Ansichten durch, die als Verfechter einer monistischen Theorie dem nationalen Recht eine Vorrangstellung einräumten und das Völkerrecht nicht als ein eigenständiges Rechtssystem, sondern lediglich als einen unterstützenden Mechanismus für die internationale Kooperation von Staaten betrachteten. Im Gegensatz dazu nahm der PCIJ in der zweiten Phase eine sogenannte dualistische Sichtweise auf das Verhältnis von nationalem und internationalem Recht ein, die dazu führte, dass seine Richter innerstaatliches Recht und Völkerrecht als zwei separate und eigenständige Rechtssysteme behandelten. Den Dualisten zufolge würde das nationale Recht das Verhältnis des Staates zu seinen Staatsbürgern und die Beziehungen der Bürger untereinander regeln, während das Völkerrecht für die zwischenstaatliche Ebene zuständig sei. Die zwei Rechtsordnungen seien demzufolge als zwei getrennte Kreise zu betrachten, wobei das Völkerrecht diejenigen Sachverhalte regle, zu deren Regelung das Landesrecht nicht befugt sei. In der dualistischen Sichtweise können demzufolge Handlungen, die gegen das nationale Recht verstoßen, nach internationalem Recht legitim sein und vice versa. Folgt man dieser Theorie, dann agiert der Staat im inländischen Kontext

 Ebd.,  f.  Spiermann, Ole: International Legal Argument in the Permanent Court of International Justice. The Rise of the International Judiciary. Cambridge [u. a.] , .

183

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

als nationaler Souverän und im internationalen entweder als Völkerrechtssubjekt oder sogar als »internationaler Souverän«. Das von einem starken Internationalismus geprägte Gutachten im Fall Exchange of Greek and Turkish Population ist vor diesem Hintergrund zu interpretieren. Es leitete, wie anschließend noch gezeigt wird, eine Reihe von Urteilen und Gutachten des PCIJ ein, in denen die Richter die Meinung vertraten, dass der PCIJ als internationales Gericht nicht in der Pflicht stehe, sachverhaltsrelevante Normen aus der nationalen Gesetzgebung kennen, auslegen und anwenden zu müssen. Ausschlaggebend für diese Entwicklung war die Wahl des besagten Max Huber zum neuen Präsidenten des PCIJ unmittelbar vor der Befassung des PCIJ mit dem griechisch-türkischen Streitfall. Der Schweizer Professor für internationales öffentliches Recht an der Universität Zürich, der darüber hinaus als ständiger juristischer Berater des Außenministeriums seines Landes tätig war und in den frühen er Jahren mehrere Schweizer Delegationen in verschiedenen Gremien des Völkerbunds geleitet hatte, betrachtete das Völkerrecht nicht nur als ein eigenständiges Rechtssystem, sondern sogar als »un ordre supérieur«. Seine »progressiven« Ansichten zum Verhältnis von Völkerrecht und nationalem Recht unterschieden sich von der »konservativen« Betrachtungsweise seines  Jahre älteren Vorgängers an der Spitze des PCIJ, des Niederländers Bernard Loder, erheblich. Die andersgearteten Auffassungen der beiden Richter sind zu einem großen Teil auf ihre unterschiedlichen Berufswege zurückzuführen. Loder hatte eine lange Karriere als nationaler Richter hinter sich, als er den Vorsitz des PCIJ übernahm, und er nahm in Hinsicht auf das Durchsetzungsvermögen des Völkerrechts gegenüber nationalstaatlichen Interessen eine zurückhaltende Position ein. Huber hingegen hatte, wie bereits erwähnt, vor seiner Ernennung zum PCIJ-Richter eine Völkerrechtsprofessur in Zürich inne. Er gehörte zu den innovativsten Völkerrechtspezialisten des frühen . Jahrhunderts mit einem wichtigen Beitrag zur Errichtung eines internationalen Schiedsgerichtsbarkeitssystems auf der Zweiten Haager Friedenskonferenz von  als Mitglied der Schweizer Delegation. Huber war von der einflussreichen Rolle, die das Völkerrecht in Zukunft bei der Gestaltung der internationalen Beziehungen spielen würde, überzeugt. Wie sein US-amerikanischer Kollege im PCIJ, Manley Hudson, war auch er hinsichtlich der Entwicklung des PCIJ zu einer tragenden Säule des Weltfriedens optimistisch. Zudem strebte Huber ein Völkerrecht an, das weniger positivistisch ausgerichtet sein und sich stärker an mo    

Ebd., -, -, , . Özsu, Formalizing (wie Anm. , Kap. ), -. Spiermann, International Legal Argument (wie Anm. ), . Ebd. Thürer, Daniel: Max Huber: A Portrait in Outline. In: The European Journal of International Law  (), -.  Koskenniemi, The Gentle Civilizer (wie Anm. , Einleitung), ; Miller, Russell A./ Bratspies, Rebecca M.: Progress in International Law – An Explanation of the Project.

184

Da s P C I J - G u t a c h te n im Fall E xc h a n g e of G re e k a n d Tu r ki s h P o p ula tio n s

ralischen Prinzipien orientieren würde. Mit seiner Wahl zum Präsidenten des PCJI brach in der Rechtsprechung des Weltgerichts eine neue Ära an, in der sich seine Richter von der früheren restriktiven Auslegung internationaler Verträge zugunsten staatlicher Souveränität und nationaler Eigenständigkeit verabschiedeten. Huber setzte bei der Interpretation völkerrechtlicher Verträge eine Linie durch, welche die Behandlung der strittigen Sachverhalte durch den PCIJ unabhängig von nationalen Rechtssystemen und im ausschließlichen Rahmen des Völkerrechts vorschrieb. Dieser durch Huber eingeleitete Kurswechsel fand erstmals im oben genannten Gutachten im Fall Exchange of Greek and Turkish Populations Ausdruck, welcher der erste war, der vom PCIJ während der Präsidentschaft des Schweizers behandelt wurde. Der besagte dänische Völkerrechtler Spiermann zog einen Vergleich zwischen dem Gerichtsspruch in diesem Fall und dem  vom PCIJ gefällten Urteil im Fall The Wimbledon. Er konstatierte zu den Neuerungen, die unter dem prägenden Einfluss von Huber eintraten, Folgendes: In The Wimbledon, the Permanent Court had substituted the conception of the state as an international sovereign for the conception of the state as a national sovereign, holding that all kinds of treaty obligations could be undertaken by a state. Nevertheless, the Permanent Court had made room for national sovereignty, being sympathetic to, at least verbally, restrictive interpretation of treaty rules. Now the Exchange of Populations opinion employed the same pronouncement as an argument against such a principle of restrictive interpretation. […] So long as the conception of the state as an international sovereign had some reality (the treaty negotiations not being completely at variance with notions of sovereign equality, or independence), the Exchange of Populations opinion indicated that there was hardly any room in treaty interpretation for national sovereignty. Again, treaty obligations were seen through the prism of Huber’s sociological approach and yet given full effect.  folgte das vielzitierte Urteil im Fall Concerning Certain German Interests in Polish Upper Silesia, in welchem die »internationalistisch« argumentierenden Richter explizit erklärten, dass es außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des PCIJ liege, nationale Normen zu interpretieren oder gar anzuwenden. Vielmehr habe

  



In: Progress in International Law. Hg. v. Russell A. Miller und Rebecca M. Bratspies. Leiden [u. a.] , -, hier . Thürer, Max Huber (wie Anm. ), . Spiermann, International Legal Argument (wie Anm. ), . Spiermann, Ole: Judge Max Huber at the Permanent Court of International Justice. In: The European Journal of International Law  (), -, hier ; ders.: A Permanent Court of International Justice. In: Nordic Journal of International Law  () , -, hier  f. Spiermann, Judge Max Huber (wie Anm. ),  f.

185

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

ihrer Auffassung nach das Weltgericht die völkerrechtskonforme Auslegung und Anwendung einer Norm auf einen konkreten Fall zu untersuchen: From the Standpoint of International Law and of the Court which is its organ, municipal laws are merely facts which express the will and constitute the activities of States, in the same manner as do legal decisions or administrative measures. The Court is certainly not called upon to interpret the Polish law as such; but there is nothing to prevent the Court’s giving judgment on the question whether or not, in applying that law, Poland is acting in conformity with its obligations towards Germany under the Geneva Convention. Huber blieb bis Ende  im Amt. Zu seinem Nachfolger für den Zeitraum - wurde der Italiener Dionisio Anzilotti gewählt, in dessen Amtszeit zunächst die Linie Hubers beibehalten wurde, da auch der Völkerrechtler Anzilotti Verfechter eines positivistischen Dualismus war. Im September  wurde allerdings der einflussreiche US-Amerikaner Charles Evans Hughes anstelle des zurückgetretenen Richters John Bassett Moore an den PCIJ berufen. Während Anzilotti eine dualistische Herangehensweise pflegte und dabei die besagte »Perspektive des Völkerrechtlers« einnahm, ging Hughes in seinen von der monistischen Theorie geprägten Überlegungen davon aus, dass innerstaatliches Recht und Völkerrecht einen gemeinsamen Ursprung hätten und in einer engen Beziehung zueinander stünden. Richter Hughes, der nach nur einem Jahr den PCIJ aufgrund seiner Ernennung zum Vorsitzenden des Obersten Gerichts der USA wieder verließ, nahm auf zwei, am selben Tag gefällte Urteile des Weltgerichts großen Einfluss. Es handelte sich dabei um die Gerichtssprüche in den Fällen Concerning the Payment of Various Serbian Loans Issued in France und Concerning the Payment in Gold of Brazilian Federal Loans Issued in France. Wie die zwei untenstehenden Ausschnitte belegen, wurde in diesen beiden Urteilen die harte Trennung zwischen innerstaatlichem Recht und Völkerrecht aufgeweicht, »indem der PCIJ bei der Auslegung nationalen Rechts auf die Rechtsprechung der nationalen Gerichte abstellte«: From a general point of view, it must be admitted that the true function of the Court is to decide disputes between States or Members of the League of Nations on the basis of international law: Article  of the Statute contains a clear indication to this effect. But it would be scarcely accurate to say that only questions of international law may form the subject of a decision of the  Series A – No. . Collection of Judgments. Case Concerning Certain Germans Interests in Polish Upper Silesia (The Merits). Hg. v. PCIJ. Leiden , .  Spiermann, International Legal Argument (wie Anm. ), .  Ebd.,  f.  Benzing, Markus: Das Beweisrecht vor internationalen Gerichten und Schiedsgerichten in zwischenstaatlichen Streitigkeiten. Heidelberg [u. a.] , ; siehe auch Shaw, Malcolm N.: International Law. . Aufl. Cambridge ,  f.

186

Da s P C I J - G u t a c h te n im Fall E xc h a n g e of G re e k a n d Tu r ki s h P o p ula tio n s

Court. […] Article  of the Statute cannot be regarded as excluding the possibility of the Court’s dealing with disputes which do not require the application of international law, seeing that the Statute itself expressly provides for this possibility. All that can be said is that cases in which the Court must apply international law will, no doubt, be the more frequent, for it is international law which governs relations between those who may be subject to the Court’s jurisdiction. Though bound to apply municipal law when circumstances so require, the Court, which is a tribunal of international law, and which, in this capacity, is deemed itself to know what this law is, is not obliged also to know the municipal law of the various countries. All that can be said in this respect is that the Court may possibly be obliged to obtain knowledge regarding the municipal law which has to be applied. […] Once the Court has arrived at the conclusion that it is necessary to apply the municipal law of a particular country, there seems no doubt that it must seek to apply it as it would be applied in that country. It would not be applying the municipal law of a country if it were to apply it in a manner different from that in which that law would be applied in the country in which it is in force. It follows that the Court must pay the utmost regard to the decisions of the municipal courts of a country, for it is with the aid of their jurisprudence that it will be enabled to decide what are the rules which, in actual fact, are applied in the country the law of which is recognized as applicable in a given case. Die beiden unter dem Einfluss von Richter Hughes stehenden Urteile waren während der Präsidentschaft von Anzilotti nur ein Intermezzo. Nach dem Abgang von Hughes kehrte der PCIJ zu der Linie zurück, die Huber  mit dem Gutachten zum Fall Exchange of Greek and Turkish Population vorgegeben hatte. Dieser Linie wurde auch in dem im August  verfassten Gutachten zum Fall Greco-Bulgarian Communities gefolgt. In der Frage der Berücksichtigung (respektive Nicht-Berücksichtigung) von innerstaatlichem Recht bei der Auslegung eines internationalen Vertrags hielt das Gericht Folgendes fest: With regard to the first question […], the conclusion is thus reached […] that the question whether, according to local law, a community was or was not

 Series A. – Nos. / Collections of Judgements. Case Concerning the Payment of various Serbian Loans Issued in France/Case Concerning the Payment in Gold of the Brazilian Federal Loans Issued in France (Judgment No.  – Case of Serbian Loans). Hg. v. PCIJ. Leiden ,  f.  Series A. – Nos. / Collections of Judgements. Case Concerning the Payment of various Serbian Loans Issued in France/Case Concerning the Payment in Gold of the Brazilian Federal Loans Issued in France (Judgment No.  – Case of Brazilian Loans). Hg. v. PCIJ. Leiden , .

187

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

recognized as a distinct juridical person, need not be considered from the point of view of the Convention. Der Fall Greco-Bulgarian Communities soll anschließend ausführlich besprochen werden, zumal er in der Geschichte der Weiterentwicklung des völkerrechtlichen Minderheitenbegriffs eine herausragende Position einnimmt und an ihm die These eines auf das östliche, insbesondere südöstliche Europa zugeschnittenen Minderheitenschutzsystems des Völkerbunds gut exemplifiziert werden kann. Das PCIJ-Gutachten im Fall The Greco-Bulgarian »Communities«

Wie im nächsten Kapitel dieser Arbeit detailliert gezeigt wird, war die Lausanner Konvention vom Januar  nicht das erste Abkommen über einen zwischenstaatlichen Bevölkerungsaustausch in der modernen Geschichte der internationalen Beziehungen. Vor dem Lausanner Vertrag gab es bereits mehrere Transfer-Abkommen, die bezeichnenderweise in ihrer Mehrheit südosteuropäische Staaten miteinander vereinbart hatten. Eines dieser Abkommen war der Lausanner Konvention ähnlicher als alle anderen, da es ebenfalls im Kontext der Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg abgeschlossen und dessen Umsetzung unter die Aufsicht einer auch aus Vertretern des Völkerbunds zusammengesetzten gemischten Kommission gestellt worden war. Die Rede ist von der am . November  zwischen Griechenland und Bulgarien abgeschlossenen Konvention von Neuilly-sur-Seine bezüglich einer wechselseitigen Umsiedlung, die allerdings im Gegensatz zum Lausanner Abkommen keinen obligatorischen, sondern optionalen Charakter hatte und nur die in der Grenzregion lebenden Griechen und Bulgaren betraf: As provided in Article , paragraph , of the Treaty of Peace with Bulgaria concluded the th November , and in accordance with the decision of the Principal Allied and Associated Powers of the th November, , to the following effect: »Having regard to Article , paragraph , of the Treaty of Peace with Bulgaria the Principal Allied and Associated Powers consider it opportune that the reciprocal voluntary emigration of the racial, religious and linguistic minorities in Greece and Bulgaria should be regulated by a convention concluded between those two Powers in the terms decided upon this day.« The undersigned plenipotentiaries of Greece of the one part, and of Bulgaria, of the other part, after exchanging their full powers, respectively found in good and due form, have agreed as follows: Article . The high contracting parties recognize the right of their subjects belonging to racial, reli Series B. – No. , July st, . Collection of Advisory Opinions. The Greco-Bulgarian »Communities« [im Folgenden: PCIJ, Question of the »Communities«]. Hg. v. PCIJ. Leyden , .

188

Da s P C I J - G u t a c h te n im Fall T h e G re co - Bul g a ria n » C o m m u ni ti e s«

gious or linguistic minorities to emigrate freely to their respective territories. Anfänglich zeigten die Betroffenen nur geringes Interesse an einer freiwilligen Emigration, auch weil Athen und Sofia aus jeweils verschiedenen Gründen eine moderate Minderheitenpolitik ohne Diskriminierungen betrieb. Spätestens ab  wurde allerdings auf beiden Seiten der Grenze großer Druck auf die Betroffenen ausgeübt, von ihrem Recht, in den jeweiligen Nachbarstaat auszuwandern, Gebrauch zu machen. Ende der er Jahre hatte schließlich die große Mehrheit der  noch um die . Mitglieder zählenden griechischen Minderheit Bulgariens das Land verlassen. Die Zahl der Verbliebenen übertraf nicht die Zahl .. Athen und Sofia bezichtigten sich gegenseitig der gezielten Misshandlung der jeweiligen Minderheit. Sie zogen mit ihren Anschuldigungen und Klagen vor den Völkerbund, was auch Angehörige der beiden Minderheiten mehrmals taten. Die Spannungen zwischen den beiden Staaten waren auch in Bezug auf die Auslegung einzelner Bestimmungen der Konvention von Neuilly groß. Die mit der praktischen Umsetzung des Bevölkerungsaustausches beauftragte vierköpfige gemischte Kommission wurde wiederholt zum Austragungsort griechisch-bulgarischer Streitigkeiten bezüglich der näheren Bestimmung der unter die Regularien der Konvention fallenden Gruppe, aber auch von Streitigkeiten über Eigentumsrechte, Entschädigungen und weitere damit verbundene finanzielle Angelegenheiten. Beim Versuch der Klärung einer dieser Streitigkeiten wandte sich der Präsident der Kommission am . Dezember  an den Generalsekretär des Völkerbunds. Im Namen der bulgarischen und griechischen Regierung richtete er an den Völkerbundsrat ein Ansuchen, in dem der PCIJ um eine klärende Stellungnahme zum strittigen Punkt der »Gemeinschaften« (»communities«) ersucht wurde. Die gemischte Kommission hatte in diesem Ansuchen um die Beantwortung der folgenden Fragen gebeten: . What is the criterion to be applied to determine what is a community within the meaning of the Convention, inter alia under Article , paragraph ? . What conditions must be satisfied in order to cause the Mixed Commission provided for in the Convention to dissolve a community such as is meant by the Convention? . What is to be understood by such dissolution? What relations are to be dissolved? What is the period by reference to which the existence of such relations is to be established? What attitude is to be observed  Convention Between Greece and Bulgaria Respecting Reciprocal Emigration, Signed at Neuilly-Sur-Seine,  November  [im Folgenden: Convention Neuilly]. In: League of Nations. Treaty Series. Bd. . London , -, hier  f.  Divani, Ellada (wie Anm. ), -; Dragostinova, Theodora: Between Two Motherlands: Nationality and Emigration among the Greeks of Bulgaria. London [u. a.] , -; Frank, Making (wie Anm. ), -.

189

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

by the Mixed Commission in cases where it does not succeed in discovering the »ayants droit« (persons entitled) referred to in Article  paragraph  of the convention? Nachdem auch die bulgarische und griechische Regierung am . bzw. . Dezember  ihre Fragen formuliert hatten, trug der Völkerbundsrat dem Anliegen der gemischten Kommission und der beiden Regierungen Rechnung und  League of Nations, C...I, Greco-Bulgarian Intermigration Commission. Request for an Advisory Opinion from the Permanent Court of International Justice: Interpretation of Certain Clauses in the Convention Between Greece and Bulgaria Respecting Reciprocal Emigration, signed on November th, ,  [im Folgenden: League of Nations, C...I]. In: UN Archives Geneva, https://biblio-archive. unog.ch/Dateien/CouncilDocs/C---I_EN.pdf (letzter Zugriff: ..).  »List of questions drawn up by the Bulgarian government. December th, . . Seeing that the Convention deals with voluntary emigration and that a »community«, being a legal fiction, only exists in virtue of the law of the country in question, whose frontiers it cannot transcend, can it be admitted that a community may emigrate in virtue of the Convention, or does it not logically follow that, where the Convention speaks of the property of communities, this must be understood to mean any private property rights which emigrants may eventually possess in respect of such property? . The Mixed Commission, being an executive body entrusted with the duty of facilitating emigration and liquidating existing rights of emigrants, and not with the creation of fresh rights, what body would be competent to order the eventual dissolution of a community and what laws would such body be required to observe in such a case? . Whichever view be adopted, i.e., whether the case is considered to be one of liquidation merely of emigrant’s property rights over the property of the communities or one of liquidation in general of the property of the communities, must it not an either hypothesis be recognised that the liquidation must extend to the private property of the moral person which is constituted by a commune, a commune being the typical example of a community? List of questions drawn up by the Greek government. December th, . . What is, in view of their origin and development, the nature of the communities referred to in Artice , paragraph , and Article  of the Convention of Neuilly? Do they enjoy, in law or in fact, a personality which confers upon them some of the attributes of a moral person and in particular the right to possess a patrimony separate from that of their members? . Do the communities possess the characteristic of being connected as minorities and racial groups with the country in which the majority of the population is of the same race? What are eventually the consequences, as regards the allocation of their property, where their members, as contemplated by article  of the Convention, are dispersed or absent (in the legal sense of the term)? . On what conditions should the dissolution of the communities be made to depend? . Does the Convention of Neuilly deal with communities dissolved before its entry into force? Should the same rules be applied as regards the dissolution of these communities and the allocation of the proceeds of the liquidation of their property as apply in the case of the communities referred to in Article  of the Convention? . If the application of the Convention of Neuilly is at variance with a provision of internal law in force in the territory of one of the two Signatory Powers, which of the conflicting provisions should be preferred - that of the law or that of the convention?«. In: ebd.,  f.

190

Da s P C I J - G u t a c h te n im Fall T h e G re co - Bul g a ria n » C o m m u ni ti e s«

ersuchte am . Januar  per Resolution den PCIJ, sich des Falles anzunehmen: The Council of the League of Nations, having considered the letter addressed by the President of the Greco-Bulgarian Mixed Commission to the SecretaryGeneral of the League on December th, , requesting the SecretaryGeneral, in the name of the Bulgarian and Greek Governments, to submit to the Council of the League a request that an advisory opinion be obtained from the Permanent Court of International Justice, for the use of the Mixed Commission, with regard to the interpretation of those clauses of the GrecoBulgarian Convention signed on November th, , which relate to communities: Requests the Permanent Court of International Justice to give an advisory opinion covering the questions formulated in the annexes to the letter from the President of the Mixed Commission, which constitute the three annexes to this Resolution. The Council invites the Bulgarian and Greek Governments and the Mixed Commission to hold themselves at the disposal of the Court for the purpose of furnishing it with any necessary documents and explanations. The Secretary-General is authorized to submit the present request to the Court, together with all documents relating to the question, to explain to the Court the action taken by the Council in the matter, to give any assistance required in the examination of the case, and, if desirable, to take measures to be represented before the Court. Bei den einer Klarstellung bedürftigen Stellen der Konvention handelte es sich um Art.  und  der Konvention, die vorschrieben, dass neben einzelnen Personen auch »Gemeinschaften« entschädigungsberechtigt seien: Article . Persons who, in execution of the foregoing provisions, exercise the right of emigration, shall be free to take with them or to have transported their movable property of every kind without any duty, whether export or import, being levied from them on this account. Similarly, in cases where the right of emigration is exercised by members of communities (including churches, convents, schools, hospitals or foundations of any kind whatever) which on this account shall have to be dissolved, the Mixed Commission provided for in Article  shall determine whether and in what circumstances such members shall have the option of freely taking with them or having transported the movable property belonging to the communities. Article . Real property, rural or urban, belonging to voluntary emigrants or to communities to which Article  refers, shall be liquidated in accordance with the following provisions by the Mixed Commission provided for in Article .

 Ebd., .  Convention Neuilly (wie Anm. ),  f.

191

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

Die Beantwortung der von der gemischten Kommission und den beiden Regierungen an den PCIJ gestellten Fragen setzte die nähere Bestimmung des Begriffs bzw. des Konzepts der »Gemeinschaft« (»community«) voraus. Insbesondere waren sich Athen und Sofia darüber uneinig, wie mit dem kollektiven Eigentum der aus Bulgarien ausgesiedelten Griechen umzugehen sei. Wie bereits erwähnt, bezogen sich die Bestimmungen der Konvention zur Mitnahme von mobilem Eigentum oder zur Entschädigung für zurückgelassenen Privatbesitz sowohl auf das individuelle als auch das gemeinschaftliche Eigentum, wobei das letztere den Hauptstreitpunkt zwischen Griechenland und Bulgarien ausmachte. Im Wesentlichen ging es um die Frage, ob der Status einer Gemeinschaft durch das nationale Recht oder anhand faktischer Kriterien zu bestimmen sei. Die bulgarische Regierung vertrat erstere Position, der eine strikt positivistische Sichtweise zugrunde lag. Diese ging davon aus, dass eine »Gemeinschaft eine rechtliche Schöpfung« sei, »die nur aufgrund des Rechts des betroffenen Staates existiert«. Eine Rechtspersönlichkeit hätten demzufolge nur eingetragene Vereine, wie etwa Kirchen, Klöster und Stiftungen, nicht hingegen, wie die griechische Seite behauptete, traditionell organisierte, von den älteren Mitgliedern einer Gemeinde geleitete Minderheitengruppen, die zur osmanischen Zeit auf der Grundlage lokaler Gesetze das Vermögen gemeinnütziger Körperschaften (Schulen, Kirchen, Krankenhäuser und ähnliche Einrichtungen) verwalteten bzw. darüber verfügten. In einer Stellungnahme, die der PCIJ nach Eröffnung des Verfahrens angefordert hatte, erklärte Sofia: It is submitted: I. (a) that the conception of a community within the Convention between Greece and Bulgaria respecting reciprocal emigration signed at Neuilly-sur-Seine on November th, , is to be understood in the French sense of the expression »corps et communautés«, that is to say that it covers associations with an ideal aim and »foundations«, enjoying juridical personality, provided that they present exclusively the characteristics of a racial or religious minority. Such are the various religious, educational or philanthropic establishments (religious congregations, churches, convents, monasteries, schools, hospitals, almshouses, etc.) and communes, the population of which presents the characteristics of a minority, in so far as their private property is concerned.  Berman, Nathaniel: Passion and Ambivalence. Colonialism, Nationalism, and International Law, Leiden [u. a.] ,  f.; Zyberi, Gentian: The International Court of Justice and the Rights of Peoples and Minorities. In: The Development of International Law by the International Court of Justice. Hg. v. Christian J. Tams und James Sloan. Oxford , .  League of Nations, C...I (wie Anm. ), .  Verzijl, Jan Hendrik Willem: The Jurisprudence of the World Court: A Case by Case Commentary. Bd. : The Permanent Court of International Justice (-). Leiden , .  PCIJ, Question of the »Communities« (wie Anm. ),  f.

192

Da s P C I J - G u t a c h te n im Fall T h e G re co - Bul g a ria n » C o m m u ni ti e s«

Ziel der bulgarischen Seite, vertreten von Theodore Theodoroff und den niederländischen Völkerrechtlern Jan Hendrik Willem Verzijl und Gerard van Hamel, war, durch die Kombination mehrerer positivistisch begründeter Argumente einer Entschädigungspflicht für zurückgelassenes Eigentum zu entgehen: Erstens stellte Sofia die Behauptung auf, dass die Einrichtungen der griechischen Minderheit Bulgariens, die über keine Rechtspersönlichkeit verfügten, nicht als Gemeinschaften im Sinne von Art.  und  der Konvention von Neuilly anerkannt und deshalb vom Geltungsbereich der Entschädigungsregelungen auszunehmen seien. Zweitens beabsichtigte Sofia, selbst diesen Einrichtungen der griechischen Minderheit, die den Status einer Rechtsperson genossen, die Möglichkeit eines Entschädigungsantrags als Gemeinschaft zu verwehren. Diesbezüglich hieß es von bulgarischer Seite, dass »Gemeinschaften als Rechtspersonen nicht berechtigt sind, von den Regelungen der Konvention über Emigration zu profitieren, da sie als solche von dem ›Migranten‹-Status nicht gedeckt sind«. Nach Sofioter Auffassung konnten letztendlich nur die einzelnen Mitglieder einer Gemeinschaft, »die vom Recht, zu emigrieren, ordnungsgemäß Gebrauch gemacht hatten«, den Status eines Emigranten besitzen und ein daraus resultierendes Recht auf Entschädigung geltend machen. Dafür müsste allerdings die Voraussetzung der vollständigen Auflösung ihrer Gemeinschaft aufgrund einer vorausgegangenen Auswanderung all ihrer Mitglieder vorliegen. Um den Kreis der möglichen Berechtigten weiter einzugrenzen, nahm Bulgarien schließlich die Position ein, dass die Entschädigungsregelung keine Anwendung auf solche Gemeinschaften finde, die sich vor dem Inkrafttreten der Konvention von Neuilly aufgelöst hätten. Die griechische Regierung widersprach der rein positivistischen Argumentation Bulgariens, indem sie die Frage der Existenz oder Nicht-Existenz einer Gemeinschaft von ihrem rechtlichen Status abkoppelte und von den realen Gegebenheiten abhängig machte. Aus Sicht des griechischen Vertreters, des international renommierten Völkerrechtlers Nikolaos Politis, sei eine Gemeinschaft im Sinne der Konvention von Neuilly als ein Personenverbund zu verstehen, der ein gemeinnütziges Ziel im religiösen, Bildungs- oder Wohltätigkeitsbereich zum Zweck der Bewahrung der distinkten Charakteristika einer Minderheit verfolge oder verfolgt habe. Darüber hinaus nahm Athen die Position ein, dass eine Gemeinschaft im Besitz eines eigenen Vermögens sein könnte, das unabhängig von dem ihrer Mitglieder zu behandeln wäre. In der griechischen Stellungnahme gegenüber dem PCIJ hieß es konkret:

   

Ebd., . Ebd. Ebd. Politis war auch an der Verfassung der Konvention von Neuilly maßgeblich beteiligt. Siehe ausführlicher dazu Kapitel  der vorliegenden Arbeit.

193

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

It is submitted: I. With regard to the definition of the term »communities«: . that the criterion of the conception of a community within the meaning of the Convention, inter alia within the meaning of Article , paragraph , is that it must be a group of persons of the same religion and race, must be of a character both religious and national and must be designed to serve the common interests of its members in regard to religion, education and charity; and that the question whether such a community still exists or has existed in the past is a question of fact to be decided in each case in accordance with the relevant historical data; […] . that the community within the meaning of the convention is a body endowed in law and in fact, or in fact only, with the character of a juridical person, capable of possessing rights and of being bound of its own obligations and of possessing property distinct from that of its members. Nach Athener Lesart würden die Konventionsbestimmungen die kollektive Entschädigung des Eigentums der Gemeinschaft und nicht, wie Bulgarien behauptete, ihrer einzelnen Mitglieder vorschreiben: [W]hen the Convention speaks of the property of communities, it does not mean private patrimonial rights which emigrants might in certain circumstances possess in re aliéna in respect of such property, but the whole of the movable and immovable property included in the patrimony which these communities possessed as juridical persons. Das Hauptziel der griechischen Seite bestand darin, die Zahl der entschädigungsberechtigten Einrichtungen der griechischen Minderheit zu erhöhen. In diesem Sinne widersprach Athen der bulgarischen Position, dass für die Bestätigung der Auflösung einer Gemeinschaft die Voraussetzung der Emigration all ihrer Mitglieder vorliegen müsse. Die griechische Seite machte die Existenz oder die Auflösung einer Gemeinschaft von dem faktischen Kriterium abhängig, ob die gemeinnützige Minderheiteneinrichtung, sei es eine Schule, eine Kirche, ein Krankenhaus oder ein Armenhaus, weiterhin in der Lage sei, ihren ursprünglichen Auftrag zu erfüllen oder nicht. Wenn nicht, dann würde sie als aufgelöst gelten, selbst wenn die Mitglieder dieser Gemeinschaft nicht emigrierten und weiterhin in Bulgarien lebten: II. With regard to the conditions for the dissolution of communities: […] .

[T]he number of emigrants or emigrated persons is, for the purposes of the dissolution of the community, a matter of complete indifference. On the other hand, what is essential is to ascertain whether the community in ques-

 Ebd.,  f.  Ebd., .

194

Da s P C I J - G u t a c h te n im Fall T h e G re co - Bul g a ria n » C o m m u ni ti e s«

tion can now continue to fulfil its original purpose, namely, to serve as national organ for the racial minority which established it. Außerdem forderte Griechenland die Anerkennung eines Rechts auf Entschädigung auch für jene Einrichtungen der griechischen Minderheit, die sich nach bulgarischer Auffassung vor dem Inkrafttreten der Konvention von Neuilly praktisch aufgelöst hatten. Bemerkenswerterweise argumentierte man nun in diesem Punkt anders herum, indem die Meinung vertreten wurde, dass der Zeitpunkt der Auflösung nach rechtlichen und nicht faktischen Kriterien bestimmt werden müsse: III. With regard to the consequences of the dissolution of communities […] . that in order to decide what relations are to be severed in the event of the dissolution of a community, the moment in time to be taken is that at which the dissolution in law of the community takes place, and not that of its dissolution in fact which may have occurred in the past; . that the convention applies to communities dissolved in fact before its entry into force. As regards such communities the rules to be applied as regards their dissolution in law are the same as those applicable to the communities referred to in Article  of the Convention. IV. With regard to the allocation of the proceeds of the liquidation of communities. . [A]s regards communities dissolved in fact before the entry into force of the Convention, the rules to be applied with regard to the allocation of the proceeds of the liquidation of their property are the same as those applicable to the communities referred to in Article  of the Convention.

Schließlich erhob Athen selbst Anspruch auf das Eigentum aufgelöster Gemeinschaften in solchen Fällen, in denen die gemischte Kommission nicht in der Lage war, »den Inhaber der dinglichen Rechte von liquidiertem Eigentum festzustellen«. Dann sollte, so die griechische Forderung, das Eigentum an jenen Staat übergehen, »mit dem die Gemeinschaft ethnisch verwandt sei«. Auch in diesem Punkt war sich Griechenland mit der bulgarischen Regierung uneinig, die verlangte, dass »jeder Überschuss zu diesem Staat zurückfallen sollte, der die Souveränität über dieses Territorium verfügt, auf diesem sich das liquidierte Eigentum der aufgelösten Gemeinschaft befindet«. Das Gutachten des PCIJ gab in nahezu allen strittigen Fragen den faktischen Gegebenheiten gegenüber der nationalen Gesetzgebung den Vorrang. So hielten etwa die Richter fest, dass die Anerkennung einer Gemeinschaft als solche von ihrer tatsächlichen Existenz als distinktive Gruppe und nicht von ihrem rechtlichen Status abhängig sei:    

Ebd., . Ebd.,  f. Ebd., . Ebd., .

195

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

From the point of view of the Convention, the question whether, according to local law, a community is or is not recognized as a juridical person need not be considered; communities can, in fact, possess property; churches, convents, schools, hospitals or foundations existing as distinct entities are, when the persons who are members or beneficiaries thereof emigrate, assimilated to communities. Derselben Auffassung waren die Richter in der Frage der Auflösung einer Gemeinschaft. Diese sei anhand tatsächlicher Gegebenheiten und nicht unter Berücksichtigung rechtlicher Aspekte zu beantworten. Hierbei erteilte der Gerichtshof der griechischen Forderung nach einer Anwendung rechtlicher Kriterien zur Bestimmung des Zeitpunkts der Auflösung einer Gemeinschaft eine Absage: The existence of a community being, as already stated, a question of fact and not of law, the same must hold good as regards its dissolution, which is also a question of fact and not of law. The Convention contains no definition of dissolution; it confines itself to providing for cases where dissolution may occur. Schließlich wies das Gericht den Anspruch Athens auf die Vermögenswerte aufgelöster griechischer Gemeinschaften in Bulgarien ausdrücklich zurück: Communities, within the meaning of the Convention, are of a character exclusively minority and racial. The State to which they are racially akin does not from this circumstance derive any right to the movable property or to the proceeds of the liquidation of the immovable property of a dissolved community whose members are dispersed or absent. Das Gutachten des PCIJ zum Fall The Greco-Bulgarian »Communities« ist schon allein aufgrund seiner »minderheitenfreundlichen« und »internationalistischen« Grundausrichtung von besonderer Bedeutung. Allerdings ging es vor allem aus einem anderen Grund als bahnbrechend in die Völkerrechtsgeschichte ein. Es war seine Definition von Gemeinschaft, die diesem Gutachten bis heute große Aufmerksamkeit beschert. Diese lautete: The criterion to be applied to determine what is a community within the meaning of the articles of the Convention, inter alia Article , paragraph , is the existence of a group of persons living in a given country or locality, having a race, religion, language and traditions of their own and united by this identity of race, religion, language and traditions in a sentiment of solidarity, with a view to preserving their traditions, maintaining their form of worship,  Ebd., .  Ebd.,  f.  Ebd., .

196

Da s P C I J - G u t a c h te n im Fall T h e G re co - Bul g a ria n » C o m m u ni ti e s«

securing the instruction and upbringing of their children in accordance with the spirit and traditions of their race and mutually assisting one another. Auch wenn seitens der Richter diese Definition nicht dafür bestimmt war, wurde sie nachträglich in der Völkerrechtslehre zur Bestimmung des Minderheitenbegriffs herangezogen. Ausschlaggebend für diese Entwicklung war die innovative Idee der PCIJ-Richter, bei ihrem Definitionsversuch einer Gemeinschaft zum ersten Mal objektive und subjektive Kriterien einer Minderheit gegenüberzustellen. Die objektiven Kriterien, die nach Auffassung der Richter eine Minderheit kennzeichneten, waren Rasse, Religion, Sprache und Traditionen, während das von ihnen genannte Solidaritätsgefühl der Angehörigen ein subjektives Kriterium darstellte. Anschließend soll gezeigt werden, dass die Definition, die der PCIJ anlässlich des griechisch-bulgarischen Rechtsstreits formulierte und objektive mit subjektiven Kriterien verknüpfte, ab Mitte der er Jahre eine beachtliche völkerrechtliche Nachwirkung entfaltete. Der britische Völkerrechtler Malcolm Shaw hat diesbezüglich Folgendes konstatiert: Such an approach, linking objective and subjective criteria together with the purposive criterion of preserving and developing special characteristics, represents to a large extent the pattern that has been subsequently maintained, even though the Permanent Court’s elaboration was founded upon a particular conventional framework. In den ersten Nachkriegsjahren wurden zunächst von Seiten der internationalen Staatengemeinschaft keine intensiven Anstrengungen unternommen, um das als gescheitert betrachtete Minderheitenschutzsystem der Zwischenkriegszeit in einer effektiveren Form wieder zu errichten. Stattdessen konzentrierte man sich auf den Menschenrechtsschutz, der sich auf das Individuum bezog. Demzufolge enthielten weder die UN-Charta noch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte dezidierte Minderheitenschutzbestimmungen. Trotz dieser »weitgehenden Ausblendung des Minderheitenschutzes aus dem Völkerrecht« ließ die UN-Menschenrechtskommission  eine Unterkommission zur Verhütung von Diskriminierung und zum Schutz von Minderheiten errichten, die sich bis  »hauptsächlich auf einen Normenentwurf zu den Rechten von Minderhei Ebd., .  Künnecke, Arndt: Der europäische Minderheitenbegriff. Entwicklung und Wirkung, Tl. . In: Jurisprudencija/Jurisprudence  () , -, hier ; Nijman, Minorities (wie Anm. ),  f.; Elsner, Bernd Roland: Die Bedeutung des Volkes im Völkerrecht. Unter besonderer Berücksichtigung der historischen Entwicklung und der Praxis des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Berlin , .  Shaw, Malcolm: The Definition of Minorities in International Law. In: The Progression of International Law. Four Decades of the Israel Yearbook on Human Rights. An Anniversary Volume. Hg. v. Yoram Dinstein und Fania Domb. Leiden , -, hier .

197

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

ten« konzentrierte. Im Rahmen dieser Arbeiten legte sie in ihrer fünften Sitzungsperiode eine Studie zur Lage von Minderheiten vor, in der auch die Definition einer Minderheit enthalten war. Diese orientierte sich insofern stark an der Gemeinschaftsdefinition des PCIJ, als sie bei der Beschreibung einer Minderheitengruppe objektive und subjektive Merkmale kombinierte: »The term minority shall include only those non-dominant groups in a population which possess and wish to preserve ethnic, religious or linguistic traditions or characteristics markedly different from those of the rest of the population.« Allerdings wurden gegen diesen Begriff innerhalb der Unterkommission starke Einwände erhoben. Insbesondere merkten mehrere Mitglieder kritisch an, dass das subjektive Kriterium der Willensbekundung von Seiten der Staaten missbraucht werden könnte, um Minderheiten besondere Rechte zu verwehren mit der Begründung, die Betroffenen hätten keinen eigenen Wunsch geäußert, ihre besonderen Charakteristika bewahren zu wollen. In Anbetracht dieser und anderer Meinungsverschiedenheiten traf die Unterkommission  die Entscheidung, die Bemühungen zur Formulierung einer allgemein akzeptierten Minderheitendefinition vorerst einzustellen. Über einen längeren Zeitraum hinweg kam das Verfahren der Ausarbeitung eines völkerrechtlichen Minderheitenbegriffs erneut zum Stillstand. Erst  kam durch die Verabschiedung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) wieder Bewegung in die Angelegenheit. In dessen Art. , der sich auf den Schutz von Minderheiten bezog, wurde zwar keine explizite Minderheitendefinition formuliert, dennoch ließ sich ein Minderheitenbegriff aus der folgenden Schutzbestimmung ableiten: »In those States in which ethnic, religious or linguistic minorities exist, persons belonging to such minorities shall not be denied the right, in community with the other members of their group, to enjoy their own culture, to profess and practise their own religion, or to use their own language.« In seinem Versuch, diesen »implizierten« Minderheitenbegriff des IPBPR expliziter zu definieren, entwickelte Francesco Capotorti Ende der er Jahre eine Minderheitendefinition, die bislang die am meisten akzeptierte und ver Vogler, Helmut: Reform des Minderheitenschutzes in den Vereinten Nationen. In: Die Reform der Vereinten Nationen. Die Weltorganisation zwischen Krise und Erneuerung. Hg. v. Klaus Hüfner. Opladen , -, hier ; Wenzel, Nicola: Das Spannungsverhältnis zwischen Gruppenschutz und Individualschutz im Völkerrecht. Berlin ,  f.  Res. F, UN Doc. E/CN./, para. , zit. n. Shaw, The Definition (wie Anm. ), .  Ebd.,  f.; Künnecke, Der europäische Minderheitenbegriff (wie Anm. ), .  International Covenant on Civil and Political Rights. Adopted by the GA of the UN on  December . No. . In: UN – Treaty Series. Bd. . Hg. v. UN. New York , -, hier . Für die deutsche Fassung siehe: Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom . Dezember . In: Völkerrecht. Textsammlung. . Aufl. Hg. v. Christian Tomuschat. Baden-Baden , -, hier .

198

Da s P C I J - G u t a c h te n im Fall T h e G re co - Bul g a ria n » C o m m u ni ti e s«

breitete im Völkerrecht ist. Der römische Völkerrechtsprofessor, der  als Sonderberichterstatter der besagten Unterkommission zur Verhütung von Diskriminierung und zum Schutz von Minderheiten berufen worden war, erhielt den Auftrag, eine Studie über die »Rechte von Personen, die zu einer ethnischen, religiösen und sprachlichen Minderheit gehören«, zu verfassen. In seiner  vorgelegten Arbeit definierte er eine Minderheit wie folgt: »A group numerically inferior to the rest of the population of a State, in a non-dominant position, whose members – being nationals of the State – possess ethnic, religious or linguistic characteristics differing from those of the rest of the population and show, if only implicitly, a sense of solidarity, directed towards preserving their culture, traditions, religion or language.« In der Definition Capotortis zeichnet sich eine Minderheit in objektiver Hinsicht durch vier Hauptcharakteristika aus: a) numerische Unterlegenheit gegenüber der Titularnation; b) nicht-dominante Stellung im Staat; c) ethnische, religiöse oder sprachliche Gemeinsamkeiten unter den Mitgliedern der Minorität; d) Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaats. In subjektiver Hinsicht ist es wiederum ein Solidaritäts- und Identitätsgefühl, welches die Zugehörigkeit eines Individuums zu einer Minderheitengruppe bestimmt. Diese auf einer Synthese von objektiven und subjektiven Merkmalen basierende Bestimmung einer Minderheit Capotortis, die direkt auf die vom PCIJ  formulierte Definition einer Gemeinschaft zurückgeht, stellt die bis heute meist zitierte Definition in der einschlägigen Literatur dar. Dementsprechend prognostizierte der renommierte britische Völkerrechts- und Minderheitenschutzexperte Patrick Thornberry , dass eine zukünftige, allgemein akzeptierte Minderheitendefinition, falls überhaupt, dann nur gering von der Capotortis abweichen würde.  schlug der kanadische Völkerrechtler Jules Deschênes im Rahmen der sich fortsetzenden Arbeiten der Unterkommission zur Verhütung von Diskriminierung und zum Schutz von Minderheiten eine weitere Minderheitendefinition vor, die auf jener von Capotorti aufbaute. Die Menschenrechtskommission war  von der UN-Generalversammlung ersucht worden, eine Minderheiten Wenzel, Das Spannungsverhältnis (wie Anm. ), .  Capotorti, Francesco: Study on the Rights of Persons Belonging to Ethnic, Religious and Linguistic Minorities, UN Doc. E/CN./Sub.//Rev.(), para. , zit. n. Wenzel, Das Spannungsverhältnis (wie Anm. ), .  Spiliopoulou Åkermark, Athanasia: Justifications of Minority Protection in International Law. London [u. a.] ,  f.  Dahm, Georg/Delbrück, Jost/Wolfrum, Rüdiger: Völkerrecht. Der Staat und andere Völkerrechtssubjekte. Räume unter internationaler Verwaltung. Bd. I/. . Aufl. Berlin , .  Wheatley, Steven: Democracy, Minorities and International Law. Cambridge [u. a.] , ; Irmscher, Tobias H.: Minderheiten und Volksgruppen. In: Völkerrecht. Lexikon zentraler Begriffe und Themen. Hg. v. Burkhard Schöbener. Heidelberg [u. a.] , -, hier .  Thornberry, Patrick: International Law and the Rights of Minorities. Oxford , .

199

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

rechtsdeklaration im Sinne von Art.  des IPBPR auszuarbeiten. Diese delegierte die Aufgabe an ihre Minderheiten-Unterkommission und beauftragte sie zusätzlich, eine Definition des Begriffs »Minderheit« unter Berücksichtigung der bis zu diesem Zeitpunkt stattgefundenen Entwicklungen vorzubereiten. Deschênes legte eine Definition vor, die im Wesentlichen die frühere von Capotorti reproduzierte, aber durch zwei weitere subjektive Kriterien ergänzte: »A group of citizens of a State, constituting a numerical minority and in a non-dominant position in that State, endowed with ethnic, religious or linguistic characteristics which differ from those of the majority of the population, having a sense of solidarity with another, motivated if only implicitly, by a collective will to survive and whose aim to achieve equality with the majority in fact and in law.« Auch bei Deschênes bildete die PCIJ-Definition einer Gemeinschaft den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. In einem  veröffentlichten französischsprachigen Aufsatz zum Thema »Was ist eine Minderheit?« pries er diese als die erste Definition, in der bei der Auflistung der distinkten Merkmale einer Minderheit zwischen objektiven und subjektiven Kriterien unterschieden worden sei. Nichtsdestoweniger wurden in der Unterkommission die zwei von Deschênes hinzugefügten Kriterien, nämlich der Überlebenswille einer Minderheit und deren Forderung nach rechtlicher und faktischer Gleichberechtigung, wegen ihrer einschränkenden Wirkung auf den Minderheitenbegriff kritisiert und letztendlich abgelehnt. Nach diesem erneuten Rückschlag entschied die Menschenrechtskommission , die Fortsetzung der Debatte über die Ausarbeitung einer einheitlichen Begriffsbestimmung in eine unbestimmte Zukunft zu verlegen. Infolgedessen enthielt die »Erklärung über die Rechte von Personen, die nationalen oder ethnischen, religiösen und sprachlichen Minderheiten angehören«, welche am . Dezember  von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommen wurde, keine Minderheitendefinition.

 Deschênes, Jules: Proposal Concerning a Definition of the Term »Minority«. In: UN Doc. E/CN./Sub.//, para. , zit. n. Rössler, Julian: Politische Freiheit im Völkerrecht. Tübingen , .  Deschênes, Jules: Qu’est-ce qu’une minorité? In: Les Cahiers de droit  () , -, hier , .  Åkermark, Justifications (wie Anm. ), .  UN Doc., A/RES//, nd plenary meeting, . Dezember , Declaration on the Rights of Persons Belonging to National or Ethnic, Religious and Linguistic Minorities. In: University of Minnesota. Human Rights Library, http://hrlibrary.umn. edu/resolutions//GA.html (letzter Zugriff: ..).

200

Das PCIJ-Gutachten zum Fall Minority Schools in Albania: Das Prinzip der »positiven Diskriminierung«

Der dritte in Südosteuropa verortete Streitfall, der vom Völkerbundsrat im Januar  dem PCIJ vorgelegt wurde und sich ebenso wie die oben besprochenen besonders prägend auf das Völkerrecht auswirkte, ist die Angelegenheit der griechischen Minderheitenschulen in Albanien. Tirana hatte  durch die Abänderung von Art.  und  der albanischen Verfassung die Schließung aller Privatschulen beschlossen. Insbesondere sahen die beiden geänderten Artikel Folgendes vor: »Article . The instruction and education of Albanian subjects are reserved to the State and will be given in State schools. Article . Primary education is compulsory for all Albanian nationals and will be given free of charge. Private schools of all categories at present in operation will be closed.« Vor ihrer Abänderung hatten Art.  und  der am . Dezember  in Kraft getretenen Verfassung Albaniens sowohl albanischen Staatsbürgern als auch Ausländern das Recht eingeräumt, in Albanien nicht-staatliche Bildungseinrichtungen zu gründen: Article . Elementary education is compulsory for all Albanian subjects and shall be given free of charge in the State schools. Article . Provided they conform with the laws, principles and curricula approved by the State for its own schools, and subject to the effective control of the Government, Albanian subjects may found private schools. Provided they comply with the laws, foreigners may be authorized to found technical and agricultural schools only, with theoretical and practical curricula. Similarly, religious schools may be established by Albanian religious communities with the permission of the competent Minister and in conformity with the laws; the number of the religious schools of any community and of the pupils of such schools shall be fixed by the competent Minister after consultation with the Council of Ministers. Von der auf die privaten Bildungsstätten Albaniens abzielenden Verfassungsänderung waren vor allem die Minderheitenschulen betroffen, deren Großteil wiederum jene der in Südalbanien (in Griechenland mehrheitlich »Nordepirus« genannt) beheimateten griechischen Minderheit ausmachten. Letztere war seit  Für eine konzise Darstellung des Falles siehe Minority Schools in Albania (Albania, Greece), Advisory. In: The World Court Reference Guide. Judgments, Advisory Opinions and Orders of the Permanent Court of International Justice and the International Court of Justice (-). Hg. v. Bimal N. Patel. Dordrecht , -.  PCIJ, Series A./B., Judgments, Orders and Advisory Opinions. Fascicule No. , Minority Schools in Albania, XXXIVth Session, Advisory Opinion of April th [im Folgenden: PCIJ, Minority Schools], , .  Ebd., .

201

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

der Gründung des albanischen Staates  und vor allem nach seiner Aufnahme in den Völkerbund  ein dauerhafter Streitpunkt zwischen Athen und Tirana, die sich nicht nur gegenseitig der Verletzung von Minderheitenrechten beschuldigten, sondern Ansprüche auf Territorien des Anderen erhoben. Die etwa . griechisch-orthodoxen »Nordepiroten« hatten sich bis  mit Klagen gegen Tirana zurückgehalten, da sie nicht an eine effektive Intervention des Völkerbundsrats zu ihren Gunsten glaubten. Ihre Vertreter hegten die Befürchtung, dass sich der Rat im Fall einer von ihnen eingereichten Beschwerde nur auf Lippenbekenntnisse beschränken könnte, während die albanische Regierung auf Vergeltungsmaßnahmen gegen die Klagenden zurückgreifen würde. Die Zögerlichkeit der »Nordepiroten«, beim Völkerbund Beschwerden gegen Tirana einzureichen, hatte wiederholt den Unmut Athens hervorgerufen, das sich seinerseits mit zahlreichen Protesten der an der südepirotischen Küstenregion ansässigen und trotz ihres muslimischen Glaubens von der Lausanner Konvention ausgenommenen Çam-Albaner konfrontiert sah. So beklagte beispielsweise im Juli  der griechische Botschafter in Tirana und spätere ständige Vertreter Griechenlands beim Völkerbund, Panagiotis Pipinelis, dass die Griechen Südalbaniens nicht den Mut aufbrächten, den Völkerbund anzurufen, obwohl ihre Minderheitenrechte immer wieder schwer verletzt würden. Die griechische Minderheit Albaniens gab erst infolge der akuten Gefahr der  Für die Zahl siehe Divani, Ellada (wie Anm. ), .  Die zahlreichen Petitionen der Çamen sind nachgedruckt in: Hg. v. Robert Elsie und Bejtullah Destani: The Cham Albanians of Greece. A documentary History. London . Athen hatte  versucht, die Çam-Albaner in die griechisch-türkischen Bevölkerungsumsiedlung einzubeziehen. Daraufhin intervenierte Tirana beim Völkerbund und verlangte die albanischsprachigen Muslime von dem zwischen Griechenland und der Türkei in Lausanne vereinbarten Austausch zwischen griechisch-orthodoxen Christen und Muslimen auszunehmen. Im Auftrag des Völkerbunds errichtete die für die Überwachung der Umsetzung der Lausanner Konvention zuständige gemischte Kommission eine Unterkommission, die die ethnische Zugehörigkeit der in der südepirotischen Küstenregion lebenden albanophonen Muslime überprüfen sollte. Diese zog als wichtigstes Bestimmungskriterium die Sprache heran. Allerdings führten Differenzen innerhalb der Unterkommission zu ihrer vorzeitigen Auflösung. Als der griechische Aussiedlungsdruck auf die Çam-Albaner weiter zunahm, reichten diese beim Völkerbund Beschwerde ein und erhielten dabei die Unterstützung Tiranas. Die albanische Regierung forderte insbesondere den Völkerbundsrat auf, zugunsten der »unterdrückten albanischen Minderheit« einzugreifen, und verlangte zudem, dass die Muslime Çamerias generell vom Austausch ausgenommen würden. Auf Druck des Völkerbundsrats musste sich schließlich Athen in einer Stellungnahme verpflichten, keinen fait accompli zu unternehmen und den Verlauf des Verfahrens zur Prüfung der ethnischen Zugehörigkeit der Çam-Albaner abzuwarten. Martin Scheuermann: Ein Weltende mit Hindernissen. Albanische Muslime in Griechenland und der »Bevölkerungstausch«. In: Finis mundi – Endzeiten und Weltenden im östlichen Europa. Festschrift für Hans Lemberg zum . Geburtstag. Hg. v. Joachim Hösler und Wolfgang Kessler. Stuttgart , -, hier -.  Divani, Ellada (wie Anm. ), .

202

Da s P C I J - G u t a c h te n zu m Fall M in o ri t y S c h o o l s in A lb a nia

Schließung ihrer Schulen die von Athen angeprangerte passive Haltung auf. Vertreter der »Nordepiroten«, unterstützt von dem griechischen Konsulat in Gjirokastër, legten dem Völkerbund eine Petition vor, in der sie gegen die Beeinträchtigung ihres Rechts auf Unterrichtsfreiheit klagten. Die eingereichte Petition trug die Unterschriften von  Bürgern aus  verschiedenen Gemeinden Südalbaniens. Verfasst und in Umlauf gebracht hatte sie der Verein »Neue Freundschaftliche Gesellschaft«, der von dem Gjirokastërer Bankier Vasileios Sachinis und anderen einflussreichen Mitgliedern der griechischen Minderheit anlässlich der Schulfrage gegründet worden war. Wie an anderer Stelle bereits erwähnt, gehörte Albanien mit Litauen, Estland und Finnland zur Gruppe jener Staaten, die besondere Minderheitenschutzerklärungen vor dem Völkerbundsrat abgeben mussten, um in den Völkerbund aufgenommen zu werden. Art.  der am . Oktober  von Tirana abgegebenen Erklärung zum Schutz von Minderheiten in Albanien garantierte den Betroffenen das Recht, auf eigene Kosten ihre Kirchen, Schulen und andere gemeinnützige Einrichtungen zu gründen und zu betreiben. Der erste Absatz dieses Artikels war von den Minderheitenschutzverträgen, die den anderen ostmittel- und südosteuropäischen Staaten auf der Pariser Friedenskonferenz auferlegt worden waren, wörtlich übernommen: Albanian nationals who belong to racial, religious or linguistic minorities will enjoy the same treatment and security in law and in fact as other Albanian nationals. In particular, they shall have an equal right to maintain, manage and control at their own expense or to establish in the future, charitable, religious and social institutions, schools and other educational establishments, with the right to use their own language and to exercise their religion freely therein. Within six months from the date of the present Declaration, detailed information will be presented to the Council of the League of Nations with regard to the legal status of the religious communities, Churches, Convents, schools, voluntary establishments and associations of racial, religious and linguistic minorities. The Albanian Government will take into consideration any advice it might receive from the League of Nations with regard to this question. Die albanische Regierung vertrat in ihrer Stellungnahme zur besagten Petition der griechischen Minderheit die Position, dass die Abschaffung der Privatschulen eine Maßnahme sei, die nicht nur Minderheiten, sondern die Gesamtheit  Ebd.,  f.  Eleftheria Manta: Opseis tis italikis epidrasis sti diamorfosi ton ellinoalvanikon scheseon kata tin periodo tou mesopolemou. Unveröffentlichte Dissertation, AristotelesUniversität Thessaloniki , -.  Ermacora, Minderheiten (wie Anm. ), .  Declaration Concerning the Protection of Minorities in Albania, Geneva, October , . In: Annex of PCIJ, Minority Schools (wie Anm. ),  f., hier .

203

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

der Bevölkerung betreffe und infolgedessen mit Art.  Abs.  der albanischen Minderheitendeklaration konform sei. Daraufhin ersuchte der Völkerbundsrat am . Januar  den PCIJ um eine Begutachtung des Streitgegenstands, indem er insbesondere zweierlei wissen wollte: [The Council of the League of Nations] requests the Permanent Court of International Justice to express an advisory opinion on the following questions: . whether, regard being had to the above-mentioned Declaration of October nd, , as a whole, the Albanian Government is justified in its plea that, as the abolition of the private schools in Albania constitutes a general measure applicable to the majority as well as to the minority, it is in conformity with the letter and the spirit of the stipulations laid down in Article , first paragraph, of that Declaration; . and if so, whether the Council of the League of Nations can, on the basis of the second paragraph of the said Article, formulate recommendations going beyond the provisions of the first paragraph. Der PCIJ forderte anschließend Albanien und Griechenland auf, schriftliche Stellungnahmen zum Sachverhalt abzugeben. Zudem wurden Vertreter der beiden Regierungen zu Anhörungen nach Den Haag eingeladen. Diese fanden am . und . März  statt. Die griechischen Positionen trugen der besagte, international renommierte Völkerrechtler und ständige Vertreter Griechenlands im Völkerbund Nikolaos Politis sowie Georgios Lagoudakis, der griechische Bevollmächtigte in Den Haag, vor. Albanien wurde wiederum durch den Pariser Jura-Professor Gilbert Gidel und M. Mehdi Frasheri, dem Präsidenten des Albanischen Staatsrats, repräsentiert. Tirana nahm in ihrer an den PCIJ adressierten Stellungnahme die Position ein, dass Albanien in Art.  seiner am . Oktober  abgegebenen Minderheitendeklaration einzig und allein die Verpflichtung eingegangen sei, den Angehörigen einer ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheit in Bildungsan »In consideration of the plea adduced before the Council by the representative of the Albanian Government that, as the abolition of private schools in Albania constitutes a general measure applicable to the majority as well as to the minority, it is in conformity with Article , first Paragraph, of the Albanian declaration.« PCIJ, Minority Schools (wie Anm. ), .  Ebd.,  f.  »In conformity with Article , No. , paragraph , of the Rules, the request was communicated to members of the League of Nations (through the Secretary-General of the League) and to States entitled to appear before the court. Furthermore, the Registrar, by letter dated January th, , sent to two States regarded by the President – the Court not being in session – as likely to be able to furnish information on the question referred to the Court for advisory opinion, the special and direct communication mentioned in Article , No. , paragraph , of the Rules. These States were Albania and Greece.« Ebd., .  Ebd., .

204

Da s P C I J - G u t a c h te n zu m Fall M in o ri t y S c h o o l s in A lb a nia

gelegenheiten dieselben Rechte wie den zur Titularnation gehörenden albanischen Staatsbürgern einzuräumen. Eine Ausnahme der Minderheitenschulen von dem allgemeinen Verbot von Privatschulen würde eine Verletzung des Gleichheitsprinzips und eine Diskriminierung der Mehrheitsbevölkerung zur Folge haben. Schließlich forderte die albanische Seite, dass bei der Auslegung strittiger Bestimmungen der Minderheitendeklaration dem staatlichen Souveränitätsprinzip gegenüber dem Minderheitenschutz Vorrang eingeräumt werde. Der PCIJ fasste in seinem Gutachten die albanische Position wie folgt zusammen: The contention of the Albanian Government is that the above-mentioned clause [in Article , first paragraph, of the minority rights declaration of October nd, ] imposed no other obligation upon it, in educational matters, than to grant to its nationals belonging to racial, religious, or linguistic minorities a right equal to that possessed by other Albanian nationals. Once the latter have ceased to be entitled to have private schools, the former cannot claim to have them either. This conclusion, which is alleged to follow quite naturally from the wording of paragraph I of Article , would, it is contended, be in complete conformity with the meaning and spirit of the treaties for the protection of minorities, an essential characteristic of which is the full and complete equality of all nationals of the State, whether belonging to the majority or to the minority. On the other hand, it is argued, any interpretation which would compel Albania to respect the private minority schools would create a privilege in favour of the minority and run counter to the essential idea of the law governing minorities. Moreover, as the minority regime is an extraordinary regime, constituting a derogation from the ordinary law, the text in question, should, in case of doubt, be construed in the manner most favourable to the sovereignty of the Albanian state. In der griechischen Gegenargumentation wurde behauptet, dass die gleichberechtigte Behandlung von Minderheiten und Titularnation, auf die sich Tirana berufe, nur ein Zusatzrecht zum Grundrecht der Gründung und Unterhaltung von Privatschulen sei. Die Anwendung desselben Prinzips bei der Behandlung von Gruppen mit verschiedenen Bedürfnissen, fuhr Athen fort, würde »nur eine scheinbare Gleichberechtigung erzeugen, während die albanische [Minderheitenschutz-]Erklärung, die sich in Übereinstimmung mit dem allgemein geltenden Minderheitenrecht befindet, so konzipiert wurde, dass sie nicht nur eine formale, sondern auch eine echte und effektive Gleichheit gewährleistet«. Im weiteren Verlauf machte Politis bei seiner Vorsprache darauf aufmerksam, dass sich der albanische Minderheitenschutzvertrag von den Minderheitenschutzverträgen der anderen Staaten insofern unterscheide, als er eigentlich keine neuen  Ebd., .  Ebd.

205

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

Minderheitenrechte begründe. Er würde lediglich die Fortsetzung der bereits vor der albanischen Staatsgründung bestehenden »religiösen und Bildungsautonomie« der »griechischen Gemeinschaften Albaniens« garantieren. Politis machte diese Behauptung an der Formulierung »to maintain« fest, die der zweite Satz des ersten Paragraphen des oben zitierten Art.  enthielt. In diesem Zusammenhang erläuterte er den Richtern, dass Minderheitenrechte im »Nahen Osten« – gemeint war damit das osmanische Südosteuropa – schon sehr lange unter der Bezeichnung »Gemeinschaftsrechte« existiert hätten. Infolgedessen plädierte die griechische Seite dafür, dass die albanische Minderheitenschutzerklärung vor dem Hintergrund der besonderen historischen und sozialen Verhältnisse Albaniens interpretiert werde: The declaration of October nd, , belongs to the numerous category of international acts designed for the protection of minorities. The Greek Government recognizes this fact, but it contends that the Declaration must be construed in the light of the historical and social conditions of Albania, and with regard, in particular, to the fact that the rights of minorities had been long in existence in the Near East, where they were known by the name of community rights. Der PCIJ lehnte dieses letzte Argument Griechenlands ab. Zwar akzeptierten die Richter, dass beim Verfassen des albanischen Minderheitenschutzvertrags »einige besondere Aspekte« berücksichtigt worden seien, sodass es in der Tat »gewisse Unterschiede« zwischen der albanischen Minderheitenschutzerklärung von  und anderen Verträgen dieser Art gebe. Dennoch seien diese nicht dermaßen gravierend, dass man im albanischen Fall von einem wesentlich anderen Minderheitenschutzregime im Vergleich zu dem der anderen Länder Ostmittel- und Südosteuropas ausgehen müsse: These considerations cannot however prevail against the fact that what the Council of the League of Nations asked Albania to accept, and what Albania did accept, was a regime of minority protection substantially the same as that which had been already agreed upon with other States in which there were no »communities«. The differences between the text of the Albanian Declaration and the other texts of the same kind do not affect the essential features of that Act. Trotzdem bekam die griechische Seite von den Richtern im Hauptstreitpunkt insofern Recht, als diese zum Ergebnis gelangten, dass das albanische Argument, die allgemeine Abschaffung der Privatschulen befinde sich in Übereinstimmung mit der Minderheitenschutzerklärung von , unzureichend begründet sei:  Ebd., .  Ebd.,  f.  Ebd., .

206

Da s P C I J - G u t a c h te n zu m Fall M in o ri t y S c h o o l s in A lb a nia

The court is of opinion, by eight votes to three, that the plea of the Albanian Government that, as the abolition of private schools in Albania constitutes a general measure applicable to the majority as well as to the minority, it is in conformity with the letter and spirit of the stipulations laid down in Article , first paragraph, of the Declaration of October nd, , is not well founded. In der ausführlichen Begründung seiner Entscheidung definierte der PCIJ zuerst das grundlegende Ziel der Minderheitenschutzverträge und -erklärungen, welche die ostmittel- und südosteuropäischen Länder, darunter auch Albanien, im Zuge ihrer Staatsgründung und ihres Eintritts in den Völkerbund unterzeichneten. Dieses bestehe in der Sicherstellung des friedlichen Zusammenlebens einer oder mehrerer Minderheiten mit der Titularnation eines Staates bei gleichzeitiger Erhaltung der distinktiven Merkmale dieser Minderheiten: The idea underlying the treaties for the protection of minorities is to secure for certain elements incorporated in a State, the population of which differs from them in race, language or religion, the possibility of living peaceably alongside that population and co-operating amicably with it, while at the same time preserving the characteristics which distinguish them from the majority, and satisfying the ensuing special needs. Zur Verwirklichung dieses Zieles nannte das Gericht zwei Voraussetzungen, die dafür unabdingbar seien – zum einen die »perfekte Gleichstellung« von Minderheits- und Mehrheitsbevölkerung, zum anderen die Bereitstellung der notwendigen Mittel für die Erhaltung der besonderen Eigenschaften der Minderheit: In order to attain this object, two things were regarded as particularly necessary, and have formed the subject of provisions in these treaties. The first is to ensure that nationals belonging to racial, religious or linguistic minorities shall be placed in every respect on a footing of perfect equality with the other nationals of the State. The second is to ensure for the minority elements suitable means for the preservation of their racial peculiarities, their traditions and their national characteristics. Da die beiden Voraussetzungen in einem Interdependenzverhältnis zueinander stünden, liege dem Gericht zufolge eine Verletzung der tatsächlichen Gleichheit zwischen Titularnation und Minderheit dann vor, wenn letztere ihrer eigenen Institutionen beraubt und infolgedessen gezwungen werde, diese Eigenschaften abzulegen, die ihr Wesen ausmachten, also ihre Kultur, Sprache und Religion: »These two requirements are indeed closely interlocked, for there would be no  Ebd., .  Ebd., .  Ebd.

207

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

true equality between a majority and minority if the latter were deprived of its own institutions, and were consequently compelled to renounce that which constitutes the very essence of its being as a minority.« Die Richter widmeten den größten Teil ihres Gutachtens der Gleichstellungsproblematik. Sie taten dies, indem sie hauptsächlich die konkrete Bedeutung von Art.  der albanischen Minderheitenschutzerklärung erörterten. Insbesondere ging es dabei um die Auslegung der Bestimmung, dass »albanische Staatsbürger, die ethnischen, sprachlichen oder religiösen Minderheiten angehören, dieselbe rechtliche und faktische Behandlung und Sicherheit wie die ethnischen Albaner genießen«. Bemerkenswerterweise war diese Formulierung ausgerechnet unter dem Einfluss Griechenlands zustande gekommen. In einem Memorandum vom . Mai  zur geplanten albanischen Erklärung hatte die griechische Seite eine Reihe von Forderungen gestellt, darunter auch folgende: That all Albanian subjects belonging to racial, religious or linguistic minorities should enjoy the same treatment and the same security, both in fact and in law, as other Albanian subjects; and that they should be entitled to establish, to administer and to control at their own expense, charitable, religious or scholastic institutions of all kinds, to employ their own language and to practice their own religion freely without interference by the authorities, provided that the interest of public order is safeguarded. Athen hatte wiederum diese Formulierung aus den Minderheitenschutzverträgen übernommen, die Polen, die Tschechoslowakei, das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, Rumänien und Griechenland selbst im Rahmen der Pariser Friedensverträge unterzeichnet hatten. Z. B. in Art.  und  des griechischen Minderheitenschutzvertrags hieß es: All Greek nationals shall be equal before the law and shall enjoy the same civil and political rights without distinction as to race, language or religion. […] Greek nationals who belong to racial, religious or linguistic minorities shall enjoy the same treatment and security in law and in fact as the other Greek nationals. In particular they shall have an equal right to establish, manage and control at their own expense charitable, religious and social institutions, schools and other educational establishments, with the right to use their own language and to exercise their religion freely therein. Die damalige Reaktion des albanischen Außenministeriums auf die griechische Forderung hatte sich auf den Verweis beschränkt, dass eine »Gleichbehandlung, sowohl rechtliche als auch faktische, für alle albanischen Staatsbürger unabhän-

 Ebd.  Ebd., .  Treaty Greece (wie Anm. ),  f.

208

Da s P C I J - G u t a c h te n zu m Fall M in o ri t y S c h o o l s in A lb a nia

gig von ihrer Religion« existiere. Im Entwurf der albanischen Minderheitenschutzerklärung, der vom Briten Sir John Fischer Williams ausgearbeitet und beim Völkerbundsrat eingereicht wurde, seien nach Angaben Tiranas die »meisten Vorschläge der griechischen Regierung berücksichtigt« worden, u. a. auch die Forderung nach einer ebenso rechtlichen wie faktischen Gleichberechtigung von albanischer Titularnation und den in Albanien lebenden ethnischen, sprachlichen und religiösen Minderheiten. Die PCIJ-Richter, die in ihrem Gutachten ausführlich Bezug auf diese Vorgeschichte nahmen, unterstrichen die Besonderheit von Art.  der albanischen Minderheitendeklaration, der aus ihrer Sicht in Verbindung mit Art.  derselben Deklaration nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine faktische Gleichheit der Minderheiten garantiere. Den Richtern zufolge sei in Art.  die Gleichheit aller Staatsbürger Albaniens, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Muttersprache und Religion, vor dem Gesetz vorgesehen, während Art.  durch seinen besonderen Hinweis auf die Praxis einen Gleichberechtigungsbegriff impliziere, der sich ausschließlich auf die Beziehungen zwischen Titularnation und Minderheit beziehe. Dieser Unterschied zwischen den beiden Artikeln der albanischen Minderheitenschutzerklärung wurde im Gutachten des PCIJ wie folgt ausführlich erläutert: It must be noted to begin with that the equality of all Albanian nationals before the law has already been stipulated in the widest terms in Article . As it is difficult to admit that Article  set out to repeat in different words what had already been said in Article , one is led to the conclusion that »the same treatment and security in law and fact« which is provided for in Article  is not the same notion as the equality before the law which is provided for in Article . Moreover, as Article  stipulates equality before the law for all Albanian nationals, while Article  stipulates the »same treatment and security in law and in fact« for Albanian nationals belonging to racial, religious or linguistic minorities as compared with other Albanian nationals, it is natural to conclude that the »same treatment and security in law and in fact« implies a notion of equality which is peculiar to the relations between the majority and minorities. This special conception finds expression in the idea of an equality in fact which in Article  supplements equality in law. All Albanian nationals enjoy the equality in law stipulated in Article ; on the other hand, the equality between members of the majority and of the minority must, according to the terms of Article , be an equality in law and in fact.

   

PCIJ, Minority Schools (wie Anm. ), .

Ebd., . Ebd., . Ebd.,  f.

209

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

Zur weiteren Erörterung des Sachverhalts unternahmen die Richter den Versuch, den Unterschied zwischen »rechtlicher Gleichheit« (»equality in law«) und »faktischer Gleichheit« (»equality in fact«) zu konkretisieren, indem sie auch auf das Gutachten des PCIJ von  im Fall Questions Relating to German Settlers in Poland verwiesen. In diesem hatte das Gericht klargestellt, dass der Minderheitenschutz über die Grenzen einer »formalen Gleichstellung« hinausgehe: Article  of the [Polish minority] Treaty guarantees to racial minorities the same treatment and security »in law and in fact« as to other Polish nationals. The facts that no racial discrimination appears in the text of the law of July th, , and that in a few instances the law applies to non-German Polish nationals who took as purchasers from original holders of German race, make no substantial difference. Article  is designed to meet precisely such complaints as are made in the present case. There must be equality in fact as well as ostensible legal equality in the sense of the absence of discrimination in the words of the law. Die Richter gingen nun im Fall Minority Schools in Albania einen entscheidenden Schritt weiter und verliehen der Formulierung der »faktischen Gleichheit« die Bedeutung eines positiven Diskriminierungsschutzes, der auf die Bewahrung bzw. die Wiederherstellung der Gleichstellung einer Minderheit mit dem Rest der Bevölkerung abzielen müsse: It is perhaps not easy to define the distinction between the notions of equality in fact and equality in law; nevertheless, it may be said that the former notion excludes the idea of a merely formal equality […] Equality in law precludes discrimination of any kind; whereas equality in fact may involve the necessity of different treatment in order to attain a result which establishes an equilibrium between different situations. It is easy to imagine cases in which equality of treatment of the majority and of the minority, whose situation and requirements are different, would result in inequality in fact; treatment of this description would run counter to the first sentence of paragraph  of Article . The equality between members of the majority and the minority must be an effective, genuine equality; that is the meaning of this provision. Der PCIJ setzte seine Argumentation mit der Feststellung fort, dass Schulen und andere gemeinnützige Einrichtungen für die faktische Gleichstellung einer Minderheit unerlässlich seien. Ihre Abschaffung hätte die direkte Benachteiligung  PCIJ, Serie B. No. , Collection of Advisory Opinions, Advisory Opinion given by the Court on September th  on Certain Questions Relating to Settlers of German Origin in the Territory Ceded by German to Poland. Leiden ,  f.  Johannes Niewerth: Der kollektive und der positive Schutz von Minderheiten und ihre Durchsetzung im Völkerrecht. Berlin ,  f.  PCIJ, Minority Schools (wie Anm. ),  f.

210

Da s P C I J - G u t a c h te n zu m Fall M in o ri t y S c h o o l s in A lb a nia

der Minderheit gegenüber der Titularnation zur Folge. Während die Mehrheitsbevölkerung weiterhin ihren sprachlichen und kulturellen Bedürfnissen in den staatlichen Einrichtungen nachgehen könnte, wäre die Minderheit der Gefahr des Verlusts ihrer besonderen Charakteristika ausgesetzt: [T]he institutions mentioned in the second sentence [of Art. , § , of the Albanian Declaration] are indispensable to enable the minority to enjoy the same treatment as the majority, not only in law but also in fact. The abolition of these institutions, which alone can satisfy the special requirements of the minority groups, and their replacement by government institutions, would destroy this equality of treatment, for its effect would be to deprive the minority of the institutions appropriate to its needs, whereas the majority would continue to have them supplied in the institutions created by the state. Demzufolge interpretierten die Richter die im zweiten Satz von Art.  der Minderheitenschutzerklärung von  beinhaltete Formulierung des »gleichen Rechts« (»equal right«) bezüglich der Gründung und Verwaltung eigener Schulen durch die Minderheiten Albaniens ebenso im Sinne des besagten Prinzips der positiven Diskriminierung: The idea embodied in the expression »equal right« is that the right thus conferred on the members of the minority cannot in any case be inferior to the corresponding right of other Albanian nationals. In other words, the members of the minority must always enjoy the right stipulated in the Declaration, and, in addition, any more extensive rights which the State may accord to other nationals. The right provided by the Declaration is in fact the minimum necessary to guarantee effective and genuine equality as between the majority and the minority; but if the members of the majority should be granted a right more extensive than that which is provided, the principle of equality of treatment would come into play and would require that the more extensive right should also be granted to the members of the minority. Unter Berücksichtigung der genannten Erkenntnisse über den Buchstaben und den Geist von Art.  der albanischen Minderheitenschutzerklärung kam das Gericht zum Ergebnis, dass das Recht der in Albanien lebenden Minderheiten auf eigene Schulen und andere gemeinnützige Einrichtungen unantastbar sei: The Court therefore finds that paragraph I of Article  of the Declaration of October nd, , ensures for Albanian nationals belonging to racial, linguistic or religious minorities the right to maintain, manage and control at their own expense or to establish in the future charitable, religious and social insti Ebd.,  f.  Ebd., .

211

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

tutions, schools and other educational establishments, with the right to use their own language and to exercise their religion freely therein. Das Gutachten über die Minderheitenschulen in Albanien ist insofern von herausragender völkerrechtlicher Bedeutung, als die oben genannte Erläuterung des PCIJ zur Bewahrung des innerstaatlichen und internationalen Friedens sowie zur Sicherung der Erhaltung der distinktiven Merkmale und Traditionen einer Minderheit »noch heute der vorherrschenden Auffassung in der Völkerrechtsliteratur entspricht, was das Ziel und den Zweck des Minderheitenschutzes betrifft«. In diesem Zusammenhang wurde zum ersten Mal von einer Gerichtsinstanz explizit anerkannt, dass die Sonderbehandlung einer Minderheit in der Form einer positiven Diskriminierung ein nicht nur zulässiges, sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch notwendiges Mittel zur Verwirklichung der tatsächlichen Gleichberechtigung sei, insbesondere wenn die »konventionellen« Antidiskriminierungsgesetze für den effektiven Schutz einer Minderheit nicht ausreichen. Dieser Grundsatz der positiven Diskriminierung wurde im Minderheitenschutzsystem der Vereinten Nationen, das sich, wie an anderer Stelle schon erwähnt, erst mit einer gewissen Verzögerung entwickeln konnte, übernommen. Nach Meinung mehrerer Experten gehe Art.  des besagten IPBPR – trotz seiner negatorischen Formulierung – über ein simples Diskriminierungsverbot hinaus, indem er die Herstellung einer faktischen Gleichheit von Minderheit und Mehrheitsbevölkerung durch Maßnahmen einer positiven Diskriminierung der Minorität erlaube. Diese Ansicht vertritt z. B. der US-amerikanische Völkerrechtler Alfred de Zayas, der bei seinen Ausführungen zu Art.  IPBPR einen expliziten Bezug auf den prägenden Einfluss der PCIJ-Stellungnahme von  nimmt: [A]rticle  can be seen as guaranteeing both aspects of equality: non-discrimination (equality in law) and special protection (equality in fact). Nor is Article  superfluous or redundant in outlawing discrimination, which is already prohibited in Article  of the Covenant. It cannot be overlooked that specific goods, viz. minority cultures and languages, have now been expressly brought within the ambit of the Covenant. Thus a definite, though modest step has been taken with a view to ensuring equality in fact as defined by the

 Ebd., .  Pritchard, Der völkerrechtliche Minderheitenschutz (wie Anm. ), .  Åkermark, Justifications (wie Anm. ),  f.; Michael O’ Boyle/Michelle Lafferty: General Principles and Constitutions as Sources of Human Rights Law. In: Shelton, The Oxford Handbook (wie Anm. ), -.  Kovács, The Protection (wie Anm. ), .

212

Da s P C I J - G u t a c h te n zu m Fall M in o ri t y S c h o o l s in A lb a nia

Permanent Court of International Justice in its Minority Schools in Albania Advisory Opinion of  April . Auch der deutsche Völkerrechtler Christian Tomuschat teilt die Meinung, dass Art.  IPBPR nicht allein mit einem Diskriminierungsverbot ausgestattet sei. Zusätzlich lasse sich daraus ein Recht auf positive Maßnahmen zugunsten einer Minderheit ableiten. In diesem Zusammenhang verweist auch er auf den Ursprung des Grundsatzes der positiven Diskriminierung, der im hier besprochenen Gutachten des PCIJ zum Fall Minority Schools in Albania enthalten sei. Schließlich hält Julian Rössler zu dem in Art.  IPBPR verankerten Recht einer Minderheit auf faktische Gleichstellung mit der Titularnation durch positive Maßnahmen, die von Seiten des Staates ergriffen werden müssen, Folgendes fest: Der Minderheitenschutz des Zivilpakts […] ist deshalb von besonderer Bedeutung, da in ihm nicht nur ein Recht der Minderheitenangehörigen auf Gleichberechtigung steckt, sondern zugleich die Pflicht des Staates statuiert wird, Minderheiten besonderen Schutz zu gewähren. Dies kann notfalls auch durch positive Diskriminierung erfolgen, um zur faktischen Gleichstellung von Minderheitenangehörigen und sonstigen Bürgern des Staates zu gelangen. […] Art.  IPBPR gibt den Minderheiten […] nicht nur das Recht zum Genuss ihrer Kultur, Sprache und Religion, sondern fordert vom Staat auch aktiven Schutz der Minderheit. Art.  IPBPR beinhaltet in der Folge nicht nur ein Abwehrrecht, sondern auch ein Leistungsrecht. Die Nachwirkung des Gutachtens von  in der Gestalt der Durchsetzung des Prinzips der positiven Diskriminierung im Völkerrecht mit dem Ziel der faktischen Gleichstellung von Minderheitenangehörigen und Mehrheitsbevölkerung eines Staates ist auch in jüngeren Instrumenten des internationalen Minderheitenschutzes anzutreffen, wie etwa in der bereits erwähnten Deklaration der UNGeneralversammlung von  über die Rechte von Personen, die zu nationalen oder ethnischen, religiösen und sprachlichen Minderheiten gehören. In Art. ,  Zayas, Alfred de: The International Judicial Protection of the Rights of Peoples and Minorities. In: Peoples and Minorities in International Law. Hg. v. Catherine Brölmann, René Lefeber and Marjoleine Zieck. Kluwer , -, hier .  Tomuschat, Christian: Protection of Minorities under Article  of the International Covenant on Civil and Political Rights. In: Völkerrecht als Rechtsordnung – Internationale Gerichtsbarkeit – Menschenrechte. Festschrift für Hermann Mosler. Hg. v. Rudolf Bernhardt, Wilhelm Karl Geck, Günther Jaenicke und Helmut Steinberger. Berlin [u. a.] , -, hier .  Rössler, Julian: Politische Freiheit im Völkerrecht: Eine Darstellung des pluralistischen Demokratieverständnisses im universellen Menschenrechtsschutz anhand von Umfang und Grenzen der Parteienfreiheit. Tübingen ,  f.  Kovács, The Protection (wie Anm. ), ; Vrdoljak, Ana Filipa: Liberty, Equality, Diversity: States, Cultures, and International Law. In: The Cultural Dimension of Human Rights. Hg. v. Ana Filipa Vrdoljak. Oxford , -, hier .

213

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

Abs.  dieses Vertragstextes heißt es: »Measures taken by States to ensure the effective enjoyment of the rights set forth in the present Declaration shall not prima facie be considered contrary to the principle of equality contained in the Universal Declaration of Human Rights.« Zwei Jahre später nahm der UNMenschenrechtsausschuss in seinem »Allgemeinen Kommentar Nummer « eine Auslegung der im oben genannten Art.  IPBPR geschützten Minderheitenrechte vor, in der er u. a. bestätigte, dass der effektive Minderheitenschutz auch die Ergreifung positiver Maßnahmen mit einschließe: .. Although article  is expressed in negative terms, that article, nevertheless, does recognize the existence of a »right« and requires that it shall not be denied. Consequently, a State party is under an obligation to ensure that the existence and the exercise of this right are protected against their denial or violation. Positive measures of protection are, therefore, required not only against the acts of the State party itself, whether through its legislative, judicial or administrative authorities, but also against the acts of other persons within the State party. .. Although the rights protected under article  are individual rights, they depend in turn on the ability of the minority group to maintain its culture, language or religion. Accordingly, positive measures by States may also be necessary to protect the identity of a minority and the rights of its members to enjoy and develop their culture and language and to practise their religion, in community with the other members of the group. Schließlich fand das erstmals im PCIJ-Gutachten Minority Schools in Albania formulierte Prinzip der positiven Diskriminierung Eingang in die  von der UN-Generalversammlung verabschiedeten Erklärung über die Rechte der Indigenen Völker. Art.  bestimmt in dieser Hinsicht Folgendes: . Indigenous peoples have the right, without discrimination, to the improvement of their economic and social conditions, including, inter alia, in the areas of education, employment, vocational training and retraining, housing, sanitation, health and social security. . States shall take effective measures and, where appropriate, special measures to ensure continuing improvement of their economic and social conditions. Particular attention shall be paid to the rights and special needs of indigenous elders, women, youth, children and person with disabilities.

 UN, A/RES// (wie Anm. ).  UN Human Rights Committee (HRC), CCPR General Comment No. : Article  (Rights of Minorities), . April , CCPR/C//Rev./Add.. In: Refworld – UNHCR, https://www.refworld.org/docid/fc.html (letzter Zugriff: ..).  UN, A//, . September , UN Declaration on the Rights of Indigenous Peoples. In: UN Department of Economic and Social Affairs, http://www.un.org/esa/ socdev/unpfii/documents/DRIPS_en.pdf (letzter Zugriff: ..).

214

Zwischenbilanz

In Kapitel  wurde gezeigt, dass Südosteuropa auf der sich nach Ende des Ersten Weltkriegs grundlegend veränderten Bühne der internationalen Beziehungen eine besondere Position hinsichtlich der sich neu formierenden und ergänzenden Gebiete des Minderheitenschutzes und des völkerrechtlich geregelten Bevölkerungstransfers einnahm. In kaum einer anderen Region Europas und der Welt trafen dermaßen viele Faktoren der Einflussnahme auf die neue, durch Nationalitätenprinzip und Selbstbestimmungsrecht der Völker bestimmte Staatenpraxis zusammen: imperialer Zerfall, Gründung neuer Nationalstaaten, Grenzverschiebungen, Irredentismus und Revisionismus, ethnoreligiöse und ethnopolitische Gewalt, Bevölkerungsumsiedlungen als Folge ethnischer Säuberungsunternehmen. Selbst in dem größtenteils aus dem zerfallenen Habsburger Imperium hervorgegangenen Ostmitteleuropa der Zwischenkriegszeit, das Anfang der er Jahre infolge der polnischen und tschechoslowakischen Staatsgründung ebenso im Mittelpunkt der Herausbildung neuer völkerrechtlicher Normen stand, waren nicht alle der genannten Faktoren anzutreffen. Insbesondere das ethnoreligiöse Konfliktpotential, wie dieses in Teilen Südosteuropas in Form der gewaltsam erfolgten Trennung von orthodoxen Christen und Muslimen in Erscheinung trat, war im östlichen Mitteleuropa nicht vorhanden, während das Phänomen der Bevölkerungsumsiedlungen diese Region erst später, nämlich Ende der er und in den er Jahren, heimsuchte. Aufgrund der ganz besonderen Faktorenkonstellation entstanden im neuen Südosteuropa der Nationalstaaten genuine Problem- und Konfliktlagen, die innovativer Lösungen bedurften. Zugleich wurde mit der Gründung von Völkerbund und PCIJ ein neues Instrument der friedlichen Streitbeilegung ins Leben gerufen, mittels dessen vor allem bei »Streitfällen zwischen Kleinstaaten, die innerhalb des Aktionsradius der maßgeblichen Völkerbundsstaaten lagen, und an deren Beilegung diese interessiert waren«, Erfolge verzeichnet werden konnten. In diesem auf regionaler wie internationaler Ebene stark veränderten Kontext sind die drei, in diesem Kapitel ausführlich besprochenen südosteuropäischen Streitfälle, die vor den PCIJ kamen, einzuordnen und zu analysieren. Bemerkenswerterweise war Griechenland in allen drei Fällen als Streitpartei beteiligt. Zum einen ist dies auf die Tatsache zurückzuführen, dass der sein Territorium erheblich vergrößert habende südosteuropäische Staat in beiden im Rahmen des Völkerbunds abgeschlossenen und durchgeführten Bevölkerungsaustauschabkommen von Neuilly und Lausanne eine der beiden Vertragsparteien war. Wie noch im darauffolgenden Kapitel gezeigt wird, hatte Athen, insbesondere der griechische Premierminister Eleftherios Venizelos, diese Ab Siehe dazu ausführlicher unter Kapitel .  Link, Werner: Macht und Völkerrecht zwischen den beiden Weltkriegen. In: Lappenküpper/Marcowitz, Macht (wie Anm. ), -, hier .

215

Vö lke r re c h tli c h e I n n ova tio n e n

kommen initiiert. Zum anderen war Griechenland ein Kleinstaat, der nach der verheerenden Niederlage im Krieg gegen die Türkei nach innerstaatlicher Konsolidierung strebte und sich am Status quo orientierte. Demzufolge war von Seiten Athens die Einschaltung von Völkerbundsrat und PCIJ der präferierte Weg, um seine Interessen gegenüber mächtigeren oder revisionistischen Nachbarstaaten zu verteidigen bzw. durchzusetzen. Mit Nikolaos Politis verfügte Griechenland über einen international anerkannten Völkerrechtler und Diplomaten, der die griechischen Interessen vor dem PCIJ bestens vertreten konnte. Politis gehörte zu jenen zeitgenössischen progressiven Völkerrechtlern und Politikern, die sich von der Vorstellung leiten ließen, dass in Zukunft zwischenstaatliche Konflikte nicht mehr auf dem Kriegsfeld, sondern vor internationalen Gerichten ausgetragen würden. In diesem Zusammenhang unternahm er vor allem in den er Jahren große Anstrengungen zur Kodifizierung und Durchsetzung eines völkerrechtlichen Gewaltverbots. U. a. bereitete er  gemeinsam mit Edvard Beneš den Entwurf des Genfer Protokolls zur friedlichen Beilegung internationaler Streitigkeiten vor. Sein besonderes Interesse galt auch der völkerrechtlichen Frage der staatlichen Neutralität. Darüber hinaus vertrat Politis Positionen, die den traditionellen Vorrang der absoluten Souveränität von Staaten infrage stellten und die Anerkennung eigener Rechte und Pflichten für das Individuum vorantrieben. Vor diesem Hintergrund ist auch besser verständlich, warum Politis ein starker Verfechter der Einschaltung des PCIJ war, wenn es um die Verletzung der Rechte von griechischen Minderheitsangehörigen in den Nachbarstaaten ging. Umso mehr überrascht andererseits die Tatsache, dass Politis, wie noch im nächsten Kapitel zu zeigen sein wird, derjenige war, der den besagten Vertragstext von Neuilly zum griechisch-bulgarischen Bevölkerungsaustausch konzipierte. Obgleich die Konvention von Neuilly aufgrund ihres fakultativen Charakters nicht mit der Konvention von Lausanne gleichzusetzen ist, gründete auch diese auf der Maxime der Lösung ethnoterritorialer Konflikte mittels der Entmischung von Völkern (»unmixing of peoples«) und der Herstellung ethnonationaler Homogenität. Unabhängig von der Rolle Politis’ sind mit den drei oben vorgestellten südosteuropäischen Streitfällen, mit denen sich der PCIJ in der Zwischenkriegszeit beschäftigte, im Bereich des internationalen Minderheitenschutzes wichtige  Tsagourias, Nicholas: Nicolas Politis’ Initiatives to Outlaw War and Define Aggression, and the Narrative of Progress in International Law. In: The European Journal of International Law  () , -; Leontaritis, George B.: Greece and the First World War: From Neutrality to Intervention, -. Colorado ,  f., ; Winter, Jay/Prost, Antoine: René Cassin and Human Rights: From the Great War to the Universal Declaration. Cambridge [u. a.] , ; Gross, Leo: The Criminality of Aggressive War. In: Essays on International Law and Organization. Bd. . Hg. v. Leo Gross. Den Haag [u. a.] , -, hier ; Segesser, Recht (wie Anm. , Einleitung), , ,  f.; Marilena Papadaki: Nicolas Politis, une approche biographique. In: Dans Monde  () , -.

216

Zw i s c h e n b ila nz

Fortschritte erzielt worden, insbesondere hinsichtlich der schrittweisen Anerkennung des Individuums als partikulares Völkerrechtssubjekt. Der PCIJ entschied in allen drei Fällen zugunsten der ansässigen Minderheiten und gegen den »Heimatstaat« bzw. »Aufenthaltsstaat«, indem er völkerrechtlichen Vertragstexten gegenüber dem nationalen Recht den Vorrang einräumte. Hiermit wurde ein weiteres Zeichen gesetzt, dass die Gewährleistung von Minderheitenrechten an sich, die Bestimmung ihres Schutzumfanges wie auch die tatsächliche Einhaltung von Pflichten gegenüber Minderheiten nicht mehr eine ausschließlich innere Angelegenheit der Staaten seien. Vor allem das Gutachten im Fall Exchange of Greek and Turkish Populations war in dieser Hinsicht von besonderer Bedeutung. Durch die Rechtsprechungen des PCIJ in den Fällen The GrecoBulgarian »Communities« und Minority Schools in Albania wurde zudem erstmals festgelegt, dass ein effektiver Minderheitenschutz die Herstellung einer faktischen Gleichheit voraussetzt. In diesem Zusammenhang wurde auch anerkannt, dass das einfache Diskriminierungsverbot in Form der Gleichstellung einer Minderheit mit der Mehrheitsbevölkerung zu kurz greife und dass positive Förderungs- und Unterstützungsmaßnahmen zur Erhaltung einer Minorität und ihrer Eigenart zu einem effektiven Minderheitenschutz dazugehören. Hierfür war die Definition von Minderheiten, die der PCIJ in der Angelegenheit der griechischen Gemeinschaften in Bulgarien unter Berücksichtung objektiver und subjektiver Kriterien vornahm, eine bedeutsame, vorangegangene Entwicklung.

217

3. Die Konvention von Lausanne (1923) als völkerrechtliche Blaupause für Bevölkerungstransfers Vorbemerkung

Im vorangegangenen Kapitel wurde im Zusammenhang mit der Besprechung eines vom PCIJ begutachteten Streitfalls die große Bedeutung der von Griechenland und der Türkei im Januar  in Lausanne abgeschlossenen Konvention als erster internationaler Vertragstext, der einen obligatorischen Bevölkerungsaustausch zwischen zwei benachbarten Staaten vorsah, für Staatenpraxis und Völkerrecht kurz angerissen. Dem Südosteuropahistoriker Holm Sundhaussen zufolge habe das »Lausanner Modell jahrzehntelang als Ultima Ratio zur Lösung ethnischer und ethnonationaler Konflikte zwischen Nachbarstaaten« gegolten. Sein Kollege Stefan Troebst bezeichnet die unter der Ägide des Völkerbunds getroffene griechisch-türkische Vereinbarung gar als eine »spezielle Innovation des Völkerrechts«. Bemerkenswerterweise wurde die Lausanner Konvention von der Historiographie lange Zeit stiefmütterlich behandelt. Erst durch das im Dezember  abgeschlossene Abkommen von Dayton geriet sie in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses. Der von Serben, Kroaten und Bosniaken unterzeichnete Dayton-Friedensvertrag, durch den der dreieinhalbjährige Krieg in Bosnien-Herzegowina beendet wurde, wird insbesondere aufgrund seiner Bestimmungen zur »Rückkehr von Flüchtlingen und dislozierten Personen« in ihre Heimatorte als »Paradigmenwechsel bei der Lösung ethnonationaler Konflikte« und »Kehrtwende im humanitären Völkerrecht« bewertet. Mit diesem bahnbrechenden Abkommen sei die  in Lausanne eingeführte Handlungsmaxime der Beseitigung von Kriegsursachen mittels völkerrechtlich sanktionierter »Entmischungen« ethnischer Gemengelagen endgültig aufgegeben worden. Bis in die Zeit des Kalten Krieges hinein galt die Lausanner Konvention als das positive Vorbild, auf das sich die Befürworter von Bevölkerungsumsiedlungen immer wieder beriefen. In ihrer großen Mehrheit ließen sie sich dabei vom

 Sundhaussen, Holm: Von »Lausanne« nach »Dayton«. Ein Paradigmenwechsel bei der Lösung ethnonationaler Konflikte. In: Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte. Hg. v. Rüdiger Hohls, Iris Schröder und Hannes Siegrist. Stuttgart , -, hier ; Troebst, Stefan: Vom »Bevölkerungstransfer« zum Vertreibungsverbot – eine europäische Erfolgsgeschichte? In: Erinnerungskultur – Kulturgeschichte – Geschichtsregionen. Hg. v. Stefan Troebst. Stuttgart , -, hier .  Ebd., ; Sundhaussen, Von »Lausanne« (wie Anm. ), .  Ebd.

219

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

»Ideal des ethnisch reinen Nationalstaats« leiten. Die Beispiele dafür, wie politischen und anderen Akteuren das Abkommen von Lausanne und seine praktische Umsetzung als Blaupause für den Entwurf und die Durchführung eigener Umsiedlungspläne dienten, sind zahlreich. Sie finden sich vor allem in neueren Studien zu politisch und ethnisch motivierten Zwangsumsiedlungen des . und . Jahrhunderts, wobei hier im Hinblick auf deren Beschäftigung mit dem Lausanner Abkommen von  einige kritische Anmerkungen angebracht sind. Zwar nehmen diese Studien Bezug auf den griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch, dennoch geschieht dies eher beiläufig, da ihr Fokus weniger auf der Vorbildfunktion des letzteren für die Planung ähnlicher Vorhaben, sondern weit mehr auf den Folgewirkungen solcher in die Praxis umgesetzter Pläne liegt. Ähnliches gilt auch für juristische, insbesondere völkerrechtliche Arbeiten zu Verschleppung oder rechtswidriger Vertreibung von Bevölkerungsgruppen, die auf eine eingehende Untersuchung der Präzedenzwirkung der Lausanner Konvention verzichten. Obwohl ihre Autoren den Präzedenzcharakter dieses Vertragstextes unterstreichen und auch Bevölkerungsumsiedlungen benennen, die nach dem Lausanner Muster verlaufen sind, zeigen sie schlussendlich wenig Interesse an der Frage nach den jeweiligen Entscheidungsträgern und wie diese konkret auf den griechisch-türkischen Präzedenzfall zurückgegriffen haben. In diesem Kontext sind schließlich die Studien von Yossi Katz zum starken Einfluss des Lausanner Abkommens von  auf jüdische Umsiedlungspläne bezüglich Palästinas besonders erwähnenswert. Auch wenn sich der israelische Historiker  Troebst, Stefan: Ethnonationale Homogenisierungspolitik zwischen Vertreibung und Zwangsassimilierung. Schweden und Bulgarien als europäische Prototypen. In: Westöstliche Europastudien. Rechtskultur, Kulturgeschichte, Geschichtspolitik. Hg. v. Stefan Troebst. Leipzig , -, hier .  Vgl. z. B. Beer, Mathias: Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen. München ; Douglas, »Ordnungsgemäße Überführung« (wie Anm. , Einleitung); Frank, Matthew: Expelling the Germans. British Opinion and Post- Population Transfer in Context. Oxford [u. a.] ; Naimark, Flammender Haß (wie Anm. , Einleitung); Piskorski, Jan M.: Die Verjagten. Flucht und Vertreibung im Europa des . Jahrhunderts. München  (Originalausgabe: Wygnańcy. Przesiedlenia i uchodźy w dwudziestowiecznej Europie, Warschau ); Schwartz, Ethnische »Säuberungen« (wie Anm. , Einleitung); Hirschon, Crossing the Aegean (wie Anm. , Kap. ); Yıldırım, Onur: Diplomacy and Displacement. Reconsidering the Turco-Greek Exchange of Populations, -. New York .  Vgl. z. B. Zayas, Alfred de: International Law and Mass Population Transfers. In: Harvard International Law Journal  (), -; Barutciski, Lausanne Revisited (wie Anm. , Kap. ), -; Özsu, Formalizing (wie Anm. , Kap. ); Henckaerts, JeanMarie: Mass Expulsion in Modern International Law and Practice. The Hague [u. a.] .  Katz, Yossi: Transfer of Population as a Solution to International Disputes. Population Exchanges between Greece and Turkey as a Model for Plans to Solve the Jewish-Arab Dispute in Palestine during the s. In: Political Geography  () , -; ders.: Partner to Partition: The Jewish Agency’s Partition Plan in the Mandate Era. New York [u. a.] .

220

S ü d o s te u ro p äi s c h e »Vo rläu f e r«

ausschließlich auf diesen einen Fall beschränkt, ohne dabei eine zeitliche und räumliche Erweiterung vorzunehmen, ist seine Forschung für jede Untersuchung zur Wirkungsgeschichte des zwischen Griechenland und der Türkei vereinbarten Bevölkerungstransfers eine sehr wichtige Referenz. Vor diesem Hintergrund wird in diesem Kapitel der Versuch einer möglichst umfassenden Synthese zur Entstehungs-, Transfer- und Wirkungsgeschichte der Lausanner Konvention unternommen. Die Herangehensweise ist vornehmlich eine akteurszentrierte, das heißt der Schwerpunkt liegt auf Politikern, Journalisten und selbsternannten Experten für Bevölkerungstransfers, die das Lausanner Modell als Lösung ethnonationaler Konflikte analysiert, propagiert oder auch als inhuman und ineffizient abgelehnt haben. Im Mittelpunkt des Interesses stehen dementsprechend die intellektuellen und politischen Diskurse, die einem Bevölkerungsaustauschabkommen vorangingen. Südosteuropäische »Vorläufer«

Bei der Methode des zwischenstaatlichen Bevölkerungsaustausches handelte es sich um eine im frühen . Jahrhundert in Südosteuropa begründete Staatenpraxis. Auch wenn das mit Abstand bekannteste und am meisten referierte Bevölkerungsaustauschabkommen aufgrund seiner besagten Vorbildfunktion die am . Januar  zwischen Griechenland und der Türkei vereinbarte Lausanner Konvention ist, war dieser Vertragsschluss nicht der erste seiner Art in der Region. Die erste bilaterale Vereinbarung über einen wechselseitigen Bevölkerungstransfer in der modernen Geschichte Südosteuropas wurde zwischen Bulgarien und dem Osmanischen Reich am . September  als Teil des Friedensvertrags zur Beendung der gegenseitigen Kampfhandlungen im Zweiten Balkankrieg getroffen. Im ersten Absatz von Sektion C des Friedensvertrags einigten sich Sofia und Konstantinopel (Istanbul) auf einen freiwilligen Bevölkerungstransfer, der eine  Kilometer breite Zone des bulgarisch-osmanischen Grenzgebiets umfassen sollte: »The two Governments agree to facilitate the optional reciprocal exchange of the Bulgarian and Moslem populations and of their properties in a zone of  Kilometers at the maximum along their entire common frontier.« Auf dieser Grundlage kam zwei Monate nach Vertragsabschluss eine gemischte Kommission in Adrianopel (Edirne) zusammen, die eine Konvention mit den  Sundhaussen, Holm: Prolegomena zu einer Geschichte der Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen im Balkanraum. In: Vertreibungen europäisch erinnern? Historische Erfahrungen – Vergangenheitspolitik – Zukunftskonzeptionen. Hg. v. Dieter Bingen, Włodzimierz Borodziej und Stefan Troebst. Wiesbaden , -, hier ; Ağanoğlu, H. Yıldırım: Osmanlı’dan Cumhuriyet’e Balkanlar’ın Makûs Talihi Göç. Istanbul , -.  Zit. n. Pentzopoulos, Dimitris: The Balkan Exchange of Minorities and its Impact on Greece. London  (Originalausgabe: Paris/Den Haag ), .

221

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

Details zum Bevölkerungsaustausch (Convention Concerning the Exchange of Populations) ausarbeitete. Der Austausch sollte insofern auf freiwilliger Basis erfolgen, als den Betroffenen die Möglichkeit eingeräumt wurde, entweder in ihren Heimatorten zu verbleiben oder in das Osmanische Reich bzw. nach Bulgarien zu emigrieren. Diejenigen, die sich für die erste Option entscheiden würden, sollten einen erweiterten Minderheitenschutz erhalten und, falls noch nicht geschehen, Staatsbürger ihrer neuen Wahlheimat werden. Den Abwanderungswilligen wurde wiederum der Schutz ihres Eigentums entweder durch Verkauf oder durch dessen Mitnahme in Aussicht gestellt. Die Bedenkzeit, die den innerhalb der  Kilometer breiten Grenzzone lebenden Muslimen und Bulgaren gewährt wurde, betrug vier Jahre. Von dieser Auswahloption konnte allerdings nur noch ein kleiner Teil der betroffenen Bevölkerung Gebrauch machen, da die Mehrheit bereits vor Vertragsabschluss emigriert war. Für die circa . Bulgaren und . Muslime, die schon im Zuge des Kriegsgeschehens ihre Heimatorte verlassen hatten, war keine Rückkehroption vorgesehen. Trotz des vermeintlich optionalen Charakters des Transferabkommens bezweckten tatsächlich die Regierungen beider Länder damit die nachträgliche Sanktionierung der während des Zweiten Balkankriegs stattgefundenen Vertreibungen und die Regelung der offenen Vermögensfragen, die u. a. die Auszahlung von hinterlassenem Eigentum betrafen. Die Vereinbarung war ganz im Sinne der ethnischen Homogenisierung des Territoriums der beiden Vertragsparteien ausgelegt worden. Auf dieses Abkommen folgte zeitnah ein zweites, dieses Mal zwischen Griechenland und dem Osmanischen Reich. Laut Ahmet Cemal Pascha (Paşa), der wie Talât Pascha (Paşa) und Enver Pascha (Paşa) Mitglied des jungtürkischen Triumvirats war, sei es Innenminister Talât Pascha gewesen, der dem griechischen Premierminister Eleftherios Venizelos am . Mai  mittels des osmanischen Gesandten in Athen, Galip Kemali Bey, einen Austausch der kleinasiatischen Griechen mit den Muslimen jener makedonischen Gebiete, die in den Balkankriegen von Griechenland erobert wurden, auf freiwilliger Basis vorgeschlagen habe. Weitere Zeugenaussagen und Fakten bekräftigen den Wahrheitsgehalt dieser Äußerung: Rudolf Graf von Bassewitz, der deutsche Gesandte in Athen, hatte bereits Ende  die Information erhalten, dass man auf »türkischer Seite« bereit sei, muslimische Aussiedler aus Griechenland aufzunehmen, »falls umgekehrt die für Griechenland optierenden Angehörigen der eroberten Gebiete, die ihren Wohnsitz in anderen Provinzen der Türkei haben, nunmehr  Boeckh, Katrin: Von den Balkankriegen zum Ersten Weltkrieg. Kleinstaatenpolitik und ethnische Selbstbestimmung auf dem Balkan. München ,  f.; Schwartz, Ethnische »Säuberungen« (wie Anm. , Einleitung),  f.; Pentzopoulos, The Balkan Exchange (wie Anm. ),  f.  Pasha, Djemal [Pascha, Cemal]: Memoirs of a Turkish Statesman, -. New York , -. Diese These übernimmt auch Dündar, Fuat: Modern Türkiye’nin Şifresi. İttihat ve Terakki’nin Etnisite Mühendisliği (-). Istanbul , .

222

S ü d o s te u ro p äi s c h e »Vo rläu f e r«

ihren Wohnsitz in Griechenland nehmen«. Tatsächlich stand die Regierung der Jungtürken nach den Balkankriegen vor dem akuten Problem, dass ihr von Athen im November  auferlegt worden war, die Muslime aufzunehmen, die in den durch die Balkankriege zu Griechenland neu dazugekommenen Territorien lebten, aber die Annahme der griechischen Staatsangehörigkeit abgelehnt hatten. Parallel dazu übten griechische Behörden auf die in den makedonischen Gebieten Griechenlands verbliebenen Muslime physischen und ökonomischen Druck aus, um sie zur Auswanderung zu zwingen. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits mehr als . muslimische Balkanflüchtlinge in Kleinasien angesiedelt worden, wo es zu Spannungen mit der dort ansässigen christlichen Bevölkerung kam. Angesichts dieser Situation beschloss Konstantinopel (Istanbul), die griechisch-orthodoxen Christen Kleinasiens und Ostthrakiens durch Gewaltandrohung und -ausübung zur Auswanderung zu bewegen. Die Exzesse gegen die ostthrakischen Griechen nahmen im Frühjahr  so stark zu, dass sich nun die griechische Regierung gezwungen sah, die Möglichkeit eines Bevölkerungsaustausches mit dem Osmanischen Reich in Erwägung zu ziehen. Als schließlich Galip Kemali Bey den besagten Vorschlag unterbreitete, willigte Venizelos ein, das Thema vor den Ministerrat zu bringen. Mehrere Minister nahmen zunächst eine ablehnende Haltung ein, mussten aber letztendlich angesichts des immer stärker werdenden Drucks auf die griechische Bevölkerung Ostthrakiens und Kleinasiens einsehen, dass ein Transferabkommen alternativlos war. Nach einer ersten mündlichen Zusage Athens am . Mai , die griechische Bevölkerung Ostthrakiens und Kleinasiens gegen die muslimische Bevölkerung von Griechisch-Makedonien auszutauschen, kam es am . Juni  zu einer schriftlichen Vereinbarungserklärung zwischen Athen und Konstantinopel (Istanbul) bezüglich der Konditionen des Austausches der griechischsprachigen Bevölkerung Thrakiens und des vilâyet von Smyrna (Izmir) auf der einen Seite und der muslimischen Bevölkerung von Griechisch-Makedonien und Epirus auf der anderen Seite. Auf Bestehen von Venizelos wurden Bestimmungen in die Vereinbarung aufgenommen, die die freie Wahl der Betroffenen, von der Umsiedlungsoption Gebrauch zu machen oder diese abzulehnen, und deren Recht auf Entschädigung für hinterlassenes Eigentum garantieren sollten. Dabei orientierte man sich an dem vorangegangenen bulgarisch-osmanischen Transfer-Ab-

 Die große Politik der europäischen Kabinette -. Sammlung der diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes. Bd. , . Hälfte: Die Liquidierung des Balkans. Hg. v. Auswärtigen Amt. Berlin , -, , zit. n. Schwartz, Ethnische »Säuberungen« (wie Anm. , Einleitung), .  Boeckh, Von den Balkankriegen (wie Anm. ), .  Smith, Michael Llewellyn: Venizelos’ Diplomacy, -. From Balkan Alliance to Greek-Turkish Settlement. In: Eleftherios Venizelos. The Trials of Statesmanship. Hg. v. Paschalis M. Kitromilides. Edinburgh , -, hier .  Zit. n. Pentzopoulos, The Balkan Exchange (wie Anm. ), .

223

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

kommen, das entsprechende Vorkehrungen enthielt. Schließlich wurde eine vierköpfige Kommission ins Leben gerufen, die mit der gegenseitigen Eigentumsverrechnung beauftragt wurde. Gegen diese Darstellung, wie es  auf jungtürkischer Initiative zu einem ersten griechisch-türkischen Transferabkommen kam, spricht die Zeugenaussage von Georgios Streit, des griechischen Völkerrechtlers, Diplomaten und Außenministers zwischen Dezember  und August . In seiner kurzen Abhandlung aus dem Jahr  zum Thema »Der Lausanner Vertrag und der griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch« schreibt er die Idee des Bevölkerungsaustausches nicht den Jungtürken, sondern Venizelos zu. Letzterer soll einen entsprechenden Vorschlag während der Londoner Friedenskonferenz zur Besiegelung der Ergebnisse der Balkankriege unterbreitet haben: So weit mir bekannt, ist die Idee eines derartigen Austausches – aber als Erfolg gegenseitiger Emigration gedacht – zum ersten Male in London während der Verhandlungen der alliierten Balkanstaaten Bulgarien, Griechenland, Montenegro und Serbien mit der Türkei, an denen ich als Bevollmächtigter teilgenommen habe, von dem damaligen griechischen Ministerpräsidenten Venizelos ausgesprochen worden, ohne dass diese Idee zum eigentlichen Verhandlungsgegenstand geworden wäre. Streit hatte an den von Dezember  bis Mai  stattgefundenen Friedensverhandlungen im Range eines außerordentlich einberufenen bevollmächtigten Ministers teilgenommen, sodass seiner Aussage eine gewisse Bedeutung beizumessen ist. Allerdings geriet der königstreue Völkerrechtler nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs in einen Konflikt mit Premier Venizelos und musste von seinem Außenministerposten zurücktreten. Es ist also denkbar, dass Streit mit der  Schwartz, Ethnische »Säuberungen« (wie Anm. , Einleitung), .  Pentzopoulos, The Balkan Exchange (wie Anm. ), .  Streit, Georgios: Der Lausanner Vertrag und der griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch: Vortrag, gehalten auf Einladung des Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel am . Februar . Berlin ,  f.  Grund für die Auseinandersetzung war die unterschiedliche Haltung von Venizelisten und Royalisten in der Frage des Kriegseintritts Griechenlands auf Seiten der Entente. Während Venizelos und seine Anhänger diesen befürworteten, war das germanophile Königshaus für die Einhaltung einer strikten Neutralität. Diese Kontroverse spitzte sich dermaßen zu, dass Premier Venizelos  vom König zum Rücktritt gezwungen wurde, um dann  durch eine militärische Intervention der Entente wieder die Regierungsverantwortung zu übernehmen und nun seinerseits das Abdanken Konstantins I. zugunsten seines jüngeren Sohnes Alexander zu erwirken. Die sogenannte nationale Spaltung zwischen republikanischen Venizelisten und royalistischen Anti-Venizelisten warf während der ganzen Zwischenkriegszeit ihren Schatten auf das innenpolitische Leben Griechenlands. Zelepos, Ioannis: Kleine Geschichte Griechenlands. Von der Staatsgründung bis heute, München , -. Zur Rolle Georgios Streits als engster Berater des Königs bei der Zuspitzung der Auseinandersetzung zwischen dem König und Venizelos siehe Streit, Georgios: Imerologion – Archeion. Bd. . Athen .

224

S ü d o s te u ro p äi s c h e »Vo rläu f e r«

besagten Behauptung darauf abzielte, den in der zweiten Hälfte der er Jahre wegen der Lausanner Konvention stark in die Kritik geratenen Venizelos innenpolitisch zu schwächen, indem er dem zwischen  und  mehrmals zum Ministerpräsidenten gewählten Politiker eine grundsätzliche Vorliebe für Bevölkerungstransfers unterstellte. Außer Streit stellte in den er Jahren auch der an der Umsetzung des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausches beteiligte Alexandros Pallis (als Mitglied der dafür zuständigen gemischten Kommission) die Behauptung auf, dass der Kreter Politiker derjenige war, der den Jungtürken einen Austausch vorschlug und nicht umgekehrt. In seinem  erschienenen Buch schrieb er: »An exchange of populations between Greece and Turkey was first suggested by Venizelos in  as a way of solving the difficulties which had arisen at the beginning of that year between the two countries.« An dieser Stelle kann die Frage, ob das griechisch-türkische Transferabkommen auf Initiative der jungtürkischen Regierung zustandekam oder ob doch Venizelos sein Urheber war, nicht endgültig beantwortet werden. In der jüngeren Forschung wird jedenfalls mehrheitlich davon ausgegangen, dass die Erfindung des vertraglich geregelten Bevölkerungsaustausches unter angrenzenden Staaten der Regierung der Jungtürken zuzuschreiben sei. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Abkommen, die das Osmanische Reich mit Sofia und Athen zeitnah abschloss, bestand darin, dass die griechisch-osmanische Übereinkunft eine weit größere Anzahl von Menschen betraf als die bulgarisch-osmanische Konvention von . Während letztere sich auf eine schmale Zone entlang beider Grenzseiten beschränkte, sollte der griechisch-osmanische Bevölkerungsaustausch große Landesteile umfassen und circa eine Million Menschen betreffen. Unterschiedlich war auch die Situation der Betroffenen: Anders als im Fall der . Bulgaren und Muslimen der bulgarisch-osmanischen Grenzzone, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des Transferabkommens bereits umgesiedelt waren, lebte die Mehrheit der in der griechisch-osmanischen Übereinkunft als austauschbar klassifizierten Bevölkerung noch in ihren Heimatorten und war trotz des besagten Drucks aussiedlungsunwillig. Dementsprechend war die Grundausrichtung der beiden Abkommen eine andere. Während die bulgarisch-osmanische Konvention vollendete Tatsachen nachträglich rechtlich sanktionierte, sollten durch die Übereinkunft vom Juni  neue Tatsachen geschaffen werden. Die Lausanner Konvention von  ist in dieser Hinsicht eine Mischung aus beiden Transferabkommen. Einerseits legimitierte sie die bereits erfolgte Vertreibung der griechisch-orthodoxen Bevölkerung Kleinasiens, andererseits schrieb sie die  Pallis, Alexander A.: The Exchange of Populations in the Balkans. The Nineteenth Century and After. London , -, zit. n. Yıldırım, Diplomacy (wie Anm. ), .  Vgl. z. B. ebd.,  f.; Macartney, Carlile Aylmer: National States and National Minorities. Oxford , ; Dimitrov, Teodor: Der griechisch-bulgarische und griechischtürkische Bevölkerungsaustausch in den zwanziger Jahren. In: Die Minderheiten (wie Anm. , Kap. ), -.

225

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

Umsiedlung der Muslime Nordgriechenlands in die Türkei vor, die noch stattzufinden hatte. Aber darauf ist später noch ausführlich zurückzukommen. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhinderte letztendlich die Umsetzung der griechisch-osmanischen Bevölkerungsaustauschvereinbarung. Für die Betroffenen bedeutete dies lediglich einen Aufschub ihrer Zwangsumsiedlung. Diese kam letztendlich / infolge des griechisch-türkischen Krieges um Kleinasien und gestaltete sich für die Umsiedler, vor allem für die griechischorthodoxen Einwohner Westanatoliens, äußerst leidvoll und tragisch. In der Retrospektive bedauerte der besagte Galip Kemali Bey Jahrzehnte später, dass das Abkommen von  nicht umgesetzt wurde, da es Griechen und Türken die »großen Verwicklungen« der frühen er Jahre erspart hätte. Trotz seiner ausgebliebenen Umsetzung ist es von hervorragender Bedeutung, zumal es gemeinsam mit dem bulgarisch-osmanischen Transferabkommen zum Vorbild für ähnliche Abkommen im anbrechenden Zeitalter des Völkerbunds wurde. Das erste Transferabkommen unter der Ägide des Völkerbunds

Unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs wurden in Südosteuropa die ethnischen Homogenisierungsprozesse mittels zwischenstaatlicher Verträge fortgesetzt. Im Rahmen des Friedensvertrags von Neuilly-sur-Seine, den Bulgarien am . November  mit den Siegermächten des Ersten Weltkriegs unterzeichnete, schlossen Griechenland und Bulgarien eine »Konvention zur gegenseitigen und freiwilligen Emigration von Minderheiten« ab. Die Initiative dafür gehörte dem griechischen Premierminister Venizelos, der im Juni  – nach seinem zwei Jahre früher erfolgten Rücktritt infolge seiner Auseinandersetzung mit dem König in der Frage des Eintritts Griechenlands in den Ersten Weltkrieg – erneut in Athen die Regierungsverantwortung übernommen hatte. Ein Telegramm des damaligen Außenministers Nikolaos Politis, datiert auf den . November , lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass dieses Mal der Vorschlag für einen Bevölkerungsaustausch sicher von Venizelos kam, der diesen am . Juli  bei der . Sitzung der Kommission für neue Staaten und Minderheiten unterbreitete. Die Kommission äußerte sich in ihrer Stellungnahme an den Obersten Rat nicht nur zum Vorschlag des griechischen Premierministers positiv, sondern plädierte sogar für eine allgemeine Anwendung des Prinzips des Bevölkerungs-

 Piskorski, Die Verjagten (wie Anm. ), ; Schwartz, Ethnische »Säuberungen« (wie Anm. , Einleitung), .  Ebd.  Jane K. Cowan: Fixing National Subjects in ’s Southern Balkans. Also an International Practice. In: American Ethnologist  () , -.

226

Da s e r s te Tra n s f e ra b ko m m e n u n te r d e r Ägi d e d e s Vö lke r b u n d s

austausches auf dem Balkan unter dem Vorbehalt, dass dabei der Grundsatz der Freiwilligkeit zu respektieren sei: The Committee are of opinion that the general idea of these clauses as far as they relate to individual emigration, is useful and should be adopted […]. The Committee, moreover, consider that the general conception is one which might with advantage be extended to all Balkan countries, and that it should not be limited to the inhabitants of territories transferred by the present peace, but to all inhabitants of any one of the Balkan states who wish to transfer their place of residence to some other Balkan state. If extended in this way it would, they hope, do much to help a permanent settlement of the troubles which have so long affected the Balkans, and be a valuable supplement to the clauses dealing with the protecting of minorities. They do not think that it is possible to limit it by saying that these clauses shall apply only to those of special nationality or race; the only real criterion on these matters is the feeling of the individuals concerned. Trotz der positiven Stellungnahme der Minderheitenkommission zeigte sich der Oberste Rat gegenüber dem Vorschlag Venizelos’ zunächst zurückhaltend und vertagte seine Entscheidung dazu. Die stärksten Einwände gegen einen bulgarisch-griechischen Bevölkerungsaustausch brachte der Chef der italienischen Delegation Tommaso Tittoni vor, da er befürchtete, dass auf die Betroffenen Druck ausgeübt werden könnte, um sie zu einer Aussiedlung zu zwingen. Demzufolge verkündete er, dass Rom dem griechischen Vorhaben nur dann zustimmen werde, wenn wirksame Kontrollen garantierten, dass von den beiden Regierungen in Athen und Sofia die Option der Auswanderung nicht als Mittel zur Vertreibung missbraucht werde. Am . September  traf daraufhin der Oberste Rat die Entscheidung, dem Anliegen Athens vorerst nicht entgegenzukommen und keinen Beschluss bezüglich der Aufnahme einer Bevölkerungsaustauschbestimmung in den Friedensvertrag mit Bulgarien zu fassen. Dennoch gewährte man Venizelos die Möglichkeit, mit der Minderheitenkommission über seinen Plan weiter zu beraten, die er schlussendlich zu überreden vermochte, sich am . September  für einen Bevölkerungsaustausch zwischen Bulgarien und Griechenland auszusprechen. In seinen Überredungsversuchen betonte der aus Kreta stammende Ministerpräsident immer wieder, dass die bulgarische Seite ohne den Druck der Alliierten einem Bevölkerungsaustausch nie zustimmen würde, und verlangte deswegen die ausdrückliche Festlegung  Appendix F to HD-. Draft Letter to the Council of Five on the Special Clauses Proposed by M. Venizelos – Prepared by the Committee on New States. In: Papers Relating to the Foreign Relations of the United States. The Paris Peace Conference . Bd. . Hg. v. Department of State. Washington , -, hier  f.  Viefhaus, Erwin: Die Minderheitenfrage und die Entstehung der Minderheitenschutzverträge auf der Pariser Friedenskonferenz . Würzburg , .

227

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

eines bulgarisch-griechischen Transferabkommens im bevorstehenden Friedensvertrag der Alliierten und Assoziierten Mächte mit Bulgarien. Am . September  kam der Oberste Rat diesem Wunsch nach und beschloss, Art.  des Entwurfs des Friedensvertrags mit dem folgenden Zusatz zu ergänzen: »Bulgaria undertakes to recognize the provisions which the Allied and Associated Powers may consider opportune with respect to the reciprocal and voluntary emigration of persons belonging to racial minorities.« Infolge dieser am . November  durch die Unterzeichnung des Friedensvertrags mit den Siegermächten des Ersten Weltkriegs eingegangenen Verpflichtung musste Sofia am selben Tag zusätzlich eine »Konvention zur gegenseitigen und freiwilligen Emigration von Minderheiten« mit Griechenland unterzeichnen. Die Konvention basierte größtenteils auf einem Entwurf des griechischen Außenministers und international anerkannten Völkerrechtlers Politis. In Art.  bestätigten die beiden Vertragsparteien »das Recht jener Staatsbürger, die einer ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheit angehörten, frei in die entsprechenden Gebiete zu emigrieren«. Den Betroffenen wurde eine Frist von zwei Jahren gesetzt, um im Fall einer vorhandenen Auswanderungsabsicht einen Antrag zur Aussiedlung zu stellen. Art.  der Konvention bestimmte, dass die »Emigranten die Staatsbürgerschaft des Landes, das sie verlassen, verlieren, dafür aber die des Einreiselandes direkt nach Ankunft in diesem erhalten werden«. In Art.  wurde die Errichtung einer gemischten Kommission beschlossen, die sich aus jeweils einem Vertreter Griechenlands und Bulgariens sowie zwei weiteren, vom Völkerbundsrat zu benennenden Mitgliedern zusammensetzen würde. Ihre Hauptaufgaben bestanden in der Überwachung der An- und Aussiedlung sowie in der Liquidation der Immobilien und des Landeigentums der Umsiedler.  Viefhaus, Die Minderheitenfrage (wie Anm. ),  f.; Lena Divani: I »ypoulos thopeia«. Ellada kai xenoi, -. Athen ,  f.  Treaty of Peace Bulgaria (wie Anm. , Kap. ), .  Schwartz, Ethnische »Säuberungen« (wie Anm. , Einleitung),  f. Zur akademischen Laufbahn Nikolaos Politis’ siehe in der vorliegenden Arbeit S.  f., -.  »The High Contracting Parties recognise the right of those of their subjects who belong to racial, religious or linguistic minorities to emigrate freely to their respective territories.« Convention Neuilly (wie Anm. , Kap. ), -. Im ursprünglich griechischen Vorschlag war ein Austausch zwischen den »patriarchistischen Griechen« Bulgariens und den »exarchistischen Bulgaren« Griechenlands vorgesehen. Cowan, Fixing National Subjects (wie Anm. ), .  »Emigrants shall lose the nationality of the country which they leave the moment they quit it and shall acquire that of the country of destination from the moment of their arrival there.« Convention Neuilly (wie Anm. , Kap. ), .  »Within a period of three months from the entry into force of the present Convention, a mixed Commission shall be created, composed of one member nominated by each of the contracting States concerned and of an equal number of members of a different nationality, from among whom also the president shall be chosen, who shall moreover be nominated by the Council of the League of Nations.« Ebd., .

228

Da s e r s te Tra n s f e ra b ko m m e n u n te r d e r Ägi d e d e s Vö lke r b u n d s

Außerdem wurde die Kommission mit der Klärung von offenen Vermögensfragen beauftragt, die etwa . bulgarische und . griechische Flüchtlinge aus der Zeit des Ersten Weltkriegs betrafen. Um diese anspruchsvollen Aufgaben bewältigen zu können, wurden der Kommission zahlreiche Experten und Hilfskräfte an mehreren Orten in Griechenland und Bulgarien zur Verfügung gestellt. , in der Hochphase ihrer Tätigkeit, arbeiteten  Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Kommission. Die direkten Einflüsse der zuvor erwähnten Transferabkommen von  und  auf die Bestimmungen der griechisch-bulgarischen Konvention von Neuilly sind sowohl an der gemischten Kommission und ihren Aufgaben wie auch an dem Optionsrecht, das den Betroffenen eingeräumt wurde, deutlich erkennbar. Andererseits beinhaltete diese Vereinbarung eine wichtige Neuerung. Durch ihre Verknüpfung mit dem Friedensvertrag von Neuilly, der wiederum mehrere Verweise auf die Satzung des Völkerbunds enthielt, wurde – der bulgarischen Historikerin Theodora Dragostinova zufolge – die Konvention von Neuilly zum »ersten Bevölkerungsaustauschvertrag, der durch den Völkerbund sanktioniert und implementiert« wurde, und somit zu »einem wichtigen Präzedenzfall in der Ausführung eines Minderheitenaustausches unter der Aufsicht einer internationalen Organisation«. Ähnlich hoch bewertet die internationale Bedeutung des »unter der hohen Aufsicht des Völkerbunds« abgeschlossenen Transferabkommens von  die griechische Historikerin Lena Divani, wenn sie es als »Zünder und Vorbild für zukünftige Transfers unter internationaler Obhut« bezeichnet. Die Beteiligung des Völkerbunds an der Umsetzung des Abkommens erfolgte vor allem durch seine beiden Vertreter in der gemischten Kommission, Major Marcel de Roover aus Belgien und Oberst A. C. Corfe aus Neuseeland, die dem Völkerbundsrat über die Tätigkeit der Kommission regelmäßig Rechenschaft ablegten. Obwohl es die ursprüngliche Absicht des Völkerbunds war, seine Rolle bei der praktischen Umsetzung des bulgarisch-griechischen Bevölkerungsaustausches auf eine Aufsichtsfunktion zu beschränken, gingen de Roover und Corfe mehrmals über diese Grenze hinaus, sodass die gemischte Kommission zusehends mehr als eine Institution des Völkerbunds und weniger der an der Bevölkerungsumsiedlung beteiligten Staaten wahrgenommen wurde. Erwähnenswert ist in dieser Hinsicht, dass  die Kommission im Auftrag des Völ Die Aufgaben der gemischten Kommission wurden in Art. , , , ,  und  näher definiert. Ebd., -.  Özsu, Formalizing (wie Anm. , Kap. ), .  Dragostinova, Theodora: Negating Nationality in the Emigration of Minorities Between Bulgaria and Greece, -. In: East European Politics and Societies  () , -, hier .  Ebd., .  Divani, I »ypoulos thopeia« (wie Anm. ), .  Ladas, Stephen P.: The Exchange of Minorities. Bulgaria, Greece and Turkey. New York ,  f.

229

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

kerbunds einen ausführlichen Tätigkeitsbericht verfasste. Zwei Jahre später stellte sie ihre Arbeiten ein. Laut der besagten griechischen Historikerin Divani hatten de Roover und Corfe im Oktober  eine Institutionalisierung ihrer gemischten Kommission im Rahmen des Völkerbunds bezweckt, als sie unmittelbar nach der Vertreibung der Griechen und Armenier aus Westanatolien und vor dem Zustandekommen der Lausanner Konvention dem norwegischen Hochkommissar des Völkerbunds für Flüchtlingsfragen Fridtjof Nansen einen griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch vorschlugen, für dessen Durchführung ihre bereits auf dem Gebiet der Umsiedlung von Minderheiten erfahrene Kommission zuständig sein würde. Insbesondere sollte sie eine Vermittlungsfunktion zwischen Athen, Ankara und den Umsiedlern übernehmen mit dem vorrangigen Ziel, die Interessen der Betroffenen zu wahren. Der Völkerbund war auch insofern in die Umsetzung des griechisch-bulgarischen Bevölkerungsaustausches verwickelt, als der Völkerbundsrat zwischen Sofia und privaten Gläubigern die Gewährung eines Kredites an Bulgarien in Höhe von vier Millionen Pfund zur Finanzierung der Unterbringung von circa . Umsiedlern aus dem griechischen Makedonien und Westthrakien vermittelte. Letztere hatten von den Regelungen der Konvention von Neuilly Gebrauch gemacht. Die Kreditvergabe an Bulgarien erfolgte schließlich unter der Aufsicht des Kommissars des Völkerbunds, René Charron. Das bulgarisch-griechische Transferabkommen stieß zunächst bei den davon betroffenen Bulgaren und Griechen auf geringe Resonanz. In Athen nahm man in den ersten Jahren nach der Unterzeichnung der Konvention von Neuilly mit Enttäuschung zur Kenntnis, dass die Slawophonen Nordgriechenlands in ihrer großen Mehrheit nicht bereit waren, freiwillig, also ohne Druck, ihre Heimatorte zu verlassen. Aber auch die griechische Bevölkerung Bulgariens zeigte sich unwillig, die Gebiete, die von ihren Vorfahren vor Jahrhunderten besiedelt worden waren – wie etwa in Plovdiv (Philippoupolis) in Nordostthrakien und Burgas (Pirgos) an der Schwarzmeerküste –, für eine ungewisse Zukunft in Griechenland aufzugeben. Bis Juni  hatten nicht mehr als  griechische Familien in Bulgarien einen Umsiedlungsantrag gestellt. Eine entscheidende Rolle spielte dabei die Haltung der Sofioter Regierung, die im Rahmen ihrer revisionistischen Politik gegenüber allen Siegerstaaten des Ersten Weltkriegs in der Region die Aufrechterhaltung des bulgarisch-griechischen Minderheitenproblems bezweckte und in diesem Sinne die lokalen Behörden auf ein moderates Verhalten gegenüber der griechischen Minorität in ihrem jeweiligen Zuständig Mixed Commission on the Greco-Bulgarian Emigration, Memorandum on GrecoBulgarian Emigration, , zit. n. Divani, I »ypoulos thopeia« (wie Anm. ), .  Dragostinova, Negating Nationality (wie Anm. ), .  Divani, I »ypoulos thopeia« (wie Anm. ), .  Dragostinova, Negating Nationality (wie Anm. ), .  Clavin, Patricia: Securing the World Economy. The Reinvention of the League of Nations, -. Oxford ,  f.; Divani, I »ypoulos thopeia« (wie Anm. ), .

230

Da s e r s te Tra n s f e ra b ko m m e n u n te r d e r Ägi d e d e s Vö lke r b u n d s

keitsbereich verpflichtete. Athen, das im Gegensatz zur bulgarischen Regierung an dem Weiterbestehen der durch die Balkankriege - und den Ersten Weltkrieg erfolgten territorialen Aufteilung in Südosteuropa interessiert war, aber sich in seinen neu erworbenen makedonischen, thrakischen und epirotischen Gebieten mit einer »ungünstigen« ethnischen Zusammensetzung konfrontiert sah, erhöhte nicht nur zusehends seinen Auswanderungsdruck auf die slawophone und mehrheitlich bulgarisch gesinnte Bevölkerung Nordgriechenlands, sondern versuchte parallel dazu, die Griechen Bulgariens zur Ausreise und Ansiedlung in den kürzlich griechisch gewordenen Regionen Ägäis-Makedonien und West-Thrakien zu überreden. Dabei zeigte sich die griechische Regierung über die bedrohliche Lage der in Bulgarien lebenden »Landsleute« besorgt und appellierte zugleich an deren Nationalgefühl. Venizelos hatte den Griechen Bulgariens schon vor der Unterzeichnung des Transferabkommens über den Chef der griechischen Militärmission in Bulgarien, Oberst Konstantinos Mazarakis-Ainian, ausrichten lassen, dass »die Heimat nicht mehr zuschauen kann, wie ihre Kinder in fremden Ländern und in einer feindlichen Umgebung leben müssen« und »sie alle unter ihre Obhut bringen will – und zwar für immer«. Eine Kehrtwende in dieser Politik der Ermutigung zur Auswanderung trat erst Ende  ein, als in Griechenland das Problem der Unterbringung der kleinasiatischen Flüchtlinge aufkam. Ab diesem Zeitpunkt unterstützte Athen den Verbleib der Griechen Bulgariens in ihren Heimatorten. Allerdings verfolgte inzwischen Sofia eine zunehmend aggressiver werdende

 Dragostinova, Negating Nationality (wie Anm. ), ,  f.  Der Auswanderungsdruck stieg ab  im Zuge der Ansiedlung von Flüchtlingen aus Kleinasien, Ostthrakien und dem Kaukasus im griechischen Makedonien und Thrakien nach der »Kleinasiatischen Katastrophe« enorm an. Siehe dazu ausführlicher Kostopoulos, Tasos: I apagorevmeni glossa. Kratiki katastoli ton slavikon dialekton stin Elliniki Makedonia. Athen , -; Michailidis, Iakovos D.: Politikes synistoseis mias oikonomikis diamachis. In: Taftotites sti Makedonia. Hg. v. Vasilis K. Gounaris, Iakovos D. Michailidis und Giorgos V. Angelopoulos. Athen , -, hier -; ders.: Metakiniseis slavofonon plithysmon -. O polemos ton statistikon. Athen , -. Trotz der ab  eingetretenen Verschlechterung der Situation der Slawophonen Nordgriechenlands hatte bis Ende der er Jahre lediglich ein Viertel von ihnen (ca. .) von der Möglichkeit, nach Bulgarien auszuwandern, Gebrauch gemacht. Zeitgenössischen griechischen Statistiken zufolge waren ein Jahrzehnt nach der Unterzeichnung des Transferabkommens von Neuilly um die . Slawophone weiterhin im makedonischen und thrakischen Nordgriechenland ansässig. Michailidis, Iakovos D.: Taftotites, diplomatia, politikoi kai stratiotikoi syschetismoi: i periptosi ton slavophonon stin Ellada (-). In: Makedonikes taftotites sto chrono. Diepistimonikes prosengiseis. Hg. v. Ioannidis Stefanidis, Vlasis Vlasidis und Evangelos Kofos. Athen , -, hier .  Zit. n. Divani, I »ypoulos thopeia« (wie Anm. ), .

231

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

Repressionspolitik gegen diese Bevölkerungsgruppe, sodass bereits  ihre überwiegende Mehrheit nach Griechenland emigriert war. Venizelos, der  den sich infolge der Niederlage im Ersten Weltkrieg in einer äußerst schwachen Verhandlungsposition befindenden Bulgaren mit der Unterstützung der alliierten Großmächte seinen Willen für einen Bevölkerungsaustausch aufzwingen konnte, hatte auf der Pariser Friedenskonferenz weitere ähnliche Abkommen zwischen Griechenland und anderen benachbarten Staaten vorgeschlagen. Eines davon sollte einen Bevölkerungstransfer zwischen Griechenland und einer nach der Abtrennung Konstantinopels (Istanbuls), Kleinasiens und der früheren armenischen Siedlungsgebieten, neu entstehenden Rumpf-Türkei betreffen. In einem Interview mit der London Times warb der griechische Premierminister  für einen »umfassenden und wechselseitigen Bevölkerungstransfer« zwischen Griechenland und der Türkei. Dabei ist es möglich, dass es sich um die erste Anwendung des Begriffs »Bevölkerungstransfer« in der Öffentlichkeit handelt. Venizelos’ Anliegen fand auch dieses Mal bei den Großmächten Gehör und schlussendlich auch deren Zustimmung. Art.  des Friedensvertrags von Sèvres, der am . August  zwischen den Siegermächten und der Türkei unterzeichnet wurde, sah vor, dass »Griechenland und die Türkei innerhalb von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des vorliegenden Vertrags eine besondere Vereinbarung bezüglich einer gegenseitigen und freiwilligen Emigration von Bevölkerungen griechischer und türkischer Ethnizität in den an Griechenland abzutretenden bzw. bei der Türkei verbleibenden Gebieten eingehen werden«. Die Türkei musste sich im Voraus verpflichten, »solche Regelungen anzuerkennen, welche die alliierten Mächte hinsichtlich einer wechselseitigen und freiwilligen Emigration von Personen, die einer ethnischen Minderheit angehören, für nützlich« hielten. Von großer Bedeutung war die vorkehrende Maßnahme, dass beide Vertragsparteien das Recht hatten, sich an den Völkerbundsrat zu wenden, falls es zwischen ihnen zu keiner Übereinkunft käme. Der Rat würde in so einem Fall die Konditionen des Abkommens festlegen. Dadurch wurde erstmals von Seiten der Staatengemein Siehe ausführlicher dazu Panagiotopoulou, Anna A.: I metanastefsi ton Ellinon tis Voulgarias stin Ellada tin periodo tou mesopolemou (-) vasei tis symvasis tou Neuilly. Thessaloniki  (unveröffentlichtes Dissertationsmanuskript), -.  Özsu, Formalizing (wie Anm. , Einleitung), .  Frank, Expelling (wie Anm. ), .  Ther, Die dunkle Seite (wie Anm. , Einleitung), .  »Turkey undertakes to recognise such provisions as the Allied Powers may consider opportune with respect to the reciprocal and voluntary emigration of persons belonging to racial minorities. Turkey renounces any right to avail herself of the provisions of Article  of the Convention between Greece and Bulgaria relating to reciprocal emigration, signed at Neuilly-sur-Seine on November , . Within six months from the coming into force of the present Treaty, Greece and Turkey will enter into a special arrangement relating to the reciprocal and voluntary emigration of the populations of Turkish and Greek race in the territories transferred to Greece and remaining Turkish

232

Da s g ri e c hi s c h -tü r ki s c h e Pa ra di g m a

schaft die Methode zwischenstaatlich vereinbarter Bevölkerungsumsiedlungen als Lösung von Minderheitenkonflikten explizit anerkannt. Da der Friedensvertrag von Sèvres infolge der aufstrebenden Widerstandsbewegung von Mustafa Kemal weder von der Türkei noch von den Siegermächten – mit Ausnahme Griechenlands – ratifiziert wurde, kam das darin vorgesehene griechisch-türkische Transferabkommen nie zustande. Venizelos versuchte schließlich auf der Pariser Friedenskonferenz, die Zustimmung Belgrads für einen Drei-LänderBevölkerungsaustausch zwischen Bulgarien, Griechenland und dem neugegründeten Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen zu gewinnen. Dafür erhielt der griechische Premierminister erneut Unterstützung von der Kommission für die neuen Staaten. Im Gegensatz aber zur schwachen bulgarischen Regierung, die sich gegen die griechischen Pläne nicht wehren konnte, lehnte die jugoslawische Seite ihre Beteiligung an einem gegenseitigen Minderheitentransfer ab, zumal Belgrad die Befürchtung hegte, dass nur ein geringer Teil der im serbischen Vardar-Makedonien ansässigen Bulgaren von einem freiwilligen Umsiedlungsrecht Gebrauch machen würden. Unabhängig davon, dass Venizelos in Versailles nur einen Teil seiner weit gesteckten Ziele erreichte, sind die von ihm angestoßenen Verhandlungen zu Bevölkerungstransfers zwischen Griechenland und dessen Nachbarstaaten von großer Bedeutung. Wie Michael Schwartz schreibt, »entstand im Wechselspiel zwischen Athener Peripherie und Pariser Zentrum erstmals eine flächendeckende Sozialtechnologie der Vertreibung«. Das griechisch-türkische Paradigma

Venizelos war auch an dem Zustandekommen der Lausanner Konvention von  maßgeblich beteiligt. Wie eingangs schon erwähnt, entfaltete diese eine Präzedenzfallwirkung, die mehr ihrer verbreiteten Rezeption als dem tatsächlich innovativen Charakter des Vertragstextes geschuldet war. Sieht man einmal von der Neuerung ab, dass der in Lausanne vereinbarte Bevölkerungsaustausch für die Betroffenen obligatorisch war, lässt sich aus der Vorgeschichte konstatieren, dass die Staatengemeinschaft spätestens mit den Transferabkommen von Neuilly und Sèvres der ursprünglich südosteuropäischen Konfliktlösungsstrategie des zwischenstaatlichen Bevölkerungsaustausches überregionale Akzeptanz verliehen hatte. Trotzdem war der Einfluss der Lausanner Konvention so groß, dass sie die vorangegangenen Abkommen von Neuilly und Sèvres überschattete. Eine respectively. In case agreement cannot be reached as to such arrangement, Greece and Turkey will be entitled to apply to the Council of the League of Nations, which will fix the terms of such arrangement.« Treaty of Peace between the Allied and Associated Powers and Turkey, signed at Sèvres, August , . In: The Treaties of Peace, . Bd. . Hg. v. Martin Lawrence. New York , -, hier .  Divani, Ellada (wie Anm. , Kap. ), ; Michailidis, Taftotites (wie Anm. ), .  Schwartz, Ethnische »Säuberungen« (wie Anm. , Einleitung), .

233

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

Reihe von Faktoren spielte dabei eine wichtige Rolle: die hohe Anzahl der Betroffenen, die starke Beteiligung des Völkerbunds an dem Zustandekommen des Abkommens und seiner praktischen Umsetzung sowie nicht zuletzt der »Mythos« seiner angeblich friedensstiftenden Wirkung, der sich von einer in den er Jahren eingetretenen Verbesserung der griechisch-türkischen Beziehungen speiste. Die am . Januar  zwischen Griechenland und der Türkei abgeschlossene Lausanner Konvention wurde nachträglich Teil des Friedensvertrags von Lausanne, den die Türkei und die Alliierten am . Juli  unterzeichneten. Durch letzteren fand eine weitgehende Revision des Friedensvertrags von Sèvres als Folge der griechischen Niederlage im Spätsommer  in Anatolien durch die von Mustafa Kemal (Atatürk) angeführte türkische Armee statt. Dreieinhalb Jahre zuvor hatte Griechenland den Höhepunkt seiner territorialen Expansion in Südosteuropa erreicht. Am . Mai  waren mit britischer Billigung griechische Truppen in Smyrna (Izmir) gelandet. Wie der Friedensvertrag von Sèvres bestimmte, sollten die westanatolische Hafenstadt und deren Hinterland für die nächsten fünf Jahre unter griechischer Verwaltung stehen. Anschließend hätte die Bevölkerung in einem Referendum über den Anschluss Kleinasiens an Griechenland zu bestimmen. Im Friedensvertrag von Sèvres wurde Griechenland außerdem Ostthrakien zugesprochen, was die Verschiebung seiner noröstlichen Staatsgrenze in unmittelbare Nähe Konstantinopels (Istanbuls) bedeutete. Die Realisierung des irredentistischen Planes der »Großen Idee« mit dem Hauptziel der »Zurückeroberung Konstantinopels« schien möglicher als je zuvor, und Venizelos brüstete sich bereits mit dem Griechenland der »zwei Kontinente und der fünf Meere«, das unter seiner Führung geschaffen worden sei. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet er die Konvention von Lausanne, welche die sogenannte Kleinasiatische Katastrophe – also das gewalttätige Ende der jahrhundertelangen griechischen Präsenz an der westanatolischen Ägäis-Küste – und auch das Ende der »Großen Idee« besiegelte, aushandeln musste. Venizelos’ Liberale Partei hatte trotz der großen militärischen und diplomatischen Erfolge des letzten Jahrzehnts am . November  die Wahlen überraschenderweise verloren. Das von der royalistischen Volkspartei angeführte siegreiche Oppositionsbündnis profitierte von der Unzufriedenheit in der Bevölkerung wegen der kriegsbedingten wirtschaftlichen Belastungen und des autoritären Regierungsstils der Venizelisten. Zudem hatte sich eine allgemeine tiefe Kriegsmüdigkeit breitgemacht. Obwohl die Royalisten im Wahlkampf eine rasche Beendung des griechischen Engagements in Kleinasien versprochen hatten, taten sie das exakte Gegenteil und befehligten den Vormarsch der übermüdeten,  Ther, Die dunkle Seite (wie Anm. , Einleitung), ; Frank, Expelling (wie Anm. ), .  Clogg, A Concise History (wie Anm. , Einleitung),  f. Siehe ausführlicher zur »Großen Idee« Elli Skopetea: To »protypo vasileio« kai i megali Ellada. Opseis tou ethnikou provlimatos stin Ellada (-). Athen .

234

Da s g ri e c hi s c h -tü r ki s c h e Pa ra di g m a

teils demoralisierten und durch die Abberufung zahlreicher venizelistischer Offiziere personell geschwächten griechischen Armee ins Innere Anatoliens, um die gegen die »griechische Besatzung« Widerstand leistenden Truppen Kemals zu zerschlagen. Der militärisch schlecht geplante griechische Vorstoß in das anatolische Binnenland, den Gräueltaten gegen die türkische Zivilbevölkerung begleiteten, wurde im Sommer  kurz vor Ankara in der Schlacht am Fluss Sakarya zum Stillstand gebracht. Ab diesem Zeitpunkt war die griechische Niederlage aufgrund der großen Nachschubprobleme, mit denen das kleinasiatische Expeditionskorps an einer  Kilometer langen, sich vom Marmarameer bis unweit von Bodrum erstreckenden Front zu kämpfen hatte, vorprogrammiert. Angesichts der aussichtslosen Lage schlug Athen im März  der türkischen Seite einen Kompromiss vor, der den Abzug der griechischen Streitkräfte aus Kleinasien und die Überführung der Region unter den Schutzschirm des Völkerbunds vorsah. Kemal, der sich des Sieges seiner Männer inzwischen sicher war, lehnte ab. Im Spätsommer  stießen schließlich seine Truppen südlich von Afyonkarahisar durch die griechischen Verteidigungslinien, und in einer großen Gegenoffensive rückten sie bis nach Smyrna (Izmir) vor. Sie nahmen die Stadt am . September ein. In den nächsten Tagen fielen Zehntausende Christen einem Massaker zum Opfer, das nicht nur ein Racheakt für die vorangegangenen griechischen Kriegsverbrechen war, sondern auch der ethnischen Säuberung Westanatoliens von seinen nicht-muslimischen Bevölkerungsgruppen diente. Am . September brach im armenischen Viertel ein großes Feuer aus, das sich sehr schnell auf andere Stadtteile ausbreitete. Hunderttausende aus dem kleinasiatischen Hinterland mit der sich zurückziehenden griechischen Armee nach Smyrna (Izmir) geflohenen Christen sowie die armenischen und griechischen Smyrnioten selbst drängten sich auf den Kaianlagen und hofften auf eine Evakuierung zu den gegenüberliegenden ostägäischen Inseln. Inmitten dieses Flüchtlingsstroms befanden sich auch Reste der zerschlagenen griechischen Armee, die gleichfalls auf einen Abtransport über das Meer warteten. Wie verheerend die Situation in Smyrna (Izmir) war, dokumentiert die Zeugenaussage des US-amerikanischen Sanitätsoffiziers Leutnant Gardner: Die Lage der Flüchtlinge ist erbärmlich. […] Es ist offensichtlich, dass der Türke nicht die Absicht hat, ihnen bei etwas anderem zu helfen als ihrer Abreise, und es sind auch keinerlei Maßnahmen für ihre Unterkunft oder ihr Wohlergehen getroffen worden. […] Dass es überall Krankheiten gibt, zeigt sich an den Totenbahren, die durch die Straßen getragen werden. Viele Kranke, die nicht gehen können, werden von ihren Verwandten auf dem  Kostopoulos, Tasos: Polemos kai ethnokatharsi. I xechasmeni plevra mias dekaetous ethnikis exormisis, -. Athen , -.  Zelepos, Kleine Geschichte (wie Anm. ), -.  Zu den militärischen Hintergründen der griechischen Niederlage siehe Richter, Heinz A.: Der griechisch-türkische Krieg -. Mainz .

235

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

Rücken getragen, viele liegen schwer krank mit schmerzverzerrtem Gesicht in Schmutz und Elend am Straßenrand, und ihr lautes Stöhnen trägt zum Lärm und Durcheinander bei. Viele Erwachsene und die meisten Kinder sind unterernährt. Angesichts der humanitären Notlage schickten die Großmächte Schiffe, die zusammen mit griechischen Schiffen im Zeitraum vom . bis zum . September rund . Personen evakuierten. Ende des Jahres befanden sich circa . kleinasiatische Flüchtlinge in Griechenland, deren Unterbringungssituation katastrophal war. Die Niederlage im griechisch-türkischen Krieg und das dadurch ausgelöste Flüchtlingsdrama boten für venizelistische Offiziere den Anlass, Ende September  einen Putsch gegen die royalistische Führung durchzuführen und eine neue zivile Regierung aus Venizelisten einzusetzen. Im November desselben Jahres wurden acht royalistische Politiker und hochrangige Offiziere wegen Hochverrats angeklagt. Sechs davon verurteilte ein außerordentliches Militärgericht als Hauptverantwortliche für die »Kleinasiatische Katastrophe« zum Tode. Ihre Hinrichtung erfolgte umgehend. König Konstantin I. wurde gezwungen, abzudanken und das Land in Richtung Italien zu verlassen, sein Sohn Georg II. folgte ihm auf den Thron. Eleftherios Venizelos, der sich nach der besagten Wahlniederlage von  nach Paris abgesetzt hatte, wurde zum Vertreter Griechenlands im Ausland ernannt. Infolge der dramatisch veränderten Situation nach dem türkischen Sieg im sogenannten nationalen Unabhängigkeitskrieg gegen Griechenland und der Erstarkung der Nationalbewegung Kemals sahen sich die alliierten Großmächte gezwungen, der Forderung Ankaras nach einer Revision des Friedensvertrags von Sèvres nachzukommen. Am . November begannen in Lausanne am Genfer See die Neuverhandlungen über einen Friedensschluss mit der Türkei, bei denen die griechische Vertretung von Venizelos angeführt wurde. In Athen erhoffte man sich, dass der international erfahrene und angesehene Politiker trotz der äußerst ungünstigen Verhandlungsposition Griechenlands einen guten Kompromiss für seine militärisch geschlagene und inzwischen auch außenpolitisch isolierte Heimat aushandeln könnte, zu dem ihm vor allem seine engen Beziehungen zu London verhelfen sollten. In Anbetracht des Ausmaßes der Niederlage und der türkischen Forderungen hielten sich die territorialen Verluste, die Griechenland erdulden musste, in Grenzen. Der Friedensvertrag von Sèvres wurde dahingehend revidiert, dass Kleinasien und Ostthrakien, die  respektive  einer griechischen Verwaltung unterstellt worden waren, der Türkei zugesprochen wurden. Aus griechischer Sicht war es ein beachtlicher Er Lt. H. E. Gardner (Sanitätskorps), .., AGUSA, Mikrofiche , zit. n. Naimark, Flammender Haß (wie Anm. , Einleitung), .  Kostopoulos, Polemos (wie Anm. ), -; Clogg, A Concise History (wie Anm. ), -; Zelepos, Kleine Geschichte (wie Anm. ), -; Ther, Die dunkle Seite (wie Anm. , Einleitung), -.

236

Da s g ri e c hi s c h -tü r ki s c h e Pa ra di g m a

folg, dass im neuen Friedensvertrag alle Gebietsgewinne Griechenlands aus den Balkankriegen und dem Ersten Weltkrieg bestätigt wurden, obwohl die Türkei in Lausanne nicht nur Ost-, sondern auch Westthrakien mit Nachdruck für sich beansprucht hatte. In der dringenden Angelegenheit der kleinasiatischen Griechen war der Spielraum Athens äußerst begrenzt, zumal sich diese bereits in Griechenland befanden. Wie bereits erwähnt, mündeten die Verhandlungen darüber in der Konvention von Lausanne, die am . Januar  zwischen Griechenland und der Türkei unterzeichnet wurde und erstmals in den modernen zwischenstaatlichen Beziehungen einen obligatorischen Bevölkerungsaustausch vorschrieb. Davon betroffen waren gemäß Art.  die türkischen Staatsbürger griechisch-orthodoxen Glaubens, einschließlich der Vertriebenen aus Kleinasien und der in Griechenland ansässigen Muslime: The Government of the Grand National Assembly of Turkey and the Greek Government have agreed upon the following provisions: Article . As from the st May, , there shall take place a compulsory exchange of Turkish nationals of the Greek Orthodox religion established in Turkish territory, and of Greek nationals of the Moslem religion established in Greek territory. These persons shall not return to live in Turkey or Greece respectively without the authorisation of the Turkish Government or of the Greek Government respectively. Wie in Kapitel  ausführlich dargestellt, wurden mit Art.  der Konvention jene Griechen, die vor dem Stichtag des . Oktober  in Konstantinopel (Istanbul) ansässig waren, und die am Tag der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Bukarest (. August ) in Westthrakien sesshaften Muslime vom obligatorischen Bevölkerungsaustausch ausgenommen. Der ein halbes Jahr nach der Konvention unterzeichnete Friedensvertrag von Lausanne beinhaltete eine Ausnahmeregelung auch für die auf den Inseln Imvros (Gökceada) und Tenedos (Bozcaada) lebenden griechisch-orthodoxen Christen. Allen anderen zur Umsiedlung gezwungenen Personen wurde ein Entschädigungsrecht für das zurückgelassene Eigentum zuerkannt. Eine gemischte siebenköpfige Kommission sollte nach dem Vorbild der für die Umsetzung des bulgarisch-griechischen Bevölke Convention Concerning the Exchange of Greek and Turkish Populations, and Protocol, signed at Lausanne, January , . In: League of Nations. Treaty Series. Publication of Treaties and International Engagements Registered with the Secretariat of the League of Nations. Bd. . Hg. v. League of Nations. Genf , -, hier .  »The following persons shall not be included in the exchange provided for in Article : (a) The Greek inhabitants of Constantinople. (b) The Moslem inhabitants of Western Thrace. All Greeks who were already established before the th October , within the areas under the Prefecture of the City of Constantinople, as defined by the law of , shall be considered as Greek inhabitants of Constantinople. All Moslems established in the region to the east of the frontier line laid down in  by the Treaty of Bucharest shall be considered as Moslem inhabitants of Western Thrace.« Ebd.

237

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

rungsaustausches zuständigen Kommission das Entschädigungsverfahren abwickeln: Article . Immovable property, whether rural or urban, belonging to emigrants, or to the communities mentioned in Article , and the movable property left by these emigrants or communities, shall be liquidated in accordance with the following provisions by the Mixed Commission provided for in Article . […]. Article . Within one month from the coming into force of the present Convention a Mixed Commission shall be set up in Turkey or in Greece consisting of four members representing each of the High Contracting Parties, and of three members chosen by the Council of the League of Nations from among nationals of Powers which did not take part in the war of . The Presidency of the Commission shall be exercised in turn by each of these three neutral members. The Mixed Commission shall have the right to set up, in such places as it may appear to them necessary, Sub-Commissions working under its order. Each such Sub-Commission shall consist of a Turkish member, a Greek member and a neutral President to be designated by the Mixed Commission. The Mixed Commission shall decide the powers to be delegated to the Sub-Commission. Durch die Lausanner Konvention wurde der überwiegenden Mehrheit der rund , Millionen kleinasiatischen griechisch-orthodoxen Christen die Rückkehr in ihre westanatolischen Heimatorte verwehrt. Zudem wurde einem kleineren Teil dieser Bevölkerungsgruppe, der sich noch auf türkischem Territorium befand, sowie den circa . in Griechenland lebenden Muslimen auferlegt, nach Griechenland bzw. in die Türkei auszusiedeln. Anschließend soll der Frage nach dem Urheber der Transferbestimmungen der Lausanner Konvention nachgegangen werden, die in der Forschungsliteratur angesichts der noch weiter unten ausführlich darzustellenden Präzedenzfallwirkung des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausches schon viel Beachtung gefunden hat. Trotzdem herrscht in der jüngeren Forschung Uneinigkeit über die Vorgänge, die zur Entstehung dieses Vertragtextes führten, und insbesondere über die Person, die für das Transferabkommen von Lausanne in Anspruch zu nehmen ist. Philipp Ther geht beispielsweise davon aus, dass es der britische Außenminister George Curzon (. Marquess Curzon of Kedleston) war, der in der Funktion des Hauptvertreters der Alliierten einen »Austausch der Bevölkerung« vorschlug und »diesen Begriff prägte«. Der Wiener Osteuropahistoriker bezieht sich dabei auf das Protokoll der Verhandlungen in Lausanne, aus dem dies »eindeutig« hervorgehe. Mathias Beer greift hingegen vorwiegend auf die Arbeit Stephen Ladas’ aus den frühen er Jahren zurück und gelangt zum Schluss, dass »der verpflichtende gegenseitige Bevölkerungsaustausch von Grie Ebd., .  Ther, Die dunkle Seite (wie Anm. , Einleitung), .

238

Da s g ri e c hi s c h -tü r ki s c h e Pa ra di g m a

chen und Türken« vom »Flüchtlingskommissar des Völkerbunds, Fridtjof Nansen, vorgeschlagen worden« sei. Nansen hatte allerdings seinerzeit die Verantwortung dafür von sich gewiesen und behauptet, dass die in Konstantinopel (Istanbul) stationierten Vertreter der vier alliierten Großmächte ihm gegenüber die Lösung eines gegenseitigen Bevölkerungstransfers angeregt hätten. Letztere wiederum bestritten diese Aussage und legten ihrerseits Nansen den obligatorischen Bevölkerungstransfer zur Last. Da dieser zunächst sowohl in der griechischen und türkischen wie auch internationalen Öffentlichkeit als inhuman heftig kritisiert wurde, versuchten die an der Entscheidungsfindung beteiligten Akteure, sich möglichst davon zu distanzieren, und wiesen sich dabei gegenseitig die Hautverantwortung dafür zu. Vor allem Nansen befand sich in der prekären Situation, ungefähr zur selben Zeit, als er sich an den Verhandlungen zur Zwangsumsiedlung Hunderttausender von Menschen bzw. zur rechtlichen Sanktionierung ihrer schon stattgefundenen Vertreibung beteiligte, den Friedensnobelpreis in Würdigung seiner großartigen Flüchtlingsarbeit verliehen bekommen zu haben. Nachträglich wurde Nansen von seinem Biographen Ronald Huntford zum Opfer stilisiert. In apologetischer Absicht merkt er an, dass die Großmächte im Fall des griechisch-türkischen Bevölkerungstransfers erstmals einen im Dienste einer internationalen Organisation stehenden Beamten zur Legitimierung ihrer Politik instrumentalisiert hätten. Bezeichnend für die Versuche der an dem Zustandekommen der Lausanner Konvention beteiligten Akteure, von dieser Abstand zu nehmen, ist, dass Curzon zu einem späteren Zeitpunkt der Verhandlungen, als die Entscheidung für den obligatorischen Austausch bereits gefallen war, diese sehr negativ kommentierte. Im Verhandlungsprotokoll ist seine Meinung folgendermaßen festgehalten: »For his own part, he deeply regretted that the solution now being worked out should be the compulsory exchange of populations – a thoroughly bad and vicious solution, for which the world will pay a heavy penalty for a hundred years to come.« Ther erklärt sich diese Ausführungen Curzons als einen Versuch der »Ehrenrettung der britischen Verhandlungsführung, des Völkerbunds und seiner Vermittlungsleistung«, die letztendlich bewirkt habe, dass »in unzähligen Publikationen« nicht Großbritannien und die anderen Großmächte, sondern die Türkei als Hauptantreiber der Zwangsumsiedlung präsentiert werde. Eine der neueren Studien, die der türkischen Delegation die Initiative für den obligatorischen Bevölkerungsaustausch zuschreibt, ist jene Jan Piskorskis zur europäischen Vertreibungsgeschichte. Darin ist etwa die Rede von »türkischen Vorschlägen«, die »der griechische Ministerpräsident Eleftherios Venizelos« und die »internationa Beer, Flucht (wie Anm. ), .  Huntford, Roland: Nansen. The Explorer as Hero. London , .  Lausanne Conference on Near Eastern Affairs -. Records of Proceedings and Draft Terms of Peace, London, , zit. n. Ther, Die dunkle Seite (wie Anm. , Einleitung), .  Ebd. (wie Anm. , Kap. ),  f.

239

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

len Vermittler, darunter der britische Lord Curzon«, angesichts der Situation im westanatolischen Kleinasien annehmen mussten. Auch der US-amerikanische Historiker Norman Naimark vertritt die Meinung, dass es die »kemalistischen Vertreter« waren, die während der Verhandlungen »zur ittihadistischen Idee des Bevölkerungsaustausches zurückkehrten, der am Vorabend des Ersten Weltkriegs diskutiert worden war«, wobei »die Türken diesmal auf einem zwangsweisen, keinem freiwilligen Austausch bestanden« hätten. Michael Schwartz behauptet hingegen, dass es Nansen im Oktober  gewesen sei, der »offenbar von Venizelos beeinflusst«, eine »Entmischung unter Zwang vorschlug«. Hierbei merkt er an, dass »die Idee zu einem wechselseitigen Zwangstransfer Venizelos und Nansen im Frühherbst  fast gleichzeitig kam«. Schwartz gelangt schließlich zum Ergebnis, dass es Venizelos gewesen sei, der, »Nansen am . Oktober aufforderte, diesen Zwangstransfer vom restlichen Friedensschluss abzutrennen und zeitlich vorzuziehen«. Nansen habe sich »daraufhin das Mandat der vier Hochkommissare der Entente-Großmächte Großbritannien, Frankreich, Italien und Japan« gesichert, um »alle möglichen Schritte zu unternehmen, um den Austausch rasch umzusetzen«. Schwartz basiert seine Ausführungen größtenteils auf der  erschienenen Studie Bruce Clarks, der sich mit der Frage nach dem Initiator des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausches eingehender als frühere Arbeiten auseinandergesetzt hat. Nach Sichtung griechischen Archivmaterials schlussfolgert er, dass höchstwahrscheinlich Venizelos hinter der Formel des obligatorischen Bevölkerungsaustausches stehe. Bestätigt wird diese Einschätzung Clarks durch die Arbeit des griechischen Historikers Konstantinos Svolopoulos zu Venizelos aus dem Jahr , in der die Vorgänge, die zu einem rechtlich sanktionierten Zwangstransfer zwischen Griechenland und der Türkei führten, noch ausführlicher als bei Clark besprochen werden. Svolopoulos kann bei der Beleuchtung dieser Vorgänge nicht nur auf Dokumente des Historischen Archivs des griechischen Außenministeriums und Archivalien des Völkerbunds zurückgreifen, sondern auch die persönliche Korrespondenz von Venizelos mit Nansen und Politis heranziehen. Aus seiner Darstellung geht hervor, dass sich die Idee des obligatorischen Bevölkerungsaustausches im Kontakt zwischen Venizelos und dem norwegischen Flüchtlingskommissar des Völkerbunds herauskristallisierte. Nansen hatte bereits bei seiner ersten brieflichen Kontaktaufnahme mit dem griechischen Vertreter am . Oktober  die Option eines Bevölkerungstransferabkommens mit der Türkei      

Piskorski, Die Verjagten (wie Anm. ), . Naimark, Flammender Haß (wie Anm. , Einleitung), . Schwartz, Ethnische »Säuberungen« (wie Anm. , Einleitung), . Ebd. Ebd. Clark, Bruce: Twice a Stranger. The Mass Expulsions that Forged Modern Greece and Turkey. Cambridge , -.  Svolopoulos, Konstantinos: Anafores ston Eleftherio Venizelo. Athen .

240

Da s g ri e c hi s c h -tü r ki s c h e Pa ra di g m a

angesprochen, wies aber darauf hin, dass es sich dabei um ein »langwieriges und schwieriges Unternehmen« handelte. Demzufolge legte er der griechischen Seite nahe, ihre Anstrengungen vorerst auf die Unterbringung der kleinasiatischen Flüchtlinge zu konzentrieren. In seiner Antwort am . Oktober drängte Venizelos darauf, dass trotz der von Nansen beklagten Schwierigkeiten der »Beginn des Bevölkerungstransfers vor dem Abschluss des Friedensvertrags« erfolge. In diesem Zusammenhang äußerte der griechische Vertreter die Vermutung, dass die Türkei bei den bevorstehenden Friedensverhandlungen einen Austausch zwischen ihren griechisch-orthodoxen Christen und den in Griechenland ansässigen Muslimen vorschlagen werde. Hierfür stützte er sich auf eine vermeintlich ihm gegenüber angedeutete Drohung seitens des türkischen Innenministers, dass Ankara zukünftig die Existenz einer griechischen Minderheit auf türkischem Territorium nicht tolerieren werde. Auch wenn Venizelos in seiner am . Oktober  an Nansen gerichteten Aufforderung hinsichtlich eines unverzüglichen Bevölkerungsaustausches den Begriff »obligatorisch« nicht verwendet hatte, war die von ihm zusätzlich benannte Zielsetzung, dass dieser Austausch flächendeckend und umfassend sei, nur durch einen Zwangstransfer zu erfüllen. Venizelos hatte also, wie Svolopoulos zurecht anmerkt, Nansen bereits am . Oktober den obligatorischen Bevölkerungsaustausch indirekt vorgeschlagen. Letzterer wiederum leitete den Vorschlag des griechischen Vertreters in einem Schreiben am . Oktober an den Generalsekretär des Völkerbunds, Sir James Eric Drummond, wie folgt weiter: Als Herr Venizelos diesen Antrag [für einen Bevölkerungstransfer] stellte, zitierte er eine vor Kurzem gemachte Aussage des Innenministers der nationalistischen Regierung von Ankara, der zufolge seine Regierung […] plane, bei der kommenden Friedenskonferenz den obligatorischen Bevölkerungsaustausch vorzuschlagen. Herr Venizelos hat mich darum gebeten, tätig zu werden, dass dieser Austausch so schnell wie möglich beginnt und die entsprechenden Verhandlungen unabhängig von den Friedensverhandlungen aufgenommen werden. Einen Tag früher, am . Oktober , hatte Nansen bereits die vier Hochkommissare der Entente-Großmächte Großbritannien, Frankreich, Italien und Japan in Konstantinopel (Istanbul) über den Vorschlag Venizelos’ in Kenntnis gesetzt. Diese nahmen ihn ohne Zögern an und informierten den Völkerbund über die einheitliche Position der Großmächte in dieser Angelegenheit. In ihrer Stellung Archiv Venizelos, , F. Nansen (Constantinople) to E. Venizelos (London), October , , zit. n. ebd.,  f.  Société des Nations/Archives, /, E. Vénizélos (Londres) à F. Nansen (Constantinople),  Octobre , zit. n. ebd., .  Svolopoulos, Anafores (wie Anm. ),  f.  Société des Nations/Archives, /, F. Nansen (Constantinople) à E. Drummond (Genève),  Octobre , zit. n. ebd., .

241

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

nahme konstatierten sie, dass das Flüchtlingsproblem mit der allgemeineren Frage des Bevölkerungsaustausches eng verbunden sei. Im Weiteren versicherten sie Nansen, dass die Großmächte ihm in seiner Vermittlerrolle die größtmögliche Unterstützung gewähren würden. Schließlich ließ der britische Hochkommissar Sir Horace Rumbold (th Baronet) durch Nansen Venizelos ausrichten, dass sich London bereiterklärt habe, bei den bevorstehenden offiziellen Verhandlungen einen griechisch-türkischen Bevölkerungstransfer vorzuschlagen. Wie weiter oben bereits erwähnt, hat der britische Außenminister Curzon tatsächlich in Lausanne den entscheidenden Vorstoß unternommen, indem er eine »Entmischung der Bevölkerungen des Nahen Osten« und einen »Austausch der Bevölkerung« vorschlug. Aus der Kommunikation zwischen Nansen und Venizelos lässt sich schließen, dass die Weichen für einen obligatorischen Bevölkerungsaustausch bereits Mitte Oktober  gestellt worden waren. Die einzige Verhandlungspartei, die zu Beginn der Friedenskonferenz Ende November  in Lausanne dem Plan des obligatorischen Bevölkerungstransfers noch nicht zugestimmt hatte, war die türkische Regierung. Ankara hatte anders als Athen kein dringendes Interesse, die Verhandlungen über einen Austausch aufzunehmen, sondern bezweckte im Gegenteil eine Verzögerung der Klärung der Flüchtlingsfrage, da sich die Auswanderung der um ihr Leben fürchtenden orthodoxen Christen aus der Türkei auch ohne Transfer-Abkommen fortsetzte. Demzufolge ließ Hamid Bey am . November Nansen ausrichten, dass die türkische Regierung das Thema des Bevölkerungsaustausches nicht für dringend halte und dieses erst nach dem Friedensschluss angehen wolle. Am Tag darauf klagte Nansen aus Konstantinopel (Istanbul), er befinde sich zum wiederholten Mal in den letzten fünf Wochen in der schwierigen Lage, nicht zu wissen, mit wem er von der Regierung in Ankara über den Bevölkerungsaustausch beraten könne. Nach weiteren erfolglosen Versuchen, mit den türkischen Vertretern Verhandlungen aufzunehmen, brach Nansen am . November nach Lausanne auf. Der griechischen Seite  Société des Nations/Archives, /, F. Nansen to E. Vénizélos, Octobre , ; F. Nansen à E. Drummond, . Oktober ; F. Nansen au Gt. de la Grande Assemblée Nationale de Turquie [. November ], zit. n. ebd., ; Société des Nations/C.  M. , Échange réciproque des Minorités éthniques entre la Grèce et la Turquie, Rapport de Dr. Nansen, Genève, . November , zit. n. ebd., .  Société des Nations/Archives, /, F. Nansen to E. Venizelos, October , , zit. n. ebd.,  f.  Ther, Die dunkle Seite (wie Anm. , Einleitung),  f.  Société des Nations/Archives, / [Rapport rédigé par Ph. Baker, No. , . November ], zit. n. Svolopoulos, Anafores (wie Anm. ), .  Société des Nations/Archives, /, F. Nansen au Gt. de la Grande Ass. Nationale de Turquie [. November ]. Société des Nations/Archives, / [Report on the Contacts between Dr. Nansen and Hamid Bey, November , ], zit. n. ebd., .  Archiv Venizelos, , N. Politis (Athen) pros E. Venizelon, No. , /. November , zit. n. ebd., .

242

Da s g ri e c hi s c h -tü r ki s c h e Pa ra di g m a

teilte er mit, dass ihm »unter den jetzigen Zuständen keine weiteren Druckmittel gegen die Türkei« einfielen, aber er weiterhin der festen Überzeugung sei, dass »die zivilisierten Staaten nicht tatenlos dieser beispielslosen Tragödie« der kleinasiatischen Flüchtlinge zusehen dürften. Er habe bereits zu den Großmächten Kontakt aufgenommen mit der Bitte, sich der Angelegenheit der Klärung der Flüchtlingsfrage anzunehmen. Zudem kündigte er gegenüber Athen seine Absicht an, sich an die »Öffentlichkeit aller Staaten« zu richten, um den Druck auf die Staatengemeinschaft zu erhöhen. Das auf einen obligatorischen Bevölkerungsaustausch drängende Athen war dem norwegischen Flüchtlingskommissar für seine Bemühungen dankbar, auch deswegen, weil er ein weiteres griechisches Anliegen, nämlich die Ausklammerung der Konstantinopler Griechen vom anvisierten Austausch, unterstützte und sich dafür auch bei den Hochkommissaren der Großmächte energisch einsetzte. Ohne Rücksprache mit Ankara setzte schlussendlich der britische Außenminister Curzon auf Nansens Betreiben das Thema des Bevölkerungsaustausches auf die Agenda der Lausanner Friedenskonferenz. Der türkische Verhandlungsführer Innenminister Mustafa İsmet Pascha/Paşa (der später den Nachnamen İnönü annahm) zeigte sich von dieser Entwicklung überrascht und protestierte vehement dagegen. Anfänglich lehnte er die Diskussion über einen griechisch-türkischen Bevölkerungstransfer mit dem Hinweis ab, dass die Türkei kein Mitglied des Völkerbunds sei und dementsprechend die Einmischung Nansens in die Friedensverhandlungen für unangebracht halte. Trotz der heftigen türkischen Einwände blieb das Thema des Bevölkerungsaustausches auf der Lausanner Agenda, und Curzon schlug, wie gesagt, am . Dezember  offiziell einen gegenseitigen obligatorischen Transfer der griechisch-orthodoxen Bevölkerung der Türkei und der in Griechenland ansässigen Muslime vor. Die unter dem Druck der Großmächte stehende Regierung in Ankara stimmte nicht nur dem Bevölkerungstransferabkommen, sondern auch der Ausnahmeregelung für die Konstantinopler Griechen zu. Im Gegenzug dafür wurde das Ergebnis der Vertreibung der kleinasiatischen Christen in Form eines völkerrechtlichen Vertrags unwiderruflich bestätigt. Damit war das Thema der Rückkehr der Geflüchteten bzw. Vertriebenen endgültig vom Tisch. Zudem musste Athen, wie bereits weiter oben erwähnt, auf türkisches Verlangen hin den Muslimen des griechischen Westthrakien ein Bleiberecht einräumen. In Anbetracht der oben genannten Fehleinschätzungen in der in Archiv Venizelos, , N. Politis (Athen) pros E. Venizelon, No. , / November , zit. n. ebd.  Société des Nations/Archives, /, F. Nansen (Con/pie) à N. Politis, No , . November , zit. n. ebd., ; Archiv Venizelos, , Simopoulos (Konstantinopoli) pros E. Venizelon, No , /. November , zit. n. ebd.; Archiv Venizelos, , Siatis (Péra) à Vénizélos, No , /. November ; Archiv Venizelos, . N. Politis (Athen) pros E. Venizelon, No , /. November , zit. n. ebd.  Yıldırım, Diplomacy (wie Anm. ), .  Ebd.

243

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

ternationalen Forschungsliteratur hinsichtlich der treibenden Kraft hinter der Konvention von Lausanne sind die Schlussbemerkungen Svolopoulos’, der die Entstehungsgeschichte des griechisch-türkischen Transferabkommen auf der Grundlage der Korrespondenz Venizelos’ mit Nansen minutiös rekonstruiert hat, von besonderer Bedeutung: Die Entscheidung [für den obligatorischen Bevölkerungsaustausch] wird bei jenen, die den Grundsätzen des Völkerrechts große Bedeutung schenken und die menschliche Würde als unantastbar betrachten, immer Gefühle der Betroffenheit, des Frusts und der Melancholie hervorrufen. […] Aber die Entscheidung für den Bevölkerungsaustausch enthält [aus Sicht der Betroffenen] insofern eine zusätzlich dramatische Komponente, als sie unter dem maßgeblichen Druck der griechischen Regierung gefasst wurde. Eleftherios Venizelos, der die Fähigkeit besaß, seine Emotionen den politischen Gegebenheiten unterzuordnen, gelang es – in seiner Funktion des Vertreters Griechenlands bei den Verhandlungen und in der sich daraus ergebenden Rolle des Gestalters einer neuen Außenpolitik des Landes –, eine Reihe großer Gefahren für Griechenland durch die dynamische Anpassung der griechischen Haltung an die Realität und die bestmögliche Ausschöpfung der begrenzten Möglichkeiten abzuwenden. Die dramatische Initiative, die er damals ergriffen hat, kann heute nur unter Berücksichtigung der [aussichtslosen] Ausgangslage richtig eingeschätzt werden.

Vom abschreckenden Beispiel zum Präzedenzfall: Pläne zur Teilung Palästinas

Obwohl letztendlich alle an den Verhandlungen beteiligten Parteien die Entscheidung für den Zwangstransfer mitgetragen hatten, bemühten sie sich danach, sich davon zu distanzieren. Irrtümlicherweise wird häufig in der Forschung behauptet, dass sich »Politiker, Staats- und Völkerrechtler« schon  »allgemein darin einig« gewesen seien, »dass der Vertrag von Lausanne mit Abstand der am meisten befriedigende und stabilste der nach dem Ersten Weltkrieg geschlossenen Friedensverträge war«. Kaum sei der Vertrag von Lausanne unterzeichnet worden, so ist etwa in der besagten Vertreibungsstudie des polnischen Historikers Piskorski zu lesen, »feierte ihn die Welt als großen Erfolg, als einen Kaiserschnitt, der zwar große Schmerzen verursacht, aber Leben rettet«. Dies war nicht der Fall: Die zeitgenössische Einschätzung des Abkommens war zunächst aufgrund seiner verheerenden Folgen für die zwangsumgesiedelten  Svolopoulos, Anafores (wie Anm. ), .  Schwartz, Ethnische »Säuberungen« (wie Anm. , Einleitung), .  Piskorski, Die Verjagten (wie Anm. ), .

244

Vo m a b s c h re c ke n d e n B e i s p i e l zu m P räze d e nz fall

Menschen und davon direkt betroffenen Staaten äußerst negativ. Die Wut der Zwangsumgesiedelten richtete sich vor allem gegen die Vertreter Griechenlands und der Türkei in Lausanne. Diese wiederum wälzten die Schuld auf andere ab. So erklärte etwa der türkische Verhandlungsführer İnönü nach Ende der Friedenverhandlungen, dass die Großmächte ihn gezwungen hätten, sein Einverständnis zum obligatorischen Bevölkerungsaustausch zu geben. Venizelos, der eigentliche Hauptinitiator des Bevölkerungsaustausches, behauptete sogar, dass er während der Lausanner Verhandlungen gegen die obligatorische Vertragsklausel protestiert habe, aber sich letztendlich den türkischen Forderungen habe beugen müssen. Schließlich beschuldigten Nansen und die Großmächte sich  Beer, Flucht (wie Anm. ), .  Svolopoulos, Anafores (wie Anm. ), .  Schwartz, Ethnische »Säuberungen« (wie Anm. , Einleitung), . Venizelos, die treibende Kraft hinter dem Abkommen, gilt heutzutage in Griechenland, und zwar parteiübergreifend, als der überragende griechische Staatsmann seit der Staatsgründung . Der in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts mehrmals zum Ministerpräsidenten gewählte Politiker aus Kreta wird vor allem mit der enormen territorialen Vergrößerung Griechenlands, die der »Kleinasiatischen Katastrophe« vorausgegangen war, assoziiert, während er mit dem griechisch-türkischen Bevölkerungstransfer von  nur selten direkt in Verbindung gebracht wird. In der griechischen Erinnerungsund Geschichtskultur nimmt vor allem die Vertreibung der Griechen Kleinasiens im September  eine prominente Rolle ein. Die Vorgeschichte der Katastrophe, insbesondere die Zerstörung von Dörfern im Hinterland von Smyrna (Izmir) durch griechische Soldaten und die von ihnen verübten Gräueltaten an der muslimischen Zivilbevölkerung, die dem Einmarsch der von Kemal Atatürk angeführten türkischen Truppen in Smyrna (Izmir) vorangegangen waren, wird indes tabuisiert. In den letzten drei Jahrzehnten hat sich mehr und mehr in der griechischen Öffentlichkeit der Begriff »Völkermord« zur Bezeichnung der Vertreibung der Griechen und Armenier Kleinasiens durch die von Kemal Atatürk angeführte türkische Armee durchgesetzt.  wurde der . September gar per Gesetz zum »Tag des nationalen Gedenkens an den durch den türkischen Staat an den Griechen Kleinasiens begangenen Völkermord« ernannt. Das Lausanner Abkommen, das die Vertreibung der orthodoxen Bevölkerung Westanatoliens völkerrechtlich sanktionierte, steht dabei nur selten im Vordergrund der Erinnerungsdiskurse bezüglich der »gewalttätigen Entwurzelung des kleinasiatischen Griechentums«. Wie das offizielle griechische Erinnerungsnarrativ ist auch das türkische äußerst fragmentiert und einseitig, wenn es um den griechisch-türkischen Krieg der Jahre - und das Ende des multikonfessionellen Zusammenlebens in Kleinasien geht. In der türkischen Erinnerungskultur und Geschichtspolitik werden die multikulturelle und kosmopolitische Vergangenheit von Smyrna (Izmir) bis  und ihr gewalttätiges Ende durch die Vertreibung der westanatolischen Griechen und Armenier weitgehend verschwiegen. Während im griechischen kollektiven Gedächtnis die Vertreibung der kleinasiatischen Griechen alle anderen Aspekte in den Hintergrund rücken lässt, fokussiert die türkische Geschichtspolitik fast ausschließlich auf die militärische Dimension der Ereignisse im Spätsommer , insbesondere auf den siegreichen Vormarsch der Truppen Kemals von Ankara bis Izmir, der in die türkische Geschichtsschreibung als »Abdrängen des Feindes ins Meer« eingegangen ist. Die »Kleinasiatische Katastrophe« hat in der neugriechischen Literatur stets eine hervor-

245 https://doi.org/10.5771/9783835346291

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

gegenseitig, die Zwangsumsiedlung beabsichtigt zu haben. Trotz dieser anfänglichen Distanzierung entwickelte sich die Lausanner Konvention nach einer gewissen Zeit Jahren »zum Modell, auf das sich zukünftig die Befürworter von Umsiedlungen in der europäischen Geschichte beriefen – als Vorbild, oder um Bevölkerungsverschiebungen zu rechtfertigen«. Die entscheidende Wende in der Betrachtungsweise trat erst im Oktober  mit der Unterzeichnung des Freundschaftsabkommens von Ankara zwischen Griechenland und der Türkei ein, durch das ein Jahrzehnt guter griechisch-türkischer Beziehungen eingeleitet wurde. Die Annäherung zur Türkei stellte den Grundstein der neuen Außenpolitik von Venizelos dar, der im Juli  erneut zum Ministerpräsidenten gewählt worden war. Schon im August desselben Jahres schrieb er İnönü, dass er, Venizelos, den »innigen Wunsch« habe, die Weichen für eine »enge Freundschaft« zwischen den beiden Ländern zu stellen. Das neue freundschaftliche Verhältnis sollte aus Sicht des griechischen Premierministers auf dem beiderseitigen Geständnis fußen, dass keine gegenseitigen territorialen Ansprüche existierten. İnönü reagierte auf den griechischen Annäherungsversuch positiv und richtete Venizelos aus, dass in der Geschichte der griechisch-türkischen Beziehungen die Zeit gekommen sei, den »Anfang einer neuen Epoche der ehrlichen und engen Freundschaft zu machen«. Außerdem bestätigte er die Ansicht von Venizelos, dass seit dem Lausanner Friedensvertrag zwischen Griechenland und der Türkei keine territorialen Differenzen bestünden, sondern nur noch solche, die »private und nichtstaatliche Interessen« betrafen. Gemeint waren damit insbesondere die bei der Verrechnung privatrechtlicher Besitzansprüche griechisch-orthodoxer und muslimischer Umsiedler aufgetretenen Dissonanzen. Da für Venizelos die Normalisierung der griechischtürkischen Beziehungen absolute Priorität hatte, machte er gegenüber Ankara

   

ragende Position eingenommen. Es waren vor allem Romane, die in den er und er Jahren größtenteils von Flüchtlingen selbst verfasst und später aus dem Griechischen in mehrere andere Sprachen übersetzt wurden, die das Thema der Vertreibung der griechisch-orthodoxen Bevölkerung aus Kleinasien international bekannt machten. Im Gegensatz dazu kam bis vor Kurzem in der türkischen Literatur der Bevölkerungsaustausch nur in einer geringen Anzahl von Romanen und, wenn ja, nur indirekt vor. Siehe ausführlicher dazu Köksal, Özlem: Aesthetics of Displacement: Turkey and its Minorities on Screen, New York [u. a.] , ; Alpan, Aytek Soner: But the Memory Remains: History, Memory and the  Greco-Turkish Population Exchange. In: The Historical Review/La Revue Historique IX (), -; Skordos, Adamantios Theodor: Unentschieden. Fußball, die »Kleinasiatische Katastrophe« und Geschichtspolitik treffen sich in einem Vereinstrikot. In: Mitropa  (),  f.; Millas, Herkül: Yunan Ulusunun Doğuşu. Istanbul , -. Svolopoulos, Anafores (wie Anm. ),  f. Beer, Flucht (wie Anm. ), . Zit. n. Svolopoulos, Konstantinos: I elliniki exoteriki politiki meta tin Synthikin tis Lozannis. I krisimos kampi, Ioulios-Dekemvrios . Thessaloniki ,  f. Ebd.

246

Vo m a b s c h re c ke n d e n B e i s p i e l zu m P räze d e nz fall

zahlreiche Zugeständnisse, die ihm von Seiten der kleinasiatischen Flüchtlinge heftige Kritik einbrachten. Im Freundschaftsabkommen von Ankara verpflichtete sich die griechische Seite, eine Entschädigungszahlung an Ankara in der Höhe von . Pfund zu entrichten, während Athen selbst auf Entschädigungsansprüche gegenüber der Türkei endgültig verzichtete. Diese Regelung zerstörte jegliche Hoffnung der Flüchtlinge, die sich trotz des Lausanner Abkommens immer noch in Illusionen hinsichtlich einer möglichen Rückkehr in ihre Heimatorte wogen. Athen und Ankara besiegelten indes die neue Ära in den Beziehungen der beiden Staaten mit dem Besuch von Venizelos beim Ökumenischen Patriarchat in Istanbul. Der einstige Vorkämpfer eines sich auf beiden Seiten der Ägäis erstreckenden Großgriechenlands verfiel in so eine Euphorie über die griechisch-türkische Annäherung, dass er sogar Mustafa Kemal Atatürk für den Friedensnobelpreis vorschlug. Das Friedensabkommen von Ankara, das die weit verbreitete Ansicht bestärkte, dass die Deeskalation zwischenstaatlicher und ethnonationaler Konflikte zu einem großen Teil die vorangehende Lösung von damit verbundenen Minderheitenproblemen voraussetze, führte zu einem grundsätzlichen Meinungswandel in der Bewertung von Bevölkerungstransfers als Mittel internationaler Politik. Erkennbar wurde dies zuerst im Nahen Osten am jüdisch-arabischen Konflikt. Als Folge der Gewalteskalation in der zweiten Hälfte der er Jahre in Palästina richtete die britische Mandatsregierung in Absprache mit dem Völkerbund eine Untersuchungskommission zur Zukunft der Region unter dem Vorsitz von Lord William Peel ein. In ihrem Bericht vom Juli  schlug die Palestine Royal Commission die Teilung Palästinas in zwei souveräne Staaten – einen arabischen und einen jüdischen – und in ein unter der Verwaltung des Völkerbunds stehendes Mandatsgebiet der Heiligen Stätte vor. Um die Effektivität der Zwei-Staaten-Lösung zu erhöhen, plädierte die Kommission für einen »Austausch von Territorien, und, soweit wie möglich, auch für einen Bevölkerungsaustausch«. Die Existenz von Minderheiten in den beiden neuen Staaten hielt die Kommission für staatsbedrohend: [T]he existence of these minorities clearly constitutes the most serious hindrance to the smooth and successful operation of partition. The »minority problem« has become only too familiar in recent years, whether in Europe or in Asia. It is one of the most troublesome and intractable products of post-war

 Charakopoulos, Maximos: To ellinotourkiko symfono filias. In: I Kathimerini, .., http://www.kathimerini.gr//opinion/epikairothta/arxeio-monimessthles/to-ellhnotoyrkiko-symfwno-filias (letzter Zugriff: ..).  Zelepos, Kleine Geschichte (wie Anm, ),  f.  Clogg, A Concise History (wie Anm. , Einleitung), .  Naimark, Norman: Zwangsmigration im Europa des . Jahrhunderts: Probleme und Verlaufsmuster. In: Comparativ  () , -, hier  f.

247

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

nationalism; and nationalism in Palestine, as we have seen, is at least as intense a force as it is anywhere in the world. […] If the settlement is to be clean and final, this question of the minorities must be boldly faced and firmly dealt with. It calls for the highest statesmanship on the part of all concerned. In ihrem Vorschlag für einen Bevölkerungsaustausch beriefen sich Peel und seine Kollegen auf die »positiven« Resultate der Lausanner Konvention, die eine Verbesserung der griechisch-türkischen Beziehungen herbeigeführt habe, und lobten dementsprechend die politischen Führungen der beiden Staaten für ihren »Mut«, dieses Unternehmen durchzuführen: A precedent is afforded by the exchange effected between the Greek and Turkish populations on the morrow of the Greco-Turkish War of . A convention was signed by the Greek and Turkish Governments, providing that, under the supervision of the League of Nations, Greek nationals of the Orthodox religion living in Turkey should be compulsorily removed to Greece, and Turkish nationals of the Moslem religion living in Greece to Turkey. The numbers involved were high – no less than some .. Greeks and some . Turks. But so vigorously and effectively was the task accomplished that within about eighteen months from the spring of  the whole exchange was completed. The courage of the Greek and Turkish statesmen concerned has been justified by the result. Before the operation the Greek and Turkish minorities had been a constant irritant. Now GrecoTurkish relations are friendlier than they have ever been before. In Anbetracht des »derzeitigen Antagonismus zwischen den Ethnien« und der Vorteile, die sich für beide Gruppen aus einer Konflikteindämmung ergeben würden, verlieh die Kommission in ihrem Bericht der Hoffnung Ausdruck, dass »die arabischen und jüdischen politischen Eliten dieselbe große staatsmännische Kompetenz wie Türken und Griechen beweisen und dieselbe mutige Entscheidung für den Frieden treffen« würden. Auch wenn man den griechisch-türkischen Zwangstransfer von  als Vorbild und zur Legitimierung des Umsiedlungsplans für Palästina heranzog, ließ die Kommissionsempfehlung auch die Option eines fakultativen Bevölkerungsaustausches offen. In ihrem Bericht war konkret von einem »freiwilligen oder anderweitigen Land- und Bevölkerungstransfer« die Rede.

 Zit. n. Schechtman, Joseph B.: Population Transfer in Asia. New York , .  Mandates Palestine Report of the Palestine Royal Commission, o. D. In: Jewish Virtual Library, http://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/History/peel.html (letzter Zugriff: ..).  Ebd.  Ebd.

248

Vo m a b s c h re c ke n d e n B e i s p i e l zu m P räze d e nz fall

Der Transfervorschlag wurde in der Ständigen Mandatskommission des Völkerbunds besprochen. Die Mitglieder nahmen ihn grundsätzlich positiv auf, plädierten allerdings dafür, dass die Umsiedlung auf freiwilliger Basis erfolge. Der Vorsitzende der Kommission, der Belgier Pierre Orts, betonte, dass er glücklich wäre, nach der Entstehung der beiden Staaten bestätigen zu können, dass der vorgeschlagene Transfer der ländlichen arabischen Bevölkerung nur mit freiwilliger Zustimmung der Betroffenen umgesetzt worden sei. In ihrer Stellungnahme an den Völkerbundsrat hielt die Mandatskommission fest, dass im Fall einer Teilung Palästinas ein Bevölkerungstransfer notwendig sein würde. Dieser müsste dann aber mit der großmöglichsten Fairness durchgeführt werden, sodass die Vor- die Nachteile übertreffen würden. Allerdings war im Plan der Peel-Kommission das Ungleichgewicht zwischen auszusiedelnden Arabern und Juden dermaßen groß, dass es sich letztendlich bei einer Umsetzung um eine einseitige Umsiedlung der arabischen Bevölkerung gehandelt hätte: Die Zahl der . umzusiedelnden Juden war im Vergleich zu den . Arabern, die den neugegründeten jüdischen Staat verlassen sollten, verschwindend gering. Die britische Regierung schloss sich trotzdem der Meinung an, dass die Teilung Palästinas in Kombination mit dem von der Peel-Kommission vorgeschlagenen Bevölkerungstransfer die »beste und vielversprechendste Lösung« sei, um aus der palästinensischen »Sackgasse« herauszukommen. Nicht alle teilten in London diese Ansicht: Herbert Louis Samuel (. Viscount Samuel) beispielsweise, der liberale britisch-jüdische Parlamentarier, hielt die Vorstellung einer freiwilligen Aussiedlung der Araber Palästinas für realitätsfern. Außerdem fand er die Parallelen, die von den Befürwortern eines Bevölkerungstransfers in Palästina zur Lausanner Regelung von  gezogen wurden, abwegig: The circumstances are not in the least the same. Then the Greeks who lived in Asia Minor were fleeing the country. It was immediately after the disastrous Greek campaign there […]. The Turks were sweeping down on them and the whole population fled […]. There is nothing of that kind in Palestine. There is nothing of that sort to induce . Arabs to leave the land in which they and their fathers have been settled for a thousand years. In Anbetracht der starken Einwände gegen die Empfehlung der Peel-Kommission beschloss die britische Regierung, eine neue Kommission, die Palestine Partition Commission, einzuberufen, die unter dem Vorsitz von Sir John Woodhead den Teilungsplan sorgfältig überprüfen sollte. Zu ihren Aufgaben gehörte auch die Untersuchung der »Möglichkeit eines Tausches von Land und Men Zit. n. Schechtman, Population Transfer (wie Anm. ), .  Ebd.  Hansard, HC (series ), vol. , cols. ,  (. Juli ), zit. n. Frank, Expelling (wie Anm. ), .  Hansard, HC (series ), vol. , cols. - (. Juli ), zit. n. ebd., .

249

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

schen auf freiwilliger Basis«. Die sogenannte Teilungskommission gelangte in ihrem Bericht vom Oktober  zum Ergebnis, dass »die Möglichkeiten eines freiwilligen Bevölkerungsaustausches zwischen einem jüdischen und einem arabischen Staat gering« seien. Sie, die Palestine Partition Commission, würde indes einen zwangsweisen Bevölkerungstransfer vorschlagen, wohlwissend, dass London diese Option bereits abgelehnt habe: The Royal Commission [Peel-Commission] assumed that provision would be made for the transfer of the greater part of the Arab population in the Jewish State, if necessary by compulsion under a scheme to be agreed between both states. But in his despatch of the rd December, , your predecessor made it clear that His Majesty’s Government have not accepted the proposal for compulsory transfer; and we have found it impossible to assume that the minority problem will be solved by a voluntary transfer of population. It is largely because of the gravity of the situation that would thus be created that we have felt obliged to reject the Royal Commission’s plan, under which at the outset the number of Arabs in the Jewish State would be almost equal to the number of Jews. Demzufolge war im Teilungsplan der Woodhead-Kommission, dem sogenannten Plan C, keinerlei Bevölkerungstransfer vorgesehen. Stattdessen wurde durch eine neue Grenzziehung der Anteil der arabischen Minderheit im vorgesehenen jüdischen Staat auf . Menschen drastisch gesenkt. Andererseits stieg die Zahl der im neuen arabischen Staat lebenden Juden auf . Menschen. Unmittelbar nachdem der Bericht am . November  veröffentlicht worden war, erklärte die britische Regierung, dass zu diesem Zeitpunkt eine Teilung Palästinas nicht durchführbar sei. In den Überlegungen prominenter Zionisten sozialistischer Ausrichtung, die gegenüber dem Teilungsvorschlag der Peel-Kommission eine ambivalente Haltung einnahmen, spielte der Lausanner Präzedenzfall eine wichtige Rolle. Ein Beispiel dafür ist der  im weißrussischen Bobruisk geborene und  nach Palästina emigrierte Sozialdemokrat Jitzchak Tabenkin. Er lehnte Bevölkerungstransfers grundsätzlich ab, da diese mit den Idealen des internationalen Sozialismus nicht vereinbar seien. Die Ansiedlung europäischer Juden in Palästina würde seiner Meinung nach nicht die Aussiedlung der arabischen Bevölkerung voraussetzen. Laut Tabenkin sei der Vergleich mit dem griechisch-türkischen Fall unangemessen, zumal die Türken eine grausame Massenvertreibung der Griechen aus Kleinasien durchgeführt hätten. Trotzdem würde er einer Umsiedlung der Araber nicht widersprechen, vorausgesetzt diese würde mit ihrer Ein Command Paper , , zit. n. Schechtman, Population Transfer (wie Anm. ), .  Ebd.  Ebd.,  f.

250

Vo m a b s c h re c ke n d e n B e i s p i e l zu m P räze d e nz fall

willigung erfolgen: »[N]ot that I will oppose it if the Arabs agree and if we are able to transfer them. But if this does not occur, it would create an eternal abyss. A nation which can only establish a state based on the necessary transfer of a people from its place is not a nation which can create a state.« Daraus lässt sich schließen, dass letztendlich Tabenkin nicht generell gegen Bevölkerungsaustausche war, sondern nur solche obligatorischen Transfers ablehnte, die nicht auf der Grundlage eines Vertrags, sondern durch Gewaltanwendung stattfänden. Dazu schrieb er: »[I]t is a wild and immoral idea if it is to be carried out through the use of violent force.« Der russische Zionist Vladimir Žabotinskij lehnte ebenso den von der PeelKommission vorgeschlagenen Bevölkerungsaustausch nach Lausanner Vorbild aus zweierlei Gründen ab. Zum einen rechnete er mit einem enormen Zuwachs der Juden Palästinas innerhalb von nur wenigen Generationen, durch den ohnehin der Anteil der arabischen Minderheit an der Gesamtbevölkerung bis hin zur Bedeutungslosigkeit sinken würde. Zum anderen hegte er die Befürchtung, dass Antisemiten in Europa einen jüdisch-arabischen Transfer in Palästina zum Anlass nehmen könnten, um eine Vertreibungswelle gegen die europäischen Juden auszulösen. Interessanterweise hatte Žabotinskij früher den  in Lausanne vereinbarten griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch als einen »möglichen Lösungsweg auch für den drohenden ethnischen Konflikt in Palästina« betrachtet. , kurz vor seinem Tod, vertrat er schließlich in Bezug auf einen Transfer der Araber Palästinas folgende Meinung: We shouldn’t be alarmed by the possibility that . Arabs would leave the country. This writer has already said that there is no need for this exodus; in fact, it would be highly undesirable from many points of view; but if it becomes clear that the Arabs prefer to emigrate, this possibility can be deliberated without any trace of sorrow in our hearts. Ungefähr zur selben Zeit, Ende , vertrat Josef Weitz, der spätere zionistische Siedlungsexperte, die radikalere Position, dass der »Exodus« der Araber aus Palästina nicht nur eine hinzunehmende, sondern erwünschte und notwendige Entwicklung für die Existenz eines zukünftigen jüdischen Staates wäre: Wenn die Araber […] das Land verlassen, wird es für uns groß und weiträumig sein. Die einzige Lösung ist ein Land Israel, wenigstens ein westliches Land Israel ohne Araber. Hier ist kein Raum für Kompromisse. […] Dazu 

Zit. n. Galnoor, Itzhak: The Partition of Palestine. Decision Crossroads in the Zionist Movement. Albany , .  Ebd.,  f.  Ebd.,  f.  Zit. n. Brumlik, Micha: Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen. Berlin , .  Zit. n. Galnoor, The Partition (wie Anm. ), .

251

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

steht kein anderer Weg offen, als die Araber von hier in die Nachbarländer zu transferieren, vielleicht mit Ausnahme jener aus Betlehem, Nazareth und der Altstadt von Jerusalem. Kein Dorf darf ausgelassen werden, kein einziger Beduinenstamm. Der Transfer muss in den Irak, Syrien und Transjordanien gerichtet werden – ein Ziel, für das Fonds einzurichten sind. Nur nach diesem Transfer […] wird das Land in der Lage sein, Millionen unserer Brüder aufzunehmen, und dann wird das jüdische Problem aufhören, zu existieren. Es gibt keine andere Lösung. Das Beispiel von Weitz deutet bereits darauf hin, dass in rechtsgesinnten zionistischen Kreisen die Idee einer Umsiedlung der Araber Palästinas weit mehr Zuspruch als unter linken Zionisten erfuhr. Unmittelbar nach der Veröffentlichung des Berichts der Peel-Kommission rief die politische Abteilung der Jewish Agency eine Sonderkommission zur Untersuchung der Praktikabilität des darin vorgeschlagenen Bevölkerungstransfers mit dem bezeichnenden Namen Committee for Population Transfer (CPT) ins Leben. Außerdem gründete man ein Boundary Committee und ein Jerusalem Committee, die sich mit den entsprechenden Punkten des Peel-Teilungsplans auseinandersetzen sollten. Das CPT konzentrierte sich darauf, eine Roadmap zur Umsiedlung der arabischen Bevölkerung von den Grenzgebieten des neuen jüdischen Staates zu erstellen, um diese dann bei der britischen Mandatsverwaltung vorzulegen. Geleitet wurde das CPT von Yaakov Thon, dem Direktor der Palestine Land Development Company. Außer Thon spielten im CPT eine zentrale Rolle Dr. Kurt Mendelsohn, der eine Beratungsfunktion im Jewish Agency’s Institute for the Study of the Economy ausübte, Dr. Avraham Bonne, Mitglied desselben Instituts, sowie der besagte Weitz, der Leiter des Jewish National Fund’s Lands Department war. Für das CPT stellte der griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch von / den Ausgangspunkt seiner Planungen dar, zumal sich auch die PeelKommission ausführlich darauf bezogen hatte. Um sich näher darüber zu informieren, unternahmen Thon und Mendelsohn im Frühjahr  eine Reise nach Griechenland. Als sie zurückkehrten, teilten beide die Überzeugung, dass der operative Plan der Jewish Agency »die zentralen Aspekte der auf dem Balkan umgesetzten Transfer- und Umsiedlungsprogramme, inklusive des Elements des Zwangs, übernehmen« müsse. Der Jewish Agency schlugen sie eine internationale Kampagne für einen Bevölkerungstransfer in Palästina vor, in deren Zentrum der angebliche Erfolg des griechisch-türkischen Präzedenzfalls stehen würde. Im November  legte Mendelsohn eine Studie zum Lausanner Austausch unter dem Titel »The Balance of Resettlements« vor, welche die Ergebnisse der    

252

Zit. n. Brumlik, Wer Sturm (wie Anm. ),  f. Katz, Transfer (wie Anm. ), . Katz, Partner (wie Anm. ),  f. Ebd.; Katz, Transfer (wie Anm. ),  f.

Vo m a b s c h re c ke n d e n B e i s p i e l zu m P räze d e nz fall

gemeinsamen Forschungsreise mit Thon beinhaltete. Auf dieser Grundlage und auf Einladung von Thon verfasste Yona Silman im Dezember desselben Jahres ein Forschungsexposé zum Thema »Greco-Turkish Exchange of Populations and Resettlement Schemes«. Thon selbst setzte sich mit großem Engagement bei der Politischen Abteilung (»Political Department«) der Jewish Agency für eine weite Verbreitung der Studie von Mendelsohn in mehreren Sprachen, darunter auch Arabisch, ein, da diese am Beispiel von Lausanne die großen Vorteile der Anwendung des Prinzips des Bevölkerungstransfers an dem israelisch-palästinensischen Fall belegen würde: [T]he idea of transferring the Arab populations as an act of legal compulsion encounters reluctance in many circles. A description of the experiment that occurred in Greece will demonstrate that in that region the exchange of population conferred only benefits to all parties. They put an end to the war of extermination fought for over  years by two people who were moral enemies, and created relations of friendship and good neighborliness between them. In our country, as well, similar action could put a stop to the attacks of the Arab people on the Jews and bring about peace and good neighborly relations between them. The Study [Mendelsohn’s] on Greece informs us that those Greek exiles bestowed a great blessing on their Greek homeland and greatly invigorated it, after the defeat which it had sustained at the hand of the Turks. The additional manpower which they furnished far outweighed victories and territorial conquests. It is important for the Arab world to recognize this fact. Then perhaps it will be possible to find leaders of vision who will agree out of a sense of national conviction to the partition plan which involves the transfer of an Arab population amidst a belief that this will only strengthen and invigorate the new Arab state. Die -seitige Studie von Mendelsohn wurde tatsächlich  publiziert. Ihr Hauptziel war, die Aussagen griechischer »Umsiedler« und der an der Versorgung und Unterbringung der Flüchtlinge beteiligten Personen zu dokumentieren. Denn diese würden nach Meinung des Autors eindrücklich belegen, dass der »Transfer« der orthodoxen Christen von Kleinasien nach Griechenland »ein glorreiches Kapitel in der griechischen Geschichte« darstelle. Diese Botschaft vermittelte Thon auch in Vorträgen und Diskussionsrunden, so etwa am . Oktober  in Jerusalem, als er zum »Bevölkerungstransfer zwischen Griechenland und der Türkei« referierte.

 Palestine Land Development Company, File , Letter from Thon to the Political Department, .., zit. n. Katz, Transfer (wie Anm, ), .  Mendelsohn, Kurt: The Balance of Resettlements: A Precedent for Palestine. Leiden .  Katz, Partner (wie Anm. ), .

253

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

Thon und Mendelsohn hegten die Hoffnung, dass die anvisierte Umsiedlung der arabischen Bevölkerung auf freiwilliger Basis erfolgen könne. Aus diesem Grund beschäftigten sie sich auch mit dem »griechisch-bulgarischen Transferprojekt«, das für die Betroffenen im Gegensatz zur Lausanner Konvention nicht obligatorisch war. Die beiden jüdischen »Transferexperten« waren vor allem an den ökonomischen Anreizen interessiert, die für die griechischen und bulgarischen Aussiedler geschaffen werden, um sie zur Emigration zu bewegen, und schlugen Folgendes vor: [A]mongst these [supplementary measures], one should include the various easements such as debt arrangements, tax abatements and free transfer from place to place, etc., which had been awarded to Greek and Bulgarian emigrants. The Greco-Bulgarian transfer project was exemplary in that the candidates for transfer were to be awarded various privileges on condition that they would obligate themselves to move within two years. […] In order to promote a voluntary transfer process, in the case of Palestine, one should determine a series of easements, such as purchasing land from the emigrants on the basis of an estimate of the land and its structures, equalization of debts, exemption from taxes and fines, the right of resettlement and the receipt of working capital. Schließlich hoben Thon und Mendelsohn den kurzen Zeitraum, innerhalb dessen die südosteuropäischen Bevölkerungstransfers durchgeführt wurden, positiv hervor und verlangten, dass die geplante Umsiedlungsaktion in Palästina in einem ebenso schnellen Tempo vollzogen werde: A transfer which was organized on a contractual basis and under the supervision of an international court, was implemented in a very short time. The transfer of the Turks from Greece to Asia Minor and of the remnants of the Greek community in Bulgaria to Greece, a total of more than . people was accomplished in the space of  months. In any event, we must see to it that the transfer of the Arab population in the first stage should be performed in a short period and should not last more than  years, otherwise, we face the danger of sabotage and added population because of natural increase. Zur selben Zeit, in der das CPT ambitionierte Transferpläne zu Lasten der Araber Palästinas schmiedete, traf die britische Regierung, wie gesagt, die Entscheidung, den Teilungsplan der Peel-Kommission mit dem darin vorgeschlagenen Bevölkerungsaustausch abzulehnen. Die Jewish Agency blieb allerdings davon unbeeindruckt und setzte ihre Arbeit auf dem Gebiet der Umsiedlungspläne fort – in der Hoffnung, dass man London noch umstimmen könne. Demzufolge  Palestine Land Development Company, File , Protocols of the Population Transfer Committee’s Meeting of .., zit. n. ebd., .  Ebd.

254

B evö lke r u n g s tra n s f e r s in O s t mi t te l e u ro p a

erhielt Thon im Februar  den Auftrag, sich kundig zu machen, wohin gegebenenfalls die Araber Palästinas umgesiedelt werden könnten: [You should keep the focus on] the possibilities of locating vacant and arable land in the Arab portion of Palestine, in Trans-Jordan and Syria and elaborating a plan for the settlement of Arabs from the Jewish state on these lands. Such a plan is a pre-condition for any negotiations on our part regarding the issue of coercion. Die Pläne der Jewish Agency konnten erst  verwirklicht werden, als . Palästinenser ihre Heimatorte verließen. Allerdings geschah diese Umsiedlung nicht freiwillig und auch nicht auf der Basis eines völkerrechtlichen Abkommens, wie sich viele Zionisten erhofft hatten, sondern in der Form einer gewalttätigen Vertreibung nach dem Angriff der arabischen Nachbarstaaten auf den eben gegründeten israelischen Staat. Aber darauf wird noch weiter unten zurückzukommen sein. Bevölkerungstransfers in Ostmitteleuropa

Ab den er Jahren entwickelten sich Umsiedlungen zunehmend zu einem »anerkannten Instrument der europäischen Politik«. Diese Entwicklung fand »zu Lasten eines effektiven Minderheitenschutzes statt, wie ihn die Friedensregelungen nach dem Ersten Weltkrieg im Rahmen des Völkerbundes angestrebt hatten«. Das anfänglich verpönte Abkommen von Lausanne galt nun als erfolgreicher Präzedenzfall, nach dessen Muster die ethnopolitischen Probleme des europäischen Kontinents zu lösen seien. Was ursprünglich nur für den Nahen Osten und die südöstliche Randzone Europas für geeignet gehalten wurde, sollte nun auch in Mitteleuropa angewandt werden. Einer der wenigen, die zu diesem Zeitpunkt den Erfolg vom Lausanner Transfer und vor allem die moralische Legitimität eines derartigen Vorhabens noch hinterfragten, war der Ostmitteleuropa-Experte Carlile Aylmer Macartney. In seinem  erschienenen Buch schrieb er dazu: Such experience as we possess of the exchange of population as a means of solving the minorities problem is not, therefore, calculated to encourage a repetition of the experiment. It may be argued that conditions in Turkey and the Balkans after the War were quite abnormal, and that neither the physical hardships nor the financial losses would recur under more settled conditions. The answer is that the method is ex hypothesi a drastic one. If conditions are settled and the relations between minorities and majorities happy, exchange is  Central Zionist Archives (CZA), Letter from Simon to Thon, .., zit. n. ebd., .  Beer, Flucht (wie Anm. ),  f.

255

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

unnecessary, and an appeal for voluntary exchange will meet with no result. A compulsory exchange, against the wills of the individuals concerned, is admittedly a barbarous act; but experience has shown that a voluntary exchange simply does not take place, except under conditions which amount, in reality, to compulsion. It seems, therefore, that the operation is inseparable from hardships; the only question is whether these are to be inflicted in hot or in cold blood. Trotz solch negativer Einschätzungen zogen europäische Politiker die Methode der staatlich sanktionierten Bevölkerungsverschiebung immer stärker in Erwägung. Das Münchner Abkommen vom . September , das zwischen NaziDeutschland, Italien, Großbritannien und Frankreich vereinbart wurde, steht am Anfang einer Reihe von mehreren Transfervereinbarungen, die in den nächsten Jahren im Rahmen der deutschen Planungen zur »Neuordnung Europas« getroffen wurden. Es enthielt außer den Bestimmungen über den neuen Grenzverlauf zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei bzw. über die Eingliederung der sudetendeutschen Gebiete in das Deutsche Reich einen Abschnitt, der einen Bevölkerungsaustausch in Form eines »Optionsrechts für den Übertritt in die abgetretenen Gebiete und für den Austritt aus ihnen« vorsah. Angeregt hatte diesen Austausch der britische Premierminister Neville Chamberlain, einer der vier Unterzeichner des Abkommens, »mit Verweis auf das zu Beginn des . Jahrhunderts in Griechenland, Bulgarien und der Türkei angewandte ›Prinzip des Bevölkerungsaustausches‹«. Seine Überlegungen bezogen sich hauptsächlich auf die tschechische Minderheit im zukünftig unter deutscher Kontrolle stehenden Sudetenland, für die er eine Umsiedlung anregte. Wie auch bei vorangegangenen Bevölkerungstransfer-Abkommen war die fakultative Bestimmung ein Euphemismus für eine durch Gewaltandrohung oder, falls nötig, auch durch Gewaltanwendung bevorstehende Zwangsumsiedlung. Nach dem Münchner Abkommen verließen um die . Tschechen unter massivem Druck ihre sudetischen Heimatorte. Lausanne spielte als positives Vorbild auch in der Südtiroler Frage eine wichtige Rolle. Diesen Konfliktknoten wollten die beiden Achsenmächte, das nationalsozialistische Deutschland und das faschistische Italien, mit Rückgriff auf einen Bevölkerungstransfer ohne Verschiebung der Staatsgrenze lösen. In einer mündlichen Vereinbarung, die am . Juni  getroffen wurde, einigten sich Benito Mussolini und Adolf Hitler auf eine Umsiedlung jener deutschsprachigen Südtiroler, die sich gegen ihre italienische und für die Annahme der deutschen Staatsbürgerschaft entschließen würden. Die nicht aussiedlungswilligen Südtiroler könnten wiederum in ihren Heimatorten weiterhin als italienische Staatsbürger verbleiben, ohne allerdings eine privilegierte Sonderstellung als  Macartney, National States (wie Anm. ),  f.  Beer, Flucht (wie Anm. ), .  Ther, Die dunkle Seite (wie Anm. , Einleitung), .

256

B evö lke r u n g s tra n s f e r s in O s t mi t te l e u ro p a

Minderheit zu genießen. Am . Juli verkündete der prominente faschistische Journalist Virginio Gayda, dass »ein ruhiger und völlig freiwilliger Exodus auf der Grundlage eines eindeutigen und freundlichen Abkommens, das die nationalen Wünsche der interessierten Parteien berücksichtigen wird«, in Kürze stattfinden soll. Tatsächlich unterzeichneten Berlin und Rom im Oktober  einen Vertrag über die Umsiedlung der deutschstämmigen Südtiroler. In einer offiziellen Meldung im Radio hieß es, dass die deutsch-italienische Vereinbarung eine endgültige »Lösung für das deutsche Minderheitenproblem in Alto Adige« darstelle. Um das Vorgehen zu rechtfertigen, wurde darauf verwiesen, dass »Griechenland und die Türkei  eines der verzwicktesten Minderheitenprobleme der Nachkriegszeit dadurch lösten, dass sie .. Menschen zurück in ihre Herkunftsorte transplantierten«. Auf dieselbe Weise hätten nun die »Achsenmächte das Südtiroler Problem gelöst, aber mit noch größerer Staatskunst und Voraussicht« als die Griechen und Türken. Dass die Konventionen von Lausanne und Neuilly als Vorbilder für das Abkommen bezüglich Südtirols dienten, wird vor allem in der Übernahme zahlreicher Bestimmungen zur Regelung von Eigentumsfragen deutlich. Wie in früheren Transferabkommen galt auch in diesem Fall das Prinzip der Freiwilligkeit nur auf dem Papier. Den Südtirolern, die nicht von dem Aussiedlungsrecht Gebrauch machen wollten, blieb nur die Option der Zwangsassimilation. Von italienischer Seite wurde mit Nachdruck die Erwartung formuliert, dass die zurückbleibenden Südtiroler »zu  Prozent Italiener werden, ihre Sprache und Bräuche aufgeben und sich in der italienischen Nation auflösen« – so etwa die Turiner Zeitung Stampa. Außerdem erhöhte man den Druck auf die deutschsprachige Bevölkerung, indem man Gerüchte über eine bevorstehende Deportation der Auswanderungsunwilligen nach Süditalien oder sogar in die italienischen Kolonien Nordafrikas streute. Trotz dieser anfänglichen Entschlossenheit der beiden Vertragsparteien, die deutschstämmige Bevölkerung Südtirols umzusiedeln, kam die Aktion aufgrund des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs nur zögernd voran. Bis Mitte  waren . von den insgesamt . Südtirolern ausgewandert. Auch bei der Entschädigung für das zurückgelassene Eigentum traten im Zuge des Krieges zahlreiche Probleme auf. Viele der Umsiedler wurden nur für einen geringen Teil des Werts ihres zurückgelassenen Eigentums entschädigt.  Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht (wie Anm. , Einleitung), .  Zit. n. Schechtman, Joseph B.: European Population Transfers, -. New York , .  Ebd.  Ebd.  Ther, Die dunkle Seite (wie Anm. , Einleitung), .  Zit. n. Schechtman, European (wie Anm. ), .  Ebd.  Ther, Die dunkle Seite (wie Anm. , Einleitung), .

257

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

Dieser Vereinbarung mit Italien folgten bis  weitere  Abkommen Berlins mit mehreren ostmittel- und südosteuropäischen Staaten zur Aussiedlung von bis zu einer Million Volksdeutschen aus den drei baltischen Staaten sowie Bulgarien, Jugoslawien, Polen und Rumänien. Nazi-Deutschland veranlasste auch den rumänisch-ungarischen und den rumänisch-bulgarischen Bevölkerungsaustausch von . Der eine fand im Anschluss an die rumänische Abtretung der Süddobrudža (Süd-Dobrudscha) an Bulgarien (Vertrag von Craiova) statt, der andere war bei der Abtretung Nordsiebenbürgens an Ungarn (Zweiter Wiener Schiedsspruch) vorgesehen. In einer Reichstagsrede am . Oktober  hatte Hitler bereits klargestellt, dass Bevölkerungsverschiebungen ein wichtiges Instrument seiner imperialen Osteuropapolitik darstellten: Als wichtigste Aufgabe aber: eine neue Ordnung der ethnographischen Verhältnisse, das heißt eine Umsiedlung der Nationalitäten so, dass sich am Abschluss der Entwicklung bessere Trennungslinien, als es heute der Fall ist, ergeben. In diesem Sinne aber handelt es sich nicht um ein Problem, das auf diesen Raum beschränkt ist, sondern um eine Aufgabe, die viel weiter hinausgreift. Denn der ganze Osten und Südosten Europas ist zum Teil mit nicht haltbaren Splittern des deutschen Volkstums gefüllt. Gerade in ihnen liegt ein Grund und eine Ursache fortgesetzter zwischenstaatlicher Störungen. Im Zeitalter des Nationalitätenprinzips und des Rassegedankens ist es utopisch zu glauben, dass man diese Angehörigen eines hochwertigen Volkes ohne weiteres assimilieren könne. Es gehört daher zu den Aufgaben einer weitschauenden Ordnung des europäischen Lebens, hier Umsiedlungen vorzunehmen, um auf diese Weise wenigstens einen Teil der europäischen Konfliktstoffe zu beseitigen. Deutschland und die Union der Sowjetrepubliken sind übereingekommen, sich hierbei gegenseitig zu unterstützen. Nicht nur die autoritären und totalitären Diktaturen Europas, sondern auch die liberalen Demokratien entwickelten sich zunehmend zu überzeugten Verfechtern von völkerrechtlich vereinbarten Bevölkerungsumsiedlungen. Es wurde bereits erwähnt, dass Chamberlain  in München mit Verweis auf die vorherige gelungene Anwendung des Prinzips des Bevölkerungsaustausches in Südosteuropa eine Umsiedlung des tschechischen Bevölkerungsteils des Sudetenlandes angeregt hatte. Der britische Premierminister war nicht der einzige auf der Insel, der in der Schaffung nationaler Homogenität mittels Bevölkerungsverschiebungen eine Lösungsmöglichkeit für zahlreiche Konflikte in Europa sah.  veröffentlichte der bekannte englische Reiseschriftsteller Bernard  Beer, Flucht (wie Anm. ), .  Stola, Dariusz: Forced Migration in Central European History. In: International Migration Review  () , -; Wolff, Stefan: Disputed Territories. The Transnational Dynamics of Ethnic Conflict Settlement. New York , -.  Archiv der Gegenwart, ..,  f., zit. n. Beer, Flucht (wie Anm. ),  f.

258

B evö lke r u n g s tra n s f e r s in O s t mi t te l e u ro p a

Newman den Bestseller »Danger Spots of Europe«, in dem er seinen Lesern anhand fiktiver Fälle verschiedene Aspekte des realen Minderheitenproblems Europas näherbrachte. In diesem Zusammenhang fragte er auch nach Möglichkeiten der Lösung von Minderheitenkonflikten. Neben Grenzverschiebungen und Minderheitenschutzverträgen wies er auf eine weitere Methode hin, die er nur zögernd erwähnen wollte: One other idea must be mentioned – but I never imagined that my pen would present it: I am an inquirer, not a politician, so I do not dare to advocate it. [But] whether we like the idea or not, the system of transference of population is about to become a matter of European politics. Anschließend warb er für die Methode des Bevölkerungsaustausches, indem er die positiven Auswirkungen des Lausanner Transfers auf das Verhältnis zwischen Athen und Ankara hervorhob. Aus dieser »Erfolgsgeschichte« und einem allgemeinen Fortschritt der Menschheit schöpfte er Optimismus, dass unter günstigen Bedingungen Bevölkerungsaustausche, selbst größeren Ausmaßes, problemlos bewerkstelligt werden könnten. Das Leid der Wenigen müsse in Anbetracht der großen Vorteile für die Vielen in Kauf genommen werden: Any Victorian statesman, could they return to the European scene today, would stare in amazement at the sight of Greece and Turkey standing side by side, friends and allies. […] Spread over a period of years, with detailed preparation and friendly and efficient supervision, the exchange of a couple of million people is not a great problem. Our forefathers would have thought little of it two thousand years ago. Life today is more complicated, and there are hundreds of difficulties – but none of them are insuperable. The cost would be that of half a dozen battleships. [It] is far more important that hundreds of millions of people should not suffer or die, than that thousands of families should be temporarily inconvenienced. Auch Winston Churchill nahm kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs eine grundsätzlich positive Haltung gegenüber Bevölkerungsumsiedlungen ein. Allerdings tat er dies unter dem Vorbehalt, dass diese dem Frieden und nicht einer Aggressionspolitik wie der der Achsenmächte dienten. Dementsprechend stellte er dem »positiven« Lausanner Beispiel das »negative« von Südtirol gegenüber: The migration or exchange of populations is not in itself a process necessarily to be excluded from efforts to procure European tranquillity. Where hostile races are hopelessly and equally intermingled, where no boundary can be delimited, a sorting-out movement may produce good results. Certainly, the exchange of several millions of Turks and Greeks was skilfully accomplished  Newman, Bernard: Danger Spots of Europe. London ,  f.  Ebd.,  f.

259

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

in Thrace and Asia, and has had the best results in the after-relations of the two countries. But the population of the Tyrol is preponderantly Germanspeaking; and the object in this case is not a peaceful settlement of Europe, but a military and strategic step designed to further the waging of a great war by the two Axis Powers. Für Churchill war für die positive oder negative Bewertung einer Bevölkerungsumsiedlung ausschlaggebend, von wem und zu welchem Zweck diese beschlossen wurde. Seine Kriterien waren nicht prinzipieller, sondern realpolitischer Natur. Auch wenn er das Gegenteil behauptete, machte er sein Urteil davon abhängig, ob die Umsiedlung zugunsten eines freundlichen oder feindlichen Staates stattfand und ob sie den Interessen Londons entsprach. So erklärte er etwa Ende  dem australischen Premierminister John Curtin, dass Großbritannien die sowjetische Annexion polnischer Gebiete östlich der Curzon-Linie und die Überführung eines Großteils der lokalen Bevölkerung in die UdSSR verurteilte, da »die gewaltsame Umsiedlung großer Bevölkerungsgruppen gegen ihren Willen in den kommunistischen Machtbereich die grundlegenden Prinzipien der Freiheit, die Haupttriebfeder unserer Sache sind«, verletze. Es sollte nicht lange dauern, bis er selbst unter Missachtung des hochgelobten Freiheitsprinzips Umsiedlungen von Millionen von Menschen veranlassen würde. Mit fortschreitendem Kriegsverlauf spielte das Lausanner Vorbild in den Nachkriegsplänen der Alliierten eine zunehmend wichtige Rolle. Anvisiert wurden insbesondere eine Grenzverschiebung zugunsten Polens und die damit in Verbindung stehende Umsiedlung der deutschen Minderheiten Zentral- und Osteuropas in ein territorial verkleinertes Deutschland. In diesem Kontext begriffen sie ausgerechnet die nationalsozialistische Umsiedlungspolitik als legitimierenden Präzedenzfall. In einem internen britischen Memorandum aus der zweiten Hälfte des Jahres von  wurde darauf hingewiesen, dass Hitler »bezogen auf die Umsiedlung von Minderheiten in homogene Staaten einen wertvollen Präzedenzfall geschaffen hat«. Edvard Beneš hatte bereits Anfang  anlässlich der Formulierung der Kriegsziele seines Landes eine Aussiedlung der Deutschen nach Kriegsende gefordert und dabei auf die Vorbildwirkung der nationalsozialistischen Politik verwiesen: Übrigens wendet Nazi-Deutschland dieses System heute auf eine geradezu barbarische Weise in Polen und der Tschechoslowakei an. Unserer Meinung  FO , R //, What of South Tyrol?, end. in Hill to Ingram, . Juli , zit. n. Frank, Expelling (wie Anm. ), .  Ponting, Clive: Churchill, London , , zit. n. Douglas, »Ordnungsgemäße Überführung« (wie Anm. ), .  Dokumente zur Deutschlandpolitik: . September bis . Dezember . Britische Deutschlandpolitik, Reihe I. Bd. . Hg. v. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Frankfurt/M. , , zit. n. Beer, Flucht (wie Anm. ), .

260

B evö lke r u n g s tra n s f e r s in O s t mi t te l e u ro p a

nach lässt sich dieses System in beträchtlichem Ausmaß anwenden, und wenn es zwischen den betroffenen Staaten vereinbart und durch die notwendigen staatlichen und internationalen finanziellen und wirtschaftlichen Maßnahmen unterlegt wird, würde es den größten Teil seiner Härten und Nachteile verlieren und könnte zur Grundlage einer friedlichen und definitiven Erledigung eines der schwersten Probleme des heutigen Europas werden. Kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde der am Balliol College in Oxford angesiedelte Foreign Research and Press Service (FRPS) beauftragt, der Frage nachzugehen, ob Bevölkerungstransfers »wünschenswert, umsetzbar und dauerhaft« sein könnten. Der FRPS war ursprünglich  vom Foreign Office als semi-offizielle Informationsstelle gegründet worden, um Berichte über die ausländische Presse zu erstellen. Zum Direktor des FRPS wurde der Historiker Arnold Toynbee ernannt. Dieser war  auf die am Londoner King’s College neugeschaffene Professur für neugriechische und byzantinische Studien berufen worden. Nachdem er aber  ein Aufsehen erregendes Buch über die Kriegsgräuel der griechischen Armee in Kleinasien veröffentlicht hatte, musste er bereits  auf Verlangen der griechisch-britischen Sponsoren der Professur diese niederlegen. Anschließend war er im Royal Institute of International Affairs tätig, bis er  die Leitung des FRPS übernahm. Mit der Erstellung des Berichts über die Durchführbarkeit und Nützlichkeit von Bevölkerungsumsiedlungen wurde innerhalb des FRPS John Mabbott, ein Philosophiedozent am St. John’s College, beauftragt. Entgegen der vorherrschenden Vorstellung, dass der Lausanner Transfer erfolgreich gewesen sei, zeichnete Mabbott ein vorwiegend düsteres Bild dieser Zwangsumsiedlung. Er beschrieb, wie die Flucht der griechisch-orthodoxen Bevölkerung Kleinasiens aus Smyrna (Izmir) genauso chaotisch wie die »Dünkirchen-Evakuierung« vonstattengegangen sei und wie »viele Flüchtlinge lange Zeit, meist mehrere Jahre, in Theatern, Markthallen und primitiven Schulen lebten, die oft zu permanenten Slums wurden«. Mabbott warnte vor ähnlich katastrophalen Zuständen bei einer zukünftigen Evakuierung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei und Polen. Ein »Debakel« wie dieses vom Lausanner Transfer

 Tschechoslowakische Friedensziele, Fassung vom .., zit. n. ebd., .  Frank, Expelling (wie Anm. ), .  Toynbee, Arnold J.: The Western Question in Greece and Turkey. A Study in the Contact of Civilisations. London [u. a.] .  Keyserlingk, Robert H.: Arnold Toynbee’s Foreign Research and Press Service, - and its Post-war Plans for South-east Europe. In: Journal of Contemporary History  () , -, hier  f.  FO /, FRPS, The Transfer of German Populations (With Notes on the Relevant Evidence from Previous Exchanges and Transfers), .., zit. n. Douglas, »Ordnungsgemäße Überführung« (wie Anm. ), . Zum Inhalt des Mabbott-Berichts siehe auch Frank, Expelling (wie Anm. ), -.

261

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

könnte nur dann vermieden werden, wenn eine internationale Organisation die Verantwortung für die Organisation und Durchführung der Umsiedlung übernähme. In seinem Bericht zeigte Mabbott das Ausmaß der logistischen Herausforderung auf, die eine demographische Neugestaltung Europas nach den Plänen der Alliierten mit sich bringen würde. Trotz der aufgezeigten Probleme und Risiken vermied er es, eine explizite Empfehlung für oder gegen den anvisierten Transfer der deutschen Bevölkerung Polens und der Tschechoslowakei auszusprechen. Zur Einschätzung der Realisierbarkeit dieses Unternehmens nahm Mabbott den griechisch-türkischen Austausch als Vergleichsfolie. Der Bericht wurde einem Expertenkomitee des FRPS zur weiteren Begutachtung vorgelegt. Wie Mabbott konzentrierten sich auch die Mitglieder des Komitees auf die technischen Details der Durchführung der Umsiedlungsaktion, ohne ein Votum abzugeben. Einzige Ausnahme stellte der bereits erwähnte Macartney dar, der sich »vehement gegen das Transferprinzip im Allgemeinen aussprach«. Er kritisierte im Komitee die derzeit vorherrschende Meinung, die den Bevölkerungsaustausch für das »Allheilmittel für alle mit nationalen Minderheiten in Verbindung stehenden Probleme« halte. Für ihn kam der Bevölkerungstransfer als Lösung nur in Ausnahmefällen und als allerletzte Option in Frage – etwa dann, »wenn ein Staat seine Minderheit zu einem nicht mehr tolerierbaren Maße als illoyal und durch seine Nachbarstaaten als instrumentalisierbar empfindet«. Macartney ließ offen, ob er damit auch die Fälle der deutschen Minderheiten Polens und der Tschechoslowakei meinte. An dem Expertenkomitee des FRPS nahm auch Toynbee teil, der im Gegensatz zu Macartney grundsätzlich ein Verfechter von Bevölkerungsaustauschen war. Er hatte das griechisch-türkische Kriegsgeschehen in Kleinasien aus der Nähe verfolgt und darüber das besagte Buch geschrieben, das ihm seine Neogräzistik-Professur am King’s College kostete. Darin hatte er sich zu den Bevölkerungstransfers der er Jahre in Südosteuropa positiv geäußert. Insbesondere schrieb er zum vereinbarten, aber nicht realisierten griechisch-osmanischen Austausch von  Folgendes: In an exchange of notes [between the Greek and the Ottoman governments], a regular interchange of the minorities left on the wrong side of the new frontiers was provided for, and a mixed commission set up to see that the intermigration was conducted in a humane and orderly manner. The emigrants were to be given time and means to remove their portable property and to dispose of their real estate at a fair valuation […]. The mixed commission contained neutral members as well as Greeks and Turks. This is the most constructive scheme that has yet been tried in the Near and Middle East for the solution    

262

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

B evö lke r u n g s tra n s f e r s in O s t mi t te l e u ro p a

of the minority problem; and if it is objected that in this case it did little to diminish the suffering and economic loss, the answer is that it was not given a fair trial. If it had been already embodied in the Treaty of Bucharest (th August ) and had not been suspended by the intervention of Turkey in the European War (end of October ), it might not only have saved the minorities but have brought about a good understanding between the two countries. As it is, it is a precedent to which the utmost attention ought to be given. Toynbee war als Vorsitzender des Komitees weitaus einflussreicher als Macartney, und seine grundsätzlich positive Einstellung gegenüber Bevölkerungsumsiedlungen sollte später noch große Bedeutung erlangen. Zunächst aber musste der FRPS in seiner Funktion als Beratungsstelle der Regierung für Bevölkerungstransfers in den Hintergrund treten, da London angesichts des Kriegsverlaufs seine Pläne für eine Umsiedlung der »Volksdeutschen« Ostmitteleuropas in die fernere Zukunft verlegte. Das Thema wurde erst Anfang  wieder aktuell. Anlass dafür gab die Reise einer britischen Delegation im Dezember  nach Moskau. Die dort stattgefundenen Gespräche über die Nachkriegsordnung Europas zeigten, dass die Sowjets mit ihren diesbezüglichen Plänen große Fortschritte erzielt hatten. Eine erste Reaktion Londons darauf war, Toynbee und sein Team mit der Erstellung mehrerer Studien mit wichtigen Hintergrundinformationen zu den innereuropäischen Grenzen zu beauftragen. In diesem Zusammenhang sollte sich eine dieser Studien mit den »Lehren aus früheren Bevölkerungsaustauschfällen, insbesondere mit dem griechisch-türkischen Austausch sowie der erzwungenen Entfernung der deutschen Bevölkerung aus den baltischen Staaten und aus den nun von Deutschland besetzten Gebieten« befassen. Ende Dezember  hatte Sir John Hope Simpson noch einen Artikel in der Zeitschrift Spectator publiziert, in dem er die »leichtsinnige Annahme« kritisierte, dass der »allumfassende Transfer die korrekte Lösung von Minderheitenproblemen« sei. Er war zwischen  und  Vize-Präsident der unter der Ägide des Völkerbunds agierenden Kommission zur Ansiedlung von Flüchtlingen des griechisch-türkischen Austausches. Als guter Kenner des Lausanner Transfers warnte er davor, diesen Fall als Vorbild für zukünftige Bevölkerungsaustausche zu nehmen. Der »wesentliche Erfolg« des griechisch-türkischen Austausches, informierte Simpson die britische Öffentlichkeit, sei das Resultat  Toynbee, The Western Question (wie Anm. ),  f.  Frank, Expelling (wie Anm. ),  f; Ther, Die dunkle Seite (wie Anm. , Einleitung), .  Frank, Expelling (wie Anm. ), .  Ebd., .  Simpson, John Hope: The Exchange of Minorities. In: Spectator, .., zit. n. ebd., .

263

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

von »besonderen Umständen« gewesen, die »nur ganz selten anzutreffen« seien. Obwohl er den griechich-türkischen Transfer für einen Erfolg hielt, machte Simpson zugleich auf das »entsetzliche Maß an Misere und Elend« aufmerksam, dass die Betroffenen zu erleiden hatten. Im Fall der deutschen Minderheiten Ostmitteleuropas lehnte er einen Bevölkerungsaustausch jeglicher Art kategorisch ab: »Es kann keine Frage bezüglich eines Bevölkerungsaustausches geben, weder eine optionale noch eine obligatorische.« Er befürchtete, dass man am Ende auf eine »weit drastischere Methode« zurückgreifen müsste, um diese Probleme zu lösen, nämlich auf die der gewalttätigen Vertreibung. Der zweite FRPS-Bericht, der erneut von Mabbott verfasst und im Februar  vorgelegt wurde, stimmte in vielen Punkten mit dem Artikel von Simpson überein. Die Zahl der Deutschen, die nach Kriegsende aus Ostmitteleuropa auf deutsches Staatsterritorium transferiert werden sollten, war so hoch, dass sie dieses Unternehmen »in der Geschichte präzedenzlos« machen würde. Trotz anderslautenden Behauptungen gebe es zwischen der anvisierten Umsiedlung von drei bis sieben Millionen Deutschen westwärts und früheren Bevölkerungstransfers keine Parallelen. Die einzige Lehre laut Mabbott, die man aus der Untersuchung der Vergangenheit ziehen könne, sei jene über das Präzedenzlose der beabsichtigten Aktion. In seiner Hochrechnung ging Mabbott von bis zu fünfeinhalb Millionen Deutschen aus, die aufgrund einer Verschiebung der polnischen Westgrenze an die Oder umzusiedeln wären, zuzüglich der Evakuierung aller Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei. Die exakte Zahl der umzusiedelnden Deutschen hinge vom Verlauf der deutschen Ostgrenze nach Kriegsende ab. Schließlich wurde im Bericht vor der Unfähigkeit und fehlenden Bereitschaft der besiegten Deutschen gewarnt, ihre Landsleute aus Ostmitteleuropa aufzunehmen. Innerhalb des FRPS-Komitees standen neben Mabbott auch andere Mitglieder, insbesondere der besagte Macartney und der Südosteuropaexperte David Mitrany, einem Transfer des beschriebenen Ausmaßes äußerst skeptisch gegenüber – dies nicht nur, weil sie den Plan nicht für umsetzbar hielten, sondern auch wegen ihrer Befürchtung, dass eine Zwangsumsiedlung der Deutschen Ostmitteleuropas in Kombination mit territorialen Verlusten einen neuen deutschen Revisionismus speisen würde. Demzufolge sprachen sich Mitrany und Macartney gegen die Abtretung Niederschlesiens an Polen aus. Toynbee war hingegen von der Notwendigkeit und Realisierbarkeit eines großangelegten Umsiedlungsunternehmens unter Einbeziehung Niederschlesiens überzeugt. Schlussendlich setzte er sich mit dieser Ansicht im Komitee durch. Als im Juli  Lord Halifax (Edward Frederick Lindley Wood, . Earl of Halifax), der  Ebd.  FO /, C//, The Transfer of German Populations, February , , zit. n. ebd., .  Ebd.

264

B evö lke r u n g s tra n s f e r s in O s t mi t te l e u ro p a

britische Botschafter in Washington, den FRPS in Oxford besuchte, um sich über die Nachkriegsordnungspläne zu informieren, wurde ihm ein Entwurf vorgelegt, in dem Deutschland außer Ostpreußen, Danzig und Oberschlesien auch Niederschlesien an Polen abtreten musste. Auf der Grundlage der FRPS-Berichte entschied sich das britische Kriegskabinett im Juli  für die Anwendung des »allgemeinen Prinzips der Umsiedlung von deutschen Minderheiten in Zentral- und Südosteuropa bei Kriegsende nach Deutschland in den Fällen, wo dies notwendig und wünschenswert erscheint«. Der Lausanner Präzedenzfall spielte in der britischen Argumentation weiterhin eine hervorragende Rolle. Als Premierminister Churchill im April  den Präsidenten der tschechoslowakischen Exilregierung Beneš über den Beschluss seiner Regierung informierte, tat er dies unter Berufung auf den griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch von . Für Beneš war die sich auf den Lausanner Präzedenzfall bezogene Argumentation natürlich nichts Neues, da er, wie gesagt, schon früher selbst darauf hingewiesen hatte. Die britische Regierung gab im November  eine weitere Untersuchung zur Durchführung einer massenhaften Umsiedlung der »Volksdeutschen« Ostmitteleuropas in Auftrag. Zuvor hatten sich die »Großen Drei« bei der Konferenz von Teheran auf den Verlauf der polnischen Westgrenze an der Oder geeinigt. Aufgrund dieser Einigung konnten nun die Pläne für die beabsichtigten Bevölkerungsverschiebungen in Ostmitteleuropa konkretere Gestalt annehmen. In London wurde zu diesem Zweck eine Interministerielle Kommission für den Transfer deutscher Bevölkerungsgruppen eingerichtet. Diese sollte unter dem Vorsitz von John Troutbeck, der als hoher Beamter in der Deutschlandabteilung des Außenministeriums tätig war, den besagten Bericht über die Erfordernisse und Konsequenzen des geplanten Umsiedlungsprojekts vorbereiten. Das  Seiten lange Gutachten, das innerhalb eines halben Jahres erstellt wurde, stimmte in vielen Aspekten mit den Einschätzungen der FRPS-Berichte überein. Vor allem mit Blick auf die Realisierbarkeit des Umsiedlungsprojekts im angestrebten Umfang warnte die Interministerielle Kommission davor, »die griechisch-türkischen oder griechisch-bulgarischen Transfers nach dem letzten [Welt-]Krieg und diese von den Deutschen während dieses Krieges und kurz davor durchgeführten« Umsiedlungen als Musterbeispiel zu nehmen. Die Verfasser des Berichts gingen »im schlimmsten Fall« von zehn Millionen deutschen Umsiedlern aus –  Ebd.,  f. Siehe auch Ther, Die dunkle Seite (wie Anm. , Einleitung), ; Beer, Flucht (wie Anm. ), .  Zit. n. Brandes, Detlef: Der Weg zur Vertreibung -. Pläne und Entscheidungen zum »Transfer« der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen. München , .  Beer, Flucht (wie Anm. ), .  Report of the Inter-Departmental Committee on the Transfer of German Populations, Armistice and Post-War Committee () , .., CAB /, PRO, zit. n. Douglas, »Ordnungsgemäße Überführung« (wie Anm. ), .

265

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

eine Zahl, die mit der weit geringeren des griechisch-türkischen Austausches nicht vergleichbar sei. In diesem Zusammenhang wurde im Bericht der Interministeriellen Kommission auf ein Memorandum verwiesen, das der britische Außenminister Anthony Eden im Juli  dem Regierungskabinett vorgelegt hatte. Darin hieß es: »Es gibt keinen historischen Präzedenzfall eines Bevölkerungstransfers in so einem großen Umfang. […] Deutschland und Griechenland sind nicht vergleichbar.« Churchill ließ sich aber von diesen Warnungen nicht abschrecken. Je wahrscheinlicher der Sieg der Alliierten wurde und je näher das Ende des Krieges rückte, desto entschlossener wurde er in seiner Absicht, den Massentransfer der deutschen Bevölkerungen Ostmitteleuropas in ein territorial verkleinertes Deutschland durchzuführen. Am . Dezember  kündigte der britische Premierminister während seiner Unterhausrede über die Zukunft Polens die bevorstehende »komplette Vertreibung der Deutschen« aus jenen Gebieten, die Polen im Westen und Norden zu Lasten von Deutschland gewinnen würde, an. Dabei gab er sich über die Durchführbarkeit dieser Aktion zuversichtlich und betonte zudem ihre große Bedeutung für die Friedenssicherung im Nachkriegseuropa. Seine große Zuversicht und Überzeugung schöpfte Churchill aus dem Lausanner Austausch, den er trotz anderslautender Expertenberichte für vorbildlich und wegweisend hielt: For expulsion is the method which, so far as we have been able to see, will be the most satisfactory and lasting. There will be no more mixture of populations to cause endless trouble, as has been the case in Alsace-Lorraine. A clean sweep will be made. I am not alarmed by the prospect of the disentanglement of populations, nor even by these large transferences, which are more possible in modern conditions than they ever were before. The disentanglement of populations which took place between Greece and Turkey after the last war […] was in many ways, a success, and has produced friendly relations between Greece and Turkey ever since. The disentanglement, which at first seemed impossible of achievement, and about which it was said that it would strip Turkish life in Anatolia of so many necessary services, and that the extra population could never be assimilated or sustained by Greece having regard to its own area and population […] solved problems which had been the causes of immense friction, of wars and rumours of wars. Nor do I see why there should not be room in Germany for the German populations of East Prussia, and of the other territories I have mentioned.

 Ebd.; FO/, C//, Eden Memorandum, . July , zit. n. Frank, Expelling (wie Anm. ), .  Hansard, Poland, HC Deb.  (), vol. , cc. -. In: api.parliament.uk, https://api.parliament.uk/historic-hansard/commons//dec//poland (letzter Zugriff: ..).

266

B evö lke r u n g s tra n s f e r s in O s t mi t te l e u ro p a

Kurz vor Ende des Krieges nahm Toynbee mit Zufriedenheit zur Kenntnis, dass eine durch den sowjetischen Vormarsch provozierte Umsiedlung der Deutschen Ostmitteleuropas bereits im Gange sei: Es sieht so aus, als könne die Räumung der Gebiete östlich der Linie von Oder und westlicher Neiße durch die gesamte deutsche Zivilbevölkerung bis zum Ende der Kampfhandlungen ein fait accompli sein. […] Die Frage wird danach nicht mehr sein, ob eine bis dahin unangetastete deutsche Bevölkerung kaltblütig entwurzelt wird, sondern ob eine bereits entwurzelte und ins deutsche Nachkriegsgebiet verbrachte deutsche Bevölkerung erneut transportiert und in ihre früheren Gebiete zurückgebracht wird. Diese Aussage gewinnt an Bedeutung, wenn man berücksichtigt, dass der  in Lausanne sanktionierte griechisch-türkische Austausch eine zum größten Teil bereits erfolgte Vertreibung nachträglich legalisierte und unumkehrbar machte. Es ist nicht auszuschließen, dass Toynbee das im Hinterkopf hatte, als er sich von der aktuellen Entwicklung in Ostmitteleuropa ein fait accompli versprach. Die USA waren in der Frage von Bevölkerungsumsiedlungen als Mittel internationaler Politik zurückhaltender als die Briten. Der Einfluss der Menschenrechtsaktivisten und Lobbys, die sich auf dem Gebiet des Minderheitenschutzes betätigten, war in der Öffentlichkeit stärker als der der Verfechter von Ansichten über die Vorteile ethnisch homogener Nationalstaaten. Bezeichnend dafür ist, dass noch Ende  in der führenden außenpolitischen Zeitschrift Foreign Affairs ein Beitrag erschien, dessen Autorin, die  in die USA emigrierte jüdische SPD-Politikerin Hedwig Wachenheim, die Rückgängigmachung aller durch Nazi-Deutschland im östlichen Europa veranlassten Bevölkerungsumsiedlungen nach Kriegsende forderte. Nur sehr zögernd übernahm Washington die britische Position der Gestaltung eines neuen friedlichen Europas unter Rückgriff auf das Mittel der Grenz- und Bevölkerungsverschiebung. Eingeleitet wurde der Kurswechsel vom früheren Handelsminister und Präsidenten Herbert Hoover, der sich ab  für eine europäische Nachkriegsordnung auf der Grundlage ethnisch homogener Nationalstaaten stark machte. Die ethnische Purifizierung der europäischen Staaten sollte mittels Bevölkerungsumsiedlungen erfolgen. Dabei verwies auch Hoover, wie bereits viele andere vor ihm, auf die »positiven« Nachwirkungen der Lausanner Konvention auf die griechisch-türkischen Beziehungen.

 FO /, Aktennotiz Toynbee, .., zit. n. Douglas, »Ordnungsgemäße Überführung« (wie Anm. ), .  Hedwig Wachenheim: Hitler’s Transfers of Population in Eastern Europe. In: Foreign Affairs  (/) /, -, zit. n. Ther, Die dunkle Seite (wie Anm. , Einleitung), .  Ebd.

267

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

The nations of Europe will be faced with problems of mixed populations on their borders. Bitter experience for a hundred years shows that these European irredentas are a constant source of war. Consideration should be given even to the heroic remedy of transfer of populations. The hardship of moving is great, but it is less than the constant suffering of minorities and the constant recurrence of war. The action involved in most cases is less drastic than the transfer of the Greeks and the Turks after the last war – and the lessening of tension brought about by that transfer measurably improved both the prosperity and amity of the two nations. Im März  griff schließlich auch der US-amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt auf das Lausanner Modell zurück, um seine Unterstützung für die britischen Umsiedlungspläne hinsichtlich der Deutschen Ostmitteleuropas zu rechtfertigen. Insbesondere plädierte er bei einer Besprechung über »geographische Fragen« im Nachkriegseuropa für eine Aussiedlung der Deutschen aus Ostpreußen »auf dieselbe Weise, wie die Griechen im letzten Krieg aus der Türkei ausgesiedelt wurden«. Zwar räumte Roosevelt ein, dass »dies ein hartes Vorgehen« sei, aber nichtsdestoweniger »der einzige Weg«, um »den Frieden zu erhalten«. Auch Sumner Welles, der frühere stellvertretende Außenminister und während des Zweiten Weltkriegs engster außenpolitischer Berater Roosevelts, war  mittlerweile davon überzeugt, dass »wir diesen Moment des internationalen Chaos dazu nutzen sollten, Bevölkerungstransfers durchzuführen, wo es notwendig ist, um neue Konflikte zu vermeiden und es so den Völkern zu ermöglichen, frei von rassistischer Diskriminierung unter der Regierung zu leben, die sie wollen«. Zwei Jahre zuvor hatte er noch die Meinung vertreten, dass »kein Element in irgendeiner Nation dazu gezwungen werden [sollte], stellvertretend für Verbrechen zu büßen, für die es nicht verantwortlich ist«, und dass es inakzeptabel sei, wenn Menschen »wie Vieh von einem Staat in den anderen geschickt werden«. Am Kriegsende waren sich die beiden großen Westmächte, die USA und Großbritannien, darin einig, dass alle Deutschen, die sich noch außerhalb der deutschen Nachkriegsgrenzen befanden, in einem »ordnungsgemäßen« Verfahren in Gebiete westlich der Oder-Neiße-Linie evakuiert werden müssten. Die Exilregierungen Polens und der Tschechoslowakei drängten bereits seit Jahren

 Hoover, Herbert/Gibson, Hugh: The Problems of Lasting Peace. In: Prefaces to Peace. New York , -, hier .  Foreign Relations of the United States. Diplomatic Papers . Bd. : The British Commonwealth, Eastern Europe, the Far East. Hg. v. Department of State. Washington , , zit. n. Beer, Flucht (wie Anm. ),  f., .  Welles, Sumner: The Time for Decision. New York , , zit. n. Douglas, »Ordnungsgemäße Überführung« (wie Anm. ), .  Ders.: Ansprache auf dem Nationalfriedhof Arlington. In: Life, .., zit. n. ebd.

268

B evö lke r u n g s tra n s f e r s in O s t mi t te l e u ro p a

auf eine Ausweisung der deutschen Bevölkerung aus ihren Ländern. Nun schlossen sich auch ungarische Regierungsvertreter den Umsiedlungsplänen an und forderten die »Deportation von . Schwaben aus Ungarn nach Deutschland«. Die Sowjetherrscher, die in der jüngeren Vergangenheit selbst zahlreiche Bevölkerungsumsiedlungen durchgeführt hatten, hatten bereits in den Konferenzen von Teheran (November ) und Jalta (Februar ) dem Westtransfer der deutschen Bevölkerung aus Ostmitteleuropa zugestimmt bzw. diesen nachdrücklich verlangt. Als sich die drei großen Alliierten Mitte Juli  in Potsdam trafen, war die massenhafte Vertreibung der deutschen Bevölkerung bereits in Gang. Durch Art. XIII des Potsdamer Abkommens wurde letztendlich versucht, eine »wilde« Vertreibung und Flucht in ein organisiertes und sanktioniertes Umsiedlungsverfahren zu transformieren. In der amtlichen Verlautbarung hieß es: Die Konferenz erzielte folgendes Abkommen über die Ausweisung Deutscher aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn: Die drei Regierungen haben die Frage unter allen Geschichtspunkten beraten und erkennen an, dass die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muss. Sie stimmten darin überein, dass jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll. Da der Zustrom einer großen Zahl Deutscher nach Deutschland die Lasten vergrößern würde, die bereits auf den Besatzungsmächten ruhen, halten sie es für wünschenswert, dass der Alliierte Kontrollrat in Deutschland zunächst das Problem unter besonderer Berücksichtigung der Frage der gerechten Verteilung dieser Deutschen auf die einzelnen Besatzungszonen prüfen soll […]. Die tschechoslowakische Regierung, die Polnische Provisorische Regierung und der Alliierte Kontrollrat in Ungarn werden gleichzeitig von obigem in Kenntnis gesetzt und ersucht werden, inzwischen weitere Ausweisungen der deutschen Bevölkerung einzustellen, bis die betroffenen Regierungen die Berichte ihrer Vertreter an den Kontrollausschluss geprüft haben.

 Naimark, Flammender Haß (wie Anm. , Einleitung), -.  Ebd.  Amtsblatt des Kontrollrates in Deutschland. Ergänzungsheft, Berlin , , zit. n. Beer, Flucht (wie Anm. ),  f.

269

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

Die globale Ausweitung des Lausanner »Modells«

Die von den Großmächten in Potsdam vereinbarten, bestätigten und verrechtlichten Bevölkerungsumsiedlungen verliehen dieser Methode eine »weltweite Signalwirkung«. Diese über die Grenzen Europas hinausgehende Wirkung ist vor allem an der gewaltsamen Teilung Indiens erkennbar, die von einem umfassenden Bevölkerungstransfer begleitet wurde.  hatten sich aufgrund der unüberwindbaren Gegensätze zwischen Hindus und Muslimen die britische Regierung und die lokalen politischen Eliten von der Idee eines weiterexistierenden geeinten Indiens endgültig verabschiedet. Der neue britische Vizekönig, Lord Louis Mountbatten (. Earl Mountbatten of Burma), der im März  sein Amt antrat, nahm bereits im Frühjahr desselben Jahres Verhandlungen mit den Führungen der Kongresspartei und der Muslim League zu einer Teilung Indiens in zwei unabhängige Staaten auf. Dieses Unternehmen würde nach Meinung aller beteiligten Akteure massenhafte Zwangsmigrationen erfordern. Bei einer Pressekonferenz, in der Mountbatten über die Entwicklung der Teilungsgespräche informierte, bereitete er den Boden für die bevorstehenden Bevölkerungstransfers vor. In seinem Versuch, diese Transfers zu verharmlosen und zu rechtfertigen, präsentierte er sie als »naturbedingt«: [With regard to partition] there are many physical and practical difficulties involved. Some measure of transfer will come about in a natural way […] perhaps governments will transfer populations. Once more, this is a matter not so much for the main parties as for the local authorities living in the border areas to decide. Die Idee einer mit Bevölkerungsumsiedlungen verbundenen Teilung BritischIndiens in zwei unabhängige Staaten wurde  nicht zum ersten Mal aufgegriffen. Die lokalen Eliten debattierten schon länger darüber. In diesen Teilungsdiskussionen nahmen die südosteuropäischen Austausche der frühen Zwischenkriegszeit eine zentrale Position ein. Ein gutes Beispiel dafür ist Babasaheb R. Ambedkar, der ein Befürworter der Trennung von Hindus und Muslimen in zwei Staaten sowie der ethnischen Entmischung der gemischt besiedelten Gebiete nach (südost-)europäischem Vorbild war. Trotz seiner Zugehörigkeit zur »niedrigsten« Kaste Indiens, die der Dalits, verfügte Ambedkar über einen Universitätsabschluss und erlangte mit seinen rechtswissenschaftlichen, philosophischen, anthropologischen und historischen Schriften große Bekanntheit. In seinem viel zitierten, erstmals  erschienenen Buch »Pakistan or the Partition of India« räumte er den beiden Transferabkommen Griechenlands mit Bulgarien  Ther, Die dunkle Seite (wie Anm. , Einleitung), .  Zit. n. Kahn, Yasmin: The Great Partition. The Making of India and Pakistan. London [u. a.] , .  Schwartz, Ethnische »Säuberungen« (wie Anm. , Einleitung), .

270

D i e gl o b al e Au s w e i tu n g d e s L au s a n n e r »M o d e ll s«

und der Türkei der Jahre  und  als geeignete Vorbilder für einen indischpakistanischen Austausch viel Raum ein: So much for the problem of boundaries. I will now turn to the problem of the minorities which must remain within Pakistan even after boundaries are redrawn. There are two methods of protecting their interests. First is to provide safeguards in the constitution for the protection of the political and cultural rights of the minorities. To Indians this is a familiar matter and it is unnecessary to enlarge upon it. Second is to provide for their transfer from Pakistan to Hindustan. Many people prefer this solution and would be ready and willing to consent to Pakistan if it can be shown that an exchange of population is possible. But they regard this as a staggering and a baffling problem. This no doubt is the sign of a panic-stricken mind. If the matter is considered in a cool and calm temper, it will be found that the problem is neither staggering nor baffling. […] There are of course […] difficulties. But even those are not insuperable. They involve questions of policy. The first question is: is the transfer of population to be compulsory, or is it to be voluntary? […] With regard to the first point, both are possible, and there are instances of both having been put into effect. The transfer of population between Greece and Bulgaria was on a voluntary basis, while that between Greece and Turkey was on a compulsory basis. Compulsory transfer strikes one as being prima facie wrong. It would not be fair to compel a man to change his ancestral habitat if he does not wish to, unless the peace and tranquillity of the State is likely to be put in jeopardy by his continuing to live where he is or such transfer becomes necessary in his own interest. What is required is that those who want to transfer should be able to do so without impediment and without loss. I am therefore of [the] opinion that transfer should not be forced, but should be left open for those who declare their intention to transfer. […] What about its workability? The scheme is not new. It has been tried and found workable. It was put into effect after the last European War, to bring about a transfer of population between Greece and Bulgaria and Turkey and Greece. Nobody can deny that it has worked, has been tried and found workable. The scheme I have outlined is a copy of the same scheme. It had the effect of bringing about a transfer of population between Greece and Bulgaria and Turkey and Greece. Nobody can deny that it has worked with signal success. What succeeded elsewhere may well be expected to succeed in India. Im Januar  veröffentlichte Ambedkar eine zweite, revidierte und erweiterte Auflage seines Buches, ohne allerdings darin die neuesten umfangreichen Bevölkerungsverschiebungen in Ostmitteleuropa zu berücksichtigen.

 Ambedkar, B. R.: Pakistan or the Partition of India. Bombay ,  f.  Vgl. ebd., . Aufl. Bombay , -.

271

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

Ihm widersprachen andere Intellektuelle, wie etwa Rajendra Prasad, der erste Präsident Indiens . In seinem  erschienenen Buch vertrat er die Meinung, dass die Transfers in Südosteuropa nicht auf den indischen-pakistanischen Fall übertragbar seien, da es sich bei letzterem um eine nicht vergleichbare Größenordnung handele. In seiner Argumentation nahm er auf den bereits erwähnten britischen Ostmitteleuropa-Experten und Kritiker von Bevölkerungstransfers Macartney Bezug: As regards exchange of population it is enough to state that with boundaries suggested by Dr Ambedkar the number of non-Muslims to be transferred from the Muslim states in the North-Western and Eastern Zones will be more than  lakhs [= .., A. S.] and  crore  lakhs [= .., A. S.] respectively. I do not know where Dr Ambedkar gets that »exchange of population in Turkey, Greece and Bulgaria involved the transfer of some  million people from one habitat to another«. The figure of the entire population of the three states given by Macartney is a little over  millions. The minorities of all kinds in the three states numbered just over  ½ millions. Macartney also mentions that the Commission appointed to deal with exchange between Bulgaria and Greece had to deal with only . persons and similarly the number of persons dealt with between Greece and Turkey came to .. Für Prasad waren aus verschiedenen Gründen sowohl ein freiwilliger als auch ein obligatorischer Bevölkerungstransfer unvorstellbar. In seinem Bestreben, zu erklären warum, zog er mehrere Vergleiche zu Südosteuropa: Exchange of population can be on a voluntary basis or compulsory. Voluntary migration of so many millions of Muslims and non-Muslims from the nonMuslim and Muslim zone is inconceivable. The experience of voluntary migration for exchange of population in the Balkans was most disappointing for the simple reason that the people would not move of their own accord out of their old surroundings. In India the attachment to land of both Hindus and Muslims is so great that it can be safely asserted that neither would care to leave the locality where they had been settled simply to become members of another State. […] Besides the distance, the difference in the environments, languages, climatic conditions, mode and methods of living of the population among which the emigrants will have to settle down will be such as not only to discourage any such enterprise but altogether to rule it out. Then the cost of moving such large populations, uprooting them from where they have remained settled for generations and setting them in altogether new surroundings, and the loss of property involved in the process, even though compensation may be provided for, will impose a burden which neither the Muslim nor the non-Muslim States will be able to bear. The suffering will be immense and  Prasad, Rajendra: India Divided. . Aufl. Bombay , .

272

D i e gl o b al e Au s w e i tu n g d e s L au s a n n e r »M o d e ll s«

the scheme financially and administratively impossible of accomplishment. In case of compulsory exchange all these difficulties will be increased a hundredfold, and to all the other difficulties will be added the difficulty of shifting the population under police and military guard – which is unthinkable. Those who speak about the exchange of a few hundred thousand between Greece and Turkey ignore that in India it will involve  or at least  millions and the distances to be covered will be immense and the costs will be so tremendous that even if the states are able to bear them, they will be crippled for a long time on account of this heavy burden which it will impose on them. Da Prasad die Durchführung eines Bevölkerungstransfers für unmöglich hielt und demzufolge davon ausging, dass die beiden neuen Staaten gezwungenermaßen mit einem unlösbaren Minderheitenproblem konfrontiert sein würden, plädierte er gegen die Trennung und für den Erhalt eines »nicht-nationalen« bzw. multinationalen, föderativen indischen Staates: Instead, therefore, of seeking a solution of the Indian problem in the creation of national States of Hindus and Musulmans, in each of which there will remain a considerable minority of the other community, it is not better to allow India to continue as an unnational State that she is and has been? The desire expressed by the [Muslim] League to have separate national States of Musulmans is not even  years old, and, as we shall see, cuts across the history of more than as many hundred years. The object therefore should be not the creation of national States but the strengthening of the unnational State in India, removing from it all those aspects and features which detract from its unnational character. Trotz der besagten Ankündigung von Mountbatten, dass die Teilung BritischIndiens Bevölkerungsumsiedlungen mit sich bringen könnte, fand die Unabhängigkeitserklärung beider Staaten, Indiens und Pakistans, am . August  ohne eine diesbezügliche Vereinbarung oder andere vorkehrende Maßnahmen statt. Dabei erwies sich insbesondere die Vorstellung Mountbattens und der zentralen Parteien, dass nach Bekanntgabe der Teilung die Transferpolitik lokalen Autoritäten überlassen werden könnte, als fatal. Schnell stellte sich heraus, dass das Verhalten der örtlichen Eliten nicht die Eindämmung, sondern die Eskalation des ethnoreligiösen Hasses bewirkte. Infolge dessen brach eine Vertreibungswelle aus, die von grausamer Gewalt, vor allem gegen Frauen, begleitet war. Der gemischt besiedelte Punjab, in dem die Hälfte der Bevölkerung muslimisch war, während Hindus ein Drittel und Sikhs zehn Prozent der insgesamt  Millionen Einwohner ausmachten, wurde zum Hauptaustragungsort ethnischer Säuberungen. Die massenhafte Flucht von mehreren Hunderttausenden Men Ebd.,  f.  Ebd.,  f.

273

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

schen während des Monsuns und bei unerträglicher Hitze endete in einer humanitären Katastrophe, die in ihrem Ausmaß selbst jene der Umsiedlung der deutschen Bevölkerung Ostmitteleuropas übertraf. Am . Oktober  hatten bereits über fünf Millionen Menschen die indisch-pakistanische Grenze in beide Richtungen überquert, wo sie dann katastrophale Unterbringungszustände vorfanden. In Anbetracht dieser Situation vereinbarten die Armeeführungen der beiden neuen Nachbarstaaten am . Oktober einen Joint Evacuation Plan, der die Umsiedlung von bis zu zehn Millionen Menschen vorsah. Bemerkenswerterweise hatte der britische Vizekönig den von seinem Stab in aller Eile entworfenen Teilungsplan als »Plan Balkan« bezeichnet, womit er seine Befürchtung über eine mögliche »Balkanisierung« Britisch-Indiens zum Ausdruck brachte. Vor allem die besagte ethnische Gemengelage im Punjab und die Homogenisierungsbestrebungen der neuen Staaten gaben ihm Anlass, derartige Vergleiche zu ziehen. Die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge sowie die Regelung von deren Eigentumsverhältnissen stellte eine logistische Herausforderung für die beiden Aufnahmestaaten dar, der sie nicht gewachsen waren. Der Unmut der Betroffenen sowohl in Indien als auch in Pakistan war groß. Der indische Minister für Hilfeleistung und Rehabilitation Kshitish Chandra Neogy versuchte, die Probleme damit zu rechtfertigen, dass er auf die Intensität der Flüchtlingsströme verwies. Diese sei in jeglicher Hinsicht präzedenzlos, was auch der Vergleich mit dem griechisch-türkischen Fall belegte: [T]he magnitude of the refugee problem has been such that there has been no historical parallel to it. Nowhere in history has a transfer of population of such dimensions taken place in such a short time and under such circumstances. […] The Government had no experience in this matter and our method has, in many instances, been one of trial and error. [W]e have learned by experience, by mistakes that we have made. [I]n the case of Greece and Turkey which were the first in modern times to have a similar experience of mass movements of population – the time taken for rehabilitation of a fraction of the population with which we are concerned today was five years, and they seem to take pride that it was accomplished in that period […] Greece took five years: we have not had as many months in India. Die Äußerungen von Neogy zum Umgang Griechenlands mit den Schwierigkeiten der Aufnahme und Ansiedlung seiner kleinasiatischen Flüchtlinge zeigen, dass man sich in Indien selbst in dieser Ausnahmesituation, in der es nicht mehr  Ther, Die dunkle Seite (wie Anm. , Einleitung), ; Schechtman, Population Transfer (wie Anm. ),  f.  Schwartz, Ethnische »Säuberungen« (wie Anm. , Einleitung), .  Schechtman, Population Transfer (wie Anm. ), .  Zit. n. ebd., , , .

274

D i e gl o b al e Au s w e i tu n g d e s L au s a n n e r »M o d e ll s«

um Planung und völkerrechtliche Sanktionierung, sondern um akute Problembehandlung ging, weiterhin mit dem Lausanner Präzedenzfall auseinandersetzte. Parallel zum Rückzug aus Indien kündigte die britische Regierung im Februar  die Beendigung ihrer -jährigen Mandatsverwaltung in Palästina an. Die Vereinten Nationen übernahmen ab diesem Zeitpunkt die Verantwortung für die Regelung des Konflikts. Das von ihnen eingesetzte Special Committee on Palestine (UNSCOP) arbeitete einen neuen Teilungsplan aus, der einen ethnisch fast homogenen arabischen Staat, einen binationalen Staat Israel mit einer knappen jüdischen Mehrheit und eine »freie« Stadt Jerusalem unter internationaler Aufsicht vorsah. Obwohl der Plan die zionistische Führung mit dem Problem einer großen arabischen Minderheit konfrontierte, die mit circa . Bürgern annähernd die Hälfte der Gesamtbevölkerung des neuen Staates ausmachen würde, akzeptierte die jüdische Seite den Plan. Diese positive Haltung war darauf zurückzuführen, dass die Vereinten Nationen mit der Teilung Palästinas in zwei territorial fast gleich große Staaten die demographischen Gegebenheiten zugunsten der jüdischen Bevölkerung missachteten. Der UNSCOP-Plan sah einen jüdischen Staat vor, »der mehr als die Hälfte des Landes umfasste«, obgleich die Juden »nicht mehr als ein Drittel der Bevölkerung stellten«. Ausschlaggebend für diese Bevorzugung der Juden Palästinas war der Holocaust, der die internationale Akzeptanz eines jüdischen Staates dermaßen erhöht hatte, dass das Unrecht an der muslimischen Bevölkerung Palästinas billigend in Kauf genommen wurde. Die arabischen Vertreter beschlossen angesichts der aus ihrer Sicht eklatanten Unausgewogenheit des Teilungsplans zugunsten der jüdischen Seite, den Verhandlungstisch zu verlassen. Die zionistischen Gesandten setzten indes ihre Verhandlungen mit dem UNSCOP fort. Am . November  verabschiedeten die Vereinten Nationen mit Resolution  schließlich den Teilungsplan für Palästina. Die USA und die UdSSR hatten zuvor für die notwendige Zustimmung der Vollversammlung gesorgt. Der Plan sah, wie gesagt, die Dreiteilung Palästinas in folgender Weise vor: Auf  Prozent der Fläche sollten . Palästinenser einen Staat bekommen, in dem . Juden lebten; der jüdische Staat sollte dagegen fast  Prozent der Fläche enthalten, die . Juden sich mit . Palästinensern teilen würden. Der dritte Teil bestand aus einer kleinen Enklave mit Jerusalem, das unter internationale Verwaltung gestellt würde und dessen . Einwohner zu etwa gleichen Teilen Palästinenser und Juden waren.

 Pappe, Ilan: Die ethnische Säuberung Palästinas. . Aufl. Berlin [u. a] , - (Originalausgabe: The Ethnic Cleansing of Palestine. Oxford ).  Schwartz, Ethnische »Säuberungen« (wie Anm. , Einleitung), .  Ebd.; Pappe, Die ethnische Säuberung (wie Anm. ),  f.  Ebd., .

275

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

Die Bekanntgabe der Annahme des Teilungsplans durch die UN löste, ähnlich wie im indisch-pakistanischen Fall, eine Welle der Gewalt aus, die zunächst von den Arabern ausging. Die noch in Palästina stationierten britischen Truppen wären wohl in der Lage gewesen, den Bürgerkrieg in seinen Anfängen zu unterdrücken. Dennoch befahl ihnen London, sich aus dem Konflikt herauszuhalten und die bereits aufgenommenen Abzugsvorbereitungen fortzusetzen. Der jüdische Gegenangriff erfolgte in größeren Städten, in denen irreguläre Kampfverbände, wie etwa die zionistische Untergrundorganisation Irgun Tzwa’i Le’umi (Nationale Militärorganisation), gezielt Angst und Schrecken verbreiteten, um eine Massenflucht der arabischen Bevölkerung zu bewirken. Dieses Vorgehen besaß die Zustimmung der jüdischen Führung. Am . Februar  erklärte David Ben-Gurion, der erste israelische Ministerpräsident, intern Folgendes: »Was in Jerusalem und Haifa geschah, kann sehr wohl auch in vielen anderen Teilen des Landes geschehen – wenn wir weitermachen. […] Es wird mit Sicherheit große Veränderungen in der Zusammensetzung der Bevölkerung des Landes geben.« Der »Plan Dalet« oder »Plan D«, den der israelische Generalstab am . März  an die Befehlshaber der Truppeneinheiten ausgab, beinhaltete detaillierte Instruktionen zur Ausführung ethnischer Säuberungsaktionen: Diese Operationen lassen sich folgendermaßen durchführen: entweder durch Zerstörung von Dörfern (indem man sie in Brand steckt, sprengt und die Trümmer vermint) und insbesondere von Wohngebieten, die auf Dauer schwer zu kontrollieren sind; oder durch Durchsuchungs- und Kontrollaktionen nach folgenden Richtlinien: Umstellen und Durchkämmen der Dörfer. Im Fall von Widerstand sind die bewaffneten Kräfte auszuschalten und die Einwohner über die Landesgrenzen zu vertreiben. Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, kam es  zum großen Exodus der arabischen Palästinenser aus ihren Heimatgebieten. Bis zum . Mai , also bis zum Tag der Unabhängigkeitserklärung Israels, war bereits nahezu eine Viertelmillion palästinensischer Araber vertrieben worden. Durch den Angriffskrieg der arabischen Nachbarstaaten als direkte Reaktion auf die israelische Unabhängigkeitserklärung traten die ethnischen Säuberungen in eine neue noch intensivere Phase ein. Zur selben Zeit nahm man auf israelischer Seite die Vorbereitungen für einen organisierten Transfer der Araber Palästinas auf. Der besagte Weitz, der schon in die Umsiedlungspläne der späten er Jahre involviert war, entwarf in kürzester Zeit einen »Plan zum Transfer der Araber«, den er im Juni  Ministerpräsident Ben-Gurion übergab. Darin plädierte er dafür, die »Entwurzelung der  Zit. n. Schwartz, Ethnische »Säuberungen« (wie Anm. , Einleitung), .  Zit. n. Pappe, Die ethnische Säuberung (wie Anm. ), .  Ebd., ; Ther, Die dunkle Seite (wie Anm. , Einleitung), .

276

D i e gl o b al e Au s w e i tu n g d e s L au s a n n e r »M o d e ll s«

Araber als eine Lösung der arabischen Frage im Staat Israel« anzusehen und die bereits in Gang gesetzte Flucht »von jetzt ab in einen kalkulierten Plan mit dem Ziel eines retroaktiven Transfers münden« zu lassen. Im Anschluss daran beschloss das israelische Regierungskabinett im August  die Gründung eines Transferkomitees (Transfer Committee), das mit der »organisierten Umsiedlung der palästinensischen Flüchtlinge in die arabischen Staaten« beauftragt wurde. Das Komitee bestand aus drei Mitgliedern: dem Militäroffizier Ezra Danin, Zalman Lifschitz, der Berater des Außenministeriums war, und dem Vorsitzenden Weitz. Im Oktober  reichten Weitz und seine Kollegen einen FünfPunkte-Vorschlag zur demographischen Transformation Palästinas ein, der folgende Ziele definierte: () [To prevent] Palestinian refugees from returning to their homes and villages; () the physical destruction of Arab villages in Israel; () the settlement of Jews in Arab villages and towns and the distribution of Arab lands among Jewish settlements; () ›the extrication of the Jews of Iraq and Syria‹; () ensuring the Palestinian refugees would be absorbed in Arab countries – Syria, Iraq, Lebanon, and Transjordan – and launching a propaganda campaign to discourage repatriation. Kurz danach lud das Transferkomitee den rechtsgesinnten zionistischen Revisionisten Joseph Schechtman ein, sich an den Umsiedlungsplänen zu beteiligen. Schechtman hatte sich in den Kriegsjahren zu einem Experten für Bevölkerungstransfers entwickelt. Im Auftrag Jacob Robinsons, des jüdisch-litauischen Juristen und Politikers, übernahm er  die Aufgabe, eine Studie zu den von Nazi-Deutschland durchgeführten Umsiedlungen zu verfassen. Robinson hatte sich nach Ende des Ersten Weltkriegs für einen internationalen Minderheitenschutz unter der Garantie des Völkerbunds als Lösung der Jüdischen Frage in Europa eingesetzt. Ende der er, Anfang der er Jahre gelangte er aber allmählich zur Erkenntnis, dass nur die umfassende Aussiedlung der europäischen Juden nach Palästina diese vor dem mörderischen NS-Antisemitismus retten könnte. Im März  behauptete Robinson bei einem New Yorker Symposium, dass in den nächsten zwei bis vier Jahren die Emigration von . bis . Juden pro Jahr nach Palästina möglich sei. Die Zeit sei für solch einen »gewagten, originellen und, wenn man so will, astronomischen Plan« zur

 Zit. n. Schwartz, Ethnische »Säuberungen« (wie Anm. , Einleitung), .  Masalha, Nur: »Dis/Solving« the Palestinian Refugee Problem. Israeli »Resettlement« Plans in the First Decade of the State (-). In: Across the Wall. Narratives of Israeli-Palestinian History. Hg. v. Ilan Pappé und Jamil Hilal. London [u. a.] , -, hier .  Morris, Benny: Yosef Weitz and the Transfer Committees -. In: Middle Eastern Studies  () , -, hier  f.

277

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

Lösung des jüdischen Problems gekommen. Noch im selben Jahr veröffentlichte er in der Zeitschrift Free World einen Essay zum Thema »Minderheiten in einer freien Welt«, in dem er die Legitimität von Bevölkerungstransfers verteidigte. Nach Kriegsende würde man darauf zurückgreifen müssen, um den Weltfrieden sichern zu können. Vor allem »irredentistische Minderheiten, die ihre Staatsbürgerschaftspflichten vernachlässigen und permanent die Unterstützung mächtiger Ko-Nationaler suchen« würden, müssten damit rechnen, davon betroffen zu sein – prognostizierte der prominente Jurist, der  in die USA ausgewandert war und dort das Institute of Jewish Affairs gegründet hatte. Dass Robinson den besagten Schechtman für die geeignete Person zur Erstellung einer Studie über Bevölkerungstransfers hielt, hatte aller Wahrscheinlichkeit nach mit dessen Unterstützung in den er Jahren für den sogenannten Evakuierungsplan von Vladimir Žabotinskij zu tun. Dieser sah die Umsiedlung von eineinhalb Millionen osteuropäischer Juden nach Palästina vor. Zudem hatte sich Schechtman unmittelbar nach Kriegsausbruch für die Durchführung von Bevölkerungstransfers in Osteuropa als die effizienteste Lösung der dortigen zahlreichen Minderheitenkonflikte ausgesprochen. Schechtman begann im Laufe des Jahres , seinem Auftraggeber Kapitel mit Ergebnissen seiner Forschungsarbeit zukommen zu lassen, welche Robinson in seiner Überzeugung bestärkten, dass der Minderheitenschutz in Europa keine Zukunft habe und dass die Zunahme von nationalen Homogenisierungsprojekten durch Bevölkerungsumsiedlungen eine mittlerweile unausweichliche Entwicklung sei.  veröffentlichte Schechtman ein  Seiten starkes Buch zum Thema »Europäische Bevölkerungstransfers, -« in englischer Sprache, das auf der Untersuchung basierte, die der Autor während der Kriegsjahre im Auftrag von Robinson durchgeführt hatte. Im Vorwort schrieb er zur Entstehungsgeschichte des Buches Folgendes: This study was undertaken in the fall of  and continued for two years under the auspices of the Institute of Jewish Affairs, which organization was helpful in many ways beyond the term of its actual sponsorship. Since  the work has been carried on under the auspices of the Institute of World Affairs. Grateful acknowledgment is hereby made to Dr. Jacob Robinson, Director of the Institute of Jewish Affairs, as well as to Mr. Nehemiah Robinson  Rubin, Gil: The End of Minority Rights. Jacob Robinson and the »Jewish Question« in World War II. In: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts  (), -, hier .  Ebd., . Zu Robinson und dem Institute of Jewish Affairs siehe Cohen, Boaz: Dr. Jacob Robinson, the Institute of Jewish Affairs and the Elusive Jewish Voice in Nuremberg. In: Holocaust and Justice. Representation and Historiography of the Holocaust in Post-War Trials. Hg. v. David Bankier und Dan Michman. Jerusalem , -.  Rubin, The End (wie Anm. ), .  Ebd., .

278

D i e gl o b al e Au s w e i tu n g d e s L au s a n n e r »M o d e ll s«

and Professor Max Laserson for generous co-operation and valuable suggestions. Das erste Kapitel des Buches, betitelt mit »Hintergründe«, widmete sich den südosteuropäischen Transfers der er und er Jahre, da diese laut Schechtman einen großen Einfluss auf die spätere Entwicklung nahmen. Nachdem er die Bevölkerungsaustausche zwischen Griechenland, Bulgarien und der Türkei ausführlich besprochen hatte, traf der Autor ein Urteil, das seine positive Grundhaltung gegenüber Transfers erkennen ließ: The few transfer precedents discussed indicate that once it has become clear that only such extreme measures will eradicate an intolerable situation, it is then incumbent on the countries involved to make a formal agreement that will cover, in so far as possible, the manifold contingencies of the particular transfer envisioned. Schechtman hielt trotz Abstrichen das Lausanner Transfer-Abkommen für ein gelungenes und letztendlich alternativloses Unternehmen, das der konfliktreichen Beziehungsgeschichte zwischen der Türkei und Griechenland ein Ende gesetzt und zur Normalisierung des Verhältnisses zwischen beiden Ländern entscheidend beigetragen habe: The Greco-Turkish exchange of population, since it was one of the earliest organized undertakings of this kind, offers the most abundant evidence for appraising the relative benefits and disadvantages of such an operation for the two countries involved. There is no question that for Greece the absorption of more than . million destitute refugees constituted a tremendous burden. […] On the whole, however, the prevailing opinion is that Greece profited from the exchange. […] And, by no means least in importance, Greece attained a homogeneity of population through the transfer that could have been achieved in no other way. […] And there can be no doubt that the age-old conflict between the two countries was resolved after the transfer was carried through. Da aus seiner Sicht das Minderheitenschutzsystem des Völkerbunds gescheitert sei, unterstützte Schechtman die Lösung des Bevölkerungstransfers, zumindest in solchen Fällen, in denen andere, für die Betroffenen weniger schmerzvolle Alternativen nicht möglich seien oder keinen langfristigen Frieden garantierten. In diesem Zusammenhang warnte er vor einer möglichen sentimentalen Schwäche, die dazu führen könnte, trotz anerkannter Notwendigkeit dieses Mittel nicht einzusetzen:    

Schechtman, European (wie Anm. ), X. Ebd., . Ebd.,  f. Ebd., -.

279

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

Events of the last thirty years have demonstrated with abundant clarity not only the significance of the minorities problem in Europe, but also the inadequacy of the League of Nations system of international protection as a solution. […] The authors of the latest comprehensive study of the minorities treaties sadly acknowledge that it has become a commonplace to assert these treaties were a failure. […] Today, the transfer plan is being advocated by many responsible statesmen, scholars, and writers. […] In view of all the evidence provided by past experience it cannot be denied that the redistribution of ethnic groups is a painful operation for the persons concerned, or that it may cause, at least for a time, serious difficulties in the economic life of the country of departure and the country of resettlement. The disruptive incidence of the operation cannot be overlooked and should not be underestimated. Nevertheless, there may be situations when the alternatives are even less desirable. And where this is the case, transfer remains as the only solution. As one observer has said, »to cut out the cancer from a sick body is not cruel, it is necessary«. Only false sentimentality or blindness to the best interests of the patient would pity to outweigh sound medical judgment. Schechtman, der sich mit der Geschichte vertraglich sanktionierter Bevölkerungstransfers eingehend beschäftigt und sich von der Effizienz dieser Methode überzeugt hatte, nahm also in der zweiten Hälfte des Jahres  die Zusammenarbeit mit dem besagten israelischen Transferkomitee auf. Dafür war er nahezu prädestiniert, denn er betrachtete die palästinensisch-israelische Konfliktkonstellation als exakt so einen Fall, der nur durch einen radikalen Bevölkerungstransfer zu lösen sei. In seiner  veröffentlichten Studie zu »Bevölkerungstransfers in Asien« drückte er sich diesbezüglich unmissverständlich aus: Palestine seems a classic case for quick, decisive transfer action as the only constructive method of solving the basic problem and preventing extremely dangerous developments. It is a test case calling for clear-sightedness, vision, courage and high statesmanship. […] The minority problem, which is a question of life and death for the success of any constructive scheme for Palestine, cannot be solved without resorting to what the late President Eduard Benes of Czechoslovakia called »the grim necessity of transfer«. Auf der Grundlage dieser Überzeugung, nämlich dass eine endgültige Lösung nur durch eine radikale Entmischung der Bevölkerung Palästinas herbeigeführt werden könne, hatte der in New York ansässige Schechtman in den ersten Monaten von , also noch vor seiner Involvierung in die Tätigkeit des Transferkomitees, einen Plan unter dem Titel »Der Fall des arabisch-israelischen Bevölkerungsaustausches« entworfen und dem israelischen Botschafter in  Ebd., .  Schechtman, Population Transfer (wie Anm. ), , .

280

D i e gl o b al e Au s w e i tu n g d e s L au s a n n e r »M o d e ll s«

Washington,Eliyahu Epstein, übergeben. Dieser wiederum leitete den Plan der israelischen Regierung sowie dem Vorsitzenden des Transferkomitees Weitz zu. Im Oktober  erhielt dann Schechtman von der Regierung und Weitz den Auftrag, seine Untersuchungen zur Abwanderung der Araber aus Palästina fortzusetzen. Der Schechtman’sche Plan schlug einen obligatorischen Bevölkerungsaustausch zwischen Israel und den arabischen Staaten vor. Der Großteil der palästinensischen Araber sollte in den Irak umgesiedelt werden, während Israel als Gegenleistung dafür die aus den arabischen Staaten abwandernden Juden aufnehmen würde. Interessanterweise basierte dieser Plan auf einem anderen Plan, den der ebenso in New York lebende Zionist Eliahu Ben-Horin in Zusammenarbeit mit dem früheren US-amerikanischen Präsidenten Herbert Hoover noch während des Zweiten Weltkriegs entworfen hatte. Derselbe Hoover hatte, wie bereits erwähnt, auch die umfassenden Bevölkerungsumsiedlungen in Ostmitteleuropa unterstützt. Im November  wurde der sogenannte HooverPlan in der Zeitung New York World-Telegram veröffentlicht. Darin schlug Hoover vor, dass die Großmächte die Bewässerung des Tigris- und Euphrat-Tales finanzieren sollten, sodass die Araber Palästinas dorthin umgesiedelt werden könnten. In den von ihnen evakuierten Gebieten sollten Juden aus den umliegenden arabischen Staaten angesiedelt werden. Der Artikel schloss mit einem euphemistischen Satz zur vorgeschlagenen Lösung: »It would be a solution by engineering instead of by conflict.« Darüber hinaus setzte sich Hoover bei der US-amerikanischen Administration für eine Zwangsumsiedlung der arabischen Palästinenser in den Irak ein. Auch für Hoover und seinen Mitstreiter Ben-Horin diente das Lausanner Abkommen von  zwischen Griechenland und der Türkei als Projektionsfläche für ihre Transferpläne im Nahen Osten. In seinem  erschienenen Buch »The Middle East: Crossroads of History« schrieb etwa Ben-Horin: I suggest that the Arabs of Palestine and Transjordania be transferred to Iraq, or a united Iraq-Syrian state. That means the shifting about .. persons. A larger number were involved in the Greco-Turkish exchange. […] The Palestinian Arabs will not be removed to a foreign land but an Arab land. […] The distance between their old and new homelands is small, involving no crossing of oceans or seas, and the climatic conditions are the same. Auch wenn Ben-Horin, Hoover, Schechtman und andere federführende Akteure von einem zwischenstaatlichen Abkommen sprachen, war ihnen klar, dass die arabische Führung einem derartigen Bevölkerungsaustausch nie freiwillig  Masalha, »Dis/Solving« (wie Anm. ),  f.  Zit. n. Medoff, Rafael: Zionism and the Arabs. An American Jewish Dilemma, . Westport , .  Zit. n. Masalha, Nur: Imperial Israel and the Palestinians. The Politics of Expansion. London [u. a.] ,  f.

281

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

zustimmen würde. Es müssten aus ihrer Sicht Tatsachen geschaffen werden, die sie dazu zwingen würden. Auch in dieser Hinsicht folgten sie dem Lausanner Beispiel, indem sie von einer erzwungenen und nur nachträglich rechtlich sanktionierten Massenflucht der Araber aus Palästina ausgingen. Bezeichnend dafür ist der besagte Plan Schechtmans von . Dieser prognostizierte, dass unter dem Druck der anstürmenden Flüchtlinge sich der Irak und andere arabische Staaten bereit erklären würden, Bevölkerungsaustauschverträge mit Israel zu unterschreiben: Once uprooted, they [= the Arabs] would probably be responsive to any plan of their resettlement in Iraq, with full compensation by the state of Israel for their property left behind. These treaties would provide a compulsory, but not all-inclusive, ethnic sorting out. As a rule, every Arab in the Jewish State and every Jew in Iraq would be subject to transfer; no specific option to this effect would be necessary. In dem besagten Buch von , deren drittes Kapitel eine revidierte Fassung des Planes von  darstellt, fehlen diese Passagen. Dort stritt Schechtman nicht nur die gewaltsame Vertreibung der muslimischen Palästinenser ab, sondern warf den arabischen Staaten vor, durch eine gezielte Propagandakampagne die Flucht ausgelöst zu haben: All the evidence seems to point to the fact that the mass exodus of the Arab population was deliberately stimulated to serve the political ends of the Arab leadership. The Arab masses were subjected to a heavy barrage of »atrocity propaganda« predicting their wholesale extermination by the advancing Jewish forces. They were exhorted to flee for their lives, even though they were not directly threatened. This propaganda met with an unexpected measure of success. A contagious mass panic seized one Arab community after the other, and they began to flee in numbers far exceeding the original intentions of their leaders. Zudem bereitete er den Boden für eine vertragliche Sanktionierung der bereits größtenteils erfolgten Vertreibung der Araber Palästinas. Obwohl die israelische Regierung seit Längerem auf ein Bevölkerungsaustauschabkommen mit den arabischen Staaten hinarbeitete, täuschte Schechtman vor, dass diese Möglichkeit jetzt erstmals in Erwägung gezogen würde: It can now be considered as established that the Israeli Government is firmly determined not to permit the wholesale and unconditional return of former Arab residents and that the question of whether, to what extent and under  Schechtman, Joseph B.: The Case for Arab-Jewish Exchange of Population, Manuscript (in Weitz’s Papers, Institute for Settlement Study, Rehovot), -, zit. n. Masalha, »Dis/Solving« (wie Anm. ), .  Schechtman, Population Transfer (wie Anm. ), .

282

D i e gl o b al e Au s w e i tu n g d e s L au s a n n e r »M o d e ll s«

what conditions they will eventually be allowed to come back, will be discussed as an organic part of the future Arab-Jewish peace settlement. This settlement will have to include the plight of the Jewish minorities in the Arab countries. […] There are unmistakable indications to the effect that the Israeli Government is now earnestly considering an Arab-Jewish exchange of population as the most thorough and constructive means of solving the problem of an Arab minority in the Jewish State and of the Jewish minorities in Arab lands. Anschließend instrumentalisierte er zum wiederholten Mal die »Erfolgsgeschichte« von Lausanne, um den völkerrechtlich sanktionierten Transfer als die einzige Lösung für das israelisch-palästinensische Problem zu propagieren. Unverkennbar ist dabei sein Versuch, eine bereits auf höchster politischer Ebene getroffene Entscheidung und ein im Auftrag des israelischen Staates von Experten durchgespieltes Szenario als einen aus der aktuellen Entwicklung heraus entstandenen »Notplan« zu präsentieren, dessen Umsetzung noch dazu angesichts der zugespitzten Konflikt- und Problemsituation alternativlos sei: [T]homas J. Hamilton, the New York Times correspondent at the UN, stressed that »such an exchange of population has long been under discussion by delegations here [at Lake Success], who believe that it offers the best hope for the establishment of friendly or at least correct relations between Israel and the surrounding Arab countries«. He recalled that a similar exchange of minorities, executed by Greece and Turkey, »played an important part in establishing friendly relations between the two countries«. In the light of the latest developments, exchange of minorities offers not only the most promising, but actually the only possible, solution of the Arab-Jewish deadlock. […] We are faced with the hard reality of some . to . already displaced Palestinian Arabs. Their return to their former homes is barred by the Government of Israel for reasons of national security. Moreover, their return, even if unopposed, would probably present considerable difficulties for most of the Arab refugees themselves, psychologically and politically, as well as economically. […] It can hardly be doubted that th[e] international effort [to solve the Arab refugee problem] would be much more constructive if directed toward transfer to, and resettlement in, an Arab Country than toward a futile attempt at restoring the irreparably shattered Arab-Jewish balance in Palestine. […] There is every reason to believe that the uprooted Palestinian Arabs would be responsive to plans for their resettlement in Iraq, with full compensation by the State of Israel for property left behind. […] As regards Jewish minorities in the Arab states, it may be assumed that very few among them would prefer to remain. […] The evacuation of Jewish communities from the Arab countries is likely to be almost wholesale. The Jewish repatriates from Arab coun Ebd.,  f.

283

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

tries would represent a valuable asset to Palestine. […] An interstate treaty on exchange of population would have to be concluded between the Governments of the Jewish State and of Iraq, providing for the transfer of Palestine Arabs to Iraq and of Iraqi Jews to Palestine. Additional agreements could be concluded with the Governments of other Arab states for the transfer of their respective Jewish minorities to Palestine, with or without provision for an eventual transfer of those Palestine Arabs who for some reason would prefer to be resettled in an Arab country other than Iraq. The treaties would provide for a compulsory, but not all-inclusive, ethnic sorting-out […]. As a rule, every Arab in the Jewish State and every Jew in Iraq or any other Arab country would be subject to transfer; no specific option to this effect would be expected or necessary. Those who would not ask explicitly to be exempted from resettlement would have to leave. Should individual members of the affected minority group be for some imperative reason determined to stay in the country of their present residence, every one of them would have to exercise the right of option in the reverse direction and make a definite »statement of intentions«, pledging full and unconditional allegiance to the state he decided to live in. In each individual case, the Government of the respective country would have the right to refuse the application if it considered the applicant disloyal or dangerous to the security of the state. Those who decided to stay and were permitted to do so would remain as individuals only, and would have to reconcile themselves to a status of civic equality, with the same rights and obligations as all other citizens, without any specific minority rights. Auch wenn Schechtman in seinen Ausführungen nicht explizit darauf hinweist, schildert er einen durch den Angriff der arabischen Nachbarstaaten auf Israel und die darauffolgende »Flucht« der palästinensischen Araber eingetretenen Zustand, der in seiner Irreversibilität mit der Situation nach der Vertreibung der griechischen Bevölkerung Kleinasiens durch die kemalistischen Truppen vergleichbar ist. Schechtman hegte die Hoffnung, dass die Vertreibung der arabischen Bevölkerung Palästinas eine nachträgliche Legitimierung nach Lausanner Vorbild erfahren könnte. Die arabischen Staaten würden ähnlich handeln wie das  besiegte und mit einem Flüchtlingsstrom konfrontierte Griechenland und letztendlich ein Transferabkommen mit Israel unterschreiben. Als »Kompensation« für die Sanktionierung der Vertreibung von . Palästinensern stellte Schechtman den arabischen Staaten die Umsiedlung der . bis . im Irak, in Ägypten, Syrien, im Jemen und Libanon lebenden Juden nach Israel in Aussicht.

 Ebd., -.  Ebd., .

284

D i e gl o b al e Au s w e i tu n g d e s L au s a n n e r »M o d e ll s«

Kurz nachdem die Studie veröffentlicht war, schickte der Autor ein Exemplar an Hoover, der, wie gesagt, bereits  mit seinem Transferplan an die Öffentlichkeit gegangen war. In seinem Begleitschreiben hieß es: I take the liberty of sending you the enclosed copy of my study »Population Transfer in Asia« whose chapter on the Arab-Jewish population transfer owes so much to the inspiration provided by your plan for the resettlement of Arabs from Palestine in Iraq, published in . […] Recent events in the Middle East have pushed this idea into the foreground of public attention, and have impelled me to publish this study on the transfer issue against the background of similar transfer movements elsewhere in Asia. […] As one of the world’s elder statesmen who helped originate the transfer idea as way out of the Palestine conflict, and from whom the public hopes to receive further wise guidance in this issue, you will – I sincerely hope – be interested in this book of mine. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung der Studie Schechtmans war keineswegs zufällig gewählt. Die Publikation fiel exakt in eine Zeit, in der der Druck der internationalen Gemeinschaft auf Israel größer wurde, die Rückkehr der vertriebenen Araber zu akzeptieren. Der Großteil von ihnen hielt sich in Flüchtlingslagern der Nachbarstaaten auf, in denen extremes Elend herrschte. Im Juli  informierte der israelische Außenminister Mosche Scharet die Mitglieder des Transferkomitees, dass Washington die Repatriierung von bis zu . Flüchtlingen fordern würde. Die USA hatten außerdem die Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen  (III) vom . Dezember  zur »uneingeschränkten Rückkehr aller Flüchtlinge« und zu ihrer Entschädigung für verlorenes Eigentum unterstützt. In Israel sorgte die »Alptraumvorstellung« von langen Konvois zurückkehrender Flüchtlinge für große Aufregung. Ende Mai  alarmierte Weitz die Regierung, dass eine unkontrollierte Rückkehr der Flüchtlinge bereits begonnen habe und deren Zahl täglich zunehmen würde: Infiltration of the refugees across all the borders, from the north, the south and the east, is no longer an isolated phenomenon but a common occurrence which is increasing all the time. Every day our people meet acquaintances who were formerly absent now walking about in complete freedom and also returning step by step to their villages. I fear that by the time you will have finished discussing the subject of the refugees in Lausanne and elsewhere the problem will have solved itself to some degree. Refugees are returning!

 Schechtman’s letter to Hoover, . April , in: Jabotinsky Institute, Schechtman’s Papers, file F. //, zit. n. Masalha, »Dis/Solving« (wie Anm. ),  f.  Schwartz, Ethnische »Säuberungen« (wie Anm. , Einleitung), .  Ebd., .  Zit. n. ebd., .

285

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

Die im März  veröffentlichte Studie von Schechtman mit dem Plan zu einem jüdisch-arabischen Bevölkerungstransfer ist in diesen Kontext einzuordnen. Die Sanktionierung der Vertreibung in Form eines Transfer-Abkommens sollte den Flüchtlingen den Weg der Rückkehr für immer versperren – so wie es das Lausanner Abkommen im Fall der kleinasiatischen Griechen getan hatte. Trotz der israelischen Kampagne für die Übernahme des Balkan-Modells im Nahen Osten kam es letztendlich nicht zu einem völkerrechtlich geregelten Bevölkerungsaustausch zwischen Israel und den arabischen Staaten. Im Gegensatz zu Griechenland, das bereits vor dem verlorenen Krieg in Kleinasien die Methode des Bevölkerungstransfers als Lösung ethnonationaler Konflikte angewandt hatte und bei der Entstehung der Lausanner Konvention federführend war, lehnten die Regierungen der arabischen Staaten ein derartiges Abkommen konsequent ab. Stattdessen drohten sie Israel mit einer Ausweisung der jüdischen Minderheiten, sollte es die Rückführung der arabischen Flüchtlinge nicht ermöglichen. Der irakische Premierminister Nuri Pasha as-Said kündigte  an, dass allen irakischen Juden die Vertreibung bevorstünde, wenn die Israelis die unverzügliche Rückkehr der arabischen Flüchtlinge in ihre palästinensischen Heimatorte nicht gestatten würden. Aber wie Ben-Gurion im Mai  dem US-amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman nahelegte, war von israelischer Seite die Rückkehr der arabischen Flüchtlinge undenkbar, da diese eine akute Bedrohung für den neugegründeten Staat darstellten: »Es gibt keine Flüchtlinge, es gibt nur Kämpfer, die versuchten, uns zu vernichten, und zwar restlos. […] Sollen wir die Flüchtlinge zurückholen, dass sie uns zum zweiten Mal ausrotten können?« Angesichts der israelischen Weigerung, der Forderung nach einer Rückgängigmachung der ethnischen Säuberung Palästinas nachzukommen, erhöhten die arabischen Länder den Vertreibungsdruck auf ihre jüdischen Bürger. Die Auswanderung der orientalischen Juden erreichte in der zweiten Hälfte der er Jahre ihren Höhepunkt. Bis  waren fast . Juden aus zehn arabischen Staaten nach Israel emigriert. Dadurch kam es schlussendlich zu einem Bevölkerungstransfer zwischen Israel und den arabischen Ländern, der allerdings im Gegensatz zum Lausanner Vorbild weder sanktioniert war noch eine Deeskalation im Palästina-Konflikt bewirkte. Die Reaktion der internationalen Gemeinschaft, die eine Repatriierung der palästinensischen Araber und nicht den von Israel eingeforderten Bevölkerungsaustausch unterstützte, signalisiert den Beginn eines Kurswechsels im Umgang mit Flüchtlingsfragen vom Vertreibungsrecht als legitimes Mittel staatlicher Politik zur Schaffung ethnisch homogener Staaten hin zum Vertreibungsverbot  Schwartz, Ethnische »Säuberungen« (wie Anm. , Einleitung), .  Zit. n. Stein, Leslie: The Making of Modern Israel, -. Cambridge [u. a.] , .  Ther, Die dunkle Seite (wie Anm. , Einleitung), ; Schwartz, Ethnische »Säuberungen« (wie Anm. , Einleitung), .

286

D i e gl o b al e Au s w e i tu n g d e s L au s a n n e r »M o d e ll s«

und Rückkehrrecht als Handlungsmaxime. Trotzdem blieb die Vertreibung Hauptziel oder Begleiterscheinung mehrerer militärischer Konflikte in der Zeit des Kalten Krieges. Der arabisch-isrealische Sechs-Tage-Krieg verursachte eine weitere Flüchtlingswelle, von der . Palästinenser betroffen waren. Auch wenn der israelische Vertreibungsdruck dieses Mal nicht so stark wie  war, wurde Tel Aviv dafür stark kritisiert. Der Vorsitzende des Ministerrats der UdSSR, Alexej Nikolaevič Kosygin, warf etwa im Sicherheitsrat Israel vor, die Methoden Hitlers gegen die palästinensische Bevölkerung anzuwenden. Von Seiten des französischen Präsidenten Charles de Gaulle wurde zudem ein Rückkehrrecht für die Flüchtlinge gefordert. Eine Massenvertreibung fand auch im Zuge der türkischen Invasion auf Zypern im Juli  statt. Der nördliche Teil der Insel wurde von seinem griechischen Bevölkerungsanteil nahezu komplett gesäubert, der unter dem Druck türkischer Gewaltanwendung oder Gewaltandrohung die Flucht in den Süden ergriff. Am . November  verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen Resolution  (XXIX) mit der darin enthaltenen Aufforderung, »dass alle Flüchtlinge in ihre Heimatorte in Sicherheit zurückkehren und dass die involvierten Parteien alle dringenden Maßnahmen in diese Richtung treffen sollen«. Diese Resolution wurde am . Dezember  vom Sicherheitsrat angenommen, der ihre unverzügliche Implementierung von den am Konflikt beteiligten Parteien verlangte. Die Aufrufe der internationalen Staatengemeinschaft blieben allerdings ergebnislos. Erste Ansätze der Ahndung ethnischer Säuberungen bewirkten keine wesentliche Veränderung in der politischen und militärischen Praxis von Staaten und Gruppen, die das Ziel der ethonationalen Homogenität oder der religiösen Purifikation verfolgten. Wie im fünften Kapitel zu den postjugoslawischen Kriegen gezeigt wird, war es erneut ein Konflikt in Südosteuropa, durch den die entscheidende Kehrtwende eintrat. Im sogenannten Dayton-Abkommen zu Bosnien und Herzegowina wurde  den durch die bosnisch-serbischen Streitkräfte vertriebenen Muslimen das Recht der Rückkehr in ihre Heimatorte ausdrücklich eingeräumt. Als Quintessenz des Perspektivenwechsels kann dann das  verabschiedete Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal Court – ICC) gelten, in dem die »erzwungene, völkerrechtlich unzulässige Verbringung der betroffenen Personen durch Ausweisung oder andere Zwangsmaßnahmen aus dem Gebiet, in dem sie sich rechtmäßig aufhalten«, als Tatbestandsmerkmal eines »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« kriminalisiert

 Ebd.  De Zayas, Alfred M.: Ethnic Cleansing. Applicable Norms, Emerging Jurisprudence, Implementable Remedies. In: International Humanitarian Law: Origins, Challenges, Prospects. Bd. : Origins. Hg. v. John Carey, William v. Dunlap und R. John Pritchard. Ardsley , -, hier .  Troebst, Stefan/Wildt, Michael: Vorwort. In: Comparativ  () , -, hier .

287

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

wurden. Damit war das Kapitel, das mit der Konvention von Lausanne  aufgeschlagen worden war, endgültig abgeschlossen – zumindest in völkerrechtlicher Hinsicht. Zwischenbilanz

Im Zentrum dieses Kapitels stand die Einbettung der Lausanner Konvention sowohl in den südosteuropäischen als auch den internationalen Kontext. Die diplomatische Entstehungsgeschichte des Abkommens wie auch die Vorgeschichte anderer ähnlicher Abkommen zwischen südosteuropäischen Staaten belegen, dass der erste zwischenstaatliche Vertrag der modernen Geschichte zu einem obligatorischen Bevölkerungsaustausch die Handschrift eines regionalen Akteurs trug. In vielen Darstellungen wird irrtümlicherweise auf die »britische Führung« hingewiesen, unter der »Türken und Griechen zur Zustimmung zu einem Abkommen über einen Bevölkerungsaustausch in Form der Lausanner Konvention von « genötigt worden seien. Zu wenig wurde in der bisherigen internationalen Forschung die ausschlaggebende Rolle von Eleftherios Venizelos beim Zustandekommen sowohl des Lausanner Abkommens als auch auch vorangegangener ähnlicher Verträge berücksichtigt. Eine erwähnenswerte Ausnahme ist die unlängst erschienene Studie von Matthew Frank, in der diese Rolle entsprechend ihrer tatsächlich sehr großen Bedeutung hervorgehoben und analysiert wird: By the time Lichtenstädter und Montandon had published their wartime treatises on population transfer, the concept had already exited the realm of fantasy. But for these »fantasies of ethnic unmixing« to become realities, they required a champion who would make the state policy. That figure came in the form of the Cretan liberator and nation builder, Eleftherios Venizelos. Although not the first to propose wholesale transfer as a solution to minority problems in the Balkans, Venizelos […] became the first statesman to champion the idea. […] As the »inspiration« behind the Greco-Bulgarian Convention Respecting Emigration signed at Neuilly-sur-Seine in November , Venizelos, who was also on record as advocating »a wholesale and mutual transfer of population« as the »only cure« for Greco-Turkish minority problems, more than any other statesman before the late s, was associated with population transfer; it was, in the words of one British official who knew him well, his »pet scheme«. The role of Venizelos in the early history of population transfer is crucial not only for understanding how and under what circum Rome Statute of the ICC, o. D. In: International Criminal Court: Resource library. Core ICC texts, https://www.icc-cpi.int/resource-library/Documents/RS-Eng.pdf (letzter Zugriff: ..).  Naimark, Zwangsmigration (wie Anm. ), .

288

Zw i s c h e n b ila nz

stances it was applied but also the direction and shape into which the concept subsequently developed. […] In helping shape the political identity of population transfer, he was the first of a series of international statesmen of the first rank who through close association with the measure brought to it a legitimacy that in turn normalized it. Venizelos, in other words, made the measure seem a little less »crazy«. Venizelos, war, wie auch Edvard Beneš, der ebenso das Konzept des Bevölkerungstransfers als konfliktmindernde Maßnahme vertrat, ein Politiker, der es als Repräsentant eines kleineren Staates vermochte, auf das europäische Geschehen Einfluss zu nehmen. In der Person von Venizelos und seines Mitstreiters, des griechischen Politikers und Völkerrechtsexperten Nikolaos Politis, tritt Südosteuropa als Gestalter neuer internationaler Staatspraktiken und völkerrechtlicher Regularien in den Mittelpunkt der Erzählung. Die irrtümliche Annahme, die Lausanner Konvention sei Griechen und Türken von den Großmächten diktiert worden, hatte in vielen Studien eine Perspektive verschuldet, in der die aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches hervorgegangenen südosteuropäischen Staaten als Spielball der Großmächte, insbesondere der Briten, präsentiert wurden. In diesem Kapitel wurde diesbezüglich eine Korrektur vorgenommen. Andererseits sollte hier nicht unerwähnt bleiben, dass Venizelos sein Anliegen nur deshalb durchsetzen konnte, weil sich dieses mit den politischen Interessen der Großmächte, vor allem Großbritanniens, deckte. Was die Einbettung der Lausanner Konvention und der südosteuropäischen Vorläuferabkommen in den internationalen Kontext betrifft, konnte in diesem Kapitel erstmals das tatsächliche Ausmaß des Einflusses der ursprünglich in Südosteuropa angewandten Maßnahme des Bevölkerungsaustausches auf globaler Ebene aufgezeigt werden. Dieses reichte geographisch von Ostmitteleuropa über Palästina bis hin zum indischen Subkontinent und chronologisch von den er bis zu den er Jahren. Das Lausanner »Modell« wurde in den hier besprochenen Fällen sowohl zur Legitimierung des Prinzips der Transfers von Minderheitenbevölkerungen wie auch als »Handreichung« bzw. als Vergleichsfolie zur praktischen Umsetzung von Bevölkerungstransfers herangezogen. Bemerkenswerterweise gehörten die Verfechter der Lösung ethnonationaler Konflikte nach dem Lausanner »Modell« unterschiedlichsten politischen Couleurs und mitunter auch verfeindeten Lagern an. Davon inspirieren ließen sich nicht nur Adolf Hitler und seine Verbündeten, sondern auch Edvard Beneš, Winston Churchill und die Jewish Agency. Auf einen zweiten Blick lassen sich sogar interessante Querverbindungen rekonstruieren. So hatte etwa Beneš, der ein Bewunderer der Politik Venizelos’ war und während der Zwischenkriegszeit gemeinsam mit Politis an der Entstehung des sogenannten Genfer Protokolls von 

 Frank, Making (wie Anm. , Kap. ), .

289

D i e Ko nve n tio n vo n L au s a n n e (192 3 )

maßgeblich beteiligt war, auf die britische Regierung stark eingewirkt, sodass diese einen umfassenden Bevölkerungstransfer von Minderheiten in Ostmitteleuropa für die Nachkriegszeit in Erwägung zog. Während des Zweiten Weltkriegs besuchte der tschechoslowakische Politiker aber auch Moskau und warb wiederum im Auftrag der Jewish Agency für die Schaffung eines jüdischen Staates und einen freiwilligen Bevölkerungstransfer in Palästina.

 Ziegenhofer, Anita: Botschafter Europas: Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger- und dreißiger Jahren. Wien [u. a.] , ; Winter/Prost, René Cassin, .  Hahn, Eva/Hahn, Hans Henning: Die Vertreibung im deutschen Erinnern: Legenden, Mythos, Geschichte. Paderborn [u. a.] , .  Bachmann, Wiebke: Die UdSSR und der Nahe Osten: Zionismus, ägyptischer Antikolonialismus und sowjetischen Außenpolitik bis . München , .

290

4. Südosteuropäisches Konfliktgeschehen : Der lange Schatten des Attentats von Marseille (1934) Vorbemerkung

Wie bereits in der Einleitung und in den zwei vorangegangenen Kapiteln ausführlich geschildert, handelt es sich bei der Zwischenkriegszeit um eine Periode, in der nach dem Ersten Weltkrieg und im Zuge der zunehmenden, sich vertiefenden politischen und ökonomischen weltweiten Verflechtung die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen vor allem durch die Gründung des Völkerbunds und durch den starken Kodifizierungsschub völkerrechtlicher Normen ihren »ersten Höhepunkt« erreichte. Im Mittelpunkt dieser Entwicklung stand die Schaffung einer internationalen Ordnungs der Friedenssicherung. Die Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft mittels Völkerrecht, ein globales System der kollektiven Sicherheit nach der traumatischen Erfahrung des »Großen Krieges« als vorherrschendes Handlungsmuster in der internationalen Politik zu etablieren, wurden wiederholt durch kleinere oder größere Konflikte in Südosteuropa gefährdet. Auf der anderen Seite waren es ausgerechnet diese für den auf dem System des Völkerbunds basierenden Weltfrieden der Zwischenkriegszeit bedrohlichen südosteuropäischen Klein- und Großkrisen, welche die Mitgliedsstaaten der ersten globalen internationalen Organisation herausforderten, neue Völkerrechtsnormen zu entwickeln. Am Beispiel der intensiven Bemühungen des Völkerbunds in den er Jahren, erstmals in der modernen Geschichte den völkerrechtlichen Tatbestand des Terrorismus zu definieren und als internationales Verbrechen zu kriminalisieren sowie ein gemeinsames Vorgehen der Weltgemeinschaft dagegen zu koordinieren, wird gut erkennbar, wie südosteuropäische Konflikte in einem Zeitalter der neuen globalen Ordnung und der neuen Herausforderungen für den Weltfrieden nach dem Ersten Weltkrieg die Entwicklung des Völkerrechts geprägt haben. Insbesondere wird in diesem Kapitel der Frage nachgegangen, welche Bedeutung das Attentat auf den jugoslawischen König Aleksandar I. Karađorđević  in Marseille für den Entstehungsprozess eines ganz neuen Rechtsgebiets, des Völkerstrafrechts, hatte. Wie angedeutet, stellt die Bekämpfung des Terrorismus auf internationaler Ebene in der Zwischenkriegszeit anlässlich eines in der Konfliktgeschichte Südosteuropas begründeten Attentats nur einen Teilaspekt der größeren Entwicklungsgeschichte völkerstrafrechtlicher Normen und einer völkerstrafrechtlichen Gerichtsbarkeit dar, die bis in die zweite Hälfte des . Jahrhunderts zurückverfolgt werden kann. Vor allem aufgrund der rechtlichen Besonderheit des Völker Kiessling, Macht (wie Anm. , Kap. ), -.

291

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

rechtsverbrechens, das in der individuellen (und nicht staatlichen) strafrechtlichen Verantwortung gründet und das Durchbrechen der staatlichen Souveränität voraussetzt, war der Prozess der Herausbildung eines universell durchsetzbaren Strafrechts noch langwieriger und schwieriger als auf anderen Gebieten des Völkerrechts. Während die Geschichte der Normsetzung im Bereich des humanitären Völkerrechts seit den er Jahren einen ziemlich geradlinigen Verlauf nahm, »ist die Geschichte der völkerstrafrechtlichen Gerichtsbarkeit über weite Strecken gerade keine Erfolgsgeschichte, sondern eine Geschichte immer neuer Anläufe zu ihrer Durchsetzung – und immer neuer Hindernisse, die dieser Verwirklichung von unterschiedlichen Akteuren in den Weg gelegt wurden«. Zur Vorgeschichte: Der Rumäne Vespasian Pella in der Vorreiterrolle

Die Idee der strafrechtlichen Ahndung von Kriegsverbrechen und anderen Verstößen gegen das Völkerrecht durch die Fortentwicklung des humanitären Völkerrechts (Kriegsvölkerrecht), die Durchsetzung und Etablierung völkerstrafrechtlicher Normen sowie die Schaffung eines internationalen Strafgerichts gehen bis in die er Jahre zurück. Insbesondere die Frage der Errichtung eines internationalen Strafgerichts stand wiederholt im Mittelpunkt der juristischen Debatten über eine völkerstrafrechtliche Normsetzung. Die zahlreichen Verletzungen der  verabschiedeten Genfer Konvention (zur Verbesserung des Loses der verwundeten Soldaten der Armeen im Felde) während des Deutsch-Französischen Krieges von / veranlassten Juristen aus dem Umfeld des kosmopolitischen Humanitarismus dazu, erste Überlegungen und Vorschläge bezüglich Sanktionen bei Verstößen gegen das Kriegsrecht anzustellen und zu forrmulieren. Gustave Rolin-Jaequemyns, der belgische Jurist und spätere Präsident des Institut de Droit International, veröffentlichte  in der Revue de droit international et de législation comparée einen fast hundertseitigen Aufsatz, in dem er angesichts der völkerrechtswidrigen Kriegsführung Deutscher und Franzosen für eine Revision der Genfer Konvention plädierte, wobei er insbesondere eine stärkere Verbindlichkeit für die Kombattanten gegenüber dem Kriegsrecht einforderte. In diesem Zusammenhang erkundete Rolin-Jaequemyns auch die Möglichkeit der Schaffung eines internationalen Tribunals oder einer internationalen Untersuchungskommission zur Überprüfung von Verstößen gegen das ius in bello. Nur ein paar  Conze, Eckart: Völkerstrafrecht und Völkerstrafrechtspolitik. In: Dülffer/Loth, Dimensionen (wie Anm. , Kap. ), -, hier -.  Ebd., .  Siehe dazu ausführlicher Kapitel  der vorliegenden Studie.  Rolin-Jaequemyns, Gustave: Essai complémentaire sur la Guerre Franco-Allemande dans ses rapports avec le droit international. In: Revue de droit international et de législation comparée () , -, -, zit. n. Segesser, Recht (wie Anm. , Einleitung),  f.

292

D e r Ru m ä n e Ve s p a s ia n P e lla in d e r Vo r re i te r ro ll e

Monate später, im Januar , meldete sich der Schweizer Jurist und Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), Gustave Moynier, zu Wort, der in einem Beitrag für das Bulletin international des Sociétés de Secours aux Militaires Blessés ebenso die Gründung eines internationalen Tribunals vorschlug, insbesondere in Anbetracht der Genfer Konvention, eines kodifizierten Regelwerks, das von mehreren Staaten unterzeichnet und ratifiziert wordem war. Der Gerichtshof sollte sich laut Moynier aus insgesamt fünf Richtern zusammensetzen, wobei zwei davon durch die beiden Kriegsparteien ernannt und die anderen drei aus neutralen Staaten durch ein Losverfahren berufen werden sollten. Das Gericht würde im Fall eines zu untersuchenden Verstoßes gegen die Genfer Konvention nicht eigenmächtig handeln, sondern nur, wenn die Regierung eines betroffenen Staates es zur Beurteilung einer rechtlichen Situation anrufen würde. Sollte eine Person für schuldig befunden werden, dann wäre für die Vollstreckung des Urteils jener Staat verantwortlich, in dessen Gewahrsam sich die verurteilte Person befände. Bei zivilrechtlichen Schadenersatzansprüchen würden nicht die verantwortlichen Individuen, sondern der Heimatstaat dieser Personen zur Rechenschaft gezogen. Der Zuständigkeitsbereich des Tribunals sollte sich Moynier zufolge zunächst lediglich auf Verletzungen der Genfer Konvention beschränken. Zu einem späteren Zeitpunkt könnte eine Ausweitung des Verfahrens auf andere Gebiete des Kriegsrechts in Erwägung gezogen werden. Den Anstoß zu diesem Vorschlag gaben zwei Ereignisse. Zum einen wurde Moynier Empfänger zahlreicher Klagen von Vertretern nationaler Rotkreuzgesellschaften, die die Genfer Konvention mit Verweis auf den DeutschFranzösischen Krieg als sinnlos kritisierten. Zum anderen übte der Fall Alabama, zu dem ein Schiedstribunal zwischen Dezember  und Juni  in Genf tagte, einen starken Einfluss auf Moynier aus. Er und viele andere sahen in  Moynier, Gustave: Note sur la création d’une institution judiciaire internationale propre a prévenir et à réprimer les infractions a la Convention de Genève. In: Bulletin international des Sociétés de Secours aux Militaires Blessés () , -. Siehe auch Maogoto, Jackson: Early Efforts to Establish an International Criminal Court. In: The Legal Regime of the International Criminal Court. Essays in Honour of Professor Igor Blishchenko. Hg. v. José Doria, Hans-Peter Gasser und M. Cherif Bassiouni. Leiden , -, hier ; Wahl, Susen: Osteuropa und die Zusammenarbeit mit Internationalen Strafgerichtshöfen. Ausgewählte Länder. Berlin , .  Während des Amerikanischen Bürgerkriegs setzten die Konföderierten Südstaaten Kriegsschiffe ein, welche die Handelsmarine der Unionsstaaten angriffen. Washington forderte London auf, britischen Werften die Produktion von Kriegsschiffen im Auftrag der Konföderation zu verbieten. Die USA beschuldigten  die britische Regierung, die Neutralität verletzt zu haben, weil sie die Herstellung von fünf Kriegsschiffen, darunter auch das des Kaperschiffs »Alabama«, und deren Auslieferung an die Südstaaten nicht verhindert habe. Washington stellte zudem an Großbritannien Reparationsforderungen in Milliardenhöhe für den von den Kaperschiffen an ihrer Handelsmarine angerichteten Schaden sowie für den »indirekten Schaden« der Verlängerung des Bürgerkriegs. Alle Forderungen wurden von den Briten abgelehnt. Angesichts der akuten

293

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

dieser Entwicklung ein ermutigendes Zeichen dafür, dass das ius ad bellum, also das Recht, einen Krieg zu führen, durch die zunehmende Verrechtlichung der internationalen Beziehungen und kodifizierte Verfahren der friedlichen Streitbeilegung, wie etwa Schiedsgerichtsbarkeit, Mediation und Untersuchungskommissionen, eine gewisse Einschränkung erfahren würde. Zur Signalwirkung des Falles Alabama merkt der US-amerikanische Völkerrechtler Mark W. Janis an, dass »der eventuelle Erfolg der Arbitration im Fall Alabama ein starkes Zeichen setzte, sodass es für Großmächte möglich war, ihre Dispute zu schlichten und hierbei Krieg zu vermeiden«. »Erst durch diesen Fall«, so auch der deutschamerikanische Jurist und Politologe Ernst Fraenkel, »wurde eine breite Öffentlichkeit auf die Möglichkeit und die Bedeutung aufmerksam, die die Schiedsgerichtsbarkeit in sich trägt.« Moynier ging dabei einen Schritt weiter als die meisten anderen und nahm den Fall Alabama als Beweis dafür, dass nicht nur internationale Arbitration, sondern in bestimmten Fällen auch ein internationaler Gerichtshof zur Beurteilung einer rechtlichen Situation sinnvoll sei. Der Schweizer Jurist griff somit die Idee der Gründung eines internationalen Tribunals auf, die Gustave Rolin-Jaequemyns im besagten Aufsatz von  in der Revue de droit international et de législation comparée vorgestellt hatte. Zwar lässt Moynier in seiner programmatischen Schrift diesen Aufsatz unerwähnt, dennoch steht außer Frage, dass er ihn kannte, hatte er doch diesen selbst im Bulletin international des Sociétés besprochen.

 

 

Kriegsgefahr, die aufgrund der Differenzen bestand, einigten sich die beiden Streitparteien im Februar , den Konflikt vor ein internationales Schiedsgericht zu bringen, das aus drei neutralen Schlichtern und jeweils einem aus Großbritannien und den USA bestand. Das Urteil, das vom britischen Schlichter nicht unterzeichnet wurde, gab den USA in ihrer Grundposition recht, nämlich, dass Großbritannien gegen die Regeln der Neutralität verstoßen habe. Demzufolge wurde London auferlegt, hohe Reparationen zu leisten. Die Klage wegen »indirekter Schuld« wurde wiederum als unzulässig abgewiesen. Siehe Roelofsen, Cornelis G.: International Arbitration and Courts. In: Fassbender/Peters, The Oxford Handbook (wie Anm. , Kap. ), -, hier ; Cassese, Antonio: States: Rise and Decline of the Primary Subjects of the International Community. In: ebd., -, hier ; O’ Connell, Mary Ellen: Peace and War. In: ebd., -, hier ; Janis, Mark W.: North America: American Exceptionalism in International Law. In: ebd., -, hier . Janis, North America (wie Anm. ). Fraenkel, Ernst: Internationale Gerichts- und Schiedsbarkeit. In: Völkerrecht und Internationale Beziehungen. Hg. v. Günther Docker-Mach und Thomas Plümper, München , -, hier , zit. n. Justenhoven, Heinz-Gerhard: Internationale Schiedsgerichtsbarkeit: ethische Norm und Rechtswirklichkeit. Stuttgart , . Moynier, Note sur la création d’une institution judiciaire internationale (wie Anm. ), -. Moynier, Gustave: La guerre actuelle dans ses rapports avec le droit international, par G. Rolin-Jaequemyns. In: Bulletin international des Sociétés de secours aux militaires blessés () , -, zit. n. Segesser, Recht (wie Anm. , Einleitung), .

294

D e r Ru m ä n e Ve s p a s ia n P e lla in d e r Vo r re i te r ro ll e

Der Vorschlag Moyniers zur Gründung eines internationalen Gerichts, den der Präsident des IKRK per Rundschreiben an die nationalen Rotkreuzgesellschaften und an die Regierungen europäischer Staaten kommunizierte, fand wenig Beachtung und noch geringere Unterstützung. Einzig und allein die spanische Rotkreuzgesellschaft reagierte mit einer Unterstützungserklärung darauf, in der aber auch Vorbehalte hinsichtlich der Realisierbarkeit des Projekts geäußert wurden. Von Seiten der Politik war es nur die italienische Regierung, die ihre Unterstützung in Aussicht stellte. Selbst aus dem Kreis seiner Kollegen, die, wie Moynier, an der Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts arbeiteten, war mehr Kritik als Beifall zu vernehmen. Mit Ausnahme des Franzosen Achille Morin, der nahezu keine Einwände gegen Moyniers Vorschlag vorbrachte, zeigten sich alle anderen, die sich zu Wort meldeten, in mehrerlei Hinsicht skeptisch. Der deutsch-amerikanische Jurist Francis Lieber z. B. hielt eine Zusammenarbeit der Staaten zur Durchsetzung von Urteilen des internationalen Tribunals für unwahrscheinlich und empfahl Moynier dementsprechend, andere Möglichkeiten der Ahndung von Verstößen gegen das ius in bello auszuarbeiten. Auch die deutschen Völkerrechtler Carl Lueder und Heinrich Triepel zweifelten an der Umsetzbarkeit des Vorschlags von Moynier, da die Staaten nicht bereit wären, die strafrechtliche Verfolgung der eigenen Staatsbürger einem fremden Gericht zu überlassen. Nicht zuletzt war Rolin-Jaequemyns, der, wie gesagt, noch vor Moynier die Schaffung eines internationalen Tribunals in Erwägung gezogen hatte, sich nicht sicher, inwiefern der Vorschlag seines Mitstreiters praktikabel sei. Angesichts seiner Zweifel hielt er es für angebrachter, statt der Gründung eines Gerichtshofs mit strafrechtlichen Kompetenzen die Errichtung einer internationalen Untersuchungskommission zu unterstützen. Damit war er einer Meinung mit dem deutschen Strafrechtler Franz von Holtzendorff, der in einem Brief an Moynier denselben Gegenvorschlag, nämlich die

 Maogoto, Early Efforts (wie Anm. ), .  Brief von Francis Lieber an Guillaume-Henri Dufour vom . April , abgedruckt in französischer Übersetzung in: Rolin-Jaequemyns, Gustave: Note sur le projet de M. Moynier, relatif à l’etablissement d’une institution judiciaire internationale, protectrice de la Convention, avec lettres de MM. Lieber, Ach. Morin, de Holtzendorff et Westlake. In: Revue de droit internationale et de législation comparée () , -, hier  f., zit. n. Segesser, Recht (wie Anm. , Einleitung),  f.  Lueder, Carl: Die Genfer Konvention: Historisch und kritisch-dogmatisch mit Vorschlägen zu ihrer Verbesserung, unter Darlegung und Prüfung der mit ihr gemachten Erfahrungen und unter Benutzung der amtlichen, teilweise ungedruckten Quellen. Erlangen , -; Triepel, Heinrich: Die neuesten Fortschritte auf dem Gebiete des Kriegsrechts. In: Zeitschrift für Literatur und Geschichte der Staatswissenschaft () , -, -, -, zit. n. Segesser, Recht (wie Anm. , Einleitung), .  Rolin-Jaequemyns, Note sur le projet de M. Moynier (wie Anm. ), -, zit. n. ebd., .

295

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

Schaffung einer internationalen Untersuchungskommission ohne richterliche Kompetenzen, unterbreitet hatte. Moynier zeigte sich gegenüber der Kritik seiner Kollegen einsichtig, indem er anerkannte, dass die völkerrechtliche Grundlage noch stark ausgebaut werden müsse, ehe die Gründung eines Straftribunals stattfinden könne. Dementsprechend gab er dieses ambitionierte Vorhaben auf und konzentrierte sich seitdem auf die Schaffung einer internationalen Untersuchungskommission. Mit der Unterstützung renommierter Rechtswissenschaftler, wie etwa Johann Caspar Bluntschli, Jacobus Catharinus, Cornelis den Beer Poortugael und Fëdor Fëdorovič Martens, gelang Moynier  ein kleiner Durchbruch. Der Präsident des IKRK konnte auf der Tagung des Institut de Droit International in Oxford durchsetzen, dass im dritten und letzten Teil des »Oxford Manual«, einem praktischen Regelwerk im Bereich des ius in bello, die Ahndung von Verstößen gegen das Kriegsrecht einbezogen wurde. In der Präambel von Teil drei hieß es: »If any of the foregoing rules be violated, the offending parties should be punished, after a judicial hearing, by the belligerent in whose hands they are.« Im darauffolgenden Art.  wurde dann festgelegt, dass »offenders against the laws of war are liable to the punishments specified in the penal law«. Allerdings wurde dem Regelwerk von den Staaten im Allgemeinen mit großer Skepsis begegnet, sodass auch die darin enthaltenen völkerstrafrechtlichen Bestimmungen auf wenig Begeisterung stießen. Einen weiteren Vorstoß unternahm Moynier  mit einem Vorschlag zur Schaffung einer internationalen Untersuchungskommission für Verletzungen der Genfer Konvention, wobei er sich auch auf Rolin-Jaequemyns und Holtzendorff berief. Wie in seinem Konzept für den internationalen Strafgerichtshof beschränkte sich im neuen Entwurf Moyniers das Mandat der Untersuchungskommission zunächst nur auf die Genfer Konvention von ; dieses hätte dann später auf Verstöße gegen weitere kriegsrechtliche Bestimmungen ausgeweitet werden können. Um den Staaten weiter entgegenzukommen, sodass diese den Vorschlag nicht a priori ablehnten, beschränkte Moynier den Zuständigkeitsbereich der Untersuchungskommission ausschließlich auf die Dokumentation von Verstößen gegen das Kriegsrecht und die Beweisführung,  Brief von Franz von Holtzendorff an Gustave Moynier vom . Februar , abgedruckt in französischer Übersetzung in Rolin-Jaequemyns: Note sur le projet de M. Moynier (wie Anm. ), -, zit. n. ebd.  Segesser, Daniel Marc: On the Road to Total Retribution? The International Debate on the Punishment of War Crimes, -. In: A World at Total War. Global Conflict and the Politics of Destruction, -. Hg. v. Roger Chickering, Stig Förster und Bernd Greiner. Cambridge , -, hier .  The Laws of War on Land. Oxford, . September . In: The Laws of Armed Conflicts. A Collection of Conventions, Resolutions and Other Documents. . Aufl. Hg. v. Dietrich Schindler und Jiři Toman. Genf , -, hier .  Ebd., .  Segesser, Recht (wie Anm. , Einleitung), .

296

D e r Ru m ä n e Ve s p a s ia n P e lla in d e r Vo r re i te r ro ll e

während die strafrechtliche Verantwortung bei jenem Staat liegen sollte, dessen Staatsbürger die Angeklagten sein würden. Das Institut de Droit International setzte eine Kommission bestehend aus namhaften Juristen zur Untersuchung dieses neuen Vorschlags Moyniers ein, die ihn letztlich mit der Begründung verwarf, er schränke die Handlungsfreiheit der einzelnen Staaten ein. Die Errichtung einer Untersuchungskommission sollte als Möglichkeit vorgesehen sein, aber keineswegs einen zwingenden Charakter haben. Letztendlich waren es vor allem die Unantastbarkeit der staatlichen Souveränität und der große Einfluss der Militärs in den einzelnen Staaten, an denen die Verfechter der völkerstrafrechtlichen Normbildung und Gerichtsbarkeit im . Jahrhundert immer wieder scheiterten. Durch die Balkankriege von / und den Ersten Weltkrieg erhielt das Vorhaben zur Durchsetzung völkerstrafrechtlicher Normen und Verfahren einen neuen Schub. Schon vor der Gründung des Völkerbunds, anlässlich der Pariser Vorfriedenskonferenz, war eine internationale Kommission zur Untersuchung der Kriegsursachen sowie der Möglichkeiten der strafrechtlichen Verfolgung der Verantwortlichen für den Kriegsausbruch und die Verletzung der Gesetze und Gebräuche des Krieges ins Leben gerufen worden. Die sogenannte Kommission der Fünfzehn bestand aus je zwei Vertretern der USA, Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und Japans und je einem Vertreter Belgiens, Griechenlands, Polens, Rumäniens und Serbiens. Sie waren entweder angesehene Juristen (Fernand Larnaude, James Brown Scott, Edouard Gustave Marie Rolin-Jaequemyns) oder Politiker (André Tardieu, William Massey). Einige der Kommissionsmitglieder waren Juristen, die zu diesem Zeitpunkt auch ein politisches Mandat innehatten. Dies galt etwa für den US-amerikanischen Außenminister Robert Lansing ebenso wie für seinen griechischen Kollegen Nikolaos Politis und den britischen Kronanwalt Ernest Pollock (. Viscount Hanworth). Zu den Aufgaben der Kommission gehörte u. a. die Erstellung eines Katalogs von Kriegsverbrechen, für die eine Anklage erhoben werden konnte. In diesem Zusammenhang empfahl die Kommission in ihrem Mehrheitsbericht auch die Gründung eines Internationalen Strafgerichtshofs zur Ahndung von Verstößen gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges. Da diese Empfehlung von Seiten der Staatengemeinschaft unberücksichtigt blieb, fiel im Versailler Friedensvertrag die Ahndung von Kriegsverbrechen unter den Zuständigkeitsbereich nationaler oder alliierter Gerichte. Kurz nach Gründung des Völkerbunds wurde vom Völkerbundsrat eine Juristenkommission ins Leben gerufen, um einen Entwurf für den Ständigen Internationalen Gerichtshof (Permanent Court of International Justice – PCIJ) auszuarbeiten. Wie in Kapitel  bereits dargestellt, war die Schaffung des PCIJ durch die Satzung des Völkerbunds vorgeschrieben. Die Besetzung der Kommission  Ebd.,  f.; Segesser, On the Road (wie Anm. ),  f.  Lewis, The Birth (wie Anm. , Einleitung), -.

297

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

stellte in gewisser Hinsicht eine Schnittstelle zwischen Rechtswissenschaft und Politik dar. Ihr gehörten z. B. der Völkerrechtsprofessor und ehemalige belgische Staatsminister Baron Édouard Descamps sowie Elihu Root, früherer US-amerikanischer Außenminister, erster Präsident des Carnegie Endowment for International Peace und Friedensnobelpreisträger von , an. Weitere Mitglieder kamen aus Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien, den Niederlanden, Schweden, Norwegen, Japan und Brasilien. Nicht wenige von ihnen waren an den beiden Haager Friedenskonferenzen von  und  beteiligt gewesen. Insgesamt hielt die Kommission vom . Juni bis zum . Juli   Sitzungen ab. Bei den Beratungen zum Gründungsentwurf für einen PCIJ diskutierten die Mitglieder der Juristenkommission erneut die Möglichkeit, den neuen Gerichtshof auch mit strafrechtlichen Kompetenzen auszustatten – auch wenn sich dies, wie der belgische Vertreter Descamps zugab, nicht »im engeren Rahmen des Auftrags des Völkerbundsrats an die Kommission beweg[t]e«. Trotzdem war es der ehemalige belgische Staatsminister, der am zweiten Sitzungstag einen Plan für ein dreiteiliges internationales Rechtssystem vorlegte, das nicht nur aus dem geplanten PCIJ, sondern auch aus einem Ständigen Schiedsgerichtshof und einem internationalen Strafgerichtshof, dem »High Court of International Justice«, bestehen würde. Der internationale Strafgerichtshof sollte nur dann tagen, wenn ihn entweder der Völkerbundsrat oder die Versammlung des Völkerbunds zur Untersuchung eines Falles einberufen würden. Das Gericht sollte »über die notwendige Kompetenz verfügen, einen kriminellen Tatbestand zu definieren, eine Strafe aufzuerlegen und die entsprechenden Mittel zur Ausführung der Strafe je nach Situation zu bestimmen«. Laut Descamps sollte es für zwei Kategorien von Verbrechen zuständig sein: für Verstöße gegen die internationale Ordnung und Verletzungen des universellen Völkerrechts. Als Beispiele dafür führte er Verbrechen gegen die Sicherheit von Staaten, wie etwa Piraterie auf hoher See, die Verletzung neutralen Territoriums während eines Krieges und Angriffe auf Institutionen wie den Völkerbund und seine Vertreter durch »Sowjetisten« (Sovietists) an. Das letzte Beispiel lässt darauf schließen, dass Descamps den politischen Terrorismus auf internationaler Ebene bekämpfen wollte, höchstwahrscheinlich stark beeinflusst von den Nachrichten über den bolschewistischen Terror im russischen Bürgerkrieg sowie von mehreren Attentaten, die seit dem . Jahrhundert gegen Staatsmänner und -frauen verübt worden waren. Vor allem das jüngste Attentat auf den französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau, das der militante Anarchist Émile Cottin am . Februar  verübte und bei dem Clemenceau durch einen von mehreren abgefeuerten  Advisory Committee of Jurists – Permanent Court of International Justice: ProcèsVerbaux of the Proceedings of the Committee, June th–July th,  with Annexes. Den Haag ,   Lewis, The Birth (wie Anm. , Einleitung), .  Advisory Committee of Jurists, Procès-Verbaux of the Proceedings (wie Anm. ), .  Ebd., .

298

D e r Ru m ä n e Ve s p a s ia n P e lla in d e r Vo r re i te r ro ll e

Schüssen verletzt wurde, dürfte eine wichtige Rolle bei den Überlegungen Descamps’ gespielt haben. Durch diesen Anschlag rückte das Phänomen des politisch und/oder ethnonational motivierten Terrorismus erneut in den Mittelpunkt des Interesses. Zum Opfer terroristischer Angriffe waren in den letzten Jahrzehnten bereits Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn (), der USamerikanische Präsident William McKinley (), der spanische Premierminister José Canalejas y Méndez (), der griechische König Georg I. () und andere politische Führungspersönlichkeiten gefallen. Diese Art des Verbrechens bezeichnete Descamps, wie gesagt, als »Angriffe gegen die internationale Ordnung« (»offences against the international order«). Unter der zweiten Kategorie der »Verbrechen gegen das universelle Völkerrecht« verstand er wiederum »solche Verbrechen, welche die gemeinsame Sicherheit aller Staaten beeinflussen« könnten. Auf Nachfrage seines britischen Kollegen Walter George Phillimore (st Baron Phillimore) erläuterte Descamps, dass es ihm dabei weniger um Verletzungen des in den Haager Landkriegsordnungen kodifizierten Kriegsrechts ginge und mehr um solche Verbrechen, deren Bekämpfung ein koordiniertes Vorgehen der Staatengemeinschaft verlange, wie etwa das Verbrechen der Piraterie. In seiner Erklärung für diesen völkerstrafrechtlichen Vorstoß, der, wie gesagt, über das Mandat des Völkerbundsrats an die beratende Juristenkommission vom . Februar  hinausging, betonte Descamps, »dass die Existenz von Verbrechen gegen das Völkerrecht grundsätzlich anerkannt sei«. Des Weiteren habe »die Geschichte gezeigt, dass diese Art von Verbrechen kein Mythos sei und dass nicht nur der angegriffene Staat, sondern alle Mitglieder des Völkerbunds von solchen Verbrechen betroffen sein könnten«. Während Descamps, der Franzose Albert Geouffre de Lapradelle, der Spanier Rafael Altamira, der Japaner Mineichirō Adachi und der Brasilianer Raul Fernandes die Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs grundsätzlich unterstützten, sprachen sich Francis Hagerup aus Norwegen, der Italiener Arturo Ricci-Busatti und Bernard Loder aus Holland dagegen aus, da aus ihrer Sicht diese Frage nicht in den Zuständigkeitsbereich der Juristen falle, sondern es sich dabei vornehmlich um eine politische Angelegenheit handeln würde. Im weiteren Verlauf bemängelte Ricci-Busatti, dass das von Descamps vorgelegte Konzept der »Verbrechen gegen das Völkerrecht« (»crimes against the law of nations«) undeutlich formuliert sei und das Grundprinzip ignoriere, dass Völkerrechtssubjekte Staaten, aber keine Individuen sein könnten. Zwischenpositionen nahmen der bereits erwähnte US-Amerikaner Root, sein Landsmann Jesse R. Reeves und der Brite Phillimore ein, der im Gegensatz zu Ricci-Busattis Position die Meinung vertrat, dass ein internationales Straftribunal über Indivi   

Ebd., . Ebd., . Ebd., -. Ebd., .

299

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

duen richten sollte, die das Kriegsrecht verletzt hätten, aber nicht befugt sein dürfte, eine strafrechtliche Verfolgung gegen Staaten aufzunehmen: »Furthermore there is no criterion for distinguishing between a criminal state and one which is not. A State which considers itself wronged will always consider that its adversary is a criminal and often, it will even go to war to punish it.« Die große Mehrheit der Mitglieder der Beratungskommission, auch jene Juristen, die der Gründung eines internationalen Strafgerichts grundsätzlich positiv gegenüberstanden, lehnte es ab, zu diesem Zeitpunkt ein Statut auf der Grundlage des Vorschlags von Descamps auszuarbeiten, zumal sich so ein Projekt außerhalb ihres Mandats bewegte. Allerdings erklärte man sich bereit, die Idee zukünftig wiederaufzunehmen, und in diesem Sinne plädierten auch mehrere Mitglieder der Beratungskommission für die Organisation einer großen internationalen Konferenz, auf der neben der Kodifizierung neuer Regeln des Kriegsrechts auch Entwürfe eines internationalen Strafrechts ausgearbeitet werden sollten. Ein Veto des Norwegers Hagerup, der ganz grundsätzlich gegen das Konzept von Descamps für die Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs die meisten Einwände erhob, verhinderte die Aufnahme dieses Vorschlags in den Abschlussbericht der beratenden Juristenkommission. Letztendlich stimmten die Kommissionsmitglieder einer Resolution zu, in welcher dem Völkerbund empfohlen wurde, einen internationalen Gerichtshof zu gründen, der auch über die Kompetenz verfügen sollte, »über Verbrechen zu urteilen, die eine Verletzung der internationalen öffentlichen Ordnung darstellen oder sich gegen das universelle Völkerrecht richten« würden. Sowohl der Völkerbundsrat als auch die Versammlung des Völkerbunds nahmen gegenüber dem Vorhaben der Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs eine äußerst reservierte Haltung ein. Dimitrios Kaklamanos, der griechische Delegierte im Völkerbundsrat, verfasste zum Vorschlag von Descamps einen Bericht, in dem er die weitere Behandlung des Themas durch internationale Vereinigungen von Juristen, wie etwa durch das Institut de Droit International, die International Law Association (ILA) oder die sich derzeit noch im Entstehungsprozess befindende Haager Académie de Droit International, empfahl, ohne aber inhaltlich ins Detail zu gehen. Auch in den Kommissionen der Versammlung des Völkerbunds stieß der Vorschlag von Descamps auf wenig Unterstützung. Bezeichnend dafür ist die Reaktion von Henri La Fontaine, des belgischen Sozialisten, Völkerrechtlers und Pazifisten, der in seiner Funktion als Berichterstatter für die Dritte Kommission den Plan seines Landsmanns als unrealisierbar bezeichnete, »da kein konkretes Konzept weder von internationalem    

Ebd., . Ebd., . Ebd., . League of Nations: The Records of the First Assembly. Meetings of Committees. Bd. . Genf , -, zit. n. Segesser, Recht (wie Anm. , Einleitung), .

300

D e r Ru m ä n e Ve s p a s ia n P e lla in d e r Vo r re i te r ro ll e

Verbrechen noch Völkerstrafrecht« existiere. Vor der Generalversammlung kritisierte er die Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs als »nutzlos« und vertrat die Position, dass »normale Strafgerichtshöfe« weiterhin so eingesetzt werden sollten, »wie es momentan Gewohnheit im internationalen Verfahren« sei. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass die Verfechter in der beratenden Juristenkommission eines internationalen Strafgerichtshofs aller Wahrscheinlichkeit nach unabhängig von ihren Herkunftsstaaten agierten. Während etwa Descamps, de Lapradelle und bis zu einem gewissen Punkt auch Phillimore das Projekt der Gründung eines internationalen Strafgerichtshofs vorantrieben, lehnten die Delegierten ihrer Herkunftsländer im Völkerbund, das heißt Belgiens, Frankreichs und Großbritanniens, ein solches Vorhaben als entweder »zu verfrüht« oder »nicht umsetzbar« ab. Mit Blick auf die spätere Entwicklung in der Frage der Gründung eines internationalen Straftribunals ist es wichtig festzuhalten, dass  auch der rumänische Vertreter Vespasian (Vespasien) Pella, der später wichtigste Vorreiter der Errichtung eines internationalen Strafgerichts, den Vorschlag von Descamps mit der Begründung verwarf, dass ohne einen bereits festgelegten Völkerstrafrechtskodex die Gefahr der willkürlichen Jurisdiktion von Seiten des neuen Gerichts bestünde. Nachdem Descamps mit seinem Vorstoß gescheitert war, übernahm Phillimore die Vorreiterrolle bei der Gründung eines internationalen Straftribunals. In einem Beitrag für das British Yearbook of International Law, der mit der Überschrift »An International Criminal Court« betitelt war, beklagte er , dass die Vorschläge der beratenden Juristenkommission zur Gründung eines internationalen Strafgerichtshofs von Völkerbundsrat und Versammlung des Völkerbunds ungenügend berücksichtigt würden. Im Weiteren wiederholte er seine schon in der Beratungskommission zum Ausdruck gebrachte Position, dass sich der Zuständigkeitsbereich des anvisierten Tribunals ausschließlich auf Verletzungen des Kriegsrechts beschränken sollte, während die Verantwortung für die Ahndung internationaler Verbrechen in Friedenszeiten bei den nationalen Gerichten bleiben sollte. Damit distanzierte er sich noch einmal deutlich von Descamps’ Vorschlag, der sich in seinen Ausführungen auf die völkerstrafrechtliche Verfolgung von Verbrechen gegen die internationale Ordnung und die allgemeine Sicherheit der Staatengemeinschaft bezog. Nahezu zeitgleich setzte Lord Phillimore die Frage der Gründung eines internationalen Strafgerichtshofs auf die Agenda der im August  in Buenos Aires ausgerichteten Tagung der ILA. Er tat dies anhand einer Stellungnahme, die sein Landsmann und Kollege Hugh Hale Bellot auf der Konferenz präsentierte. Überdies machte sich Bellot selbst für die Schaf Ebd.  The Report of Committee No. III on the Recommendations Presented by the Committee of Jurists at The Hague. In: League of Nations, Actes de la Première Assemblée. Séances des Commissions. I. Troisième Commission: Cour permanente de Justice Internationale, , zit. n. Lewis, The Birth (wie Anm. , Einleitung), .  Ebd., .

301

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

fung eines internationalen Strafgerichtshofs stark, die er in seinem Vortrag für absolut notwendig befand, da »es Militärs gebe, die für einen zukünftigen Krieg bereits Luftangriffe auf zivile Ziele planten, um Angst und Schrecken zu säen«. Sein Konzept war jenem von Phillimore sehr nahe, da Bellot ebenso dafür plädierte, das sich die Jurisdiktion des Straftribunals auf Verletzungen der anerkannten Regeln des ius in bello beschränken sollte. Die Vorschläge von Lord Phillimore und Bellot erfuhren vor allem bei den Vertretern der Militärjustiz Widerspruch. So lehnte etwa der britische Militärrichter Graham Bower die Gründung eines internationalen Straftribunals insofern als zwecklos ab, als sich aus seiner Sicht Militärgerichte bei der Ahndung von Verletzungen des ius in bello gut bewährt hätten. Trotzdem stimmte die Mehrheit der Tagungsteilnehmer für die Ausarbeitung eines Konzepts für einen internationalen Strafgerichtshof – allerdings unter der Voraussetzung, dass dieser ausschließlich für Verstöße gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges zuständig sein würde. Sehr schnell wandte man sich jedoch davon ab. In der darauffolgenden Tagung der ILA in Stockholm  setzten sich jene durch, die die Meinung vertraten, dass auch das Verbrechen des Angriffskriegs in den Zuständigkeitsbereich eines zukünftigen internationalen Strafgerichtshofs fallen sollte. Des Weiteren wurde auf derselben Tagung eine Expertenkommission zur Ausarbeitung des Konzepts einberufen. Art.  des von Bellot im August  in Wien vorgestellten Kommissionsentwurfs sah vor, dass der internationale Strafgerichtshof nicht nur Kriegsverbrechen, sondern auch Verstößen gegen internationale Verpflichtungen und Verträge nachgehen könnte: The jurisdiction of the Court embraces all complaints or charges of violation of the laws and customs generally accepted as binding or contained in International Conventions or in Treaties in force between States of which the  Bellot, Hugh H.: A Permanent International Criminal Court. In: Report of the ThirtyFirst Conference (Buenos Aires th August–th August ). Hg. v. International Law Association. London , -, hier -, -, zit. n. Segesser, Recht (wie Anm. , Einleitung),  f. Bellot formulierte sein Anliegen mit großem Nachdruck, indem er von »der dringlichen Notwendigkeit der Errichtung eines Ständigen Internationalen Strafgerichtshofs oder eines Ständigen Internationalen Hohen Gerichts« sprach. Bellot, A Permanent International Criminal Court, , zit. n. El Zeidy, Mohamed M.: The Principle of Complementarity in International Criminal Law: Origin, Development and Practice. Leiden , .  Historical Survey of the Question of International Law Jurisdiction (Memorandum submitted by the Secretary General). Hg. v. International Law Commission. New York , .  Segesser, Daniel Marc: »Aggression is the Most Dangerous International Crime«. Die internationale Debatte zur Frage der Ahndung von Kriegsverbrechen -. In: Krieg und Verbrechen. Situation und Intention: Fallbeispiele. Hg. v. Timm C. Richter. München , -, hier .  Grzebyk, Patrycja: Criminal Responsibility for the Crime of Aggression. New York [u. a.] , .

302

D e r Ru m ä n e Ve s p a s ia n P e lla in d e r Vo r re i te r ro ll e

complainants and defendants are subjects or citizens respectively. The Court shall also have jurisdiction over all offences committed contrary to the laws of humanity and the dictates of public conscience. Diese Erweiterung begründete Bellot durch jüngste Entwicklungen, ohne weiter darauf einzugehen. Er meinte damit vor allem das Genfer Protokoll von , in dem der Angriffskrieg als internationales Verbrechen eingestuft wurde. Eine wichtige Rolle bei der Ausweitung der Jurisdiktion des anvisierten Straftribunals auf das Verbrechen des Angriffskriegs hatte der besagte Pella gespielt, der ab Mitte der er Jahre zur federführenden Persönlichkeit auf dem Gebiet der Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs avancierte. Seine Tätigkeit entfaltete er hauptsächlich im Rahmen der Interparlamentarischen Union (IU) und der Association Internationale de Droit Pénal (AIDP). Auf der . Konferenz der IU im August  in Bern und Genf nahm der rumänische Strafrechtler die Position ein, »dass es sich beim Aggressionskrieg um ein Verbrechen handle, das die Schaffung eines wirklichen internationalen Strafrechts auf internationaler vertragsrechtlicher Basis erforderte«. In diesem Zusammenhang konnte er die Mehrheit der Mitglieder von der Notwendigkeit der Erstellung eines Völkerstrafrechtskodexes überzeugen. Ein Jahr später, auf ihrer Nachfolgekonferenz in Washington, nahm die IU den Vorschlag von Pella an, dass der geplante internationale Strafgerichtshof vorübergehend nicht als eigenständige Institution gegründet werden sollte, sondern in Form einer speziellen Kammer des bereits existierenden Ständigen Internationalen Gerichtshofs (PCIJ). Zudem unterstützte die IU das Anliegen Pellas, dass die sich im Zuständigkeitsbereich des neuen Gerichts befindenden Verbrechen sowie die Strafen dafür mit äußerster Genauigkeit im Voraus definiert und niedergeschrieben werden müssten, um somit das System der internationalen Strafverfolgung auf der Grundlage des Prinzips nulla poena sine lege aufbauen zu können. Ab  machte sich Pella auch bei der AIDP für die Gründung eines internationalen Strafgerichtshofs stark, sodass diese  eine entsprechende Resolution verabschiedete. Aber darauf ist noch weiter unten zurückzukommen. Des Weiteren gelang es Pella, seine völkerstrafrechtlichen Positionen, die er bereits innerhalb der IU mit großer Zustimmung durchgesetzt hatte, in den besagten Vorschlag der ILA-Expertenkommission einzubringen, den Bellot  in  ILA Draft Statute for the Permanent International Criminal Court, Article , zit. n. El Zeidy, The Principle (wie Anm. ), .  Bellot, Hugh H.: Draft Statute for the Permanent International Criminal Court. In: Report of the Thirty-Third Conference (Stockholm September th to th, ). Hg. v. International Law Association. London , -, zit. n. Segesser, Recht (wie Anm. , Einleitung),  f. Siehe auch Grzebyk, Criminal Responsibility (wie Anm. ), .  Segesser, »Aggression is the most dangerous international crime« (wie Anm. ), .  Pella, Vespasian V.: Towards an International Criminal Court. In: The American Journal of International Law  () , -; El Zeidy, The Principle (wie Anm. ),  f.

303

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

Wien präsentierte. Bellot würdigte in seinem Vortrag den großen Einfluss seines rumänischen Kollegen auf diesen Vorschlag, als er abschließend auf die wichtige Arbeit von IU und AIDP auf dem Gebiet der Schaffung eines internationalen Straftribunals verwies und sich der Tatsache erfreute, dass in den von ihm vorgestellten Entwurf die meisten Vorschläge dieser beiden Vereinigungen eingeflossen seien. Pella und ein weiteres prominentes Mitglied von IU und AIDP, der aus Alexandria stammende Megalos Caloyanni, hatten in den Statutenentwurf der ILA-Expertenkommission vorher Einsicht genommen und Änderungsvorschläge unterbreitet. Vorsitzender der Kommission war der britische Jurist Alexander Wood Renton. Allerdings übernahm in seiner Funktion des Sekretärs der Kommission, Bellot, den Hauptteil der Arbeit; dadurch stiegen die Möglichkeiten der Einflussnahme für Pella und Caloyanni. Pella war zwar selbst in Wien nicht anwesend, dennoch wurde eine von ihm verfasste Stellungnahme verlesen, die auch die Diskussion unter den Mitgliedern der ILA über die einzelnen Artikel des Entwurfs stark bestimmte. In dieser Stellungnahme plädierte Pella für drei zentrale Anpassungen bzw. Änderungen im vorgelegten Konzept: a) dass der internationale Strafgerichtshof nicht als vollständig unabhängiges Rechtsorgan, sondern als Strafkammer innerhalb des PCIJ geschaffen werde; b) dass die Kodifizierung des dem neuen Gericht und dessen Gerichtsbarkeit zugrunde liegenden Rechts dermaßen präzise stattfinde, dass sich kein Angeklagter auf den Grundsatz nulla poena sine lege berufen könne; und c) dass die Todesstrafe (als Strafmöglichkeit) aus dem Entwurf gestrichen werde. Es war Bellot, der in der Debatte der in Wien anwesenden ILA-Mitglieder die Änderungsvorschläge Pellas gegenüber Widersachern, wie etwa dem polnischen Juristen Ludwik Ehrlich und dem deutschen Rechtsanwalt Georg Wunderlich, verteidigte und sich um Kompromisslösungen zwischen den entgegengesetzten Positionen bemühte. Schließlich wurden die Vorschläge Pellas größtenteils angenommen, sodass es keine Übertreibung ist zu behaupten, dass das von der ILA verabschiedete Statut den Stempel des rumänischen Rechtswissenschaftlers trug, obgleich er kein Mitglied dieser Vereinigung war. Deutlich wird dies vor allem an der Position der ILA, dass ein zukünftiger Internationaler Strafgerichtshof in den PCIJ integriert werden sollte, anstatt dass er eine unabhängige Institution darstellte. Auch dem Anliegen Pellas bezüglich einer Präzisierung des vom neu zu schaffenden Gericht anzuwendenden Rechts wurde im Entwurf weitgehend entgegengekommen: Die Urteile der Strafkammer sollten, wie von Pella nahegelegt, auf der  Bellot, Draft Statute (wie Anm. ),  f., zit. n. Segesser, Recht (wie Anm. , Einleitung), .  The Permanent International Criminal Court. In: Report of the Thirty-fourth Conference (Vienna, August th to August th ). Hg. v. International Law Association. London , -, zit. n. ebd.,  f.  Lewis, The Birth (wie Anm. , Einleitung), ; Grzebyk, Criminal Responsibility (wie Anm. ), .

304

D e r Ru m ä n e Ve s p a s ia n P e lla in d e r Vo r re i te r ro ll e

Rechtsgrundlage von »internationalen Verträgen und Konventionen, anerkanntem internationalem Gewohnheitsrecht, allgemeinen von den zivilisierten Staaten anerkannten Rechtsprinzipien und in zweiter Linie auch bereits ergangenen Urteilen« gefällt werden. Außerdem wurde im Sinne der positivistischen kontinentaleuropäischen Rechtsvorstellung Pellas und anderer Juristen folgender Passus in den Entwurf aufgenommen: Provided that no act may be tried as an offence unless it is specified as a criminal offence either in the Statute of the Court or in the municipal penal law of the defendant or, in the case of a heimatlos, in the law of his residence at the time of the commission of the crime or, failing such residence, the law of the State where the crime was committed. Trotzdem konnte sich Pella in diesem letzten Punkt nur partiell durchsetzen. Innerhalb der ILA gab es viele Verfechter der Meinung, dass der neu zu schaffende Gerichtshof nicht als ein »kontinentales«, sondern als ein common lawGericht fungieren sollte – so z. B. der Ungar Emil Nagy de Vámos. Demzufolge enthielt der Entwurf keine konkreten Straftatbestände im kontinentalen Sinne, auch keine konkreten Strafmaßvorgaben für die Richter. Ein weiterer Punkt, bei dem sich der rumänische Rechtswissenschaftler letztendlich nicht durchsetzen konnte, war jener der Todesstrafe. Gegen die besagte Empfehlung von Pella und seines uruguayischen Kollegen Benjamin Fernández y Medina wurde im ILA-Entwurf darauf verzichtet, die Todesstrafe auszuschließen. Dafür konnte sich aber Pella für sein Anliegen bezüglich einer erweiterten Jurisdiktion Gehör verschaffen. Der Entwurf sah vor, dass die Jurisdiktion des Gerichts, sich auf Verstöße gegen Regeln und Gebräuche erstreckte, die entweder als Gewohnheitsrecht allgemeine Anerkennung genießen würden oder in internationalen Konventionen und zwischenstaatlichen Verträgen festgelegt seien. Ferner sollte sich das Gericht auch mit solchen Fällen befassen können, die ihm vom Völkerbundsrat oder von der Vollversammlung des Völkerbunds vorgelegt würden. Diese Bestimmungen eröffneten die Möglichkeit, auch den Angriffskrieg strafrechtlich zu verfolgen. Bellot und Phillimore, die ursprünglich Verfechter einer Beschränkung der Jurisdiktion des Internationalen Strafgerichtshofs auf klassische Kriegsverbrechen waren, zogen in dieser Frage mit Pella an einem Strang.

 The Permanent International Criminal Court (wie Anm. ), , zit. n. Segesser, Recht (wie Anm. , Einleitung), .  Wexler, Leila Sadat: The Proposed Permanent International Court: An Appraisal. In: Cornell International Law Journal  () , -, hier  f.  The Permanent International Criminal Court (wie Anm. ),  f., zit. n. Segesser, Recht (wie Anm. , Einleitung), .  Grzebyk, Criminal Responsibility (wie Anm. ), .  Segesser, Recht (wie Anm. , Einleitung), .

305

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

Trotz der Zuversicht des Sitzungsleiters Caloyanni, dass sich die ILA auch in Zukunft intensiv mit dem Thema der Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs beschäftigen werde, kam es nach  zu keinen weiteren nennenswerten Vorstößen von Seiten dieser Vereinigung. Dies lag auch daran, dass die beiden wichtigsten Unterstützer dieses Vorhabens innerhalb der ILA, Bellot und Phillimore, kurz nach der Wiener Tagung verstarben ( respektive ). Der auf dem Posten des ILA-Generalsekretärs nachfolgende Wyndham A. Bewes zeigte kein besonderes Interesse an einer Fortsetzung der Anstrengungen auf diesem Gebiet. Die Vorreiterrolle übernahm nun die AIDP, zu deren federführenden Persönlichkeiten Pella gehörte. Im Unterschied zur ILA, die das Thema der Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs nicht als prioritär behandelte, besaß dieser Sachverhalt innerhalb der AIDP einen übergeordneten Stellenwert. Außer Pella meldeten sich zu diesem Thema der französische Jurist und Richter Henri Donnedieu de Vabres, der bereits erwähnte Caloyanni, der griechische Völkerrechtler Nikolaos Politis, der Brünner Strafrechtsprofessor Jaroslav Kallab sowie der Spanier Quintiliano Saldaña, Professor für Strafrecht, ausführlich zu Wort. Von kleineren Abweichungen in dem einen oder anderen Punkt abgesehen, waren sich die genannten Mitglieder der AIDP darin einig, dass die Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs nicht nur wünschenswert, sondern dringend notwendig sei, ebenso wie, dass die Ahndung des Verbrechens des Angriffsbzw. des Aggressionskriegs Gegenstand einer internationalen Strafgerichtsbarkeit sein müsse. Die AIDP ging ähnlich wie die ILA vor. Auf ihrem ersten Kongress im Juli  in Brüssel wurde eine Resolution verabschiedet, in der die Forderung nach der Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs zum Ausdruck gebracht wurde. Auf derselben Konferenz wurde zudem die Einberufung einer Expertenkommission beschlossen, die diesbezüglich einen Entwurf ausarbeiten sollte. Der große Einfluss Pellas ist bereits daran erkenntlich, dass sowohl in der Resolution zur Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs als auch im Auftrag an die Expertenkommission ein Straftribunal in Form einer speziellen strafrechtlichen Kammer des PCIJ – und nicht als eigenständiges Rechtsorgan – vorgesehen war. Mitglieder der Kommission waren neben Pella die bereits erwähnten Donnedieu de Vabres, Caloyanni, Saldaña, Bellot sowie der Präsident der AIDP, der belgische Jurist und Politiker Henri Carton de Wiart. Die Teilnahme des ILA-Generalsekretärs Bellot an der Kommission der AIDP bezeugt die Vernetzung und enge Kooperation zwischen Akteuren verschiedener juristischer Vereinigungen, die für die Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs eintraten. Bellot wurde auch zur Brüsseler Konferenz der AIDP eingeladen, wo

 Ebd.  Ebd., -.

306

D e r Ru m ä n e Ve s p a s ia n P e lla in d e r Vo r re i te r ro ll e

er sich noch einmal für die Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs stark machte und das innerhalb der ILA ausgearbeitete Konzept vorstellte. Der aus der Feder Pellas stammende Bericht der AIDP-Expertenkommission wurde zu Beginn des Jahres  abgeschlossen. In diesem brachte nun der rumänische Strafrechtler auch jene Positionen ein, die von der ILA abgelehnt worden waren, so etwa eine explizite Bestimmung hinsichtlich des Verzichts auf die Verhängung der Todesstrafe. Außerdem plädierte der Bericht für eine präzise Festlegung des anzuwendenden Rechts – ein Punkt, dessen Wichtigkeit Pella immer wieder unter Berufung auf das Rechtsprinzip des Rückwirkungsverbots betont hatte. Der von Pella verfasste Bericht schlug nun »den Abschluss einer internationalen Konvention vor, in welcher diejenigen Verbrechen abschließend aufgezählt werden sollten, für welche die neue Strafkammer zuständig sein solle«. In die Liste »sollten auch alle Tatbestände aufgenommen werden, die bereits gemäß dem bestehenden nationalen Strafrecht strafbar seien«. Nachdem der Vorstand der AIDP den Entwurf Pellas einstimmig angenommen hatte, wurde dieser im September  vom AIDP-Präsidenten dem Sekretariat des Völkerbunds, insbesondere dessen juristischer Abteilung, vorgelegt. Diese lehnte es allerdings ab, den eingereichten Vorschlag dem Völkerbundsrat weiterzuleiten mit der Begründung, dass nur Staaten und nicht Personen das Recht hätten, dem Völkerbundsrat Vorschläge zu unterbreiten. Pella nutzte daraufhin seine Position in der rumänischen Delegation im Völkerbund, um den Vorschlag über diesen Weg einzureichen. Zwar gelang ihm dies, dennoch fand der Entwurf bei den Organen des Völkerbunds keine weitere Berücksichtigung. Mark Lewis sieht die Gründe dafür zum einen in den ungünstigen Verhältnissen innerhalb des Völkerbunds und auf internationaler Ebene im Allgemeinen, zum anderen in eigenen Versäumnissen der Promotoren der Idee der Schaffung eines internationalen Gerichtshofs: However, during the late s, the ILA and the AIDP gained no traction in the League of Nations with their plan for an international criminal court. The plan was too radical, did not serve Great Power interests, and was promoted by jurists who lacked vital political connections. Additionally, the jurists ignored broadcasting their ideas to the public and seem to have been isolated from popular anti-war movements. On the legal front, the League was occu Sbârnă, Gheorghe: Vespasian V. Pella și adoptarea Convenţiei internaţionale pentru prevenirea și reprimarea terorismului din . In: Punctul Critic, .., https:// www.punctulcritic.ro/gheorghe-sbarna-vespasian-v-pella-si-adoptarea-conventiei-internationale-pentru-prevenirea-si-reprimarea-terorismului-din-.html (letzter Zugriff: ..); Segesser, Recht (wie Anm. , Einleitung),  f.; Lewis, The Birth (wie Anm. , Einleitung), .  Pella, Vespasien [Vespasian]: Rapport sur un Projet de Statut d’une Cour Criminelle Internationale. In: Revue internationale de Droit pénal  () , -, zit. n. Segesser, Recht (wie Anm. , Einleitung), .  Ebd., ; Lewis, The Birth (wie Anm. , Einleitung), -.

307

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

pied by another major project, the attempt to secure U. S. adhesion to the Permanent Court. […] Furthermore, there were a number of other unresolved legal and political obstacles to instituting a court. Powers such as Britain opposed attempts to define international offences and unify jurisdictions […]. The League Covenant did not contemplate an international criminal jurisdiction, so that cornerstone documents might have to be altered, which would be a major task. Most important, the League as a whole was occupied by more pressing problems. Committees and delegations were trying to negotiate a disarmament agreement, and during the same period, there was a revolt in the Assembly by small powers, which protested against the fact that Germany was given a permanent seat on the Council when it was invited to join the League. […] The jurists’ lack of political connections and Great Power support also hindered their efforts. […] Finally, the AIDP did not attempt to build public support for its project, as it considered itself a scholarly, »scientific« organization. Trotz dieses Rückschlags im Völkerbund setzten die beiden führenden AIDPMitglieder Caloyanni und Pella ihre Anstrengungen, die internationale Staatengemeinschaft von der Wichtigkeit der Einrichtung eines internationalen Gerichtshofs zu überzeugen, fort. In zwei,  und  veröffentlichten Artikeln forderten sie die Staaten auf, die in den juristischen Vereinigungen ausgearbeiteten Entwürfe zur Entwicklung des internationalen Strafrechts und zur Gründung eines Tribunals zur Ahndung »internationaler Verbrechen« zu berücksichtigen. Die Wirkung dieser Aufforderungen blieb dennoch gering. Angesichts der Schwierigkeiten in der Frage der internationalen Strafgerichtsbarkeit konzentrierte man sich auf das leichter zu erreichende Ziel der Vereinheitlichung der nationalen Strafgesetzgebungen.  gründete die AIDP dazu die neue Organisation des International Bureau for the Unification of Criminal Law (IBUCL), an dessen Spitze Pella und Carton de Wiart standen. Für eine Vereinheitlichung der nationalen Strafrechtskodizes waren die Staaten leichter als für die Einführung völkerrechtlicher Straftatbestände zu gewinnen. Im November  hatte in Warschau die erste internationale Konferenz zu diesem Thema stattgefunden, und die Regierungen von Polen, Rumänien, Griechenland, Italien, Spanien, der Tschechoslowakei und dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen schickten ihre Vertreter dorthin. Vor allem die nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten oder territorial vergrößerten ostmittel- und südosteuropäischen Staaten zeigten an diesem Vorhaben großes Interesse, da sie  Ebd., -.  Caloyanni, Megalos: La réforme du Statut de la Cour permanente de Justice internationale. In: Revue Internationale de Droit Pénal  (), -; Vespasien Pella: La criminalité de la guerre et les illusions de la paix. In: Revue Internationale de Droit Pénal  (), -, zit. n. Segesser, Recht (wie Anm. , Einleitung), .  Lewis, The Birth (wie Anm. , Einleitung), .

308

D e r Ru m ä n e Ve s p a s ia n P e lla in d e r Vo r re i te r ro ll e

sich mitten in einem Prozess der Zentralisierung ihrer Verwaltungsstrukturen und der Überarbeitung ihrer Strafgesetzgebungen befanden. Pella und seine Mitstreiter sahen wiederum in der gegenseitigen Anpassung der nationalen Strafrechtsordnungen eine Zwischenstation auf dem Weg zur Errichtung einer internationalen Strafgerichtsbarkeit. Bezeichnend dafür sind die Ausführungen Caloyannis in der Grotius-Gesellschaft im Mai , in denen er das neue Vereinheitlichungsprojekt mit dem bis dato erfolglosen Unterfangen, die Schaffung eines internationalen Straftribunals auf die Agenda des Völkerbunds zu setzen, in Verbindung brachte: [I]n order to grapple with that difficult problem one should not only have one string in one’s bow, but ought to have another one if possible. […] We find that many nations in the world are now drafting new national penal codes, and immediately the following idea struck our minds: would it be possible, without prejudicing in any way all that has been done and is being done by the other institutions for the creation of an International Criminal Court, to find some other way of bringing the various nations together by considering their penal laws as forming a criminal common law between themselves, and by unifying their criminal laws? Erneut blieb der AIDP ein Durchbruch verwehrt. Im Juni  wurde eine juristische Unterkommission des Völkerbunds zur Erkundung der Möglichkeiten der Erstellung einer internationalen Konvention zu Aspekten des Strafrechts einberufen. Diese Unterkommission schlug ein minimalistisches Vereinheitlichungsprogramm vor, das sich auf die Standardisierung von Verhörmethoden, Klageschriften und gerichtlichen Verfügungen beschränkte. Damit befand sich der Vorschlag des Gremiums weit entfernt von den Zielsetzungen der AIDP, welche die Anpassung der Definitionen von Straftatbeständen und Strafen sowie die Bestimmung der Verbrechen, für die eine Auslieferung des Täters vorgesehen wäre, anvisierte. Aber selbst dieser in seinen Zielsetzungen sehr bescheiden angelegte Entwurf der Unterkommission stieß auf den heftigen Widerstand etlicher Staaten, die in der Vereinheitlichung ihrer Strafrechtsordnungen eine Untergrabung ihrer Souveränität sahen. Sie kritisierten an dem Vorhaben, dass es nationale Besonderheiten verkenne, welche wiederum die einzelnen strafrechtlichen Gesetzgebungen berücksichtigen würden. Negativ auf die Erfolgschancen des Unterfangens wirkte sich schließlich die Tatsache aus, dass viele Regierungen zu diesem Zeitpunkt äußerst repressiv gegen ihre innenpolitischen

 Siehe dazu ausführlicher Duţu, Mircea: Vespasian V. Pella (-). Fondator al dreptului internaţional penal. Promotor al unificării dreptului penal. Artizan al justiţiei penale internationale. Bukarest .  Caloyanni, Megalos: An International Criminal Court. In: Transactions of the Grotius Society  (), -, hier , zit. n. Lewis, The Birth (wie Anm. , Einleitung), .

309

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

Gegner vorgingen, sodass sie durch die Vereinheitlichung der nationalen Strafrechtskodizes eine Einschränkung ihres Handlungsspielraums befürchteten. Ende der er Jahre mussten die Verfechter der Durchsetzung eines internationalen Strafrechts resigniert zur Kenntnis nehmen, dass ihre Ideen und Konzepte von Seiten der internationalen Staatengemeinschaft nur sehr geringen Zuspruch erfahren hatten. Erst durch die Eskalation eines seit Längerem anhaltenden südosteuropäischen Konflikts gelang ihnen der erhoffte Durchbruch. Das Attentat von Marseille 1934

Am . Oktober  erfolgte in der französischen Hafenstadt Marseille ein Attentat auf den jugoslawischen König Aleksandar I. Karađorđević, das nicht nur dessen Leben, sondern auch das des populären französischen Außenministers Louis Barthou sowie eines Polizisten und zweier Zivilisten forderte. Die terroristische Aktion, die von dem Makedonier Vlado Georgiev Černozemski ausgeführt wurde, ging auf das gemeinsame Konto von Ante Pavelić, dem Anführer der kroatischen Organisation Ustaša, und Ivan Michajlov, der wiederum die Fäden innerhalb der Inneren Makedonischen Revolutionären Organisation (Vnatrešna Makedonska Revolucionerna Organizacija – VMRO) zog. Beide Organisationen kämpften für eine Lostrennung der kroatischen und vardar-makedonischen Gebiete von dem aus ihrer Sicht serbisch dominierten Königreich Jugoslawien. Bei diesem Attentat handelte es sich um das letzte in einer Reihe großes Aufsehen erregender Terroranschläge, die in den er, er und er Jahren verübt wurden. Mehrere davon hatten in Südosteuropa stattgefunden:  wurde in Sarajevo der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand von einem jungen bosnischen Nationalisten ermordet – ein Ereignis, das den Ersten Weltkrieg auslöste;  folgte die Ermordung des italienischen Generals Enrico Tellini, des Vorsitzenden einer internationalen Kommission zur Klärung des griechisch-albanischen Grenzstreits, und seiner drei Begleiter auf griechischem Boden, nahe der Grenze zu Albanien;  fiel schließlich der rumänische Ministerpräsident Ion Gheorghe Duca einem tödlichem Attentat, verübt durch

 Ebd.,  f.  Troebst, Stefan: Vom ethnopolitischen Schlachtfeld zum interethnischen Stabilitätspol: Gewalt und Gewaltfreiheit in der Region Makedonien im »langen« . Jahrhundert. In: Nationalitätenkonflikte im . Jahrhundert: Ursachen von interethnischer Gewalt im Vergleich. Hg. v. Philipp Ther und Holm Sundhaussen. Wiesbaden , -, hier .  Siehe dazu ausführlicher Roberts, Ivor: The Black Hand and the Sarajevo Conspiracy. In: Balkan Legacies of the Great War. The Past is Never Dead. Hg. v. Othon Anastasakis, David Madden und Elizabeth Roberts. London [u. a.] , -.

310

Da s At te n t a t vo n M a r s e ill e 193 4

die faschistische Eiserne Garde, zum Opfer. Darüber hinaus überquerten in der Zwischenkriegszeit bulgarische irreguläre Komitadži-Einheiten der besagten VMRO sowie der Inneren Dobrudschanischen Revolutionären Organisation (Vătrešna Dobrudžanska Revoljucionna Organizacija – VDRO) die Grenze zum jugoslawischen Vardar-Makedonien bzw. zur rumänischen Süddobrudscha (Süd-Dobrudža) und griffen jugoslawische und rumänische staatliche Ziele, insbesondere Militär- und Polizeieinheiten, an. Aus Sicht der Komitadži, aber auch der politischen Eliten in Sofia, handelte es sich bei diesen Gebieten aufgrund der dort lebenden »eigenen Landsleute« um bulgarisches Land, das zu Unrecht unter fremder Besatzung stünde und befreit werden sollte. Belgrad und Bukarest stuften hingegen die Angriffe als terroristische Aktionen ein. Insbesondere aufgrund der Angriffe der Komitadži hatte Rumänien bereits  dem Völkerbund vorgeschlagen, eine Konvention zur Bestrafung des Terrorismus zu verabschieden. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt die Bereitschaft der internationalen Staatengemeinschaft noch nicht ausgereift. Selbst die Ermordung des österreichischen christlich-sozialen Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß durch die Nationalsozialisten im Juli  bewirkte keine Veränderung dieser Situation. Die entscheidende Wende trat dann  mit dem Attentat von Marseille ein, das die Diskussion nicht nur um das Problem des Terrorismus, sondern auch um die Notwendigkeit eines internationalen Strafrechtskodexes und eines internationalen Strafgerichtshofs schlagartig belebte. Eine große Rolle hatte dabei die Weigerung Roms gespielt, die in Italien Zuflucht gefunden habenden Attentäter auszuliefern. Das Turiner Berufungsgericht, das den französischen Auslieferungsantrag abgelehnt hatte, begründete seine Entscheidung damit, dass es sich bei Attentaten auf Staatsoberhäupter und bei ähnlichen Straftaten um politisch motivierte Aktionen handele und somit die dafür Verantwortlichen nicht auszuliefern seien. Die engen Beziehungen Italiens zu Ustaša und VMRO waren kein Geheimnis, ebenso wenig wie die feindlichen Absichten Roms gegen das Königreich Jugoslawien. Es ist bemerkenswert, dass Mussolini ausgerechnet am Tag des Attentats auf Karađorđević dem benachbarten jugoslawischen Staat in einer öffentlichen Rede auf der Piazza del Duomo in Mailand gedroht hatte. Sowohl Belgrad als auch Paris waren darüber informiert, dass Ustaša und VMRO mit Wissen der italienischen Regierung im abruzzesischen Fontecchio und im kalabrischen San Demetrio Ausbildungslager unterhielten. Dies hatte die Untersuchung einer kurzfristig einberufenen gemischten französisch-jugoslawischen  Saul, The Legal Response (wie Anm. , Einleitung), .  Ebd., .  Segesser, Recht (wie Anm. , Einleitung), ; Ferencz, Benjamin B.: An International Criminal Court. A Step toward World Policy – A Documentary History and Analysis. Bd : Half a Century of Hope. London [u. a.] , ; Saul, The Legal Response (wie Anm. ), .  Maogoto, Early Efforts (wie Anm. ), .

311

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

Polizeigruppe ergeben. Demzufolge war der jugoslawische Vorwurf an Italien, dass es in das Marseiller Attentat verstrickt sei, keineswegs unbegründet. Des Weiteren beschuldigte Belgrad auch Ungarn, in das Attentat involviert gewesen zu sein. In einem Memorandum an den Völkerbund warf das Königreich Jugoslawien seinem Nachbarstaat vor, eine revisionistische Politik hinsichtlich des Versailler Friedensvertrags zu verfolgen. Insbesondere unterstütze Budapest die kroatischen paramilitärischen Ustaša-Einheiten mit dem Ziel der Destabilisierung Jugoslawiens. Offiziere der ungarischen Streitkräfte würden, so die jugoslawische Anklage, die Organisation mit falschen Pässen versorgen und ihr auch anderweitig in mehrerlei Hinsicht zu Hilfe kommen. Außerdem befänden sich auf ungarischem Territorium in unmittelbarer Nähe zur jugoslawischen Grenze »Terroristen-Lager«, von denen aus Angriffe gegen Jugoslawien erfolgten. Infolgedessen sei nach jugoslawischer Lesart das Marseiller Attentat »nichts Weiteres als ein Ausdruck der von Ungarn organisierten und geförderten Verschwörung gegen die Integrität und Sicherheit des jugoslawischen Staates« sowie eine Kulmination terroristischer Aktivitäten, die »seit Jahren auf ungarischem Territorium inspiriert und unterstützt« worden seien. Unterstützung erhielt Belgrad bei seiner Beschwerde gegen Ungarn von der tschechoslowakischen Regierung, die ebenso Budapest vorwarf, die staatliche und territoriale Integrität der ČSR durch einen »ausgebauten Verschwörungsapparat« (»a whole apparatus of conspiracy«) zu untergraben. Dieser Verschwörungsapparat bestünde aus ungarischen Vereinigungen in der Tschechoslowakei, die im Auftrag Budapests umstürzlerische Aktionen durchführen würden. Die Angst vor dem ungarischen Revisionismus hatte Anfang der er Jahre die Entstehungsgrundlage des Bündnisses der Kleinen Entente gebildet, das sich aus dem Königreich Jugoslawien, der Tschechoslowakei und Rumänien zusammensetzte. Das jugoslawisch-tschechoslowakische Vorgehen gegen Ungarn im Völkerbund löste, wie noch anschließend gezeigt wird, eine allgemeinere Debatte über die Verbindung zwischen Revisionismus und politisch bzw. ethnonational motiviertem Terrorismus aus, die über den Einzelfall hinausging. Was die konkrete Schuld Budapests an dem Attentat betraf, suchte der Völkerbundsrat  Müller, Dietmar: Zu den Anfängen des Völkerstrafrechts. Vespasian Pella und Raphael Lemkin. In: Müller/Skordos, Leipziger Zugänge (wie Anm. , Einleitung), -, hier .  League of Nations, Official Journal, vol. , no.  (Dec. ), Council Minutes; Doc.C..M... VII, Statement by Yugoslavia, zit. n. Ditrych, Ondrei: »International Terrorism« as Conspiracy: Debating Terrorism in the League of Nations. In: Historical Social Research  () , -, hier .  Ditrych, »International Terrorism« (wie Anm. ), .  Troebst, Stefan: Mussolini, Makedonien und die Mächte, -. Köln [u. a.] , ; Portmann, Michael: Politische Geschichte Südosteuropas von  bis . In: Clewing/Schmitt, Geschichte Südosteuropas (wie Anm. , Einleitung), -, hier .

312

Da s At te n t a t vo n M a r s e ill e 193 4

den Kompromiss. In einer Resolution erklärte er, nicht die ungarische Regierung, sondern lediglich »bestimmte Behörden« seien für die Unterstützung umstürzlerischer Aktionen in Jugoslawien und in der Tschechoslowakei verantwortlich. Trotz des Drucks von Seiten der Kleinen Entente verzichtete der Völkerbundsrat darauf, ein Kontrollregime über Ungarn zu errichten, das die Verabschiedung von Maßnahmen gegen terroristische Aktivitäten überwacht hätte. Budapest wurde lediglich dazu verpflichtet, eigene Ermittlungen zu einer möglichen Verstrickung ungarischer Staatsbürger in den Anschlag auf das jugoslawische Staatsoberhaupt durchzuführen. Letztlich wollte auch Frankreich vermeiden, dass Jugoslawien im Völkerbund gegen das faschistische Italien eine Untersuchung wegen einer Mitverantwortung für das Attentat einleiten würde. Angesichts anderer, übergeordneter Interessen zeigte sich Paris bereit zu verdrängen, dass sich Italien geweigert hatte, den Anführer der Organisation, Ante Pavelić, an Frankreich auszuliefern. Die Franzosen bemühten sich zu diesem Zeitpunkt um den Abschluss eines regionalen Sicherheitsabkommens anti-deutscher Stoßrichtung mit Mussolini und befürchteten, dass sich ein Verfahren im Völkerbund gegen Italien negativ auf dieses Vorhaben auswirken könnte. Der »Duce«, der wegen der Situation in Österreich nach dem Nazi-Attentat auf Dollfuß um die Sicherheit an seiner nördlichen Grenze besorgt war, hatte bereits sein Interesse an einer Übereinkunft mit Frankreich und Großbritannien signalisiert. Demzufolge übten Franzosen und Briten Druck auf die jugoslawische Regierung aus, von ihrer Forderung nach der Untersuchung einer italienischen Beteiligung an dem Mordanschlag auf König Aleksandar I. Karađorđević abzulassen. Als Gegenleistung dafür stellte man Jugoslawien eine vom Völkerbund ausgearbeitete AntiTerrorismus-Konvention in Aussicht. Belgrad war an dem Zustandekommen einer derartigen Konvention insofern sehr interessiert, als man sich davon ein Ende der Unterstützung der Ustaša durch revisionistische Staaten sowie die Auslieferung führender Mitglieder dieser Organisation versprach. Die Idee war nicht neu: Rumänien hatte, wie gesagt, bereits  vor dem Hintergrund seiner Probleme mit bulgarischen Irregulären, die in die Süddobrudscha (SüdDobrudža) immer wieder einfielen, eine internationale Konvention zur Bekämpfung des Terrorismus vorgeschlagen. Und Vespasian Pella, der international bekannte rumänische Völkerrechtler, hatte im selben Jahr auf dem ersten Kongress der AIDP den Wunsch zum Ausdruck gebracht, dass es zukünftig einen internationalen Strafgerichtshof geben solle, der auch für die Fälle von Terroristen, die von einem Drittstaat nicht ausgeliefert würden, zuständig sein werde.

   

Ditrych, »International Terrorism« (wie Anm. ), . Lewis, The Birth (wie Anm. , Einleitung), . Ebd.; Ditrych, »International Terrorism« (wie Anm. ), . Lewis, The Birth (wie Anm. , Einleitung), .

313

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

Auf Initiative Frankreichs hin entschloss sich der Völkerbundsrat im Dezember , eine Kommission ins Leben zu rufen, die eine Konvention zur internationalen Strafverfolgung von Terrorismus vorbereiten sollte. Der französische Außenminister Pierre Laval hatte in seinem Ansuchen vor dem Völkerbundsrat die Notwendigkeit dafür folgendermaßen begründet: »[A] whole new set of international regulations must be drawn up. Political crimes must be suppressed effectively by international measures. […] Crime cannot be an instrument of policy.« Daraufhin beschloss der Rat, eine Expertenkommission einzuberufen, die »einen ersten Entwurf einer internationalen Konvention zur Verhinderung von Verschwörungen und von politisch oder terroristisch motivierten Verbrechen vorbereiten« sollte. Im Oktober  hielt die Versammlung des Völkerbunds in einer Resolution zusätzlich fest, dass die Konvention auf dem »Prinzip« basieren müsse, dass es »die Pflicht jedes Staates ist, sich von jeglicher Intervention in das politische Leben eines fremden Staates fernzuhalten«. In derselben Resolution wurden die Hauptziele der Konvention wie folgt präzisiert: () To prohibit any form of preparation or execution of terrorist outrages upon the life or liberty of persons taking part in the work of foreign public authorities and services; () to prevent and detect such outrages; and () to punish terrorist outrages which have an international character. Die Kommission für die Internationale Bekämpfung des Terrorismus (Committee for the International Repression of Terrorism – CIRT) setzte sich aus Vertretern aus elf Ländern zusammen: Belgien, Großbritannien, Chile, Frankreich, Ungarn, Italien, Polen, Rumänien, der Sowjetunion, Spanien und der Schweiz. Mehrere dieser Staaten waren in die Marseiller Krise unterschiedlich involviert gewesen (Frankreich, Italien, Großbritannien, Ungarn), andere wiederum gehörten zu den Hauptleidtragenden terroristischer Aktivitäten (Rumänien, Polen), und schließlich hatten einige der daran beteiligten Staaten auf dem Gebiet  Ebd., .  Official Journal, Eighty-third (Extraordinary) Session of the Council (Geneva: December, ), , zit. n. ebd.  League of Nations Assembly, Resolution of  October , wiedergegeben in League of Nations, Internationl Conferece, Proccedings on the Repression of Terrorism, Geneva, - November , League of Nations Doc. C..M...V (League of Nations Archives Geneva: Council Members Docs vol. ), Annex I, at , zit. n. Saul, The Legal Response (wie Anm. ), .  Ebd.  Warschau sah sich in seinen ostgalizischen Gebieten mit dem Problem ruthenischer und ukrainischer Autonomisten konfrontiert, die einen bewaffneten Untergrundkampf gegen den polnischen Staat führten. Bei diesem Kampf, dessen Speerspitze die Organisation Ukrainischer Nationalisten (Organizacija Ukrajinskih Nacionalista – OUN) bildete, kam es auch zum Einsatz terroristischer Methoden, wie z. B. Mordanschläge auf staatliche Funktionäre, Brandschatzungen und Gleisdemontagen. Eines der prominentesten Opfer war der polnische Innenminister Bronisław Pieracki, der im

314

D e r f ra nzö s i s c h e Vo re n t w u r f

des Völkerstrafrechts ausgewiesene Experten vorzuweisen, wie etwa Belgien mit dem bereits erwähnten Henri Carton de Wiart, dem AIDP-Präsidenten, der den Vorsitz der Kommission übernahm, oder die Schweiz mit dem renommierten Strafrechtler Ernst Delaquis, der ebenfalls Mitglied der AIDP war. Rumänien, das, wie gesagt, zu jenen Staaten gehörte, die sich durch das Phänomen des Terrorismus am stärksten bedroht sahen, und gewissermaßen auch die Interessen der Kleinen Entente in der Anti-Terrorismus-Kommission vertrat, berief den besagten Pella in die Kommission, während Polen von dem Völkerrechtler Titus Komarnicki vertreten wurde. Mit der Ausnahme Chiles, das zu diesem Zeitpunkt Mitglied des Völkerbundsrats war, bestand die Kommission ausschließlich aus europäischen Mitgliedern, durch welche die europäische Diversität der Zwischenkriegszeit, was politische Systeme betraf, widergespiegelt wurde: von parlamentarischen Demokratien über autoritäre Königsdiktaturen bis hin zu totalitären Regimen faschistischer und stalinistischer Ausprägung. Der französische Vorentwurf

Die Expertenkommission tagte zwischen April  und April  insgesamt drei Mal und legte dem Völkerbundsrat bei Arbeitsschluss zwei Konventionen vor: die Konvention für die Prävention und Bestrafung von Terrorismus (Convention for the Prevention and Punishment of Terrorism) und die Konvention für die Gründung eines Internationalen Strafgerichtshofs (Convention for the Creation of an International Criminal Court). Zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit nahm die Kommission einen französischen Entwurf, den Laval am . De-



  

Juni  in Warschau auf offener Straße erschossen wurde. Der Attentäter flüchtete in die Tschechoslowakei, die sich zunächst weigerte, ihn an Polen auszuliefern. Polen hatte schon früher Prag beschuldigt, die »Terroristen« der OUN zu unterstützen. Lewis, The Birth (wie Anm. , Kap. ),  f. Zur mörderischen Terroraktivität der OUN siehe ausführlicher Bruder, Franziska: »Den ukrainischen Staat erkämpfen oder sterben«. Die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) -. Berlin . Zu Delaquis, einem Schüler von Franz von Liszt, der eine wichtige Rolle auch bei der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung spielte, siehe Henze, Martina: »Important Forums Among an Increasingly International Penological Community«: Die internationalen Gefängniskongresse -. In: Die Internationalisierung von Strafrechtswissenschaft und Kriminalpolitik (-). Deutschland im Vergleich. Hg. v. Sylvia Kesper-Biermann und Petra Overath. Berlin , -, hier . Delaquis gehörte auch dem International Bureau for the Unification of Penal Law an; siehe dazu ausführlicher Lewis, Mark: The History of the International Association of Penal Law, -: Liberal, Conservative, or Neither? In: Historical Origins of International Criminal Law. Bd. . Hg. v. Morten Bergsmo, Cheah Wui Ling, Song Tianying und Yi Ping. Brüssel , -, hier , . Segesser, Recht (wie Anm. , Einleitung), . Lewis, The Birth (wie Anm. , Einleitung), . Ferencz, An International Criminal Court (wie Anm. ), -.

315

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

zember  beim Sekretariat des Völkerbunds vorgelegt hatte. Dieser Vorschlag beinhaltete eine Liste von Tatbeständen, die als terroristische Verbrechen klassifiziert wurden, wie etwa politische Attentate sowie Anschläge auf staatliche Einrichtungen und die Infrastruktur eines Landes: (a) Attempts on the life or liberty either of heads of States or members of Governments or political or administrative assemblies or juridical bodies, or of officials, or of private persons by reason of their political attitude; (b) Attempts on public buildings, railways, ships, aircraft or other means of communication; (c) Associations with a view to the commission of the said acts; (d) Possession of arms, ammunition, explosives or incendiary appliances with a view to the commission of the said acts; (e) Incitement to commit the acts specified above or the defense of such acts. Das Verbrechen des Terrorismus wurde im Allgemeinen wie folgt definiert: »[C]riminal acts directed against persons or property and constituting terrorist action with a political object.« Das französische Konzept war stark durch den Marseiller Vorfall und seine diplomatischen Komplikationen und Nachwirkungen geprägt. Dies ist vor allem an jener Bestimmung gut erkennbar, die besagte, dass Staaten der Fälschung von Reisedokumenten nachgehen müssten und diese Tat streng zu bestrafen hätten, selbst wenn darin die staatlichen Behörden eines anderen Landes verwickelt seien. Auch die im Entwurf enthaltene Bestimmung, dass ein politisch motiviertes Attentat eine auslieferungswürdige Straftat darstelle, welche die Gewährleistung eines politischen Asyls für den Täter verbiete, trug den Stempel von Marseille. Sie war insbesondere durch die besagte Ablehnung des französischen Antrags auf die Auslieferung von Pavelić und anderen UstašaMitgliedern von Seiten Roms und wohl auch in einem geringeren Maß durch den Mordanschlag der OUN auf den polnischen Innenminister Bronisław Pieracki geprägt. Warschau hatte sich noch Ende November  über die verspätete Bereitschaft der Tschechoslowakei, den in die Slowakei geflüchteten Attentäter zu verhaften und auszuliefern, bei den Franzosen beklagt. Außerdem sah der französische Vorschlag die enge Kooperation zwischen den Staaten zur präventiven Terrorismusbekämpfung vor. Diese sollte vor allem über den Austausch von Informationen über geplante Anschläge und gefälschte Reisedokumente stattfinden. Von ganz besonderer Bedeutung war der letzte im Entwurf enthaltene Vorschlag zur  League of Nations, Committee for the International Repression of Terrorism, C..M...V., Geneva, May th, , Appendix IV., Suggestions presented to the council by the French government, December th,  [im Folgenden: League of Nations, C..M...V.], . In: UN archives Geneva. Catalogue, https://biblioarchive.unog.ch/Dateien/CouncilMSD/C--M---V_EN.pdf (letzter Zugriff: ..).  Ebd.  Ebd.  Lewis, The Birth (wie Anm. , Einleitung),  f. Siehe dazu ausfühlicher Anm. .

316

Da s b e s o n d e re I n te re s s e Ru m ä ni e n s u n d J u g o s law i e n s

Gründung eines ständigen internationalen Strafgerichtshofs, der sich aus fünf Richtern zusammensetzen würde, deren Hauptaufgabe darin bestünde, den mutmaßlichen Terroristen strafrechtlich zu verfolgen, wenn der Aufenthaltsstaat dieser Pflicht nicht nachkäme und sich auch weigere, den Verdächtigen an den seine Auslieferung ersuchenden Staat auszuhändigen. In diesem Verfahren wurde der nationalen Jurisdiktion gegenüber der internationalen der Vorrang eingeräumt, da das geplante Straftribunal nur als letzte Instanz eingeschaltet werden sollte. Dieser Aspekt hatte bereits eine sich aus Mitgliedern der ILA, der AIDP und der Interparlamentarischen Union zusammengesetzte »Commission de rédaction d’un projet concernant les infractions internationales et leurs sanctions« beschäftigt. In einer der Sitzungen dieser Juristen-Kommission, die am . Januar  unter dem Vorsitz Caloyannis stattfand, stellte die Frage nach dem Vorrang der nationalen oder internationalen Gerichtsbarkeit bei der Ahndung von internationalen Verbrechen den Hauptstreitpunkt dar. In diesem Kontext stellt sich die Frage nach dem Verfasser des französischen Entwurfs einer internationalen Anti-TerrorismusKonvention und dessen Kontakten zu den juristischen Vereinigungen, die sich in der Zwischenkriegszeit mit der Herausbildung eines internationalen Strafrechts beschäftigten. Auch wenn in der einschlägigen Literatur keine konkreten Hinweise dazu zu finden sind, ist es vor allem der Vorschlag zur Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs, der den Schluss erlaubt, dass der unbekannte Verfasser mit den völkerstrafrechtlichen Konzepten der oben genannten juristischen Vereinigungen sehr gut vertraut war. Jedenfalls dürften Pella und die anderen Verfechter der Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs den französischen Vorschlag als eine gute Vorlage betrachtet haben, um ihrem Ziel näher zu kommen. Das besondere Interesse Rumäniens und Jugoslawiens

Henri Carton de Wiart wurde zum Vorsitzenden der Experten-Kommission des Völkerbunds berufen, in der allerdings Pella die zentrale Rolle spielte. Er war der Hauptverfasser des ersten Entwurfs einer Anti-Terrorismus-Konvention, den die Kommission im Mai  den Regierungen der sogenannten interessierten Staaten vorlegte. Zuvor hatten Österreich, China, Kuba, Dänemark, Estland, Guatemala, Ungarn, Indien, Lettland, Rumänien, die Türkei, die USA und Jugoslawien Stellung zum französischen Vorschlag bezogen. Den mit Abstand ausführlichsten Kommentar lieferte Rumänien – ein Indiz nicht nur für das große Interesse des südosteuropäischen Staates an diesem Sachverhalt, sondern auch für die entsprechende Vorarbeit, die diesbezüglich von Bukarest geleistet worden war. Im einleitenden Teil seiner Stellungnahme hob Bukarest die rumänische Pionierrolle auf dem Gebiet der völkerstrafrechtlichen Ahndung des  League of Nations, C..M...V. (wie Anm. ), .  Segesser, Recht (wie Anm. , Einleitung), .

317

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

Terrorismus hervor. Nachdem man zuerst die »völlige Übereinstimmung« Rumäniens mit dem Vorhaben bekundet hatte, hieß es: Romania was the first country to propose to the League that a convention for the repression of terrorism should be framed. By its letter of November th, , in reply to the League questionnaire on questions which appeared ripe for international regulation, the Romanian Government proposed: […] () Preparation of an international convention to render terrorism universally punishable […] irrespective of the place where such acts of violence or depredations are committed or of the nationality of the guilty party. Wie an anderer Stelle schon angedeutet, sah sich in der Zwischenkriegszeit das anti-revisionistische Rumänien an drei verschiedenen Fronten durch das Phänomen des Terrorismus bedroht: In der durch die Balkankriege an Rumänien hinzugekommenen Süddobrudscha (Süd-Dobrudža) operierte die Innere Dobrudschanische Revolutionäre Organisation (Vătrešna Dobrudžanska Revoljucionna Organizacija – VDRO), deren bewaffnete irreguläre Formationen einen Guerillakrieg gegen die rumänische Herrschaft führten. Diesen beschreibt Andrea Schmidt-Rösler wie folgt: Bewaffnete Komitadschi [Komitadži] drangen aus Bulgarien über die Grenze auf rumänisches Gebiet vor, wo sich ihnen weitere Bandenmitglieder anschlossen, sodass die Gruppen eine Stärke von  bis  Mann erreichten. Gemeinsam wurden dann rumänische Verwaltungsstellen und Grenzposten angegriffen und die Herausgabe von Lebensmitteln und Waffen erzwungen. Die Angriffe richteten sich auch gegen rumänische Siedlungen, vor allem gegen solche Orte, in denen rumänische Kolonisten angesiedelt worden waren. Rumänien reagierte auf die Übergriffe mit erhöhter militärischer Präsenz und mit der zeitweisen Schließung ganzer Grenzabschnitte. Mit dem Problem der die Grenze überquerenden und Anschläge auf staatliche Einrichtungen verübenden bulgarischen Komitadži waren in ihren makedonischen Gebieten auch Jugoslawien und Griechenland konfrontiert. Ähnlich wie Rumänien hatten die beiden südosteuropäischen Staaten im Zuge der Balkankriege und des Ersten Weltkriegs eine territoriale Erweiterung erfahren und sahen nun hinter der Bandenaktivität an ihren makedonischen Grenzabschnitten die Gefahr der Grenzrevision. Angesichts der gemeinsamen Bedrohung des bulgarischen Revisionismus hatten Griechenland, Jugoslawien und Rumänien schon in den frühen er Jahren ihre Kräfte dagegen vereint. So überreichte etwa der hier bereits erwähnte rumänische Außenminister Ion Duca im Juni  im Namen aller drei Staaten Bulgarien eine Note, in der die Einstellung der  League of Nations, C..M...V. (wie Anm. ),  [Hervorheb. i. O.].  Schmidt-Rösler, Andrea: Rumänien nach dem Ersten Weltkrieg: Die Grenzziehung in der Dobrudscha und im Banat und die Folgeprobleme. Frankfurt/M. , .

318

Da s b e s o n d e re I n te re s s e Ru m ä ni e n s u n d J u g o s law i e n s

Übergriffe gefordert und Sofia mit ernsthaften Konsequenzen bei einer Fortsetzung derselben gedroht wurde. Das Thema beschäftigte anschließend den Völkerbundsrat, nachdem Sofia gegen den aggressiven Charakter der Note protestiert hatte.  verlangte Bukarest sogar vom Finanzausschuss des Völkerbunds, eine von Bulgarien beantragte Anleihe zur Unterbringung von Flüchtlingen aus den Nachbarstaaten nur unter der Bedingung zu genehmigen, dass die Bandentätigkeit gegen Rumänien unverzüglich eingestellt und Sofia keine Flüchtlinge an der bulgarisch-rumänischen Grenze ansiedeln würde. Große Spannungen herrschten auch zwischen den rumänischen Behörden und der ostslawischen (russischen und ukrainischen) Bevölkerung Bessarabiens. Vor allem die sogenannte Rebellion von Tatar Bunar, die im September  in einem bessarabischen Grenzgebiet zur Sowjetunion ausbrach, hatte die Bukarester Befürchtungen verstärkt, dass diese Region einer autonomistischen Gefahr ausgesetzt sei. Die russophonen Aufständischen hatten in der Kleinstadt Tatar Bunar und in der umliegenden Gegend eine unabhängige sozialistische Republik proklamiert und sich dabei Methoden bedient, die von Bukarester Seite als »terroristisch« bezeichnet wurden, wie etwa die der Zerstörung der Telegraphenleitungen. Außerdem behauptete die rumänische Regierung, dass der Aufstand von sowjetischen Agenten angezettelt worden sei. Erst nach einer Woche konnten schließlich die rumänischen Sicherheitskräfte den Aufstand niederschlagen, indem sie gegen die lokale Bevölkerung äußerst hart durchgriffen. Die Rebellion von Tatar Bunar war nicht das erste Ereignis dieser Art in Bessarabien. Bereits  hatte es aufstandsähnliche Aufruhre in Hotin, Soroca und Benderey gegeben, Orte, in denen sich die ukrainische Bevölkerung in der Mehrheit befand. Zunehmend behandelte Bukarest die Infragestellung seiner Obrigkeit in Bessarabien als ein politisch motiviertes Terrorismusproblem, das von staatsfeindlichen und umstürzlerischen Aktivitäten in- und ausländischer Kommunisten ausginge. Dieser Perspektive entsprach auch die Sprachregelung, der man sich bei der diesbezüglichen Gesetzgebung und der strafrechtlichen Verfolgung der »Täter« bediente. Im Zeitraum - mussten in Bessarabien mehr als . Menschen wegen Spionage und Terrorismus ins Gefängnis. Die kommunistische Partei wurde in Rumänien unmittelbar nach dem Aufstand von Tatar Bunar verboten – unter Verweis auf das in ihrem Programm enthaltene Selbstbestimmungsrecht der Völker, das auch die Möglichkeit einer Sezession einschloss. Die Bukarester Besorgnis über die Sicherheitslage in Bessarabien wurde noch größer als die Sowjetunion im Oktober  östlich des Dnjestr die Autonome Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik gründete.  Ebd., -.  Portmann, Politische Geschichte Südosteuropas (wie Anm. ), .  Zur Bessarabischen Frage und insbesondere zur Rebellion von Tanar Bunar siehe u. a. Motta, Giuseppe: Less than Nations. Central-Eastern European Minorities after WWI, Bd. . Cambridge , ; King, Charles: The Moldovans: Romania, Russia, and the Politics of Culture, Stanford ,  f.; Hausleitner, Mariana: Deutsche und Juden in

319

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

Die dritte Front, an der das Großrumänien der Zwischenkriegszeit gegen Irredentismus zu kämpfen hatte, war Siebenbürgen, das sich im Visier des ungarischen Revisionismus befand. Dieser hatte direkt nach Unterzeichnung des Friedenvertrags von Trianon auf verschiedenen Ebenen eingesetzt. Ungarn und Rumänen lieferten sich eine internationale Propagandaschlacht bezüglich der Zugehörigkeit dieser Region zur ungarischen bzw. rumänischen Nationalgeschichte. Wie in den anderen umstrittenen Grenzregionen kam es auch in Siebenbürgen zu einer Verbindung von nationalen und ideologischen Feindbildern: Ungarischer Revisionismus und Bolschewismus wurden als die zwei Seiten derselben anti-rumänischen Medaille betrachtet. Eine wichtige Rolle spielte die Tatsache, dass ein Teil der siebenbürgischen Arbeiterschaft, die  an Streiks und Protestkundgebungen teilgenommen hatte, ungarischer Nationalität waren. Bezeichnend dafür, wie man von offizieller Seite die ungarische Beteiligung an den Streiks bewertete, ist folgende amtliche Mitteilung in der lokalen Presse: Amtlich wird gemeldet: Wir besitzen alle notwendigen Daten, um behaupten zu können, dass die Streiks und der Bolschewismus die Waffen sind, welche die magyarische Beamtenschaft aus den rumänischen Gebieten in ihrer letzten Verzweiflung verwendet, im Glauben, dass sie auf diese Art die Vereinigung Großrumäniens vereiteln können, nachdem sie dies mit den Waffen der Gerechtigkeit nicht erreichen konnten. […] Die provisorische Regierung, vom Gefühl der Brüderlichkeit und vom Willen beseelt, keine Verdächtigungen herauszufordern, ist bei der Übernahme und Ausübung der Staatsgewalt mit Vorsicht vorgegangen. Diese Vorsicht wird jedoch ihre Grenzen dort finden müssen, wo für die großen Staats- und Sozialinteressen die Gefahr beginnt. Die oben beschriebene Situation verdeutlicht, dass sich Rumänien in der Zwischenkriegszeit von drei in ihrer Außenpolitik revisionistisch ausgerichteten Nachbarstaaten bedroht sah: Ungarn, Bulgarien und der Sowjetunion. Das große Interesse Bukarests an einer völkerrechtlichen Kriminalisierung des Angriffskriegs resultierte vornehmlich aus der Empfindung dieser Bedrohungssituation. Wie sehr die Überlegungen Rumäniens durch die Unsicherheit bezüglich seiner Grenzregionen geprägt waren, zeigt Abschnitt  zu »Crimes against the Safety of Foreign states« der Bukarester Stellungnahme zum französischen VorBessarabien -. Zur Minderheitenpolitik Russlands und Großrumäniens. München , -; Schroeder-Negru, Olga: Rebeliunea de la Tatar Bunar din. . Germanii basarabeni între anti-bolşevism şi patriotism românesc. In: Istoria între ştiinţă şi şcoală – perioada interbelică şi Basarabia. Studii, materiale surse şi sugestii. Hg. v. Stefan Ihrig, Vasile Dumbrava, Dietmar Müller und Igor Șarov. Chişinău , -.  Die Streiks in Siebenbürgen. In: Kronstädter Zeitung, .., zit. n. Kührer-Wielach, Florian: Siebenbürgen ohne Siebenbürger? Zentralstaatliche Integration und politischer Regionalismus nach dem Ersten Weltkrieg. München , .

320

Da s b e s o n d e re I n te re s s e Ru m ä ni e n s u n d J u g o s law i e n s

schlag. Darin nimmt der Schutz der territorialen Integrität eines Staates eine zentrale Stellung ein: A convention for the suppression of terrorist acts could not produce its effects, nor would the possibility of serious international disputes be precluded, unless provision were made, in the form of special stipulations in the convention, for the punishment of crimes against the safety of foreign states. […] If, according to Article , the Members of the League undertake to respect and preserve as against external aggression the territorial integrity and existing political independence of all Members of the League, they are thereby precluded from allowing their territory to be used for the preparation of crimes the effect of which to be impair the highly valuable legal rights guaranteed by this text. Furthermore, if the obligation on the part of Members of the League to maintain the territorial integrity and political independence of the other Members also implies an obligation to re-establish such integrity and independence, Members are, a fortiori, also bound to punish crimes committed in their territory that might adversely affect fundamental rights which it is precisely their duty to respect, preserve and, if necessary, to restore. Impunity in the territory of one State for crimes against the political independence and territorial integrity of another State is tantamount to ignoring the direct obligations imposed on every State by Article  of the Covenant of the League and the provisions of the Paris Pact. Aber auch in der jugoslawischen Stellungnahme zum französischen Vorschlag sind die eigenen Interessen deutlich zu erkennen. Die Erfahrung des Marseiller Attentats und die seit Längerem bestehende Besorgnis Belgrads um die separatistischen Organisationen Ustaša und VMRO spiegelten sich vor allem in jenem Vorschlag der jugoslawischen Regierung wider, dass zu den strafbaren Handlungen auch die »materielle Unterstützung« von Terroristen zählen sollte: The Royal Delegation of Yugoslavia has the honour to submit to the Committee of Experts appointed to draw up a preliminary draft international convention on the repression of political terrorism the following suggestions on behalf of the Yugoslav Government: […] Ad Paragraph . – Among the acts which should be added to those already enumerated, mention should be made of »material support given with a view to the commission of acts of terrorism, and assistance afforded to the authors of such acts, by facilitating their movements and providing them with shelter«, in so far as the general rules regarding complicity are not sufficient in the connection.

 League of Nations, C..M...V. (wie Anm. ),  [Hervorheb. i. O.].  Ebd., .

321

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

Wie sehr die Belgrader Vorschläge durch die eigene Sicherheitslage beeinflusst wurden, wird auch in Punkt D der jugoslawischen Stellungnahme zur Frage des politischen Asyls deutlich: The Yugoslav Government is of opinion that the proposed convention would not fulfil its purpose if it was not reinforced by a system of preventive measures against terrorist acts. In this connection, the Yugoslav Government considers that it would be necessary to define in clear terms the extent of the right of asylum in regard to political émigrés, and particularly to prevent, by suitable measures, their concentration in special camps and their establishment in groups in the vicinity of the state against which the acitivity of such émigrés is directed. Similarly, the contracting states should assume the obligation to supervise closely the movements of conspirators and terrorists whose activities are brought to their attention by the authorities of the country concerned, and there should also be a stipulation providing for effective cooperation between the authorities of the contracting States in the exchange of information regarding such individuals. Beide Staaten, Rumänien und Jugoslawien, machten sich dafür stark, dass die Konvention ein explizites Verbot der Unterstützung von Terroristen durch Drittstaaten beinhaltete. Bukarest bekräftigte diese Forderung mit dem Argument, dass durch eine derartige Bestimmung bereits bestehende nationale und internationale, kodifizierte und ungeschriebene Gesetze zum Schutz der territorialen Integrität und politischen Unabhängigkeit von Staaten eine noch stärkere rechtlich bindende Geltung erführen. Die jugoslawische Seite wiederum plädierte für dieselbe Sache, indem sie die Notwendigkeit der Konkretisierung und Modernisierung des völkergewohnheitsrechtlichen Grundsatzes der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates hervorhob. Gegen diese Position wurde von mehreren Seiten der Einwand erhoben, dass die Aufnahme einer solchen Regelung in die Anti-Terrorismus-Konvention überflüssig sei, da das Verbot der Unterstützung terroristischer Aktivitäten bereits anerkanntes Völkergewohnheitsrecht darstelle. Trotzdem setzte sich die rumänisch-jugoslawische Position durch, sodass sich die Vertragsparteien in Art.  der Konvention von  explizit dazu verpflichteten, terroristischen Aktivitäten keinerlei Unterstützung zu gewähren: The High Contracting Parties, reaffirming the principle of international law in virtue of which it the duty of every State to refrain from any act designed to encourage terrorist activities directed against another State and to prevent the acts in which such activities take shape, undertake as hereinafter provided    

322

Ebd., . Ebd.,  f. Ebd., . Saul, The Legal Response (wie Anm. , Einleitung), .

D i e A n ti -Te r ro ri s m u s - Ko nve n tio n

to prevent and punish activities of this nature and to collaborate for this purpose. Rumänien und Jugoslawien vertraten die Meinung, dass diese Regelung aufgrund ihrer allgemeinen Geltungskraft nicht nur für die Vertragsparteien, sondern auch für alle anderen Staaten bindend sei. Hierbei handelte es sich um eine direkte Reaktion der beiden südosteuropäischen Staaten auf die Tatsache, dass ausgerechnet jene Staaten, die von Bukarest und Belgrad der Unterstützung terroristischer Organisationen bezichtigt wurden, insbesondere Italien, Ungarn und Österreich, sich geweigert hatten, die Konvention zu unterzeichnen. Die Anti-Terrorismus-Konvention

Es war Pella, der auf der Grundlage des französischen Vorschlags und unter Berücksichtigung der Stellungnahmen der interessierten Staaten einen ersten Entwurf (»preliminary draft«) vorbereitete. Dieser wurde dann innerhalb der Expertenkommission weiterentwickelt und in seiner überarbeiteten Fassung am . Mai  dem Völkerbundsrat vorgelegt. Pella hatte in seinem Entwurf eine Terrorismus-Definition vorgeschlagen, in der die Motive der Tathandlung keine Rolle spielten. Dadurch beabsichtigte er, dass terroristische Gewalttaten jedweden Hintergrunds strafrechtlich verfolgt werden könnten. Entscheidend sollten demzufolge nicht die politischen, ethnonationalen, ökonomischen oder anderen Beweggründe der Täter, sondern allein die Tatsache sein, ob eines oder mehrere der in der Konvention genannten Tatbestandsmerkmale vorlägen. Insbesondere definierte der rumänische Strafrechtler Terrorismus als »Handlungen, die illegal und schädigend für gute internationale Beziehungen sind und die sich gegen fremde Staaten, ihre Staatsbürger und ihre Wohlfahrt richten«. Im französischen Vorentwurf vom . Dezember  war noch der Tatbestand des Terrorismus an die Voraussetzung eines politischen Zieles geknüpft worden: »La convention a conclure aura pour but exclusif de faciliter la répression des actes criminels dirigés contre les personnes ou les biens et constituant une action terroriste dans un but politique.« Im ersten Entwurf von , der dem Völker League of Nations, Convention for the Prevention and Punishment of Terrorism (archival copy) [im Folgenden: League of Nation: Convention Terrorism], . In: World Digital Library, http://www.wdl.org/en/item//view// (letzter Zugriff: ..).  Saul, The Legal Response (wie Anm. , Einleitung), .  Lewis, The Birth (wie Anm. , Einleitung), .  Bases pour la conclusion d’un accord international en vue de la répression de crimes commis dans un but de terrorisme politique, zit. n. Keber, Tobias O.: Der Begriff des Terrorismus im Völkerrecht: Entwicklungslinien im Vertrags- und Gewohnheitsrecht unter besonderer Berücksichtigung der Arbeiten zu einem »Umfassenden Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus«. Frankfurt/M. , 

323

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

bundsrat vorgelegt wurde, fehlte nun das Kriterium der politischen Motivation zur Bestimmung einer Tat als terroristisch: Article . The purpose of the present Convention is to ensure international co-operation for the prevention and punishment of crimes which, by their character of violence or by creating a public danger or a state of terror, are of a nature to cause a change in or impediment to the operation of the public authorities or services of the High Contracting Parties or to disturb international relations. Mit diesem Definitionsvorschlag, der sich vom ursprünglichen französischen Entwurf in der Frage des politischen Motivs grundsätzlich unterschied, reagierte Pella im Wesentlichen auf die Forderung der liberal ausgerichteten Regierungen von Norwegen, Finnland, Belgien und der Niederlande, dass die Auslieferungspflicht nicht ausnahmslos und uneingeschränkt für politisch motivierte Straftaten gelte und dass ein politisches Asyl unter bestimmten Voraussetzungen weiterhin gewährt werden könne. Die Einwände bezogen sich vor allem gegen die Auslieferungsfähigkeit wegen aller in den Art.  und  des Entwurfs als terroristische Straftaten definierten Handlungen. Die Staaten, die sich dagegen wehrten, wollten sich das Recht vorbehalten, die Auslieferung einer Person zu verweigern, wenn diese die Bedingungen für die Gewährung eines politischen Asyls erfüllte. Bezeichnend für diese Position ist die finnische Erklärung auf der abschließenden Genfer Konferenz von  zur Finalisierung der Anti-Terrorismus-Konvention: M. [Johannes] Nyyssönen (Finland) said that the Finnish Government could not abandon its traditions on the subject of the right of asylum. It must be remembered that there were several kinds of terrorism; one form of terrorism even was Governmental terrorism, directed, for example, against national minorities or political opponents. The point of view of the Finnish Government was similar to that of the United Kingdom and Danish Governments. The Finnish Government would find it very difficult to extradite a person who had met terrorism in his country by an act of desperation. For those reasons the Finnish delegation hoped the Convention would restrict the right of asylum as little as possible.  League of Nations, C..M...V. (wie Anm. ), .  Mosler, Hermann: Die Konferenz zur internationalen Bekämpfung des Terrorismus (November ). In: Zeitschrift für ausländisches und öffentliches Recht und Völkerrecht  (), -, hier ; Saul, The Legal Response (wie Anm. , Einleitung),  f.  League of Nations, Proceedings of the International Conference of the Repression of Terrorism. Geneva, C..M...V., Geneva, November st to th, , Geneva  [im Folgenden: League of Nations, C..M...V.] . In: UN archives Geneva, https://biblio-archive.unog.ch/Dateien/CouncilMSD/C--M---V_ EN.pdf (letzter Zugriff: ..).

324

D i e A n ti -Te r ro ri s m u s - Ko nve n tio n

Die entgegensetzte Position vertrat Polen, das verlangte, dass die Konvention vor allem den politisch motivierten Terrorismus betreffen sollte: M. [Lucien] Bekerman (Poland) […] reminded the Conference, as M. Komarnicki had done, that the original French proposals had referred to »political terrorism«. That expression had now been abandoned in favour of »terrorism« alone. But, none the less, there was no doubt that political terrorism was what had been meant all along. The odious and tragic act which had been the origin of the draft Convention was in itself an act of political terrorism. The purpose of the Conference was not so much to wipe out political terrorism as to establish a line of demarcation between political terrorism and non-political terrorism. The Conference was not concerned with non-political terrorism. Acts which created a state of terror, though not political in character, were reprehensible in themselves and were extraditable, even without the conclusion of a new Convention. The provisions of the extradition treaties were sufficient for the purpose. Schließlich sollte sich die von politischen Motiven abgekoppelte TerrorismusDefinition im endgültigen Konventionstext durchsetzten. In Art.  Abs.  der Konvention von  wurde ein terroristischer Akt folgendermaßen definiert: In the present Convention, the expression »act of terrorism« means criminal acts directed against a State and intended or calculated to create a state of terror in the minds of particular persons, or a group of persons or the general public. Pella bezog sich in seiner Stellungnahme als Vertreter Rumäniens auf der besagten Konferenz von  darauf, dass bei der Bestimmung einer Tat als terroristisch die Frage nach dem politischen Motiv der Handlung als bestimmendes Kriterium ausgeklammert worden sei. Dabei verwies der rumänische Strafrechtler u. a. auf die Gesetzgebung seines Landes, in der terroristische Taten von politischen Straftaten bereits abgekoppelt worden seien. Zudem kündigte er die Absicht Bukarests an, die bereits existierenden bilateralen Verträge Rumäniens mit Portugal und Spanien entsprechend abzuändern sowie in allen zukünftigen Verträgen eine klare Trennung zwischen Terrorismus und politischen Taten vorzunehmen: M. Pella (Romania), Rapporteur, speaking as delegate of Romania, reminded the Conference [that] a text already existed in the new Romanian Code, providing that terrorist acts should never be deemed to be political offences. Romania would propose that a clause should be inserted in the bilateral Conventions already existing between her and Portugal and Spain, and in all fu Ebd., .  League of Nation, Convention Terrorism (wie. Anm. ), .

325

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

ture conventions to be concluded by her, stipulating that terrorist acts should never be regarded as political offences. In den Art.  und  wurden die Tatbestandsmerkmale einer terroristischen Handlung konkretisiert, und zwar unabhängig davon, ob damit politische Ziele verfolgt wurden. Insbesondere wurden als solche Angriffe gegen Staatsoberhäupter und ihre Angehörigen, gegen Regierungsmitglieder, Mitglieder des diplomatischen Korps, Parlamentarier, Justizbeamte sowie gegen staatliche Behörden und andere öffentliche Einrichtungen definiert. Auch vorbereitende Aktionen zur Durchführung eines terroristischen Anschlags, die Anstiftung zur Begehung einer terroristischen Straftat sowie die Unterstützung von Terroristen wurden in den Tatbestandskatalog aufgenommen: Article . Each of the High Contracting Parties shall, if this has not already been done, make the following acts committed on his own territory criminal offences if they are directed against another High Contracting Party and if they constitute acts of terrorism within the meaning of Article : () Any wilful act causing death or grievous bodily harm or loss of liberty to: (a) Heads of States, persons exercising the prerogatives of the head of the State, their hereditary or designated successors; (b) The wives or husbands of the abovementioned persons; (c) Persons charged with public functions or holding public positions when the act is directed against them in their public capacity. () Wilful destruction, or damage to, public property or property devoted to a public purpose belonging to or subject to the authority of another High Contracting Party. () Any wilful act calculated to endanger the lives of members of the public. () Any attempt to commit an offence falling within the foregoing provisions of the present article. () The manufacture, obtaining, possession, or supplying of arms, ammunition, explosives or harmful substances with a view to the commission in any country whatsoever of an offence falling within the present article. Article . Each of the High Contracting Parties shall make the following acts criminal offences when they are committed on his own territory with a view to an act of terrorism falling within Article  and directed against another High Contracting Party, whatever the country in which the act of terrorism is to be carried out: () Conspiracy to commit any such act; () Any incitement to any such act, if successful; () Direct public incitement to any act mentioned under heads (), () or () of Article , whether the incitement be successful or not; () Wilful participation in any such act; () Assistance, knowingly given towards the commission of any such act.

 League of Nations, C..M...V. (wie Anm. ), .  League of Nations, Convention Terrorism (wie Anm. ),  f.

326

D i e A n ti -Te r ro ri s m u s - Ko nve n tio n

Durch die Konvention, insbesondere deren Art.  und , sollten die ihr beizutretenden Staaten verpflichtet werden, entweder den Tatverdächtigen an den vom terroristischen Verbrechen betroffenen Staat auszuliefen oder die Strafverfolgung gegen ihn selbst aufzunehmen. Allerdings wurde die Auslieferungspflicht durch Art.  Abs.  abgeschwächt. Denn dieser sah vor, dass die Auslieferung eines Verdächtigen nach dem inländischen Recht jenes Staates zu regeln sei, in dem der potentielle Täter Zuflucht finde: Article . . With prejudice to the provisions of paragraph  below, the offences set out in Articles  and  shall be deemed to be included as extradition crimes in any extradition treaty which has been, or may hereafter be, concluded between any of the High Contacting Parties. . The High Contracting Parties who do not make extradition conditional on the existence of a treaty shall henceforward, without prejudice to the provisions of paragraph  below and subject to reciprocity, recognise the offences set out in Articles  and  as extradition crimes as between themselves. . For the purposes of the present article, any offence specified in Articles  and , if committed in the territory of the High Contacting Party against whom it is directed, shall also be deemed to be an extradition crime. . The obligation to grant extradition under the present article shall be subject to any conditions and limitations recognised by the law or the practice of the country to which application is made. Article . . When the principle of the extradition of nationals is not recognised by a High Contracting Party, nationals who have returned to the territory of their own country after the commission abroad of an offence mentioned in Article  or  shall be prosecuted and punished in the same manner as if the offence had been committed on that territory, even in a case where the offender has acquired his nationality after the commission of the offence. . The provisions of the present article shall not apply if, in similar circumstances, the extradition of a foreigner cannot be granted. Article . Foreigners who are on the territory of a High Contracting Party and who have committed abroad any of the offences set out in Articles  and  shall be presented and punished as though the offence had been committed in the territory of that High Contracting Party, if the following conditions are fulfilled – namely that: (a) Extradition has been demanded and could not be granted for a reason not connected with the offence itself; (b) The law of the country of refuge recognises the jurisdiction of its own courts in respect of offences committed abroad by foreigners; (c) The foreigner is a national of a country which recognises the jurisdiction of its own courts in respect of offences committed abroad by foreigners. Die Konvention zur Bekämpfung des Terrorismus wurde zwar von insgesamt  Staaten unterzeichnet, dennoch nur von Indien ratifiziert und ist demzufolge  Ebd.,  f.

327

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

nie in Kraft getreten. Bemerkenswerterweise gehörte zu diesen  Staaten auch das der Unterstützung terroristischer Aktivitäten bezichtigte Bulgarien. Auf der anderen Seite lehnte Warschau die Anti-Terrorismus-Konvention letztendlich ab mit der Begründung, dass im Vertragstext der völkerrechtliche Grundsatz aut dedere aut judicare nicht genügend Berücksichtigung gefunden habe, sodass aus polnischer Sicht in der Angelegenheit der internationalen Strafverfolgung eines Tatverdächtigen kein wirklicher Fortschritt erzielt worden sei. Der polnische Vertreter bei der abschließenden Konferenz des Völkerbunds zum Anti-Terrorismus-Abkommen  in Genf, Titus Komarnicki, der auch an der Arbeit der Expertenkommission teilgenommen hatte, brachte die Einwände seiner Regierung wie folgt zum Ausdruck: The Convention which it was now proposed to conclude under the League’s auspices should, in the Polish Government’s view, contribute something really new to the existing situation, and should, in particular, make it impossible for terrorist crimes to go unpunished. That purpose might be achieved by incorporating in the Convention the principle that a criminal must either be tried by the country in the territory of which he had sought refuge or must be extradited and transferred to the authorities of the country against which his crime was directed. The Polish Government noted with regret that the draft framed at the Committee’s third session now contained very little trace of the principle aut dedere aut judicare, which should have been the keystone of the whole Convention. The obligation to extradite was so hemmed in by restrictions and conditions that the adoption of the draft would, in point of fact, produce no change in the existing situation; as to the obligation to try the accused in case of non-extradition, that was not even made explicitly compulsory.

Das Statut zur Gründung eines internationalen Strafgerichtshofs

Wie bereits erwähnt, sah der französische Vorschlag zur Bekämpfung des politischen Terrorismus auch die Gründung eines internationalen Strafgerichtshofs vor, der in Ergänzung zu den nationalen Gerichten tätig sein würde. Er sollte im System der strafrechtlichen Ahndung terroristischer Verbrechen eine komplementäre Rolle einnehmen und nur dann eingeschaltet werden, wenn die Strafverfolgung durch ein nationales Gericht nicht möglich sei. Insbesondere enthielt der französische Vorschlag zwei konkrete Fälle, in denen ein Anrufen des internationalen Strafgerichtshofs vorgesehen war:



328

League of Nations, C..M...V. (wie Anm. ), .

Da s St a tu t zu r G r ü n d u n g e in e s in te r n a tio n al e n Straf g e ri c h t s h of s

The International Criminal Court would have to try individuals accused of any one of the acts above mentioned in the following cases: (a.) Where the accused has taken refuge in a country other than that which desires to prosecute him, and the country of refuge prefers to bring up the accused for judgment before the International Criminal Court rather than grant extradition to the State applying it; (b.) Where the State on whose territory the act was committed prefers to waive prosecution before its own courts in the particular case concerned. Vor allem im ersten Fall, in dem ein Drittstaat den Auslieferungsantrag des von einem terroristischen Anschlag betroffenen Staates ablehnte, spiegelte sich zum wiederholten Mal die Erfahrung des Marseiller Attentats wider, als sich das faschistische Italien geweigert hatte, die Ustaša-Männer an die Behörden von Frankreich und Jugoslawien zu übergeben. Pella, der nun seit mehr als einem Jahrzehnt für die Gründung eines internationalen Strafgerichtshofs kämpfte, äußerte sich zum französischen Vorstoß positiv. Wohl ahnend, dass sich mehrere Staaten dagegen wehren würden, plädierte aber auch er dafür, die vorrangige Gerichtsbarkeit bei den Nationalstaaten zu belassen und die internationale Strafjustiz der einschränkenden Wirkung des Komplementaritätsprinzips zu unterziehen: [I]n present circumstances, the system advocated by the French Government would be the one most easily realisable in practice. Though maintaining the basic principle of priority of jurisdiction for national courts, the French proposals do not exclude the possibility of investing an international court with certain powers. This system does not in any way curtail a State’s right to try persons who have committed acts of terrorism in its territory or persons guilty of such acts who have taken refuge therein. Exercise of jurisdiction by an international court would therefore only be conceivable if the State which held the accused in custody voluntarily renounced its right to exact punishment. It might even be said that this conception resembles to a certain extent the idea of jurisdiction by delegation. In derselben Stellungnahme vom . April  äußerte Pella nicht nur die uneingeschränkte Zustimmung Bukarests zum französischen Vorentwurf, sondern stellte auch in Aussicht, mit eigenen Vorschlägen an der Realisierung der Errichtung eines internationalen Strafgerichtshofs mitzuwirken. Zudem erinnerte Pella an die Vorreiterrolle Rumäniens auf diesem Gebiet: The Romanian Government entirely agrees with the French Government that, in the matter of terrorism‚ »the establishment of an International Criminal Court meets the double requirements of ensuring impartial justice in  League of Nations, C..M...V. (wie Anm. ), .  Ebd.,  [Hervorheb. i. O.].

329

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

specially delicate cases and covering the responsibility of the State, whose courts would have to try crimes of this kind«. As to what this jurisdiction should be, the Romanian Government would draw attention to the fact that, repeating proposals made as far back as  by its representatives at the various international Conferences, it asked, during the ninth Assembly of the League of Nations in , that the Permanent Court of International Justice should be vested with a criminal jurisdiction. […] Romania, therefore, cannot but endorse the French proposals, which are fully in keeping with the recent movement in favour of creating an international criminal court – a movement which, as M. Politis has said, »is destined to acquire increasing scope and force because it is in conformity with the evolution of law in all human communities«. […] As regards the organisation of the International Criminal Court the establishment of which is requested by the French Government, Romania proposes to submit in due course to the Committee set up by the Council of the League of Nations certain suggestions based on a single and precise system. This system would avoid most of the difficulties which, at the present time, the organisation and working of such a court would encounter. Allerdings waren nicht alle Staaten für die Gründung eines internationalen Strafgerichtshofs. Einer der vehementesten Gegner war die ungarische Regierung. In ihrer Stellungnahme zum ersten Entwurf der Expertenkommission für eine Konvention zur Gründung eines internationalen Straftribunals ließ sie keine Zweifel daran aufkommen, dass ihre negative Haltung zur Konvention unverändert sei und sie sich nicht daran beteiligen werde: With reference to the draft Convention for the Creation of an International Criminal Court, the Hungarian Government wishes to recall that […] it was not in favour of the creation of an International Criminal Court. […] The Hungarian Government, while emphasizing once again that it cannot see its way to accept the draft Convention for the Creation of an International Criminal Court and maintaining its general standpoint unaltered, is nevertheless anxious to reply on the request made to it on behalf of the council and to submit some observations on certain provisions of the draft in question, on the understanding that these observations do not in any way imply that it considers the creation of an International Criminal Court and the conclusion of a Convention on this matter necessary or even desirable. Auch Italien, das Land, das ursprünglich mit seiner Ablehnung des französischen Auslieferungsantrags den Stein ins Rollen gebracht hatte, erklärte, dass es nicht  Ebd.,  f. [Hervorheb. i. O.].  Observations by Governments on the Draft Convention for the Prevention and Punishment of Terrorism, and Draft Convention for the Creation of an International Criminal Court, Series I, League of Nations, Document A. .. V., , zit. n. El Zeidy, The Principle (wie Anm. ), .

330

Da s St a tu t zu r G r ü n d u n g e in e s in te r n a tio n al e n Straf g e ri c h t s h of s

nur einzelne Punkte, sondern grundsätzlich die Gründung eines internationalen Strafgerichtshofs ablehne. Rom wies in seiner Rechtfertigung u. a. auf die Tatsache hin, dass die nationale Gesetzgebung die Auslieferung italienischer Staatsbürger nicht erlaube. Trotz der besagten Probleme mit den ukrainischen Nationalisten in Ostgalizien weigerte sich auch Warschau, an der Gründung eines internationalen Strafgerichtshofs mitzuwirken. Titus Komarnicki, der polnische Vertreter bei der Genfer Konferenz von , erklärte, dass seine Regierung gegenüber der Schaffung eines internationalen Tribunals eine ablehnende Haltung einnehme, wolle allerdings andere Staaten an der Realisierung dieses Vorhabens nicht hindern: M. Komarnicki would offer no comment on the draft Convention for the Creation of an International Criminal Court, as the Polish Government did not propose to accede to any such Convention. Poland, however, did not in any way intend that her attitude should prevent other countries from organising an International Court or recognising its jurisdiction as between themselves. At the same time, the Polish Government desired to state explicitly that it could not allow the existence of the Court to affect in any way the obligations into in virtue of the principal Convention. Gegen die Gründung eines internationalen Gerichtshofs positionierten sich außerdem Norwegen und Venezuela. Auch Großbritannien vertrat die Meinung, dass in der Strafverfolgung terroristischer Verbrechen die nationalen Gerichte weit effizienter als ein internationales Straftribunal seien. Wie Warschau erklärte auch London, dass es trotzdem nicht versuchen würde, die Gründung des geplanten Straftribunals durch die willigen Staaten zu verhindern. Die tschechoslowakische Regierung schließlich bekundete einerseits ihre große Sympathie für das Projekt der Errichtung eines internationalen Gerichtshofs, sprach sich andererseits aber in Anbetracht der negativen Haltung vieler anderer Staaten gegen die Fortsetzung der Arbeiten auf diesem Gebiet aus, um dadurch nicht den erfolgreichen Abschluss der Verhandlungen über die AntiTerrorismus-Konvention zu gefährden: The Czechoslovak Government is in sympathy with the idea of concluding an international Convention for the Creation of an International Criminal Court, to have the character of a permanent Tribunal competent to try the specific criminal cases referred to it. […] Since, however, many states have adopted a negative attitude towards this draft convention it seems unlikely that any agreement will be reached in the near future and the Czechoslovak

 Lewis, The Birth (wie Anm. , Einleitung), .  League of Nations, C..M...V. (wie Anm. ), .  Ebd.,  f.

331

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

Government is opposed to any discussion of this draft which would delay the successful conclusion of the first Convention. Der große Widerstand gegen die Gründung eines internationalen Gerichtshofs veranlasste die Expertenkommission, in der zweiten Sitzungsperiode (Januar ) das zunächst in der Anti-Terrorismus-Konvention integrierte Statut des anvisierten Straftribunals als separate Konvention auszuarbeiten. Andernfalls bestand die Gefahr, dass die der Gründung eines internationalen Strafgerichtshofs feindlich gegenüberstehenden Staaten auch die Konvention zur Bekämpfung des Terrorismus ablehnen würden. Die Expertenkommission begründete die Entscheidung für die Ausarbeitung einer eigenständigen Konvention zur Gründung eines internationalen Strafgerichtshofs wie folgt: [The committee] notes that certain Governments have disputed the advisability of creating an international criminal court, but that the trial of persons guilty of such attacks by such a court is felt by other Governments to constitute an alternative which, in certain cases, would be preferable to extradition or to prosecution, and that on this ground the second convention has been regarded by the latter Governments as valuable, even if it is not capable of securing general acceptance. Der zweite Entwurf eines internationalen Strafgerichtshofs wurde am . Oktober  der ersten Kommission der Vollversammlung des Völkerbunds als eigenständige Konvention vorgelegt. Der Expertenkommission lag bei der Ausarbeitung dieses Entwurfs der von tschechoslowakischer Seite vorgebrachte Einwand zugrunde, dass die sich der Jurisdiktion eines internationalen Strafgerichts unterwerfenden Staaten in ihren Beziehungen zu anderen Staaten, die nur der Anti-Terrorismus-Konvention beigetreten wären, nicht den neugegründeten Strafgerichtshof einschalten könnten. Die wichtigste Neuerung, die mit dem zweiten Entwurf eingeführt wurde, war die Bezugnahme auf mehrere Artikel der  League of Nations, C..M...V., International Repression of Terrorism, Draft Convention for Prevention and Punishment of Terrorism, Draft Convention for the Creation of an International Criminal Court, Observations by Governments, Note by the Secretary-General, Geneva, March th,  [im Folgenden: League of Nations, C..M...V.], . In: UN archives Geneva, https://biblio-archive.unog.ch/Dateien/CouncilMSD/C--M---V_EN.pdf (letzter Zugriff: ..)  Marjanović, Vladislav: Das Attentat von Marseille und die internationale Bekämpfung des Terrorismus. In: Zeitgeschichte  (), -, hier .  League of Nations, Doc. A...V., Records on the Seventeenth Ordinary Session of the Assembly: Minutes of the First Committee. In: League of Nations official Journal ,  (), Annex , , zit. n. Mohamed M. El Zeidy: The Genesis of Complementarity. In: The International Criminal Court and Complementarity. From Theory to Practice. Hg. v. Carsten Stahn und Mohamed M. El Zeidy. Cambridge [u. a.] , -, hier .  El Zeidy, The Principle (wie Anm. ), .

332

Da s St a tu t zu r G r ü n d u n g e in e s in te r n a tio n al e n Straf g e ri c h t s h of s

Anti-Terrorismus-Konvention, welche die Strafverfolgung eines terroristischen Verbrechens auf nationaler und internationaler Ebene vorschrieben. Dadurch wurde das im französischen Vorentwurf enthaltene Komplementaritätsprinzip präzisiert: Article . () In the case referred to in Articles , ,  and  of the Convention for Prevention and Punishment of Terrorism, each High Contracting Party to the present Convention shall be entitled, instead of prosecuting before his own tribunal, to send the accused for trial before the Court. () A High Contracting Party shall further be entitled in the case mentioned in Article  of the said Convention, instead of extraditing, to send the accused for trial before the Court if the State demanding extradition is also party to the present Convention. () The provisions of the present Article shall be applicable only if the accused is a national of a State which is a Party to the present Convention and if the offence is directed against the interests of a High Contracting Party to the present Convention. Im November  berieten, wie bereits oben erwähnt, die Delegationen von insgesamt  Staaten in einer in Genf stattfindenden diplomatischen Konferenz über diesen zweiten Entwurf. Mehrere Staaten brachten Verbesserungsvorschläge ein. Diese konzentrierten sich auf das Herzstück der Konvention, nämlich den besagten Art. , der das Komplementaritätsverhältnis zwischen nationaler und internationaler Gerichtsbarkeit regelte. Ein wichtiger Verbesserungsvorschlag kam von der griechischen Vertretung bezüglich der Ergänzung einer Regelung, die vorschrieb, dass im Fall, in dem ein Staat die Auslieferung eines Verdächtigen an den internationalen Gerichtshof beschlossen habe, andere Staaten keinen Einspruch gegen diese Entscheidung erheben könnten. Der Vorschlag wurde angenommen, sodass die Expertenkommission Art.  entsprechend überarbeitete. In der Endfassung wurde schließlich der überarbeitete Art.  in Art.  umnummeriert. Dieser bestimmte letztlich, dass ein Staat, der der Konvention zur Gründung eines internationalen Strafgerichts beiträte, im Umgang mit einem mutmaßlichen Täter drei Optionen hätte: a) die eines terroristischen Verbrechens verdächtigte Person vor ein nationales Gericht zu bringen oder b) sie an den vom terroristischen Verbrechen betroffenen Staat auszuliefern oder c) den internationalen Strafgerichtshof mit der Verhandlung uns Aburteilung zu beauftragen. Hier wurde erstmals ein Modell des Zusammenwirkens zwischen nationaler und internationaler Gerichtsbarkeit entwickelt, das, wie noch weiter  League of Nations, Doc. A.  (b). . V. (C..M...V.),  f., zit. n. ebd.  Darunter befanden sich auch Vertretungen von Staaten, welche die Unterzeichnung der Konvention zur Errichtung eines internationalen Strafgerichts abgelehnt hatten, wie etwa die von Großbritannien, Norwegen, Ungarn, Polen und Venezuela. El Zeidy, The Principle (wie Anm. ), .  Ebd., -.

333

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

unten gezeigt wird, von großer Bedeutung für die Entwicklung des Völkerstrafrechts war. Diese innovative Leistung wird vom ägyptischen Völkerrechtler Mohamed M. El Zeidy, der sich in seiner Forschung auf die Genese und Entwicklung des Komplementaritätsprinzips im Völkerrecht konzentriert hat, folgendermaßen gewürdigt: The first notable [complementarity] model (apart from that mirrored in the penalty provisions of World War I) initially emerged from the League of Nations Convention . The convention was the first official and genuine attempt to create an international criminal court. It was also the first official treaty to introduce a complementary relationship between international and domestic jurisdictions by providing states with freedom of choice as to the forum conveniens. This principal idea shaped a stand-alone complementarity model. It also served as a basis for subsequent draft proposals prepared by official, semi-official and non-official bodies throughout the s, s and the s […].

Völkerrechtliche Nachwirkungen

Die beiden Konventionen sind nie in Kraft getreten, woraufhin mehrheitlich die Ansicht vertreten wurde, dass das im Rahmen des Völkerbunds in Angriff genommene Vorhaben der Schaffung einer völkerstrafrechtlichen Grundlage zur Ahndung terroristischer Verbrechen »ein totaler Misserfolg« gewesen sei. Dennoch stellen die zwei, auf die südosteuropäische Konfliktgeschichte zurückzuführenden und unter maßgeblicher südosteuropäischer Beteiligung zustandegekommenen Vertragstexte in mehrerlei Hinsicht einen Meilenstein in der Völkerstrafrechtsgeschichte dar. Bereits  hatte der renommierte US-amerikanische Völkerrechtler Manley O. Hudson die große Bedeutung, welche die Konvention zur Gründung eines internationalen Strafgerichtshofs in Zukunft für die Entwicklung des internationalen Rechts haben würde, vorhergesagt – und zwar ganz unabhängig davon, ob sie in Kraft treten würde oder nicht: Whether the convention should be brought into force or not, whether if it is brought into force the court as therein envisaged be created or not, certain ideas underlying the convention will certainly attract interest in the future and they may have influence in the further development of international legislation.  El Zeidy, The Genesis (wie Anm. ), .  Marjanović, Das Attentat (wie Anm. ), .  Hudson, Manley O.: The Proposed International Criminal Court. In: The American Journal of International Law  () , -, hier .

334

Vö lke r re c h tli c h e N a c hw ir ku n g e n

Pella, einer der Protagonisten der Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs in der Zwischenkriegszeit selbst, bezeichnete  die von ihm als Mitglied der Expertenkommission des Völkerbunds mitentworfenen Konventionen trotz ihrer vielen Schwächen als einen »entscheidenden Wendepunkt« in der Geschichte des Völkerstrafrechts, zumal dadurch erstmals die bis dahin der nationalen Gesetzgebung eingeräumte Exklusivität bei der Ahndung terroristischer Straftaten aufgegeben worden sei: On the official level, the only important development [during the interwar period] was the conclusion of the general convention of November , , for the setting up of an international penal court. This convention […] never came into force because of events leading up to the outbreak of the Second World War. Moreover, its application was limited to the case of terrorism, was optional and contemplated the criminal responsibility of individuals only. Nevertheless, it marked a decisive turning point in the history of contemporary public law. For the first time the regular rendition of international judgments in criminal cases was contemplated, and that corollary of the dogma of sovereignty, the doctrine that such cases belong exclusively to national courts, abandoned.

Das Komplementaritätsprinzip

Wie von Hudson prognostiziert, griff man tatsächlich bei den Vereinten Nationen Anfang der er Jahre auf die Vorarbeit des Völkerbunds zur Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs zurück. So sah etwa die  verabschiedete Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords in Art.  die Möglichkeit der Gründung eines internationalen Strafgerichts als komplementäre Gerichtsbarkeit zur nationalen vor, ohne allerdings diese den Vertragsparteien zu oktroyieren: Persons charged with genocide or any of the other acts enumerated in article III shall be tried by a competent tribunal of the State in the territory of which the act was committed, or by such international penal tribunal as may have jurisdiction with respect to those Contracting Parties which shall have accepted its jurisdiction.  Pella, Towards an International Criminal Court (wie Anm. ),  f.  Bassiouni, M. Cherif: The Time Has Come for an International Criminal Court. In: Indiana International and Comparative Law Review  (), -, hier ; Schabas, William A.: An Introduction to the International Criminal Court. . Aufl. Cambridge [u. a.] , .  Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide. Approved and proposed for signature and ratification or accession by GA resolution  A (III)

335

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

Einer der ersten Entwürfe dieser Konvention, vorbereitet durch die Menschenrechtsabteilung des Sekretariats der Vereinten Nationen, enthielt sogar ein Statut für ein internationales Tribunal, dessen Bestimmungen größtenteils aus der Völkerbundskonvention von  übernommen worden waren. Allerdings schien der Völker- und Strafrechtskommission, die vom Generalsekretär der Vereinten Nationen mit der Weiterentwicklung des Konventionsentwurfs beauftragt wurde, das Unterfangen der Errichtung eines internationalen Strafgerichtshofs zu ambitioniert, um es im Rahmen ihrer Arbeiten weiterzuverfolgen. Bemerkenswerterweise gehörten dieser von Raphael Lemkin geleiteten Kommission auch Vespasian Pella und Henri Donnedieu de Vabres an. Immerhin wurde am selben Tag mit der Annahme der Genozid-Konvention durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen auch eine Resolution verabschiedet, mit der die Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen (International Law Commission – ILC) aufgefordert wurde, das Statut eines internationalen Strafgerichtshofs vorzubereiten. Die ILC erhielt neben dem Mandat der Ausarbeitung des Statuts eines internationalen Strafgerichtshofs den Auftrag, die in den Kriegsverbrechertribunalen von Nürnberg und Tokio zur Anwendung gekommenen Straftatbestände, die sogenannten Nürnberger Kriterien, in der Form eines »Strafgesetzbuchs der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit« zu kodifizieren. Diese Aufgabe erwies sich als sehr arbeits- und zeitaufwendig, sodass die Arbeiten an dem Statut ins Stocken gerieten. Daraufhin wurde  durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen eine gesonderte Völkerstrafrechtskommission ins Leben gerufen, die noch im selben Jahr den Entwurf eines aus



   

336

of  December . Für die deutsche Fassung siehe Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords. In: Tomuschat, Völkerrecht (wie Anm. , Kap. ), -, hier  f. Schabas, An Introduction (wie Anm. ), ; Schabas, William A.: International Sentencing: From Leipzig () to Arusha (). In: International Criminal Law. Bd. : International Enforcement. . Aufl. Hg. v. M. Cherif Bassiouni. Leiden , , hier ; ders.: Genocide in International Law: The Crime of Crimes. Cambridge [u. a.] . Paul, Angela: Kritische Analyse und Reformvorschlag zu Art. II Genozidkonvention. Berlin [u. a.] , . Schabas, An Introduction (wie Anm. ), . Hobe, Einführung (wie Anm. , Einleitung), . Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hatte  konstatiert, dass »im Laufe der Fortentwicklung der internationalen Staatengemeinschaft die zunehmende Notwendigkeit für ein internationales Gerichtsorgan zur Aburteilung bestimmter Verbrechen, die unter das Völkerrecht fallen, bestehen wird«. Committee on International Criminal Jurisdiction, Report of the  Committee on International Criminal Jurisdiction,  July to  August, , UNGAOR, th Sess., Supp. No. , A/, , , zit. n. Farbstein, Susan Hannah: The Effectiveness of the Exercise of Jurisdiction by the International Criminal Court: the Issue of Complementarity, ECMI Working Paper , August , . In: European Centre for Minority Issues, https://

Vö lke r re c h tli c h e N a c hw ir ku n g e n

 Artikeln bestehenden Statuts vorlegte. Der Völkerrechtler El Zeidy stellte diesen Entwurf im Rahmen seiner Untersuchungen zur Weiterentwicklung des völkerrechtlichen Komplementaritätsprinzips der Konvention des Völkerbunds von  gegenüber und konstatierte zwischen den beiden Texten große Ähnlichkeiten, auch wenn, wie er schreibt, die UN-Kommission keinen expliziten Bezug auf die Konvention des Völkerbunds nahm: The system contemplated by the drafters reflects a complementary mechanism comparable to that found in the  League of Nations Convention, despite the absence of an explicit reference to it during the Committee’s discussions. According to this system, it was implicit that a State should have the option of either dealing with the specific case or crime in question before its own domestic courts or waive its primary jurisdiction in favour of the court if it was unwilling to deal with the case. When compared to the mechanism embodied in the  Convention, the apparent difference was that Article  of the  draft did not explicitly require the State to extradite the accused person as an alternative to prosecution before its domestic courts or the international criminal court in accordance with the principle of aut dedere aut judicare. Yet this did not deny the fact that the mechanism enshrined in Article  shared with the  League of Nations Convention the idea of voluntary submission to the jurisdiction of the international criminal court where the State was unwilling to initiate proceedings before its domestic courts. Art.  des Entwurfs von  schrieb insbesondere vor, dass »die Gerichtshoheit dem [internationalen] Gericht von den Vertragsparteien entweder durch die Konvention oder, in einzelnen Fällen, mittels eines gesonderten Abkommens oder einer unilateralen Erklärung übertragen werden kann«. Der darauffolgende Art.  schränkte die Möglichkeit der Strafverfolgung durch den internationalen Strafgerichtshof insofern stark ein, als er vorsah, dass ein solches Verfahren nur dann aufgenommen werden könne, wenn beide Staaten, sowohl das Herkunftsland des Angeklagten als auch der, auf dessen Territorium das mutmaßliche Verbrechen begangen worden sei (Tatortstaat), ihre Zustimmung dazu erteilt hätten: »No person shall be tried before the Court unless jurisdiction has been conferred upon the Court by the State or States of which he is a national and by the State or States in which the crime is alleged to have been committed.«

   

www.ecmi.de/fileadmin/redakteure/publications/pdf/working_paper_.pdf (letzter Zugriff: (..). Schabas, An Introduction (wie Anm. ), . El Zeidy, The Principle (wie Anm. ),  f. [Hervorheb. i. O.]. Report to the GA of the Session held from  to  August  of the Committee on International Criminal Jurisdiction, A/AC. /, zit. n. Pompe, Cornelis Arnold: Aggressive War: An International Crime. Den Haag , . Ebd.

337

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

 beauftragte die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine neu besetzte Kommission mit der Überarbeitung des Entwurfs von  unter Berücksichtigung der Anmerkungen der Mitgliedstaaten. Diese legte  eine erste Entwurfsfassung vor, welche im erweiterten Art.  erneut der nationalstaatlichen Jurisdiktion den Vorrang einräumte und dem völkerstrafrechtlichen Prinzip aut dedere aut judicare nur in einer sehr abgeschwächten Form Rechnung trug, da der zur Strafverfolgung unwillige Staat nicht explizit verpflichtet wurde, die tatverdächtige Person dem internationalen Strafgerichtshof auszuliefern: . Jurisdiction of the Court is not to be presumed; . A State may confer jurisdiction upon the Court by convention, by special agreement or by unilateral declaration; . Conferral of jurisdiction signifies the right to seize the Court, and the duty to accept its jurisdiction subject to such provisions as the State or States have specified; . Unless otherwise provided for in the instrument conferring jurisdiction upon the Court, the laws of a State determining national criminal jurisdiction shall not be affected by that conferral. Art.  des Entwurfs von , der die staatliche Souveränität durch die vorkehrende Regelung schützte, dass die Strafverfolgung durch ein internationales Strafgericht nur mit Genehmigung der zuständigen Staaten erfolgen könne, blieb unverändert. Trotz dieser starken Begünstigung der nationalen Jurisdiktion gegenüber der internationalen Gerichtsbarkeit war auch in diesem Entwurf von  das Komplementaritätsprinzip vorhanden, und zwar im Grundsatz des »freiwilligen Verzichts auf die staatliche Vorrangigkeit zugunsten des internationalen Strafgerichtshofs im Falle einer staatlichen Unwilligkeit zu handeln«. Susan Hannah Farbstein schreibt dazu: Although the term »complementarity« never appeared in this draft Statute, as early as , the principle that would be known as complementarity in the  Rome Statute was developing. As can be seen in the interrelated articles on the Court’s attribution of jurisdiction, recognition of jurisdiction, and access to the court, an initial effort was underway to reach a functional compromise that could create an institution with both adequate powers and sufficient State support to operate effectively, but not unduly impinge upon State sovereignty.

 Schabas, An Introduction (wie Anm. ), .  Farbstein, The Effectiveness (wie Anm. ), .  Committee on International Criminal Jurisdiction, Report of the  Committee on International Criminal Jurisdiction,  July to  August, , UNGAOR, th Sess., Supp. No. , A/, , , zit. n. El Zeidy, The Principle (wie Anm. ),  f.  Farbstein, The Effectiveness (wie Anm. ),   El Zeidy, The Principle (wie Anm. ), .  Farbstein, The Effectiveness (wie Anm. ),  f.

338

Vö lke r re c h tli c h e N a c hw ir ku n g e n

Der Entwurf von  wurde mit dem Abschlussbericht der Kommission der Generalversammlung der Vereinten Nationen vorgelegt. Obwohl der darin vorgesehene internationale Strafgerichtshof mit minimalen Befugnissen ausgestattet war und seine Gerichtsbarkeit auf einem Komplementaritätsmodell basierte, das den Schutz der staatlichen Souveränität zum Ausgangspunkt nahm, zeigte sich die Staatengemeinschaft unwillig, den Entwurf anzunehmen, sodass die Angelegenheit der Gründung des internationalen Strafgerichtshofs erneut auf die lange Bank geschoben wurde. Ungünstig auf eine positive Aufnahme durch die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen wirkte sich auch die Tatsache aus, dass zeitnah, nämlich , auch der Entwurf des besagten »Strafgesetzbuchs der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit« bei der UNGeneralversammlung eingereicht wurde. Zwar beinhaltete dieser keine Regelung zur strafrechtlichen Zuständigkeit, dennoch wurden bei den Besprechungen die beiden Entwürfe in Verbindung gebracht. Etliche Staaten registrierten besorgt einen Trend hin zu einer internationalen Gerichtsbarkeit, an die sie zunehmend Teile ihrer Strafhoheit übertragen müssten. Manche Regierungen verneinten nicht nur das Konzept eines internationalen Tribunals, das mit einer exklusiven Strafverfolgungskompetenz auf dem Gebiet von internationalen Verbrechen ausgestattet wäre, sondern selbst ein komplementäres Verhältnis zwischen nationaler und internationaler Gerichtsbarkeit. Sie beharrten stattdessen auf der Beibehaltung der absoluten Jurisdiktionsgewalt auf nationaler Ebene. Als Folge dieser negativen Haltung wurde zum wiederholten Mal das Projekt der Gründung eines internationalen Strafgerichtshofs auf Eis gelegt. Die ILC befasste sich mit diesem Thema erst wieder in den frühen er Jahren anlässlich der Wiederaufnahme der ebenso Mitte der er Jahre eingestellten Arbeiten zur Vorbereitung des »Strafgesetzbuchs der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit«. Zum Sonderberichterstatter wurde der senegalesische Jurist und Diplomat Doudou Thiam ernannt. Dieser reichte  einen Bericht ein, der erst einmal nur als Diskussionsgrundlage diente und in den nächsten Jahren mehrmals überarbeitet wurde. Einige Mitglieder griffen in ihren Überlegungen bezüglich des Strafgesetzbuchs das in der Konvention von  entwickelte Komplementaritätsmodell und insbesondere dessen leitenden völkerrechtlichen Grundsatz aut dedere aut judicare auf. Der Kenianer Frank Njenga bezog beispielsweise folgende Position: »The code could impose an obligation on each state to extradite offenders or to prosecute them, even when they were not citizens of that State and even when the crime in ques El Zeidy, The Principle (wie Anm. ), .  Die UN-Generalversammlung hatte einen Beschluss über den Entwurf von  in die Zukunft vertagt mit der Begründung, dass dieser »Probleme aufweise, die eng mit der Definition des Angriffskriegs zusammenhängen« würden. Man sollte sich damit erst wieder befassen, wenn die Sonderkommission zur Frage der Definition der Aggression ihren Bericht eingereicht habe. G. A. Res.,  (IX), Ninth Session, th plenary meeting, . Dezember , zit. n. El Zeidy, The Principle (wie Anm. ), .

339

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

tion was not committed in its territory.« Der Vorschlag von Njenga, auf dem Gebiet der Auslieferung und der Prosekution ein System zweier Seite an Seite existierender Jurisdiktionen, einer nationalen und einer internationalen, zu implementieren, kam dem durch die juristische Expertenkommission des Völkerbunds entwickelten Modell von  sehr nahe. Allerdings gab es innerhalb der Kommission für solche Ansichten keine Mehrheit. In dem  von Thiam vorgelegten Entwurf wurde zwar in Art.  Abs.  der sogenannte Gewahrsamsstaat in die Pflicht genommen, den Verdächtigen eines Verbrechens gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit entweder auszuliefern oder selbst ein Strafverfahren gegen ihn einzuleiten. Dennoch stellte Abs.  desselben Artikels klar, dass diese Regelung »nicht die Errichtung einer völkerstrafrechtlichen Gerichtsbarkeit präjudizieren« würde. Das Prinzip aut dedere aut judicare bezog sich somit in diesem Entwurf ausschließlich auf die zwischenstaatliche Ebene bzw. die nationale Gerichtsbarkeit. Im nochmalig überarbeiteten Entwurf von  blieb Art.  unverändert: ». Every State has the duty to try or extradite any perpetrator of an offence against the peace and security of mankind arrested in its territory. . The provision in paragraph  above does not prejudge the establishment of an international criminal court.« Thiam selbst war eigentlich ein Verfechter der internationalen Gerichtsbarkeit, musste aber zur Kenntnis nehmen, dass dafür die notwendigen Voraussetzungen weiterhin fehlten. In Anbetracht der ungünstigen Bedingungen war aus seiner Sicht der Rückgriff auf das Weltrechtsprinzip zu diesem Zeitpunkt die beste Lösung: »[T]he most logical solution of the problem would be an international criminal jurisdiction; but in the absence of such an institution, and pending a decision on the advisability of establishing it, […] the best solution in the present circumstances was still reliance on the principle of universal jurisdiction.« Auch wenn der Entwurf von Thiam keine internationale Gerichtsbarkeit vorsah, ist der Einfluss der Konvention des Völkerbunds von  zur Errichtung eines internationalen Strafgerichtshofs vor allem daran deutlich  Summary Records of the Meetings of the Thirty-Fifth Session ( May- July ), , YILC, Vol. I, , zit. n. ebd., .  Fourth Report on the Draft Code of Offences against the Peace and Security of Mankind, UN.DOC. A/CN./,  YILC, Vol. II, Part One, -, hier , zit. n. ebd., .  Fifth Report on the Draft Code of Offences against the Peace and Security of Mankind, UN.DOC. A/CN./,  YILC, Vol. II, Part One, -, hier , zit. n. ebd., .  Ebd., , zit. n. El Zeidy, The Principle (wie Anm. ), . Das Weltrechtsprinzip, auf das Thiam seine Hoffnungen setzte, bestimmt, dass bei einem Angriff auf besonders schutzwürdige Rechtsgüter der Völkergemeinschaft das nationale Strafrecht eines Staates anwendbar ist, auch wenn der Tatort nicht auf dem Territorium dieses Staates liegt und der Täter oder das Opfer nicht Staatsangehörige des aburteilenden Staates sind. Stein, Torsten/Buttlar, Christian von: Völkerrecht. . Aufl. Köln [u. a.] , .

340

Vö lke r re c h tli c h e N a c hw ir ku n g e n

zu erkennen, dass im besagten Art.  das Prinzip aut dedere aut judicare – auch wenn nur auf die Ebene der nationalen Gerichtsbarkeit beschränkt – zum Ausdruck kam, und zwar in einer zugespitzten Variante im Vergleich zur Konvention des Völkerbunds. El Zeidy schreibt dazu: Yet the apparent difference between the system introduced by the Special Rapporteur and that found in the  League of Nations Conventions was the obligatory language used in the text of Article  of the draft Articles. While Article  used the obligatory clause »Every State has the duty to try or to extradite«, the provision under the  Convention used the optional language »each High contracting Party to the present Convention shall be entitled, instead of prosecuting before his own tribunal, to send the accused for trial before the court«. Die ILC debattierte zum Thema der Verhandlung und Verurteilung von Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit weiter, und  schlug schließlich der DDR-Völkerrechtler Bernhard Graefrath ein Modell der komplementären Gerichtsbarkeit vor, in dem der internationale Gerichtshof zwei verschiedene Funktionen bekleiden könnte: entweder eine Ersatzfunktion im Falle, dass der zur Strafverfolgung aufgerufene bzw. verpflichtete Staat dieser Pflicht nicht nachkäme, oder die eines letztinstanzlichen Gerichts, falls der Opferstaat Einspruch gegen die im Gewahrsamsstaat stattgefundene Aburteilung der tatverdächtigen Person erheben wollte. Der »Mechanismus« im ersten Fall war »vergleichbar mit dem, den die Völkerbundskonvention von  entworfen hatte«. Dass man Ende der er Jahre innerhalb der ILC wieder intensivere Überlegungen über die Gründung eines internationalen Strafgerichtshofs anstellte, hatte vorwiegend damit zu tun, dass in der Haltung der Generalversammlung der Vereinten Nationen diesbezüglich ein Wandel eingetreten war. Im knappen Zeitraum der Jahre / hatte man in New York drei Resolutionen verabschiedet, in denen die ILC aufgefordert wurde, der Frage der Gründung eines internationalen Strafgerichtshofs oder eines anderen internationalen Strafverfolgungsmechanismus nachzugehen. Eine Sondersitzung der Generalversammlung zum Problem des internationalen Drogenhandels erwies sich dabei von besonderer Bedeutung, da auf Vorschlag von Trinidad und Tobago der ILC  der Auftrag erteilt wurde, einen Bericht über die Errichtung eines internationalen Strafgerichts zur Verurteilung von Drogenhändlern vorzubereiten. Demzufolge nahm von  bis  die Beschäftigung der ILC mit dem Thema der Errichtung eines internationalen Straftribunals zu. Im Zentrum der Debatte  El Zeidy, The Principle (wie Anm. ), .  Ebd., .  Ebd.,  f.; Bassiouni, M. Cherif: The Making of the International Criminal Court. In: ders., International Criminal Law, -, hier .

341

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

stand erneut die Frage des Verhältnisses der Gerichtsbarkeit des neuen Tribunals zur nationalen Jurisdiktion. Im Wesentlichen wurden drei Möglichkeiten in Erwägung gezogen: a) exklusive Gerichtsbarkeit über internationale Verbrechen, b) komplementäre Gerichtsbarkeit nach dem Modell von  oder c) komplementäre Gerichtsbarkeit in der Form einer zweitinstanzlichen Gerichtsbarkeit. Zur effizienteren Bearbeitung des Sachverhalts wurde eine Arbeitsgruppe innerhalb der ILC konstituiert, die in ihrem Bericht von  für die Option plädierte, dass »der internationale Strafgerichtshof komplementär zum vorhandenen System der nationalen Gerichte sein« sollte. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen begrüßte in ihrer Resolution / den Bericht und forderte zugleich die Völkerrechtskommission auf, die Vorbereitung des Statuts für einen internationalen Gerichtshof als »vorrangig« zu behandeln. Dabei sollten die Vorschläge der Arbeitsgruppe und die Debatte in der für rechtliche Fragen zuständigen Sechsten Kommission der Generalversammlung sowie die einschlägigen Stellungnahmen der Staaten berücksichtigt werden. Der Sonderbeauftragte der Völkerrechtskommission schlug daraufhin  in seinem elften Bericht über den Entwurf eines »Strafgesetzbuchs der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit« die Errichtung eines Systems der »optionalen, zeitgleichen und komplementären Jurisdiktion« vor. Dies bedeutete konkret, dass jeder Staat, unabhängig davon, ob er dem Statut des Strafgerichts beigetreten war oder nicht, die Möglichkeit haben sollte, »eine angeklagte Person von der eigenen Justiz aburteilen zu lassen oder sie andernfalls an die Jurisdiktion des [internationalen] Gerichts zu verweisen«. Diese Lösung habe, so der Sonderbeauftragte, »die Unterstützung der Mehrheit innerhalb der Kommission gewonnen«. Der vom Sonderbeauftragten vorgestellte Mechanismus, der dem Gewahrsamsstaat die Option eröffnete, einen Tatverdächtigen der internationalen Justiz zu überstellen, ähnelte dem Modell der Völkerbundskonvention von , das für den internationalen Strafgerichtshof eine fakultative Zuständigkeit vorsah. Die  wiedereinberufene Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung eines Statuts für einen internationalen Strafgerichtshof behielt das sogenannte »opt in«-Modell bei, ergänzte es aber durch Vorbedingungen, von deren Erfüllung die Zulässigkeit der Aufnahme eines Strafverfolgungsverfahrens durch das internationale  Ahlbrecht, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), ; El Zeidy, The Principle (wie Anm. ),  f.  Report of the ILC on the Work of its Forty-fourth Session ( May- July ), Annex Report of the Working Group on the Question of an International Criminal Jurisdiction, UN.Doc. A//,  YILC, Vol. II. Part Two, , zit. n. El Zeidy, The Principle (wie Anm. ), .  Eleventh Report on the Draft Code of Crimes Against the Peace and Security of Mankind: Draft Statute for an International Criminal Court, UN. Doc. ACN./, , YILC, Vol. II, Part One, -, zit. n. ebd., .  Werle, Gerhard: Völkerstrafrecht. ., neu bearb. Aufl. Tübingen , .

342

Vö lke r re c h tli c h e N a c hw ir ku n g e n

Gericht abhängig gemacht wurde. Diese Vorbedingungen bezogen sich vor allem auf das etwaige Versäumnis der nationalen Gerichtsbarkeit, ein internationales Verbrechen strafrechtlich wirksam zu verfolgen. Zugleich wurde erstmals in einem Entwurf der Begriff »Komplementarität« eingeführt. So hieß es in der Präambel: »[S]uch a court is intended to be complementary to national criminal justice systems in cases where such trial procedures may not be available or may be ineffective.« In Art.  wurde eine Präzisierung der besagten Vorbedingungen vorgenommen. Allerdings fand diese nach einem Ausschlussverfahren statt, in welchem die Fälle aufgezählt wurden, in denen der internationale Gerichtshof die Aburteilung einer mutmaßlichen Straftat zugunsten eines nationalen Gerichtsverfahrens ablehnen müsste: Article . Issues of admissibility. The court may, on application by the accused or at the request of an interested State at any time prior to the commencement of the trial, or of its own motion, decide, having regard to the purposes of this Statute set out in the preamble, that a case before it is inadmissible on the ground that the crime in question: (a) Has been duly investigated by a State with jurisdiction over it, and the decision of that State not to proceed to a prosecution is apparently well-founded; (b) Is under investigation by a State which has or may have jurisdiction over it, and there is no reason for the Court to take any further action for the time being with respect to the crime; or (c) Is not of such gravity to justify further action by the court. Im Herbst  wurde der von der ILC ausgearbeitete Statutsentwurf der Generalversammlung vorgelegt. Am . Dezember  beschloss diese die Einsetzung einer Ad-hoc-Kommission mit der Aufgabe, »einen Überblick über die wesentlichen inhaltlichen und administrativen Themen«, die sich aus dem Statutsentwurf ergaben, zu erstellen und eine internationale Konferenz der Staatenvertreter vorzubereiten. Die Ad-hoc-Kommission nahm das komplementäre Modell der ILC zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit. U. a. beriet sie über den Umfang der Eingriffe in die nationalen Jurisdiktionsbefugnisse sowie über die Ambiguität von Schlüsselbegriffen, vor allem jenen zur Bezeichnung des Versagens der nationalen Gerichtsbarkeit (»not available« und »ineffective«). Nachdem sie im  Draft Statute for an International Criminal Court with Commentaries, , Text Adopted by the ILC at its Forty-sixth Session, and Submitted to the GA as a Part of the Commission’s Report Covering the Work at that Session, . In: UN. Office of Legal Affairs, http://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/commentaries/__.pdf (letzter Zugriff: ..).  Ebd., .  UN, GA, A/Res. /,  February , th plenary meeting, . Dezember , Establishment of an international criminal court. In: UN. Documents, https:// undocs.org/en/A/RES// (letzter Zugriff: ..).  El Zeidy, The Principle (wie Anm. ), .

343

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

September  bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen ihren Abschlussbericht samt Statutsentwurf eingereicht hatte, wurde am . Dezember mit der Resolution / ein Vorbereitungskomitee (»Preparatory Committee«) eingesetzt, »das allen Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen und Mitgliedern von Spezialeinrichtungen offenstand, um die weiteren inhaltlichen und administrativen Themenbereiche zu diskutieren, die sich aus dem ILC-Statut ergeben« würden. Erneut stand die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem internationalen Strafgerichtshof und den nationalen Gerichten sowie den damit verbundenen Zuständigkeiten im Zentrum der Beratungen. Auch wurde wiederholt Kritik an der Vagheit und dem »subjektiven Charakter« der besagten Schlüsselbegriffe angebracht. Um zu einem Durchbruch zu gelangen, führte der Vorsitzende der kanadischen Delegation, John Holmes, »informelle Verhandlungen« und bereitete dann darauf basierend einen Entwurf von Bestimmungen zur Klärung und Präzisierung der komplementären Zuständigkeit des internationalen Strafgerichtshofs vor. Dabei ging es hauptsächlich um Art. , in dem die Voraussetzungen für die Einschaltung der internationalen Gerichtsbarkeit benannt wurden. Der Vorschlag, den Holmes unterbreitete, behielt zwar bei der Aufzählung der Zulässigkeitsvoraussetzungen die negative Formulierungsform bei, ersetzte aber die strittigen Begriffe »not available« und »ineffective« zur Bezeichnung des Unterbleibens einer nationalen Strafverfolgung durch »unwilling« und »unable«: Having regard to paragraph  of the preamble, the Court shall determine that a case is inadmissible where: a) the case is being investigated or prosecuted by a State which has jurisdiction over it, unless the State is unwilling or unable genuinely to carry out the investigation or prosecution; b) the case has been investigated by a State which has jurisdiction over it and the State has decided not to prosecute the person concerned, unless the decision resulted from the unwillingness or inability of the State genuinely to prosecute.

 UN, GA, A/Res. /, Fiftieth session, . Dezember , Resolution adopted by the GA, Establishment of an international criminal court. In: UN. Documents, https:// undocs.org/en/A/RES// (letzter Zugriff: ..).  Ahlbrecht, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), .  Im Begleittext des von Holmes vorgelegten Entwurfs stand Folgendes: »The following draft text represents the results of informal consultations on Article  and is intended to facilitate the work towards the elaboration of the Statute of the Court. The content of the text represents a possible way to address the issue of complementarity and is without prejudice to the views of any delegation. The text does not represent agreement on the eventual content or approach to be included in this article.« UN, A/ AC.//L./Rev., . August , Preparatory committee on the establishment of an international criminal court, http://www.iccnow.org/documents/DecisionsTakenAug.pdf (letzter Zugriff: ..).  Ebd.

344

Vö lke r re c h tli c h e N a c hw ir ku n g e n

Dieser Entwurf wurde schließlich nahezu wortgleich im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal Court – ICC) übernommen und durch zwei weitere Punkte ergänzt. Insbesondere wurden in Art.  ICC-Statut die konkreten Fälle des justiziellen Versagens auf nationalstaatlicher Ebene genannt, bei deren Eintreten der ICC eingeschaltet wird: Having regard to paragraph  of the Preamble and article , the Court shall determine that a case is inadmissible where: (a) The case is being investigated or prosecuted by a State which has jurisdiction over it, unless the State is unwilling or unable genuinely to carry out the investigation or prosecution; (b) The case has been investigated by a State which has jurisdiction over it and the State has decided not to prosecute the person concerned, unless the decision resulted from the unwillingness or inability of the State; (c) The person concerned had already been tried for conduct which is the subject of the complaint, and a trial by the court is not permitted under article , paragraph ; (d) The case is not of sufficient gravity to justify further action by the court. Demzufolge kann eine Ermittlung durch den ICC nur nachrangig erfolgen, wenn ein Vertragsstaat selbst entweder nicht willens oder nicht fähig ist, ein Verfahren angesichts begangener Völkerrechtsverbrechen durchzuführen. Anschließend wird im selben Artikel präzisiert, wann eine Situation der Unwilligkeit oder Unfähigkeit eines oder mehrerer Vertragsstaaten vorliegt, welche die Einschaltung des ICC bewirkt: In order to determine unwillingness in a particular case, the Court shall consider, having regard to the principles of due process recognized by international law, whether one or more of the following exist, as applicable:(a) The proceedings were or are being undertaken or the national decision was made for the purpose of shielding the person concerned from criminal responsibility for crimes within the jurisdiction of the Court referred to in article ; (b) There has been an unjustified delay in the proceedings which in the circumstances is inconsistent with an intent to bring the person concerned to justice; (c) The proceedings were not or are not being conducted independently or impartially, and they were or are being conducted in a manner which, in the circumstances, is inconsistent with an intent to bring the person concerned to justice. In order to determine inability in a particular case, the Court shall consider whether, due to a total or substantial collapse or unavailability of its national judicial system, the State is unable to obtain the accused or the necessary evidence and testimony or otherwise unable to carry out its proceedings.

 Rome Statute of the ICC (wie Anm. , Kap. ).  Ebd.

345

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

Das die Gerichtsbarkeit des ICC bestimmende Komplementaritätsprinzip, welches in der Präambel und in Art.  des Römischen Statuts verankert ist, ruht demnach auf zwei Säulen: Die eine Säule bezieht sich auf die Respektierung der vorrangigen Jurisdiktion der Vertragsstaaten, die zweite betrifft deren mögliche Unwilligkeit oder Unfähigkeit, diese Jurisdiktion effizient auszuüben. Der Berliner Völkerstrafrechtler Gerhard Werle schreibt dazu: Mit dem Komplementaritätsprinzip verwirklicht das ICC-Statut ein neuartiges Modell der Kompetenzverteilung zwischen internationalen und staatlichen Gerichten, welches für die im Entstehen begriffene Strafrechtsordnung richtungsweisend ist. Das Komplementaritätsprinzip eröffnet den Staaten die Möglichkeit, die Verfolgung einer Tat selbst zu erledigen und damit dem Zugriff des Internationalen Strafgerichtshofs zu entziehen. Auf diese Weise dient es der Wahrung staatlicher Souveränität; zugleich weist das Komplementaritätsprinzip dem Gerichtshof eine Aufsichts- und Kontrollkompetenz zu, die de jure weit in den Kernbereich staatlicher Strafkompetenz hineinreicht. Damit ordnet das Statut das Verhältnis des Internationalen Strafgerichtshofs zur Strafgerichtsbarkeit der Staaten auf eine Weise, die sich mit dem Begriffspaar Anreiz und Kontrolle kennzeichnen lässt: Im Idealfall kommen die Staaten ihren Verpflichtungen in vollem Umfang nach und machen damit ein Eingreifen des Internationalen Strafgerichtshofs überflüssig. Die Weichen für die Entwicklung dieses Modells der komplementären Zuständigkeit, auf dem die Gerichtsbarkeit des ICC basiert, wurden, wie hier ausführlich dargelegt,  mit der Konvention des Völkerbunds zur Schaffung eines internationalen Strafgerichts gestellt.

 »Preamble. The State Parties to this Statute [e]mphasizing that the International Criminal Court established under this Statute shall be complementary to national criminal jurisdictions [h]ave agreed as follows: Part I. Establishment of the Court. Article . The Court. An International Criminal Court (»the Court«) is hereby established. It shall be a permanent institution and have the power to exercise its jurisdiction over persons for the most serious crimes of international concern, as referred to in this Statute, and shall be complementary to national criminal jurisdictions. The jurisdiction and functioning of the Court shall be governed by the provisions of this Statute.« Ebd.  Jurdi, Nidal Nabil: The International Criminal Court and National Courts: A Contentious Relationship. Burlington [u. a.] ,  f. Zur praktischen Umsetzung des Modells der »komplementären Zuständigkeit« durch die Organe des ICC siehe Collins, Emma: Admissibility in the Rome Statute of the International Criminal Court. Oxford [u. a.] .  Werle, Völkerstrafrecht (wie Anm. ), .

346

Vö lke r re c h tli c h e N a c hw ir ku n g e n

Die Definition von Terrorismus

Im Vergleich zu der großen völkerstrafrechtlichen Bedeutung des Modells der komplementären Gerichtsbarkeit waren die anderen Maßnahmen, die  von dem juristischen Expertenausschuss des Völkerbunds zur internationalen Bekämpfung und Ahndung terroristischer Verbrechen ausgearbeitet wurden, von geringerer Tragweite – und dies, obwohl die (erste) Konvention zur Verhütung und Bekämpfung des Terrorismus von neun Staaten mehr als die (zweite) Konvention zur Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs unterzeichnet wurde. Eine einschränkende Wirkung auf das Einflusspotential des Anti-Terrorismus-Abkommens des Völkerbunds hatte der in den er Jahren eingesetzte Prozess der zunehmenden »Entstaatlichung« bzw. Privatisierung der Terrorismusgewalt. Durch diese Entwicklung waren die Terrorismusdefinition von  sowie die damit verbundenen Bestimmungen, die sich ausschließlich auf Aktivitäten gegen Staaten bezogen, teils nicht mehr zeitgemäß. In diesem Kontext sollte auch erwähnt werden, dass alle Versuche seit , den Terrorismus zu einem internationalen Straftatbestand zu machen, gescheitert sind. Bis heute vertritt die Mehrheit der Völkerrechtler die Meinung, dass der Terrorismus keinen »eigenen Platz im Völkerstrafrecht« habe und dass »sich eine direkte Strafbarkeit terroristischer Straftaten als solche aus dem geltenden Völkerrecht nicht ergibt«. Demzufolge können terroristische Handlungen nur in Zusammenhang mit anderen, eindeutig als Völkerrechtsverbrechen eingestuften Tatbeständen (Aggressionskrieg, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und andere) völkerrechtlich erfasst werden. Trotzdem diente über viele Jahre hinweg die in der Anti-Terrorismus-Konvention von  enthaltene Terrorismusdefinition in Kreisen, die sich mit der Repression terroristischer Gewalttaten auf internationaler Ebene beschäftigten, »als Maßstab und Ausgangspunkt weiterer völkerrechtlicher Definitionsbestrebungen«, zumal es sich dabei um die erste völkerrechtliche Definition des Terrorismus gehandelt hat. So nahm etwa  die ILC in ihrem besagten Entwurf eines »Strafgesetzbuchs der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der  Jeßberger, Florian: Zur Rolle des Internationalen Strafgerichtshofs bei der Verfolgung des Terrorismus. In: Neujustierung des Strafrechts durch Terrorismus und Organisierte Kriminalität. Hg. v. Arndt Sinn und Mark A. Zöller. Heidelberg [u. a.] , -, hier .  Beispielsweise erfüllt Terrorismus nach Art.  Abs.  Buchst. a des Römischen Statuts des ICC »die Voraussetzungen eines Kriegsverbrechens, weil es die vorsätzliche Tötung von Personen einschließt, welche nach den Genfer Konventionen vom . August  geschützt sind«. Mastronardi, Philippe: Menschenwürde und kulturelle Bedingtheit des Rechts. In: Die Rechtsstellung des Menschen im Völkerrecht: Entwicklungen und Perspektiven. Hg. v. Thilo Marauhn. Tübingen , -, hier .  Zöller, Mark A: Terrorismusstrafrecht. Ein Handbuch. Heidelberg ,   Keber, Der Begriff (wie Anm. , Einleitung), .

347

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

Menschheit« auf diese Konvention Bezug. Dies geschah im Zusammenhang mit der Aufnahme der Handlung der staatlichen Unterstützung oder Tolerierung terroristischer Aktivitäten auf fremdem Territorium in den Straftatenkatalog: Article . The following acts are offences against the peace and security of mankind. […] () The undertaking or encouragement by the authorities of a State of terrorist activities in another State, or the toleration by the authorities of a State of organized activities calculated to carry out terrorist acts in another State. Der anschließende Kommentar dazu erläuterte: Article  of the Convention for the Prevention and Punishment of Terrorism of  November  contained a prohibition of the encouragement by a State of terrorist activities directed against another State. The offence defined in this paragraph can be committed only by the authorities of a State. A criminal responsibility of private individuals under international law may, however, arise under the provisions of paragraph () of the present article. Dieser explizite Hinweis auf die Anti-Terrorismus-Konvention von  geht auf die vorangegangene Debatte über diesen Paragraphen in der Kommission zurück. Der griechische Sonderberichterstatter Ioannis (Jean) Spiropoulos hatte in seinem Arbeitspapier vorgeschlagen, dass terroristische Handlungen, die nicht von Staaten, sondern von Privatpersonen ausgingen oder vollzogen würden, auch Berücksichtigung im geplanten Strafgesetzbuch finden sollten: This crime [of supporting Terrorism] may be the result of positive State or private activity. Terroristic activities of single persons without any organized connection between them do not fall within the scope of Crime No. IV though the acts in question may constitute crimes under municipal law. In order that these activities be considered as a crime under the draft code, it is necessary that the acts to which the above text refers be effectuated on a more or less large scale by an organized group of individuals. Only under these conditions can terrorist acts be considered as affecting peace. Example: A political party organizes terrorist acts to be perpetrated in another state. Am Rande sei hier erwähnt, dass diese Position von Spiropoulos seiner allgemeinen Rechtsphilosophie entsprach. Der spätere Richter des Internationalen Gerichtshofs (International Court of Justice – ICJ) war auch an der Formulierung  Draft Code of Offences against the Peace and Security of Mankind with Commentaries, . In: Yearbook of the International Law Commission . Bd. . Hg. v. UN. New York , -, hier .  Ebd.,  f.  UN Doc A/CN./, Report by J. Spiropoulos, Special Rapporteur, . April . In: UN, Yearbook , -,  [Hervorheb. i. O.].

348

Vö lke r re c h tli c h e N a c hw ir ku n g e n

der Nürnberger Prinzipien beteiligt gewesen. Hierbei hatte er die Meinung vertreten, dass bei der justiziellen Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit nur eine persönliche strafrechtliche Verantwortlichkeit, jedoch keine von Regierungen oder Organisationen begründet werden könne. Unterstützung erhielt Spiropoulos in seinem Vorstoß für die Einbeziehung privater Akteure in den straftatbestandlichen Anwendungsbereich terroristischer Aktivitäten vom US-Amerikaner Manley Ottmer Hudson und von dem Syrer Faris El-Khouri. Dennoch entschieden sich die Kommissionsmitglieder in einer Abstimmung mit sechs zu vier Stimmen gegen eine Erweiterung des Anwendungsbereichs auf nicht-staatliche Täter. Dabei berief man sich, wie schon erwähnt, auf die Anti-Terrorismus-Konvention von , in der die Straftat der Unterstützung terroristischer Verbrechen nur durch einen Staat begangen werden konnte. Wie an anderer Stelle bereits angemerkt, wurde der ILC-Entwurf eines »Strafgesetzbuchs der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit« von  von der Generalversammlung der Vereinten Nationen aufgrund einer fehlenden Definition des Aggressionsverbrechens nicht angenommen. Der Einfluss der Anti-Terrorismus-Konvention von  ist auch im nächsten Entwurf eines Strafgesetzbuchs von  erkennbar. Art. , der sich auf die Bestrafung des Verbrechens des »internationalen Terrorismus« bezieht, legte Folgendes fest: An individual who as an agent or representative of a State commits or orders the commission of any of the following acts: undertaking, organizing, assisting, financing, encouraging or tolerating acts against another State directed at persons or property and of such a nature as to create a state of terror in the minds of public figures, groups of persons or the general public, shall, on conviction thereof, be sentenced to […]. Es ist bemerkenswert, dass im Entwurf von  der die Straftat des Terrorismus bestimmende Satz »to create a state of terror in the minds of public figures, groups of persons or the general public« aus der Terrorismusdefinition der Konvention von  direkt übernommen wurde. Der Versuch von , eine generische Definition von Terrorismus zu formulieren, war auch in anderer Hinsicht durch die Anti-Terrorismus-Konvention des Völkerbunds geprägt. Wie Abs.  des Kommentars der ILC zur besagten Vorschrift zur Bestrafung des internationalen Terrorismus nahelegte, betraf diese  Pietropaoli, Stefano: Defining Evil. The War of Aggression and International Law (). In: Jura gentium. Rivista di filosofia del diritto internazionale e della politica globale, http://www.juragentium.org/topics/wlgo/cortona/en/pietropa.htm (letzter Zugriff: ..).  Keber, Der Begriff (wie Anm. , Einleitung),  f.  Document A//. Report of the International Law Commission on the Work of its forty-third Session ( April- July ). In: Yearbook of the International Law Commission , Bd: . Hg. v. UN. New York [u. a.] , -, hier .

349

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

Regelung ausschließlich Staaten und wurde dementsprechend »als eine Erscheinungsform der verbotenen Intervention begriffen«: Commentary […] The object of the title of Article , »International terrorism«, is to distinguish the terrorism in question from internal terrorism. International terrorism is terrorism organized and carried out by a State against another State, whereas internal terrorism is organized and carried out in the territory of a State by nationals of that State. Internal terrorism comes under internal law, since it does not endanger international relations. Dieses Begriffsverständnis, dem zufolge im Bereich des internationalen Terrorismus ausschließlich Staaten »taugliche« Akteure sind, nahm seine Anfänge mit der Anti-Terrorismus-Konvention des Völkerbunds, in der eine Zuständigkeit des Völkerrechts nur für den internationalen Terrorismus festgeschrieben wurde, während der inländische Terrorismus keine Berücksichtigung fand. Dieses Muster blieb, wie der australische Völkerrechtler Ben Saul schreibt, bis zur heutigen Zeit erhalten: [I]t is significant that the League Convention addressed only international terrorism. States jealously guarded their discretion to deal with domestic terrorism, and international law was not considered competent to intrude in the reserved domain of domestic jurisdiction. This view has remained remarkably constant among states since the s, at least in the context of treaties. Ein Blick auf den Entwurf einer sogenannten umfassenden Konvention gegen den internationalen Terrorismus (»Draft comprehensive convention against international terrorism«) von , der im Rahmen des Rechtsausschusses (Sechster Ausschuss) der Vollversammlung der Vereinten Nationen ausgearbeitet wurde, bestätigt diese Aussage. In Art.  heißt es: This Convention shall not apply where the offence is committed within a single State, the alleged offender and the victims are nationals of that State, the alleged offender is found in the territory of that State and no other State has a basis under article , paragraph , or article , paragraph , of this Convention to exercise jurisdiction, except that the provisions of articles  and  to  shall, as appropriate, apply in those cases.

 Keber, Der Begriff (wie Anm. , Einleitung), .  Saul, The Legal Response (wie Anm. , Einleitung),  [Hervorheb. i. O.].  UN, GA, Official Records, Fifty-seventh Session, Supplement No.  (A//), Report of the Ad Hoc Committee established by GA resolution / of . Dezember , Sixth session ( January- February ), Annex III, Texts of articles  to  and  to  of the draft comprehensive convention, prepared by the Friends of the Chairman, -. In: Legislationline, https://www.legislationline.org/download/ id//file/befaacfcab f.pdf (letzter Zugriff: ..).

350

Vö lke r re c h tli c h e N a c hw ir ku n g e n

Im Hinblick auf den Einfluss der im Rahmen des Völkerbunds ausgearbeiteten Konvention zur Verhütung und Bekämpfung des internationalen Terrorismus auf die Weitentwicklung des völkerrechtlichen Begriffs des Terrorismus sollte schließlich die  von der Generalversammlung der Vereinten Nationen abgegebene Deklaration über Maßnahmen zur Eliminierung des internationalen Terrorismus erwähnt werden. Insbesondere in Art.  Abs.  der Deklaration stößt man auf eindeutige Spuren der Terrorismusdefinition von : Criminal acts intended or calculated to provoke a state of terror in the general public, a group of persons or particular persons for political purposes are in any circumstances unjustifiable, whatever the considerations of a political, philosophical, ideological, racial, ethnic, religious or any other nature that may be invoked to justify them. Dass man nach mehr als fünf Jahrzehnten weiterhin auf die Definition von  zurückgriff, um das Phänomen von Terrorismus zu bestimmen, verdeutlicht, dass es in der Zwischenzeit an neueren Definitionsversuchen mangelte. Zwar kamen zwischen  und  mehrere internationale Vertragstexte zur Ächtung einzelner terroristischer Gewalttaten zustande, dennoch beinhalteten diese Konventionstexte keine allgemeine Definition von Terrorismus. In der Regel wurde der Begriff Terrorismus abstrakt umschrieben, was insbesondere auch für die Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen in den er und er Jahren gilt. Der Hauptgrund dafür lag in der durchaus berechtigten Sorge, dass Uneinigkeiten bei der Definitionsfrage die praktische Zusammenarbeit der Staaten in der Bekämpfung bestimmter Erscheinungsformen des internationalen Terrorismus erschwert hätten. In diesen Unstimmigkeiten spiegelten sich allgemeinere Differenzen innerhalb der Staatengemeinschaft wider, welche größtenteils wiederum auf die ideologische Polarisierung in der Zeit des Kalten Krieges zurückzuführen waren. Das Problem der Definition von Terrorismus wurde mit anderen strittigen Fragen, die vor allem den Rechtsstatus von sogenannten Freiheitskämpfern sowie die zulässigen Mittel im Kampf zur Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker betrafen, in enge  In Art.  Abs.  hieß es: »In the present Convention, the expression ›acts of terrorism’ means criminal acts directed against a State and intended or calculated to create a state of terror in the minds of particular persons, or a group of persons or the general public.« League of Nations, Convention Terrorism (wie Anm. ), .  UN, GA, A/RES//, . Februar , th Plenary Meeting, . Dezember , Annex, Measures to eliminate international terrorism. In: UN Documents, https:// undocs.org/en/A/RES// (letzter Zugriff: ..).  Vgl. z. B. Convention on the Prevention and Punishment of Crimes against Internationally Protected Persons, including Diplomatic Agents (vom ..); International Convention against the Taking of Hostages (vom ..).  Keber, Der Begriff (wie Anm. , Einleitung), .  Zöller, Terrorismusstrafrecht (wie Anm. ),  f.

351

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

Verbindung gebracht. Darüber hinaus wirkte sich die oben erläuterte Besonderheit, dass terroristische Straftaten in die Zuständigkeit des Völkerstrafrechts nur dann fallen, wenn sich diese als Tatbestandsmerkmale in bereits etablierte Völkerrechtsverbrechen einordnen lassen, hemmend auf den Prozess der Entwicklung einer verbindlichen völkerrechtlichen Definition des Terrorismus aus. Unlängst trat hinsichtlich der Etablierung des Verbrechens des Terrorismus als Völkerrechtsverbrechen eine wichtige Entwicklung ein. Die Beschwerdekammer des Sondergerichtshofs für den Libanon (Special Tribunal for Lebanon – STL) wurde im Januar  von Seiten des zur Bewertung einer Anklageschrift berufenen Richters angerufen, um zu prüfen, ob bei der Definition des Tatbestands des Terrorismus ausschließlich das libanesische Strafgesetzbuch oder auch einschlägiges Völkerrecht zu berücksichtigen sei. In ihrer Entscheidung vom . Februar  kam die Beschwerdekammer unter dem Vorsitz des renommierten Völkerstrafrechtlers Antonio Cassese zur heftig umstrittenen Entscheidung, dass sich das Verbrechen des Terrorismus in Friedenszeiten nach dem derzeitigen Stand des Völkergewohnheitsrechts zu einer selbständigen Straftat nach Völkerrecht entwickelt hat: . As we shall see, a number of treaties, UN resolutions, and the legislative and judicial practice of States evince the formation of a general opinio juris in the international community, accompanied by a practice consistent with such opinio, to the effect that a customary rule of international law regarding the international crime of terrorism, at least in time of peace, has indeed emerged. This customary rule requires the following three key elements: (i) the perpetration of a criminal act (such as murder, kidnapping, hostage-taking, arson, and so on), or threatening such an act; (ii) the intent to spread fear among the population (which would generally entail the creation of public danger) or directly or indirectly coerce a national or international authority to take some action, or to refrain from taking it; (iii) when the act involves a transnational element. Durch die Benennung der drei Voraussetzungen, die der Straftatbestand des Terrorismus erfordere, formulierte die Beschwerdekammer des STL eine Terrorismusdefinition, die sich sowohl aus einem objektiven Element – die Begehung  Saul, The Legal Response (wie Anm. , Einleitung), .  Jeßberger, Zur Rolle des Internationalen Strafgerichtshofes (wie Anm. ), ; Kirsch, Stefan/Oehmichen, Anna: Die Erfindung von »Terrorismus« als Völkerrechtsverbrechen durch den Sondergerichtshof für den Libanon. In: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik  (), -; Fuhrmann, Johannes: Der Beitrag des Libanontribunals zur Weiterentwicklung des Völkerrechts. Berlin [u. a.] , .  STL--/, Interlocutory Decision on the Applicable Law: Terrorism, Conspiracy, Homicide, Perpetration, Cumulative Charging,  f. In: Refworld, https://www.refworld.org/cases,STL,d.html (letzter Zugriff: ..) [Hervorheb. i. O.].

352

Vö lke r re c h tli c h e N a c hw ir ku n g e n

oder Androhung einer Straftat – als auch einem subjektiven – die Absicht, Angst unter der Bevölkerung hervorzurufen – zusammensetzte. Während sich die objektive Dimension auf »die Frage des tauglichen Täters« und die »Handlung« in der Form, »wie sie nach außen in Erscheinung tritt«, bezieht, bildet die subjektive Dimension die »Motivationslager des Täters« ab. Insbesondere handelt es sich beim objektiven Element »um eine (prinzipiell nach nationalem Recht beurteilende) Straftat«, während »in Bezug auf das subjektive Element eine gewisse Motivation bzw. ein gewisser Vorsatz des Täters zu fordern ist«. Bemerkenswerterweise stellt auch die Definition der Anti-Terrorismus-Konvention des Völkerbunds eine Synthese der beiden Ebenen dar. Vor allem die tschechoslowakische Regierung hatte sich dafür stark gemacht, als sie den zweiten, überarbeiteten Entwurf kommentierte: The text framed by the Committee of Experts does not make it clear whether the Convention is based upon a subjective or objective conception of the acts concerned, that is to say, whether the decisive factor is to be the offender’s intention of bringing about the overthrow of a Government or an interruption in the working of public services or a disturbance in international relations, by the use of violence or by the creation of a state of terror, or whether it is to be the fact that the act is in itself capable of producing such effects that shall be decisive. The Czechoslovak Government is inclined to think that in framing the proposed conventional regulations, the question should be approached from both these points of view, and that the subjective and the objective criteria should be adopted in conjunction. Auch der international renommierte jugoslawische Strafrechtler Toma Živanović machte als Vertreter seines Landes auf der diplomatischen Konferenz    

Keber, Der Begriff (wie Anm. , Einleitung), . Zöller, Terrorismusstrafrecht (wie Anm. ), . League of Nations, C..M...V. (wie Anm. ),  f. [Hervorheb. i. O.]. Toma Živanović, seit  ordentlicher Professor für Strafrecht an der juristischen Fakultät der Universität Belgrad, nahm als Vertreter seines Landes an den beiden diplomatischen Konferenzen des Völkerbunds teil und unterzeichnete im Namen Jugoslawiens die Anti-Terrorismus-Konvention () sowie das internationale Abkommen zur Bekämpfung der Falschmünzerei (Genf ). In der Zwischenkriegszeit gehörte er zu den international angesehensten Rechtstheoretikern und war Mitglied internationaler strafrechtlicher und rechtsphilosophischer Vereinigungen. Er wurde bekannt als Vertreter der synthetischen Rechtsphilosophie. Weiter entwickelte er das Modell eines dreigliedrigen Deliktsaufbaus (Unterscheidung zwischen Delikttatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld), das er für rechtsübergreifend anwendbar und sogar für auf andere Disziplinen (Zoologie, Erziehungswissenschaften) übertragbar hielt. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Machtübernahme durch die Kommunisten wurde Živanović gezwungen, seinen Lehrstuhl aufzugeben, blieb aber Mitglied der Serbischen Akademie der Wissenschaften. Zu seinen wichtigsten Werken zählen: Živanović, Toma: Sistem sintetičke pravne filozofije. : Nauka osintetičkoj

353

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

von  zur abschließenden Besprechung der beiden Konventionsentwürfe auf die objektiven und subjektiven Elemente einer Definition des Terrorismus aufmerksam und schlug dementsprechend zwei verschiedene Definitionen, eine objektive und eine subjektive, vor: M. Givanovitch proposed that terrorism should be defined in one of two ways: the first, or objective definition might read as follows: »Acts of terrorism, within the present Convention, are criminal acts which are aimed, directly or indirectly, against a State, in respect of its security or of the maintenance of public order, and which, by their nature or object, have a capability of terrorising (individuals, groups of persons or the general public) which is utilised by the authors of the acts as a means of injuring the said interests of the State.« The subjective definition proposed was as follows: »A person is guilty of terrorism within the meaning of the present Convention who intentionally commits a criminal act which is aimed, directly or indirectly, against a state, in respect of its security or the maintenance of public order, and which, by its nature or object, possesses a capability of intimidating (individuals, groups of persons or the general public) which is utilised by the author of the acts as a means of injuring the said interests of the State.« Die in der Anti-Terrorismus-Konvention des Völkerbunds  vorgelegte Definition hatte tatsächlich eine objektive und eine subjektive Dimension, da sie nicht nur dem tatsächlichen »Verbrechen gegen den Staat«, sondern auch der Intention des Täters, »eine Situation des Terrors herbeizuführen«, Rechnung trug. Es scheint daher die Schlussfolgerung berechtigt zu sein, dass die Definition des Terrorismus, die in der zweiten Hälfte der er Jahre von der Juristenkommission im Rahmen des Völkerbunds ausgearbeitet wurde, auch im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmalen Weichen für zukünftige Entwicklungen gestellt hat. Die hier aufgezeigten vielfältigen Einflussnahmen der anlässlich des Mordanschlags auf den jugoslawischen König Aleksandar I. Karađorđević und den französischen Außenmister Louis Barthou entstandenen Konvention zur Verhütung pravnoj filozofiji. Belgrad ; ders.: Osnovi krivičnog prava Kraljevine Jugoslavije. Bd. : Krivična dela protiv privatnih dobara. Belgrad ; ders.: Osnovi krivičnog prava Kraljevine Jugoslavije. Bd. : Krivična dela protiv opštih dobara. Belgrad ; Givanovitch, Thomas [Živanović, Toma]: Die Konstruktion einer neuen rechtsphilosophischen Richtung. Richtung der zweiartigen synthetischen Rechtsphilosophie. In: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie  () , -; ders.: Du principe de causalité efficiente en droit pénal. Paris . Zum Leben und Werk von Toma Živanović siehe ausführlicher: Pavićević, Dejan M.: Pojam prava u sintetičkoj pravnoj filozofiji Tome Živanovića. In: Pravno-Ekonomski Pogledi () Nr. , -; Zdravković, Milan: Toma Živanović. In: Iustitia: Časopis Udruženja sudijskih i tužilačkih pomoćnika Srbije () Nr. ,  f.; Janković, Ivan: Prilozi za biografiju Tome Živanovića. In: Pravni Zapisi  () , -.  League of Nations, C..M...V (wie Anm. ), .

354

Zw i s c h e n b ila nz

und Bestrafung des Terrorismus von  auf die Entwicklung völkerrechtlicher Vorgaben im Bereich der Bekämpfung des internationalen Terrorismus widerlegen die Bewertung der US-amerikanischen Völkerrechtler Thomas M. Franck und Bert B. Lockwood, Jr., die  den von der juristischen Expertenkommission des Völkerbunds ausgearbeiteten Vertragstext als »dead Letter« bezeichneten. Weit zutreffender sind indes die Urteile Ben Sauls, der Bezug nehmend auf das Anti-Terrorismus-Abkommen von  von dem »langen Schatten des Völkerbunds« auf dem Gebiet der internationalen Terrorismusbekämpfung spricht, und Tobias O. Kebers, der dieser Konvention in seiner Studie zum »Begriff des Terrorismus im Völkerrecht« zuerkennt, »einen beachtlichen Definitionsansatz« zu enthalten und »erstmals de[n] gewohnheitsrechtlichen Satz kodifiziert« zu haben, »wonach Staaten gehalten sind, terroristische Vorbereitungshandlungen auf ihrem Staatsgebiet zu unterbinden«. Zwischenbilanz

Abschließend kann festgehalten werden, dass in der Frage der Verabschiedung einer Anti-Terrorismus-Konvention und der Gründung eines internationalen Strafgerichtshofs die zentrale Spaltungslinie, die sich im Südosteuropa der Zwischenkriegszeit (und dessen peripheren Übergangszonen) entlang den revisionistischen und antirevisionistischen Staaten zog, besonders gut sichtbar ist. Dass Rumänien und Jugoslawien für eine völkerrechtliche Bekämpfung terroristischer Aktionen eintraten, war keineswegs ein Zufall, sondern resultierte aus deren eigenen Problemen mit militanten kroatischen, bulgarischen und (slawo-) makedonischen Separatisten. Auch das antirevisionistische Griechenland war mit demselben Problem konfrontiert – wenn auch in einem geringeren Ausmaß. Deshalb hatte auch  der griechische Vertreter im Völkerbund, der Diplomat und Völkerrechtler Nikolaos Politis, den erfolglosen Vorstoß unternommen, das Thema des Beschlusses eines Verbots der Unterstützung militanter Gruppierungen durch Drittstaaten auf die Agenda der Abrüstungskonferenz des Völkerbunds zu setzen. Zu den Staaten mit einem besonderen Interesse an einer internationalen Anti-Terrorismus-Gesetzgebung gehörten auch die Tschechoslowakei, die sich nicht nur durch den ungarischen Revisionismus, sondern auch den (zusehends militante Züge annehmenden) sudetendeutschen Separatismus  Franck, Thomas M./Lockwood Jr., Bert B.: Preliminary Thoughts Towards an International Convention on Terrorism. In: The American Journal of International Law  () , -, hier .  Saul, The Legal Response (wie Anm. , Einleitung), .  Keber, Der Begriff (wie Anm. , Einleitung), .  Siehe ausführlicher dazu Koumas, Manolis: Mikra krati, syllogiki asfaleia, Koinonia ton ethnon: I Ellada kai to zitima tou afoplismou -. Nikosia , .

355

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

bedroht sah, sowie Polen aufgrund des im Osten des Landes durch ruthenische und ukrainische Autonomisten durchgeführten Guerillakriegs. Mit dem rumänischen Völkerrechtler und Politiker Vespasian Pella saß in der juristischen Expertenkommission des Völkerbunds zur Unterdrückung des Terrorismus und zur Errichtung eines internationalen Strafgerichtshofs nicht nur ein Vertreter eines vom Terrorismus betroffenen Staates, sondern auch einer der ausgewiesensten Experten auf diesem Gebiet. Er war der Hauptverfasser des Entwurfs des überarbeiteten französischen Vorschlags bezüglich einer Anti-Terrorismus-Konvention sowie des Entwurfs des Statuts zum internationalen Straftribunal. Ein weiterer Experte aus Südosteuropa, der Belgrader Jura-Professor Toma Živanović, spielte ebenso eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung des Entwurfs der Terrorismus-Konvention, auch wenn er kein Mitglied der Expertenkommission des Völkerbunds war. Sowohl bei der AIDP-Konferenz im September  in Kopenhagen zur Vereinheitlichung des Strafrechts als auch bei der im November  in Genf stattgefundenen internationalen Konferenz des Völkerbunds zur Finalisierung der Anti-Terrorismus-Konvention, an der er als Repräsentant Jugoslawiens teilnahm, unterbreitete Živanović eine Reihe von weiterführenden Vorschlägen – u. a. bezüglich einer Unterscheidung zwischen »inländischem« und »internationalem« Terrorismus sowie zwischen einer »objektiven« und einer »subjektiven« Definition von Terrorismus. Živanović war, wie Pella und Carton de Wiart, Mitglied der AIDP und seit Anfang der er Jahre auch der Kommission zur Vorbereitung eines internationalen Strafkodexes. Im Gegensatz zu anderen Mitgliedern der AIDP, wie etwa Henri Donnedieu de Vabres und Emil Stanisław Rappaport, die bei der Ahndung internationaler Verbrechen der nationalen Strafgerichtsbarkeit den Vorrang gegenüber der in Gewaltakte von sudetendeutscher Seite gab es bereits seit Mitte der er Jahre. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung nahm diese Tätigkeit enorm zu. Im Frühjahr  wurde der Freiwillige Schutzdienst gegründet, der die Struktur einer paramilitärischen Organisation hatte und Angriffe sowohl auf tschechoslowakische Offiziere und Mitglieder der Nationalgarde als auch auf Zivilisten ausführte. Nachdem dieser im Herbst desselben Jahres vom tschechischen Innenministerium aufgelöst worden war, beschloss Hitler die Gründung des Sudetendeutschen Freikorps, um von außen her einen weiteren Unruhefaktor zu schaffen. Broszat, Martin: Das Sudetendeutsche Freikorps. In: Vierteljahresheft für Zeitgeschichte  () , -; Dülffer, Jost: Humanitäre Intervention, Menschenrechte und die Legitimation von Gewalt – Der deutsche Weg in den Zweiten Weltkrieg. In: Politische Gewalt in Deutschland: Ursprünge – Ausprägungen – Konsequenzen. Hg. v. José Brunner, Doron Avraham und Marianne Zepp. Göttingen , -, hier  f.; Suppan, Arnold: Hitler – Beneš – Tito. Konflikt, Krieg und Völkermord in Ostmittel- und Südosteuropa. Bd. /. Wien , -.  Lewis, The Birth (wie Anm. , Einleitung),  f.; Barth, Boris: Europa nach dem großen Krieg: Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit -. Frankfurt/M. [u. a.] , .  Lewis, The History (wie Anm. ), .  Ebd.; League of Nations, C..M...V. (wie Anm. ), ; League of Nations, C..M...V. (wie Anm. ),  f.

356

Zw i s c h e n b ila nz

ternationalen Jurisdiktion einräumten, gab Živanović in seinen völkerstrafrechtlichen Überlegungen dem Schutz der Individuen und demzufolge auch einem Strafverfahren auf internationaler Ebene den Vorzug. Abgesehen von einzelnen Persönlichkeiten ist festzuhalten, dass es vor allem ostmittel- und südosteuropäische Staaten waren, die maßgeblichen Einfluss auf die Definition von Terrorismus nahmen. Wie Pella bei der besagten internationalen Konferenz von November  in seiner Funktion als Berichterstatter der Expertenkommission ausführte, habe sich diese bei der Formulierung des Textes von Art.  Abs. , in dem die Tathandlung des Terrorismus definiert wurde, auf die Novelle gestützt, welche von den Delegationen der Tschechoslowakei, Griechenlands, Polens, Rumäniens, der Türkei und Jugoslawiens gemeinsam eingebracht worden sei: »M. Pella (Roumania), Rapporteur, said that the Drafting Committee, in framing the text of Article , had taken as a basis the amendment proposed by the delegations of Czechoslovakia, Greece, Poland, Roumania, Turkey and Yugoslavia.« Mit Ausnahme Polens gehörten alle anderen erwähnten Staaten entweder der Kleinen Entente (Tschechoslowakei, Rumänien, Jugoslawien) oder dem Balkanbund (Griechenland, Türkei, Rumänien, Jugoslawien) oder gar beiden politisch-militärischen Bündnissen (Rumänien, Jugoslawien) an. Gemein war der Kleinen Entente und dem Balkanbund, dass sie gegen Ungarn, Bulgarien, Albanien und Deutschland einen strikten anti-revisionistischen Kurs verfolgten und an der Erhaltung des territorialen Status quo interessiert waren. In seiner Stellungnahme als Vertreter der rumänischen Regierung bei derselben Konferenz hob Pella noch einmal die aus seiner Sicht federführende Rolle der Staaten dieser zwei Bündnisse bei dem Zustandekommen der beiden Konventionen zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs hervor: As delegate of the Romanian Government, I associate myself entirely with the declarations made by the delegates of Yugoslavia and Czechoslovakia and with that made by the delegate of Greece in the name of the Balkan Entente. The conclusion of the two Conventions which we have just signed marks the completion by the League of Nations of the very complex and delicate mission entrusted to it as a result of the request submitted by the three Governments of the Petite Entente on November nd, . The strength of these two Conventions lies in the compound of the virtues and sacrifices which have gone to their making, for they are destined to prevent the repetition of activities which cost Yugoslavia the life of her Sovereign and France that of one of her most brilliant statesmen.  Segesser, Recht (wie Anm. , Einleitung), .  League of Nations, C..M...V. (wie Anm. ), .  Hösch, Edgar: Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart. . Aufl. München , -.  League of Nations, C..M...V. (wie Anm. ),  [Hervorheb. i. O.].

357

S ü d o s te u ro p äi s c h e s Ko nf lik tg e s c h e h e n

Was die Bedeutung der beiden Konventionen von  für die Entwicklung des Völkerstrafrechts betrifft, ist insbesondere auf die erstmalige Anwendung des Komplementaritätsprinzips zu verweisen. Bis zum Marseiller Attentat und der Berufung der juristischen Expertenkommission zur Vorbereitung einer AntiTerrorismus-Konvention durch den Völkerbundsrat gingen die verschiedenen Entwürfe der juristischen Vereinigungen (ILA, Interparlamentarische Union, AIDP) von einer exklusiven Jurisdiktion des anvisierten internationalen Strafgerichtshofs bei der Strafverfolgung von »internationalen Verbrechen« aus. Die Verhandlungen im Rahmen des Völkerbunds über die Anti-Terrorismus-Konvention und die Konvention zur Schaffung eines internationalen Strafgerichts, bei denen sich mehrere Staaten weigerten, nationale Souveränitätsrechte an ein internationales Straftribunal abzutreten, verpflichtete die Experten, umzudenken und ein Modell der komplementären Beziehung zwischen nationaler und internationaler Gerichtsbarkeit zu entwerfen. Der Grundsatz der Komplementarität, der heutzutage das Verhältnis zwischen dem ICC und der nationalen Strafgerichtsbarkeit regelt, hat seinen Ursprung in diesen beiden Konventionen von , die anlässlich eines südosteuropäischen Konflikts entstanden und maßgeblich von Staaten und Einzelpersonen aus Ostmittel- und Südosteuropa mitbestimmt wurden. Letztere brachten spezifische Problemlagen in die internationale Debatte ein und drängten auf Lösungen, die nicht auf der nationalstaatlichen, sondern internationalen Ebene beschlossen und umgesetzt werden sollten. Wie in anderen Fragen der kollektiven Sicherheit, nutzten die antirevisionistischen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas auch hinsichtlich der von Separatisten ausgehenden terroristischen Gefahr die große Bühne des Völkerbunds, um ihre primär nationalen Anliegen in dieser Angelegenheit durchzusetzen. Somit spielten sie auch bei der erstmaligen Definition des Terrorismus eine wichtige Rolle, indem sie sich für eine Begriffsbestimmung stark machten, die sowohl »objektive« als auch »subjektive« Elemente der Tathandlung einschloss.

 El Zeidy, The Genesis (wie Anm. ), -.  Siehe dazu ausführlicher Davion, Isabelle: Das System der kollektiven Sicherheit im Praxistest. Polen und die Tschechoslowakei im Völkerbund. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte  () , -.

358

5. Die postjugoslawischen Kriege und die Weiterentwicklung des Völkerrechts Vorbemerkung

Das letzte Kapitel dieser Studie verfolgt das Ziel, den ebenso weitreichenden wie vielfältigen Einfluss der gewalttätigen Auflösung Jugoslawiens in den er Jahren auf das Völkerrecht, insbesondere das humanitäre Völkerrecht (Kriegsrecht) und das Völkerstrafrecht, zu dokumentieren und in den geschichtsregional-südosteuropäischen Kontext zu stellen. Zur prägenden Wirkung der postjugoslawischen Kriege auf das humanitäre Völkerrecht hatte Theodor Meron, der langjährige Präsident des Internationalen Tribunals für Jugoslawien,  Folgendes konstatiert: International humanitarian law has developed faster since the beginning of the atrocities in the former Yugoslavia than in the four-and-a-half decades since the Nuremberg Tribunals and the adoption of the Geneva Conventions for the Protection of Victims of War of August , . Wie in den vorangegangenen Kapiteln an einzelnen Beispielen gezeigt, befand sich Südosteuropa seit dem frühen . Jahrhundert und bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in einem Prozess der räumlichen, politischen und sozioökonomischen Deterritorialisierung und Reterritorialisierung. Der Übergang von der osmanisch-imperialen zur nationalstaatlichen Ordnung war von zahlreichen lokal begrenzten oder regional übergreifenden militärischen Auseinandersetzungen, Staatsgründungen, damit einhergehenden Grenzverschiebungen, Bevölkerungsumsiedlungen und Regimewechseln begleitet. Zudem hatten die neuen Nationalstaaten Südosteuropas mit einer starken Verschuldung infolge militärischer Aufrüstungsprogramme und aufgrund struktureller Anpassungsschwierigkeiten in einer sich im Zuge wachsender globaler Verflechtungsprozesse stark veränderten Weltwirtschaft zu kämpfen. Erst durch die Verfestigung der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges trat ab den er Jahren in Südosteuropa eine länger andauernde Phase des Friedens, des infrastrukturellen Aufbaus, der Industrialisierung, des Wirtschaftswachstums und des Ausbaus des Bildungswesens ein. Noch in der zweiten Hälfte der er Jahre hatte die Reaktivierung älterer, ethnoterritorial begründeter Konflikte unter dem neuen politischen Vorzeichen der Blockkonfrontation die Region zum wiederholten Mal in einen Schauplatz von Krieg, Flucht und Vertreibung verwandelt. Die seit Mitte des .  Theodor Meron: War Crimes Law Comes of Age. In: The American Journal of International Law  () , -, hier .  Siehe dazu ausführlicher Calic, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung), -.  Ebd., -.

359

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

Jahrhunderts bestehende südslawisch-griechische Kontroverse um die zentralbalkanische Region Makedonien wurde in den Jahren - im neuen ideologischen Kontext des sich vorwiegend im makedonischen Nordgriechenland ausgefochtenen Bürgerkriegs zwischen dem prowestlichen bürgerlichen Lager und den moskautreuen Kommunisten fortgeführt. Die kommunistische Demokratische Armee Griechenlands, in deren Reihe zahlreiche (slawo-)makedonische Separatisten kämpften, wurde bis zum Tito-Stalin-Bruch im Juni  vom benachbarten kommunistischen Jugoslawien militärisch und logistisch unterstützt. Parallel dazu erhoben Belgrad und die Regierung in Skopje der  gegründeten Volksrepublik Makedonien Ansprüche auf Teile des seit den Balkankriegen zu Griechenland gehörenden Ägäis-Makedonien. Außerdem drohte in der frühen »heißen Phase« des Kalten Krieges der jugoslawisch-italienische Gegensatz um Julisch-Venetien mit seiner ebenso bis in das . Jahrhundert zurückreichenden Vorgeschichte eine große geopolitische Krise auszulösen. Diese beiden Konflikte und auch noch andere, wie etwa der griechisch-albanische Dauerstreit um die griechischerseits als »Nordepirus« bezeichneten südalbanischen Gebiete, verloren erst im Zuge der in den er Jahren eingetretenen Konsolidierung der auf Blockdisziplin und friedlichen Koexistenz beruhenden bipolaren Weltordnung an Sprengkraft. Trotzdem blieb die Gefahr für das sich an der Frontlinie der bipolaren Weltkonfrontation befindende Südosteuropa, zum Auslöser und Schauplatz eines Atomkriegs zu werden, groß. In den NATOStaaten Griechenland und der Türkei waren US-amerikanische Nuklearwaffen stationiert, während der Warschauer Pakt zwar nicht in der Region selbst, aber in Reichweite ähnliche Waffensysteme eingerichtet hatte. Die Loslösung Jugoslawiens und Albaniens  respektive  vom Sowjetblock bewirkte zudem, dass »die Region zu einem Mikrokosmos unterschiedlicher Ideologien, Systemvarianten und eigenständiger außenpolitischer Orientierungen« wurde, wo nahezu jeder zu jedem ein konfliktträchtiges Verhältnis pflegte: Athen hatte mit allen seinen Nachbarstaaten im Norden ideologische ebenso wie sicherheitspolitische Differenzen und pflegte ab  wegen der Zypern-Frage ein sehr konfliktträchtiges Verhältnis auch zu seinem türkischen Bündnispartner; Belgrad wiederum lag mit dem UdSSR-loyalen Bulgarien nicht nur aufgrund ideologischer Auseinandersetzungen, sondern auch wegen der anti-bulgarischen Ausrichtung des nation-building in der jugoslawischen Teilrepublik Makedonien im Dauerclinch, was ebenso für die ab  nicht existierenden Beziehungen zum später allgemein isolierten Albanien gilt; Sofia und Ankara hatten schließlich  Zur makedonischen Dimension des Griechischen Bürgerkriegs siehe Skordos, Adamantios Theodor: Griechenlands Makedonische Frage. Bürgerkrieg und Geschichtspolitik im Südosten Europas. Göttingen .  Höpken, Wolfgang: Staatensystem. In: Hatschikjan/Troebst, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung), -, hier  f.  Calic, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung), .  Ebd., .

360

Vo r b e m e r ku n g

neben den oben genannten Streitigkeiten mit Griechenland und Jugoslawien ein schwieriges Verhältnis zueinander, das vor allem durch das Thema der im Rhodopen-Gebirge ansässigen türkischen Minderheit belastet wurde. Trotz oder gerade wegen dieser gefährlichen Konstellation, deren Komponenten im Einzelnen oder im Zusammenspiel mit anderen außerregionalen Entwicklungen einen Zusammenstoß der beiden Blöcke verursachen könnten, herrschte im Südosteuropa des Kalten Krieges strenge Blockdisziplin, aber auch selbstauferlegte Zurückhaltung. Im »Eisschrank« der Blockkonfrontation wurden die territorialen und ethnonationalen Konflikte aus dem »langen« . Jahrhundert, der Zwischenkriegszeit und der frühen Nachkriegszeit weitgehend tiefgefroren. Das Ergebnis war eine graduelle Entschärfung des Gewaltpotentials dieser Konflikte im Sinne einer pragmatischen Koexistenz der Staaten Südosteuropas entlang der Trennlinie des Eisernen Vorhangs: Das Abklingen der »heißen Phase« des Kalten Krieges und die Verfestigung der blockpolitischen Strukturen der südosteuropäischen Staaten in drei »Lager« (die Warschauer-Pakt-Staaten Ungarn, Rumänien, Bulgarien, die NATOMitglieder Griechenland und Türkei sowie die keinem Block angehörenden Staaten Albanien und Jugoslawien) bewirkten aber auch in Südosteuropa eine Stabilisierung. Bestehende Kontroversen wurden beigelegt oder wichen einer pragmatischen Handhabung. [Die] zunächst durch den Ost-West-Konflikt getrübten Beziehungen Bulgariens mit Griechenland und der Türkei [wichen] seit Mitte der er Jahre einer Phase der Entspannung. Die lange Zeit zwischen Griechenland und Albanien stehende Frage der Zugehörigkeit des Nord-Epirus wurde seit den späten er Jahren durch beiderseitige Anerkennung des Status quo beigelegt. Auch die mit dem Kominform-Konflikt zu ideologischen Gegnern gewordenen Nachbarstaaten Jugoslawien, Bulgarien und Albanien mäßigten ihre Spannungen. […] Gleiches gilt auch für die jugoslawisch-albanischen Kontroversen, wie sie sich nach dem Streit Belgrads mit Moskau entwickelt hatten. Auch sie wichen seit Mitte der er Jahre in dem Maße einer pragmatischen Koexistenz, in dem Tirana sich außenpolitisch von Moskau abwandte und Belgrad sich zu einer großzügigen Minderheitenpolitik gegenüber der albanischen Bevölkerung in Kosovo bereitfand. Der Kalte Krieg hat sich insofern positiv auf das Eskalationspotential der historisch belasteten südosteuropäischen Konflikte ausgewirkt, als die Mehrzahl davon nach der politischen Wende von / entweder nicht wieder aufflammte (z. B. die Dobrudscha-Frage) oder nur noch in einer gewaltlosen Form in Erscheinung trat (z. B. als griechisch-makedonischer Namensstreit oder als bulgarisch-makedonische Kontroverse um die Deutung historischer Ereignisse und

 Troebst, Politische Entwicklung (wie Anm. , Einleitung), -, hier .  Höpken, Staatensystem (wie Anm. ),  f.

361

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

Personen). Eklatante Ausnahmen in der oben genannten Entwicklung waren die griechisch-türkische Kontroverse um Zypern, die  zu einer bis heute anhaltenden Teilung der Insel führte, und die Serbische Frage, die mit Ende des Kalten Krieges eine gewaltsame Reaktivierung erfuhr. Anfang der er Jahre drohte eine militärische Auseinandersetzung höherer Intensität auch infolge der Abspaltung Transnistriens von der Republik Moldau. Die im Frühjahr  zwischen moldauischen Sicherheitskräften und transnistrischen Milizen ausgebrochenen Kämpfe wurden aber schnell beendet, und die beiden Konfliktparteien unterzeichneten im Juli desselben Jahres einen dauerhaften Waffenstillstand. Seitdem gilt der Transnistrien-Konflikt als »eingefroren«, und die sich von der Republik Moldau abgespaltene Pridnestrowische Moldauische Republik existiert in der Form eines völkerrechtlich nicht anerkannten De-facto-Staates weiter. Letztendlich stellte der jugoslawische Zerfallsprozess den einzigen Konflikt im Südosteuropa der er Jahre dar, der in einer folgenreichen Gewalteskalation großen Ausmaßes mündete. Bei einer Analyse des jugoslawischen Staatsverfalls muss einerseits zwischen den Gründen für die Auflösung der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) und anderseits den Ursachen des erschütternden Gewaltausbruchs, der diesen Auflösungsprozess begleitete, differenziert werden. Hinsichtlich der ersten Frage, nämlich warum das jugoslawische Staatsgebilde zerfallen ist, herrscht in der Fachliteratur weitgehend Einigkeit. Es wird darauf hingewiesen, dass den von Josip Broz (genannt Tito) gegründeten Staat von Anfang an »Strukturprobleme der longue durée« belasteten, »besonders das steile sozialökonomische Entwicklungsgefälle, die nie ganz überwundene ethnische Distanz zwischen den Völkern und die disparaten historisch-politischen Traditionen«. Die weitreichende Föderalisierung, die durch die Verfassungsreform von  eingeleitet wurde, verkomplizierte den politischen Entscheidungsprozess in einem für die Existenz des Staates bedrohlichen Ausmaß. Die enorme Kompetenzverlagerung vom Bund auf die sechs Teilrepubliken und die zwei autonomen Provinzen der Vojvodina und des Kosovo verursachte nicht nur eine Krise des politischen Systems, sondern begünstigte auch das weitere kulturelle und  Troebst, Politische Entwicklungen (wie Anm. , Einleitung), .  Siehe dazu ausführlicher Skordos, Adamantios Theodor: Ethno-Political Violence in Southeast Europe – The Cyprus Case. In: Austrian Review of International and European Law  (), -.  Höpken, Staatensystem (wie Anm. ),  f.  Troebst, Politische Entwicklung (wie Anm. , Einleitung), .  Calic, Geschichte (wie Anm. , Kap. ), .  Sundhaussen, Holm: Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten, -. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen. Wien [u. a.] , -; Brunnbauer, Ulf: Politische Entwicklung Südosteuropas von  bis /. In: Clewing/Schmitt, Geschichte Südosteuropas (wie Anm. , Einleitung), -, ; Höpken, Staatensystem (wie Anm. ), .

362

Vo r b e m e r ku n g

ökonomische Auseinanderdriften der jugoslawischen Gliedstaaten. Durch die sukzessive Wiederkehr lange verdrängter, konfliktreicher Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg wurden zusehends die zwei wichtigsten integrationsfördernden Faktoren des kommunistischen Tito-Staates, nämlich die auf den antifaschistischen Partisanenmythos aufgebaute Prämisse der »brüderlichen Einigkeit« und das ethnopolitische Konzept des »sozialistischen Jugoslawismus«, leichter und in einem weit schädlicheren Ausmaß als früher untergraben. Die bindende Kraft dieser beiden Fundamentsäulen des realsozialistischen Jugoslawiens ließ nach, während die divergierenden Tendenzen in den Einzelrepubliken gleichzeitig stärker wurden. Die Bedeutung der ethnonationalen Identität der einzelnen Völker nahm zu Lasten der gesamtjugoslawischen zu. An die Stelle der sozialistischen Staatsideologie, welche bisher die Rolle des zentralen Integrationsfaktors gespielt hatte, traten nun Sprache, Nation und Religion – insbesondere nach dem Ableben Titos. Der Tod des autoritativen Staatsgründers im Mai  verstärkte den politischen Desintegrationsprozess, der durch die Verlagerung von immer mehr Entscheidungsressourcen auf die einzelnen Republiken gekennzeichnet war. Zusätzlich belastend wirkte sich auf die jugoslawische Stabilität und Integrität die durch eine hohe Auslandsverschuldung begleitete tiefe Wirtschaftskrise aus, in der sich das Land seit Beginn der er Jahre befand. Im Zuge dieser verschlechterten sich nicht nur die Lebensverhältnisse dramatisch, sondern es gingen auch das mit dem früheren Wohlstand verbundene Sicherheitsgefühl sowie das Vertrauen in das blockfreie Sozialismus-Modell, das Tito nach Ende des Zweiten Weltkriegs installiert hatte, verloren. Infolge des mit der Amtsübernahme Michail Gorbačëvs in ganz Osteuropa eingeleiteten politischen Umbruchs spitzte sich die bereits seit dem Tod Titos bestehende jugoslawische Systemkrise auf einen neuen dramatischen Höhepunkt zu und beschleunigte sodann den Zusammenbruch des kommunistischen Jugoslawiens. In Anbetracht der Tatsache, dass Jugoslawien Anfang der er Jahre nicht der einzige kommunistische Vielvölkerstaat war, der in einen Prozess der Desintegration geriet, stellt sich die Frage, warum die Auflösung in diesem Fall so gewalttätig ausfiel, während sich beispielsweise die Tschechen und Slowaken friedlich voneinander trennten. Marie-Janine Calic verweist in ihrer Antwort auf diese Frage auf »machtpolitische und sozioökonomische Gegensätze« in der SFRJ, durch die die bereits vorhandenen inneren Spannungen zusätzlich verschärft wurden. In der Tschechoslowakei hätten hingegen nach  derartige Gegensätze nicht zu-, sondern graduell abgenommen. Weiter nennt Calic die konfliktreiche, nicht aufgearbeitete Bürgerkriegsgeschichte des Zweiten Welt Höpken, Staatensystem (wie Anm. ); Ther, Die dunkle Seite (wie Anm. , Einleitung), ; Calic, Geschichte (wie Anm. , Einleitung),  f.  Sundhaussen, Jugoslawien (wie Anm. ), -; Ther, Die dunkle Seite (wie Anm. , Einleitung), . Brunnbauer, Politische Entwicklung (wie Anm. ), ; Calic, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), .  Ebd.; Höpken, Staatensystem (wie Anm. ), .

363

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

kriegs als Belastungsfaktor für das Verhältnis der jugoslawischen Völker, insbesondere von Serben und Kroaten, zueinander. Die tschechisch-slowakischen Beziehungen waren vergleichsweise wenig historisch vorbelastet. Die Gegenüberstellung der Desintegration des realsozialistischen Jugoslawiens mit der friedlich verlaufenden tschechoslowakischen Trennung, wie sie Calic in ihrer Analyse vornimmt, ist für die Identifikation der Ursachen der Gewalteskalation im zerfallenden Jugoslawien sicherlich hilfreich. Insbesondere auf den Faktor der Reaktivierung spaltender Bürgerkriegserinnerungen ist hier noch eingehender zurückzukommen. Trotzdem kann die Gewalteskalation während des jugoslawischen Zerfallsprozesses allein durch die oben genannten Faktoren nicht abschließend erklärt werden. Der geschichtsregionale Kontext

Um den gewaltsamen Auflösungs- und Zerfallsprozess Jugoslawiens umfassender zu erklären, wird hier auf das bereits in der Einleitung vorgestellte Erklärungsmodell strukturgeschichtlicher Ursachen ethnopolitischer Gewalt im Südosteuropa des . und . Jahrhunderts von Wolfang Höpken zurückgegriffen, in dem die postjugoslawischen Kriege besondere Berücksichtigung finden. Die SFRJ war Ende der er, Anfang der er Jahre unter den südosteuropäischen Staaten jener, in dem das geschichtsregionale Strukturmerkmal der »ethnischen Gemengelage« noch am stärksten präsent war. Sundhaussen zufolge war das »Hauptmerkmal Jugoslawiens seine große natürliche, kulturelle und ethnische Vielfalt auf kleinstem Raum. Kein anderer Staat Europas konnte es in dieser Hinsicht mit Jugoslawien aufnehmen.« Diese Vielfalt war zum Zeitpunkt des Auseinanderfallens des jugoslawischen Staatengebildes vor allem in jenen Gebieten weiterhin vorhanden, die zum Schauplatz der militärischen Auseinandersetzung wurden. Von besonderer Bedeutung in dieser Hinsicht ist, dass  ein Viertel der insgesamt acht Millionen Serben außerhalb des eigenen Staates lebte. Sie stellten wichtige Bevölkerungsanteile in Kroatien ( ), in Bosnien-Herzegowina ( ) und im (albanisch dominierten und von  bis  einen besonderen Autonomie-Status genießenden) Kosovo ( ) dar. Insbesondere die bosnisch-herzegowinische Teilrepublik mit der multiethnischen Zusammensetzung ihrer Bevölkerung spiegelte wie kein anderer jugoslawischer Staatsteil die soziokulturelle Vielfalt des multinationalen jugoslawischen Bundesstaates  Calic, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), .  Zur ethnischen Gemengelage als südosteuropäisches Strukturmerkmal siehe Sundhaussen, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung), .  Ders., Jugoslawien (wie Anm. ), .  Vgl. Seewann, Minderheiten (wie Anm. , Einleitung),  f.  Calic, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), .

364

D e r g e s c hi c h t s re gio n al e Ko n te x t

wider. Da in Bosnien-Herzegowina keine der drei großen ethnischen Gruppen (bosnische Muslime, Serben, Kroaten) über eine große Mehrheit verfügte und ihre Siedlungsgebiete nicht klar abgrenzbar waren, wurde die dortige »ethnische Gemengelage« mit einem »Leopardenfell« verglichen. Vor dem Hintergrund der komplizierten national-konfessionellen Siedlungsstruktur Bosnien-Herzegowinas ist es kein Zufall, dass der jugoslawische Auflösungskrieg seine gewalttätigsten und verheerendsten Dimensionen auf diesem Gebiet annahm. Das geschichtsregionale Strukturmerkmal der »ethnischen Gemengelage« als gewaltbegünstigender Faktor muss in Verbindung mit anderen, für die moderne Geschichte Südosteuropas charakteristischen Strukturmerkmalen betrachtet werden. An erster Stelle ist in dieser Hinsicht der »irredentistische Expansionsnationalismus« anzuführen, dessen Berücksichtigung insbesondere für das Verständnis der serbischen Aggressionspolitik unerlässlich ist. Der in den Jahren der Alleinherrschaft Titos weitgehend unterdrückte serbische Irredentismus trat ab Mitte der er Jahre wieder stärker in Erscheinung. Den entscheidenden Wendepunkt hatten  die Mitglieder der Serbischen Akademie der Wissenschaften mit einem -seitigen Memorandum zur unbefriedigenden Lage der serbischen Nation in der SFRJ eingeleitet. U. a. wurde darin die »Dreiteilung Serbiens« in die Sozialistische Republik Serbien und die beiden autonomen Gebiete des Kosovo und der Vojvodina gebrandmarkt und die Wiederherstellung der nationalen Einheit des serbischen Volkes verlangt. Damit reagierten sie auf die seit dem Tod Titos zunehmend dringlicher erhobene kosovarische Forderung nach der Gründung einer eigenständigen Teilrepublik. Diese Forderung war wiederum im Wesentlichen dem großalbanischen Ideal der Vereinigung der Albaner des Kosovo und Westmakedoniens in eine unabhängige Republik – verbunden mit der Option der zukünftigen Fusionierung mit Albanien – verhaftet. Nachrichten von Übergriffen auf die Kosovo-Serben, deren Bevölkerungsanteil in der Sozialistischen Autonomen Provinz Kosovo in der zweiten Hälfte der er Jahre von  auf  Prozent schrumpfte, bekräftigten die Argumentation serbischer Nationalisten, dass das Serbentum in seiner »nationalen Wiege«, dem Kosovo, durch einem »physischen, politischen, rechtlichen und kulturellen Genozid« bedroht sei. Aus Belgrader Sicht spitzte sich die bedrohliche Lage für das außerhalb der eigenen Staatsgrenzen lebende »serbische Volk« nach dem Wahlsieg Franjo Tuđmans im April  zu. Dieser hatte seinen Wählern unter Berufung auf das  Dies.: Krieg und Frieden in Bosnien-Hercegovina. . Aufl., erw. Neuausgabe v. . Frankfurt/M. , .  Sundhaussen, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), .  Ebd., -; Mann, Michael: The Dark Side of Democracy. Explaining Ethnic Cleansing. Cambridge ,  f.; Calic, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), .  Ebd., .  Ebd., .

365

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

Selbstbestimmungsrecht der Völker ein expansionistisches Programm der Wiederherstellung Kroatiens in seinen »natürlichen und historischen Grenzen« vorgelegt. Slobodan Milošević drohte nun im Fall der Auflösung der SFRJ mit einer Neubestimmung der Grenzen und der Vereinigung aller Serben in einem großserbischen Staat. Im Januar  drückte er sich diesbezüglich in unmissverständlicher Weise aus: Über das Schicksal Jugoslawiens können nur die Völker entscheiden. […] Und administrative Grenzen kann man nicht einfach zu Staatsgrenzen erklären. […] Was das serbische Volk betrifft, möchte es zusammen in einem Staat leben. Deshalb ist die Aufteilung, die das serbische Volk spaltet und auf mehrere souveräne Staaten verteilt, nicht akzeptabel. Ein halbes Jahr später ging Milošević mit der Serbischen Radikalen Partei von Vojislav Šešelj, deren Programm Grenzverschiebungen und ethnische Säuberungen ausdrücklich befürwortete, eine Koalition ein. Anhänger des großserbischen Nationalismus fassten den Inhalt territorial-expansionistischer Botschaften im Aufruf »Alle Serben in einem Staat« zusammen. Die Idee eines großserbischen Staates gewann nicht nur in der serbischen Teilrepublik, sondern auch bei den außerhalb deren lebenden Serben zunehmend an Boden. So bediente sich beispielsweise Jovan Rašković, einer der Serben-Anführer in Kroatien, in seinem Wahlkampf für die Serbische Demokratische Partei einer explizit großserbischen Rhetorik. Die Entwicklung in Kroatien verlief rasant. Im August  sprachen sich die Serben der Krajina infolge des besagten Wahlsieges Tuđmans in einem Referendum für die Autonomie ihres entlang der bosnisch-herzegowinischen Staatsgrenze verlaufenden, sich von Karlovac im Norden bis zur Stadt Knin im Süden erstreckenden Siedlungsgebietes aus. Im darauffolgenden Dezember wurde das Serbische Autonome Gebiet Krajina ausgerufen, auf dessen Territorium Milan Babić ein Jahr später die Staatsgründung der Serbischen Republik Krajina mit Knin als Hauptstadt proklamierte. Zu diesem Zeitpunkt hatte bereits die Vertreibung der nicht-serbischen Bevölkerung mit Belgrader Zustimmung aus der Krajina-Region eingesetzt. Schnell ging der nicht-serbische Anteil an der Gesamtbevölkerung Krajinas auf  Prozent zurück, über eine halbe Million Menschen wurde systematisch vertrieben. Bei den Kampfhandlungen auf kroati    

Ebd., ; Mann, The Dark Side (wie Anm. ), -. Sundhaussen, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), -. Zit. n. Calic, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), . Sundhaussen, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), . Calic, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), ; Žunec, Ozren/Kulenović, Tarik: Die jugoslawische Armee und ihre Erben. Entstehung und Aktionen der Streitkräfte . In: Der Jugoslawien-Krieg: Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen. Hg. v. Dunja Melčić. Wiesbaden , -, hier .  Mann, The Dark Side (wie Anm. ), .

366

D e r g e s c hi c h t s re gio n al e Ko n te x t

schem Boden, die sich auch auf Territorien über die Krajina hinaus ausweiteten, verfolgte die serbische Kriegsführung das Ziel der Eroberung weiterer serbischer Siedlungsgebiete in Kroatien und deren ethnische Homogenisierung unter Anwendung von Vertreibungsgewalt. Dieselben ethnoterritorialen Zielsetzungen bestimmten die serbische Politik auch in Bosnien-Herzegowina. Von all den Territorien, die der serbische Expansionismus dort ins Visier nahm, war die nordbosnische Krajina das wichtigste Gebiet für den Plan der Errichtung eines Großserbiens. Dieses machte einen großen Teil des Korridors aus, der den Staat Serbien mit der in Kroatien liegenden Serbischen Republik Krajina verbinden sollte. Schon vor Beginn der Kampfhandlungen in Bosnien-Herzegowina im März  hatte man auf bosnisch-serbischer Seite die Entscheidung getroffen, der ethnischen Gemengelage in den Gebieten, die unter serbische Kontrolle gerieten, durch die Vertreibung der »fremden« Bevölkerungsteile ein Ende zu setzen. Die mittels Gewalt zu erzielende ethnische Purifizierung der umkämpften Territorien gehörte von Anfang an zu den Zielen der Kriegsführung von General Ratko Mladić, Željko Ražnatović (genannt Arkan) und anderen lokalen Warlords. Mehr als bezeichnend für die »Logik« der ethnischen Säuberung, die hinter der bosnisch-serbischen Kriegsführung steckte, ist die Aussage des Anführers der paramilitärischen Einheit »Weiße Adler«, Mirko Jović: »We are not interested in Serbia but in a Christian, Orthodox Serbia, with no mosques or unbelievers. […] I’m all for the ›clearing operations‹.« Die ethnischen Säuberungsaktionen im bosnischen Krieg erfolgten auf dermaßen systematische und nachdrückliche Weise, dass sich nach dreieinhalb Kriegsjahren die Bevölkerung der bosnischen Republika Srpska nahezu ausschließlich aus Serben zusammensetzte. Vier Fünftel aller Nicht-Serben wurden entweder unter Gewaltanwendung zur Flucht bzw. zur Auswanderung gezwungen oder wie in Srebrenica ermordet. Eine ethnische Homogenisierungspolitik in den unter seiner Kontrolle stehenden Territorien betrieb auch der kroatische Verbindungsrat, die Armee der im Juli  auf bosnisch-herzegowinischem Territorium gegründeten Hrvatska Republika Herceg-Bosna. Die vor allem gegen Muslime vorgenommenen Vertreibungen genossen die Unterstützung des kroatischen Präsidenten Tuđman, der mit der Idee eines Anschlusses der Herzegowina an Kroatien liebäugelte. In  Ebd., -; Sundhaussen, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), -; Calic, Geschichte (wie Anm. , Einleitung),  f.; Brunnbauer, Ulf/Buchenau, Klaus: Geschichte Südosteuropas. Stuttgart , .  Sundhaussen, Jugoslawien (wie Anm. ),  f, .  Calic, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), .  Zit. n. Mann, The Dark Side (wie Anm. ), .  Calic, Krieg und Frieden (wie Anm. ), -; dies., Geschichte (wie Anm. , Einleitung), , -; Sundhaussen, Jugoslawien (wie Anm. ), -, -.  Calic, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), ; dies., Krieg und Frieden (wie Anm. ), .

367

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

den jugoslawischen Aufteilungskriegen übten also nicht nur die Serben eine Kriegsführung aus, die von ethnopurifizierenden Zielsetzungen bestimmt war. Dennoch trug die serbische Seite, wie der polnische Sonderberichterstatter der UN-Menschenrechtskonvention für Jugoslawie, Tadeusz Mazowieck, im Dezember  festhielt, die Hauptverantwortung für die ethnischen Säuberungen. Mazowiecki machte in diesem Zusammenhang eine weitere Feststellung, die für die Einordnung der postjugoslawischen Kriege in ein strukturgeschichtliches Modell südosteuropäischen Konfliktgeschehens von großer Relevanz ist. Er kam zum Ergebnis, dass im Bosnien-Krieg die ethnische Säuberung »nicht die Konsequenz dieses Krieges, sondern das Ziel dieses Krieges« gewesen sei. Zieht man rückblickend auf die Vergangenheit die Balkan-Kriege von / oder den griechisch-türkischen Krieg der frühen er Jahre im westanatolischen Kleinasien als Vergleichsfälle heran, dann erscheint einem diese Art der Kriegsführung, bei der ethnische Homogenisierung durch Vertreibung keineswegs »nur« eine Begleiterscheinung von Kriegshandlungen ist, sondern nach dem vorrangigen Ziel der Eroberung von Territorium das nächste große Kriegsziel darstellt, vertraut. Aber nicht nur die Kriegsführung, sondern auch der großserbische Nationalismus der er Jahre findet in der südosteuropäischen Vergangenheit etliche Vorläufer. Wie bereits in der Einleitung ausführlicher besprochen, hatten großnationale Konzeptionen im Sinne der »Befreiung« oder der »Rückeroberung eigener Territorien« und der Vereinigung aller Landsleute in einem vergrößerten Nationalstaat schon im . Jahrhundert eine gewaltverschärfende Wirkung in Südosteuropa entfaltet. Kommt man auf das besagte Erklärungsmodell Höpkens wieder zurück, in dem die »Art und Weise der Nationswerdung« und die »Modalitäten und Verlaufsformen der Staatsbildung« als gewaltbegünstigende Strukturen langer Dauer (longue durée) in Südosteuropa identifiziert werden, dann ist es letztlich im Fall des großserbischen Nationalismus der er Jahre und der damit verbundenen Kriegsführung durchaus gerechtfertigt, von einem strukturgeschichtlichen Einflussfaktor der Gewaltbegünstigung zu sprechen. Der US-amerikanische Historiker Eric. D. Weitz schreibt dazu: The Serb regime in Belgrade and in Bosnian Serb territory actively encouraged the exercise of utter brutality against Muslims and Croats. In the drive to establish a completely homogenous and »pure« Serbian state and society, nationalists adopted the most violent methods designed to make a multinational society unthinkable and, finally, unbearable. […] Other ethnic groups in Yugoslavia had their own nationalisms, notably Croats and Slovenes and, only much later, Muslims. The competing nationalism among all these groups resulted in the dissolution of Yugoslavia. But it was Serbian nationalism that  Tadeusz Mazowiecki: Serbien trägt die größte Schuld. In: Die Zeit, .., .  Zit. n. Troebst, Ethnonationale Homogenisierungspolitik (wie Anm. , Kap. ), .  Höpken, »Blockierte Zivilisierung« (wie Anm. , Einleitung),  f.

368

D e r g e s c hi c h t s re gio n al e Ko n te x t

served as the pacesetter of events and as the ideology that, ultimately, underpinned the most extreme forms of population politics. Bei der Erkundung der Hintergründe der Gewalteskalation im auseinanderfallenden Jugoslawien muss zusätzlich die große Beteiligung paramilitärischer Einheiten an der Massengewalt gegen die Zivilbevölkerung in Betracht gezogen werden. Sundhaussen zufolge »fiel den paramilitärischen Banden, die im Auftrag oder mit Duldung der jeweiligen politischen, militärischen (religiösen Führung) operierten, in der Eskalation der Gewalt eine Schlüsselrolle zu«. Im Bosnienkrieg waren es nicht weniger als  paramilitärische Verbände, die laut eines im Auftrag des UN-Sicherheitsrats verfassten Berichts des Völkerstrafrechtlers M. Cherif Bassiouni in das Konfliktgeschehen involviert waren. Sie trugen einen großen Teil der Verantwortung für die ethnischen Säuberungen und andere Gewalttaten gegen die Zivilbevölkerung. Dem Handeln ihrer Anführer und Mitglieder lagen vielfältige Motive zugrunde; in vielen Fällen waren die Intentionen weniger ethnoreligiöser, sondern vorrangig ökonomischer oder machtpolitischer Natur. Trotzdem bedienten sich diese paramilitärischen Einheiten einer ethnonationalistischen Agenda und agierten im übergeordneten Kontext eines ethnonationalen Konflikts südosteuropäischer Prägung. Im Namen ihrer jeweiligen Nation plünderten und brandschatzten sie Dörfer, folterten und vergewaltigten Frauen und Männer, brachten die zu vertreibende Bevölkerung in Lager, exekutierten wehrlose Zivilisten. Eine der berüchtigtsten paramilitärischen Einheiten war die »Serbische Freiwilligengarde«, deren Männer sich selbst als »Arkan’s Tigers« bezeichneten. Unter der Führung des berüchtigten Arkan (Željko Ražnatović) führten sie eine Reihe grausamer Massaker gegen die muslimische Bevölkerung Bosniens durch. Dabei handelten sie in Kooperation mit den regulären Truppen und in Absprache mit Belgrad. In der Einleitung dieser Studie wurde bereits ausführlich darauf hingewiesen, dass dieses Muster der Koexistenz regulärer und irregulärer Gewalt in einer Tradition der Volksbewaffnung in Südosteuropa stand. Das Phänomen der Beteiligung bewaffneter Milizen an ethnoreligiöser Massengewalt gegen Zivilisten im Balkanraum trat nicht zum ersten Mal in den er Jahren in Erscheinung, sondern kann mindestens bis in das osmanische Zeitalter zurückverfolgt werden. Weitz, der in seiner Studie über Genozide im . Jahrhundert auch die ethnischen Säuberungen im Bosnien-Krieg behandelt und dabei mehrere Fallbeispiele von  Weitz, A Century of Genocide (wie Anm. , Einleitung), -.  Sundhaussen, Jugoslawien (wie Anm. ), .  Ebd., -; Calic, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), -; dies., Krieg und Frieden (wie Anm. ), -.  Weitz, A Century of Genocide (wie Anm. , Einleitung), ,  f., , , ; Brunnbauer/Buchenau, Geschichte (wie Anm. ),  f.; Gunneriusson, Håkan: Bordieuan Field Theory as an Instrument for Military Operational Analysis. Cham , .

369

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

Massengewalt diskutiert, stellt eine enge Kooperation der irregulären serbischen Truppen mit der von Belgrad kontrollierten Jugoslawischen Volksarmee (Jugoslovenska Narodna Armija – JNA) und dem serbischen Innenministerium fest. Dabei konzentriert er sich auf die »Serbische Freiwilligengarde«, die besagte paramilitärische Einheit von Ražnatović (alias Arkan), die eng mit dem Belgrader Machtzirkel verbunden war. Bezeichnend für die Beteiligung bewaffneter Milizen an der ethnoreligiösen Massengewalt während der postjugoslawischen Kriege und die enge Zusammenarbeit zwischen JNA und verbündeten Milizen ist folgende Schilderung der Einnahme der bosnischen Stadt Kozarac: Der Krieg in Kozarac begann gegen Ende Mai  und dauerte nur wenige Tage. Zuerst begannen eines Morgens, unangekündigt und ohne jede Erklärung, die Geschütze der Jugoslawischen Volksarmee (JNA) Salven auf das Dorf abzufeuern. Die Einwohner von Kozarac saßen in improvisierten Schutzräumen und warteten auf das Ende des Angriffs. Das Granatfeuer dauerte, ohne Unterbrechung, vierundzwanzig Stunden. Am nächsten Tag rückten aus der JNA-Kaserne in Prijedor Panzer aus, fuhren in Kozarac ein und besetzten den Ort. Nennenswerten Widerstand gab es nicht. Nach der JNA besetzten Angehörige serbischer Territorialeinheiten das Dorf. Sie waren gut bewaffnet und durchaus kriegslüstern. An ihren Uniformen trugen sie Abzeichen der serbischen Nationalfaschisten aus dem Zweiten Weltkrieg. Sobald alle strategischen Positionen eingenommen worden waren, zog sich die JNA zurück und überließ die Muslime den Tschetniks. Nun begannen Plünderung, Mord, Vergewaltigung. Der Internationale Gerichtshof kam zwar in seinem Urteilsspruch von  zum Ergebnis, dass Belgrad weder eine »effektive Kontrolle« über die bosnischserbischen Milizen gehabt habe noch in Kenntnis über die genozidalen Absichten der Verursacher des Srebrenica-Massakers gewesen sei. Dennoch gingen die Richter davon aus, dass zwischen Belgrader Regierungskreisen und bosnischserbischen Gewalttätern eine Verbindung bestanden hatte. Demzufolge verurteilten sie Serbien wegen des Nicht-Ergreifens wirksamer Maßnahmen zur Verhinderung des Genozids und des Unterlassens der Strafverfolgung der Täter. Zusammenfassend ist in Hinsicht auf die Rolle strukturgeschichtlicher Einflussfaktoren bei dem Ausbruch und der Eskalation ethnonationaler Gewalt auf dem Balkan festzuhalten, dass das Zusammenwirken von mindestens drei regio Weitz, A Century of Genoide (wie Anm. , Einleitung), ,  f., , , .  Jergovic, Miljenko: Der Haß des Dusan Tadic [Dušan Tadić]. Verbrecher aus Loyalität – Anatomie eines bosnischen Archetypus. In: Zeit-Online, .., http://www. zeit.de///Der_Hass_des_Dusan_Tadic (letzter Zugriff: ..).  Meyer, Frank: Die Verantwortlichkeiten von Vertragsstaaten nach der Völkermordkonvention. Besprechung zum Urteil des Internationalen Gerichtshofs vom . Februar . In: Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht  () , -, hier .

370

D e r g e s c hi c h t s re gio n al e Ko n te x t

naltypischen Spezifika langfristigen Charakters, nämlich die a) der ethnischen Gemengelage, b) des »irredentistischen Expansionsnationalismus« und c) der irregulären Kriegsführung, bei der die Entfesselung der Gewalt im zerfallenden Jugoslawien eine entscheidende Rolle gespielt hat. Ein zusätzlicher Eskalationsfaktor waren die konfligierenden Erinnerungskulturen der Völker des auseinanderbrechenden Jugoslawien, die, wie ein hochexplosiver Zündstoff, Gewaltexplosionen beschleunigten und ihre dramatischen Folgen verstärkten. Im Fall der postjugoslawischen Kriege trifft die allgemein für südosteuropäische Konflikte getroffene Feststellung Höpkens zu, dass »gewaltverherrlichende Weltbilder, Symbole und Deutungen« nicht allein »eine beliebig abrufbare Verfügungsmasse für elitengesteuerte Mobilisierungsprozesse«, sondern vielmehr »Teil einer Gewaltdynamik, und zwar ein durchaus eigenständiger Teil dieser Dynamik« seien, auf die nicht selten »die Entgrenzung und überbordende Radikalisierung« zurückgingen. Vor allem die traumatische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg erzeugte im zerfallenden Jugoslawien eine solche Wirkung. Als z. B. der neue kroatische Staat unter der Führung Tuđmans alarmierende geschichtspolitische Zeichen aussendete (Šahovnica-Fahne, KunaWährung etc.), wurden bei den Krajina-Serben Erinnerungen an die antiserbische Ethnopurifizierungspolitik des Ustaša-Staates wachgerufen. Auf der anderen Seite instrumentalisierte man kroatischerseits das Erinnerungsgespenst an das gegnerische Feindbild der serbischen Četnici, die während der Okkupationszeit unter der Führung von Dragoljub (Draža) Mihailović vergleichbare Gewaltexzesse gegen Kroaten und Muslime begangen hatten. Dieses saß im kroatischen Kollektivgedächtnis genauso tief wie in der serbischen Erinnerungskultur der Vertreibungs- und Ausrottungskrieg der Ustaša. Auch in Bosnien kamen im Zuge des Krieges schmerzhafte Erinnerungen hoch. Bezeichnend dafür ist der Fall der Stadt Foča im Osten des Landes, die im Herbst  von den Serben eingenommen und zum Schauplatz einer äußerst brutalen ethnischen Säuberung wurde. Für ihre Bevölkerung kam es zu einem »fürchterlichen Déja-vu-Erlebnis«. Bereits im Zweiten Weltkrieg hatten dort Četnici, Ustaša und muslimische Milizen »schlimmste Gräuel« verübt. Die konfliktträchtigen Erinnerungen an den traumatischen Zweiten Weltkrieg gingen im zerfallenden Jugoslawien mit gewaltverherrlichenden Heldentraditionen einher. So ließen sich etwa serbische Gewalttäter, insbesondere Mitglieder paramilitärischer Verbände, nicht nur von den besagten Četnici Mihailovićs, sondern auch vom romantisch verklärten Bild der Hajduken inspirieren. Diese waren ursprünglich Gesetzlose auf dem osmanischen Balkan, die  Höpken, »Blockierte Zivilisierung« (wie Anm. , Einleitung), .  Calic, Geschichte (wie Anm. , Einleitung),  f.; Sundhaussen, Jugoslawien (wie Anm. ), ; Weitz, A Century of Genocide (wie Anm. , Einleitung), .  Calic, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), .  Ebd.,  f.

371

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

sich zu Räuberbanden zusammengeschlossen hatten. Ihre Beteiligung an antiosmanischen Aufständen bescherte ihnen einen Platz in den historischen Meistererzählungen der Balkannationen als Freiheitskämpfer der ersten Stunde und als Nationalhelden. In Volksliedern wurden sie als freiheitsliebende, großherzige, furchtlose und ehrenvolle Kämpfer besungen und in der Literatur zu nationalen Vorbildern stilisiert. Die starke Identifikation junger Männer, die vorübergehend in den paramilitärischen Einheiten Arkans und anderer Warlords einen trügerischen Ausweg aus ihrer sozioökonomischen Perspektivlosigkeit fanden, mit diesen Heldenbildern aus dem . Jahrhundert beeinflusste »Kommunikationsstrategien und Handlungsweisen im Krieg«. Bei der Bestimmung des Feindbilds und der Generierung von Gewalt spielte schließlich auf serbischer Seite die Erinnerung an die gegen die Osmanen verlorene Schlacht von Kosovo am Amselfeld  eine wichtige Rolle. Der US-amerikanische Psychoanalytiker Vamik D. Volkan hat gezeigt, dass dieses Ereignis in der serbischen Erinnerungskultur die Stelle eines »gewählten Traumas« einnimmt. Mit dem Begriff des »gewählten Traumas« bezeichnet Volkan »die geistige Repräsentanz« von nicht oder nur mangelhaft aufgearbeiteten Erfahrungen vergangener Generationen innerhalb einer ethnischen oder nationalen Großgruppe. Öfters seien diese »gewählten Traumata« mit »nachhaltigen Erfahrungen von Verlusten und Gefühlen der Demütigung, der Rache und des Hasses verbunden«, was wiederum dazu führt, dass ihre Träger eine »Rächer«-Identität entwickeln. Im Bosnienkrieg fand eine gezielte Reaktivierung dieses »gewählten Traumas« der serbischen Nation statt. Die Kriegstreiber konzentrierten sich darauf, »in den Köpfen der Serben die Idee zu entzünden, die Osmanen, die jetzt durch die bosnischen Muslime symbolisiert wurden, würden wiederkommen«. Eine zentrale Rolle in dieser Hinsicht spielten die Medien, die »durch die Parallelisierung mit historischen Ereignissen und Mythen« an der Brutalisierung des Krieges entscheidend mitwirkten: Presse, Radio und Fernsehen vertieften sich in historische Themen, wobei die Gräuel des Zweiten Weltkriegs besonders viel Platz einnahmen. Alle Parteien sammelten Beweise, um die eigene Opferrolle zu kultivieren und kollektive Rachegefühle anzuheizen, z. B., wenn die serbische Politika über Kroatien titelte: » begann mit denselben Methoden!«, »Der Genozid darf sich nicht wiederholen«. Andererseits berichtete die kroatische Zeitung Vjesnik über ei Ebd., .  Calic, Krieg und Frieden (wie Anm. ), -; dies.: Geschichte (wie Anm. , Einleitung),  f.  Volkan, Vamik D.: Das Versagen der Diplomatie. Zur Psychoanalyse nationaler, ethnischer und religiöser Konflikte. . Aufl. Gießen , -.  Ebd.,  f.  Ebd., .  Calic, Geschichte Jugoslawiens (wie Anm. , Einleitung), .

372

K ri e g e im » gl o b al e n Ze i t al te r«

nen serbischen »Höllenplan« und das Fernsehen im Mai  von »Tschetnik [Četnici]-Wahnsinn«. Der Schriftsteller Dobrica Ćosić erklärte im August  im Fernsehen, eine der größten Sünden seiner Generation sei es gewesen, die Ustascha [Ustaša]-Verbrechen vergessen zu wollen.

Kriege im »globalen Zeitalter«

Das Gewaltgeschehen auf jugoslawischem Boden wurde im Wesentlichen durch den Umbruch von  ausgelöst, der das Ende der Weltordnung des Kalten Krieges herbeiführte. Wie schon eingangs in diesem Kapitel erwähnt, hatte die bipolare Weltordnung in Südosteuropa eine Deeskalation mehrerer inner- wie zwischenstaatlicher Konflikte bewirkt. Die Stabilität in der Region wie in anderen Teilen Europas und der Welt gründete aber auf dem sogenannten Gleichgewicht des Schreckens. Durch den Kollaps des sowjetischen Herrschaftssystems verschwanden das Mächtegleichgewicht und die darauf basierende Blockdisziplin, die als Stabilisierungsfaktoren fungierten. Bis zur Zäsur von / stellte insbesondere im geteilten Europa die »Unterdrückung von Gebietskonflikten« eine von den Großmächten vorgegebene Handlungsmaxime dar. Diese beruhte auf den »klaren Machtverhältnissen und eindeutigen Hierarchien«, die »verhinderten, dass solche Konflikte überhaupt ausbrechen konnten«. In dem Maße, »wie die Hierarchien flacher wurden, verschärften sich die Konflikte und verstärkten sich die Selbstbestimmungsforderungen«. Dies gilt insbesondere für Jugoslawien, wo die Zeitenwende von / den Einsturz des seit Längerem wackeligen Staatsgebildes der sechs Teilrepubliken und zwei autonomen Provinzen maßgeblich beschleunigte. Zudem ermöglichte sie die Entstehung von Freiräumen für ethnopolitische und andere Gewaltakteure, die das Scheitern des Kommunismus als Staats- und Gesellschaftsmodell nutzten, um den Nationalismus als übergeordnetes Staatsprinzip zu reaktivieren. Die Zäsur von / kann, wie in der Einleitung bereits ausführlicher erläutert, als ein »globaler Moment« betrachtet werden. Das Ende des Ost-WestKonflikts leitete eine Krisen- und Umbruchssituation ein, während der in verschiedenen Teilen der Welt eine »zeitlich ungewöhnliche« Verdichtung von »Erschütterungen der Stabilität von Gesellschaften bzw. Staaten durch Revolutionen, Rebellionen, Kriege, Bürgerkriege, Staatsstreiche und öffentliche Unruhen« stattfand. Außer den postjugoslawischen Kriegen sind in diesem Kontext    

Ebd., . Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht (wie Anm. , Einleitung), . Ebd. Middell, Matthias: Was ist ein globaler Moment? Überlegungen anhand des Jahres . In: Müller/Skordos, Leipziger Zugänge (wie Anm. , Einleitung), -, hier .

373

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

die militärischen Auseinandersetzungen in der Kaukasus-Region, die zahlreichen Konflikte im Nahen Osten, in Südostasien und Schwarzafrika – von Indonesien über Somalia bis nach Guinea und Sierra Leone – sowie die von den USA angeführten Kriege des Westens im Irak, in Afghanistan und Libyen zu nennen. Für viele dieser Kriege, wenn nicht gar für alle, war das Ende des OstWest-Gegensatzes der entscheidende Auslösungsfaktor.  stellte der damalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Boutros Boutros-Ghali, in seinem »Supplement zur Agenda für den Frieden« fest, dass »das Ende des Kalten Krieges Hemmnisse verschwinden« lassen habe, mit der Folge, dass »es zu einer Flut von Kriegen in neuerdings unabhängigen Staaten gekommen« sei, die »häufig einen religiösen oder ethnischen Charakter« aufgewiesen hätten und in denen es »oft zu ungewöhnlichen Gewalttaten und Grausamkeiten« gekommen sei. Boutros-Ghali traf diese Aussage hauptsächlich mit Blick auf das östliche Europa, aber nicht nur. Wie er des Weiteren ausführte, »scheint das Ende des Kalten Krieges zum Ausbruch solcher Kriege auch in Afrika beigetragen zu haben«. Ausschlaggebend für die Gewalteskalation in Afrika war »der Rückzug der alten Kolonialmächte und der USA, die während des Ost-West-Konflikts aus strategischen Gründen oder zur Verteidigung von Wirtschaftsinteressen mittels Wirtschafts- und Militärhilfe, gelegentlich aber auch offen oder verdeckt zugunsten der herrschenden Eliten eingegriffen und so zumindest eine gewisse Stabilität und den Schein von Staatlichkeit gewahrt hatten«. Die Aussagen BoutrosGhalis bezüglich der Zunahme ethnoreligiöser Konflikte nach  werden durch die Ausführungen des Völkerrechtlers Stephan Hobe bekräftigt, der u. a. anmerkt, dass die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts »neu aufgebrochenen ethnischen Konflikte« zu einer der entscheidendsten »Herausforderungen« des gegenwärtigen Völkerrechts geworden seien. Schon in der Endphase des Kalten Krieges hatte sich durch die sowjetische Invasion in Afghanistan () und die US-amerikanischen Militäroperationen in Grenada (), Libyen () und Panama () sowie die Zunahme innerstaatlicher Konflikte angedeutet, dass Krieg wieder zusehends als Mittel der internationalen Politik eingesetzt wurde. Diese Tendenz nahm in der neuen postbipolaren Weltordnung zu – insbesondere im Zeichen eines US-amerikanischen militärischen Führungsanspruchs, der mit der Vorstellung verbunden war, Kriege im Namen der globalen Gerechtigkeit und des internationalen Kampfes  Für eine Übersicht siehe Ziegler, Völkerrechtsgeschichte (wie Anm. , Einleitung), .  Zit. n. Albrecht, Ulrich: Militärisches Denken als Antwort auf globale Bedrohungen. In: Wissenschaft und Frieden -, http://www.wissenschaft-und-frieden.de/seite. php?artikelID= (letzter Zugriff: ..).  Ebd.  Opitz, Peter O.: Menschenrechte und Internationaler Menschenrechtsschutz im . Jahrhundert. München , .  Hobe, Einführung (wie Anm. , Einleitung), .

374

K ri e g e im » gl o b al e n Ze i t al te r«

gegen den Terrorismus zu führen. Die quantitative Entwicklung militärischer Auseinandersetzungen in der ersten Hälfte der er Jahre ist zu einem wichtigen Teil auf diese Neuausrichtung der US-amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik zurückzuführen, die wiederum durch den Wegfall der Sowjetunion als politisch-militärisches Gegengewicht ermöglicht wurde. Der rapide Anstieg der bewaffneten Auseinandersetzungen ab  in Europa ist wiederum direkt auf das zu einem großen Teil in Form von Sezessionskriegen erfolgte Auseinanderbrechen der beiden großen multiethnischen Staatsgebilde im Osten des Kontinents, der Sowjetunion und Jugoslawiens, zurückzuführen. Schließlich ist für die unmittelbare Nach-Wende-Zeit eine Häufung innerstaatlicher bewaffneter Konflikte außerhalb Europas, vor allem im subsaharischen Afrika, zu registrieren, die eine gewisse »Globalität« aufwiesen. Letztere bestand darin, dass diese Konflikte aus jeweils unterschiedlichen Gründen die Aufmerksamkeit der einzigen Supermacht USA und ihrer Verbündeten sowie der Vereinten Nationen auf sich zogen und deren militärische Intervention veranlassten. In dieser neuen, sich nach  herauskristallisierten Krisen- und Umbruchssituation stieg nicht nur die Anzahl der gewaltsamen Auseinandersetzungen. Zugleich veränderten sich die Struktur und die Erscheinungsform des militärischen Konfliktgeschehens. Während bis zum Epochenjahr / zwischenstaatliche Kriege die große Mehrheit der bewaffneten Konflikte ausmachten, sind seither die innerstaatlichen Kriege bzw. die nicht-internationalen Kriege eindeutig in der Mehrzahl. In diesen bürgerkriegsartigen Konflikten stellt häufig eine paramilitärische Kampfeinheit mindestens eine der zwei oder mehreren Kriegshauptparteien dar. Infolgedessen findet auch die Kriegsführung zu einem großen Teil unter Einsatz irregulärer Methoden statt. Die Hauptopfer dieser vorwiegend als Guerillakriege ausgetragenen Kampfhandlungen sind die Zivilisten. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass sich paramilitärische Soldaten im Vergleich zu regulären Streitkräften in internationalen bewaffneten Konflikten weit weniger an das humanitäre Völkerrecht halten. Herfried Münkler spricht mit Blick auf die veränderte Erscheinungsform der kriegerischen Auseinanderset Brand, Ulrich: Internationale Politik. In: Globalgeschichte, -. Hg. v. Reinhard Sieder und Ernst Langthaler. Wien [u. a.] , -, hier .  Siehe dazu Schwank, Nicolas: Entwicklung innerstaatlicher Kriege und gewaltsamer Konflikte seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes. In: Dossier Innerstaatliche Konflikte. Hg. v. Bundeszentrale für Politische Bildung, .., https://www.bpb.de/ internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte//entwicklung-innerstaatlicherkriege-seit-dem-ende-des-ost-west-konfliktes (letzter Zugriff: ..).  Ebd.  Ebd.  Langewiesche, Dieter: Wie neu sind die Neuen Kriege? In: Lappenküpper/Marcowitz, Macht (wie Anm. , Einleitung), -, hier .  Zur quantitativen Entwicklung innerstaatlicher Kriege seit dem Ende des Ost-WestKonflikts siehe Schwank, Entwicklung innerstaatlicher Kriege (wie Anm. ).  Münkler, Herfried: Die neuen Kriege. . Aufl. Hamburg , .

375

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

zungen im postbipolaren Zeitalter von den »neuen Kriegen« und macht deren Besonderheit an drei spezifischen Merkmalen fest: a) die »Entstaatlichung bzw. Privatisierung kriegerischer Gewalt«, b) die »Asymmetrisierung kriegerischer Gewalt« als Folge des Umstands, »dass in der Regel nicht gleichartige Gegner miteinander kämpfen« und c) die »Verselbständigung oder Autonomisierung vordem militärisch eingebundener Gewaltformen«. Mit »Autonomisierung« ist gemeint, dass reguläre Armeen zu einem großen Teil die Kontrolle über das Kriegsgeschehen an Gewaltakteure verloren haben, »denen der Krieg als Auseinandersetzung zwischen Gleichartigen fremd ist«. Es gibt berechtigte Einwände gegen die Bezeichnung der nicht-internationalen Konflikte der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart als »neue Kriege«. Militärische Auseinandersetzungen, in denen der Staat nicht der Monopolist von Gewalt ist und irreguläre Kampfmethoden unter Missachtung von kriegsvölkerrechtlichen Regeln angewendet werden, sind kein neues Phänomen. Dem stimmt auch Münkler zu, der diesbezüglich anmerkt, dass die »neuen Kriege«, von denen er spricht, »eigentlich gar nicht so neu sind, sondern in mancher Hinsicht eine Wiederkehr des ganz Alten darstellen«. Insbesondere sieht er im Dreißigjährigen Krieg einen Vorläufer der »meisten größeren Kriege unserer Tage« und stellt zwischen den beiden Vergleichsfällen »eine ähnliche Gemengelage aus Werten und Interessen, staatlichen, parastaatlichen und privaten Akteuren« fest. Dementsprechend hält Münkler die bewaffneten Konflikte der letzten zweieinhalb Jahrzehnte nur insofern für »neu«, als das Phänomen der »Entstaatlichung« des Kriegswesens nach einer sehr langen, vom . bis weit in das . Jahrhundert hinein andauernden Phase der staatlichen Gewaltmonopolisierung und der Überzahl zwischenstaatlicher Kriege erst wieder mit Ende des Kalten Krieges stark in Erscheinung getreten sei. Kritiker halten dieser Position entgegen, dass die Gewaltformen, die Münkler als charakteristisch für die neuen Kriege bezeichnet, wie etwa die »Entdisziplinierung der Bewaffneten« oder die entgrenzte Gewalt gegen Zivilisten, auch bei den meisten Auseinandersetzungen des . und . Jahrhunderts anzutreffen seien. In der Tat war das südosteuropäische Konfliktgeschehen während der Übergangsphase vom osmanischen zum nationalen Zeitalter durch diese Eigenschaften gekennzeichnet. Dies gilt auch für den indisch-pakistanischen Krieg von , in dem die Zivilbevölkerung massenhaft zum Opfer von kriegsvölkerrechtswidrigen Taten wurde. Nichtsdestoweniger ist das Argument Münklers und anderer Experten bezüglich eines      

Ebd. Ebd., . Ebd., . Ebd. Vgl. z. B. Langewiesche, Wie neu (wie Anm. ), -. Vgl. z. B. Kaldor, Mary: Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung. Berlin  (Originalausgabe: New and Old Wars. Organized Violence in a Global Era. Cambridge ).

376

K ri e g e im » gl o b al e n Ze i t al te r«

neuen Kriegstyps seit / nicht komplett von der Hand zu weisen – schon allein wegen der starken Zunahme innerstaatlicher Kriege nach Ende des Kalten Krieges. Die durch eine irreguläre Kriegsführung gekennzeichneten »neuen Kriege« waren im Zusammenwirken mit anderen Entwicklungen wesentlich dafür verantwortlich, dass ein weiterer Kriegstyp aus der Vergangenheit ein Revival erfuhr, nämlich der der humanitären Intervention. Die Verfechter humanitärer Interventionen in den er Jahren, auf die noch weiter unten ausführlicher eingegangen wird, traten dafür ein, »ungerechte«, vorwiegend asymmetrisch geführte Kriege, welche Menschenrechte verletzten, den Tod vieler Zivilisten verschuldeten und den Weltfrieden bedrohten, mit »gerechten« Kriegen zu beenden. Beim sich ab / auftuenden Gegensatz zwischen »ungerechten« und »gerechten« Kriegen ging es nicht allein um die Verletzung oder den Schutz von Menschenrechten im Kriegsgeschehen, sondern auch um die Erhaltung oder den endgültigen Niedergang des staatlichen Kriegsmonopols. Ulrich Beck hat in einem  erschienenen Beitrag diese beiden, sich aufeinander beziehenden Kriegstypen, die das Kriegsgeschehen im »globalen Zeitalter« nach Ende des Ost-West-Konflikts geprägt haben, in einer neuen Kriegskonstellation, nämlich die des »postnationalen Krieges«, zusammengeführt. Die Grundzüge des »postnationalen Krieges« fasste er in folgende drei Punkte zusammen: a) Das »Aufweichen der nationalstaatlichen Souveränitätsordnung«, b) die »Schwächung, ja Barbarisierung des Staates, welcher sich der Vertreibung und des Völkermords an seinen Bürgern schuldig macht«, und c) der »Glaube an die Zivilität stiftende Moral der Menschenrechte«. Beck erklärte den Kosovo-Krieg von , der sich aus dem »ungerechten« Krieg der Serben gegen die kosovarische Zivilbevölkerung in der Form einer ethnischen Säuberung und dem »gerechten« NATOAngriff auf das Rumpf-Jugoslawien Miloševićs zum Schutz der Menschenrechte der Kosovaren zusammengesetzt habe, zu einem Beispiel par excellence für einen »postnationalen Krieg«. Die Krisen- und Umbruchssituation von / mit ihren oben genannten neuen Bedrohungen für Weltfrieden und globale Sicherheit bewirkte einschneidende Veränderungen in der internationalen Staatenpraxis und im völkerrechtlichen Normensystem. Eine der größten neuen Herausforderungen für das Völkerrecht unmittelbar nach der Zeitenwende von / waren »ethnische Konflikte, die – zumeist in Gestalt der Geltendmachung des Selbstbestimmungsrechts der Völker – den Staat mit der Gefahr des Auseinanderfallens etwa im Wege der Dismembration oder Sezession« konfrontierten und ihn »sogar an die Grenze der Möglichkeit einer effektiven Herrschaft über das eigene Staatsgebiet« gebracht haben. Staatsgebilde wurden aufgrund ihrer heterogenen  Beck, Ulrich: Über den postnationalen Krieg. In: Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht. Hg. v. Reinhard Merkel. Frankfurt/M. , -, hier .  Hobe, Einführung (wie Anm. , Einleitung),  f.

377

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

ethnischen Bevölkerungszusammensetzung vor allem »von innen her« in ihrer Existenz infrage gestellt, und die Staatengemeinschaft und das Völkerrecht sahen sich der Herausforderung gegenüber, »Regeln zur Austarierung dieses Konflikts zu entwickeln«. In der Frage nach der bevorzugten völkerrechtlichen Form des Auseinanderbrechens der Sowjetunion und Jugoslawiens und der sich daraus zu ergebenden Neuordnung der Staatenlandschaft in Osteuropa – Dismembration oder Sezession – unterstützte die internationale Staatengemeinschaft die Option der Auflösung der beiden Staatsgebilde durch Dismembration. Um in diesem Zusammenhang sicherzustellen, dass die während der kommunistischen Zeit gezogenen internationalen und innerstaatlichen Grenzen von den neuen souveränen Staaten unverändert übernommen und somit weder zwischen letzteren noch mit benachbarten Staaten territoriale Streitigkeiten entfacht würden, wurde auf den Grundsatz des uti possidetis zurückgegriffen. Dieser war im . Jahrhundert im Zuge der Entkolonisierung Amerikas zur Einschränkung des Prinzips der Selbstbestimmung der Völker entwickelt und nach  auch bei den Entkolonisierungsprozessen in Afrika und Asien angewandt worden. Im Wesentlichen sieht der uti possidetis-Grundsatz vor, dass die internationalen Grenzen der durch die Auflösung eines Staates neu entstehenden Staaten entlang bereits bestehender administrativer Grenzen gezogen werden. Durch ihre Anwendung in Osteuropa ab  avancierte die bis zu diesem Zeitpunkt nur im Kontext der Entkolonisierung eingesetzte Regel zu einer Norm des universell geltenden Völkerrechts. Zudem beabsichtigte die Staatengemeinschaft mit dem Rückgriff auf das ebenso auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker einschränkend wirkende Grundprinzip des Sezessionsverbots zu verhindern, dass es nach der Anerkennung der früheren Teilrepubliken als souveräne Staaten auf dessen Territorien zu weiteren Abspaltungsversuchen käme. Im Großen und Ganzen wurden bei der Auflösung der Sowjetunion und Jugoslawiens »die Regeln der Entkolonisierung angewendet«. Die beiden Föderationen wurden so behandelt, »als wären sie Kolonialreiche« und ihre Teilrepubliken Kolonien. Bemerkenswerterweise haben sich letztere bei ihren Unabhängigkeitsbestrebungen selten auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker berufen, es  Ebd.  Kau, Marcel: Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekt. In: Völkerrecht. . Aufl. Hg. v. Wolfgang Graf Vitzthum und Alexander Proelß. Berlin [u. a.] , , hier  f.  Siehe dazu ausführlicher Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht (wie Anm. , Einleitung).  Siehe dazu ausführlicher Simmler, Christiane: Das uti possidetis-Prinzip. Zur Grenzziehung zwischen neu entstandenen Staaten, Berlin ; dies.: Selbstbestimmungsrecht der Völker contra uti possidetis? Zum Verhältnis zweier sich angeblich widersprechender Regeln des Völkerrechts. In: Verfassung und Recht in Übersee/Law and Politics in Africa, Asia and Latin America  () , -.  Fisch, Das Selbstbestimmungsrecht (wie Anm. , Einleitung), .

378

K ri e g e im » gl o b al e n Ze i t al te r«

sei denn, man beabsichtigte, wie etwa Serbien, das besagte Prinzip des uti possidetis infrage zu stellen und eine Grenzziehung ungeachtet der früheren Binnengrenzen durchzusetzen. Obgleich dem Selbstbestimmungsrecht der Völker im Zuge der Auflösung der Sowjetunion und Jugoslawiens nur geringe Bedeutung zukam, wurden in nahezu allen Teilrepubliken Unabhängigkeitsplebiszite zur nachträglichen Legitimation der bereits beschlossenen bzw. erfolgten Staatswerdungen abgehalten. Auf der anderen Seite setzte die Zäsur von / unter transnational ausgerichteten Politikern, Völkerrechtlern und Journalisten einen neuen liberalen Internationalismus frei. Aus deren Sicht signalisierte der Sieg des freiheitlichen Modells der westlichen Demokratien über das kommunistische Herrschaftssystem u. a. den Beginn eines Prozesses der hierarchischen Neubestimmung völkerrechtlicher Grundsätze. In diesem Kontext hinterfragten sie insbesondere die Unantastbarkeit der staatlichen Souveränität als übergeordnetes Prinzip des Völkerrechts und die vorrangige Stellung des in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Grundsatzes der Nicht-Intervention gegenüber dem Menschenrechtsschutz. Letzterer avancierte spätestens mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN-Generalversammlung von  zum festen Bestandteil der modernen Völkerrechtsordnung. Trotz der stark zunehmenden Verrechtlichung auf dem Gebiet des Menschenrechtsschutzes vor allem in den er Jahren hatte das Grundprinzip der staatlichen Souveränität während der amerikanisch-sowjetischen Epoche seine vorherrschende Stellung im Völkerrecht behalten. Das Ende des Ost-West-Konflikts mit der Niederlage des kommunistischen Totalitarismus auf ökonomischer, politischer und gesellschaftlicher Ebene stimmte viele liberale Interventionisten optimistisch, dass »eine nun unipolare Welt primär von Recht und Normen getragen würde«. In diesem Zusammenhang trat »eine weitere Stufe in der weltweiten Berufung auf Menschenrechte« ein, die im Vergleich zu früheren Kampagnen weit größere Dimensionen erlangte. Dem deutschen Globalhistoriker Jürgen Osterhammel zufolge hatte es »niemals zuvor eine ähnlich systematische Beobachtung und Anprangerung von Menschenrechtsverletzungen« gegeben wie in den er  Ebd.,  f.  Mazower, Mark: Saviors and Sovereigns: The Rise and Fall of Humanitarianism. In: World Affairs Journal, März/April , https://cgt.columbia.edu/wp-content/uploads///Saviors-Sovereigns-The-Rise-and-Fall-of-Humanitarianism.pdf (letzter Zugriff: ..); Koskenniemi, Why History (wie Anm. , Einleitung), -; Craven: Introduction (wie Anm. , Einleitung), -; Osterhammel, Cosmopolis (wie Anm. , Kap. ).  Kau, Der Staat (wie Anm. ), .  Düllfer, Jost: Recht, Normen und Macht. In: Dimensionen internationaler Geschichte. Hg. v. Jost Düllfer und Wilfried Loth. München , -, hier .  Ebd., .  Ebd.

379

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

Jahren. Moralische Werte gewannen zu dieser Zeit wieder enorm an Bedeutung und allgemeiner Akzeptanz. Für das Handeln der Verfechter des neuen humanitären Interventionismus war nicht das Interesse der Staaten, sondern das »kosmopolitische Interesse der Menschheit« der alles bestimmende Faktor. Ihr Kosmopolitismus ging von einer moralischen und auch völkerrechtlich begründeten Verantwortung der Mächtigen dieser Welt aus, die Rechte von »Armen und Schwachen« zu fördern und zu schützen. Der »Verantwortungskosmopolitismus« der er Jahre verlangte »von Staaten eine Unterordnung nationaler Interessen unter menschheitliche Gemeinwohnziele« und »von strategischen Wirtschaftsakteuren die Relativierung privater Profitmaximierung durch Wohlfahrtsimperative im Sinne globaler Gerechtigkeit«. Auch wenn die Weichen für ein weltumspannendes Menschenrechtsschutzsystem lange vor der Zäsur von / gestellt worden waren, hat sich erst »seit dem Zusammenbruch des früheren Ostblocks die Anerkennung eines Mindeststandards elementarer Menschenrechte als Grundwerte der gesamten Völkerrechtsordnung nicht nur in ganz Europa, sondern weltweit durchsetzen« können. Das Prinzip des »humanitären Interventionismus« fand in den er Jahren Eingang in die Außenpolitik der USA. Insbesondere während der Administration Bill Clintons avancierte es zum bestimmenden Faktor der US-amerikanischen Sicherheits- und Außenpolitik. Die damalige Außenministerin Madeleine Albright begründete  die vorrangige Stellung der Menschenrechte in der Politik Washingtons folgendermaßen: Die Unterstützung von Menschenrechten ist nicht nur eine Art von internationaler Sozialarbeit. Sie ist unerlässlich für unsere Sicherheit und für unser Wohlergehen, denn Regierungen, die die Rechte ihrer eigenen Bürger miss-

 Osterhammel, Jürgen: Von einem hohen Turme aus. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, .., .  Hilpold, Peter: Humanitäre Intervention: Neue Perspektiven für ein geächtetes Instrument der Völkerrechtsgeschichte? In: Die Verteilung der Welt. Selbstbestimmung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Hg. v. Jörg Fisch. München , , hier .  Ebd.  Osterhammel, Jürgen: Kosmopolis und Imperium. Von Anerkennung zur Verantwortung. In: ders., Die Flughöhe (wie Anm. , Kap. ), -, hier  f.  Zu den wichtigsten völkerrechtlichen Grundlagen des universellen Menschenrechtsschutzsystems gehören bis heute noch außer der besagten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte die nahezu zeitgleich verabschiedete Konvention über die Bestrafung und Verhütung des Völkermords (Dezember ) sowie die beiden internationalen Menschenrechtspakte von . Siehe Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom . Dezember . In: Völkerrecht (wie Anm. , Kap. ), -  Herdegen, Völkerrecht (wie Anm. , Einleitung), .  Langewiesche, Wie neu (wie Anm. ), .

380

K ri e g e im » gl o b al e n Ze i t al te r«

achten, werden wahrscheinlich nicht die Rechte eines anderen respektieren. In diesem Jahrhundert wurde praktisch jeder größere Akt internationaler Aggression von einem Regime ausgeführt, das politische Rechte unterdrückte. Solche Regime lösen wahrscheinlich auch eher Unruhen aus, indem sie Minderheiten verfolgen, Terroristen Unterschlupf gewähren, Drogen schmuggeln oder im Geheimen Massenvernichtungswaffen bauen. Die USA erhielten bei ihrem interventionistischen Kurswechsel unter humanitärem Vorzeichen Unterstützung durch ihre NATO-Verbündeten, vor allem von Seiten des britischen Premierministers Tony Blair, dessen sicherheitspolitisches Dogma ebenso der Grundprämisse unterlag, dass die Verteidigung von Menschenrechten im Ausland eine Voraussetzung für den Frieden und die Sicherheit zu Hause sei. Gegner kritisierten dieses Dogma als ein Instrument zur Bedienung und Rechtfertigung geopolitischer Großmachtinteressen. Diese Kritik ist sicherlich bis zu einem gewissen Grad berechtigt. Trotzdem sollte die von den USA in den er Jahren ausgegangene Interventionspolitik vornehmlich in den Kontext der Herausbildung eines »globalen Bewusstseins, das auf wirkliche Gefahren von mehr als lokaler Reichweite reagierte«, eingeordnet werden. Aus Sicht der liberalen Kosmopoliten des ausgehenden . Jahrhunderts stellten die von der Verletzung von Menschenrechten ausgehenden Gefahren und Risiken eine dermaßen ernste Bedrohung für den Weltfrieden dar, dass sie die Schaffung eines gemeinsamen Verantwortungs- und Handlungsraums »über alle nationalen Grenzen und Gräben hinweg« erforderte. Zudem teilten Interventionisten wie Blair oder Albright die Grundüberzeugung, dass die globale Verbreitung und Durchsetzung des Liberalismus sowie der Menschenrechtsschutz weltweit zu den Hauptaufgaben der westlichen Demokratien für das . Jahrhundert gehörten. Infolge der oben genannten Entwicklungen in der Politik der größten Militärmacht und ihrer Verbündeten wurden die Menschenrechte in den er Jahren zu einer tragenden Säule der modernen Völkerrechtsordnung.  konstatierte Karl-Heinz Ziegler, dass heutzutage der »Schutz der Menschenrechte ein beherrschendes Thema im Völkerrecht« sei. Im Zentrum der mit dem  Zit. n. Beck, Über den postnationalen Krieg (wie Anm. ), .  Mazower, Mark: Governing the World. The History of an Idea. London [u. a.] ,  f.  Osterhammel, Von einem hohen Turme aus (wie Anm. ).  Bredow, Wilfried von: Ein Konstrukt, aber kein Akteur. Die internationale Gemeinschaft zwischen Heterogenität und Verrechtlichung. In: Lappenküpper/Marcowitz, Macht (wie Anm. , Einleitung), -, hier .  Mazower, Governing the World (wie Anm. , Kap. ), ; Beck, Über den postnationalen Krieg (wie Anm. ), .  Ziegler, Völkerrechtsgeschichte (wie Anm. , Einleitung), , ; zur Stellung der Menschenrechte im heutigen Völkerrecht siehe Herdegen, Völkerrecht (wie Anm. , Einleitung), -; Stein/von Buttlar, Völkerrecht (wie Anm. , Kap. ), -.

381

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

Ende des Kalten Krieges aufgenommenen Anstrengungen zur stärkeren Verankerung des Menschenrechtsschutzes im Völkerrecht stand die Abschwächung der Grundsätze der Staatssouveränität, des Interventions- und des Gewaltverbots zugunsten der Wahrung von Menschenrechten, der Volkssouveränität und der militärischen Intervention im Fall ihrer Verletzung. Der Einebnungsprozess der Grenzen zwischen den inneren Angelegenheiten eines Staates und der internationalen Staatengemeinschaft baute, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, auf die sukzessive Anerkennung des einzelnen Menschen als Träger völkerrechtlicher Rechte und Pflichten seit  und die damit verbundene Universalisierung der Menschenrechte. Dieter Langewiesche hält zur Widerspiegelung des neuen »humanitären Interventionismus« des frühen postbipolaren Zeitalters im heutigen Völkerrecht Folgendes fest: Weil die Menschenrechte weltweite Gültigkeit beanspruchen, gelten Kriege, die dagegen massiv verstoßen, als völkerrechtswidrig und als ethisch illegitim. Wenn die Verstöße zu massiv werden, gerät die UNO und geraten Regierungen unter den Druck der Öffentlichkeit und von Organisationen, notfalls mit Waffengewalt zu intervenieren. Das ist neu. Jedenfalls in dieser globalen Form. […] Gesellschaften, die nicht von dem Krieg direkt betroffen sind, fühlen sich heutzutage gleichwohl verantwortlich und fordern, einen Krieg, der als illegitim gilt, weil er die Menschenrechte von Bevölkerungsgruppen massiv verletzt, sogar in Völkermord übergeht, zu bekämpfen mit dem gerechten Krieg. Was hier in ein altes Wort gekleidet wird – gerechter Krieg –, heißt in der heutigen Sprache der Politik und auch der Sozialwissenschaften »humanitärer Interventionismus«. Gemeint ist das Gleiche: Krieg für eine Sache, die als gerecht gilt. Der gute Krieg gegen den schlechten. Und der schlechte Krieg ist derjenige, der Menschenrechte dramatisch verletzt und als Gefahr für die Weltgemeinschaft gilt.

Der Prägungsfaktor Raum

Die postjugoslawischen Kriege fielen also in eine Zeit der »substantiellen Renormativierung des Völkerrechts«, was deren Einflussnahme auf die Weiterentwicklung des Völkerrechts maßgeblich begünstigte. Ein weiterer Faktor, der dazu beitrug, dass sich das Kriegsgeschehen im zerfallenden Jugoslawien von allen militärischen Konflikten in den er Jahren am prägendsten auf Staatenpraxis und Völkerrecht auswirkte, war die geographische und vor allem »mentale« Sonderstellung Südosteuropas als »Brücke« und »Kreuzung« zwischen West  Herdegen, Völkerrecht (wie Anm. , Einleitung), .  Langewiesche, Wie neu (wie Anm. ), .  Merkel, Reinhard: Vorwort. In: ders., Der Kosovo-Krieg (wie Anm. ),  f., hier .

382

D e r P rä g u n g s fa k to r R au m

und Ost, als »Sorgenkind« der westlichen Welt, das von Seiten letzterer als teils andersartig, teils aber auch als dazugehörig empfunden wird. Dieser Ansatz bedarf einer ausführlicheren Erklärung. Wie bereits oben ausgeführt, unterschieden sich die postjugoslawischen Kriege von konventionellen bzw. internationalen militärischen Auseinandersetzungen vor allem darin, dass deren Hauptmerkmal die Massengewalt gegen die Zivilbevölkerung war: Die Armeen taten einander kaum weh. Die Geschichte des bosnischen Krieges kennt nur Vertreibungen und Massaker, aber keine einzige Schlacht, keinen Häuserkampf, kein einziges Gefecht um den Vormarsch einer Armee. Das typische Kriegsszenario war der Austausch von Granaten zwischen Hügelstellungen. Der Dauerbeschuss von Wohngebieten, wie in Sarajevo oder Mostar, galt nicht der je anderen Armee, sondern der Zivilbevölkerung. Die Belagerung Sarajevos, die Zerstörung von Häusern und ganzen Dörfern, die systematische Vertreibung unerwünschter Bevölkerungsgruppen aus eroberten Territorien, die dadurch entstandenen Flüchtlingsströme, die Bilder von KZähnlichen Gefangenenlagern schreckten die internationale, insbesondere die europäische und US-amerikanische Öffentlichkeit auf. Die im Westen nach Ende des Zweiten Weltkriegs bereits vergessen geglaubten Verbrechen der ethnischen Säuberungen und des Völkermords wurden erneut »vor der eigenen Haustür« begangen und in den Massenmedien ausführlich dokumentiert. Vor allem in Europa hatte man sich jahrzehntelang im Glauben gewiegt, dass Völkermord und andere vergleichbare Verbrechen nach der einschneidenden Erfahrung des Holocausts auf dem eigenen Kontinent nicht mehr denkbar wären. Der Schock, den die in Ton und Bild die Öffentlichkeiten der europäischen Länder erreichenden Nachrichten von systematischen Vertreibungen, Vergewaltigungen, Folterungen, Deportationen in Internierungslagern und Hinrichtungen bosnischer Muslime durch serbische Kampfverbände auslösten, war groß. Entsprechend groß war dann auch der Druck auf die Politik, Maßnahmen gegen diese eklatanten Menschenrechtsverletzungen zu ergreifen.  Siehe zu dieser Sonderstellung Todorova, Maria: Der Balkan als Analysekategorie: Grenzen, Raum, Zeit. In: Geschichte und Gesellschaft  (), -, hier ; dies.: Historische Vermächtnisse zwischen Europa und dem Nahen Osten. In: Europa im Nahen Osten – Der Nahe Osten in Europa. Hg. v. Angelika Neuwirth und Günther Stock. Berlin , -, hier .  Mappes-Niediek, Norbert: Die Ethno-Falle. Der Balkankonflikt und was Europa daraus lernen kann. Berlin , , zit. n. Sundhaussen, Jugoslawien (wie Anm. ), .  Troebst, Von den Fanarioten (wie Anm. , Kap. ), -; ders.: Speichermedium der Konflikterinnerung. Zur osteuropäischen Prägung des modernen Völkerrechts. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung  () , -, hier -; Jamison, Matthew: Humanitarian Intervention since  and »Liberal Interventionism«. In: Simms/Trim, Humanitarian Intervention (wie Anm. , Einleitung), ; Calic, Geschichte (wie Anm. , Einleitung)  f.

383

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

Die Frage, die in diesem Zusammenhang gestellt werden muss, ist, ob, wie etwa Maria Todorova behauptet, die Betroffenheit im Westen über die sich im Kriegsjugoslawien abspielende Tragödie größer war als das Interesse an anderen noch »härteren und blutigeren« humanitären Katastrophen, die ebenso in den er Jahren stattfanden, aber sich nicht in Europa, sondern in anderen Teilen der Welt abspielten. Einschlägige Untersuchungen zu dieser Fragestellung gibt es keine. In der Forschung finden sich dennoch genügend Indizien dafür, dass das postjugoslawische Konfliktgeschehen und die dabei verübten Kriegsverbrechen in der Öffentlichkeit der westlichen Länder tatsächlich weit präsenter waren als etwa die bürgerkriegsbedingten Konflikte in Somalia, Ruanda oder Sierra Leone. So kritisierte etwa Nelson Mandela auf einer  abgehaltenen Konferenz zu »Kosovo, Africa and Humanitarian Intervention« das ungleichgewichtige Interesse des Westens an den jugoslawischen Auflösungskriegen zu Ungunsten von anderen, ähnlich schlimm verlaufenden Konflikten in anderen Teilen der Welt, indem er bedauerte, dass »wir in Afrika und Asien mit einem gewissen Neid die Bereitschaft und Willigkeit von einem Teil der internationalen Gemeinschaft zur Kenntnis nehmen, im Kosovo zu intervenieren und die notwendigen Ressourcen für den Aufbau der kosovarischen Gesellschaft bereitzustellen«. In diesem Zusammenhang rief er die Mächtigen der Welt auf, der »ungleichen Behandlung« von humanitären Katastrophen die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken. Darüber hinaus bezweifelte Mandela, dass es »nur an mangelnder Kenntnis von Seiten der internationalen Gemeinschaft liegt, dass diese so wenig Einsatzbereitschaft zeigt, wenn es darum geht, Konflikten in Afrika Einhalt zu gebieten«. Schließlich machte er seine Feststellung zur unterschiedlichen Sensibilität, welche die Staatengemeinschaft bei westlichen und nicht-westlichen Konflikten und humanitären Katastrophen zeige, an konkreten Beispielen fest: It has now become so customary to point to the failure of the international community to intervene and end the genocide in Rwanda that it is almost forgotten that this relative neglect of Africa in these matters is much more general than only the Rwanda case. For example, while NATO prepared itself for action in Kosovo, Sierra Leone seemed a virtually forsaken place from an international perspective. As atrocities were carried out in Sierra Leone, Nigeria, under the aegis of an Ecomog peacekeeping mandate, sent in troops, but the weaponry, funding, communications and intelligence promised by Western powers failed to materialise. And even in Rwanda itself, once the genocide had ended, there was and is more that the international community could do  Todorova, Der Balkan (wie Anm. ),  f.  Mandela, Nelson: Address Delivered at Kosovo Seminar. In: A Continent Apart. Kosovo, Africa and Humanitarian Intervention. Hg. v. Elizabeth Sidiropoulos. Johannesburg , -, hier .  Ebd.

384

D e r P rä g u n g s fa k to r R au m

than merely repent about its failures. The dynamics that ignited the genocide in Rwanda today continue to play a role in the conflicts in neighbouring Burundi and the Democratic Republic of Congo. Mandela richtete seine Kritik ausschließlich gegen die internationale Staatengemeinschaft und -praxis, während er zur Frage, inwiefern auch die westliche massenmediale Berichterstattung über Menschenrechtsrechtsverletzungen in verschiedenen Teilen der Welt von einem Ungleichgewicht gekennzeichnet ist, keine Stellung bezog. Die westliche Öffentlichkeit ist insofern von großer Bedeutung, als in den er Jahren die Verfechter des »humanitären Interventionismus« sich dieser bedienten, um ihre Anliegen vorzubringen und durchzusetzen. Die Münchner Südosteuropahistorikerin Marie-Janine Calic hält zur starken Präsenz des Themas der im zerfallenden Jugoslawien begangenen Menschenrechtsverletzungen in der internationalen Öffentlichkeit Folgendes fest: Kaum ein Ereignis hat die Öffentlichkeit in den vergangenen Jahrzehnten so stark erschüttert wie der Ausbruch des jugoslawischen Krieges im Sommer . […] Nicht zuletzt lag dies daran, dass sich die Medienberichterstattung zu großen Teilen auf die humanitären Dimensionen des Konflikts konzentrierte. Aufsehenerregende Reportagen über Massenvergewaltigungen stießen stets auf größeres Interesse als nüchterne Ursachenanalyse. […] Scharen von Reportern setzten sich in Bewegung, um immer neue Gräueltaten ans Tageslicht zu bringen. Die flächendeckenden ethnischen Vertreibungen, die unhaltbaren Zustände in den Gefangenenlagern und die massenhafte Vergewaltigung von Frauen beschäftigten die Medien besonders.« Laut Sundhaussen waren es neben den im Auftrag der Vereinten Nationen erstellten Jugoslawien-Berichten Tadeusz Mazowieckis zwei konkrete mediale Ereignisse, durch die das postjugoslawische Konfliktgeschehen stark in den Fokus der internationalen Wahrnehmung gerückt sei: erstens ein (vermutlich gefälschtes) Foto des im serbischen Internierungslager verhungerten Bosniaken Fikret Alić, das im August  in der englischen Tageszeitung Daily Mirror erschien, und zweitens das mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Buch »A Witness to Genocide« des USamerikanischen Kriegsjournalisten Roy Gutman aus dem Jahr . Sehr wirkmächtig in der internationalen, insbesondere westlichen Öffentlichkeit waren außerdem die CNN-Berichte von Christiane Amanpour und des Korrespondenten der Washington Post in Bosnien, Peter Maas. Sie alle übermittelten Bilder einer humanitären Katastrophe, durch die die Forderung der Interventionisten nach einem unverzüglichen und entscheidenden Eingreifen der internationalen Staa   

Ebd. Calic, Krieg und Frieden (wie Anm. , Einleitung), , . Sundhaussen, Jugoslawien (wie Anm. ), -. Siehe auch Maas, Peter: Love Thy Neighbor. A Story of War. New York .

385

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

tengemeinschaft flankiert wurde. Dieses Phänomen, nämlich der starken Einflussnahme auf den Verlauf und letztlich auch den Ausgang eines südosteuropäischen Konflikts über die Öffentlichkeit, trat nicht zum ersten Mal in den er Jahren in Erscheinung. Schon im . Jahrhundert wurde der Faktor Öffentlichkeit als Druckmittel eingesetzt, um die Regierungen der Großmächte zu diplomatischen und militärischen Interventionen im Osmanischen Reich zu bewegen. Diesen Vorgang haben der US-amerikanische Politikwissenschaftler und Historiker Gary J. Bass und der Genfer Professor für internationale Geschichte Davide Rodogno in neueren Studien minutiös herausgearbeitet. Stefan Troebst hat eine Typologisierung völkerrechtsprägender Südosteuropa-Konflikte anhand eines sechsstufigen Phasenmodells vorgenommen, in dem der »Ressource Weltöffentlichkeit« eine Schlüsselrolle zukommt: () regionales Konfliktgeschehen, zumeist asymmetrischer Art; () Hilfeappell der unterlegenen Konfliktpartei an die Instanz »internationale Öffentlichkeit«; () von der unterlegenen Seite provozierte Überreaktion der überlegenen Konfliktpartei (Massaker, ethnische Säuberung, Genozid u. a.) samt internationaler medialer Verwertung; () Druck der Appellationsinstanz »Weltöffentlichkeit« auf nationale wie internationale politische Akteure zu handeln; () Intervention dieser Akteure in den Konflikt; () zeitversetzte Adaption bzw. Innovation völkerrechtlicher Normen. Dem Leipziger Osteuropahistoriker zufolge seien die »Entwicklung und Perfektionierung dieses Mechanismus eine balkanische Erfindung«. Die »Reihe der Patentinhaber« würde »dabei von den Phanarioten über die IMRO [VMRO] bis zur UÇK« reichen. Die schon im Frühsommer  um die Welt gegangenen Bilder der KZähnlichen serbischen Gefangenenlager von Omarska, Keraterm und Manjača, begleitet von Nachrichten über Massenhinrichtungen und -vergewaltigungen, Folter und Verstümmelungen versetzten der westlichen Öffentlichkeit einen Schock. Hierbei spielten der Zweite Weltkrieg und insbesondere der Holocaust als »Anker- und Fluchtpunkt« einer supra- und transnationalen Erinnerungskultur des Westens eine besondere Rolle. So zeigte sich etwa Anfang der er Jahre der damalige Schweizer Präsident des Internationalen Komitees des Roten  Sundhaussen, Jugoslawien (wie Anm. ), .  Bass, Freedom’s Battle (wie Anm. , Einleitung); Rodogno, Against Massacre (wie Anm. , Einleitung). Siehe auch Kapitel  der vorliegenden Arbeit (Die »Große Orientkrise«, -).  Troebst, Speichermedium (wie Anm. ), .  Ebd. Siehe auch Troebst, Stefan: Balkanisches Politikmuster? Nationalrevolutionäre Bewegungen in Südosteuropa und die »Ressource Weltöffentlichkeit«. In: Osteuropa  () , -.  Leggewie, Claus: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt. München , -,  f.

386

D e r P rä g u n g s fa k to r R au m

Kreuzes (IKRK), Cornelio Sommaruga, darüber bestürzt, dass Verbrechen, von denen man in Europa glaubte, ihnen nur noch in einer Museumsaustellung zum Zweiten Weltkrieg begegnen zu müssen, mittlerweile zu einer alltäglichen Wahrheit auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens geworden seien. Die Vorstellung der Wiederholung von der Shoa vergleichbaren Taten erneut auf europäischem Boden aktivierte eine Abwehrreaktion, die sich um das beschwörende Postulat »Nie wieder Auschwitz« drehte. Bezeichnend dafür ist das Beispiel des von  bis  amtierenden deutschen Außenministers Joschka Fischer, der im April  die deutsche Beteiligung an dem NATO-Angriff gegen Kosovo wie folgt rechtfertigte: »Ich habe nicht nur gelernt: Nie wieder Krieg. Ich habe auch gelernt: Nie wieder Auschwitz.« Neben der Erinnerung an die Massenverbrechen des Zweiten Weltkriegs war auch die Rolle Südosteuropas bei der Auslösung des Ersten Weltkriegs von besonderer Bedeutung für die große internationale Aufmerksamkeit, die den Ereignissen im zerfallenden Jugoslawien zukam. Sicherheitsexperten riefen in Erinnerung, dass ein Weltkrieg schon einmal auf dem Balkan begonnen hatte, und warnten in diesem Zusammenhang vor der Ausartung der Konflikte in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo in eine große regionale Krise, die sich wiederum auf andere Teile Europas ausweiten könnte. Unterdessen bereitete das Problem der anwachsenden Flüchtlingsströme aus dem ehemaligen jugoslawischen Raum den westeuropäischen Staaten allergrößte Sorge. Trotzdem zögerte die westliche Staatengemeinschaft sehr lange, der humanitären Katastrophe im ehemaligen Jugoslawien durch einen militärischen Einsatz ein Ende zu setzen, und ihr Krisenmanagement erlitt angesichts der vielen erfolglosen Deeskalationsversuche einen »schweren Ansehensverlust«. Die vielerseits bemängelte Passivität der westlichen Verantwortlichen sollte allerdings nicht als ein Desinteresse an den Entwicklungen im ehemaligen Jugoslawien gedeutet werden. Vielmehr waren es die Unerfahrenheit der Staatengemeinschaft in Fragen der Konfliktregulierung außerhalb des bipolaren Rahmens des Kalten Krieges, ihre Ratlosigkeit vor der besonderen Konfliktstruktur, die Abwesenheit einer gemeinsamen Interventionsstrategie auch aufgrund widerstreitender Interessen, die Konzeptlosigkeit hinsichtlich der Neustrukturierung des postjugoslawischen Raumes nach Kriegsende sowie militärische Hindernisse, die einen frühzeitigen friedenserzwingenden Streitkräfteeinsatz im ehema Zit. in: Meron, Theodor: The Normative Impact on International Law of the International Tribunal for Former Yugoslavia. In: War Crimes Law Comes of Age: Essays. Hg. v. Theodor Meron. Oxford , -, hier .  Zit. n. Fried, Nico: »Ich habe gelernt: Nie wieder Ausschwitz.« Die Erinnerung an das Vernichtungslager gehört zu den Leitlinien von Außenminister Joschka Fischer. In: Süddeutsche.de, .., http://www.sueddeutsche.de/politik/fischer-ich-habegelernt-nie-wieder-auschwitz-. (letzter Zugriff: ..).  Calic, Krieg und Frieden (wie Anm. ), -.  Ebd.  Calic, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung), .

387

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

ligen Jugoslawien verhinderten. Aufmerksame Beobachter des postjugoslawischen Konfliktgeschehens bemängelten dementsprechend die Balkan-Politik der USA und der westeuropäischen Mächte in den er Jahren nicht aufgrund eines mangelhaften oder zu geringen Interesses an dem Gewaltausbruch im ehemaligen Jugoslawien, sondern vielmehr wegen deren »aktionistischen« Krisenmanagements, das kurzfristig angelegt und planlos, ohne klare und konsistente Zielsetzungen gewesen sei. Die Reaktion habe sich fast immer nur auf den einzelnen, momentan akuten Krisenfall beschränkt, während in der zentralen Frage des Spannungsverhältnisses von staatlicher Souveränität und Menschenrechtsschutz unterschiedliche Maßstäbe angewandt worden seien. Vor allem habe es aber an einem Plan zur schnellen Integration der Region in die westlichen Strukturen von EU und NATO gefehlt. In einem  verfassten Expertenbericht kritisierte das Londoner International Institute for Strategic Studies, »dass sich der Westen in jeder Phase des Krieges in Jugoslawien, der schon fast zehn Jahre dauert, mit der neuesten Krise befasst, ohne die Region als Ganzes betrachten zu wollen«. Wie eingangs angedeutet, wurde letztlich die Haltung des Westens gegenüber den Ereignissen im auseinanderfallenden Jugoslawien von einem seit dem . Jahrhundert durch große Ambivalenz geprägten Verhältnis des »Abendlandes« zu Südosteuropa und insbesondere dessen balkanischer Kernregion bestimmt. In westlichen Ursachenanalysen wurde die blutige Auseinandersetzung zwischen orthodoxen, katholischen und muslimischen Südslawen der er Jahre als die Wiederkehr des Balkan-Raumes als chaotische Krisenregion interpretiert. Hierbei ging man von einer vermeintlichen Tradition des besonders gewaltsamen und grausamen Austragens von Konflikten in dieser Region und von jahrhundertealten Erbfeindschaften zwischen den Balkanvölkern aus. Meinungsbildner mit nur oberflächlichen Regionalkenntnissen, wie etwa David Fromkin oder Robert Kaplan, kolportierten in ihren Publikationen der er Jahre »negative Stereotypen wie eine ›Balkan-Massaker Tradition‹« und verstiegen sich zu »Thesen, die den Menschen in der Balkan-Region, nicht zuletzt unter Hinweis auf die Orthodoxie, eine Art strukturell geringerer Friedens- und Demokratiefähigkeit« attestierten. Das »Leitmotiv« ihrer Analysen basierte auf der vereinfachten Polarität von »zivilisiertem Europa« und »barbarischem Balkan«. Trotz dieses äußerst negativen Bildes der Balkan-Region war die Betroffenheit im Westen über die blutige Auflösung Jugoslawiens weit größer als bei anderen humanitären Katastrophen, die sich zeitgleich anderswo auf der Welt ereigneten. Maria Todorova bietet eine Erklärung für diesen widersprüchlichen Umgang, indem sie in ihrem berühmten Buch »Ima Hatschikjan, Magarditsch: Einleitung. Was macht Südosteuropa aus? In: dies./Troebst, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung), -, hier  f.  Zit. n. Piskorski, Die Verjagten (wie Anm. , Kap. ), .  Hatschikjan, Einleitung (wie Anm. ), .  Ebd.

388

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

gining the Balkans« und in darauffolgenden Aufsätzen eine besondere, ja schizophrene Beziehung des Westens zum Balkan aufzeigt. Ihren Ausführungen zufolge habe man im Westen bereits im späten . Jahrhundert diese Region am südöstlichen Rand des europäischen Kontinents als »the other of Europe« betrachtet. Auf den westlichen Mental Maps dieser Zeit erschien der byzantinisch und osmanisch geprägte Balkan als eine im kulturellen und zivilisatorischen Sinn nicht vollkommen europäische Landschaft, die aber trotz der zivilisatorischen Defizite insofern zu Europa gehöre, als sie mit dem Kontinent »geographisch untrennbar verbunden« und deren Bevölkerung »weiß und überwiegend christlich« sei. Die Koordinaten dieser kognitiven Kartierung blieben auch im . Jahrhundert unverändert. Im Gegensatz zum Orientalismus, so Todorova, der seinen Betrachtungsgegenstand, den Nahen Osten, als das absolute Gegenbild des Westens beschreibe und im Sinne einer »fundamentalen Opposition« wahrnehme, bleibe im westlichen Balkanismus-Diskurs »der Balkan in Europas Bann – er ist seine Antizivilisation, sein Alter Ego, die dunkle Seite im Inneren«. Diese Verbundenheit erkläre laut Todorova »auch die jahrzehntelange vorrangige Beschäftigung mit dem Krieg in Jugoslawien angesichts ernsterer und blutigerer Konflikte in anderen Gegenden der Welt«. Die Weiterentwicklung des Völkerrechts

In Verbindung zur oben genannten, im Laufe der er Jahre zunehmenden Sensibilität von Weltöffentlichkeit und Staatengemeinschaft für den Schutz der Menschenrechte vollzogen sich wichtige Entwicklungen auf den Gebieten des internationalen Krisenmanagements und des Völkerrechts. Das im Krieg auseinanderfallende Jugoslawien bildete dabei das Hauptfeld, auf dem internationale Akteure ihre neuen Rollen nach Ende des Ost-West-Konflikts aushandelten und Instrumente der Konfliktregulierung testeten. Dies gilt vor allem für die Vereinten Nationen, die in der »neuen Ära« nach / eine aktivere Rolle in den internationalen Beziehungen und insbesondere im Bereich der globalen Friedenssicherung spielt. Es war vornehmlich der jugoslawische Fall, an dem die Vereinten Nationen ihren Konfliktregulierungsmechanismus von Peacekeeping und Peacebuilding für das neue Zeitalter nach dem Ende der bipolaren Weltordnung entscheidend weiterentwickelten. So bewirkten etwa ausgerechnet die       

Todorova, Maria: Imagining the Balkans, aktual. Ausgabe. Oxford . Ebd., . Todorova, Historische Vermächtnisse (wie Anm. , Einleitung), . Ebd. Ebd. Calic, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung), . Link, Werner: Die Neuordnung der Weltpolitik. Grundprobleme globaler Politik an der Schwelle zum . Jahrhundert. München , -.

389

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

großen Versäumnisse bei der Planung der vom UN-Sicherheitsrat im Frühjahr  errichteten »sicheren Zonen« von Srebrenica, Sarajevo, Tuzla, Žepa, Goražde und Bihać einen Fortschritt im Bereich der UN-Friedensmissionen, die infolge der humanitären Katastrophe in Srebrenica personell aufgestockt wurden und ausgeweitete Kompetenzen erhielten. Während noch vor dem Srebrenica-Massaker nur . Blauhelme nach Bosnien-Herzegowina entsandt worden waren, die zudem Gewalt nur zur Selbstverteidigung einsetzen durften, erhielt die NATO nach dem im November  vereinbarten Abkommen von Dayton ein ausgeweitetes UN-Mandat für eine . Mann starke Friedenstruppe, die ihrer Aufgabe dann auch weitgehend gerecht wurde. Der militärische Eingriff der NATO in den Kosovokrieg  war ein weiterer Testfall auf dem Gebiet des internationalen Konfliktmanagements. Auch wenn die Operation Allied Force gegen Serbien wegen der Handlungsunfähigkeit der Staatenwelt ohne UN-Mandat stattfand, stellte sie die Weichen für die politische und völkerrechtliche Anerkennung des Instruments der humanitären Militärintervention. Von der aktiveren und effektiveren Rolle der Vereinten Nationen im »Zeitalter der globalen Staatenwelt« profitierte aber vor allem die internationale Strafjustiz. Wie hier anschließend noch gezeigt wird, war der Beschluss des UN-Sicherheitsrats zur Einberufung eines Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien der entscheidende Wendepunkt im langwierigen Prozess der Errichtung eines ständigen internationalen Strafgerichtshofs. Die Einberufung des ersten Ad-hoc-Tribunals durch den UN -Sicherheitsrat

Mit der Gründung des Internationalen Strafgerichthofs für Jugoslawien (»International Criminal Tribunal for the Prosecution of Persons Responsible for Serious Violations of Humanitarian Law Committed in the Territory of the Former Yugoslavia since « – ICTY) im Jahr  zur strafrechtlichen Aufarbeitung von Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien wurde erstmals nach den Militärtribunalen von Nürnberg und Tokio wieder ein internationales Strafgericht errichtet. Im Unterschied aber zur Einrichtung des Nürnberger International Military Tribunal (IMT), die auf einem völkerrechtlichen Vertrag, dem Londoner Abkommen vom . August , beruhte, und zur Einberufung des International Military Tribunal for the Far East (IMTFE), welche auf eine Sonderproklamation (»Special Proclamation«) des Oberbefehlshabers der alliierten Streitkräfte vom . Januar  zurückging, war die Entstehung des Ad-hoc-Tribunals für Jugoslawien das Ergebnis eines Beschlusses des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, der in Resolution  () vom . Mai  zum Ausdruck kam.  Calic, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung),  f.  Ebd., .  Ebd.; Ziegler, Völkerrechtsgeschichte (wie Anm. , Einleitung), -.

390

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

Schon allein aus dem Grund der erstmaligen Errichtung eines internationalen Strafgerichts durch den UN-Sicherheitsrat wird das ICTY in der Literatur als ein »Meilenstein« in der Entwicklung des Völkerstrafrechts behandelt. Die Gründung des ICTY fand unter Berufung auf Kapitel VII der UN-Charta statt, das dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bei Feststellung einer Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit oder einer Angriffshandlung das Recht einräumt, Maßnahmen gegen diese Gefährdung zu beschließen. Die explizite Einstufung der Situation in dem sich im Krieg befindenden Jugoslawien als eine Bedrohung für den Weltfrieden stellte in der besagten Resolution  die völkerrechtliche Grundlage für die Gründung des ICTY dar, das einen Beitrag zur Wiederherstellung des Friedens leisten sollte: The Security Council, […] expressing once again its grave alarm at continuing reports of widespread and flagrant violations of international humanitarian law occurring within the territory of the former Yugoslavia, and especially in the Republic of Bosnia and Herzegovina, including reports of mass killings, massive, organized and systematic detention and rape of women, and the continuance of the practice of »ethnic cleansing«, including for the acquisition and the holding of territory, determining that this situation continues to constitute a threat to international peace and security, determined to put an end to such crimes and to take effective measures to bring to justice the persons who are responsible for them, convinced that in the particular circumstances of the former Yugoslavia the establishment as an ad hoc measure by the Council of an international tribunal and the prosecution of persons responsible for serious violations of international law would enable this aim to be achieved and would contribute to the restoration and maintenance of peace, […] acting under Chapter VII of the Charter of the UN, . Approves the report of the Secretary-General; . decides hereby to establish an international tribunal for the sole purpose of prosecuting persons responsible for serious violations of international humanitarian law committed in the territory of the former Yugoslavia between  January  and a date to be determined by the Security Council upon the restoration of peace and to this end to adopt the statute of the International Tribunal annexed to the above-mentioned report.

 Vgl. Hobe, Einführung (wie Anm. , Einleitung), ; Ahlbrecht, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), ; Heinsch, Robert: Die Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts durch die Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda. Zur Bedeutung von internationalen Gerichtsentscheidungen als Rechtsquelle des Völkerrechts. Berlin , ; Sundhaussen, Jugoslawien (wie Anm. ), .  UN, SC, Distr. General, S/RES/ (), . Mai , Adopted by the SC at its th meeting on  May , http://www.icty.org/x/file/LegalLibrary/Statute/ statute___en.pdf (letzter Zugriff: ..).

391

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

Mit der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien durch den Weltsicherheitsrat war ein entscheidender Schritt zur Durchsetzung völkerrechtlicher Straftatbestände durch internationale Organe gegangen worden. Die große Bedeutung des ICTY für das völkerrechtliche Strafrecht lässt sich schon allein durch seine Vorbildfunktion für die Gründung eines weiteren Ad-hoc-Tribunals durch den UN-Sicherheitsrat belegen. Analog zum Internationalen Strafgericht zu Ex-Jugoslawien wurde mit der Resolution  vom . November  das Internationale Tribunal für Ruanda (International Criminal Tribunal for the Prosecution of Persons Responsible for Genocide and Other Serious Violations of International Humanitarian Law Committed in the Territory of Rwanda and Rwandan Citizens Responsible for Genocide and Other Such Violations Committed in the Territory of Neighbouring States, between  January  and  December  – ICTR) ins Leben gerufen. Bei der (völker-) rechtlichen Begründung der Errichtung des ICTR konnte man seitens der Vereinten Nationen auf die Vorarbeit zurückgreifen, die für die Schaffung des ICTY geleistet worden war. Insbesondere wurde die Gründung des ICTR in Gestalt eines Ad-hoc-Strafgerichtshofs als Zwangsmaßnahme und »juristische Intervention« zur Wiederherstellung des Weltfriedens nach Kapitel VII Art.  in Verbindung mit Art.  der UN-Charta gerechtfertigt: The Security Council, […] expressing once again its grave concern at the reports indicating that genocide and other systematic, widespread and flagrant violations of international humanitarian law have been committed in Rwanda, determining that this situation continues to constitute a threat to international peace and security, […] acting under Chapter VII of the Charter of the UN, . decides hereby, having received the request of the Government of Rwanda (S//), to establish an international tribunal for the sole purpose of prosecuting persons responsible for genocide and other serious violations of international humanitarian law committed in the territory of Rwanda and Rwandan citizens responsible for genocide and other such violations committed in the territory of neighbouring states, between  January  and  December  and to this end to adopt the Statue of the International Criminal Tribunal for Rwanda annexed hereto. Auf dieselbe rechtliche Grundlage hatte sich, wie schon oben dargestellt, der Weltsicherheitsrat bei der Errichtung des Jugoslawien-Tribunals gestützt. Außerdem wurde das ICTR-Statut – mit Ausnahme der speziell auf den Konflikt in  Herdegen, Völkerrecht (wie Anm. ),  f.  UN, SC, Resolution  (), Distr. General, S/RES/ (), Adopted by the SC at its rd meeting on  November , http://unscr.com/en/resolutions/doc/ (letzter Zugriff: ..).  Ahlbrecht, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), -, ; Stein/von Buttlar, Völkerrecht (wie Anm. , Einleitung), .

392

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

Ruanda bezogenen Bereiche – auf der Grundlage des ICTY-Statuts konzipiert. Dementsprechend war auch eine Reihe von Bestimmungen der beiden Statute inhaltlich nahezu identisch. Darüber hinaus war das ICTR mit dem ICTY institutionell verbunden, da gemäß Art.  Abs.  ICTR-Statut der Ankläger des ICTY auch Ankläger des ICTR sein sollte und gemäß Art.  Abs.  ICTR-Statut sich die beiden Ad-hoc-Tribunale die Berufungskammer zu teilen hätten: Article . Qualification and election of judges. […] . The members of the Appeals Chamber of the International Tribunal for the Prosecution of Persons Responsible for Serious Violations of International Humanitarian Law Committed in the Territory of the Former Yugoslavia since  (hereinafter referred to as the »International Tribunal for the Former Yugoslavia«) shall also serve as the members of the Appeals Chamber of the International Tribunal for Rwanda. […] Article . The Prosecutor. […] . The Prosecutor of the International Tribunal for the Former Yugoslavia shall also serve as the Prosecutor of the International Tribunal for Rwanda. He or she shall have additional staff, including an additional Deputy Prosecutor, to assist with prosecutions before the International Tribunal for Rwanda. Such staff shall be appointed by the Secretary-General on the recommendation of the Prosecutor. Trotz dieser engen Verknüpfung des ICTR mit dem ICTY fand das RuandaTribunal sowohl in der wissenschaftlichen Literatur als auch in der internationalen Öffentlichkeit weit weniger Beachtung als der internationale Strafgerichtshof für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien. Dies ist umso bemerkenswerter, als das ICTR der erste internationale Strafgerichtshof zur Ahndung solcher völkerrechtlicher Straftaten war, die ausschließlich im Rahmen eines nicht-internationalen bewaffneten Konflikts erfolgten, und allein schon deshalb eine hervorragende Stellung bei der Entwicklung des Völkerrechts einnimmt. Außerdem hat das Ruanda-Tribunal Urteile gefällt, die von großem Gewicht sind, wie etwa jenes im Fall Akayesu, mit dem ein wichtiger Beitrag zur Ausweitung des Völkermord-Tatbestands geleistet worden ist. Trotzdem zog das ICTY im Vergleich zum ICTR eine größere Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit auf sich, so wie einst das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal eine »Vorrangstellung« gegenüber dem Prozess in Tokio einnahm, obwohl letzterer dreimal so lange wie das Verfahren vor dem IMT dauerte und einen 

Ahlbrecht, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), ; Hobe, Einführung (wie Anm. , Einleitung), .  Ebd.; Stein/von Buttlar, Völkerrecht (wie Anm. , Kapitel ),  f.  UN, SC, S/RES/ (wie Anm. ).  Hobe, Einführung (wie Anm. , Einleitung),  f.; Ahlbrecht, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), -.  Ebd., .  Hobe, Einführung (wie Anm. , Einleitung),  f.

393

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

weitaus größeren Umfang hatte. Ungeachtet dessen, ob das ICTY mehr internationales Aufsehen als sein »Zwillingsgericht« für Ruanda erregte, sind die beiden, in der ersten Hälfte der er Jahre durch den UN-Sicherheitsrat ins Leben gerufenen Ad-hoc-Tribunale für die spätere Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal Court – ICC) in Den Haag in zweierlei Hinsicht von zentraler Bedeutung. Zum einen bekamen die Durchsetzung völkerrechtlicher Straftatbestände und die internationale Strafjustiz durch die Gründung und Tätigkeit von ICTY and ICTR einen starken Auftrieb. Zum anderen wurden die vorbereitenden Arbeiten zur Schaffung des ICC durch die geleistete Vorarbeit für die Ad-hoc-Tribunale für Jugoslawien und Ruanda nachdrücklich gefördert und beschleunigt. So konnten etwa im Gründungsstatut des ICC vom . Juli  Fehler und Versäumnisse vermieden werden, zu denen es in den Statuten der beiden »Vorläufer« gekommen war. Ein gutes Beispiel dafür ist die Konkretisierung der Definitionen der in Art. - des ICC-Statuts festgelegten Verbrechenstatbestände durch die nachträgliche Verabschiedung von sogenannten Verbrechenselementen (»Elements of Crimes«) gemäß Art.  ICC-Statut. Die Notwendigkeit für eine genauere Definition der in Art. - des ICC-Statuts unter den drei völkerrechtlichen Kernverbrechen (Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Völkermord) aufgezählten Tathandlungen durch Verbrechenselemente resultierte vornehmlich aus der Erkenntnis, dass die völkergewohnheitsrechtliche Geltungsbehauptung der in den Statuten von ICTY und ICTR enthaltenen Strafbestimmungen umstritten war. Außerdem war die Aufnahme des aus dem anglo-amerikanischen Rechtssystem stammenden Instituts der Verbrechenselemente in das ICC-Statut eine Reaktion der USA auf die Rechtsprechung der beiden Ad-hoc-Gerichtshöfe, die aus Wa Ahlbrecht, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), ; David Cohen: Öffentliche Erinnerung und Kriegsverbrecherprozesse in Asien und Europa. In: Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit . . Aufl. Hg. v. Christoph Cornelißen, Lutz Klinkhammer und Wolfgang Schwentker. Frankfurt/M. , -, hier -; Franziska Seraphim: Kriegsverbrecherprozesse in Asien und globale Erinnerungskulturen, in: ebd., -.  Schröder, Meinhard: Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen. In: Vitzthum/Proelß, Völkerrecht (wie Anm. ), -, hier .  Herdegen, Völkerrecht (wie Anm. , Einleitung), ; Hobe, Einführung (wie Anm. , Einleitung), ; Stein/von Buttlar, Völkerrecht (wie Anm. , Kapitel ), ; Heinsch, Die Weiterentwicklung (wie Anm. ), -.  ». Elements of Crimes shall assist the Court in the interpretation and application of articles ,  and . They shall be adopted by a two-thirds majority of the members of the Assembly of States Parties. . Amendments to the Elements of Crimes may be proposed by: (a) Any State Party; (b) The judges acting by an absolute majority; (c) The Prosecutor. Such amendments shall be adopted by a two-thirds majority of the members of the Assembly of States Parties. . The Elements of Crimes and amendments thereto shall be consistent with this Statute.« ICC-Statut (wie Anm. , Kap. ).

394

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

shingtoner Sicht über das gewünschte Maß der richterlichen Auslegungsfreiheit hinausging. Vor allem der Fall Tadić hatte in dieser Hinsicht für viele Irritationen gesorgt. Aus US-amerikanischer Sicht sollte den Richtern des ICC im Vergleich zu ihren Kollegen vom ICTY durch die Konkretisierung der Verbrechenstatbestände des ICC-Statuts nur noch ein eingeschränkter Auslegungsspielraum zugestanden werden, was wiederum ihre Rechtsprechung berechenbarer machen würde. Hierzu wurden  seitens der Vertragsstaaten die besagten Verbrechenselemente verabschiedet, bei deren Ausarbeitung die dafür zuständige Vorbereitungskommission (Preparatory Commission for the ICC) interessanterweise auch jene »progressiven« ICTY- und ICTR-Urteilssprüche herangezogen hatte, die den Anlass zum US-amerikanischen Vorstoß geboten hatten. Vorrangige Zuständigkeit der internationalen Gerichtsbarkeit

Wie in Kapitel  ausführlich dargestellt, war die Einrichtung einer internationalen Gerichtsbarkeit komplementär zur nationalen Jurisdiktion ein langwieriger Prozess, der sich bis ins späte . Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Das ICTYStatut mit seiner Vorbildfunktion bei der Ausarbeitung der darauffolgenden ICTR- und ICC-Statuten markiert einen Meilenstein in dieser Entwicklung. Abgesehen von den Prozessen der Siegermächte gegen deutsche und japanische Kriegsverbrecher unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs war bis zur Einberufung des Jugoslawien-Tribunals die strafrechtliche Aufarbeitung von Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht (Kriegsvölkerrecht) primär oder gar ausschließlich Gegenstand der nationalen Gerichtsbarkeit gewesen. Erst mit dem ICTY wurden Verletzungen des Kriegsvölkerrechts in zwischen- wie auch innerstaatlichen Konflikten zum Gegenstand universeller Strafverfolgung. Das ICTY-Statut ging selbst soweit, dass es der internationalen Gerichtsbarkeit eine vorherrschende Rolle (statt einer lediglich komplementären Funktion) einräumte. Insbesondere Art.  Abs.  ICTY-Statut bestimmte, dass »der internationale Gerichtshof gegenüber nationalen Gerichten Vorrang hat« und dass er »in jedem Stadium des Verfahrens die einzelstaatlichen Gerichte förmlich ersuchen kann, ihre Zuständigkeit in einem Verfahren im Einklang mit diesem Statut sowie mit der Verfahrensordnung und den Beweisregeln des Gerichtshofs an das

 Hobe, Einführung (wie Anm. , Einleitung), ; Ahlbrecht, Geschichte,  (wie Anm. , Einleitung); Heinsch, Die Weiterentwicklung (wie Anm. ), -. Ausführlicher dazu Knut Dörmann: Elements of War Crimes under the Rome Statute of the International Criminal Court. Sources and Commentary, Cambridge [u. a.] ; Arnd Koch: Über den Wert der Verbrechenselemente (»Elements of Crimes«) gem. Art.  IStGH-Statut. In: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik  () , -.  Vgl. z. B. Hobe, Einführung (wie Anm. , Einleitung), .

395

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

ICTY abzutreten«. Bekräftigt wurde die Vorrangigkeit der ICTY-Gerichtsbarkeit durch Art.  Abs.  ICTY-Statut, der dem Jugoslawien-Tribunal in be-

sonderen Fällen die Möglichkeit einräumte, den vor einem nationalstaatlichen Gericht abgehaltenen Prozess gegen einen möglichen Kriegsverbrecher neu aufzurollen. Auch im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda wurde der internationalen Jurisdiktion gegenüber nationalen Gerichten der Vorrang nach ICTY-Vorbild gegeben. Art.  zur »konkurrierenden Zuständigkeit« war mit Art.  des knapp anderthalb Jahre vorangegangenen ICTY-Statuts identisch:

. The International Tribunal for Rwanda and national courts shall have concurrent jurisdiction to prosecute persons for serious violations of international humanitarian law committed in the territory of Rwanda and Rwandan citizens for such violations committed in the territory of the neighbouring States, between  January  and  December . . The International Tribunal for Rwanda shall have the primacy over the national courts of all States. At any stage of the procedure, the International Tribunal for Rwanda may formally request national courts to defer to its competence in accordance with the present Statute and the Rules of Procedure and Evidence of the International Tribunal for Rwanda. Trotz dieser in den Statuten von ICTY und ICTR vorhandenen Bestimmungen zur konkurrierenden Gerichtsbarkeit zwischen nationaler und internationaler  »Article . Concurrent jurisdiction. . The International Tribunal and national courts shall have concurrent jurisdiction to prosecute persons for serious violations of international humanitarian law committed in the territory of the former Yugoslavia since  January . . The International Tribunal shall have primacy over national courts. At any stage of the procedure, the International Tribunal may formally request national courts to defer to the competence of the International Tribunal in accordance with the present Statute and the Rules of Procedure and Evidence of the International Tribunal.« UN, SC, S./, . Mai , Report of the Secretary-General Pursuant to Paragraph  of SC Resolution  (). Annex: Statute of the International Court. In: ICTY. Documents. Statute of the Tribunal [im Folgenden: ICTY-Statut], http:// www.icty.org/x/file/LegalLibrary/Statute/statute_re__en.pdf (letzter Zugriff: ..).  »Article . Non-bis-in-idem. . No person shall be tried before a national court for acts constituting serious violations of international humanitarian law under the present Statute, for which he or she has already been tried by the International Tribunal. . A person who has been tried by a national court for acts constituting serious violations of international humanitarian law may be subsequently tried by the International Tribunal only if: (a) the act for which he or she was tried was characterized as an ordinary crime; or (b) the national court proceedings were not impartial or independent, were designed to shield the accused from international criminal responsibility, or the case was not diligently prosecuted.« Ebd.  Statute of the ICTR [im Folgenden: ICTR-Statut]. In: Office for Legal Affairs (OLA), http://legal.un.org/avl/pdf/ha/ictr_EF.pdf (letzter Zugriff: ..).

396

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

Strafverfolgung und zum Vorrang der internationalen Jurisdiktion wurde in mehreren Verfahren von Seiten der Verteidigung der Einspruch erhoben, dass die Zuständigkeit der beiden Ad-hoc-Tribunale gegenüber nationalen Strafverfahren lediglich subsidiär sei und gegenüber einer effektiven Strafverfolgung durch einen hierfür zuständigen Staat zurücktreten müsse. Diese Position vertraten beispielsweise die Rechtsanwälte des wegen Kriegsverbrechen angeklagten und  verurteilten bosnisch-serbischen Politikers Duško Tadić, die sowohl im erstinstanzlichen Verfahren als auch im Appellationsverfahren die Rechtmäßigkeit der Einsetzung des ICTY sowie dessen Kompetenz infrage stellten. Hierbei brachten sie insbesondere drei Argumente vor: a) dass gegen ihren Mandaten bereits in Deutschland ein Ermittlungsverfahren laufe; b) dass der Staat Bosnien-Herzegowina, auf dessen Territorium die ihm vorgeworfenen Kriegsverbrechen begangen wurden, für die Strafverfolgung dieser Taten vorrangig verantwortlich sei; und c) dass durch die Einleitung des ICTY-Verfahrens gegen ihn die Souveränität dieses Staates verletzt worden sei. Während sich die Verhandlungs- bzw. Strafkammer (erste Instanz) zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Einsetzung des Jugoslawien-Tribunals durch den Sicherheitsrat für nicht zuständig erklärte, befasste sich die Appellationskammer mit dieser Frage sowie mit jener der Zuständigkeit des ICTY für das Verfahren gegen Tadić eingehend. Bei der Zurückweisung der vom Angeklagten eingelegten Berufung gegen die  Bienk-Koolman, Sabine: Die Befugnis des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zur Einsetzung von ad hoc-Strafgerichtshöfen. Zur Rechtmäßigkeit der Einsetzung des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien sowie zum nachfolgenden Wandel in Praxis und Rechtsauffassung. Berlin , ; Fuhrmann, Der Beitrag (wie Anm. , Kap. ),  f.  Das Gericht hat die Eckpunkte der Argumentation von Tadić wie folgt zusammengefasst: »The second ground of appeal attacks the primacy of the International Tribunal over national courts. […] ›The defence submits that the Trial Chamber should have denied it’s [sic] competence to exercise primary jurisdiction while the accused was at trial in the Federal Republic of Germany and the German judicial authorities were adequately meeting their obligations under international law.‹ (Defence Appeal Brief, at para. ..) […] Appellant argued in first instance that ›from the moment BosniaHerzegovina was recognised as an independent state, it had the competence to establish jurisdiction to try crimes that have been committed on its territory.‹ (Defence Trial Brief, at para. ). Appellant added that ›as a matter of fact the state of BosniaHerzegovina does exercise its jurisdiction, not only in matters of ordinary criminal law, but also in matters of alleged violations of crimes against humanity, as for example is the case with the prosecution of Mr Karadzic et al.‹ (Id. at para. ..) […] Appellant argues that he has a right to be tried by his national courts under his national laws.« Decision on the Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, Prosecutor v. Dusko Tadic [Duško Tadić] a/k/a »Dule«, Decision of  Octobre , para. ,  [im Folgenden: ICTY, Fall Tadić, Berufungskammer]. In: UN. ICTY. Cases. Tadić (IT--): http://www.icty.org/x/cases/tadic/acdec/en/.htm (letzter Zugriff: ..).  Birkhäuser, Noah: Sanktionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen gegen Individuen. Bern [u. a.] ,  f.

397

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

Jurisdiktionsgewalt des Tribunals wurde eine Argumentation verwendet, die für die Durchsetzung der internationalen Gerichtsbarkeit von großer Bedeutung war. Insbesondere hielten die Richter den Einsprüchen von Tadić mangels Zuständigkeit des ICTY entgegen, dass a) die Fragen der Verletzung der Souveränität eines Staates und des Vorrangs der Gerichtsbarkeit der nationalen Gerichte ausschließlich vom betroffenen Staat selbst gestellt werden könnten; b) dass das strikte Interventionsverbot in die inneren Angelegenheiten eines Staates bei Vorliegen der in Kapitel VII UN-Charta genannten Umstände aufgehoben werden könne bzw. müsse; und schließlich c) dass das unbestrittene Recht eines Angeklagten, dass ein nationales Gericht über seinen Fall urteilt, kein »exklusives« Recht sei, das ihn vor einer späteren Strafverfolgung durch einen internationalen Gerichtshof bewahren würde: In Appellant’s view, no State can assume jurisdiction to prosecute crimes committed on the territory of another State, barring a universal interest »justified by a treaty or customary international law or an opinio juris on the issue«. (Defence Trial Brief, at para. ..) Based on this proposition, Appellant argues that the same requirements should underpin the establishment of an international tribunal destined to invade an area essentially within the domestic jurisdiction of States. In the present instance, the principle of State sovereignty would have been violated. The Trial Chamber has rejected this plea, holding among other reasons: »In any event, the accused not being a State lacks the locus standi to raise the issue of primacy, which involves a plea that the sovereignty of a State has been violated, a plea only a sovereign State may raise or waive and a right clearly the accused cannot take over from the State.« (Decision at Trial, para. .) […] Appellant can call in aid Article , paragraph , of the UN Charter: »Nothing contained in the present Charter shall authorize the UN to intervene in matters which are essentially within the domestic jurisdiction of any State […].« However, one should not forget the commanding restriction at the end of the same paragraph: »but this principle shall not prejudice the application of enforcement measures under Chapter VII.« (UN Charter, art. , para. .) Those are precisely the provisions under which the International Tribunal has been established. Even without these provisions, matters can be taken out of the jurisdiction of a State. In the present case, the Republic of Bosnia and Herzegovina not only has not contested the jurisdiction of the International Tribunal but has actually approved, and collaborated with, the International Tribunal […]. Appellant argues that he has a right to be tried by his national courts under his national laws. No one has questioned that right of Appellant. The problem is elsewhere: is that right exclusive? Does it prevent Appellant from being tried – and having an equally fair trial (see Statute of the International Tribunal, art. ) – before an international tribunal? Appellant contends that such an exclusive right has received universal acceptance: yet one cannot find it expressed either in the Universal 398

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

ration of Human Rights or in the International Covenant on Civil and Political Rights, unless one is prepared to stretch to breaking point the interpretation of their provisions. […] For these reasons the Appeals Chamber concludes that Appellant’s second ground of appeal, contesting the primacy of the International Tribunal, is ill-founded and must be dismissed. Die Statuten und die Judikatur der Ad-hoc-Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda waren in den Fragen der Rechtsprechungszuständigkeit und der Einschränkung der staatlichen Strafgewalt zugunsten einer internationalen Gerichtsbarkeit sehr fortschrittlich bzw. völkerrechtsfreundlich ausgelegt. Wie in Kapitel  schon ausgeführt, haben sich die Verfasser des ICC-Statuts von diesem Modell der konkurrierenden Zuständigkeit teils abgewandt, indem sie das Komplementaritätsprinzip beibehielten, aber – im Gegensatz zu den Statuten von ICTY und ICTR – den Vorrang nicht dem ICC, sondern der nationalen Gerichtsbarkeit einräumten. Gemäß dem zur Regelung des Verhältnisses der Strafgewalt zwischen ICC und nationaler Gerichtsbarkeit geltenden Grundsatz der Komplementarität, wie dieser in Abs.  der Präambel und Art.  ICC-Statut festgeschrieben wurde, ist die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs streng subsidiär, sodass der ICC selbst bei den schwersten Verletzungen des humanitären Völkerrechts nicht tätig werden kann, wenn sich die nationale Gerichtsbarkeit bereits des Falles angenommen hat und die Strafverfolgung durch die staatlichen Behörden sorgsam betrieben wurde. In der Frage des Verhältnisses der Verfolgungs- und Rechtsprechungskompetenz des ICC zur staatlichen Gerichtsbarkeit haben sich vor allem die USA mit ihrer Position durchgesetzt, die der Gründung eines ständigen internationalen Strafgerichtshofs ohnehin sehr skeptisch gegenüberstanden und demzufolge für die nachrangige Zuständigkeit des Haager Gerichts gegenüber nationalen Gerichten eintraten. Bezeichnend dafür ist die Aussage des Senators John Ashcroft bei einer Senatsanhörung zum Thema »Is a U.N. Criminal Court in the US National Interest?«: »Wenn es eine entscheidende Komponente der Souveränität gibt, dann ist es die, Verbrechen und deren Bestrafung zu definieren. Der ICC trifft die Souveränität mitten in das Herz. Er nimmt diese fundamentalen Rechte den Staaten und übergibt sie internationalen Bürokraten.« Die USA haben bis heute das ICC-Statut nicht ratifiziert und schlossen darüber hinaus eine Reihe bilateraler Nichtauslieferungsabkommen mit anderen Staaten ab, um zu verhindern, dass die eines völkerrechtlichen Verbrechens bezichtigten US-amerikanischen Soldaten einer internationalen Strafgerichtsbarkeit ausgesetzt werden.  ICTY, Fall Tadić, Berufungskammer (wie Anm. ), para. , , .  Schröder, Verantwortlichkeit (wie Anm. ),  f.  Wahl, Susen: Osteuropa und die Zusammenarbeit mit Internationalen Strafgerichtshöfen. Ausgewählte Länder. Berlin , .  Zit. n. ebd.  Hobe, Einführung (wie Anm. , Einleitung), .

399

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

Im Gegensatz zur Frage des Verhältnisses der Strafgewalt des ICC zur nationalen Strafgerichtsbarkeit, in der sich der »progressive« ICTY-Ansatz gegen die Interessen mächtiger Staaten nicht durchsetzen konnte, hatten in anderen Bereichen die Auswirkungen der Rechtsprechung des Ad-hoc-Tribunals für Jugoslawien auf das ICC-Statut im Besonderen und das Völkerrecht im Allgemeinen einen ausgeprägten und nachhaltigen Charakter. Robert Heinsch, der sich in seiner Kölner Dissertation mit der Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts durch die Rechtsprechung von ICTY und ICTR eingehend befasste, gelangte zum Ergebnis, dass »das Völkerstrafrecht in den ersten zehn Jahren nach Einsetzung der Ad-hoc-Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda in beträchtlichem Maße durch die Jurisprudenz dieser beiden Gerichtshöfe vorangetrieben wurde« und dass die Rechtsprechung der beiden UNTribunale »sich sowohl im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs als auch in nationaler Gesetzgebung deutlich niedergeschlagen hat«. Eine allumfassende Besprechung des Einflusses der Rechtsprechung des ICTY auf das Völkerrecht würde den Rahmen dieser primär kulturhistorisch angelegten Arbeit eindeutig sprengen. Stattdessen soll im Anschluss anhand dreier Beispiele, welche a) die Weiterentwicklung des völkerrechtlichen Straftatbestands der sexuellen Gewalt, b) die Begriffsbestimmung von bewaffneten Konflikten und c) die Angleichung der Verbrechenstatbestände bei internationalen und nichtinternationalen bewaffneten Konflikten betreffen, die Prägung des völkerrechtlichen Rechtsetzungsprozesses durch das Jugoslawien-Tribunal exemplifiziert werden. Sexuelle Gewalt

An wohl kaum einem anderen Beispiel ist die prägende Rolle des ethnonationalen Konflikts im ehemaligen Jugoslawien und des ICTY bei der Weiterentwicklung völkerrechtlicher Regelungen und Normen so apodiktisch zu belegen wie im Fall der Anerkennung sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten als Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord. Systematische Massenvergewaltigungen und andere Formen sexueller Gewalt waren fester Bestandteil der ethnischen Säuberungspolitik serbischer Nationalisten in Bosnien-Herzegowina. Eine anonyme Zagreber Beobachterin der jugoslawischen Zerfallskriege kommentierte den Einsatz der Vergewaltigung als zentrales Instrument der serbischen Kriegsführung wie folgt: »Mit Vergewaltigungen spart man Bomben. Mit Vergewaltigungen erreicht man die ethnische Säuberung wirksamer, mit weniger Kosten. Vergewaltigung ist eine Ökonomie des Krieges.« Laut Schätzungen sind im bosnischen Krieg zwischen . und  Heinsch, Die Weiterentwicklung (wie Anm. ), .  Zit. n. Münkler, Die neuen Kriege (wie Anm. ), .

400

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

. Frauen Opfer sexueller Gewalttaten geworden. Die Reportagen westlicher Journalisten über die Existenz von Vergewaltigungslagern, in denen muslimische Frauen monatelang sexuell misshandelt wurden, schockierten die internationale Öffentlichkeit zutiefst. In der ersten Hälfte der er Jahre standen die sexuellen Gewalttaten ganz oben auf der (welt-)öffentlichen Themen-Agenda. Sven-U. Burkhardt, der sich in seiner Dissertation mit der rechtsdogmatischen Entwicklung des Tatbestands der Vergewaltigung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschäftigt hat, schreibt zur Sonderstellung des Themas der sexuellen Gewaltverbrechen in der Berichterstattung über die postjugoslawischen Kriege Folgendes: »Betrachtet man die Diskussionen um den Krieg im ehemaligen Jugoslawien, so scheint dieser Krieg mit den Berichten über Massenvergewaltigungen ähnlich stark verknüpft zu sein wie der Nationalsozialismus mit dem Holocaust.« Der internationale Aufschrei über die massenhaften und systematisch durchgeführten Vergewaltigungen vorwiegend muslimischer Frauen durch serbisch-bosnische Paramilitärs im Rahmen ihrer ethnischen Säuberungspolitik war dermaßen groß, dass sich die Forderung nach einer im Völkerstrafrecht deutlich verankerten Ahndung der Vergewaltigung im bewaffneten Konflikt gegenüber langanhaltenden Vorbehalten und ablehnenden Meinungen durchsetzen konnte. Theodor Meron, der US-amerikanische Völkerrechtler jüdisch-polnischer Abstammung, der in den Jahren - und - als ICTY-Präsident diente, war einer der einflussreichsten Akteure, der schon  anlässlich der Massenvergewaltigungen im Bosnien-Krieg für einen dringenden Kurswechsel in der Frage der internationalen Strafverfolgung von sexuellen Kriegsverbrechen plädierte: »It is time for a change. Indeed, under the weight of the events in former Yugoslavia, the hesitation to recognize that rape can be a war crime or a grave breach has already begun to dissipate.« Um den Grad des Einflusses der postjugoslawischen Kriege auf die Fortentwicklung des humanitären Völkerrechts und des Völkerstrafrechts hinsichtlich des Tatbestands der Kriegsvergewaltigung adäquat einschätzen zu können, muss zunächst das Regelsystem der internationalen Ächtung von Vergewaltigungen, das seit Ende des Zweiten Weltkriegs und bis zur Gründung des JugoslawienTribunals existierte, in Betracht gezogen werden. Im Statut des Internationalen Militärtribunals von Nürnberg (International Military Tribunal – IMT) fand die Vergewaltigung als Straftatbestand trotz der von deutschen und sowjetischen  Anne-Marie de Brouwer: Supranational Criminal Prosecution of Sexual Violence. The ICC and the Practice of the ICTY and ICTR, Antwerpen , .  Sieber Egger, Anja: Krieg im Frieden: Frauen in Bosnien-Herzegowina und ihr Umgang mit der Vergangenheit. Bielefeld , .  Calic, Krieg und Frieden (wie Anm. ), , .  Burkhardt, Sven-U.: Vergewaltigung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sexualisierte Gewalt, Makrokriminalität und Völkerstrafrecht, Münster , .  Meron, Theodor: Rape as Crime under International Humanitarian Law. In: The American Journal of International Law  () , -, hier .

401

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

Soldaten während des Krieges massenhaft begangenen Sexualverbrechen keine Berücksichtigung. Auch im Statut des International Military Tribunal for the Far East (IMTFE) kam der Tatbestand der Vergewaltigung nicht vor. Nichtsdestoweniger wurden in den Tokioter Gerichtsverfahren neben anderen Kriegsverbrechen auch Vergewaltigungen angeklagt und verurteilt. Entscheidend dafür war, dass in der Anklageschrift der Tatbestand der Vergewaltigung unter den gravierenden Verletzungen des Völkerrechts mehrmals angeführt worden war. Das Tokioter Tribunal befand eine Reihe hochrangiger Offiziere und ziviler Beamter wegen Kriegsverbrechen für schuldig, insbesondere weil sie ihrer Pflicht nicht nachgegangen waren, sicherzustellen, dass ihre Unterstellten die Regeln des humanitären Völkerrechts befolgten. Im Urteilsspruch des Gerichtshofs fand eine indirekte Anerkennung des Tatbestands der Vergewaltigung als Kriegsverbrechen statt, indem es unter Kapitel VIII »Conventional War Crimes (Atrocities)« hieß: The evidence relating to atrocities and other Conventional War Crimes presented before the Tribunal establishes that from the opening of the war in China until the surrender of Japan in August  torture, murder, rape and other cruelties of the most inhumane and barbarous character were freely practiced by the Japanese Army and Navy. During a period of several months  Ebd.  Burkhardt, Vergewaltigung (wie Anm. ), . Vgl. insbesondere Art.  des Statuts (Jurisdiction and General Provisions), das die Verbrechen aufführt, die unter den rechtlichen Zuständigkeitsbereich des Gerichts fielen. Charter of the IMTFE. In: Documents on the Tokyo International Military Tribunal. Charter, Indictment and Judgments. Hg. v. Neil Boister und Robert Cryer. New York [u. a.] , -, hier .  »Section One. Inhumane treatment, contrary in each case to Article  of the said Annex to the said Hague Convention and the whole of the said Geneva Convention and to the said assurances. In addition to the inhumane treatment […] prisoners of war and civilian internees were murdered beaten, tortured and otherwise ill-treated, and female prisoners were raped by members of the Japanese forces. […] Section Five. Mistreatment of the sick and wounded, medical personnel and female nurses, contrary to Articles , ,  and  of the said Geneva Convention and Articles , ,  and  of the said Red Cross Convention, and to the said assurances: (a) Officers and soldiers who were wounded or sick, medical personnel, chaplains, and personnel of voluntary aid Societies were not respected or protected, but were murdered, ill-treated and neglected; (b) medical personnel, chaplains and personnel of voluntary aid Societies were wrongfully retained in Japanese hands; (c) female nurses were raped, murdered and ill-treated; […] Section Twelve: Failure to respect family honour and rights, individual life, private property and religious convictions and worship in occupied territories, and deportation and enslavement of the inhabitants thereof, contrary to Article  of the said Annex to the said Hague Convention and to the Laws and Customs of War: Large numbers of the inhabitants of such territories were murdered, tortured, raped and otherwise ill-treated, arrested and interned without justification, sent to forced labour, and their property destroyed or confiscated.« IMTFE, Indictment. In: ebd., -, hier  f.,  [Hervorheb. d. Verf.].

402

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

the Tribunal heard evidence, orally or by affidavit, from witnesses who testified in detail to atrocities committed in all theaters of war on a scale so vast, yet following so common a pattern in all theaters, that only one conclusion is possible – the atrocities were either secretly ordered or wilfully permitted by the Japanese Government or individual members thereof and by the leaders of the armed forces. Im Gegensatz zu den beiden oben genannten Statuten von IMT und IMTFE nahm das Kontrollratsgesetz Nummer  (Control Council Law No. ) den Tatbestand der Vergewaltigung in die Liste der Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf. Dieses war am . Dezember  von den Alliierten erlassen worden, »um die internationale Zuständigkeit für die Nachfolgeprozesse der Nürnberger Prozesse, die von Militärgerichten unter der Leitung der einzelnen Besatzungsmächte durchgeführt wurden«, zu begründen. Dadurch sollte eine für alle vier Besatzungszonen gemeinsame gesetzliche Grundlage zur strafrechtlichen Verfolgung von Kriegsverbrechen, die während der NS-Zeit begangen wurden, sowie »anderen ähnlichen Rechtsverletzungen« geschaffen werden. In Art.  Abs.  »wurde die Vergewaltigung zum ersten Mal ausdrücklich als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet«: Article II. . Each of the following acts is recognized as a crime: […] (c) Crimes against Humanity. Atrocities and offenses, including but not limited to murder, extermination, enslavement, deportation, imprisonment, torture, rape, or other inhumane acts committed against any civilian population, or persecutions on political, racial or religious grounds whether or not in violation of the domestic laws of the country where perpetrated. Diesem durch Art.  Abs.  geschaffenen Präzedenzfall wurde allerdings weder in dem IV. Genfer Abkommen zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom . August  noch in den beiden Zusatzprotokollen über den Schutz der Opfer internationaler und nicht-internationaler bewaffneter Konflikte vom . Juni  Rechnung getragen. Zwar wurde in diesen für das moderne humani IMTFE, Judgment of  November . In: ebd., -, hier . Siehe auch Brook, Timothy: The Tokyo Judgment and the Rape of Nanking. In: The Journal of Asian Studies  () , - [Hervorheb. d. Verf.]; Sedgwick, Burnham James: Memory on Trial: Constructing and Contesting the »Rape of Nanking« at the International Military Tribunal for the Far East, -. In: Modern Asian Studies  () , -.  Ahlbrecht, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), .  Ebd.  Adams, Alexandra: Der Tatbestand der Vergewaltigung im Völkerstrafrecht. Berlin , .  Control Council Law No. . In: Yale Law School. Lillian Goldman Law Library/The Avalon Project/Documents in Law, History and Diplomacy, http://avalon.law.yale. edu/imt/imt.asp (letzter Zugriff: ..) [Hervorheb. d. Verf.].

403

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

täre Völkerrecht konstitutiven Verträgen die Vergewaltigung explizit verboten und die Ehre von Frauen unter besonderen Schutz gestellt, dennoch wurde dieser Tatbestand nicht in den unter Art.  angeführten Katalog von schweren Verletzungen des Kriegsvölkerrechts und daher ahndungswürdigen Kriegsverbrechen aufgenommen. Das erschwerte in den kommenden Jahrzehnten die strafrechtliche Verfolgung von sexueller Gewalt gegen Frauen erheblich. Bis zum Ausbruch der postjugoslawischen Kriege fanden keine weiteren nennenswerten Entwicklungen im Bereich der Weiterentwicklung des Vergewaltigungsstraftatbestands statt. Eine Verstärkung der völkerstrafrechtlichen Anerkennung von sexueller Gewalt blieb aus. Politiker, Richter und Staatsanwälte, aber auch Journalisten und Wissenschaftler betrachteten Sexualverbrechen in bewaffneten Konflikten als ein im Vergleich zu anderen Kriegsverbrechen unwichtiges und oftmals unvermeidbares »Nebenprodukt« des Krieges. Die Aufmerksamkeit, die sie demzufolge dem Phänomen des Einsatzes von sexueller

 »IV. Genfer Abkommen vom . August  zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten. […] Teil III. Rechtsstellung und Behandlung der geschützten Personen. Abschnitt I. Gemeinsame Bestimmungen für die Gebiete der am Konflikt beteiligten Parteien und die besetzten Gebiete. Art.  [Allgemeiner Schutz] […] Die Frauen werden besonders vor jedem Angriff und namentlich vor Vergewaltigung, Nötigung zur gewerbsmäßigen Unzucht und jeder unzüchtigen Handlung geschützt.« In: Tomuschat, Völkerrecht, -, hier . »Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom . August  über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I). […] Kapitel II. Maßnahmen zugunsten von Frauen und Kindern. Art. . Schutz von Frauen. () Frauen werden besonders geschont; sie werden namentlich vor Vergewaltigung, Nötigung zur Prostitution und jeder anderen unzüchtigen Handlung geschützt.«. In: ebd., -, hier .  Meron, Rape (wie Anm. ), ; Adams, Der Tatbestand (wie Anm. ), -.  Lucas, Daphne: Die Weiterentwicklung des Schutzes vor sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten durch die internationale Gerichtsbarkeit. In: Gunda Werner Institut der Heinrich Böll Stiftung, .., http://www.gwi-boell.de/de//// die-weiterentwicklung-des-schutzes-vor-sexueller-gewalt-bewaffneten-konfliktendurch-die (letzter Zugriff: ..). Judith G. Gardam schreibt über die unzureichende Absicherung der strafrechtlichen Verfolgung der Vergewaltigungstat durch Art.  Abs.  des IV. Genfer Abkommens vom . August  Folgendes: »Although this articles constitutes a long overdue recognition that rape is unacceptable in times of armed conflict, the extent and gravity of the practice are not acknowledged since the provision falls outside the system of grave breaches of international humanitarian law (under this system States are obliged to seek out and punish persons responsible for failing to observe certain designated provisions of the Conventions). Article  () has also been criticized on the grounds that, like many of the provisions relating to women, it categorizes rape as an attack on the victim’s honour and thus does not reflect the seriousness of the offence of sexual violence.« Judith G. Gardam: Women, human rights and international humanitarian law, International Review of the Red Cross, No. , ... In: ICRC. Resource Centre, https://www.icrc.org/eng/ resources/documents/article/other/jpg.htm (letzter Zugriff: ..).

404

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

Gewalt als Waffe und Kriegsstrategie widmeten, war entsprechend gering. Erst die zahlreichen Medienbeiträge zu den Massenvergewaltigungen in den Kriegen in Bosnien-Herzegowina und in Ruanda sowie deren juristische Aufarbeitung im Rahmen der beiden Ad-hoc-Tribunale für Ex-Jugoslawien und Ruanda rückten die Massivität sexueller Misshandlungen und deren langfristige, verheerende Folgen für die Opfer ins Bewusstsein der Weltgemeinschaft. Im Folgenden soll nun der Beitrag des ICTY zur Weiterentwicklung der völkerrechtlichen Straf barkeit der Vergewaltigung und anderer Sexualverbrechen im Krieg (sexuelle Sklaverei, Nötigung zur Prostitution, erzwungene Schwangerschaft, Zwangssterilisation) untersucht werden. Der prägende Einfluss des Gerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien auf die völkerrechtliche Normsetzung im Bereich der sexuellen Gewalt erfolgte entweder direkt über das Statut oder erst mittelbar über seine Rechtsprechung, die ihren Niederschlag im Völkerstrafrecht und im humanitären Völkerrecht fand. Das im Mai  in Kraft getretene ICTY-Statut war nicht nur aufgrund innovativer Bestimmungen, sondern auch wegen seiner »Versäumnisse« und »Lücken« von allergrößter Bedeutung für die Weiterentwicklung völkerrechtlicher Grundsätze zur internationalen Strafverfolgung sexueller Gewalttaten in bewaffneten Konflikten. An erster Stelle ist hier Art.  Buchst. g ICTY-Statut zu nennen, bei dessen Formulierung dem Beispiel des oben genannten Kontrollratsgesetzes von  gefolgt und die Vergewaltigung als Tatbestandsmerkmal des Verbrechens gegen die Menschlichkeit explizit definiert wurde: Article.  Crimes against humanity. The International Tribunal shall have the power to prosecute persons responsible for the following crimes when committed in armed conflict, whether international or internal in character, and directed against any civilian population: a. murder; b. extermination; c. enslavement; d. deportation; e. imprisonment; f. torture; g. rape; h. persecutions on political, racial and religious grounds; i. other inhumane acts. Dem besagten Meron zufolge sei die Einbeziehung des Vergewaltigungstatbestands in Art.  ICTY-Statut eine bahnbrechende Entwicklung gewesen, deren große ethische und rechtliche Bedeutung nicht überbewertet werden könne: »Both morally and legally, the importance of this provision cannot be overstated.« Trotzdem drohte der völkerstrafrechtlichen Verfolgung von Vergewaltigungen ausschließlich auf der Grundlage dieser Bestimmung die Gefahr zahlreicher Komplikationen, zumal sich die Angeklagten auf den Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege berufen konnten. Zudem musste für die Anerkennung einer Vergewaltigung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit die  Adams, Der Tatbestand (wie Anm. ), .  ICTY-Statut (wie Anm. ).  Theodor Meron: War Crimes in Yugoslavia and the Development of International Law. In: The American Journal of International Law  () , -, hier .

405

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

Rahmenvoraussetzung eines systematischen und/oder massenhaften Angriffs gegen die Zivilbevölkerung vorliegen. Darüber hinaus fehlte dem ICTY-Statut eine deutlich formulierte Regelung zur Anerkennung der Tathandlung der Vergewaltigung in bewaffneten Konflikten als (a) schwerwiegende Verletzung des humanitären Völkerrechts, (b) Kriegsverbrechen und (c) Völkermord. Diese »Schwächen« des ICTY-Status entfachten eine Kontroverse unter Völkerrechtlern darüber, ob die Vergewaltigung im bewaffneten Konflikt ein im Völkerstrafrecht verankertes Kriegsverbrechen darstelle und, falls ja, ob dieser Tatbestand allein unter Rückgriff auf das ICTY-Statut strafrechtlich verfolgt werden könne. Es waren vor allem engagierte Frauenrechtlerinnen, die den Standpunkt vertraten, es sei seit  geltendes Völkerrecht, dass Vergewaltigungen im Rahmen bewaffneter Konflikte Kriegsverbrechen seien. Diese rechtliche Einschätzung gründete allerdings auf einer nicht unumstrittenen Auslegung mehrerer Bestimmungen der Genfer Abkommen von , insbesondere des IV. Genfer Abkommens zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom . August , sowie der beiden Zusatzprotokolle von . Wie bereits weiter oben erwähnt, beinhalteten diese Abkommen tatsächlich ein Vergewaltigungsverbot. Allerdings wurde die Vergewaltigung weder als Tathandlung unter den schwerwiegenden Verletzungen des humanitären Völkerrechts angeführt noch zu einem Kriegsverbrechen explizit erhoben. Die am ICTY-Statut geübte Kritik vor allem wegen der in Art.  und Art.  fehlenden Anführung des Tatbestands der Vergewaltigung als Kriegsverbrechen bewirkte, dass in den nachfolgenden Statuten von ICTR und ICC entsprechende Verbesserungen auf diesem Gebiet vorgenommen wurden. Insbesondere wurde im  verabschiedeten Statut des Ruanda-Tribunals die Vergewaltigung im bewaffneten Konflikt nicht nur als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestätigt (Art.  Buchst. g), sondern auch als ein schwerer Verstoß gegen den gemein-

 Burkhardt, Vergewaltigung (wie Anm. ), ; Greve, Kathrin: Vergewaltigung als Völkermord. Aufklärung sexueller Gewalt gegen Frauen vor internationalen Strafgerichten. Baden-Baden , .  Vgl. ICTY-Statut (wie Anm. ).  Askin Dawn, Kelly: War Crimes against Women. Prosecution in International War Crimes. Den Haag , xiii–xiv.  Vgl. z. B. Wullweber, Helga: Vergewaltigung als Waffe und das Kriegsvölkerrecht. In: Kritische Justiz  () , -; dies.: Kriegsverbrechen Vergewaltigung. Beispiel: Bosnien-Herzegowina. In: Wissenschaft und Frieden  (), http://www.wissenschaft-und-frieden.de/seite.php?artikelID= (letzter Zugriff: ..); Kohn, Elizabeth A.: Rape as Weapon for War: Women’s Human Rights during the Dissolution of Yugoslavia. In: Golden Gate University Law Review  () , -; Askin Dawn, Kelly: Prosecuting Wartime Rape and Other Gender-Related Crimes under International Law: Extraordinary Advances, Enduring Obstacles. In: Berkeley Journal of International Law  () , -.  Meron, Rape (wie Anm. ), ; Adams, Der Tatbestand (wie Anm. ), -.

406

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

samen Art.  der Genfer Abkommen vom . August  und gegen deren Zusatzprotokoll II vom . Juni  explizit anerkannt (Art.  Buchst. e): Article  Crimes against humanity. The International Tribunal for Rwanda shall have the power to prosecute persons responsible for the following crimes when committed as part of a widespread or systematic attack against any civilian population on national, political, ethnic, racial or religious grounds: a. Murder; b. Extermination; c. Enslavement; d. Deportation; e. Imprisonment; f. Torture; g. Rape; h. Persecutions on political, racial and religious grounds; i. Other inhumane acts. Article  Violations of Article  common to the Geneva Conventions and of Additional Protocol II. The International Tribunal for Rwanda shall have the power to prosecute persons committing or ordering to be committed serious violations of Article  common to the Geneva Conventions of  August  for the Protection of War Victims, and of Additional Protocol II thereto of  June . These violations shall include, but shall not be limited to: a. Violence to life, health and physical or mental well-being of persons, in particular murder as well as cruel treatment such as torture, mutilation or any form of corporal punishment; b. Collective punishments; c. Taking of hostages; d. Acts of terrorism; e. Outrages upon personal dignity, in particular humiliating and degrading treatment, rape, enforced prostitution and any form of indecent assault; f. Pillage; g. The passing of sentences and the carrying out of executions without previous judgment pronounced by a regularly constituted court, affording all the judicial guarantees which are recognized as indispensable by civilized peoples; h. Threats to commit any of the foregoing acts. Eine noch eindeutigere Qualifizierung der Vergewaltigung und anderer Formen sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten als Kriegsverbrechen fand in Art.  Abs.  Buchst. b des  in Kraft getretenen Römischen Statuts des ICC statt: Article . War crimes . The Court shall have jurisdiction in respect of war crimes in particular when committed as part of a plan or policy or as part of a large-scale commission of such crimes. . For the purpose of this Statute, »war crimes« means: (a) Grave breaches of the Geneva Conventions of  August , namely, any of the following acts against persons or property protected under the provisions of the relevant Geneva Convention: […] (b) Other serious violations of the laws and customs applicable in international armed conflict, within the established framework of international law, namely, any of the following acts: […] (xxii) Committing rape, sexual slavery, enforced prostitution, forced pregnancy, as defined in article , paragraph  (f), enforced ster-

 ICTR-Statut (wie Anm. ) [Hervorheb. d. Verf.].

407

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

ilization, or any other form of sexual violence also constituting a grave breach of the Geneva Conventions. Im vorangehenden Art.  (Abs.  Buchst. g) wurde dem ICTY/ICTR-Beispiel gefolgt und die Vergewaltigung in den Tatbestandskatalog des Verbrechens gegen die Menschlichkeit einbezogen. Im Vergleich zu den Statuten der beiden Ad-hoc-Tribunale erfolgte sogar eine Erweiterung, da neben der Vergewaltigung auch andere Formen sexueller Gewalt, wie etwa sexuelle Sklaverei, Nötigung zur Prostitution, erzwungene Schwangerschaft und Zwangssterilisation, als Tatbestandsmerkmale des Verbrechens gegen die Menschlichkeit genannt und demzufolge auch pönalisiert wurden: Article . Crimes against humanity . For the purpose of this Statute, »crime against humanity« means any of the following acts when committed as part of a wide-spread or systematic attack directed against any civilian population, with knowledge of the attack: (a) Murder; (b) Extermination; (c) Enslavement; (d) Deportation or forcible transfer of population; (e) Imprisonment or other severe deprivation of physical liberty in violation of fundamental rules of international law; (f ) Torture; (g) Rape, sexual slavery, enforced prostitution, forced pregnancy, enforced sterilization, or any other form of sexual violence of comparable gravity. Zudem werden im ICC-Statut Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt mit dem Rahmen- bzw. Kernverbrechen des Völkermords in Verbindung gebracht. Da in Art.  ICC-Statut eine Erwähnung von Sexualverbrechen als Einzeltaten des Völkermordtatbestands nicht stattfindet, wird der Zusammenhang nachträglich ergänzend durch das besagte völkerstrafrechtliche Instrument der Verbrechenselemente geschaffen. In Anmerkung  zu Art.  Buchst. b ICC-Statut wird bestimmt, dass sich die nach Buchst. b definierte Völkermordeinzeltat der »Verursachung von schwerem körperlichen und seelischen Schaden« u. a. auf Taten von »Folter, Vergewaltigung, sexueller Gewalt, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung« bezieht. Diese präzisierende Erläuterung geht auf eine Empfehlung der NGO Women’s Causus for Gender Justice zurück, die sich dabei auf die Rechtsprechung der beiden Ad-hoc-Tribunale berufen hatte.  ICC-Statut (wie Anm. , Kap. ) [Hervorheb. d. Verf.].  Ebd. [Hervorheb. d. Verf.].  »Art.  (b) Genocide by causing serious bodily or mental harm Elements. . The perpetrator caused serious bodily or mental harm to one or more persons. [Fn.]  This conduct may include, but is not necessarily restricted to, acts of torture, rape, sexual violence or inhuman or degrading treatment.« Elements of Crimes. In: ICC. Legal Texts and Tools. Elements of Crimes, http://www.icc-cpi.int/NR/rdonlyres/DAAD-EC-ADB-BFDED//ElementsOfCrimesEng.pdf (letzter Zugriff: ..).  Adams, Der Tatbestand (wie Anm. ), .

408

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

Im weiteren Verlauf führten die im Bosnien-Krieg verübten Massenvergewaltigungen dazu, dass der Straftatbestand der Vergewaltigung im Völkerstrafrecht konkreter als zuvor definiert und, wie schon in den Ausführungen zum ICCStatut angedeutet, durch andere Formen sexueller Gewalt ergänzt wurde. Auch hier gaben die diesbezüglichen »Versäumnisse« und »Lücken« des Statuts des Jugoslawien-Tribunals den Anlass dazu. Eine juristische Kommission der Vereinten Nationen, die auf der Grundlage der Sicherheitsresolution  von  zur Untersuchung der Verletzungen des humanitären Völkerrechts im ehemaligen Jugoslawien errichtet worden war, konstatierte in ihrem Ende Dezember  eingereichten Bericht eine bis dato, also auch in den Statuten von ICTY und ICTR unzureichende Bestimmung der vom Tatbestand der Vergewaltigung erfassten Handlungen: »Unlike the majority of codified penal law, ›rape‹ is not precisesly defined in international humanitarian law.« Die unbestimmte Tatbestandsfassung sei, so die Kommission weiter, insofern höchst problematisch, als für die völkerrechtliche Strafverfolgung der Vergewaltigung im bewaffneten Konflikt dem Bestimmtheitsgrundsatz (nullum crimen sine lege certa ) Rechnung getragen werden müsse. Trotz dieses kritischen Hinweises der juristischen UN-Kommission fand auch im Statut des ICC keine Vorgabe von Kriterien zur Bestimmung einer Tathandlung als Vergewaltigung statt. Zwar wurde darin, wie oben gezeigt, festgelegt, dass die Tatbestände der drei völkerrechtlichen Kernverbrechen (Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord) auch die Handlung der Vergewaltigung im bewaffneten Konflikt umfassen. Dennoch überließ man zunächst den Richtern je nach Einzelfall und nach eigenem Ermessen zu entscheiden, ob es sich bei der zu bewertenden Handlung um eine Vergewaltigung handele. Erst einige Monate nach Annahme des ICC-Statuts durch  Staaten im Juli  erfolgte in Hinsicht auf die völkerstrafrechtliche Präzisierung des Vergewaltigungstatbestands der entscheidende Durchbruch, als die beiden Ad-hoc-Tribunale für Jugoslawien und Ruanda in zwei zeitnahen Urteilen partiell abweichende Definitionen von Vergewaltigung lieferten. Im Fall Akayesu wandte die Strafkammer des ICTR in ihrem Urteil vom . September  eine – im Vergleich zur späteren »mechanischen« ICTY-Definition – abstrakte bzw. »konzeptionelle« Definition von Vergewaltigung im Krieg an, indem es die Tat folgendermaßen auslegte:  UN SC, Distr. General, S//, . Mai , Letter Dated  May  from the Secretary General to the President of the SC, Annex: Final Report of the UN Commission of Experts Established Pursuant to SC Resolution  () [im Folgenden: UN Commission of Experts], . In: Legacy Website of the ICTY. Documents, http:// www.icty.org/x/file/About/OTP/un_commission_of_experts_report_en.pdf (letzter Zugriff: ..).  Ebd.  Vgl. ICC-Statut (wie. Anm. ).  Heinsch, Die Weiterentwicklung (wie Anm. ),  f.

409

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

The Chamber defines rape as a physical invasion of a sexual nature, committed on a person under circumstances which are coercive. Sexual violence which includes rape, is considered to be any act of a sexual nature which is committed on a person under circumstances which are coercive. This act must be committed: (a) as part of a wide-spread or systematic attack; (b) on a civilian population; (c) on certained catalogued discriminatory grounds, namely: national, ethnic, political, racial, or religious grounds. Zuvor hatte die Strafkammer bemängelt, dass es bis zu diesem Zeitpunkt keine im Völkerrecht allgemein gültige Vergewaltigungsdefinition gebe, und zeigte außerdem die Schwächen der in nationalen Rechtsordnungen bereits bestehenden Definitionen dieses Straftatbestands auf: Considering the extent to which rape constitute crimes against humanity, pursuant to Article (g) of the Statute, the Chamber must define rape, as there is no commonly accepted definition of this term in international law. While rape has been defined in certain national jurisdictions as non-consensual intercourse, variations on the act of rape may include acts which involve the insertion of objects and/or the use of bodily orifices not considered to be intrinsically sexual. Eine noch stärkere Präzisierung des Tatbestands der Vergewaltigung durch eine Auflistung einzelner Tatbestandsteile lehnten die ICTR-Richter ab. Dabei beriefen sie sich auf das Beispiel der UN-Folter-Konvention, in der auf eine Aufzählung der einzelnen Merkmale des Straftatbestands ebenfalls verzichtet wurde: The Chamber considers that rape is a form of aggression and that the central elements of the crime of rape cannot be captured in a mechanical description of objects and body parts. The Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman and Degrading Treatment or Punishment does not catalogue specific acts in its definition of torture, focusing rather on the conceptual framework of state sanctioned violence. This approach is more useful in international law. Die Strafkammer des ICTY, die sich ungefähr zeitgleich auch mit dem Problem einer fehlenden Definition von Vergewaltigung im Völkerstrafrecht konfrontiert sah, richtete sich zunächst in ihrer Entscheidung gegen Zejnil Delalić,  ICTR, Case No. ICTR---T, the Prosecutor versus Jean-Paul Akayesu, Judgement, Chamber I, before: judge Laïty Kama, Presiding Judge Lennart Aspegren, judge Navanethem Pillay, Decision of  September , para. . In: UN Mechanism for International Criminal Tribunal. Lecacy Website of the ICTR. The Cases, http:// unictr.unmict.org/sites/unictr.org/files/case-documents/ictr--/trial-judgements/ en/.pdf (letzter Zugriff: ..).  Ebd., para. .  Ebd., para. ; siehe auch Adams, Der Tatbestand (wie Anm. ), .

410

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

Zdravko Musić, Hazim Delić und Esad Landžo vom . November  im Fall Čelebići an das kürzlich gefällte ICTR-Urteil im Fall Akayesu und übernahm wörtlich die vorgeschlagene Definition mit folgender Begründung: Although the prohibition on rape under international humanitarian law is readily apparent, there is no convention or other international instrument containing a definition of the term itself. The Trial Chamber draws guidance on this question from the discussion in the recent judgement of the ICTR, in the case of the Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu (hereafter »Akayesu Judgement«) which has considered the definition of rape in the context of crimes against humanity. […] This Trial Chamber agrees with the above reasoning, and sees no reason to depart from the conclusion of the ICTR in the Akayesu Judgement on this issue. Thus, the Trial Chamber considers rape to constitute a physical invasion of a sexual nature, committed on a person under circumstances that are coercive. Im kurz darauf folgenden Urteil im Fall Furundžija vom . Dezember  lieferte allerdings das ICTY eine neue »mechanische« bzw. »technische« Definition, die im Vergleich zu der vom ICTR detaillierter und spezifischer ausfiel. Nachdem die Strafkammer erneut bestätigt hatte, dass die bisherigen völkerrechtlichen Instrumente (Verträge und Gewohnheitsrecht) keine Definition der Vergewaltigung im Krieg beinhalteten, betonte sie unter Verweis auf den Bestimmtheitsgrundsatz die Notwendigkeit des Nachweises eines aus den Rechtsquellen des Völkerstrafrechts abzuleitenden Vergewaltigungstatbestands. Infolgedessen definierte sie die einzelnen Tatbestandselemente der Vergewaltigungshandlung wie folgt: [T]he Trial Chamber finds that the following may be accepted as the objective elements of rape: (i) the sexual penetration, however slight: (a) of the vagina or anus of the victim by the penis of the perpetrator or any other object used by the perpetrator; or (b) of the mouth of the victim by the penis of the perpetrator; (ii) by coercion or force or threat of force against the victim or a third person.  ICTY, Case No.: IT---T, Prosecutor v. Zejnil Delalić, Zdravko Musić also Known as »Pavo«, Hazim Delić, Esad Landžo also Known as »Zenga«, in the Trial Chamber before: Judge Adolphus G. Karibi-Whyte, presiding, Judge Elizabeth Odio Benito, Judge Saad Saood Jan, Judgement of . November , para. -. In: UN. ICTY. Cases, http://www.icty.org/x/cases/mucic/tjug/en/_judg_en.pdf (letzter Zugriff: ..).  Schabas, An Introduction (wie Anm. , Kap. ), ; Heinsch, Die Weiterentwicklung (wie Anm. ),  f.  ICTY, Case No.: IT--/-T, before: Judge Florence Ndepele Mwachande Mumba, Presiding Judge Antonio Cassese, Judge Richard May, . Dezember  [im Folgenden: ICTY, Fall Furundžija], para. . In: UN. ICTY. Cases, http://www.icty.org/x/ cases/furundzija/tjug/en/fur-tje.pdf (letzter Zugriff: ..).

411

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

Die Strafkammer des ICTY lieferte eine ausgiebige Erklärung für ihre Entscheidung, von der »konzeptionellen« ICTR-Definition zugunsten einer »technischen« Tatbestandsbestimmung abzuweichen. Den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bildete, wie oben erwähnt, der Standpunkt, dass bei einem Definitionsversuch des Verbrechenstatbestands der Vergewaltigung der rechtliche Bestimmtheitsgrundsatz berücksichtigt werden müsse. Hierbei sahen die Richter die Notwendigkeit, auf Strafrechtsprinzipien aus den nationalen Rechtssystemen als dritte Rechtsquelle des Völkerstrafrechts zurückzugreifen: »Whenever international criminal rules do not define a notion of criminal law, reliance upon national legislation is justified.« Nachdem die Richter mehrere nationale Rechtsordnungen referiert hatten, die den Tatbestand der Vergewaltigung verschiedenartig eng oder breit definierten, zogen sie eine Zwischenbilanz daraus, die sie als Grundlage für ihre eigene Definition nahmen: It is apparent from our survey of national legislation that, in spite of inevitable discrepancies, most legal systems in the common and civil law worlds consider rape to be the forcible sexual penetration of the human body by the penis or the forcible insertion of any other object into either the vagina or the anus. Im Kontext ihrer Bemühungen, den Tatbestand der Vergewaltigung näher zu definieren, setzten sich die Richter der ICTY-Strafkammer mit der Frage nach der Behandlung der Tat des erzwungenen Oralverkehrs in nationalen Rechtssystemen intensiv auseinander. Insbesondere prüften sie, ob staatliche Rechtsordnungen, wie etwa die deutsche, die französische oder die US-amerikanische, den gewaltsamen Oralverkehr als Vergewaltigung oder als eine nur minder schwerwiegende Straftat von sexueller Nötigung bewerteten. Der Grund für dieses besondere Interesse an der strafrechtlichen Einstufung der Straftrat des erzwungenen Oralverkehrs lag darin, dass der Angeklagte Anton Furundžija, der Mitte der er Jahre der Anführer einer kroatischen Spezialeinheit namens »Jokers« im bosnischen Nadioci war, weibliche Gefangene dem gewaltsamen Oralverkehr ausgesetzt hatte. Nach der eingehenden Untersuchung der nationalen Gesetzgebungen mehrerer Staaten setzte die Kammer die Handlung des erzwungenen Oralverkehrs der Tat des gewaltsamen Geschlechtsverkehrs gleich, da es sich bei beiden Vergehen um »einen sehr erniedrigenden und herabsetzenden Angriff gegen die menschliche Würde« handele. Infolgedessen gelangten die Richter zum Ergebnis, dass »eine derartig ernsthafte sexuelle Gewalttat wie die des erzwungenen Oralverkehrs als Vergewaltigung eingestuft werden sollte«. Die

   

412

Ebd., para.  f.; siehe auch Adams, Der Tatbestand (wie Anm. ), .

ICTY, Fall Furundžija (wie Anm. ), para. .

Ebd., para. . »Such an extremely serious sexual outrage as forced oral penetration should be classified as rape.« Ebd.; siehe auch Adams, Der Tatbestand (wie Anm. ), ,  f.

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

Vergewaltigungsdefinition, die heutzutage der Strafgerichtsbarkeit des ICC zugrunde liegt, folgt dieser von den ICTY-Richtern vorgenommenen Einordnung des Oralverkehrs als Vergewaltigungstat weitgehend. Aber darauf ist noch anschließend zurückzukommen. In ihrem Urteil im Fall Furundžija lieferte die Strafkammer schlussendlich unter Berücksichtigung der o. g. Erkenntnisse aus der Untersuchung staatlicher Rechtsordnungen eine »mechanische« Definition des Tatbestands der Vergewaltigung, die sich im Wesentlichen aus den »objektiven Elementen« zusammensetzte, die für die Einstufung einer Tathandlung als Vergewaltigung vorzuliegen hätten: Thus, the Trial Chamber finds that the following may be accepted as the objective elements of rape: (i) the sexual penetration, however slight: (a) of the vagina or anus of the victim by the penis of the perpetrator or any other object used by the perpetrator; or (b) of the mouth of the victim by the penis of the perpetrator; (ii) by coercion or force or threat of force against the victim or a third person. Einen weiteren Beitrag zur völkerstrafrechtlichen Definition der Vergewaltigung leistete das ICTY mit dem sogenannten Foča-Urteil im Verfahren gegen Dragoljub Kunarac. Der Anklagte war während des Bosnienkriegs Kommandant einer weitgehend in die Strukturen der regulären serbisch-bosnischen Streitkräfte integrierten paramilitärischen Aufklärungsgruppe. Kunarac wurde der Vergewaltigung mehrerer muslimischer Frauen schuldig befunden, die er im April  in der Stadt Foča und den umliegenden Dörfern begangen hatte. Aus der Untersuchung des Falles wurde ersichtlich, dass bei einer Vergewaltigung die Willensbeugung des Opfers nicht allein durch Gewalt oder Gewaltandrohung, sondern auch durch Einsatz anderer Mittel, insbesondere psychologischer, erzwungen wird. Um dieser neuen Erkenntnis Rechnung zu tragen, ersetzte die ICTY-Kammer die in der Vergewaltigungsdefinition des Furundžija-Urteils enthaltenen Tatbestandsmerkmale des Zwangs, der Gewalt und der Gewaltandrohung durch das allgemeinere Kriterium des fehlenden Einverständnisses des Opfers. Die im Fall Kunarac aufgestellte Definition lautete somit wie folgt: The Trial Chamber understands that the actus reus of the crime of rape in international law is constituted by: the sexual penetration, however slight: (a) of the vagina or anus of the victim by the penis of the perpetrator or any other object used by the perpetrator; or (b) of the mouth of the victim by the penis of the perpetrator; where such sexual penetration occurs without the consent of the victim. Consent for this purpose must be consent given voluntarily, as a result of the victim’s free will, assessed in the context of the surrounding

 ICTY, Fall Furundžija (wie Anm. ), para. .

413

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

circumstances. The mens rea is the intention to effect this sexual penetration, and the knowledge that it occurs without the consent of the victim. Das im Februar  ergangene Kunarac-Urteil, in dem das subjektive Tatbestandselement des fehlenden Einverständnisses bzw. der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung in die Bestimmungsmerkmale einer Vergewaltigungstat aufgenommen wurde, nahm auf die im Rahmen des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs aufgestellte Definition des Tatbestands der Vergewaltigung keinen Einfluss. Die Verabschiedung der als Auslegungshilfe des ICC-Statuts formulierten Verbrechenselemente, anhand denen der Straftatbestand der Vergewaltigung für die Rechtsprechung des Gerichts näher bestimmt wurde, hatte bereits einige Monate früher, im November , unter Berücksichtigung der Fälle Akayesu, Čelebići und Furundžija stattgefunden. Wie bereits weiter oben ausgeführt, lag zum Zeitpunkt der Annahme des ICC-Statuts durch die Diplomatische Bevollmächtigtenkonferenz der Vereinten Nationen im Juli  in Rom noch keine völkerstrafrechtliche Definition des Tatbestands der Vergewaltigung vor. Die Verfasser des Römischen Statuts verzichteten auch darauf, dieses mit einer konkreten Beschreibung der Vergewaltigung als subsumierte Handlung verschiedener Straftatbestände auszustatten. Diese »Lücke« konnte erst im November  geschlossen werden, als die Mitglieder der Versammlung der Vertragsstaaten die gemäß Art.  ICC-Statut vorgesehenen Verbrechenselemente verabschiedeten. Durch die Verbrechenselemente, die laut ICC-Statut dem Gerichtshof bei der Auslegung und Anwendung der auf die völkerrechtlichen Kernbzw. Rahmenverbrechen bezogenen Art. ,  und  helfen sollten, fand eine nähere Bestimmung der Vergewaltigungstat als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und als Kriegsverbrechen statt: . The perpetrator invaded the body of a person by conduct resulting in penetration, however slight, of any part of the body of the victim or of the perpetrator with a sexual organ, or of the anal or genital opening of the victim with any object or any other part of the body. . The invasion was committed by force, or by threat of force or coercion, such as that caused by fear of violence, duress, detention, psychological oppression or abuse of power, against such person or another person, or by taking advantage of a coercive environment,

 ICTY, Case No.: IT---T&IT--/-T, Prosecutor v. Dragoljub Kunarac, Radomir Kovac and Zoran Vukoviv, in the Trial Chamber, before: Judge Florence Ndepele Mwachande Mumba, Presiding Judge David Hunt, Judge Fausto Pocar, Registrar: Mr. Hans Holthuis, Judgement of  February , para. . In: UN. ICTY. Cases, http://www.icty.org/x/cases/kunarac/tjug/en/kun-tje.pdf (letzter Zugriff: ..).  De Brouwer, Supranational (wie Anm. ), .  Zu den Verbrechenselementen siehe hier ausführlicher unter »Die Einberufung des ersten Ad-hoc-Tribunals durch den UN-Sicherheitsrat«.

414

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

or the invasion was committed against a person incapable of giving genuine consent. Diese Definition basiert auf den Vergewaltigungsdefinitionen, welche die beiden Ad-hoc-Tribunale für Jugoslawien und Ruanda bis zum Zeitpunkt der Verabschiedung der ICC-Verbrechenselemente (November ) formuliert hatten. Im Wesentlichen stellt sie eine Synthese der Rechtsprechungen von ICTY und ICTR in den bereits hier genannten Fällen – ausgenommen des KunaracUrteils – dar. Mit Abstand am prägendsten auf die ICC-Vergewaltigungsdefinition wirkte sich die ICTY-Definition im Urteil Furundžija aus. Anne-Marie de Brouwer, die sich in ihrer Studie zur »supranationalen Strafverfolgung sexueller Gewalt« eingehend mit der Frage des Ursprungs der in den Verbrechenselementen enthaltenen Definition des Tatbestands der Vergewaltigung beschäftigt, konstatiert diesbezüglich Folgendes: In addition to the elements of rape found in national laws, the case law of the ICTY and the ICTR has significantly influenced the definition of the crime of rape in the EOC [Elements of Crime] of the ICC. This is not very surprising considering the similarity of the cases that are likely to be brought before the ICC and considering the ICTY/R’s survey of the definition of rape in international law. ICC delegates made special reference to the Akayesu, Čelebići and Furundžija Judgments. […] The ICC definition of rape is a mix of the ICTY/R case law up to that time. Instead of making a clear choice between the Akayesu, Furundžija or any other approach to the definition of rape, the ICC definition of rape is confusing at first sight. Overall, however, it can be said that the ICC definition follows more closely the more restrictive Furundžija definition of rape; this definition also constituted the starting point in the discussions on the definition of rape within the Preparatory Commission for the ICC. Zu ähnlichen Schlussfolgerungen hinsichtlich des prägenden Einflusses der ICTY- und ICTR-Judikatur auf die Vergewaltigungsdefinition des ICC gelangt Alexandra Adams in ihrer Doktorarbeit zum »Tatbestand der Vergewaltigung im Völkerstrafrecht«: Die Ausarbeitung der EOC [Elements of Crime] zu den Sexualstraftaten nahm erhebliche Zeit in Anspruch. Dabei haben die zuvor erörterten Vergewaltigungsdefinitionen der Ad-hoc-Tribunale großen Einfluss auf die jetzige  UN, Preparatory Commission for the ICC, PCNICC///Add., Distr. General,  November , New York, - March , - June , Report of the Preparatory Commission for the ICC, Part II Finalized Draft Text of the Elements of Crimes, para.  () (g)-, , para.  () (b) (xxii)-, . In: International Criminal Law Society/Gesellschaft für Völkerstrafrecht. Dokumente, http://www.icls.de/dokumente/icc_elements_crime.pdf (letzter Zugriff: ..)  De Brouwer, Supranational (wie Anm. ), .

415

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

EOC-Definition ausgeübt. Ferner haben sich in den Verhandlungen die Vorschläge der Schweiz und der USA sowie die Anregungen der NGO des Causus

for Gender Justice hervorgetan. Sowohl der amerikanische als auch der Schweizer Vorschlag unterteilten die Vergewaltigung in zwei objektive Tatbestandselemente: erstens die Penetration des Opfers und zweitens den auf das Opfer ausgeübten Zwang. Diese Zweiteilung wurde der Rechtsprechung der Tribunale (Akayesu, Furundžija und Musić) entnommen.

Auch der Völkerstrafrechtler Kai Ambos bestätigt die wichtige Rolle des Jugoslawien-Tribunals bei der Ausarbeitung der ICC-Definition des Tatbestands der Vergewaltigung in bewaffneten Konflikten, indem er u. a. festhält, dass »die Definition der Verbrechenselemente ursprünglich von der Rechtsprechung von ICTY und ICTR beeinflusst« worden sei. Des Weiteren veranlassten die Sexualverbrechen im Bosnienkrieg, dass es neben der Vergewaltigung zu einer Pönalisierung anderer sexueller Gewalttaten in bewaffneten Konflikten kam. Auch hier erwiesen sich zunächst die diesbezüglichen »Mängel« des ICTY-Statuts als ausschlaggebend. Wie Kritiker beanstandeten, sah das Statut des Jugoslawien-Tribunals außer dem Vergewaltigungstatbestand keine anderen Straftatbestände sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten, wie etwa sexuelle Versklavung, Zwangsprostitution oder Zwangsschwangerschaft, vor. Dasselbe gilt für das Statut des ICTR, das neben der Vergewaltigung keine Tatbestandsalternativen sexueller Gewaltanwendung enthielt. Die bereits oben erwähnte Experten-Kommission der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Verletzungen des humanitären Völkerrechts im ehemaligen Jugoslawien prangerte  in ihrem Bericht diese Beschränkung auf die Vergewaltigung an und schlug eine breiter gefasste Auslegung der völkerstrafrechtlich zu verfolgenden sexuellen Gewalt vor, die über den Tatbestand der Vergewaltigung hinausgehen sollte: [O]n the basis of the contemporary criminal laws of the world’s major criminal justice systems, the Commission considers rape to be a crime of violence of a sexual nature against the person. This characteristic of violence of a sexual nature also applies to other forms of sexual assault against women, men and children, when these activities are performed under coercion or threat of force and include sexual mutilation. Infolge der kritischen Auseinandersetzung mit den Statuten der Ad-hoc-Gerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda fand im ICC-Statut eine  Adams, Der Tatbestand (wie Anm. ), .  Kai Ambos: Sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten und Völkerstrafrecht. In: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik  () , -, hier .  Lucas, Die Weiterentwicklung (wie Anm. ), .  Vgl. ICTR-Statut (wie Anm. ).  UN Commission of Experts (wie Anm. ), .

416

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

Erweiterung des Straftatbestands der sexuellen Gewalt um andere Tatbestandsalternativen statt. So stellen gemäß Art.  Abs.  Buchst. g und Art.  Abs.  Buchst. b [xxii] außer der Vergewaltigung die Taten der »erzwungenen Prostitution, Schwangerschaft, Sterilisation sowie jede andere Form sexueller Gewalt vergleichbarer Schwere« im Kontext bewaffneter Konflikte Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen dar. Resümierend lässt sich hinsichtlich des Einflusses der postjugoslawischen Kriege auf die völkerrechtliche Pönalisierung sexueller Gewalt sagen, dass das Statut und vor allem die Judikatur des ICTY einen maßgeblichen Beitrag zur Weiterentwicklung des völkerstrafrechtlichen Apparats zur Ahndung sexueller Gewaltverbrechen geleistet haben. Seit Kurzem gibt es neben den o. g. Regelungen und Gerichtsentscheidungen auch eine entsprechende Resolution des UNSicherheitsrats, in dem der Einsatz sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten als illegale Kriegstaktik, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord klassifiziert und verurteilt wird. Diese wurde am . April  verabschiedet und resultierte größtenteils aus neuesten tragischen Vorfällen im Irak, in Myanmar, Syrien und anderen Kriegsgebieten, die der Staatengemeinschaft zum wiederholten Mal vor Augen führten, dass trotz der durch das ICTY angestoßenen dogmatischen Weiterentwicklung der Straftatbestände von sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten und eines seit Bestehen des ICC vorhandenen ständigen Strafgerichts mit Zuständigkeit für schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht ein Großteil der Verbrechen dieser Art weiterhin ungesühnt bleibt: The Security Council, […] Recalling the responsibilities of States to end impunity and to prosecute those responsible for crimes of genocide, crimes against humanity, and war crimes, perpetrated against civilians and, in this regard, noting with concern that only very limited numbers of perpetrators of sexual violence have been brought to justice, while recognizing that in conflict and in post-conflict situations national justice systems may be significantly weakened, […] . Reiterates its demand for the complete cessation with immediate effect by all parties to armed conflict of all acts of sexual violence and its call for these parties to make and implement specific time-bound commitments to combat sexual violence […].

 Vgl. ICC-Statut (wie Anm. , Kap. ).  UN, SC, S/RES/ (), Distr.: General  April , Resolution  (), Adopted by the SC at its th meeting, on  April , , . In: UN Documents, https://undocs.org/S/RES/() (letzter Zugriff: ..) [Hervorheb. i. O.].

417

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

Erweiterung des Begriffs des bewaffneten Konflikts

Der Beitrag des Jugoslawien-Tribunals zur Weiterentwicklung des Völkerrechts beschränkt sich bei weitem nicht nur auf die von ihm eingeleiteten völkerstrafrechtlichen Neuerungen im Bereich der Ahndung sexueller Gewaltverbrechen. Wie bereits mehrmals angedeutet, sind die Auswirkungen der ICTY-Judikatur ebenso zahlreich wie vielfältig. So hat etwa der internationale Gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, vor allem aufgrund seiner Rechtsprechung im Fall Tadić, auch Wesentliches im Bereich der Fortentwicklung von Normen des humanitären Völkerrechts geleistet. Insbesondere hat er die Begriffsbestimmung des bewaffneten Konflikts vorangetrieben und eine Klärung bzw. Erweiterung des räumlichen und zeitlichen Anwendungsbereichs der Kategorie des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts vorgenommen. Zur adäquaten Einschätzung des ICTY-Beitrags auf diesem Gebiet muss auch hier, wie im Fall der sexuellen Gewalt, die Vorgeschichte berücksichtigt werden. Die vier Genfer Konventionen von  waren in vielerlei Hinsicht ein Wendepunkt im humanitären Völkerrecht. Unter vielem anderen erfolgte durch sie die Einführung des Begriffs des bewaffneten Konflikts, der in den nächsten Jahrzehnten sukzessive die bis zu diesem Zeitpunkt im Völkerrecht vorherrschende Kategorie des Krieges abgelöst hat. Mit dem gemeinsamen Art. , der den Anwendungsbereich der Genfer Konventionen festlegte, wurde – neben der Situation des »erklärten Krieges« – der Zustand eines »anderen bewaffneten Konflikts« aufgeführt, der »zwischen zwei oder mehreren Hohen Vertragsparteien entsteht, auch wenn der Kriegszustand von einer dieser Parteien nicht erkannt wird«. Damit wurde zum ersten Mal die Frage der Anwendung des humanitären Völkerrechts von der Voraussetzung einer formellen Kriegserklärung abgekoppelt. Allerdings ließ der gemeinsame Art.  der Genfer Konventionen offen, was genau unter einem bewaffneten Konflikt zu verstehen ist. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK), das in seinem Kommentar zum gemeinsamen Art.  der Genfer Konventionen von  einen ersten Versuch unternahm, den Begriff des bewaffneten Konflikts zu definieren, be-

 Vgl. z. B. IV. Genfer Abkommen vom . August  zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten. In: Tomuschat, Völkerrecht (wie Anm. , Kap. ), -, hier .  Heinsch, Die Weiterentwicklung (wie Anm. ), . Insbesondere wurde durch Art.  die Voraussetzung des Vorhandenseins einer empfangsbedürftigen Kriegserklärung zur Bestimmung des Eintritts des Zustands eines bewaffneten Konflikts, so wie dies Art.  des III. Haager Abkommens () vorsah, aufgehoben. Siehe ausführlicher ICRC: How is the Term »Armed Conflict« Defined in International Humanitarian Law?, Opinion Paper, März . In: ICRC. Resources. Documents. Article https:// www.icrc.org/eng/resources/documents/article/other/armed-conflict-article-. htm (letzter Zugriff: ..).

418

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

schränkte sich auf zwischenstaatliche Konflikte, während es solche innerstaatlicher Natur unberücksichtigt ließ: Any difference arising between two States and leading to the intervention of armed forces is an armed conflict within the meaning of Article , even if one of the parties denies the existence of a state of war. It makes no difference how long the conflict lasts, or how much slaughter takes place. In Art.  Abs.  und Abs.  des  verabschiedeten II. Zusatzprotokolls zum Genfer Abkommen über den Schutz der Opfer nicht-internationaler bewaffneter Konflikte vom . August , der den Anwendungsbereich dieses Protokolls definierte, wurden in Ansätzen Merkmale eines nicht-internationalen bewaffneten Konflikts ausgearbeitet. Letzteres und die o. g., ausschließlich internationale bewaffnete Konflikte betreffende IKRK-Definition stellten zweifelsohne wichtige Rechtssätze dar, auf welche die völkerrechtliche Rechtsprechung immer wieder zurückgriff. Dennoch fehlte es weiterhin an einer völkerrechtlichen Definition des bewaffneten Konflikts, welche beide Situationen, sowohl die zwischen- als auch innerstaatliche militärische Auseinandersetzung, umfassend behandeln würde. Das ICTY sah sich erstmals mit diesem Problem im Berufungsverfahren von Duško Tadić konfrontiert. Die Anwälte des Angeklagten stellten im Rahmen ihrer Verteidigungsstrategie die Behauptung auf, dass die ihrem Mandaten vorgeworfenen Straftaten nicht im Rahmen eines bewaffneten Konflikts stattgefunden hätten und infolgedessen nicht Gegenstand des humanitären Völkerrechts sein könnten. Sie erhofften sich dadurch, die Einstellung des Verfahrens vor dem aus Ebd.; siehe auch Heinsch, Die Weiterentwicklung (wie Anm. ), .  »Art. . Sachlicher Anwendungsbereich. . Dieses Protokoll, das den den Genfer Abkommen vom . August  gemeinsamen Art.  weiterentwickelt und ergänzt, ohne die bestehenden Voraussetzungen für seine Anwendung zu ändern, findet auf alle bewaffneten Konflikte Anwendung, die von Art.  des Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen vom . August  über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I) nicht erfasst sind und die im Hoheitsgebiet einer Hohen Vertragspartei zwischen deren Streitkräften und abtrünnigen Streitkräften oder anderen organisierten bewaffneten Gruppen stattfinden, die unter einer verantwortlichen Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebiets der Hohen Vertragspartei ausüben, dass sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchführen und dieses Protokoll anzuwenden vermögen. . Dieses Protokoll findet nicht auf Fälle innerer Unruhen und Spannungen wie Tumulte, vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen Anwendung, die nicht als bewaffnete Konflikte gelten.« Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom . August  über den Schutz der Opfer nicht-internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll II). Angenommen in Genf am . Juni . In: Tomuschat, Völkerrecht (wie Anm. , Kap. ), -, hier .  Siehe ausführlicher dazu Zischg, Robert: Nicht-internationaler bewaffneter Konflikt und Völkerrecht. Zur Zulässigkeit der Unterstützung der Konfliktparteien durch dritte Staaten. Baden-Baden .

419

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

schließlich für die Ahndung völkerrechtlicher Kernverbrechen zuständigen ICTY zu erwirken. Die Berufungskammer fasste die Argumentation der Verteidigung in ihrem Urteil folgendermaßen zusammen: Appellant now asserts the new position that there did not exist a legally cognizable armed conflict – either internal or international – at the time and place that the alleged offences were committed. Appellant’s argument is based on a concept of armed conflict covering only the precise time and place of actual hostilities. Appellant claims that the conflict in the Prijedor region (where the alleged crimes are said to have taken place) was limited to a political assumption of power by the Bosnian Serbs and did not involve armed combat (though movements of tanks are admitted). Die ICTY-Berufungskammer lehnte die Beschwerde des Angeklagten ab, indem sie den Zeitpunkt des Eintritt des Zustands des bewaffneten Konflikts unabhängig von der Voraussetzung einer formellen Kriegserklärung festlegte und das Fortbestehen dieses Zustands über den Zeitraum eines lokal vereinbarten Waffenstillstands hinaus bis zum Abschluss eines allgemeingültigen Friedensabkommens erweiterte: International humanitarian law applies from the initiation of […] armed conflicts and extends beyond the cessation of hostilities until a general conclusion of peace is reached; or, in the case of internal conflicts, a peaceful settlement is achieved. Until that moment, international humanitarian law continues to apply in the whole territory of the warring States or, in the case of internal conflicts, the whole territory under the control of a party, whether or not actual combat takes place there. Auf der Grundlage dieser zeitlichen und räumlichen Erweiterung und unter Berücksichtigung der Entwicklung des Konflikts in Bosnien kam die Berufungskammer zum Schluss, dass die dem Angeklagten vorgeworfenen Taten im Rahmen eines bewaffneten Konflikts stattgefunden hätten und dementsprechend in den Anwendungsbereich des humanitären Völkerrechts fielen: Applying the foregoing concept of armed conflicts to this case, we hold that the alleged crimes were committed in the context of an armed conflict. Fighting among the various entities within the former Yugoslavia began in , continued through the summer of  when the alleged crimes are said to have been committed, and persists to this day. Notwithstanding various temporary cease-fire agreements, no general conclusion of peace has brought military operations in the region to a close. These hostilities exceed the inten Heinsch, Die Weiterentwicklung (wie Anm. ), .  ICTY, Fall Tadić, Berufungskammer (wie Anm. ), para. .  Ebd., para. .

420

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

sity requirements applicable to both international and internal armed conflicts. There has been protracted, large-scale violence between the armed forces of different States and between governmental forces and organized insurgent groups. Even if substantial clashes were not occurring in the Prijedor region at the time and place the crimes allegedly were committed – a factual issue on which the Appeals Chamber does not pronounce – international humanitarian law applies. It is sufficient that the alleged crimes were closely related to the hostilities occurring in other parts of the territories controlled by the parties to the conflict. There is no doubt that the allegations at issue here bear the required relationship. The indictment states that in  Bosnian Serbs took control of the Opstina of Prijedor and established a prison camp in Omarska. It further alleges that crimes were committed against civilians inside and outside the Omarska prison camp as part of the Bosnian Serb take-over and consolidation of power in the Prijedor region, which was, in turn, part of the larger Bosnian Serb military campaign to obtain control over Bosnian territory. Appellant offers no contrary evidence but has admitted in oral argument that in the Prijedor region there were detention camps run not by the central authorities of Bosnia-Herzegovina but by Bosnian Serbs (Appeal Transcript;  September , at -). In light of the foregoing, we conclude that, for the purposes of applying international humanitarian law, the crimes alleged were committed in the context of an armed conflict. Die Definition des bewaffneten Konflikts, welche die ICTY-Berufungskammer in diesem Zusammenhang ausarbeitete, war insofern innovativ, als sie sich sowohl auf internationale wie auch nicht-internationale bewaffnete Konflikte bezog. Zur völkerrechtlichen Kategorisierung einer militärischen Auseinandersetzung als internationaler bewaffneter Konflikt wurde das Kriterium der »bewaffneten Gewalt zwischen zwei Staaten« als die zugrundeliegende Voraussetzung festgelegt. Hierbei griffen die ICTY-Richter auf die besagte IKRK-Definition von  zurück. Ein nicht-internationaler bewaffneter Konflikt liege wiederum dann vor, »wenn es zu langanhaltender Gewalt zwischen Regierungstruppen und organisierten bewaffneten Gruppen bzw. zwischen solchen Gruppen selbst kommt«. Zur Bestimmung des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts hat die ICTY-Berufungskammer das II. Zusatzprotokoll, insbesondere dessen ersten Artikel, als Grundlage genommen. Konkret hieß es im Urteil der ICTY-Berufungskammer: On the basis of the foregoing, we find that an armed conflict exists whenever there is a resort to armed force between States or protracted armed violence between governmental authorities and organized armed groups or between such groups within a State.  Ebd., para. .  Ebd.

421

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

Im Römischen Statut des ICC wurde die Definition des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts aus der Tadić-Jurisdiktionsentscheidung nahezu wortgleich übernommen. So legt etwa Art.  Abs.  Buchst. f ICC-Statut fest, dass der vorangegangene, sich auf »schwere Verstöße gegen die innerhalb des feststehenden Rahmens des Völkerrechts anwendbaren Gesetze und Gebräuche« beziehende Buchst. e (desselben Artikels und Absatzes) »bewaffnete Konflikte« betreffe, »die im Hoheitsgebiet eines Staates stattfinden, wenn zwischen den staatlichen Behörden und organisierten bewaffneten Gruppen oder zwischen solchen Gruppen ein lang anhaltender bewaffneter Konflikt besteht«. Einziger Unterschied zwischen den beiden Definitionen ist, dass die ICTY-Berufungskammer den Terminus »Gewalt« verwendete, während im ICC-Statut von »Konflikt« die Rede ist. Die Aufgabe der two-box approach

Einen weiteren wichtigen Beitrag zur Fortentwicklung des humanitären Völkerrechts leistete die ICTY-Berufungskammer im Fall Tadić durch die Angleichung der völkerrechtlichen Regelungsbereiche für internationale und nicht-internationale bewaffnete Konflikte. Den Ausgangspunkt dafür bildete die o. g., sich auf beide Konfliktarten beziehende Definition des bewaffneten Konflikts. In diesem Zusammenhang traf die Kammer die Entscheidung, auf eine eindeutige Einordnung der militärischen Auseinandersetzung im zerfallenden Jugoslawien als internationalen oder nicht-internationalen bewaffneten Konflikt zu verzichten und diesen stattdessen als »Grenzfall« einzustufen. Dies begünstigte Christian Richter zufolge die Ausweitung etlicher Kriegsverbrechenstatbestände des Bereichs des internationalen bewaffneten Konflikts auf den des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts: Der ICTY hat im Tadić-Urteil […] die Definitionen des internationalen bewaffneten Konflikts und des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts zusammengefasst und nur von einem bewaffneten Konflikt gesprochen. Nach Auffassung des ICTY können demnach grundlegende Prinzipien des Rechts des internationalen bewaffneten Konflikts auch auf den nicht-internationalen bewaffneten Konflikt anwendbar sein.

 »Paragraph  (e) applies to armed conflicts […] that take place in the territory of a State when there is protracted armed conflict between governmental authorities and organized armed groups or between such groups.« ICC-Statut (wie Anm. ).  Heinsch, Die Weiterentwicklung (wie Anm. ), .  Richter, Christian: Tödliche militärische Gewalt und strafrechtliche Verantwortung. Anmerkungen zum Einstellungsbeschluss der Generalbundesanwaltschaft. In: Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht  () , -, hier .

422

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

Die ICTY-Berufungskammer begründete die Aufhebung der traditionellen Unterscheidung zwischen einem internationalen und nicht-internationalen bewaffneten Konflikt durch die seit langem bestehenden Probleme bei der Klassifizierung von Kriegshandlungen als zwischen- oder innerstaatlich sowie durch den zunehmenden Einfluss interner Konflikte auf die Herausbildung neuer völkergewohnheitsrechtlicher Regeln: [S]ince the s […] the aforementioned distinction has gradually become more and more blurred, and international legal rules have increasingly emerged or have been agreed upon to regulate internal armed conflict. [S]tate practice shows that general principles of customary international law have evolved with regard to internal armed conflict also in areas relating to methods of warfare. Der innovative Ansatz, den sogenannten two-box approach aufzugeben, unterlag der Einschränkung, dass die ICTY-Berufungskammer nur einen Teil und nicht die Gesamtheit der Gesetze und Prinzipien, die internationale bewaffnete Konflikte regeln, auf den Bereich des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts für übertragbar erklärte. In diesem Zusammenhang merkten die ICTY-Richter auch an, dass die völkergewohnheitsrechtliche Übertragung von Regeln von dem einen zum anderen Bereich nicht in Form einer »mechanischen Transplantation« erfolge. Lediglich die Essenz dieser Regeln finde sukzessive Anwendung im Bereich des internen bewaffneten Konflikts. Ungeachtet dieser Einschränkungen, so die Schlussfolgerung der Richter, bliebe die Grunderkenntnis des Gerichts, dass sich völkergewohnheitsrechtliche Bestimmungen im Laufe des . Jahrhunderts dahin entwickelt hätten, auch innerstaatliche Konflikte zu regeln, unverändert: The emergence of the aforementioned general rules on internal armed conflicts does not imply that internal strife is regulated by general international law in all its aspects. Two particular limitations may be noted: (i) only a number of rules and principles governing international armed conflicts have gradually been extended to apply to internal conflicts; and (ii) this extension has not taken place in the form of a full and mechanical transplant of those rules to internal conflicts; rather, the general essence of those rules, and not the detailed regulation they may contain, has become applicable to internal conflicts. […] Notwithstanding these limitations, it cannot be denied that customary rules have developed to govern internal strife. These rules, as specifically identified in the preceding discussion, cover such areas as protection of civilians from hostilities, in particular from indiscriminate attacks, protection of civilian objects, in particular cultural property, protection of all those who do not (or no longer) take active part in hostilities, as well as prohibition  ICTY, Fall Tadić, Berufungskammer (wie Anm. ), para. , .

423

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

of means of warfare proscribed in international armed conflicts and ban of certain methods of conducting hostilities. Die Überwindung des two-box approach durch das ICTY hat wegen ihres innovativen Ansatzes in Expertenkreisen viel Aufsehen erregt. Renommierte Völkerrechtler wie z. B. Stephan Hobe heben die von den Richtern des JugoslawienTribunals vorgenommene »Angleichung der humanitär-rechtlichen Regeln für interne bewaffnete Konflikte an das Normengefüge für internationale bewaffnete Konflikte« von den vielen anderen durch das ICTY angestoßenen Rechtsentwicklungen als die »bemerkenswerteste« hervor. Trotzdem schlug sich diese Innovation im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs nur in sehr begrenztem Maße nieder. Im Gegensatz zu der in der ICTY-Rechtsprechung erkennbaren Tendenz zur Vereinheitlichung der beiden Rechtsregime verzichteten die Verfasser des Römischen Statuts auf eine »komplette ›Assimilierung‹ der in einem internationalen Konflikt begangenen Verbrechen mit solchen, die im Zuge eines nicht-internationalen Konflikts stattfinden«, und lehnten »die Zusammenführung der beiden Bereiche in eine gemeinsame Kategorie der ›Verbrechen in bewaffneten Konflikten‹« ab. Stattdessen blieb die traditionelle Aufteilung zwischen »schweren Verstößen gegen die innerhalb des feststehenden Rahmens des Völkerrechts im internationalen bewaffneten Konflikt anwendbaren Gesetze und Gebräuche« auf der einen Seite und »schweren Verstößen gegen die innerhalb des feststehenden Rahmens des Völkerrechts anwendbaren Gesetze und Gebräuche im bewaffneten Konflikt, der keinen internationalen Charakter hat«, auf der anderen Seite aufrechterhalten. Demzufolge ging das Römische Statut  Ebd., para.  f.  Hobe, Einführung (wie Anm. , Einleitung), .  Ambos, Kai: Treatise on International Law. Bd. II: The Crimes and Sentencing. Oxford , ; siehe auch Safferling, Christoph/Kirsch, Stefan: Recht und Unrecht im Angriffskrieg. In: Zeitschrift für das Juristische Studium  () , -, hier ; Arnauld, Andreas von: Völkerrecht. ., neu bearbeitete Aufl. Heidelberg ,  f.  »Article  War crimes. . The Court shall have jurisdiction in respect of war crimes in particular when committed as part of a plan or policy or as part of a large-scale commission of such crimes. . For the purpose of this Statute, ›war crimes‹ means: (a) Grave breaches of the Geneva Conventions of  August , namely, any of the following acts against persons or property protected under the provisions of the relevant Geneva Convention: […] (b) Other serious violations of the laws and customs applicable in international armed conflict, within the established framework of international law, namely, any of the following acts: […] (c) In the case of an armed conflict not of an international character, serious violations of article  common to the four Geneva Conventions of  August , namely, any of the following acts committed against persons taking no active part in the hostilities, including members of armed forces who have laid down their arms and those placed hors de combat by sickness, wounds, detention or any other cause: […] (d) Paragraph  (c) applies to armed conflicts not of an international character and thus does not apply to situations

424

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

laut Christoph Safferling »in der strukturellen Formulierung der Kriegsverbrechen eher einen Schritt zurück« im Vergleich zum ICTY, welches mit seinen Entscheidungen »das Tor zu einem einheitlichen Konzept der Kriegsverbrechen weit aufgestoßen hatte«. Immerhin wurde in Art.  ICC-Statut, dem Beispiel der ICTY-Rechtsprechung folgend, die Kategorie der Kriegsverbrechen in nichtinternationalen Konflikten ausdrücklich anerkannt und der völkerstrafrechtliche Schutzmechanismus insofern verbessert, als in Abs.  Buchst. c, d und e Tatbestände für den internen bewaffneten Konflikt unter Strafe gestellt wurden. Anders als im Römischen Statut lässt sich auf dem Gebiet der Strafverfolgung von Völkerrechtsverbrechen auf nationaler Ebene ein starker Einfluss der Rechtsprechung des ICTY hinsichtlich der Abschaffung der Zweiteilung zwischen internationalen bewaffneten und nicht-internationalen bewaffneten Konflikten feststellen. So fand z. B. im  in Kraft getretenen deutschen Völkerstrafgesetzbuch (VStGB), wie untenstehender Ausschnitt daraus belegt, eine Ausdehnung nahezu sämtlicher Kriegsverbrechenstatbestände, die nach Art.  ICCStatut in den Bereich des internationalen bewaffneten Konflikts fallen, auf das Gebiet des nicht-internationalen bewaffneten Konflikts statt: Abschnitt . Kriegsverbrechen. § Kriegsverbrechen gegen Personen. () Wer im Zusammenhang mit einem internationalen oder nicht-internationalen bewaffneten Konflikt . eine nach dem humanitären Völkerrecht zu schützende Person tötet, . […] als Geisel nimmt, . […] grausam oder unmenschlich behandelt, indem er ihr erhebliche körperliche oder seelische Schäden oder Leiden zufügt, insbesondere sie foltert oder verstümmelt, . […] sexuell nötigt oder vergewaltigt […], . Kinder unter  Jahren für Streitkräfte zwangsverpflichtet […] wird in den Fällen der Nummer  mit lebenslanger Freiheitsstrafe, in den Fällen der Nummer  mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren, in den Fällen der Nummern  bis  mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren […] bestraft. () Wer im Zusammenhang mit einem internationalen oder nicht-internationalen bewaffneten Konflikt einen Angehörigen der gegnerischen Streitkräfte oder einen Kämpfer der gegnerischen Partei verwundet, nachdem dieser sich bedingungslos ergeben hat oder sonst außer Gefecht ist, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren bestraft. […] () Nach dem humanitären Völkerrecht zu schützende Personen sind . im internationalen of internal disturbances and tensions, such as riots, isolated and sporadic acts of violence or other acts of a similar nature; (e) Other serious violations of the laws and customs applicable in armed conflicts not of an international character, within the established framework of international law, namely, any of the following acts: […].« ICC-Statut (wie Anm. , Kap. ).  Safferling, Christoph: Internationales Strafrecht. Strafanwendungsrecht, Völkerstrafrecht, Europäisches Strafrecht. Berlin [u. a.] , .  Richter, Tödliche militärische Gewalt (wie Anm. ), .

425

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

bewaffneten Konflikt: geschützte Personen im Sinne der Genfer Abkommen und des Zusatzprotokolls I (Anlage zu diesem Gesetz), namentlich Verwundete, Kranke, Schiffbrüchige, Kriegsgefangene und Zivilpersonen; . im nicht-internationalen bewaffneten Konflikt: Verwundete, Kranke, Schiffbrüchige sowie Personen, die nicht unmittelbar an den Feindseligkeiten teilnehmen und sich in der Gewalt der gegnerischen Partei befinden; . im internationalen und nicht-internationalen bewaffneten Konflikt: Angehörige der Streitkräfte und Kämpfer der gegnerischen Partei, welche die Waffen gestreckt haben oder in sonstiger Weise wehrlos sind. Begründet wurde die Aufgabe des two-box approach im Gesetzesentwurf der Bundesregierung durch einen expliziten Verweis auf das Urteil im Tadić-Fall, insbesondere auf die dort vorgenommene Angleichung des Anwendungsbereichs der Kriegsverbrechen in nicht-internationalen Konflikten an denjenigen in internationalen Konflikten: . Gemeinsame objektive Voraussetzungen der Kriegsverbrechen. […] b) Internationaler und nicht-internationaler bewaffneter Konflikt. Das VStGB verwendet zur Bezeichnung seiner konkreten Anwendungssituationen die Begriffe »internationaler bewaffneter Konflikt« und »nicht-internationaler bewaffneter Konflikt«. Der Entwurf folgt damit der allgemein und in den Urteilen internationaler wie nationaler Gerichte bestätigten Praxis. Mit dem Begriff »internationaler bewaffneter Konflikt« werden dabei in Übereinstimmung mit dem gemeinsamen Art.  der vier Genfer Abkommen der Krieg bzw. sonstige Formen mit Waffengewalt ausgetragener Auseinandersetzungen zwischen zwei oder mehr Staaten erfasst. In Übereinstimmung mit Art.  Abs.  Buchst. f ICC-Statut umfasst die Formulierung »nicht-internationaler bewaffneter Konflikt« solche Konflikte, in denen Streitkräfte innerhalb eines Staates gegen organisierte bewaffnete Gruppen oder solche Gruppen untereinander kämpfen, sofern die Kampfhandlungen von einer gewissen Dauer sind. Die damit im Vergleich zu Art.  Abs.  des Zusatzprotokolls II von  (»Zusatzprotokoll II«) verbundene Erweiterung des Anwendungsbereichs der Bestimmungen über den nicht-internationalen Konflikt, die mittlerweile auch als völkergewohnheitsrechtlich gesichert werden kann, steht damit zugleich in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (vgl. Tadic [Tadić], IT---AR, . Oktober , para. ).  Völkerstrafgesetzbuch (VStGB). In: Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz. Gesetze/Verordnungen, http://www.gesetze-im-internet.de/vstgb (letzter Zugriff: ..).  Deutscher Bundestag. . Wahlperiode. Gesetzentwurf der Bundesregierung. Drucksache /. Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuches, .., . In: DIP – Gemeinsames Dokumentations- und Informationssystem von Bundestag und Bundesrat, http://dip.bundestag.de/dip/btd///.

426

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

Die Entscheidung, dem vom Jugoslawien-Tribunal im Fall Tadić eingeschlagenen Weg zu folgen, führte die damalige bundesdeutsche Justizministerin Herta Däubler-Gmelin auf die Absicht zurück, »über das ICC-Statut hinaus[zu] gehen, um die Vereinheitlichung der Strafbarkeiten im internationalen und im nicht-internationalen bewaffneten Konflikt auf der breiteren Grundlage des weiterentwickelten und gesicherten Völkergewohnheitsrechts zu erreichen«. Diese breite völkergewohnheitsrechtliche Grundlage wird im VStGB mit Stellungnahmen von Staaten als Mitglieder internationaler Organisationen und mit Bestimmungen aus verschiedenen nationalen Kriegsführungshandbüchern untermauert. Robert Heinsch zieht aus §  Abs.  Nr.  VStGB, durch den die Verwendung von chemischen Waffen sowohl im internationalen als auch nichtinternationalen bewaffneten Konflikt verboten wird, allgemeinere Rückschlüsse, was die Auswirkung der ICTY-Rechtsprechung hinsichtlich der Angleichung des Regeltatbestandes für beide Konflikttypen auf das existierende Recht betrifft: §  VStGB ist damit ein deutlicher Beweis dafür, dass manche Staaten die Auffassung vertreten, dass das ICC-Statut nicht in allen Bereichen das geltende gewohnheitsrechtliche Völkerstrafrecht widerspiegelt. [Z]umindest die deutsche Regierung [lässt] den Feststellungen des ICTY eine stärkere Bedeutung beim Nachweis der geltenden Rechtslage zukommen. Dadurch, dass insbesondere die Ausdehnung bestimmter Straftatbestände auf den nicht-internationalen bewaffneten Konflikt durch das VStGB in geschriebenes nationales Recht umgewandelt wurde, hat man hier wiederum ein Stück Staatenpraxis, das die entsprechende Regel weiter herauskristallisiert. Wie das deutsche VStGB verzichtet auch der italienische Codice Penale Militare di Guerra auf eine Unterscheidung zwischen internationalem und internem bewaffneten Konflikt, während auf der anderen Seite Gesetzgebungen im Rechtssystem des common law, insbesondere die britische, die australische und die kanadische, dem Beispiel des ICC-Statuts folgen und die Trennung zwischen den beiden Gebieten aufrechterhalten. Die Rechtsfigur der responsibility to protect

Neben dem ICTY und seiner Rechtsprechung wirkten sich der Kosovo-Krieg und insbesondere der militärische Eingriff der NATO in diesen Krieg im März

   

pdf (letzter Zugriff: ..); siehe auch Safferling, Internationales Strafrecht (wie Anm. ), . Zit. n. Richter, Tödliche militärische Gewalt (wie Anm. ), . Ambos, Treatise on International Law (wie Anm. ), . Heinsch, Die Weiterentwicklung (wie Anm. ), . Ambos, Treatise on International Law (wie Anm. ),  f.

427

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

 zum Schutz der kosovarischen Albaner vor der serbischen Aggression prägend auf das gegenwärtige Völkerrecht aus. Der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel sieht die große Bedeutung dieses Ereignisses für das Völkerrecht darin begründet, dass »hinter dem konkreten Anlass dieses ersten Krieges der NATO in Wahrheit nichts Geringeres als die Fragen nach Fundament, Reichweite, Revisionsbedürftigkeit und Zukunft tradierter Normen des Völkerrechts und der – wenn man will: internationalen – politischen Ethik« gestanden hätten. Der NATO-Einsatz von  übte einen enormen Einfluss auf die Herausbildung des neuen völkerrechtlichen Instituts der Schutzverantwortung (responsibility to protect) aus. Dem Bonner Völkerrechtler Matthias Herdegen zufolge trug das militärische Eingreifen der NATO in den Kosovo-Krieg ohne Ermächtigung des UN-Sicherheitsrats als Katalysator dazu bei, dass sich die Staatengemeinschaft von ihrem starren Verhältnis zum Gewaltverbot löste; letzteres sei vor diesem einschneidenden Ereignis fast immer zugunsten der territorialen Staatsintegrität und zu Ungunsten der Zivilbevölkerung ausgefallen. Die Intervention der NATO »zum Schutz der albanischen Zivilbevölkerung gegen genozidartige Verfolgungsmaßnahmen« habe, so Herdegen weiter, »einen Wendepunkt in der völkerrechtlichen Beurteilung der humanitären Intervention markiert«, da »seither in der Staatengemeinschaft und in der Völkerrechtslehre die Bereitschaft gewachsen« sei, das »Gewaltverbot von Art.  Nr.  UN-Charta nicht als absolute Verbotsregel zu betrachten, sondern einer Abwägung mit elementaren Menschenrechten zu unterwerfen«.  vertrat Herdegen anlässlich einer im Zuge des Syrien-Konflikts zwischen Völkerrechtlern aufflammenden Diskussion über die rechtliche Grundlage einer Intervention in Syrien die Position, dass mit dem militärischen Eingreifen der NATO in den Kosovo-Konflikt ein richtungsweisender Präzedenzfall für zukünftige humanitäre Militärinventionen geschaffen worden sei: Der Schutz elementarer Menschenrechte vor systematischer Verfolgung ist als Grundwert in der Völkerrechtsordnung längst neben das Gewaltverbot getreten. Die Menschenrechte bilden nicht nur ein Leitthema der UN-Charta. In ihrem Kern gehören die Menschenrechte ebenso wie der Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten zum zwingenden Völkerrecht und damit zum Fundament der gesamten internationalen Ordnung. […] Die etwa zwanzig NATO-Staaten, die sich im Frühjahr  am militärischen Schutz der albanischen Minderheit gegen serbischen Terror beteiligt haben, stehen seit jeher der völkerrechtlichen Wertordnung als Handlungsmaxime näher als die meisten Regierungen, welche die Intervention aus humanitären Gründen kategorisch ablehnen – oft genug aus Angst um den Bestand der eigenen Gewaltherrschaft. Auch wenn die damalige rot-grüne Bundesregierung keinen  Merkel, Vorwort (wie Anm. ), .  Herdegen, Völkerrecht (wie Anm. , Einleitung), -.  Ebd., .

428

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

»Präzedenzfall« schaffen wollte, hat sie genau dies mit ihren Partnern getan. Inzwischen behauptet kaum noch jemand ernsthaft, die damalige Bundesregierung habe einen »Angriffskrieg« (der nach Art.  des Grundgesetzes verboten ist) unternommen. Selbstverständlich sind Besorgnisse um einen Missbrauch der humanitären Intervention als Eingriffstitel ernst zu nehmen; sie stehen auch hinter einer immer wieder zitierten Erklärung der zahlreichen »blockfreien« Staaten. Aber das Verständnis der völkerrechtlichen Wertordnung darf nicht vom möglichen Missbrauch hergedacht werden. Auch Torsten Stein und Christian von Buttlar heben in ihrem völkerrechtlichen Lehrbuch die große Bedeutung des militärischen Eingreifens der NATO  in den Kosovo-Krieg hervor. Es sei letztendlich dieses Ereignis gewesen, an dem die entscheidende Verdichtung vorheriger Staatenpraxis im Nordirak, in Somalia, auf Haiti und in Ruanda zu einer neuen Völkergewohnheitsregel stattgefunden habe. Darüber hinaus hätten durch den NATO-Einsatz in Südosteuropa die Diskussionen und die Kontroversen um die Zulässigkeit von humanitären Interventionen in der Wissenschaft und in der Staatenpraxis stark zugenommen. In der Tat gibt es neben den Vertretern der Ansicht, dass die NATO-Operation »Allied Force« gegen Serbien einen Präzedenzfall in der Staatenpraxis geschaffen und zur Modifikation geltender völkerrechtlicher Grundprinzipien von staatlicher Souveränität, Interventions- und allgemeinen Gewaltverbot geführt habe, zahlreiche Widersacher, die die Rechtmäßigkeit des NATO-Einsatzes und dessen Auswirkung auf das Völkerrecht stark anzweifeln, vor allem weil dieser aufgrund eines angedrohten russischen Vetos ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats stattgefunden hat. In ihrer Argumentation berufen sie sich des Weiteren auf das Gewaltmonopol des UN-Sicherheitsrats und auf die hohe Missbrauchsgefahr des Prinzips der humanitären Intervention durch die stärkeren Länder. Bezeichnend für diese Positionen sind die Ausführungen des Bonner Staatsrechtlers Josef Isensee, so wie er sie  im Zuge der Debatte um die militärische Intervention in Syrien zum Ausdruck brachte: Das jüngere Völkerrecht hat […] den Friedensbegriff ins Positive hinein erweitert. Es rechnet die Unversehrtheit eines menschenrechtlichen Mindeststandards dazu. Nunmehr gelten auch schwere Verstöße gegen die Menschenrechte wie Genozid und ethnische Säuberung als Störung des Weltfriedens. Das erweiterte Kompetenzverständnis ist heute etabliert, als Ergebnis einer Rechtsfortbildung. Der Ruf nach einer humanitären Intervention scheitert  Herdegen, Matthias: Syrien-Konflikt: Eingreifen erlaubt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, .., http://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/syrien-konflikt-eingreifen-erlaubt-.html (letzter Zugriff: ..).  Stein/von Buttlar, Völkerrecht (wie Anm. , Kapitel ), -; siehe auch mehrere Beiträge in: Humanitäre Intervention. Ein Instrument außenpolitischer Konfliktbearbeitung. Grundlagen und Diskussion. Hg. v. Herfried Münkler und Karsten Malowitz. Wiesbaden .

429

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

also nicht notwendig an der fehlenden Kompetenz des Sicherheitsrats, wohl aber häufig am Veto eines der ständigen Mitglieder, so im Kosovo-Konflikt eine Aktion gegen Serbien an der Veto-Drohung Russlands. Die Ausübung des Vetorechts darf aber nicht ohne weiteres als Versagen der Vereinten Nationen gedeutet werden. Vielmehr blockiert das Veto die Wahrnehmung einer prekären Ausnahmebefugnis und stabilisiert damit die rechtliche Regel, das Gewaltverbot. Wenn der Sicherheitsrat im Ernstfall des menschenrechtlichen Unheils kein Mandat erteilt, so liegt keine Regelungslücke vor. Vielmehr gilt nach wie vor für alle Staaten das Gewaltverbot. […] Im Ergebnis verfestigt die Anerkennung der humanitären Intervention die Position der Großmächte im Machtspiel der Staatenwelt. Hier zeigt sich ein Geburtsfehler der völkerrechtlichen Figur: Sie vermag keine rechtliche Wirksamkeit gegenüber allen Staaten zu erlangen und damit nicht jene Allgemeinheit zu erreichen, welche die Idee des Rechts verlangt. Nur eine allgemeine Norm kann sich zur Idee des Rechts über eine technische Regel der Machtausübung emporheben und sittliche Autorität gewinnen. In der Völkerrechtsordnung ist es freilich nicht ungewöhnlich, dass der Geltungsanspruch einer Rechtsnorm unter einem ungeschriebenen Machtvorbehalt steht. Ein Restzweifel bleibt also, ob die humanitäre Intervention überhaupt zum Rechtsinstitut taugt. […] Die humanitäre Intervention ist ein gefährliches, missbrauchsanfälliges Werkzeug für die gute Sache menschenrechtlich fundierter Gerechtigkeit. Doch wenn im Ernstfall zu wählen ist zwischen Intervention und Wahrung des Gewaltverbots, also zwischen Gerechtigkeit und Frieden, und die Abwägung kein klares Ergebnis zeitigt, sollte im Zweifel die Entscheidung für den Frieden ausfallen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Meinung des Innsbrucker Völkerrechtlers Waldemar Hummers, der zwar das militärische Unternehmen der NATO zum Schutz der Kosovo-Albaner als völkerrechtswidrig einstuft, aber genau in diesem Völkerrechtsbruch den entscheidenden Auslöser »zur Ausbildung der sogenannten Schutzverantwortung oder responsibility to protect« sieht. Denn dieses »Konzept« sei im Nachgang zum NATO-Angriff gegen Serbien entwickelt worden, um dadurch »die bisherige Praxis humanitärer Interventionen [zu] ersetzen« und »zukünftig den Missbrauch humanitärer Interventionen, wie dies bei dem vom Sicherheitsrat nicht legalisierten NATO-Einsatz im

 Isensee, Josef: Krieg und Frieden. Im Zweifel für den Frieden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, .., http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/kriegund-frieden-im-zweifel-fuer-den-frieden-.html?printPagedArticle=truepage Index_ (letzter Zugriff: ..).  Waldemar Hummer: Die Europäische Union und RP im Hinblick auf den internationalen Schutz von Menschenrechten. In: Schutzverantwortung in der Debatte. Die »Responsibility to Protect« nach dem Libyen-Dissens. Hg. v. Michael Staack und Dan Krause. Opladen [u. a.] , -, hier .

430

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

Kosovo im Frühjahr  der Fall war, zu verhindern«. Deshalb soll nun anschließend der Frage nachgegangen werden, wie sich die NATO-Intervention in den Kosovo-Krieg konkret auf die Entstehung und Ausbildung der weiterhin höchst umstrittenen Rechtsfigur der responsibility to protect ausgewirkt hat. Die Rechtmäßigkeit des Instituts der humanitären Intervention war schon während des Kalten Krieges in Expertenkreisen kontrovers diskutierten worden. Insbesondere Völkerrechtler mit progressiveren Ansichten, was die Aufgaben und Auslegung des internationalen Rechts betrifft, hatten ab den er Jahren eine Aufweichung des Souveränitätsprinzips und die Durchbrechung des absoluten Gewaltverbots gefordert, um damit den aktuellen Bedürfnissen der Staatengemeinschaft Rechnung zu tragen. Einer davon war auch der US-amerikanische Rechtsgelehrte und prominente Vertreter der sogenannten New Haven School, W. Michael Reisman, der schon  für eine Reinterpretation von Art.  () UN-Charta plädiert hatte: »A more realistic policy formulation would recognize the present inability of the world community to move to the implementation of Chapter VII and would therefore accept the partial suspension of the full thrust of Article  ().« In einer  in der Fachzeitschrift The American Journal of International Law veröffentlichten programmatischen Stellungnahme untermauerte er seinen Vorschlag mit den Argumenten der Bewahrung des Weltfriedens, des Erhalts der bestehenden Weltordnung und nicht zuletzt auch des Schutzes des Selbstbestimmungsrechts der Völker: If some unilateral coercions are effectively treated as legitimate, the challenge to contemporary lawyers is not to engage in automatic indiscriminate denunciations of unilateral resorts to coercion by states as violations of Article  (). They must begin to develop a set of criteria for appraising the lawfulness of unilateral resorts to coercion. A sine qua non for any action – coercive or otherwise – I submit, is the maintenance of minimum order in a precarious international system. Will a particular use of force enhance or undermine world order? When this requirement is met, attention may be directed to the fundamental principle of political legitimacy in contemporary international politics: the enhancement of the ongoing right of peoples to determine their  Ebd.,  f.  Siehe ausführlicher zur New Haven School Voos, Sandra: Die Schule von New Haven. Darstellung und Kritik einer amerikanischen Völkerrechtslehre. Berlin ; Fassbender, Bardo/Wendehorst, Christiane/Wet, Erika de/Peters, Anne/Michaels, Ralf/Tietje, Christian/Merkt, Hanno/Weiss, Friedl/Hein, Jan von: Paradigmen im internationalen Recht. Implikationen der Weltfinanzkrise für das internationale Recht. Heidelberg [u. a.] ,  f.  Reisman, W. Michael: Sanctions and Enforcement. In: The Future of the International Legal Order. Bd. . Hg. v. Cyril Black und Richard Falk. Princeton , -, hier , zit. n. Peter Hilpold: Humanitäre Intervention. Neue Perspektiven für ein geächtetes Instrument der Völkerrechtsgeschichte? In: Fisch, Die Verteilung (wie Anm. ), -, hier .

431

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

own political destinies. That obvious point bears renewed emphasis for it is the main purpose of contemporary international law: Article  () is the means. The basic policy of contemporary international law has been to maintain the political independence of territorial communities so that they can continue to express their desire for political community in a form appropriate to them. Article (), like so much in the Charter and in contemporary international politics, rests on and must be interpreted in terms of this key postulate of political legitimacy in the th century. Each application of Article  () must enhance opportunities for ongoing self-determination. Though all interventions are lamentable, the fact is that some may serve, in terms of aggregate consequences, to increase the probability of the free choice of peoples about their government and political structure. […] Coercion should not be glorified, but it is naive and indeed subversive of public order to insist that it never be used, for coercion is a ubiquitous feature of all social life and a characteristic and indispensable component of law. The critical question in a decentralized system is not whether coercion has been applied, but whether it has been applied in support of or against community order and basic policies, and whether it was applied in ways whose net consequences include increased congruence with community goals and minimum order. Interpretation of a constitutive instrument requires principles and procedures that achieve, in ways appropriate to the context and consistent with the need for community order, the fundamental policies of the instrument as a whole. In the construction of Article  (), attention must always be given to the spirit of the Charter and not simply to the letter of a particular provision. Völkerrechtler einer konservativeren Grundrichtung kritisierten dieses von Reisman vorgeschlagene Vordringen in den Fundamentalbereich der Völkerrechtsordnung der Nachkriegszeit. Bezeichnend dafür ist die Reaktion des renommierten Juristen Oscar Schachter. In derselben Ausgabe der Zeitschrift The American Journal of International Law entgegnete er den Ansichten Reismans wie folgt: [T]he heart of Reisman’s thesis […] is that Article  () must be interpreted in terms of a principle that he considers the fundamental postulate of political legitimacy in the th century, namely, »the enhancement of the ongoing right of peoples to determine their own political destinies«. […] It is hardly necessary for readers of this Journal to be reminded that from the very inception of the present Charter system, there has been general agreement that the rule against unilateral recourse to force (except in self-defense) is a fundamental tenet of international law. In recent years, it has been widely characterized  Reisman, W. Michael: Editorial Comments. Coercion and Self-Determination: Construing Charter Article  (). In: American Journal of International Law  () , -, hier -.

432

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

as jus cogens. To argue that it must now be »reinterpreted« so as to subordinate its prohibition to the right of states to overthrow despotic governments by force is a radical departure from that principle. […] That invasions may at time serve democratic values must be weighed against the dangerous consequences of legitimizing armed attacks against peaceful governments. […] lt is no answer to say that invasions should be allowed where there is no abuse and only for the higher good of self-determination. In the absence of an effective international mechanism to restrain force, individual governments would have wide latitude to decide on the »reality« of democracy and self-determination in various countries. The test one side would favor would not be acceptable to others. Ideological confrontations would sooner or later become clashes of power. These considerations are so evident that we can be quite sure that governments will not adopt the suggested reinterpretation of Article  () as law. Not even its espousal by a powerful state would make it law. In short, it is not, will not and should not be law. Yet there is reason for concern that the thesis has been put forward by an international lawyer of standing. In this period of tension and unilateral action, arguments such as those presented may influence policy in favor of armed intervention. The fragility of international organization enhances the danger. This is surely not the time for international lawyers to weaken the principal normative restraint against the use of force. The world will not be made safe for democracy through new wars or invasions of the weak by the strong. Die in den er und er Jahren geführte Debatte um eine Anpassung des Völkerrechts an neue Gegebenheiten fand vor dem Hintergrund einer Reihe militärischer Einsätze statt, die zwar von den intervenierenden Staaten selbst nicht vornehmlich mit humanitären Argumenten begründet wurden, dennoch  Schachter, Oscar: The Legality of Pro-Democratic Invasion. In: ebd., -, hier  f., .  »Even the democratic governments in the UN have not claimed a right to intervene forcibly to bring about the free choice of peoples in other countries. The United States, despite occasional ›rollback‹ oratory, has never justified its military interventions elsewhere on the ground suggested by Reisman. In Vietnam and currently in Central America, the legal justification for intervention has rested on the claim that foreign intervention had taken place and that U.S. action in response to the request of the government was justified on the basis of the collective self-defense provisions of the Charter. It is true the Grenada intervention (which Reisman may have in mind but does not mention) was considered by many in the United States as politically desirable because it would lead to democratic rule in place of a repressive regime. However, significantly, the U.S. Government did not assert that as a legal ground. Its statements clearly presented three other grounds, which, in combination, were said to provide a legal basis for the U.S. action. Whether these grounds were well founded in law and in fact are independent issues. The point here is that the United States did not present the argument that it had the right to intervene to restore popular rule in Grenada. Nor have other states taken that oosition.« Ebd., .

433

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

im Zuge schwerer Menschenrechtsverletzungen erfolgt waren, etwa die Interventionen Indiens in Ostpakistan , Vietnams in Kambodscha /, Tansanias in Uganda , Frankreichs in Zentralafrika  sowie der USA in Grenada  und in Panama /. Allerdings übten diese Operationen kaum eine befördernde Wirkung auf die Herausbildung einer neuen völkergewohnheitsrechtlichen Regel aus, da sie in der Staatengemeinschaft wenig oder kaum Zuspruch fanden. Demzufolge blieb im Völkerrecht die Meinung vorherrschend, dass es dem einzelnen Staat und auch einer Gruppe von Staaten nicht zustehe, »zum Zwecke des Schutzes grundlegender Menschenrechte den Panzer der Souveränität mit Waffengewalt zu durchbrechen«. Selbst die Militärintervention Vietnams in Kambodscha , die Hanoi als Einsatz zur Beendung der Gräueltaten der Roten Khmer-Armee rechtfertigte, wurde international streng verurteilt, und Vietnam musste dafür sogar Sanktionen in Kauf nehmen. Erste Anzeichen einer sich nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes vollziehenden Wende in der Frage nach der Legitimität humanitärer Interventionen gab es  durch den Jahresbericht des derzeitigen UN-Generalsekretärs Javier Pérez de Cuéllar über die Tätigkeit der Vereinten Nationen. Darin ergriff er Position für die Zurückdrängung des strikten Interventionsverbots zugunsten der stärkeren Durchsetzung der Menschenrechte auf internationaler Ebene und verlangte ein Überdenken des Axioms der völkerrechtlich geschützten Unantastbarkeit von Grenzen staatlicher Souveränität: We are clearly witnessing what is probably an irresistible shift in public attitudes towards the believe that the defense of the oppressed in the name of morality should probably prevail over frontiers and legal documents. It is now increasingly felt that the principle of non-interference with the essential domestic jurisdiction of states cannot be regarded as a protective barrier behind which human rights could be massively or systematically violated with impunity. […] The case for not impinging on the sovereignty, territorial integrity and political independence of states is by itself indubitably strong. But it would only be weakened if it were to carry the implication that sovereignty, even in this day and age, includes the right of mass slaughter or of launching systematic campaigns of decimation or forced exodus of civilian populations in the name of controlling civil strife or insurrection.  Bothke, Michael: Friedenssicherung und Kriegsrecht. In: Vitzthum/Proelß, Völkerrecht (wie Anm. ), -, hier .  Hilpold, Humanitäre Intervention (wie Anm. ), .  Quinn-Judge, Sophie: Fraternal Aid, Self-defence, or Self-interest? Vietnam’s Intervention in Cambodia, -. In: Simms/Trim, Humanitarian Intervention (wie Anm. , Einleitung), -.  Report of the Secretary-General on the Work of the Organization, UN Doc. GAOR, th Session, Supplement No.  (A//), New York , Absch. VI, , zit. n. Preuß, Ulrich K.: Der Kosovo-Krieg, das Völkerrecht und die Moral. In: Merkel, Der Kosovo-Krieg (wie Anm. ), -, hier .

434

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

Auch sein Nachfolger Kofi Annan zählt zu jenen Akteuren, die bei der Herausbildung und Förderung des Konzepts der Schutzverantwortung eine prominente Rolle gespielt haben. Insbesondere löste er mit seinem  vor der UN-Generalversammlung abgegebenen Jahrbericht eine Debatte über das Grundprinzip der souveränen Gleichheit von Staaten aus, indem er die »häretische« Position vertrat, dass ein Staat, der nicht in der Lage sei, seine Bürger vor Völkermord oder anderen schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen, kein uneingeschränktes Recht auf volle Souveränität, Unverletzlichkeit seiner territorialen Integrität und politische Unabhängigkeit genießen dürfe. Diese »Formel« sollte kurz darauf die Grundlage für die Ausarbeitung der Rechtsfigur der responsibility to protect bilden. In seinem Plädoyer für einen effektiven, auf internationalem Konsens basierenden und durch das Völkerrecht legitimierten Interventionsmechanismus bezog sich Annan auf eine Reihe abschreckender Beispiele humanitärer Katastrophen, wie etwa jenen in Sierra Leone, Sudan, Angola, Osttimor und Afghanistan. Das Hauptaugenmerk bei seinen Ausführungen lag allerdings auf dem Kosovo und Ruanda. Während laut Annan der  in Ruanda stattgefundene Völkermord die dramatischen Folgen der Passivität der internationalen Gemeinschaft aufgezeigt habe, sei durch den militärischen Einsatz der NATO im Kosovo ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats eine Reihe von Fragen hinsichtlich Interventionen aufgeworfen worden. Aus letzterem Fall könne insbesondere die Lehre gezogen werden, dass humanitäre Militärinterventionen auf legitimen und universellen Prinzipien basieren müssten, um die notwendige Unterstützung der Weltgemeinschaft zu genießen. Dementsprechend plädierte der damalige UN-Generalsekretär für eine Veränderung des Verständnisses von staatlicher Souveränität, die vor allem nach dem Kosovo-Einsatz der NATO unabdingbar sei und von der Staatengemeinschaft befürwortet werden müsse. In seinem »Millennium-Report«  wiederholte Annan seine Aufforderung an die Staatengemeinschaft, angesichts der Ereignisse in Ruanda und Srebrenica den Grundsatz der staatlichen Souveränität zu überdenken: In my address to the General Assembly last September, I called on Member States to unite in the pursuit of more effective policies to stop organized mass murder and egregious violations of human rights. Although I emphasized that intervention embraced a wide continuum of responses, from diplomacy to armed action, it was the latter option that generated most controversy in the debate that followed. Some critics were concerned that the concept of »humanitarian intervention« could become a cover for gratuitous interference in the internal affairs of sovereign states. Others felt that it might encourage secessionist movements deliberately to provoke governments into committing  Secretary-General Presents His Annual Report to the GA, ... Press Release SG/SM/. In: UN. Meetings Coverage and Press Releases. Secretary-General. Statements and Messages, https://www.un.org/press/en//.sgsm.html (letzter Zugriff: ..).

435

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

gross violations of human rights in order to trigger external interventions that would aid their cause. Still others noted that there is little consistency in the practice of intervention, owing to its inherent difficulties and costs as well as perceived national interests – except that weak states are far more likely to be subjected to it than strong ones. I recognize both the force and the importance of these arguments. I also accept that the principles of sovereignty and non-interference offer vital protection to small and weak states. But to the critics I would pose this question: if humanitarian intervention is, indeed, an unacceptable assault on sovereignty, how should we respond to a Rwanda, to a Srebrenica – to gross and systematic violations of human rights that offend every precept of our common humanity? We confront a real dilemma. Few would disagree that both the defence of humanity and the defence of sovereignty are principles that must be supported. Alas, that does not tell us which principle should prevail when they are in conflict. Humanitarian intervention is a sensitive issue, fraught with political difficulty and not susceptible to easy answers. But surely no legal principle – not even sovereignty – can ever shield crimes against humanity. Where such crimes occur and peaceful attempts to halt them have been exhausted, the Security Council has a moral duty to act on behalf of the international community. The fact that we cannot protect people everywhere is no reason for doing nothing when we can. Armed intervention must always remain the option of last resort, but in the face of mass murder it is an option that cannot be relinquished. Das große Engagement Annans für die Aufweichung der staatlichen Souveränität bei »groben und systematischen Menschenrechtsverletzungen« dürfte auch persönlich motiviert gewesen sein. Als der Völkermord in Ruanda geschah, war er Beauftragter für Friedenssicherung des seinerzeitigen UN-Generalsekretärs Boutros Boutros-Ghali. Nachträglich wurde er beschuldigt, dass er Meldungen über den Völkermord abgeschwächt oder gar zurückgehalten und auf diese Weise eine Intervention zur Rettung der Tutsi-Minderheit vereitelt habe. Trotzdem wurde Annan  unmittelbar nach dem Srebrenica-Massaker zum Sonderbeauftragten des UN-Generalsekretärs für das ehemalige Jugoslawien ernannt. In dieser Funktion musste er sich wiederholt für das Versagen der Verein »We the Peoples«. The Role of the UN in the st Century, ,  f. In: UN. Conferences, Meetings and Events, https://www.un.org/en/events/pastevents/pdfs/We_ The_Peoples.pdf (letzter Zugriff: ..) [Hervorheb. d. Verf.].  Siehe ausführlicher dazu O’Grady, Siobhán: Kofi Annan’s Legacy was Complicated by the Rwandan Genocide. In: The Washington Post, .., https://www. washingtonpost.com/world////kofi-annans-legacy-was-complicated-byrwandan-genocide/?noredirect=on (letzter Zugriff: ..); Kofi Annan’s Syrian Strategy Echoes Past Failures in Bosnia and Rwanda. In: The Guardian, .. https://www.theguardian.com/world//may//kofi-annan-weak-syria-violence (letzter Zugriff: ..).

436

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

ten Nationen im Bosnien-Krieg rechtfertigen und in Namen der Weltorganisation entschuldigen. Gareth Evans, Vorsitzender der bei der Entwicklung des Konzepts der Schutzverantwortung federführenden International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS), nennt neben Annan den britischen Premierminister Tony Blair als eine weitere einflussreiche Persönlichkeit der internationalen Politik, die aus seiner Sicht in den späten er Jahren die Verrechtlichung der normativen Figur der responsibility to protect maßgeblich gefördert habe. Blair hatte im April  im Chicago Economic Club in Form von fünf Fragen die wesentlichen Kriterien genannt, die bei der Entscheidungsfindung für oder gegen ein militärisches Eingreifen berücksichtigt werden müssten: »Are we sure of our case? Have we exhausted all diplomatic options? Are there military operations we can sensibly and prudently undertake? Are we prepared for the long term? Do we have national interests involved?« In diesem Zusammenhang rief er die Staatengemeinschaft auf, neue Wege zu finden, um die Vereinten Nationen und insbesondere den Sicherheitsrat in der Angelegenheit der humanitären Intervention handlungsfähiger zu machen. Die ursprünglich als »Doktrin der internationalen Gemeinschaft« formulierten und letztendlich als »Blair-Doktrin« in die Geschichte eingegangenen Vorschläge waren im Wesentlichen durch die NATO-Intervention in den Kosovo-Krieg, der zeitgleich mit der Rede Blairs in Chicago stattfand, geprägt. Im Januar  bezeichnete Blair den bevorstehenden Luftkrieg gegen das Rumpf-Jugoslawien als einen »gerechten Krieg«, da dieser nicht im Sinne territorialer Interessen, sondern zur Anwendung von Völkermord und ethnischen Säuberungsaktionen geführt werden sollte: This war will not be fought for Albanians against Serbs. It will not be fought for territory. Still less for NATO aggrandizement. It will be fought for a fundamental principle necessary for humanity’progress: that every human being, regardless of race, religion or birth, has the inalienable right to live free from persecution.  Vgl. z. B. Kalnoky, Boris: Wer trägt die Schuld am Massaker von Srebrenica? In: Die Welt, .., https://www.welt.de/print-welt/article/Wer-traegt-die-Schuldam-Massaker-von-Srebrenica.html (letzter Zugriff: ..); zum Lebenslauf Kofi Annans siehe Kofi Annan. In: UN. Former Secretary-General, https://www.un.org/ sg/en/content/kofi-annan (letzter Zugriff: ..).  Jamison, Matthew: Humanitarian Intervention since  and »liberal interventionism«. In: Simms/Trim, Humanitarian Intervention (wie Anm. , Einleitung), ; Daddow, Oliver: Tony’s War? Blair, Kosovo and the Interventionist Impulse in British Foreign Policy. In: International Affairs  () , -; Atkins, Judi: Forward Thinking. A New Approach to Humanitarian Intervention? Tony Blair’s »Doctrine of the International Community«. In: British Politics  (), -.  Ebd.  Zit. n. Orford, Anne: Reading Humanitarian Intervention. Human Rights and the Use of Force in International Law. Cambridge [u. a.] , .

437

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

Die durch das NATO-Eingreifen in den Kosovo-Krieg maßgeblich bestimmte Blair-Doktrin ist zweifelsohne ein Meilenstein in der Entstehungsgeschichte eines völkerrechtlich verbindlichen Prinzips der responsibility to protect bzw. der Schutzverantwortung. Dasselbe gilt auch für die  verabschiedete Resolution der UN-Generalversammlung zum damaligen UN-Weltgipfel, in der das Prinzip der Schutzverantwortung Eingang fand, nachdem es zuvor von der besagten ICISS herausgearbeitet worden war. Die von Evans geleitete Expertengruppe aus Politikern und Juristen, die  auf kanadische Initiative hin Leben gerufen worden war, hatte in ihrem Abschlussbericht sogar die Möglichkeit in Erwägung gezogen, »jenseits des Sicherheitsrats vorzugehen, wenn dieser aufgrund eines Vetos nicht handeln kann«. Eine vom UN-Generalsekretär eingesetzte hochrangige Gruppe, die sich im Vorfeld des UN-Weltgipfels mit dem ICISS-Bericht befasste, lehnte allerdings die Option des Militäreinsatzes ohne Ermächtigung des UN-Sicherheitsrats strikt ab. Demzufolge wurde in den §§  und  der UN-Weltgipfel-Resolution von  ein Konzept der responsibility to protect umrissen, das stark an Kapitel VII der UN-Charta angelehnt war: Responsibility to protect populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity. . Each individual State has the responsibility to protect its populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity. This responsibility entails the prevention of such crimes, including their incitement, through appropriate and necessary means. We accept that responsibility and will act in accordance with it. The international community should, as appropriate, encourage and help States to exercise this responsibility and support the UN in establishing an early warning capability. . The international community, through the UN, also has the responsibility to use appropriate diplomatic, humanitarian and other peaceful means, in accordance with Chapters VI and VIII of the Charter, to help to protect populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity. In this context, we are prepared to take collective action, in a timely and decisive manner, through the Security Council, in accordance with the Charter, including Chapter VII, on a case-by-case basis and in cooperation with relevant regional organizations as appropriate, should peaceful means be inadequate and national authorities are manifestly failing to protect their populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity. We stress the need for the General Assembly to  Vgl. Evans, Gareth: The Responsibility to Protect. Ending Mass Atrocity Once and for All. Washington .  Krieger, Heike: Das Konzept der Internationalen Schutzverantwortung. In: Bundeszentrale für Politische Bildung (Nr. /), http://www.bpb.de/izpb//daskonzept-der-internationalen-schutzverantwortung (letzter Zugriff: ..).  Ebd.

438

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

continue consideration of the responsibility to protect populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity and its implications, bearing in mind the principles of the Charter and international law. We also intend to commit ourselves, as necessary and appropriate, to help States build capacity to protect their populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity and to assisting those which are under stress before crises and conflicts break out. Der hier formulierte Grundsatz einer von der Staatengemeinschaft zu tragenden Schutzverantwortung basiert auf zwei im modernen Völkerrecht begründeten Prinzipien: erstens, dass ein souveräner Staat verpflichtet ist, für die Sicherheit, das Leben und die Menschenrechte seiner Bürger zu garantieren. Diese Verpflichtung sind die meisten Staaten dieser Welt eingegangen, indem sie etlichen Menschenrechtskonventionen beitraten. Zweitens, dass der UN-Sicherheitsrat das Recht hat, eine Intervention – notfalls auch unter Einsatz von Gewalt – zu autorisieren, um Menschen in Lebensgefahr zu retten. Dieses Recht lässt sich aus Art.  der UN-Charta ableiten, der das Ergreifen von Maßnahmen durch den Sicherheitsrat gewährleistet, falls letzterer eine Bedrohung des Friedens, einen Friedensbruch oder eine Angriffshandlung feststellt. Basierend auf diesen Grundannahmen geht das Konzept der Schutzverantwortung davon aus, dass die Souveränität eines Staates schon stark beschädigt ist, wenn sich dieser nicht mehr in der Lage befindet, die auf seinem Territorium lebende Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen. Infolgedessen ist eine Militärintervention der internationalen Gemeinschaft insofern legitim, als sie dem Schutz der sich in Gefahr befindenden Bürger und der Wiederherstellung der staatlichen Souveränität dient. Aufgrund der »mangelnden Bindungswirkung von Resolutionen der Generalversammlung« ergaben sich zunächst für die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen durch die Aufnahme des Konzepts der responsibility to protect in die Resolution der UN-Generalversammlung zum UN-Weltgipfel von  keine völkerrechtlich bindenden Verpflichtungen. Allerdings nahm kurz danach der UN-Sicherheitsrat in einer seiner neueren grundlegenden Resolutionen zum humanitären Völkerrecht, im Beschluss  vom . April  zum Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten, auf die beiden o. g. §§  und  GA, Distr.: General, . Oktober , Resolution Adopted by the GA, /.  World Summit Outcome, . In: UN Women Watch, http://www.un.org/womenwatch/ods/A-RES---E.pdf (letzter Zugriff: ..).  Simpson, Gerry: Law and Force in the Twenty-first Century. In: Routledge Handbook of International Law. Hg. v. David Armstrong. London [u. a.] , -, hier  f.; Orford, Reading (wie Anm. ), ; Hobe, Einführung (wie Anm. , Einleitung), ; Bothe, Michael: Friedenssicherung und Kriegsrecht. In: Vitzthum/ Proelß, Völkerrecht (wie Anm. ), -.  Stein/von Buttlar, Völkerrecht (wie Anm., Kapitel ), .

439

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

 zur Rechtsvorschrift der Schutzverantwortung ausdrücklich Bezug. Nachdem er zuerst einen Bericht des Generalsekretärs vom . November zum Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten gewürdigt und den vorsätzlichen Angriff auf Zivilisten als eine eindeutige Verletzung des humanitären Völkerrechts verurteilt hatte, bestätigte der UN-Sicherheitsrat mit großem Nachdruck die Bestimmungen der §§  und : The Security Council […] . notes with appreciation the contribution of the Report of the Secretary-General of  November  to its understanding of the issues surrounding the protection of civilians in armed conflict, and takes note of its conclusions; […] . recalls that deliberately targeting civilians and other protected persons as such in situations of armed conflict is a flagrant violation of international humanitarian law, reiterates its condemnation in the strongest terms of such practices, and demands that all parties immediately put an end to such practices; . reaffirms the provisions of paragraphs  and  of the  World Summit Outcome Document regarding the responsibility to protect populations from genocide, war crimes, ethnic cleansing and crimes against humanity. Angesichts der hohen Geltungskraft von Resolutionen des UN-Sicherheitsrats war die Bestätigung der beiden Artikel zur responsibility to protect in der Resolution  für die völkerrechtliche Verankerung des Schutzverantwortungskonzepts von großer Bedeutung und stieß weitere Entwicklungen auf diesem Gebiet an. Im Februar  rief sodann der damalige UN-Generalsekretär Ban KiMoon die Stelle eines UN-Sonderberaters zur Förderung des Rechtsinstituts der Schutzverantwortung ins Leben. Schließlich griff der UN-Sicherheitsrat in seinen zwei Resolutionen vom . Februar  und . März  zu Libyen den Grundsatz der responsibility to protect auf, um friedensstiftende Maßnahmen militärischen Charakters, insbesondere die Einrichtung einer Flugverbotszone über Libyen, zu rechtfertigen. In beiden Beschlüssen unterstrich er die Verantwortung des libyschen Staates, seine Bevölkerung zu schützen, und stellte zugleich die Unfähigkeit der libyschen Behörden fest, dieser Pflicht nachzukommen. In Anbetracht dieser Feststellung beauftragte der Sicherheitsrat die Mitglieder der Vereinten Nationen, »alle notwendigen Maßnahmen zum Schutz von Zivilisten zu treffen«, und erlaubte ausdrücklich die Einrichtung einer Flugverbotszone. Insbesondere sah die Resolution  einen militärischen Eingriff in den Libyen-Konflikt vor, der im Wesentlichen auf dem Konzept der Schutzverantwortung basierte:

 UN, SC, S/RES/ () Adopted by the SC at its th Meeting on  April . In: UN. Official Documents, https://undocs.org/S/RES/() (letzter Zugriff: ..).  Stein/von Buttlar, Völkerrecht (wie Anm., Kapitel ), -.

440

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

The Security Council, recalling its resolution  () of  February , deploring the failure of the Libya authorities to comply with resolution  (), expressing grave concern at the deteriorating situation, the escalation of violence, and the heavy civilian casualties, reiterating the responsibility of the Libyan authorities to protect the Libyan population and reaffirming that parties to armed conflicts bear the primary responsibility to take all feasible steps to ensure the protections of civilians, condemning the gross and systematic violation of human rights, including arbitrary detentions, enforced disappearances, torture and summary executions […], considering that the widespread and systematic attacks currently taking place in the Libyan Arab Jamahiriya against the civilian populations may account to crimes against humanity, […], expressing its determination to ensure the protection of civilians and civilian populated areas and the rapid and unimpeded passage of humanitarian assistance and the safety of humanitarian personnel, […] considering that the establishment of a ban on all flights in the airspace of the Libyan Arab Jamahiriya constitutes an important element for the protection of civilians as well as the safety of the delivery of humanitarian assistance and a decisive step for the cessation of hostilities in Libya, […] determining that the situation in the Libyan Arab Jamahiriya continues to constitute a threat to international peace and security, acting under Chapter VII of the Charter of the UN, […] . Demands the immediate establishment of a cease-fire and a complete end to violence and all attacks against, and abuses of, civilians; […] . Demands that the Libyan authorities comply with their obligations under international law, including international humanitarian law, human rights and refugee law and take all measures to protect civilians and meet their basic needs, and to ensure the rapid and unimpeded passage of humanitarian assistance; Protection of Civilians. . Authorizes Member States that have notified the Secretary-General, acting nationally or through regional organizations or arrangements, and acting in cooperation with the Secretary-General to take all necessary measures, notwithstanding paragraph  of the resolution  (), to protect civilians and civilian populated areas under threat of attack in the Libyan Arab Jamahiriya, including Benghazi, while excluding a foreign occupation force of any form on any part of Libyan territory, and requests the Member States concerned to inform the Secretary-General immediately of the measures they take pursuant to the authorization conferred by this paragraph which shall be immediately reported to the Security Council; […] No Fly Zone. . Decides to establish a ban on all flights in the airspace of the Libyan Arab Jamahiriya in oder to help protect civilians; […] . Authorizes Member States that have notified the Secretary-General and the Secretary-General of the League of Arab States, acting nationally or through regional organizations or arrangements, to take all necessary measures to enforce compliance with the ban on flights imposed by paragraph  above, as necessary, and requests the States concerned in cooperation with the League 441

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

of Arab States to coordinate closely with the Secretary General on the measures they are taking to implement this ban, including by establishing an appropriate mechanism for implementing the provisions of paragraphs  and  above. Bis vor Kurzem hielten die USA als stärkste Militärmacht der Welt an der Vorrangstellung des Menschenrechtsschutzes gegenüber der staatlichen Souveränität, so wie dieses Konzept der Schutzverantwortung ausgelegt ist, fest. So sprach etwa im September  in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung der damalige US-Präsident Barack Obama anlässlich des Syrienkriegs das Thema des »Verhältnisses von Souveränität und Intervention im Falle gravierender Menschenrechtsverletzungen« an. Hierbei betonte er, dass staatliche »Souveränität kein Schutzschild sein darf, hinter dem Tyrannen schamlos Morde begehen« können, und auch »nicht als Entschuldigung dafür herhalten darf, dass die Staatengemeinschaft wegsieht, wenn Leute abgeschlachtet werden«. Zur Bekräftigung seines Arguments berief sich Obama auf die bekanntesten Abschreckungsbeispiele von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord der letzten Jahrzehnte: »Ist die Welt wirklich so machtlos im Angesicht von Ruanda und Srebrenica?« Schließlich bekundete er die Bereitschaft seines Landes, auch in Zukunft gegen massenhafte Gräueltaten auch unter Einsatz militärischer Mittel vorzugehen, und forderte zugleich die Staatengemeinschaft auf, sich diesem Kampf seines Landes gegen gravierende Menschenrechtsverletzungen anzuschließen, da die USA diese Last alleine weder tragen könnten noch wollten. Trotz derartiger Bekundungen von Vertretern einflussreicher Staaten bleibt die Rechtmäßigkeit des Schutzverantwortungsprinzips und insbesondere von selbstermächtigten Interventionen eine unter Völkerrechtlern höchst umstrittene Frage. Aus aktuellen Anlässen, wie z. B. den Konflikten in Libyen und Syrien, wird immer wieder über die Doktrin der responsibility to protect heftig debattiert. Dabei stehen sich im Wesentlichen zwei Lager gegenüber: Auf der einen Seite befinden sich diejenigen, die der Meinung sind, dass im jüngeren Völkerrecht der Schutz elementarer Menschenrechte auf gleicher Höhe in der Hierarchie des zwingenden Völkerrechts (ius cogens) mit den Normen von staatlicher Souveränität, generellem Gewaltverbot und Interventionsverbot stünden. Daraus schöpfen sie Optimismus, dass dem Konzept der Schutzverantwortung, »auch wenn [es] noch jung an Jahren ist, bestimmt ist, sich zu  UN, SC, Dist.: General, . März , Resolution  (), Adopted by the SC at its th Meeting. In: NATO, http://www.nato.int/nato_static/assets/pdf/pdf__ /_-UNSCR-.pdf (letzter Zugriff: ..).  »Obama: Souveränität kein Schutzschild für Tyrannen«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, .., .  Ebd.  Orford, Reading (wie Anm. ), -.

442

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

behaupten« – so etwa  der Innsbrucker Völkerrechtler Peter Hilpold, der seine zuversichtliche Prognose an mehreren Entwicklungsschritten festmacht, die dieses Konzept in den letzten Jahren gemacht hat. Konkret nennt er die besagte »Aufnahme in das Abschlussdokument zum UN-Weltgipfel vom . September ; die offizielle Anerkennung der Schutzverantwortung durch den Sicherheitsrat im Jahr  im Zusammenhang mit dem Schutz von Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten, wobei auch auf die Verantwortung zum Schutz vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verwiesen wird; [sowie] die Bezugnahme auf die Schutzverantwortung in den Resolutionen  und  aus , die auf der Grundlage von Kapitel VII der UN Charta angenommen wurden.« Um ihre Gewissheit über die endgültige Durchsetzung der Doktrin der Schutzverantwortung im Völkerrecht zu untermauern, berufen sich die Verfechter dieser Position auf die rasante Entwicklung des Ansatzes der responsibility to protect von einer humanitären Idee zur Maxime, die das Handen von Regierungen leitet – so beispielsweise Cristina Gabriela Badescu in ihrem  erschienenen Buch: RP [Responsibility to Protect, A. S.] started as an idea in the ICISS report, and was perceived as a concept in the immediate aftermath of the report’s release. It quickly moved to the status of principle close to its adoption at the  World Summit, once states accepted its content and pledged to act in accordance with its recommendations. For a concept originating in a report its normative progress was very impressive. No idea has moved faster in the international arena. September  was the defining moment in RP’s normative trajectory, described by some as a »profound shift in international law« that carried the potential for significant change in the notoriously difficult area of the law on the use of force. The subsequent references to RP in Security Council resolutions also propelled it from the status of a principle to that of an emerging norm. To gain universal respect, as in the case of the norm prohibiting torture, a long normative process is expected. The consolidation of RP through practice versus rhetorical reference is of course needed at this point, but the opinio juris necessary for customary law to be formed already acknowledges that innocent civilians cannot be left to die in the four types of crimes RP addresses. Der Meinung, dass das Konzept der Schutzverantwortung kurz vor dem großen Durchbruch stehe, widersprechen Völkerrechtler, die dem allgemeinen Gewalt Hilpold, Peter: Von der humanitären Intervention zur Schutzverantwortung. In: Die Schutzverantwortung (RP). Ein Paradigmawechsel in der Entwicklung des internationalen Rechts? Hg. v. Peter Hilpold. Leiden , -, hier .  Ebd.  Badescu, Cristina Gabriela: Humanitarian Intervention and the Responsibility to Protect. Security and Human Rights. London [u. a.] , .

443

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

und Interventionsverbot weiterhin den eindeutigen Vorrang gegenüber anderen Grundsätzen im Völkerrecht einräumen. Die umstrittene Norm der responsibility to protect müsse aus ihrer Sicht noch einen langen und steinigen Weg bis zu ihrer Anerkennung als völkerrechtliche Doktrin zurücklegen. Im Gegensatz zu den Befürwortern humanitärer Interventionen sehen ihre Widersacher im NATO-Eingreifen in den Kosovo-Krieg keinen Präzedenzfall, auf den sich Staaten, die das völkerrechtliche Verbot der Intervention in die inneren Angelegenheiten eines Staates verletzen und sich an das allgemeine Gewaltverbot nicht halten, berufen dürfen. Bezeichnend für diese kritische Grundeinstellung gegenüber dem Konzept der Schutzverantwortung sind die Ausführungen der Berliner Völkerrechtlerin Heike Krieger, die sich hinsichtlich der Aufwertung der responsibility to protect zu einer bindenden Rechtsnorm sehr skeptisch zeigt: Ob und wie sich darüber hinaus neue rechtlich verankerte Wege der Friedenssicherung aus dem Konzept der Schutzverantwortung entwickeln lassen, ist höchst umstritten. Hier dient das Konzept zwar als Argument, das auf politischer und institutioneller Ebene Entwicklungen angestoßen hat. Völkerrechtlich hat die Internationale Schutzverantwortung aber bislang keine neuen Rechte oder Pflichten für die UN-Mitgliedstaaten begründet. […] Zwar wird in der Literatur vorgebracht, dass die ständigen Mitglieder ihre Rechtspflichten verletzen würden, wenn sie in einem solchen Fall [von schwersten Menschenrechtsverletzungen] untätig blieben, bzw. ihr Veto ausübten. Diese Annahme setzt aber voraus, dass eine entsprechende Rechtsentwicklung bereits stattgefunden hat. Hierfür ist im Völkerrecht die Praxis der Staaten rechtlich entscheidend. Diese spiegelt bislang jedoch keine solche Rechtsüberzeugung wider. Die UN-Mitgliedstaaten halten die Ausübung des Vetos in solchen Fällen nicht für völkerrechtswidrig. Ebenso wenig sehen sie sich verpflichtet, Maßnahmen nach der UN-Charta zu ergreifen. Schließlich ist auch keine Rechtsregel entstanden, wonach sich die Mitgliedstaaten für berechtigt hielten, ohne Ermächtigung des UN-Sicherheitsrates im Falle eines (drohenden) Vetos militärisch einzugreifen, wenn in einem Staat schwerste Menschenrechtsverletzungen stattfinden. Daran hat auch die NATO-Intervention im Kosovo im Jahr  nichts geändert, die wegen eines drohenden Vetos Chinas und Russlands ohne Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat durchgeführt wurde. Unabhängig davon, ob sich in Zukunft die normative Figur der responsibility to protect als völkerrechtlich voll wirksames Prinzip durchsetzen wird, lässt sich festhalten, dass der ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats erfolgte NATO-Einsatz zum Schutz der kosovarischen Zivilbevölkerung neue völkerrechtliche Debatten über die Vereinbarkeit dreier konstitutioneller Prinzipien der modernen Völkerrechtsordnung, nämlich von Gewaltverbot, staatlicher Souveränität und Men Krieger, Das Konzept (wie Anm. ).

444

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

schenrechtsschutz, angestoßen und Interpretationen bestehenden Rechts beeinflusst hat. Zudem veränderte er die staatliche Praxis dahingehend, dass sich heutzutage intervenierende Staaten stärker als früher auf die moralische Pflicht der internationalen Gemeinschaft berufen, massive Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, und ihr Handeln mit dem Prinzip der Schutzverantwortung rechtfertigen. Die kosovarische Anerkennungsfrage

Nicht nur die militärische Intervention in den Kosovo-Krieg, sondern auch die darauffolgende Sezession des Kosovo von Serbien im Zusammenhang mit dem diesbezüglichen Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (International Court of Justice – ICJ) aus dem Jahr  löste völkerrechtliche Kontroversen aus. Seit  befindet sich der Kosovo unter der Übergangsverwaltungshoheit der Vereinten Nationen (UN Interim Administration Mission in Kosovo – UNMIK) und dem militärischen Schutz einer von der NATO angeführten internationalen Streitkraft (Kosovo Force – KFOR). Die Rechtsgrundlage dafür bildet die  verabschiedete Resolution  des UN-Sicherheitsrats. Durch diese wurde der Kosovo unter Berufung auf Kapitel VII der UN-Charta unter die Überwachung der Vereinten Nationen gestellt: The Security Council [d]etermined to ensure the safety and security of international personnel and the implementation by all concerned of their responsibilities under the present resolution, and acting for these purposes under Chapter VII of the Charter of the UN, . Decides that a political solution to the Kosovo crisis shall be based on the general principles in annex  and as further elaborated in the principles and other required elements in annex ; Welcomes the acceptance by the Federal Republic of Yugoslavia of the principles and other required elements referred to in paragraph  above, and demands the full cooperation of the Federal Republic of Yugoslavia in their rapid implementation; . Demands in particular that the Federal Republic of Yugoslavia put an immediate and verifiable end to violence and repression in Kosovo, and begin and complete verifiable phased withdrawal from Kosovo of all military, police and paramilitary forces according to a rapid timetable, with which the deployment of the international security presence in Kosovo will be synchronized; . Confirms that after the withdrawal an agreed number of Yugoslav and Serb military and police personnel will be permitted to return to Kosovo to perform the functions in accordance with annex ; . Decides on the deployment in Kosovo, under UN auspices, of international civil and security presences, with appropriate equipment and personnel as required, and  Bothe, Friedenssicherung (wie Anm. ), .

445

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

welcomes the agreement of the Federal Republic of Yugoslavia to such presences; . Requests the Secretary-General to appoint, in consultation with the Security Council, a Special Representative to control the implementation of the international civil presence, and further requests the Secretary-General to instruct his Special Representative to coordinate closely with the international security presence to ensure that both presences operate towards the same goals and in a mutually supportive manner; . Authorizes Member States and relevant international organizations to establish the international security presence in Kosovo as set out in point  of annex  with all necessary means to fulfil its responsibilities under paragraph  below. Die kosovarische Unabhängigkeitserklärung vom . Februar  warf angesichts ihrer Ablehnung durch Belgrad die Frage nach der Staatsqualität der sich durch die Sezession von Serbien hervorgegangenen Einheit auf. Aus Gründen der Stabilität der internationalen Ordnung gilt im modernen Völkerrecht als entscheidendes Kriterium für die Anerkennung eines neuen Staates die Voraussetzung der effektiven Herrschaftsgewalt über das beanspruchte Staatsgebiet. Insbesondere in Fällen wie dem kosovarischen, in denen die Sezession gegen den Willen des Vorgängerstaates stattfindet, wird der Voraussetzung der Effektivität eine besonders große Bedeutung beigemessen. Im Fall des Kosovo stellte sich nun die Frage, ob der von Serbien abgespaltene Gebietsteil zum Zeitpunkt seiner Unabhängigkeitserklärung eine effektive und unabhängige Gewalt im Sinne von Staatlichkeit ausübte. Wie bereits erwähnt, lagen seit  die zentralen Entscheidungs- und Aufsichtsbefugnisse bei der UNMIK, insbesondere beim Sonderbeauftragten des Generalsekretärs (Special Representative of the SecretaryGeneral – SRSG). Außerdem war durch die besagte UN-Sicherheitsratsresolution  ausdrücklich festgelegt worden, dass unter der UN-Verwaltungshoheit lediglich die Autonomie des Kosovo gestärkt werden sollte, während eine Entwicklung hin zur Eigenstaatlichkeit ausgeschlossen wurde. In den entsprechenden Passagen hieß es: The Security Council […] . Decides that the main responsibilities of the international civil presence will include: (a) Promoting the establishment, pending a final settlement, of substantial autonomy and self-government in Kosovo, taking full account of annex  and of the Rambouillet accords (S//); […] Annex . Agreement should be reached on the following  UN, SC, Distr. General, S/RES/ (), . Juni , Adopted by the SC at its th meeting on  June . In: NATO. NATO’s Role in Kosovo. Basic Documents, http://www.nato.int/kosovo/docu/ua.htm (letzter Zugriff: ..).  Siehe ausführlicher dazu Kau, Der Staat (wie Anm. ), ; Grimmeiß, Kevin: Sezession und Reaktion. Zur völkerrechtlichen Regelung des Sezessionsvorgangs. Tübingen , -; Grzybowski, Janis: To Be or Not Be: The Ontological Predicament of State Creation in International Law. In: The European Journal of International Law  () , -, hier -.

446

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

principles to move towards a resolution of the Kosovo crisis. […] . A political process towards the establishment of an interim political framework agreement providing for a substantial self-government for Kosovo, taking full account of the Rambouillet accords and the principles of sovereignty and territorial integrity of the Federal Republic of Yugoslavia and the other countries of the region, and the demilitarization of the UCK. Negotiations between the parties for a settlement should not delay or disrupt the establishment of democratic self-governing institutions. Ungeachtet dieser Vorgaben schlug im März  der vom damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan mit einer Vermittlungsmission beauftragte finnische Sondergesandte Martii Ahtisaari einen Plan vor, der einen koordinierten Prozess zur Erlangung der Unabhängigkeit für die Republik Kosovo vorsah, indem nationale Autoritäten unter der Oberaufsicht eines Internationalen Zivilbeauftragten (International Civilian Representative – ICR) sukzessive die Regierungsverantwortung übernehmen sollten. Die Befugnisse dieses Zivilbeauftragten gingen so weit, dass er Gesetze außer Kraft setzen sowie die Ernennung und Entlassung hoheitlicher Funktionsträger verordnen konnte. Außerdem sah der AhtisaariPlan vor, dass eine internationale Truppe unter der Führung der NATO weiterhin im Kosovo stationiert bleibe, um das Land vor äußeren Gefahren zu schützen und die innere Sicherheit zu gewährleisten. Während Annan diesem Plan seine Unterstützung aussprach, lehnte ihn der UN-Sicherheitsrat ab, da er andernfalls eine neue Kapitel VII-Resolution zur Aufhebung der die territoriale Integrität der Republik Jugoslawien garantierenden Resolution  hätte verabschieden müssen. Nichtsdestoweniger nahm im Februar  die Republik Kosovo in ihrer Unabhängigkeitserklärung das von Ahtisaari vorgeschlagene Überwachungsregime an und verankerte sogar den Ahtisaari-Plan in ihrer Verfassung. Dies geschah, indem in Art.  festgelegt wurde, dass »die Vorschriften des umfassenden Vorschlags für die Regelung des Statuts des Kosovo vom . März  den Vorrang gegenüber den anderen gesetzlichen Bestimmungen im Kosovo haben« und dass »die Verfassung, die Gesetze und die anderen Rechtsakte der Republik Kosovo im Einklang mit dem umfassenden Vorschlag für den Kosovo-Status vom . März  interpretiert werden«. Die Anerkennung der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo durch zahlreiche und einflussreiche Staaten, darunter die USA und mehrere EU-Mitglieds Ebd.  Daase, Cindy: Der Superfriedensstifter – Richard Holbrooke und Martii Ahtisaari. Zur Rolle von Mediatoren in Friedens- und Rechtsetzungsprozessen. In: Müller/ Skordos, Leipziger Zugänge (wie Anm. , Einleitung), -, hier .  Ebd.  Die Verfassung der Republik Kosovo, o. D. []. In: Verfassungsgerichtshof Österreich, https://www.vfgh.gv.at/cms/vfgh-kongress/downloads/The_Constitution_of_ the_Republic_of_Kosovo_DEU.pdf (letzter Zugriff: ..).

447

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

staaten, löste unter Politikern und Völkerrechtlern eine kontroverse Debatte aus, »ob durch den Umgang der internationalen Gemeinschaft mit dem Kosovo nicht doch ein völkerrechtlicher Präzedenzfall geschaffen wurde« und ob die »Haltung der Staatengemeinschaft zum Kosovo doch möglicherweise Ausdruck einer Haltung zur Sezession ist, die das normative Spannungsverhältnis von Selbstbestimmung und territorialer Integrität anerkennt und seine Auflösung durch prozessuale Steuerung zu erreichen sucht«. Diese Debatte findet vor dem Hintergrund statt, dass die moderne Anerkennungspraxis der Staaten und das Völkerrecht dem Auseinanderbrechen von Staaten durch gewaltsame Sezession grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen, insbesondere, wenn das Ziel der mit Gewalt durchgesetzten Abspaltung die Errichtung homogen ethnisch, religiös und sprachlich homogener Gemeinschaften ist. Demgemäß hat die internationale Gemeinschaft in den Anfangsjahren der Vereinten Nationen, aber auch während und nach dem Ende des Dekolonisierungsprozesses Sezessionsbestrebungen (außerhalb des Rahmens der Dekolonisation) in der Regel konsequent abgelehnt und entsprechend sanktioniert (z. B. in Katanga, Biafra oder auf Zypern). Die Vereinten Nationen, wie Vernon van Dyke schreibt, würden »sich in eine besonders schwierige Situation bringen, wenn sie das Selbstbestimmungsrecht so interpretierten, dass es Angriffe auf die territoriale Integrität der eigenen Mitgliedsstaaten rechtfertigte oder ganz begünstigte«. Das heutige Selbstbestimmungsrecht ethnischer, religiöser und sprachlicher Gemeinschaften beschränkt sich infolgedessen darauf, Minderheiten eine kulturelle Autonomie innerhalb des bestehendes Staates zu ermöglichen (inneres Selbstbestimmungsrecht); ein Recht auf Sezession lässt sich daraus nicht ableiten. Die UN-Erklärung über die Rechte von Personen, die nationalen oder ethnischen, religiösen und sprachlichen Minderheiten angehören, aus dem Jahr  bestimmte ausdrücklich, dass die den Minderheiten zuerkannten Rechte nicht gegen die Prinzipien der »souveränen Gleichheit, territorialen Integrität und politischen Unabhängigkeit von Staaten« eingesetzt werden dürfen. Diese Einschränkung  Halbach, Uwe/ Richter, Solveig/Schaller, Christian: Kosovo – Sonderfall mit Präzedenzwirkung? Völkerrechtliche und politische Entwicklungen nach dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs. Berlin , .  Röben, Volker: Der völkerrechtliche Rahmen für die Sezession einer Minderheit aus dem Staatsverband: Kosovo als Präzedenzfall? In: Die Friedens-Warte  () , -, hier .  Hümmrich-Welt, Simon: Responsibilty to Rebuild: Verantwortung zum Wiederaufbau von Post-Konflikt-Staaten. Tübingen , ; Stein/von Buttlar, Völkerrecht (wie Anm., Kapitel ), .  Ebd.,  f.  Zit. n. van der Vyver, Johan D.: Sovereignty. In: The Oxford Handbook of International Human Rights Law. Hg. v. Dinah Shelton. Oxford , -, hier .  Kau, Der Staat (wie Anm. ), .  Declaration on the Rights of Persons Belonging to National or Ethnic, Religious and Linguistic Minorities, o. D. []. In: UN Human Rights Office of the High

448

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

wurde in der  verabschiedeten Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarats insofern bestätigt, als Art.  klarstellte, dass die »Bestimmungen dieses Rahmenübereinkommens nicht so auszulegen sind, als gewährten sie das Recht, irgendeine Tätigkeit auszuüben oder irgendeine Handlung vorzunehmen, die den wesentlichen Grundsätzen des Völkerrechts, insbesondere der souveränen Gleichheit, der territorialen Unversehrtheit und der politischen Unabhängigkeit der Staaten, zuwiderläuft«. In Anbetracht der o. g. Restriktionen ist eine Sezession im Völkerrecht nur in drei (Ausnahme-)Fällen vorgesehen: nämlich a) wenn ein freier Wille der Bevölkerung eines Gebiets vorliegt, sich abzuspalten, und dieser Wille anhand einer Volksbefragung festgestellt wird, an der allerdings nicht nur die Bevölkerung des sich abspaltenden Gebiets, sondern auch ein repräsentativer Teil der Gesamtbevölkerung des bestehenden Territorialstaates teilnimmt; b) wenn Staatsgrenzen nach Ende eines militärischen Konflikts in einem Friedensvertrag revidiert werden; und c) wenn die Rechte einer Bevölkerungsgruppe »dauerhaft und schwerwiegend« verletzt werden und ihr ein Autonomiestatus vom »Mutterstaat« verweigert wird, sodass für diese Bevölkerungsgruppe »der Verbleib innerhalb des Staates unzumutbar« sei. Auf Letzteres, nämlich auf die »Unzumutbarkeit, weiterhin Teil Serbiens zu bleiben«, berief sich Pristina in der kosovarischen Unabhängigkeitserklärung von . Die ca.  Staaten, die bis dato die Eigenstaatlichkeit des Kosovo anerkannt hatten, begründeten dies im Wesentlichen damit, dass die kosovarische Souveränität und territoriale Integrität »unabweisbare Fakten« seien. Dabei vermieden sie allerdings sorgsam, »sich ausdrücklich auf die Grundlage dieser Unabhängigkeit – ein mögliches Recht zur Sezession – zu beziehen«. Auf der anderen Seite gibt es außer Serbien mehrere andere Staaten, neben China und Russland auch die EU-Mitgliedsstaaten Spanien, Zypern, Griechenland, Rumänien und die Slowakei, die die Anerkennung des Kosovo weiterhin ausdrücklich ablehnen. Kurz nach der Unabhängigkeitserklärung Pristinas stellte Belgrad im September  bei der UN-Vollversammlung einen Antrag zur völkerrechtlichen Beurteilung der einseitigen kosovarischen Abspaltung durch den ICJ, dem die



     

missioner, http://www.ohchr.org/Documents/Issues/Minorities/Booklet_Minorities_ English.pdf (letzter Zugriff: ..). Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarates, o. D. []. In: Schutz nationaler Minderheiten, https://www.nationale-minderheiten.eu/ rahmenuebereinkommen-zum-schutz-nationaler-minderheiten- (letzter Zugriff: ..). Van der Vyver, Sovereignty (wie Anm. ), . Paech/Stuby, Völkerrecht (wie Anm. , Kap. ), . Stein/von Buttlar (wie Anm. , Einleitung), . Ebd.,  f. Halbach/Richter/Schaller, Kosovo (wie Anm. ), . Kau, Der Staat (wie Anm. ), .

449

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten zustimmte. In seinem am . Juli  veröffentlichten Gutachten vertrat das Gericht die Auffassung, dass die Unabhängigkeitserklärung das allgemeine Völkerrecht und die Resolution  des UN-Sicherheitsrats nicht verletzt habe. Insbesondere was die Resolution  betraf, vertrat die Mehrheit der Richter die Position, dass sich aus dieser kein direktes oder indirektes Verbot für die neun Jahre später erfolgte Unabhängigkeitserklärung ableiten ließe, da sie nur das Übergangsregime regeln, nicht aber den endgültigen Status des Kosovo vorbestimmen sollte: . The Court thus concludes that the object and purpose of resolution  () was to establish a temporary, exceptional legal régime which, save to the extent that it expressly preserved it, superseded the Serbian legal order and which aimed at the stabilization of Kosovo, and that it was designed to do so on an interim basis. […] . The resolution did not contain any provision dealing with the final status of Kosovo or with the conditions for its achievement. In diesem Zusammenhang vertrat der ICJ die Ansicht, dass der UN-Sicherheitsrat in seiner Resolution  bewusst vermieden habe, sich hinsichtlich eines endgültigen Status des Kosovo festzulegen. Um diese Meinung zu untermauern, nahmen die Richter einen Vergleich mit der Resolution  vom . Juni  vor, in der sich der Sicherheitsrat in Bezug auf eine Lösung des Zypern-Konflikts unter der Voraussetzung der Unantastbarkeit der staatlichen Integrität der Republik Zypern unmissverständlich geäußert hatte: . […] In this regard the Court notes that contemporaneous practice of the Security Council shows that in situations where the Security Council has decided to establish restrictive conditions for the permanent status of a territory, those conditions are specified in the relevant resolution. For example, although the factual circumstances differed from the situation in Kosovo, only  days after the adoption of resolution  (), the Security Council, in its resolution  of  June , reaffirmed its position that a »Cyprus settlement must be based on a State of Cyprus with a single sovereignty and international personality and a single citizenship, with its independence and territorial integrity safeguarded« (para. ). The Security Council thus set out  ICJ, Accordance with International Law of the Unilateral Declaration of Indepedence in Kosovo, Advisory Opinion, ... In: ICJ. Cases, https://www.icj-cij.org/ files/case-related//--ADV---EN.pdf (letzter Zugriff: ..).  Seit der türkischen Invasion von  ist die Mittelmeerinsel in die international anerkannte Republik Zypern im Süden und die abtrünnige sogenannte Türkische Republik Nord-Zypern, die ausschließlich von der Türkei anerkannt ist, zweigeteilt. Siehe ausführlicher zu den völkerrechtlichen Dimensionen des Konflikts Constantinides, Aristoteles: The Cyprus Problem in the UN Security Council. In: Austrian Review of International and European Law  (), -.

450

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

the specific conditions relating to the permanent status of Cyprus. By contrast, under the terms of resolution  () the Security Council did not reserve for itself the final determination of the situation in Kosovo and remained silent on the conditions for the final status of Kosovo. Unter Berücksichtigung dieses Vergleichsfalls vertrat der ICJ in seinem KosovoGutachten die Auffassung, dass durch die Unabhängigkeitserklärung Pristinas die UN-Sicherheitsresolution  nicht verletzt worden sei: . The Court accordingly finds that Security Council resolution  () did not bar the authors of the declaration of  February  from issuing a declaration of independence from the Republic of Serbia. Hence, the declaration of independence did not violate Security Council resolution  (). Vier Richter widersprachen dieser Ansicht, indem sie darauf verwiesen, dass die unilaterale Abspaltung gegen jene Bestimmung der Resolution  verstieß, die eine politische Regelung der endgültigen Lösung vorschrieb. Diese hätte nach Meinung der von der Mehrheitsmeinung abweichenden Richter entweder die Übereinkunft der betroffenen Parteien (Mutterstaat und sezedierende Partei) oder eine entsprechende Entscheidung des Sicherheitsrats vorausgesetzt. Des Weiteren sahen sie in der einseitigen Unabhängigkeitserklärung auch insofern einen Verstoß gegen die Resolution , als in letzterer an mehreren Stellen die Souveränität und territoriale Integrität bekräftigt worden seien: . The Court recalls that [the question whether the authors of the declaration of independence acted in violation of Security Council resolution  () or the measures adopted thereunder] has been a matter of controversy in the present proceedings. Some participants to the proceedings have contended that the declaration of independence of  February  was a unilateral attempt to bring to an end the international presence established by Security Council resolution  (), a result which it is said could only be effectuated by a decision of the Security Council itself. It has also been argued that a permanent settlement for Kosovo could only be achieved either by agreement of all parties involved (notably including the consent of the Republic of Serbia) or by a specific Security Council resolution endorsing a specific final status for Kosovo, as provided for in the Guiding Principles of the Contact Group. According to this view, the unilateral action on the part of the authors of the declaration of independence cannot be reconciled with Security Council resolution  () and thus constitutes a violation of that resolution.  Ebd.  Ebd.  Ebd.

451

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

Trotz der vorgebrachten Einwände befand der ICJ mit zehn zu vier Stimmen, dass die kosovarische Unabhängigkeitserklärung vom . Februar  weder die Resolution  noch den Verfassungsrahmen noch das allgemeine Völkerrecht verletzt habe: . The Court has concluded above that the adoption of the declaration of independence of  February  did not violate general international law, Security Council resolution  () or the Constitutional Framework. Consequently, the adoption of that declaration did not violate any applicable rule of international law. Ob dem höchst umstrittenen ICJ-Gutachten zum Kosovo eine Präzedenzwirkung, insbesondere was die Stärkung des Sezessionsrechts betrifft, zukommen wird, ist abzuwarten. Nach mehrheitlicher Meinung in der Forschung spricht allerdings einiges gegen eine solche Entwicklung. Neben der Tatsache, dass selbst Befürworter des ICJ-Rechtspruchs im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, wie z. B. Großbritannien, die Anerkennung der kosovarischen Abspaltung von Serbien als einmaligen, keinerlei Vorbildfunktion für die Zukunft habenden Fall bezeichneten, ist es vor allem die Schwäche der juristischen Aussagekraft des Gutachtens der ICJ, die zu so einer Annahme verleitet. Diese Schwäche wird insbesondere daran festgemacht, dass das Gericht es vermied, Stellung zur Frage der Rechtmäßigkeit der einseitigen Ausübung des äußeren Selbstbestimmungsrechts zu beziehen, und sich weder mit den Rechtsfolgen der Unabhängigkeitserklärung noch mit der Frage der tatsächlichen Staatsqualität des Kosovo befasste. Jessica Almqvist stellte demzufolge  fest, dass der Einfluss des ICJ-Gutachtens bezüglich der kosovarischen Unabhängigkeitserklärung auf die Staatenpraxis bis dato gering blieb: While the Court’s reliance upon a formalistic interpretation of international law might have helped ist judges to find some common ground, it failed to give any helpful legal guidance on matters of recognition. The fact that only one state (Oman) has explicitly referred to the Advisory Opinion of the Court delivered on  July  when recognizing Kosovo is telling of how little significance it has had in guiding states that are studying the matter, or for opposing states to change their minds. The policy of avoidance adopted by

 Ebd.  Halbach/Richter/Schaller, Kosovo (wie Anm. ), .  Ebd., ; Irmscher, Tobias H.: Selbstbestimmungsrecht der Völker. In: Schöbener, Völkerrecht, -, hier ; Kau, Der Staat (wie Anm. ), ; Ntovas, Alexandros: The Paradox of Kosovo’s Parallel Legal Orders in the Reasoning of the Court’s Advisory Opinion. In: Statehood and Self-Determination. Reconciling Tradition and Modernity in International Law. Hg. v. Duncan French. Cambridge , -.

452

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

the Court bolstered the perception that the politics of recognition is the only option for tackling controversial cases. Andere wiederum, die aber eine Minderheitsmeinung in der Forschung vertreten, wie beispielsweise Peter Hilpold, sind vom Gegenteil, nämlich von der großen Bedeutung des Kosovo-Gutachtens des ICJ nicht nur für die Herausbildung einer neuen völkerrechtlichen Haltung zur Sezession, sondern auch für die Bewertung anderer Sachverhalte des internationalen Rechts, überzeugt: Notwithstanding the fact that the Kosovo Opinion has been the subject of much criticism there can be no doubt that this document will exert considerable influence on the interpretation of many questions of International Law and this influence goes much beyond of issues commonly associated firsthand with the Kosovo question.

Rückgängigmachung ethnischer Säuberungen

Neben den oben genannten zahlreichen völkerrechtlichen Anstößen und Impulsen durch das postjugoslawische Kriegsgeschehen bewirkte schließlich das sogenannte Dayton-Abkommen von  zur Beendigung der Kampfhandlungen in Bosnien-Herzegowina einen positiven Paradigmenwechsel im Umgang der internationalen Staatengemeinschaft mit den Folgen ethnisch, religiös oder politisch motivierter Vertreibungen. Auch hier muss zur adäquaten Einschätzung der Bedeutung und des Ausmaßes dieses Paradigmenwechsels zuerst die Vorgeschichte in Betracht gezogen werden. In Kapitel  der vorliegenden Studie wurde gezeigt, wie die Lausanner Konvention von , die einen für die Betroffenen obligatorischen Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei vorschrieb und eine bereits stattgefundene Vertreibung nachträglich rechtlich sanktionierte, zum Vorbild für großangelegte Bevölkerungstransfers in der Zwischenkriegszeit, während des Zweiten Weltkriegs und auch noch in den ersten Nachkriegsjahren geworden war. Die Nachahmer von Eleftherios Venizelos und Kemal Atatürk reichten von Adolf Hitler und Benito Mussolini bis hin zu Edvard Beneš, Winston Churchill, der Jewish Agency und indischen Nationalisten. Letztere griffen noch  auf das »Lausanner Modell« zurück, um in den beiden aus Britisch-Indien hervorgegangenen Staaten Indien und Pakistan ethnoreligiöse Homogenität zu erzeugen.

 Almqvist, Jessica: The Politics of Recognition: The Question about the Final Status of Kosovo. In: ebd., -, hier .  Hilpold, Peter: The Kosovo Opinion of  July : Historical, Political and Legal Pre-Requisites. In: Kosovo and International Law. The ICJ Advisory Opinion of  July . Hg. v. Peter Hilpold. Leiden [u. a.] , -, hier .

453

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

Für die Zeit nach  sind zwei auf rechtlicher und staatlicher Ebene parallel, jedoch in entgegengesetzte Richtungen verlaufende Prozesse festzustellen. Während Nationalstaaten an der Praxis ethno-religiöser Homogenisierung mittels Bevölkerungsumsiedlungen weiterhin festhielten, setzten unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs auf völkerrechtlicher Ebene die ersten Anstrengungen ein, um dieses Phänomen zu unterbinden. So fand etwa im Statut des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals (International Military Tribunal – IMT) eine explizite Verurteilung von Massendeportationen statt. Insbesondere sah Art.  in seinen Absätzen b und c vor, dass die Straftatbestände des Kriegsverbrechens und des Verbrechens gegen die Menschlichkeit auch das Tatbestandselement der Deportation der zivilen Bevölkerung beinhalteten: Article . The Tribunal established by the Agreement referred to Article  hereof for the trial and punishment of the major war criminals of the European Axis countries shall have the power to try and punish persons who, acting in the interests of the European Axis countries, whether as individuals or as members of organizations, committed any of the following crimes. The following acts, or any of them, are crimes coming within the jurisdiction of the Tribunal for which there shall be individual responsibility: (a) Crimes against Peace: namely, planning, preparation, initiation or waging of a war of aggression, or a war in violation of international treaties, agreements or assurances, or participation in a common plan or conspiracy for the accomplishment of any of the foregoing; (b) War Crimes: namely, violations of the laws or customs of war. Such violations shall include, but not be limited to, murder, ill-treatment or deportation to slave labor or for any other purpose of civilian population of or in occupied territory, murder or ill-treatment of prisoners of war or persons on the seas, killing of hostages, plunder of public or private property, wanton destruction of cities, towns or villages, or devastation not justified by military necessity; (c) Crimes against humanity: namely, murder, extermination, enslavement, deportation, and other inhumane acts committed against any civilian population, before or during the war; or persecutions on political, racial or religious grounds in execution of or in connection with any crime within the jurisdiction of the Tribunal, whether or not in violation of the domestic law of the country where perpetrated. Während des Gerichtsprozesses bezeichnete der französische Ankläger Pierre Mounier die von NS-Deutschland vorgenommenen Massendeportationen als einen »Verstoß gegen die internationalen Abkommen«. Hierbei nannte er insbesondere (a) Art.  der Haager Regelungen von , (b) die Gesetze und Gebräuche des Krieges, (c) die allgemeinen, aus den Strafgesetzgebungen der  Charter of the IMT, ... In: Yale Law School. Lillian Goldman Law Library. The Avalon Project – Documents in Law, http://avalon.law.yale.edu/imt/imtconst. asp (letzter Zugriff: ..) [Hervorheb. d. Verf.].

454

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

zivilisierten Staaten resultierenden strafrechtlichen Grundprinzipien, (d) die Strafgesetze der Länder, in denen derartige Verbrechen verübt wurden, und (e) Art.  des IMT-Statuts. Im Urteil des Nürnberger Tribunals wurden mehrere Angeklagte dafür schuldig gesprochen, obligatorische Bevölkerungstransfers und Umsiedlungen durchgeführt zu haben. Vor allem die Evakuierung von über einer Million Polen aus dem Warthegau nach Zentralpolen und die Ansiedlung deutscher Kolonisatoren in den freigeräumten Territorien standen im Mittelpunkt der Anklage. Bemerkenswerterweise hatte, kurz bevor in Nürnberg NS-Größen für Massendeportationen und Bevölkerungsverschiebungen angeklagt und verurteilt wurden, die gewaltsame Evakuierung der deutschen Minderheiten aus Ostmittel- und Südosteuropa stattgefunden. In den darauffolgenden Jahren wurden weitere Schritte zur völkerrechtlichen Verankerung eines generellen Vertreibungsverbots vollzogen, wie etwa die Aufnahme einer entsprechenden Bestimmung in die IV. Genfer Konvention zum Schutz von Zivilisten in Kriegszeiten vom . August . In Art.  wurde ausdrücklich festgelegt, dass Bevölkerungstransfers unter Gewaltandrohung verboten seien, und darüber hinaus ein Rückkehrrecht für umgesiedelte Personen ansatzweise eingeführt: Individual or mass forcible transfers, as well as deportations of protected persons from occupied territory to the territory of the Occupying Power or to that of any other country, occupied or not, are prohibited, regardless of their motive. Nevertheless, the Occupying Power may undertake total or partial evacuation of a given area if the security of the population or imperative military reasons so demand. […] Persons thus evacuated shall be transferred back to their homes as soon as hostilities in the area in question have ceased. Das II. Zusatzprotokoll zu dem Genfer Abkommen über den Schutz der Opfer nicht-internationaler bewaffneter Konflikte vom . August  weitete  dieses Vertreibungsverbot auf den Bereich des innerstaatlichen Krieges aus. Art.  zum Verbot von Zwangsverlegungen bestimmte Folgendes: . Die Verlegung der Zivilbevölkerung darf nicht aus Gründen im Zusammenhang mit dem Konflikt angeordnet werden, sofern dies nicht im Hinblick auf die Sicherheit der betreffenden Bevölkerung oder aus zwingenden militärischen Gründen geboten ist. Muss eine solche Verlegung vorgenommen werden, so sind alle durchführbaren Maßnahmen zu treffen, damit die Zivilbevölkerung am Aufnahmeort befriedigende Bedingungen in Bezug auf Unterbringung, Hygiene, Gesundheit, Sicherheit und Ernährung vorfindet.

   

De Zayas, Ethnic Cleansing (wie Anm. , Kap. ), . Ebd. Vgl. Piskorski, Die Verjagten (wie Anm. , Kap. ), -. Zit. n. de Zayas, Ethnic Cleansing (wie Anm. , Kap. ), .

455

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

. Zivilpersonen dürfen nicht gezwungen werden, ihr eigenes Gebiet aus Gründen zu verlassen, die mit dem Konflikt im Zusammenhang stehen. Trotz dieser und anderer Regelungen blieb die Vertreibung Hauptziel oder Begleiterscheinung zahlreicher militärischer Konflikte in der Zeit des Kalten Krieges. Wie in Kapitel  ausgeführt, mussten nach dem sogenannten UN-Teilungsplan für Palästina (Resolution  der UN-Generalversammlung) und als Folge des israelisch-arabischen Krieges zwischen Dezember  und September  um die . Palästinenser ihre Heimatorte verlassen und Schutz in den Nachbarstaaten suchen. Im Dezember  brachte die UN-Generalversammlung den Wunsch zum Ausdruck, dass den Flüchtlingen die Möglichkeit gegeben werde, »in ihre Heimatorte zurückzukehren und dort mit ihren Nachbarn friedlich zusammenzuleben«. Den Vertriebenen und Geflohenen sollte die Rückkehr unverzüglich ermöglicht werden, während diejenigen von ihnen, die sich entscheiden würden, nicht zurückzukehren, eine Kompensation für ihr verlorenes oder beschädigtes Eigentum erhalten sollten. Für die Vertriebenen hatte diese Bekundung der UN-Generalversammlung keinerlei positive Auswirkungen. Der arabisch-israelische Sechs-Tage-Krieg von  verursachte eine weitere Flüchtlingswelle, von der weitere . Palästinenser betroffen waren. Die Verantwortlichen dafür in Tel Aviv wurden heftiger als  kritisiert, obwohl dieses Mal der israelische Vertreibungsdruck geringer war. Der Vorsitzende des Ministerrats der UdSSR, Alexej Kosygin, warf etwa Israel im UN-Sicherheitsrat vor, Hitler’sche Methoden gegen die palästinensische Bevölkerung anzuwenden. Von Seiten des französischen Präsidenten Charles de Gaulle wurde zudem erneut ein Rückkehrrecht für die Flüchtlinge gefordert. Die Verurteilungen und die Aufrufe blieben allerdings wirkungslos. Eine Massenvertreibung fand auch im Zuge der türkischen Invasion auf Zypern im Juli  statt. Der nördliche Teil der Insel wurde von seinem griechischen Bevölkerungsanteil, der unter Einwirkung von Gewaltandrohung oder auch Gewaltanwendung seitens der türkischen Truppen die Flucht in den Süden ergriff, nahezu komplett gesäubert. In geringerem Maße mussten auch die türkischen Zyprer in die entgegengesetzte Richtung, also von Süden nach Norden, fliehen. Am . November  verabschiedete die UN-Generalversammlung  Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom . August  über den Schutz der Opfer nicht-internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll II). Angenommen in Genf am . Juni . In: Tomuschat, Völkerrecht (wie Anm. , Kap. ), -, hier .  Schwartz, Ethnische »Säuberungen« (wie Anm. , Einleitung), -; Ther, Die dunkle Seite (wie Anm. , Einleitung), -.  De Zayas, Ethnic Cleansing (wie Anm. , Kap. ), .  Ebd.  Schwartz, »Ethnische Säuberungen« (wie Anm. , Einleitung), .  Siehe ausführlicher dazu Skordos, Adamantios Theodor: Ethno-Political Violence in Southeast Europe – The Cyprus Case. In: Austrian Review of International and European Law  (), -.

456

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

Resolution  (XXIX), die die Aufforderung enthielt, dass »alle Flüchtlinge sicher in ihre Heimatorte zurückkehren« und »alle involvierten Parteien dringende Maßnahmen in diese Richtung ergreifen sollen«. Diese Resolution wurde am . Dezember  vom UN-Sicherheitsrat angenommen, der von den Konfliktparteien ihre unverzügliche Implementierung verlangte, allerdings erfolglos. Auf diese ersten Aufrufe der internationalen Gemeinschaft unmittelbar nach der Vertreibung folgten weitere zur Rückkehr der Flüchtlinge in den kommenden Jahren. Am . November  verabschiedete die UN-Generalversammlung angesichts des weiterhin ungelösten Konflikts Resolution  (XXX), in der erneut die Streitparteien aufgefordert wurden, »dringende Maßnahmen zu ergreifen, um die freiwillige Rückkehr aller Flüchtlinge in ihre Heimatorte zu ermöglichen und alle anderen Aspekte des Flüchtlingsproblems zu lösen«.  verlangte erneut die Vollversammlung der Vereinten Nationen in Resolution  »die Ergreifung von dringenden Maßnahmen zur freiwilligen Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimatorte in Sicherheit«. Schließlich sah der  vom damaligen UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali unterbreitete Lösungsplan »Set of Ideas on an Overall Framework Agreement on Cyprus« für alle Vertriebenen ein Recht vor, »in ihre früheren Unterkünfte zurückzukehren oder dafür eine Entschädigung zu beanspruchen«. Trotz dieser wiederholten Bekundungen der Staatengemeinschaft zum Rückkehrrecht der auf Zypern infolge der Ereignisse von  geflohenen und vertriebenen Personen hat es bis heute keinen Durchbruch weder in dieser konkreten Angelegenheit noch in der Frage der Wiedervereinigung der Mittelmeerinsel gegeben. Mit dem Ende des Kalten Krieges trat eine Phase der Eskalation ethnopolitischer Gewalt in Osteuropa und in Afrika ein. Die internationale Gemeinschaft sah sich mit einer neuen Welle ethnischer Säuberungen konfrontiert und versuchte, darauf zu reagieren.  fand bei der UN-Völkerrechtskommission (International Law Commission – ILC) die erste Lesung eines aus  Artikeln bestehenden Entwurfs für ein Strafgesetzbuch der den Frieden und die Sicherheit der Menschheit bedrohenden Verbrechen (Draft Code of Offences against the Peace and Security of Mankind) statt. Die ILC hatte bereits  einen ersten Entwurf dazu ausgearbeitet, der sich aus fünf Artikeln zusammensetzte. Allerdings musste die Fortsetzung der Arbeit daran aufgrund von Meinungsverschiedenheiten bezüglich des Konzepts von Aggression für einen langen Zeitraum unterbrochen werden. Erst  forderte die UN-Generalversammlung die ILC auf, die      

De Zayas, Ethnic Cleansing (wie Anm. , Kap. ), . Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Siehe dazu Entwurf eines Strafgesetzbuches der den Frieden und die Sicherheit der Menschheit bedrohenden Verbrechen (). In: Die Friedens-Warte  (/), -.

457

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

abgebrochenen Arbeiten wieder aufzunehmen und einen neuen Entwurf eines Strafgesetzbuches der den Frieden und die Sicherheit der Menschheit bedrohenden Verbrechen vorzubereiten. Dieser wurde in einer ersten Fassung  vorgelegt und umfasste insgesamt zwölf als Verletzungen oder Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit klassifizierte Straftatbestände. Zwei davon beinhalteten in der Beschreibung des jeweiligen Verstoßes das Tatbestandselement des Bevölkerungstransfers. Insbesondere Art.  führte unter den »systematischen und Massenverletzungen von Menschenrechten« die Tathandlung der »Deportation oder des Zwangstransfers einer Bevölkerung« auf. Im Kommentar der ILC wurde dieses Tatbestandselement wie folgt erläutert: [A] crime of this nature could be committed not only in time of armed conflict, but also in time of peace. […] Deportation, already included in the  Draft Code, implies expulsion from the national territory whereas the forcible transfer of population could occur wholly within the frontier of one and the same State […]. Transfers of population under the draft article means transfers intended for instance, to alter a territory’s demographic composition for political, racial, religious or other reasons, or transfers made in an attempt to uproot a people from their ancestral lands. Art.  schloss wiederum in seinem ersten Absatz die »Deportation oder den Transfer einer Zivilbevölkerung und die Kollektivbestrafung« in den Kriegsverbrechenstatbestand ein. In Abs.  desselben Artikels wurden auch die »Niederlassung von Siedlern in einem okkupierten Gebiet und dessen Veränderung der demographischen Zusammensetzung« als Kriegsverbrechen eingestuft. Auch hier nahm die ILC eine weitere Präzisierung des Tatbestandselements in der Form eines Kommentars vor: It is a crime to establish settlers in an occupied territory and to change the demographic composition of an occupied territory. A number of reasons induced the Commission to include these acts in the draft article. Establishing settlers in an occupied territory constitutes a particularly serious misuse of power, especially since such an act could involve the disguised intent to annex the occupied territory. Changes to the demographic composition of an occu-

 Zit. n. Distr. General, E/CN. /Sub. //, . Juli , Commission on Human Rights, Sub-Commission on Prevention of Discrimination and Protection of Minorities, Forty-fifth session, .-. August , Item  of the Provisional Agenda, The Realization of Economic, Social and Cultural Studies, The Human Rights Dimensions of Population Transfer, Including the Implantation of Settlers, Preliminary Report prepared by Mr. A. S. Al-Khasawneh and Mr. R. Hatano [im Folgenden: AlKhasawneh/Hatano-Report], para. . In: refworld, http://www.refworld.org/ pdfid/bf.pdf (letzter Zugriff: ..).

458

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

pied territory seemed to the Commission to be such a serious act that it could echo the seriousness of genocide. Der ILC-Entwurf des Strafgesetzbuchs der den Frieden und die Sicherheit der Menschheit bedrohenden Verbrechen wurde in seiner endgültigen Fassung  der UN-Vollversammlung zugeleitet. In zwei der insgesamt  Artikel, aus denen sich dieser zusammensetzte, nämlich in Art.  »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« und Art.  »Kriegsverbrechen«, wurden der »gewaltsame Bevölkerungstransfer« und der »rechtswidrige Transfer geschützter Personen« als Verbrechenstatbestandselemente explizit genannt. Im weiteren Verlauf fasste  die UN-Unterkommission zur Prävention von Diskriminierung und Minderheitenschutz den Beschluss, »in ihren zukünftigen Sitzungen auch die Frage der menschenrechtlichen Dimension von Bevölkerungstransfers, einschließlich der Implementierung von Siedlern und Siedlungen, unter dem Themenschwerpunkt ›Die Verwirklichung ökonomischer, sozialer und kultureller Rechte‹ zu behandeln«, um »weitere effektive Aktionen auf diesem Gebiet zu überlegen«. Diese Entscheidung gründete auf der Feststellung, dass »Bevölkerungstransfers die elementaren Menschenrechte und Freiheiten der Betroffenen, einschließlich der ursprünglichen Bewohner, der deportierten Menschen und der Siedler, beeinflussen« würden. In der . Sitzung der Unterkommission, die im August  stattfand, wurden der jordanische Völkerrechtler Awn Shawkat Al-Khasawneh und sein japanischer Kollege Ribot Hatano beauftragt, eine »vorbereitende Studie zur menschenrechtlichen Dimension von Bevölkerungstransfers« auszuarbeiten. Ihr Auftrag lautete im Detail folgendermaßen: [T]o examine, in the preliminary study the policy and practice of population transfer, in the broadest sense, with a view to outlining the issues to be analysed in further reports, in particular the legal and human rights implications of population transfer and the application of existing human rights principles and instruments, and to submit the preliminary study to the Sub-Commission at its forty-fifth session. Der Auftrag erfolgte vor dem Hintergrund der Massenvertreibungen im auseinanderfallenden Jugoslawien. Davon zeugt der im Juli  von den zwei Sonderbeauftragten eingereichte vorläufige Bericht, in dem auf die »besonders zerstörerischen ›ethnischen Säuberungen‹ im ehemaligen Jugoslawien« explizit Bezug  Ebd., para. .  Vgl. Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind with Commentaries, , , . In: UN. Office of Legal Affairs, http://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/commentaries/__.pdf (letzter Zugriff: ..).  Al-Khasawneh/Hatano-Report (wie Anm. ), para. .  Ebd., para. .  Ebd., para. .

459

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

genommen wurde. In ihren Schlussfolgerungen konstatierten Al-Khasawneh und Hatano, dass »disparate Elemente des menschenrechtlichen Völkerrechts ein sich in Entwicklung befindendes Recht anzeigen, das Individuen und Gruppen Schutz vor Bevölkerungstransfers gewährt«. Zudem vertraten sie die Auffassung, dass »sich die kumulativen Regelungen der schon existierenden sowie aufkommenden Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts im Einklang mit einem rechtlichen Verbot der bekanntesten Formen von Bevölkerungstransfers befinden«. Trotzdem gebe es keine rechtliche Norm, die auf globaler Ebene Bevölkerungstransfers als eigenständigen Straftatbestand definiere, und dies obwohl die »meisten Bevölkerungstransfers etablierte Prinzipien der grundlegenden Menschenrechte verletzen« würden. Die Autoren des Berichts plädierten infolgedessen für die Ausarbeitung eines »rechtlichen Instruments« zur Pönalisierung von Bevölkerungstransfers und brachten zugleich ihre Zuversicht zum Ausdruck, dass endlich auch in der Staatengemeinschaft der notwendige politische Wille vorhanden sei, um eine derartige Entwicklung zu initiieren. Ihren diesbezüglichen Optimismus schöpften sie vor allem aus der Reaktion der internationalen Gemeinschaft auf die Ereignisse im zerfallenden Jugoslawien: There is evidence, as in the strong verbal response by the international community to »ethnic cleansing« in the former Yugoslavia and to other longerknown cases of population transfer, of a trend towards wider recognition of both the problems posed by population transfer – as an offence having a character of its own – and the need for legal clarification. Political will to ban the practice and its inherent elements of racism and ethnic targeting is growing and may now be sufficient to move at all levels towards a relevant international legal code. […] . A specific legal instrument should clarify that population transfer is prima facie, unlawful and elaborate the circumstances under which, in exceptional cases, population transfer would be permitted, or even be imperative. Eine weitere wichtige Station auf dem Weg zum Dayton-Abkommen war das zwischen den von den Hutu dominierten Regierungstruppen und der rebellischen Rwandese Patriotic Front (RPF) abgeschlossene Arusha-Friedensabkommen vom . August , das dem zweieinhalb Jahre andauernden Bürgerkrieg in Ruanda ein Ende setzen sollte. Das Abkommen war das Ergebnis einer -monatigen Mediation der tansanischen Regierung in Zusammenarbeit mit der Organisation der Afrikanischen Einheit und den Regierungen Frankreichs, Belgiens und der USA. Einen besonderen Teil dieses Abkommens machte das Pro   

460

Ebd., para. . Ebd., para. . Ebd., para. . Ebd., para. , .

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

tokoll zur Repatriierung der aus Ruanda vertriebenen Tutsi aus (Protocol of Agreement between the Government of the Republic of Rwanda and the Rwandese Patriotic Front on the Repatriation of Rwandese Refugees and the Resettlement of Displaced Persons). Mehrere tausend Tutsi mussten schon in den späten er und frühen er Jahren nach Uganda und Burundi fliehen, um sich vor der mörderischen Gewalt der Hutus zu retten. Aus deren Reihen ging  die besagte RPF hervor, die für eine Rückkehr der Vertriebenen kämpfte. Im besagten Protokoll des Arusha-Friedensabkommens wurden nun den Flüchtlingen ein freiwilliges Rückkehrrecht sowie ein Recht auf Rückerstattung des Eigentums bzw. auf eine entsprechende Entschädigung zugesprochen: Article . The return of Rwandese refugees to their country is an inalienable right and constitutes a factor of peace, national unity, and reconciliation. Article . The return is an act of free will on the part of each refugee. Any Rwandese refugee who wants to go back to this country will do so without any precondition whatsoever. Each person who returns shall be free to settle down in any place of their choice inside the country, so long as they do not encroach upon the rights of other people. […] Art. . The right to property is a fundamental right for all the people of Rwanda. All refugees shall therefore have the right to repossess their property on return. Statt der Umsetzung des Friedensabkommens und der Rückkehr der geflohenen Tutsi folgte bekanntlich der Völkermord an den noch in Ruanda ansässigen Tutsi, der fast einer Million Menschen das Leben kostete, um der Welt noch einmal auf sehr tragische Weise vor Augen zu führen, wie unterschiedlich in Völkerrecht und Staatenpraxis exzessive Vertreibungsgewalt und ihre Folgen immer noch behandelt wurden. Auch im Bosnienkrieg blieben zunächst die Planer und Vollstrecker ethnischer Säuberungsaktionen von den Warnungen der internationalen Gemeinschaft, dass man die Folgen der systematischen Vertreibung der muslimischen Zivilbevölkerung nicht als vollendete Tatsache hinnehmen, sondern diese rückgängig machen würde, unbeeindruckt. Wie bereits weiter oben erwähnt, wurde der bosnisch-serbische Plan der Vertreibung der Nicht-Serben aus dem Territorium der Republika Srpska seit den ersten Kriegsmonaten konsequent in die Tat umgesetzt und kulminierte im Juli  im Massaker von Srebrenica. Noch  Scherrer, Christian P.: Genocide and Crisis in Central Africa: Conflict Roots, Mass Violence, and Regional War. London , -.  Peace Agreement between the Government of the Republic of Rwanda and the Rwandese Patriotic Front, Annex V, Protocol of Agreement between the Government of the Republic of Rwanda and the Rwandese Patriotic Front on the Repatriation of Rwandese Refugees and the Resettlement of Displaced Person, o. D. []. In: UN Peacemaker, Peace Agreements, Database Search, https://peacemaker.un.org/rwanda-protocolrepatriation (letzter Zugriff: ..).  Siehe ausführlicher dazu Calic, Geschichte (wie Anm. , Einleitung), -.

461

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

kurz zuvor hatte der erste UN-Hochkommissar für Menschenrechte, José Ayala Lasso, verkündet, dass »das Recht, von seiner Heimat nicht vertrieben zu werden, ein fundamentales Menschenrecht ist«. Durch das am . November  auf der Luftwaffenbasis Wright-Patterson bei Dayton (Ohio) vereinbarte Allgemeine Rahmenabkommen für Frieden in Bosnien-Herzegowina (General Framework for Peace in Bosnia and Herzegovina) zur Beendigung des dreieinhalbjährigen Krieges auf bosnisch-herzegowinischem Territorium, bekannt als Dayton-Abkommen, fand erstmals eine vertraglich festgelegte Rückgängigmachung ethnischer Säuberungen statt. Mit Anhang  (Agreement on Refugees and Displaced Persons) erhielten Flüchtlinge und Vertriebene ein Recht auf Rückkehr in ihre ursprünglichen Wohnorte sowie ein Recht auf Restitution ihres Eigentums bzw. eine Kompensation für nicht restituierungsfähiges Eigentum: Chapter One: Protection. Article I. Rights of Refugees and Displaced Persons. . All refugees and displaced persons have the right freely to return to their homes of origin. They shall have the right to have restored to them property of which they were deprived in the course of hostilities since  and to be compensated for any property that cannot be restored to them. The early return of refugees and displaced persons is an important objective of the settlement of the conflict in Bosnia and Herzegovina. The parties confirm that they will accept the return of such persons who have left their territory, including those who have been accorded temporary protection by third countries. Hiermit vollzog sich endgültig ein Paradigmenwechsel vom Bevölkerungstransfer zum Vertreibungsverbot, insbesondere was die praktische Umsetzung von bereits kodifizierten Normen betrifft. Das Dayton-Abkommen mit seinen Bestimmungen zur Repatriierung der vertriebenen Bosniaken war eine vor allem an die Planer ethnischer Säuberungsaktionen gerichtete Botschaft, dass die Staatengemeinschaft von nun an die Ergebnisse solcher Taten nicht akzeptieren und sich für die Rückkehr von Vertriebenen und Flüchtlingen stark einsetzen werde. Politiker, Militärs und andere Akteure, die das Ziel der Schaffung ethnisch homogener Staaten mittels massenhafter Vertreibungen verfolgten, sollten nicht mehr davon ausgehen, dass die von ihnen geschaffenen Tatsachen einen dauerhaften Charakter hätten. Zudem machten ICTY und ICTR durch die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen für die ethnischen Säuberungen im zerfallenden Jugoslawien und in Ruanda deutlich, dass von nun an derartige Verbrechen nicht unbestraft blieben. Das Durchsetzungsvermögen des bereits seit dem IV. Genfer Rotkreuz-Abkommen () kodifizierten Vertreibungsverbots bekam somit durch das im Dayton-Abkommen niedergeschriebene und  Zit. n. de Zayas, Ethnic Cleansing (wie Anm. , Kap. ), .  The General Framework Agreement for Peace in Bosnia and Herzegovina, o. D. []. In: OSCE, https://www.osce.org/bih/?download=true (letzter Zugriff: ..).

462

D i e We i te re n t w i c klu n g d e s Vö lke r r e c h t s

anschließend in die Praxis umgesetzte Rückkehrrecht sowie durch die von den beiden Ad-hoc-Tribunalen verhängten Strafen gegen die Akteure ethnischer Säuberungen einen zusätzlichen kräftigen Schub. Dem Dayton-Abkommen folgten weitere Entwicklungen, die den in Staatenpraxis und Völkerstrafrecht stattgefundenen Paradigmenwechsel bestätigten. Im August  veröffentlichte die Unterkommission für Diskriminierungsverhütung und Minderheitenschutz der UN-Menschenrechtskommission einen Bericht zu »Freedom of Movement. Human Rights and Population Transfer«, den der besagte jordanische Völkerrechtler Al-Khasawneh in seiner Funktion als Sonderberichterstatter vorbereitet hatte. Darin wurden erneut Vertreibungsverbot und Rückkehrrecht als neue Handlungsmaximen der internationalen Gemeinschaft anerkannt: The Sub-Commission on Prevention of Discrimination and Protection of Minorities […]. Recognizing the practices of forcible exile, mass expulsion and deportation, population transfer, forcible population exchange, unlawful evacuation, eviction and forcible relocation, ›ethnic cleansing‹ and other forms of forcible displacement of populations within a country or across borders not only deprive the affected populations of their rights to freedom of movement but also threaten the peace and security of States, […] . Welcomes the final report of the Special Rapporteur on the human rights and population transfer and the draft declaration on population transfer and the implantation of settlers annexed thereto, as a first step towards defining the standards and legal norms pertaining to population transfer and the freedom of movement; […] . Affirms the right of persons to be protected from forcible displacement and to remain in peace in their own homes, on their own lands and in their own countries; . Also affirms the right of refugees and internally displaced persons to return voluntarily, in safety and dignity, to their countries of origin or choice, and urges Governments to assist and facilitate such return. Schließlich fand das Vertreibungsverbot in das Statut des ICC Eingang, sodass in dessen Art.  die »Vertreibung oder zwangsweise Überführung der Bevölkerung« zusammen mit der vorsätzlichen Tötung, Ausrottung, Versklavung, Folter und anderen Handlungen zu den Tatbestandsmerkmalen des Verbrechens gegen die Menschlichkeit zählt. Auch in Art. , der sich auf Kriegsverbrechen in internationalen Konflikten bezieht, ist der Vertreibungstatbestand enthalten: Art. . Verbrechen gegen die Menschlichkeit. () Im Sinne dieses Statuts bedeutet ›Verbrechen gegen die Menschlichkeit‹ jede der folgenden Handlun Commission on Human Rights. Sub-Commission on Prevention of Discrimination and Protection of Minorities. Forty-ninth Session. UN ECOSOC. Resolution No. /. th Meeting, . August . Freedom of Movement and Population, Transfers, Resolution /. In: Refugee Survey Quarterly  () , -, hier .

463

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

gen, die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs begangen wird: a) vorsätzliche Tötung; b) Ausrottung; c) Versklavung; d) Vertreibung oder zwangsweise Überführung der Bevölkerung; […] Art. . Kriegsverbrechen. () Der Gerichtshof hat Gerichtsbarkeit in Bezug auf Kriegsverbrechen, insbesondere wenn diese als Teil eines Planes oder einer Politik oder als Teil der Begehung solcher Verbrechen in großem Umfang verübt werden. () Im Sinne dieses Statuts bedeutet ›Kriegsverbrechen‹ a) schwere Verletzungen der Genfer Abkommen vom . August , nämlich jede der folgenden Handlungen gegen die nach dem jeweiligen Genfer Abkommen geschützten Personen oder Güter: i) vorsätzliche Tötung; ii) Folter oder unmenschliche Behandlung einschließlich biologischer Versuche; iii) vorsätzliche Verursachung großer Leiden oder schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der Gesundheit; iv) Zerstörung und Aneignung von Eigentum in großem Ausmaß, die durch militärische Erfordernisse nicht gerechtfertigt sind und rechtswidrig und willkürlich vorgenommen werden; v) Nötigung eines Kriegsgefangenen oder einer anderen geschützten Person zur Dienstleistung in den Streitkräften einer feindlichen Macht; vi) vorsätzlicher Entzug des Rechts eines Kriegsgefangenen oder einer anderen geschützten Person auf ein unparteiisches ordentliches Gerichtsverfahren; vii) rechtswidrige Vertreibung oder Überführung oder rechtswidrige Gefangenhaltung.

Zwischenbilanz

Ziel des letzten Kapitels dieser Studie war, zu zeigen, dass das südosteuropäische Konfliktgeschehen auch am Ende des . Jahrhunderts, im Zuge einer weiteren globalen Umbruchsphase einen prägenden Einfluss auf die Weiterentwicklung von internationaler Staatenpraxis und Völkerrecht nahm. Einleitend wurde festgehalten, dass im Südosteuropa des Kalten Krieges eine graduelle Konfliktentschärfung als Folge der strengen Blockdisziplin eintrat, sodass für diesen Zeitabschnitt wenige bis überhaupt keine direkten oder indirekten Einflussnahmen – im Unterschied zum »langen . Jahrhundert« und zur Zwischenkriegszeit – auf das Völkerrecht zu registrieren sind. Von dieser Feststellung ausgenommen sind die federführende Rolle der SFRJ im Lager der Blockfreien Bewegung sowie die kreativen und innovativen Ansätze der jugoslawischen Völkerrechtslehre vor allem in Abgrenzung zur sowjetischen Prämisse der strikten Trennung zwischen einem »bürgerlichen« und einem »sozialistischen« Völkerrechtssystem. Dazu müssen allerdings noch ausführlichere Untersuchungen vorgenommen werden,  ICC-Statut (wie Anm. ) [Hervorheb. d. Verf.].  Vgl. ausführlicher dazu Trültzsch, Völkerrecht (wie Anm. , Einleitung).

464

Zw i s c h e n b ila nz

die im Rahmen der vorliegenden Studie mit ihrer konkreten Schwerpunktsetzung auf den prägenden Einfluss südosteuropäischer Konflikte auf die Fortentwicklung des Völkerrechts nicht geleistet werden konnten. In einem nächsten Schritt hat in diesem letzten Kapitel eine Erläuterung der Ursachen für die gewaltsame Auflösung der SFFR stattgefunden. In diesem Zusammenhang wurde der Frage nachgegangen, inwiefern die Kriegsführung im zerfallenden Jugoslawien »typische« regionale Merkmale aufwies: die ethnischen Säuberungen, der hohe Anteil paramilitärischer Banden an der Gewalteskalation gegen Zivilisten, die enge Kooperation privater Gewaltakteure und staatlicher Autoritäten und nicht zuletzt die nationalistisch-großexpansionistische Folie, auf der die hauptsächlich gegen die Zivilbevölkerung ausgerichtete Gewalt ausgetragen wurde – all diese Faktoren waren mehrmals bei militärischen Auseinandersetzungen in Südosteuropa in exakt derselben Konstellation wie im zerfallenden Jugoslawien aufgetreten. Zudem wurde gezeigt, dass die postjugoslawischen Kriege bis zu einem gewissen Grad auch in das Muster der »neuen Kriege«, die nach Ende des Ost-West-Konflikts in aller Welt ausbrachen, hineinpassen. Hierin besteht kein Widerspruch zur vorangegangenen Einordnung der Kriege im ehemaligen Jugoslawien in das Modell einer typisierten südosteuropäischen Konfliktstruktur, da zwischen letzterem und dem Archetyp der »neuen Kriege« mehrere Überschneidungen bestehen. Anschließend wurden in Kapitel  die internationalen Rahmenbedingungen dargestellt, die nicht nur den (schon in den frühen er Jahren in Gang gesetzten) Auflösungsprozess in der SFJR beschleunigten, sondern auch die prägende Einwirkung der Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien auf das sich in einer Umbruchsphase befindende Völkerrecht stark begünstigten. Insbesondere war in dieser Hinsicht ausschlaggebend, dass der Menschenrechtsschutz in den er Jahren zur Maxime der Außenpolitik der USA und ihrer Verbündeten avanciert war, ebenso wie es zu einer noch stärkeren Verankerung des internationalen Schutzes der Menschenrechte im Völkerrecht des postbipolaren Zeitalters kam. Einen wichtigen Anteil daran, dass der Einfluss der postugoslawischen Kriege auf die Weiterentwicklung des Völkerrechts größer war als der von anderen kriegsbedingten humanitären Katastrophen, hatten die geographische Lage des ehemaligen Jugoslawien und insbesondere die Befürchtung einer Ausbreitung des Konflikts auf benachbarte Staaten und Regionen. Bei keinem anderen Konflikt der er Jahre engagierten sich die USA, Russland, die EU und die NATO für Konfliktregulierung und Befriedung mehr als im jugoslawischen Fall. Dieses große Interesse spiegelte sich in neuen Ansätzen der Konfliktbewältigung wider, wie etwa in dem der militärischen Humanitätsintervention unter Berufung auf eine Schutzverantwortung der internationalen Staatengemeinschaft. Schließlich wurde im Hauptteil von Kapitel  anhand ausgewählter Fallbeispiele die vielfältige Prägung des Völkerrechts der Gegenwart durch die postjugoslawischen Kriege aufgezeigt. Diese betraf vornehmlich das Völkerstrafrecht, das humanitäre Völkerrecht (Kriegsrecht) und den Bereich der staatlichen Souveränität. Die entscheidenden Weichen für diese starke Einfluss465 https://doi.org/10.5771/9783835346291

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

nahme wurden vom UN-Sicherheitsrat durch die Gründung des Ad-hoc-Tribunals für Jugoslawien gestellt. Auf sein Statut und seine Rechtsprechung sind neue völkerrechtliche Normen sowie die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal Court – ICC) zurückzuführen. Außer den im Hauptteil von Kapitel  ausführlich dargestellten Einflüssen auf die Entwicklung des Völkerstrafrechts und des humanitären Völkerrechts gab es noch weitere, die in den vorangegangenen Kapiteln aus arbeitsökonomischen Gründen nicht besprochen wurden, aber auf jeden Fall hier noch kurz erwähnt werden sollen. Auch diese Einflüsse resultierten, wie so viele andere, aus der Rechtsprechung des ICTY. Im ersten Fall geht es um die Einführung des Kriteriums der »allgemeinen Kontrolle«, um die Verantwortlichkeit eines Staates für die Handlungen nichtstaatlicher Akteure festzulegen. Der ICJ hatte  im Nicaragua-Fall hinsichtlich der Frage, ob die Handlungen der »Contra«-Rebellen den USA als »anweisender« oder »unterstützender« Staat zugerechnet werden können, den Test der »effektiven Kontrolle« entwickelt und angewandt. Dieser Maßstab setzte den Nachweis voraus, dass die »Privaten« von dem betreffenden Staat so abhängig waren und gelenkt wurden, dass man sie mit einem offiziellen Organ dieses Staates gleichsetzen konnte. Darüber hinaus verlangte der vom Gericht angewandte Test der »effektiven Kontrolle«, dass »spezifische Instruktionen durch die offiziellen Staatsorgane« an die nicht-staatlichen Akteure nachgewiesen wurden. Der ICJ vertrat im Nicaragua-Urteil die Meinung, dass im konkreten Fall nicht genügend Beweise vorlagen, um die Behauptung einer wirksamen Kontrolle der USA über die »Contras« mit Fakten zu unterlegen. Die ICTY-Berufungskammer verwarf in ihrem Sachurteil von  den Maßstab der »effektiven Kontrolle« und entwickelte stattdessen den neuen Standard der »allgemeinen Kontrolle« (overall control). Mit diesem wurden bei der Frage der Staatenverantwortlichkeit niedrigere Anforderungen an das Kriterium der Kontrolle gestellt und eine geringere Intensität an Einfluss vorausgesetzt. Für die Zurechnung der Handlungen einer Konfliktpartei an die Adresse des unterstützenden Drittstaats reiche lediglich der Nachweis einer »allgemeinen Kontrolle« über diese bewaffnete Gruppe aus. Auf der Grundlage dieses neuen Maßstabs kam die Berufungskammer zum Schluss, dass die Republik Jugoslawien eine »allgemeine Kontrolle« über die bosnisch-serbischen Einheiten ausübte und aufgrund der nachgewiesenen Belgrader Beteiligung an dem Krieg in BosnienHerzegowina letzterer als internationaler bewaffneter Konflikt eingestuft werden müsse. Für den angeklagten Duško Tadić bedeutete dies, dass seine Tathandlungen in den völkerstrafrechtlichen Regelungsbereich für internationale bewaff Lock, Tobias: Das Verhältnis zwischen dem EuGH und internationalen Gerichten, Tübingen , .  Heinsch, Die Weiterentwicklung (wie Anm. ), .  Ebd.  Gerhard Werle, Völkerstrafrecht. . Aufl. Tübingen , .

466

Zw i s c h e n b ila nz

nete Konflikte fielen. Auch wenn der ICJ in seinem Genozid-Urteil vom . Februar  den neuen, vom ICTY entworfenen Maßstab heftig kritisiert hat, indem er u. a. darauf verwies, dass das Jugoslawien-Tribunal nicht für Fragen der Staatenverantwortlichkeit zuständig sei, wird sowohl von Seiten des ICJ selbst als auch in der Völkerrechtsliteratur die Heranziehung des Kriteriums der »allgemeinen Kontrolle« durch den ICTY zur Feststellung des internationalen oder innerstaatlichen Charakters eines Konflikts als eine besondere Entwicklung im Bereich des humanitären Völkerrechts behandelt. Die zweite, durch die Rechtsprechung des ICTY angestoßene völkerrechtliche Entwicklung, die hier noch genannt werden sollte, betrifft die internationale Ahndung des Terrorismus. Wie in Kapitel  ausgeführt, wurde die herrschende Meinung in der Völkerrechtslehre, wonach der Terrorismus keine selbständige Straftat nach Völkerrecht sei, durch ein  von dem Sondertribunal für den Libanon (STL) gefälltes Urteil, das ein Völkerrechtsverbrechen »Internationaler Terrorismus« begründete, infrage gestellt. Dieser heftig umstrittenen Entscheidung vorausgegangen war  der Fall Galić, in dem der Jugoslawien-Strafgerichtshof »als erstes internationales Gericht eine Person wegen einer terroristischen Straftat verurteilt« hatte. Hierbei hat das ICTY das neue Kriegsverbrechen der »Anwendung oder Androhung von Gewalt mit dem hauptsächlichen Ziel, Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten«, ausgearbeitet bzw. »entdeckt«. Dies geschah, indem es den bosnisch-serbischen General Stanislav Galić, der als Kommandant des Sarajevo-Romanija-Korps die Bombardierung Sarajevos und den gezielten Beschuss von Zivilisten durch Scharfschützen zu verantworten hatte, des Verbrechens einer systematischen Terrorkampagne gegen die Zivilbevölkerung für schuldig erklärte. Dem Urteil zufolge setze sich das Verbrechen des Terrors gegen die Zivilbevölkerung aus drei Elementen zusammen: . Acts of violence directed against the civilian population or individual civilians not taking direct part in hostilities causing death or serious injury to body or health within the civilian population. . The offender willfully made the civilian population or individual civilians not taking direct part in hostilities the object of those acts of violence. . The above offence was committed with the primary purpose of spreading terror among the civilian population.  Lock, Das Verhältnis (wie Anm. ), -; Hobe, Einführung (wie Anm. , Einleitung), .  Jeßberger, Zur Rolle des Internationalen Strafgerichtshofes (wie Anm. , Kap. ), .  Glasius, Marlies: Terror, Terrorizing, Terrorism: Instilling Fear as a Crime in the Cases of Radovan Karadzic and Charles Taylor. In: Narratives of Justice in and out of the Courtroom: Former Yugoslavia and Beyon. Hg. v. Dubravka Zarkov und Marlies Glasius. Heidelberg [u. a.] , -, hier .  ICTY, Case No. IT---T, . Dezember , Prosecutor v. Stanislav Galić, para. . In: ICTY. Cases, http://www.icty.org/x/cases/galic/tjug/en/gal-tje.pdf (.. ).

467

D i e p o s tju g o s law i s c h e n K ri e g e

Nach Auffassung der Mehrheit der Richter ergab sich auf dieser Grundlage eine individuelle Verantwortlichkeit für Verstöße gegen Art.  Abs.  Satz  Zusatzprotokoll I. Die gerade genannten Fallbeispiele wurden nicht zufällig für diesen das Kapitel  abschließenden »Zwischenbilanz«-Teil aufgehoben. An ihnen kann man noch einmal sehr gut einige Faktoren ausmachen, die dafür ausschlaggebend waren, dass sich das Konfliktgeschehen im ehemaligen Jugoslawien dermaßen prägend auf das humanitäre Völkerrecht und das Völkerstrafrecht auswirkten. Die postjugoslawischen Kriege stellten in völkerrechtlicher Hinsicht insofern eine besondere Herausforderung dar, als sie eine gemischt innerstaatlich-internationale Natur aufwiesen. Hierin unterschieden sie sich von anderen »neuen Kriegen« des frühen postbipolaren Zeitalters, die in ihrer Auslegung eindeutig interne bewaffnete Konflikte waren. Die Auflösung der föderalen Struktur der SFRJ unter Anwendung des uti possidetis-Grundsatzes führte indes zur Gründung neuer, untereinander verfeindeter Staaten, sodass die militärische Auseinandersetzung auch durch Komponenten eines internationalen Konflikts geprägt war. Zur Aburteilung von Verbrechen, die im Kontext dieser hybriden Situation verübt wurden, sah sich das ICTY veranlasst, von bestehenden Grundsätzen, wie etwa der strikten Trennung der Regelungsbereiche für internationale und nichtinternationale bewaffnete Konflikte, abzuweichen und neue Normen, wie etwa die der »allgemeinen Kontrolle«, zu entwickeln. Wie der besagte Fall des vom ICTY wegen der gezielten Terrorisierung der Zivilbevölkerung Sarajevos verurteilten Stanislav Galić noch einmal sehr anschaulich demonstriert, befanden sich bei den postjugoslawischen Kriegen im Zentrum der militärischen Auseinandersetzung nicht die Soldaten, sondern die Zivilisten, gegen die eine geplante und systematische Vertreibungsgewalt eingesetzt wurde. Es waren diese Prioritätensetzung der politischen und militärischen Strategen sowie das fehlende staatliche Gewaltmonopol in großen Teilen des zerfallenden Jugoslawien, die zur Formierung von paramilitärischen Einheiten führten. Diese privaten Gewaltakteure, die mit Spezialkräften der regulären Armeen eng kooperierten, übernahmen die Aufgabe der Säuberung des umkämpften Territoriums von unerwünschten Bevölkerungsteilen. Vor diesem Hintergrund werden die postjugoslawischen Kriege als Beispiel für die so genannten »neuen Kriege« des postbipolaren Zeitalters angeführt. Hauptmerkmal dieser »neuen Kriege« ist, dass sie »die Zivilbevölkerung in die Kampfhandlungen hineinziehen, indem sie diese als Deckung und logistisches Rückgrat benutzen oder eben diese Zivilbevölkerung zum Hauptziel ihrer Angriffe machen«. Wie bei den postjugoslawischen Kriegen ist auch bei anderen Kriegen dieses neuen Typus zu beobachten, »dass sich die klassische Trennlinie zwischen Staaten- und  Keber, Der Begriff (wie Anm. , Einleitung), .  Münkler, Herfried: Die neuen Kriege. Kriege haben ihre Gestalt fundamental verändert. In: Der Bürger im Staat  () , -, hier .

468

Zw i s c h e n b ila nz

Bürgerkrieg, zwischenstaatlichen Kriegen und mit Gewalt ausgetragenen innerstaatlichen Konflikten aufgelöst hat und beide Kriegstypen zunehmend diffundieren«. Bemerkenswerterweise kann das Konfliktgeschehen im ehemaligen Jugoslawien aufgrund seiner Erscheinungsform nicht nur dem Archetyp der »neuen Kriege« zugeordnet, sondern auch in das südosteuropäische Konfliktgeschehen des . und . Jahrhunderts eingeordnet werden.

 Ebd.

469

Schlussbemerkungen Diese Studie zielte darauf ab, eine Forschungslücke in den Disziplinen der südosteuropäischen Geschichte und der Völkerrechtsgeschichte zu schließen und die Weichen für zukünftige Untersuchungen auf dem Gebiet der geschichtsregionalen Völkerrechtsforschung zu stellen. Hierbei fokussierte sie auf a) Südosteuropa als historische Teilregion bzw. Meso-Region des östlichen Europa, b) auf die Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft auf Krisen in dieser im Inneren wie von außen stark umkämpften Region, c) auf die dadurch angestoßenen völkerrechtlichen Neuerungen, d) auf die Beteiligung südosteuropäischer Akteure daran und schließlich e) auf außerregionale Bedingungen globaler Reichweite, die den Prägungsprozess mitbestimmten und begünstigten. Die Frage nach dem Einfluss des Konfliktgeschehens im modernen Südosteuropa auf die Weiterentwicklung des Völkerrechts war in der südosteuropäischen Geschichtsschreibung bis dato noch nicht gestellt worden. Zwar haben sich zahlreiche Arbeiten, deren Schwerpunkt vornehmlich auf der Geschichte der internationalen Beziehungen lag, mit der Interessenpolitik der europäischen Großmächte in der Orientalischen Frage oder den Positionierungen der südosteuropäischen Staaten im Völkerbund auseinandergesetzt; dennoch blieb in diesen Analysen die völkerrechtliche Dimension unterbelichtet, bestenfalls fand eine kurze Erwähnung der völkerrechtlichen Bedeutung einzelner Ereignisse statt. Völkerrechtliche und völkerrechtshistorische Studien wiederum setzten sich mit neuen Normen und Doktrinen, die durch südosteuropäische Konflikte (mit-)angestoßen wurden, eingehend auseinander, ließen aber den geschichtsregionalen Kontext weitgehend unbeachtet. In der vorliegenden Studie wurde erstmals der Versuch unternommen, zwischen den beiden disziplinären Schwerpunktsetzungen Brücken zu schlagen und zudem die Erklärungsansätze, was Ausgestaltung und Wirkungsweise des südosteuropäischen Konfliktgeschehens auf das Völkerrecht betrifft, um globalhistorische Überlegungen zu erweitern. Denn bei dieser Arbeit war nicht nur das Aufzeigen der Auswirkungen südosteuropäischer Konfliktlagen auf den Verrechtlichungsprozess der internationalen Beziehungen grundlegend, sondern auch das Wie und das Warum dieser Prägungsgeschichte zu beleuchten. Um dieser vielseitigen Aufgabe gerecht zu werden, bedurfte es einer sich auf zwei Jahrhunderte erstreckenden zeitlichen Tiefe

 Bei der Einordnung Südosteuropas als eine der vier großen Regionen des östlichen Europa neben Ostmitteleuropa, Nordosteuropa und Russland wird dem Teilungsvorschlag von Klaus Zernack gefolgt. Zernack, Klaus: Osteuropa. Eine Einführung in seine Geschichte. München .  Am eindeutigsten macht das Marie-Janine Calic in ihrer globalhistorisch angelegten Geschichte Südosteuropas; Calic, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung),  f.

470

S c hlu s s b e m e r ku n g e n

und einer entsprechenden thematischen Breite bei der Auswahl der fünf Fallbeispiele. In Kapitel  wurde für den in der Südosteuropa-Forschung gut untersuchten Themenkomplex der Orientalischen Frage erstmals eine kombiniert global- und völkerrechtshistorische Perspektive angewandt. Hierbei konnte gezeigt werden, dass die mehrmaligen Interventionen der europäischen Großmächte in das südosteuropäische Konfliktgeschehen nicht nur die Folge konkurrierender geopolitischer Interessen, sondern auch das Ergebnis des zeitgleichen Auftretens eines starken Humanitarismus auf internationaler Ebene war, dessen Vertreter und Anhänger zu einem Eingreifen in die humanitären Notlagen Südosteuropas drängten. In diesem Zusammenhang wurde die zentrale Bedeutung des in der Mitte des . Jahrhunderts eingesetzten Prozesses der Institutionalisierung des Völkerrechts zu einer wissenschaftlichen Disziplin inter- und transnationaler Ausrichtung für die Entwicklung des südosteuropäischen Konfliktgeschehens zum Ausgangspunkt neuer Doktrinen und Instrumente der Krisenbewältigung ausgearbeitet. Die Untersuchung der Abhandlungen bekannter zeitgenössischer Völkerrechtler ergab, dass sich die von den Großmächten eingesetzten Mittel zur Befriedung Südosteuropas aufgrund ihres innovativen Charakters in der Völkerrechtslehre dieser Zeit niederschlugen und in die Standardwerke von Henry Wheaton, Thomas Joseph Lawrence, John Westlake, Franz von Liszt, August von Bulmerincq, Franz von Holtzendorff, Johan Caspar Bluntschli und anderer Rechtsgelehrter Eingang fanden. Vor allem die Militärintervention der Großmächte in den griechischen Unabhängigkeitskrieg zugunsten der aufständischen Griechen unter Berufung auf humanitäre Gründe veranlasste mehrere Völkerrechtler dazu, vom Grundprinzip des strikten Interventionsverbots abzugehen und erstmals Ausnahmen in diesem Bereich zu formulieren. Während Wheaton, Oppenheim oder August Wilhelm Heffter die Intervention mit militärischen Mitteln im Namen der Humanität und unter der Voraussetzung, dass eine der beiden Kriegsparteien einen Hilferuf an Drittstaaten richtet, für rechtmäßig hielten, nahmen andere Rechtsgelehrte, wie etwa Emanuel von Ullmann, die Position ein, dass eine Militärintervention dann legitim sei, wenn von der militärischen Auseinandersetzung eine Gefahr für andere, am Konfliktgeschehen nicht beteiligte Staaten ausgehe. Bemerkenswerterweise ist diese Position dem Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen über »Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen« sehr nahe. Die russische Kriegserklärung von  gegen die Hohe Pforte veranlasste neue Debatten in den völkerrechtlichen Kreisen dieser Zeit hinsichtlich der Legitimität derartiger Militärinterventionen. Profilierte Völkerrechtler wie etwa Gustave Rolin-Jaequemyns, Aegidius Arntz, der besagte Bluntschli und Fëdor Fëdorovič Martens vertraten erneut die Position, dass militärische Interventionen, die im Namen der Humanität und der Bewahrung des Weltfriedens stattfänden, rechtmäßig seien, wobei in ihren Überlegungen die »Zivilisiertheit« bzw. das Religionsbekenntnis der Bedrohten implizit oder explizit eine wichtige Rolle spielten. 471

S c hlu s s b e m e r ku n g e n

Im Weiteren fanden das Osmanische Reich und insbesondere die Orientalische Frage in der zeitgenössischen Völkerrechtstheorie auch durch die Rechtsfigur der Suzeränität als eine besondere Form innerhalb der übergeordneten Kategorie der staatlichen Halbsouveränität ihren Niederschlag. In den Abhandlungen und Handbüchern des . Jahrhunderts wird die Suzeränität nahezu ausschließlich mit den christlichen tributpflichtigen Fürstentümern im osmanischen Südosteuropa in Verbindung gebracht. Ihre Besonderheit gegenüber anderen Modellen der eingeschränkten Souveränität lag nach der Ansicht von Völkerrechtlern wie Emanuel von Ullmann, Thomas Joseph Lawrence, Franz von Liszt oder Miloš Bogićević vor allem darin, dass die Suzeränität in den südosteuropäischen Fällen (Walachei, Moldau, Bulgarien, Kreta) dem »Unterstaat« einen relativ hohen Grad an innerer Autonomie vom »Oberstaat« gewährte, was wiederum die Folge der Tatsache war, dass der suzeräne Status südosteuropäischer Gebiete des Osmanischen Reiches Konstantinopel (Istanbul) von den europäischen Großmächten auferlegt worden war und infolgedessen auch unter deren Schutz stand. An diesem Beispiel sowie an jenem der Behandlung der Militärinterventionen in den zeitgenössischen Rechtsanalysen ist ein im . Jahrhundert eingeschlagener Richtungswechsel in der Völkerrechtstheorie, insbesondere was das Gewohnheitsrecht betrifft, gut zu erkennen: Theoretiker dieser Zeit, die dem neuen positivistisch ausgerichteten Völkerrecht verhaftet waren, leiteten völkergewohnheitsrechtliche Prinzipien und Regeln zusehends von der Beobachtung der staatlichen und nationalen Praxis und nicht mehr wie zuvor von dem »göttlichen Willen« oder dem allgemeinen System der Natur ab. Während im ersten Kapitel der Fokus zu einem großen Teil auf der sich im . Jahrhundert in einem Umbruchs- und Institutionalisierungsprozess befindenden Völkerrechtswissenschaft lag, sodass mehrere zeitgenössische Abhandlungen und Handbücher, vor allem völkerrechtliche Standardwerke, als Primärquellen herangezogen wurden, ging es in Kapitel  um die normsetzende Rechtsprechung des  auf der Grundlage der Satzung des Völkerbunds errichteten Ständigen Internationalen Gerichtshofs (Permanent Court of International Justice – PCIJ) zu etlichen südosteuropäischen Streitfällen. Dementsprechend stellten in diesem Kapitel die südosteuropabezogenen Urteile und Gutachten (»advisory opinions«) des PCIJ die Primärquellen für die Analyse dar. Hierbei ging es insbesondere um drei Stellungnahmen des »Weltgerichts«, die für die Entwicklung des völkerrechtlichen Minderheitenschutzes von wegweisender Bedeutung waren und aus diesem Grund auch in der heutigen Völkerrechtsliteratur stark rezipiert werden. Die erstaunliche Innovationskraft dieser Gutachten lag darin, dass ihre Verfasser im Sinne eines effektiven Minderheitenschutzes von einem positivistischen Minderheitenverständnis abgingen und stattdessen das tatsächliche Vorhandensein der distinktiven Merkmale einer minoritären  Kleinschmidt, Harald: Geschichte des Völkerrechts in Krieg und Frieden. Tübingen , .

472

S c hlu s s b e m e r ku n g e n

Gruppe und deren Fortbestand für ausschlaggebend erklärten. In einem zweiten Schritt wurden die Weichen für das heutige Minderheitenschutzsystem gestellt, indem die PCIJ-Richter im Fall Minority Schools in Albania bestimmten, dass für einen effektiven Minderheitenschutz die rechtliche Gleichstellung von Titularnation und Minderheit nicht ausreiche, sondern der Grundsatz der positiven Diskriminierung der Minderheitenangehörigen gegenüber der Mehrheitsbevölkerung eingeführt werden müsse. Bemerkenswerterweise wird in der Geschichtsschreibung die Rechtsprechung des PCIJ nahezu komplett ignoriert, wenn das im Rahmen des Völkerbunds errichtete Minderheitenschutzsystem als ineffektiv bewertet und für gescheitert erklärt wird. Auf der anderen Seite unterstreichen die Völkerrechtler die herausragende Bedeutung dieser normsetzenden Gutachten des PCIJ für die Entwicklung des Minderheitenschutzes, lassen jedoch sowohl ihre regionale Verortung als auch den historischen Kontext unberücksichtigt. Im zweiten Kapitel dieser Studie wurde hieran angeknüpft und die Rechtsprechung des PCIJ im besagten Fall Minority Schools in Albania sowie in den weiteren zwei Streitfällen Exchange of Greek and Turkish Populations und The Greco-Bulgarian »Communities« in den geschichtsregionalen Rahmen der südosteuropäischen Konfliktgeschichte gesetzt. Bei den Differenzen, die Athen mit Albanien, Bulgarien und der Türkei vor Gericht ausgefochten hat, ging es letztendlich um die Situation der griechischen Minderheiten in den drei Nachbarstaaten. Diese waren im Zuge der im »langen« . Jahrhundert ganz Südosteuropa erfassenden ethnonationalen Homogenisierungswelle unter einen enormen Aussiedlungsdruck geraten, auch weil der griechische »Mutterstaat« hinsichtlich der auf seinem Territorium lebenden albanisch-muslimischen, türkischen und südslawischen Minderheiten ähnliche Ziele verfolgte. Die ausführliche Besprechung der drei besagten Gutachten des PCIJ zeigte die zentrale Rolle des griechischen Völkerrechtlers und Diplomaten Nikolaos Politis bei der Vorbereitung und Vertretung der Positionen Athens vor Gericht auf. Der auf der Insel Korfu geborene und in Paris ausgebildete Rechtsgelehrte war im Völkerbund bestens vernetzt und genoss aufgrund seiner Bemühungen zur Entwicklung eines völkerrechtlichen Gewaltverbots –  entwarf er gemeinsam mit dem tschechoslowakischen Politiker Edvard Beneš den Entwurf des Genfer Protokolls zur friedlichen Beilegung internationaler Streitigkeiten – internationales Renommee nicht nur in diplomatischen und völkerrechtlichen Kreisen, sondern auch bei den Pazifisten. Die von der griechischen Regierung verfolgte Strategie der Internationalisierung der Streitigkeiten mit den Nachbarstaaten ging zu einem erheblichen Teil auf Politis zurück, der in der zunehmenden Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen eine Möglichkeit zur friedlichen Beilegung von Konflikten, aber auch zur Durchsetzung der Interessen des nach dem in  Vgl. z. B. Stang, Fredrik: Presentation of Ferdinand Buisson and Ludwig Quidde. In: Nobel Lectures in Peace (-). Including Presentation, Speeches and Laureates’ Biographies. Hg. v. Frederick W. Haberman. Singapur , -, hier .

473

S c hlu s s b e m e r ku n g e n

Kleinasien verlorenen Krieges militärisch und ökonomisch geschwächten Griechenlands in der Region sah. Des Weiteren konnte im zweiten Kapitel der vorliegenden Studie aufgrund der Fokussierung auf Südosteuropa eine aus völkerrechtshistorischer Sicht wichtige Präzisierung bezüglich des innovativen Charakters des im Rahmen des Völkerbunds errichteten Minderheitenschutzsystems der Zwischenkriegszeit vorgenommen werden. In der Forschung wird der  in Paris vorgenommenen Verknüpfung der internationalen Anerkennung der neuen Staaten Ostmittelund Südosteuropas (Polen, Tschechoslowakei, Jugoslawien) bzw. der territorialen Vergrößerung bereits bestehender Staaten in der Region (Rumänien, Griechenland) bzw. der Aufnahme neuer Staaten in den Völkerbund (Albanien) mit der Übernahme von vertraglichen Minderheitenverpflichtungen eine Präzedenzwirkung attestiert. Allerdings war dieser minderheitenbezogene Grundsatz der Konditionalität, wie in Kapitel  dieser Arbeit gezeigt wurde, schon im Berliner Friedensvertrag von  eingeführt worden, und zwar bei der Anerkennung Rumäniens und Serbiens als unabhängige Staaten und bei der territorialen Vergrößerung Griechenlands. In Paris wurde also  kein neuer Präzedenzfall geschaffen, sondern ein bereits früher auf Südosteuropa angewandtes Prinzip bestätigt und auf das östliche Mitteleuropa ausgeweitet. Für diese und andere ähnliche Entwicklungen war der durch den Völkerbund geschaffene neue internationale Rahmen die grundlegende Voraussetzung. In Kapitel , das sich der Konvention von Lausanne zum griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch von  und ihren Auswirkungen auf die Staatenpraxis widmete, wurde der »komplementäre« Teil zum Minderheitenschutzsystem des Völkerbunds dargestellt. Paradoxerweise kam dieser Vertragstext, der nicht dem Schutz einer Minderheit, sondern der ethnoreligiösen Homogenisierung zweier südosteuropäischer Nationalstaaten diente, ebenfalls unter der Ägide des Völkerbunds zustande. Der in Lausanne ausgehandelte obligatorische Bevölkerungsaustausch zwischen den beiden Seiten der Ägäis stellte nicht, wie häufig irrtümlich behauptet wird, eine radikale Abkehr von dem kurz zuvor installierten Minderheitenschutzsystem in der östlichen Hälfte Europas, sondern die Kehrseite derselben Medaille dar. Denn die Minderheitenverträge waren nicht der Intention der Erhaltung der ethnisch-religiösen Pluralität im postimperialen Osteuropa geschuldet, sondern sollten aus Sicht der internationalen Gemeinschaft, wie auch die Bevölkerungstransfers, vor allem zur Konfliktdeeskalation und Befriedung Ostmittel- und Südosteuropas beitragen. Ganz in diesem Sinne hatte man bereits  bei den Pariser Friedensverhandlungen einen Bevölkerungsaustausch zwischen Bulgarien und Griechenland vereinbart, der zwar für die betroffenen Bulgaren und Griechen fakultativ sein sollte, in der Praxis dennoch die Erhöhung des Aussiedlungsdrucks Athens und Sofias auf die jeweilige unbeliebte Minderheit bewirkte. Die Lausanner Konvention war bis dato Gegenstand mehrerer historisch angelegter Studien, welche die griechischtürkische Vereinbarung an den Anfang einer europäischen Geschichte von 474

S c hlu s s b e m e r ku n g e n

nischen Säuberungen und staatlich organisierten Bevölkerungstransfers im . Jahrhundert setzten, aber ihre »komplementäre« Dimension zu dem Minderheitenschutzsystem der Zwischenkriegszeit außer Acht ließen. In der vorliegenden Arbeit wurde unter Berücksichtigung auch dieses Aspekts eine neue Akzentuierung vorgenommen, indem die Frage nach den Urhebern dieses Vertrags und die Vorbildfunktion des Lausanner Abkommens für ethnonationale Homogenisierungspläne in Ostmitteleuropa, im Nahen Osten und in Asien in den Mittelpunkt der Analyse rückten. Die aus griechischen Quellen eindeutig hervorgehende, aber in der internationalen Literatur weitgehend ignorierte Erkenntnis, dass die Idee der zwischenstaatlich vereinbarten gegenseitigen Umsiedlung ethnoreligiöser Minderheiten nicht nur  in Lausanne, sondern auch  in London und  in Paris auf den liberalen Ministerpräsidenten Griechenlands und glühenden Nationalirredentisten Eleftherios Venizelos zurückzuführen ist, ist in vielerlei Hinsicht von großer Bedeutung: Zum einen wird daran erkennbar, dass den südosteuropäischen Staaten nach der Gründung des Völkerbunds ein größerer Handlungsspielraum als noch im . Jahrhundert zur Verfügung stand, Entwicklungen aus eigener Initiative anzustoßen. Zum anderen lässt insbesondere das Beispiel von Politis (wie auch das des Rumänen Vespasian Pella in Kapitel ) folgern, dass die heutzutage in völkerrechtshistorischen Arbeiten als große Internationalisten, Pazifisten, Humanisten und Kosmopoliten gefeierten Völkerrechtler des »langen« . Jahrhunderts und der Zwischenkriegszeit neben einer transnationalen auch eine nationale Agenda verfolgten. So bereitete etwa Politis im Auftrag seiner Regierung Vertragsentwürfe zur grenzüberschreitenden Umsiedlung von Minderheiten mit dem Ziel der Förderung der ethnonationalen Homogenisierung Griechenlands vor und verteidigte die Rechte griechischer Minderheitenangehöriger in »feindlichen« Nachbarstaaten. Auf der anderen Seite entfaltete er eine beachtliche Tätigkeit als Vorreiter der im Völkerbund und in transnationalen Völkerrechtskreisen erfolgten Bemühungen bezüglich Abrüstung und friedlicher Beilegung von Konflikten. Auch aus dem vierten Kapitel dieser Studie geht hervor, dass in der Zwischenkriegszeit der südosteuropäische Einfluss auf die Weiterentwicklung von staatlicher Praxis und Völkerrecht eine »zweidimensionale« Form annahm, nämlich einmal als direkte Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft auf einen Konflikt in Südosteuropa sowie zum anderen als Beitrag von Staaten und einzelnen Akteuren aus der Region zur Formulierung neuer völkerrechtlicher Konzepte und Normen. Dieses Mal war es der terroristische Anschlag kroatischer und makedonischer Separatisten auf den jugoslawischen König Alexander I. Karađorđević in Marseille , der die internationale Staatengemeinschaft in Gestalt des Völkerbunds veranlasste, dem seit Ende des . Jahrhunderts stark gewachsenen Problem des ethnonational und politisch motivierten Terrorismus mit der Einrichtung einer Völkerbundkommission zur Terrorismusbekämpfung und der Verabschiedung einer Anti-Terrorismus-Konvention  entgegenzutreten. Südosteuropäische Staaten, die seit den frühen er Jahren vorwiegend 475

S c hlu s s b e m e r ku n g e n

in ihren Grenzregionen mit dem Problem von Angriffen paramilitärischer Gruppierungen auf staatliche Einrichtungen konfrontiert waren, insbesondere Rumänien und Jugoslawien, waren schon früher auf dem Gebiet der internationalen Terrorismusbekämpfung aktiv geworden, konnten sich allerdings mit ihrer Forderung nach einem koordinierten und völkerrechtlich sanktionierten Vorgehen der Staatengemeinschaft nicht durchsetzen. Parallel dazu hatten Experten aus der Region, vor allem die beiden Strafrechtler aus Rumänien und Serbien, Vespasian Pella und Toma Živanović, intensive Anstrengungen in internationalen Juristenverbänden, wie etwa in der Association International de Droit Pénal (AIDP), unternommen, um in den Verbrechenstatbestand des Angriffskriegs auch die Tathandlung der Unterstützung terroristischer Aktivitäten durch einen Drittstaat einzubeziehen. Zudem gehörten sie, wie auch der besagte Politis, zu den Vorreitern der Gründung eines internationalen Strafgerichtshofs, der u. a. auch für die Verhandlung und Aburteilung terroristischer Taten als internationale Verbrechen zuständig sein sollte. Allerdings war es für Pella, Politis, Živanović und ihre Mitstreiter aus anderen Teilen Europas bis  äußerst schwierig, die Staaten von der Wichtigkeit einer internationalen Strafgerichtsbarkeit zu überzeugen. Die in der Folge des Anschlags auf das jugoslawische Staatsoberhaupt getroffene Entscheidung des Völkerbunds, präventive und strafrechtliche Maßnahmen zur Verhinderung und Bekämpfung des Terrorismus zu ergreifen, ermöglichte südosteuropäischen Akteuren und Staaten mit einem besonderen Interesse an der Unterbindung terroristischer Aktivitäten, ihr diesbezügliches Anliegen voranzubringen und ihre bereits seit Längerem vorhandenen Konzepte dazu in die entsprechenden Debatten im Rahmen des Völkerbunds einzuspeisen. Wie bei der Lausanner Konvention von  zum griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch sind also auch in diesem Fallbeispiel sowohl das »impulsgebende« Ereignis, nämlich das von kroatischen und makedonischen Separatisten auf Alexander I. verübte Attentat, als auch etliche Protagonisten der Formulierung völkerrechtsinnovativer Grundsätze zur Ahndung von Akten des Terrorismus sowie der Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs in Südosteuropa zu verorten. Die beiden  im Rahmen des Völkerbunds entstandenen Konventionen zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofs fanden bis dato in mehreren Studien Erwähnung. Während aber ein Teil der Forschung die geschichtsregionale Dimension der zwei Ver Sbârnă, Gheorghe: The Interparliamentary Conferences. Elements of Participation to the Construction of the European Ideas in the first Inter-War Decade. In: Europe as Viewed from the Margins. An East-Central European Perspective from World War I to the Cold War. Hg. v. Ion Stanciu, Silviu Miloiu und Iulian Oncescu. Târgovişte , S. -.  Vgl. z. B. Vespasien [Vespasian] Pella: La Répression des Crimes contre la Personnalité de l’État. In: Recueil des Cours , S-, hier  f., zit. n. Segesser, Recht (wie Anm. , Einleitung), .

476

S c hlu s s b e m e r ku n g e n

tragstexte von  ausblendet und sich ausschließlich auf deren rein rechtstechnische Aspekte konzentriert (z. B. generische Terrorismusdefinition), lässt ein anderer Teil die völkerrechtlichen Nachwirkungen der beiden Konventionen unter Verweis auf deren Nicht-Inkrafttreten unberücksichtigt. In Kapitel  der vorliegenden Arbeit wurde erstmals der Versuch einer Gesamtbetrachtung unter Berücksichtigung sowohl der historischen und politischen Rahmenbedingungen als auch der rechtstechnischen Aspekte vorgenommen. Dabei konnte gezeigt werden, dass sich die antirevisionistischen Staaten Südost- und Ostmitteleuropas, namentlich Rumänien, Griechenland, Jugoslawien, die Tschechoslowakei und partiell auch Polen, für ein internationales Anti-Terrorismus-Abkommen stark einsetzten und deren Vertreter in den damit befassten Organen des Völkerbunds eine Reihe von Vorschlägen zur Überwindung der Vorbehalte anderer Staaten unterbreiteten, während die in ihrer Außenpolitik revisionistisch und irredentistisch ausgerichteten Staaten, allen voran Ungarn und Italien, zahlreiche Einwände insbesondere gegen die Gründung eines internationalen Strafgerichthofs zur Ahndung terroristischer Straftaten vorbrachten. Diese Kritik an der internationalen Strafgerichtsbarkeit bewirkte, dass auf Vorschlag von Pella neben dem Anti-Terrorismus-Abkommen ein zweites gesondertes Übereinkommen zur Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs zustande kam, um den widersprechenden Staaten die Möglichkeit zu geben, zumindest der Konvention gegen den Terrorismus zuzustimmen. In diesem zweiten Abkommen wurde erstmals in der Geschichte des Völkerstrafrechts ein Modell der Komplementarität zwischen nationaler und internationaler Gerichtsbarkeit vorgeschlagen, das für die Staaten die Möglichkeit vorsah bzw. ihnen vorschrieb, die eines terroristischen Verbrechens bezichtigten Personen entweder selbst im Rahmen der nationalen Gerichtsbarkeit strafrechtlich zu verfolgen oder andernfalls an den internationalen Strafgerichtshof auszuliefern. Hierbei handelt es sich um die Geburtsstunde des modernen völkerstrafrechtlichen Grundsatzes aut dedere aut judicare, auf dem die heutige internationale Strafgerichtsbarkeit fußt. Die Fokussierung vieler historiographisch angelegter Studien auf die Anti-TerrorismusKonvention des Völkerbunds oder auf die institutionelle Dimension der langwierigen Entstehungsgeschichte eines internationalen Strafgerichtshofs hatte zur Folge, dass in der bisherigen Forschung die eigentlich wichtigste völkerrechtliche Innovation in Verbindung mit dem Attentat von Marseille, nämlich die Einführung des Komplementaritätsprinzips zur Bestimmung des Verhältnisses von nationaler und internationaler Strafgerichtsbarkeit, entweder überhaupt keine Berücksichtigung fand oder nur am Rande thematisiert wird. Wie hier in Kapitel  gezeigt wurde, stellte das  mit der Völkerbundkonvention zur Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs eingeführte Komplementaritätsprinzip den Ausgangspunkt mehrerer ab  im Rahmen der Vereinten Nationen angefertigter Entwürfe zur Errichtung eines internationalen Strafgerichtshofs sowie des Römischen Statuts von  dar. Das im ICC-Gründungsstatut vorgesehene Komplementaritätsmodell, welches bei völkerstrafrechtlichen Kernverbrechen 477

S c hlu s s b e m e r ku n g e n

(Völkermord, Verbrechen gegen die Menschheit, Kriegsverbrechen) die Einschaltung des ICC im Fall des Versagens der nationalen Jurisdiktion vorschreibt, geht zu einem erheblichen Teil auf die unter Federführung des rumänischen Strafrechtlers Vespasian Pella ausgearbeitete Völkerbundkonvention zur Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs von  zurück, für deren Zustandekommen wiederum das Marseiller Attentat auf den jugoslawischen König Alexander I. den entscheidenden Anstoß gegeben hatte. Während der in den Kapiteln  und  besprochene südosteuropäische Einfluss auf die Entwicklung des modernen Völkerrechts als »zweidimensional« zu bezeichnen ist, da neben dem »impulsgebenden« Ereignis selbst auch die federführenden Akteure der damit verbundenen Normgenese in Südosteuropa zu verorten sind, wurde in Kapitel  mit den postjugoslawischen Kriegen ein Fallbeispiel besprochen, wo zwar die völkerrechtliche Weiterentwicklung erneut durch einen südosteuropäischen Konflikt angestoßen wurde, aber die »direkte« Beteiligung der Region an der Herausbildung neuer völkerrechtlicher Grundsätze gering blieb. Ähnlich der in Kapitel  präsentierten völkerrechtlichen Prägungsgeschichte der Orientalischen Frage, die nahezu ausschließlich das Ergebnis der Ad-hoc-Reaktion der europäischen Großmächte auf ein regionales Sonderproblem (ohne jegliche »aktive« Teilnahme südosteuropäischer Akteure) darstellt, hat auch der völkerrechtsprägende Einfluss des Konfliktgeschehens im postjugoslawischen Raum insofern nur einen »mittelbaren« und »passiven« Charakter, als sich die normsetzenden Akteure außerhalb der Region befanden. Wie Kapitel  lieferte auch Kapitel  ein Beispiel dafür, dass »der Balkan seit der Frühen Neuzeit« für die internationale Staatengemeinschaft »als Laboratorium diente, neue Instrumente der Diplomatie und des Völkerrechts sowie der Krisenbewältigung zu entwickeln«. Insbesondere wurde im letzten Kapitel dieser Studie gezeigt, dass die von »außen« unternommenen Anstrengungen, der vorwiegend gegen die Zivilbevölkerung eingesetzten Gewalt Einhalt zu gebieten, zu einer ganzen Reihe von Neuerungen auf den Gebieten des Völkerstrafrechts, des humanitären Völkerrechts und des Krisenmanagements geführt haben. Wenn auch im Rahmen einer thematisch und zeitlich breit angelegten Studie wie der vorliegenden keineswegs alle durch die jugoslawischen Nachfolgekriege angestoßenen Innovationen besprochen wurden und auch keine gleichermaßen detaillierte Analyse der ausgewählten Beispiele geleistet werden konnte, erhebt diese Untersuchung mit Blick auf den Forschungsstand den Anspruch, zur Schließung einer Lücke beizutragen. Denn in der internationalen Südosteuropaforschung fehlte es bis jetzt an einer Arbeit, die sich auch nur ansatzweise mit den ebenso zahlreichen wie vielfältigen völkerrechtsrelevanten Einflüssen der postjugoslawischen Kriege auseinandersetzt. Auch in der neueren Völkerrechtsliteratur findet sich keine Gesamtbetrachtung und -darstellung der durch das postjugoslawische Konfliktgeschehen initiierten Weiterentwicklung des Völkerrechts. Im  Calic, Südosteuropa (wie Anm. , Einleitung), .

478

S c hlu s s b e m e r ku n g e n

Kontext von hochspezialisierten, auf die Genese und Fortbildung bestimmter völkerrechtlicher Normen und Grundsätze fokussierten Studien kommen zwar Entwicklungen, die auf die Serie von Kriegen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien zurückzuführen sind, vereinzelt vor, dennoch findet dabei keine historische oder regionale Einordnung statt. Vor diesem Hintergrund wurden in Kapitel  der vorliegenden Untersuchung Auswirkungen der postjugoslawischen Kriege auf Völkerrecht und internationale Staatenpraxis besprochen, die sehr unterschiedliche Bereiche betrafen und dementsprechend die Herausarbeitung eines möglichst repräsentativen Bildes ermöglichten – von der Gründung des ICTY als erstes von den Vereinten Nationen eingerichtetes Ad-hoc-Straftribunal und seinen neuen völker(straf )rechtliche Maßstäbe setzenden Rechtsprechung bis hin zur kosovarischen Unabhängigkeitsfrage und den Bestimmungen des sogenannten Dayton-Abkommens hinsichtlich des Rückkehrrechts vertriebener bosnischer Muslime in ihre Heimatorte. Dabei entsprach die methodologische Herangehensweise der besagten Vielfalt der hier dokumentierten Einflüsse. So wurde etwa die Rolle des ICTY bei der Weiterentwicklung des völkerrechtlichen Straftatbestands der sexualisierten Gewalt als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit unter Heranziehung der relevanten Urteile des Jugoslawien-Tribunals sowie unter Berücksichtigung neuester völkerrechtlicher Sekundärliteratur detailliert besprochen, während die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo angesichts der weiterhin stark auseinandergehenden Expertenmeinungen in Hinsicht auf ihre völkerrechtliche Rechtmäßigkeit und Bedeutung nur in Form eines kurzen Abrisses dargestellt wurde. In Anbetracht des übergeordneten Zieles dieser Studie das Kausalitätsverhältnis zwischen südosteuropäischem Konfliktgeschehen und Weiterentwicklung des modernen Völkerrechts anhand mehrerer Fallbeispiele aufzuzeigen, fand auch im fünften Kapitel neben der Dokumentation des weitreichenden Einflusses der Zerfallskriege Jugoslawiens auf verschiedene Bereiche des Völkerrechts eine Auseinandersetzung mit den Entstehungsbedingungen des gewalttätigen Auseinanderbrechens der SFRJ und den Formen von Gewalt, die dabei in Erscheinung traten, statt. Die Einordnung des postjugoslawischen Kriegs- und Gewaltgeschehens in den geschichtsregionalen Kontext und dessen Vergleich mit anderen militärischen Auseinandersetzungen aus der jüngeren Vergangenheit in Südosteuropa bekräftigten noch einmal die in der Einleitung formulierte Annahme eines regionalspezifischen Typs von Konfliktgeschehen, dessen Hauptcharakteristika in einer spezifischen Kombination – Irredentismus in Form nationalstaatlich-großterritorialer Aspirationen, ethnische Säuberungen als Instrument der Realisierung expansionistischer Kriegspolitik, Vermischung regulärer und irregulärer Kriegsführung, starke Beteiligung paramilitärischer Gruppierungen an der gegen Zivilisten eingesetzten Gewalt – wiederholt im . und . Jahrhundert in diesem Teil Europas in Erscheinung traten. Es ist alles andere als ein Zufall, dass die meisten historiographischen Arbeiten zu ethnischen Säuberungen und anderen Formen von Zwangsmigration im Europa der Moderne 479

S c hlu s s b e m e r ku n g e n

mit den Vertreibungen im Zuge des Zusammenbruchs des Osmanischen Reichs beginnen und mit den tragischen Ereignissen im auseinanderfallenden Jugoslawien enden. Schließlich wurde in Kapitel  der vorliegenden Studie der Frage nach außerregionalen Faktoren, welche die Einflussnahme des postjugoslawischen Konfliktgeschehens auf Völkerrecht und internationale Staatenpraxis begünstigten, nachgegangen. Vor allem das Wiedererstarken eines bereits im . Jahrhundert Wurzeln schlagenden »humanitären Kosmopolitismus« unmittelbar nach dem Ende des Ost-West-Konflikts spielte als Begünstigungsfaktor eine herausragende Rolle. Einflussreiche Akteure einer seit den er Jahren angewachsenen globalisierten Medienöffentlichkeit sowie mächtige Entscheidungsträger einer zusehends global agierenden westlichen Staatengemeinschaft engagierten sich für die Durchsetzung eines weltweit verbreiteten kosmopolitischen Menschenrechtsregimes. Für sie waren die humanitären Katastrophen in der ersten Hälfte der er Jahre in Somalia, Ruanda und vor allem im ehemaligen Jugoslawien, wovon internationale Nachrichtenkanäle schockierende Bilder dank technologischen Fortschritts in aller Welt verbreiteten, der ausschlaggebende Anlass, um einen Richtungswechsel im Umgang mit dem völkerrechtlichen Grundsatz der staatlichen Souveränität und Integrität zu fordern bzw. einzuleiten. Dabei konnten sie auf die Unterstützung der sogenannten globalen Zivilgesellschaft zurückgreifen, die sich wesentlich stärker als früher gegen die Verletzung von Menschenrechten und für die rasche Bewältigung humanitärer Kriegsfolgen einsetzte. Zu Beginn der er Jahre entstand nicht nur ein neuer globaler Wahrnehmungs-, sondern auch politischer Handlungsraum in den internationalen Beziehungen. Diese neue Globalität fand vor allem in der interventionistischen Politik der USA und der von Washington angeführten Staatenbündnisse sowie der Vereinten Nationen ihren Ausdruck. Schon allein die enorme Zunahme der Anzahl der Friedensmissionen der Vereinten Nationen (UN Peacekeeping Missions) und deren Aufstockung mit Tausenden von Soldaten ab  ist ein Indiz für die eingetretene Globalisierung des politischen Handlungsraums in Form weltweiter kollektiver Interventionen unter dem Vorzeichen der humanitären Schadensbegrenzung. Die Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung im Zuge des Auseinanderbrechens der SFRJ fielen in eine Zeit der Universalisierung der Menschenrechte und des »humanitären Interventionismus«, in der die USA und andere »weltbürgerlich engagierte Staaten« in den Vereinten Nationen, aber  Vgl. z. B. Naimark, Flammender Haß (wie Anm. , Einleitung); Piskorski, Die Verjagten (wie Anm. , Kap. ); Ther, Die dunkle Seite (wie Anm. , Einleitung).  Kofi, Annan: Interventions. A Life in War and Peace. New York , -; Langewiesche, Wie neu (wie Anm. , Kap. ), -.  Langewiesche, Wie neu (wie Anm. , Kap. ), -; Ulrich Beck: Kosmopolitische Globalisierung. Die schöpferische Selbstzerstörung der Weltordnung. In: Internationale Politik () , -, https://zeitschrift-ip.dgap.org/de/ip-die-zeitschrift/archiv/ jahrgang-/juli/kosmopolitische-globalisierung (letzter Zugriff: ..)

480

S c hlu s s b e m e r ku n g e n

auch außerhalb dieses Rahmens eine »neue Form von humanitärer Selbstlosigkeit und imperialer Machtlogik« zum Leitsatz ihres internationalen Agierens machten. In Kapitel  der vorliegenden Arbeit wurde gezeigt, dass das Eintreten dieses »globalen Moments« (Matthias Middell) eine wesentliche Voraussetzung für den prägenden Einfluss der postjugoslawischen Kriege auf das Völkerrecht darstellte. Hierin, nämlich in der Einbeziehung außerregionaler Phänomene, Ereignisse und Prozesse globaler Tragweite in das Erklärungsschema des prägenden Einflusses des südosteuropäischen Konfliktgeschehens auf das Völkerrecht (im Sinne eines globalhistorischen Ansatzes des »Bewusstseins für globale Zusammenhänge«), lag ein zentrales Anliegen dieser Studie insgesamt. Dementsprechend wurde im ersten Kapitel zur Orientalischen Frage als Katalysator völkerrechtlicher Entwicklung dem in der Mitte des . Jahrhunderts einsetzenden Prozess der Internationalisierung verschiedener Bereiche und der in diesen Kontext einzuordnenden Verwissenschaftlichung und Professionalisierung des Rechtsgebiets des Völkerrechts große Bedeutung beigemessen. Berücksichtigung fanden in diesem Zusammenhang auch tiefgreifende, im »langen« . Jahrhundert vollzogene Veränderungen in der Völkerrechtslehre, wie etwa die Verdrängung der naturrechtlichen Grundsätze durch den juristischen Positivismus oder die Abkehr vom klassischen Kriegsvölkerrecht hin zu einem Völkerrecht der humanitären Kriegsführung, das von dem Primat der Menschenrechte hergeleitet wurde. Die im . Jahrhundert vollzogene »normative Universalisierung«, von der Jürgen Osterhammel mit Blick auf die Genfer Konvention von  »zur Verbesserung des Loses der verwundeten Soldaten der Armeen im Felde« und auf andere (mit der Gründung der Rotkreuzgesellschaften in mehreren Ländern verbundene) Entwicklungen auf dem Gebiet des Kriegsvölkerrechts ausgeht, spielt für die Erklärung und Bewertung des Einflusses der Orientalischen Frage auf den Fortbildungs- und Erneuerungsprozess des Völkerrechts eine hervorragende Rolle. Die im »Westen« als besonders grausam bewerteten Kriege im osmanischen Südosteuropa zogen die Aufmerksamkeit von Akteuren, die Vertreter eines neuen Humanitarismus oder/und Pazifismus und auch in völkerrechtlichen Kreisen tätig waren, auf sich. Wie Kapitel  zeigte, wurde das »unzivilisierte« Konfliktgeschehen auf dem Balkan in ihre Überlegungen, Diskurse und Argumentationsstrategien stark einbezogen. Eine weitere Entwicklung globaler Tragweite, die bei der Analyse des Einflusses des südosteuropäischen Konfliktgeschehens in Form der Orientalischen Frage auf das moderne Völkerrecht mit bedacht wurde, war die ab Mitte des . Jahrhunderts eingetretene Öffnung der Kommunikationsräume durch das »Aufkommen der Massenpresse« und die daraus resultierende »zunehmende Aktualität« bei der Nachrichtenberichterstat Ebd.  Conrad, Sebastian: Globalgeschichte. Eine Einführung. München , .  Osterhammel, Die Verwandlung (wie Anm. , Kap. ), -.

481

S c hlu s s b e m e r ku n g e n

tung. In Kapitel  der vorliegenden Studie wurde anhand mehrerer Beispiele, vor allem anhand der gegen die osmanischen »Gräueltaten« gerichtete Pressekampagne während der »Großen Orientalischen Krise« der Jahre  bis , die große Bedeutung der Herausbildung eines »globalen Nachrichtenwesens« sowie eines »neuen Typs« von Journalisten, den des Auslandskorrespondenten bzw. des Kriegsberichterstatters, für den hier untersuchten Einflussprozess dargelegt. Zwischen dem globalen Rahmen, innerhalb dessen die Orientalische Frage im . Jahrhundert prägend auf das Völkerrecht einwirkte, und demjenigen im ausgehenden . Jahrhundert, als die jugoslawischen Zerfallskriege die entscheidenden Anstöße für zahlreiche völkerrechtliche und völkerrechtsrelevante Entwicklungen gaben, sind gewisse Analogien festzustellen. Diese betreffen insbesondere den Bedeutungszuwachs von humanitären Prinzipien und Menschenrechten in der internationalen Politik, die technologischen und professionellen Umbrüche in einer globalisierten Medienöffentlichkeit und die damit verbundenen Veränderungen in der Berichterstattung aus Kriegs- und anderen Krisengebieten, die militärischen Interventionen unter humanitärem Vorzeichen sowie den Verrechtlichungsschub in den internationalen Beziehungen. Diese Analogien zwischen den globalen Rahmenbedingungen in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts und denen in der unmittelbaren Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges sowie die mehrmals in der vorliegenden Studie aufgezeigten strukturellen Ähnlichkeiten des südosteuropäischen Gewaltgeschehens bei der Auflösung des Osmanischen Reiches und dem Zerfall Jugoslawiens sind im Wesentlichen dafür verantwortlich, dass Kapitel  streckenweise einen Déjàvu-Eindruck im Vergleich zum ersten Kapitel hinterlässt. Aber auch für die in den anderen Kapiteln dieser Arbeit angewandte Betrachtungsweise stellten die historischen Voraussetzungen und Umstände, unter denen das Völkerrecht weiterentwickelt wurde, einen grundlegenden Bestandteil der Analyse dar. Dabei ging es vorrangig um die aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangene internationale Ordnung, insbesondere um die neuen Möglichkeiten und Spielräume, die sich den »kleinen« Staaten Südost- und Ostmitteleuropas vor allem durch den Völkerbund eröffneten, ihre Interessen mittels Internationalisierung und Transnationalisierung voranzutreiben. Nicht zufällig ließen sich Athen, Bukarest, Prag oder Budapest im Völkerbund von Juristen vertreten, die nicht nur international ausgewiesene Völkerrechtsexperten waren, sondern auch transnationale Lebens- und Berufswege vorzuweisen hatten:  Ebd., -.  Ebd., -  Dabei handelte es sich um eine allgemein angewandte Strategie von Staaten, die »für die Arbeit in internationalen Organisationen häufig auf Vertreter zurückgreifen, deren transnationale Lebensläufe sie für die Mitarbeit an grenzüberschreitenden Lösungen prädestinieren«. Hadler/Middell, Transnationalisierung (wie Anm. , Einleitung), .

482

S c hlu s s b e m e r ku n g e n

Nikolaos Politis, Vespasian Pella, Edvard Beneš, Albert Apponyi. Hierin liegt auch zu einem großen Teil die Erklärung, weshalb die in den Kapiteln ,  und  besprochenen Einflüsse stärker die Gestalt von »aktiven« Einwirkungen Südosteuropas auf das Völkerrecht annahmen – im Gegensatz zu den Fallbeispielen von Kapiteln  und , wo die Region nahezu ausschließlich als »passiver« Impulsgeber fungiert. Während die Konfliktlagen und das Gewaltgeschehen im Südosteuropa der Zwischenkriegszeit weiterhin derselben ethnonationalistisch-irredentistischen Quelle entsprangen, griffen nun südost- und ostmitteleuropäische Akteure auf neu entstandene Regulierungsmechanismen internationaler, ja globaler Geltung, wie z. B. den PCIJ, zurück, um über den (völker-)rechtlichen Weg die eine oder andere nationale Position gegenüber innerregionalen Widersachern durchzusetzen. Dergestalt nahmen sie mittelbaren Einfluss auf den Prozess der rechtlichen Normierung, der im Rahmen des Völkerbunds in Gang war und in der Vorstellung seiner federführenden Akteure zu einem universellen Völkerrecht im Dienst der Friedenssicherung überleiten sollte. Bemerkenswerterweise hatte die Mehrzahl von ihnen einen Pariser »Hintergrund«: der Belgrader Völkerstrafrechtler Toma Živanović, der das Königreich Jugoslawien bei der Diplomatenkonferenz des Völkerbunds zur Verabschiedung der Anti-Terrorismus-Konvention vertrat, hatte  sein Jura-Studium an der Sorbonne mit einem Doktortitel der Rechtswissenschaft abgeschlossen; Nikolaos Politis, der erste Vertreter Griechenlands im Völkerbund und u. a. Mitverfasser des Genfer Protokolls von  zur friedlichen Beilegung internationaler Streitigkeiten, hatte in den späten er Jahren ebenso in der französischen Hauptstadt Rechts-, Politik- und Wirtschaftswissenschaften studiert, ehe er den Ruf auf Jura-Professuren an den Universitäten Aix-en-Provence, Poitiers und Paris erhielt; Pella, der im Völkerbund sowohl als Delegierter Rumäniens wie auch als Experte in rechtlichen Fragen eine vielseitige Tätigkeit entfaltete, schloss sein in Iași begonnenes Jura-Studium  in Paris mit einer Doktorarbeit zu »Des incapacités résultant des condamnations pénales en droit international« ab; ebenso Edvard Beneš, der von  bis  Mitglied des Völkerbundsrats war  Zur internationalen Tätigkeit des in Budapest und Wien Jura studierten Politikers und Diplomaten Albert Apponyi, u. a. als Mitglied der Interparlamentarischen Union und als Vertreter Ungarns von  bis  im Völkerbund, im Dienste des ungarischen Revisionismus siehe Naumann, Katja: Verflechtung durch Internationalisierung. Die ostmitteleuropäische Partizipation an internationalen Organisationen. In: Hadler/ Middell, Handbuch (wie Anm. , Einleitung), -, hier .  Janković, Prilozi za biografiju Tome Živanovića (wie Anm. , Kap. ), ; Tasić, Nikola [u. a.]: Istoria Beograda. Belgrad ,  f.  Antonis Makrydimitris: Oi ypourgoi ton exoterikon tis Elladas -. Athen ,  f.  Vespasian V. Pella. In: Universitatea din Iași »Alexandru Ioan Cuza«, o. D., http://. uaic.ro/personalitati/drept/vespasian-v-pella (letzter Zugriff: ..). Siehe ausführlicher Sbârnă, Gheorghe: Vespasian V. Pella – în slujba știinţei dreptului și cauzei păcii. Ploiești .

483

S c hlu s s b e m e r ku n g e n

und gemeinsam mit Politis das besagte Genfer Protokoll von  erarbeitete, hatte an der Sorbonne studiert, um anschließend  in Dijon mit einer rechtswissenschaftlichen Arbeit zu promovieren; und auch der Ungar Apponyi, der die revisionistisch angelegten Interessen seiner Heimat im Völkerbund vertrat, hatte während seines in Budapest und Wien absolvierten Jurastudiums mehrere Aufenthalte in Paris und Rom eingelegt. Sie alle repräsentierten im Völkerbund, wie Eva und Hans Henning Hahn mit Bezug auf Beneš, Politis, Take Ionescu und Nicolae Titulescu treffend bemerkt haben, »kleinere Staaten und vermochten zugleich das europäische Geschehen mitzuprägen«. Im Gegensatz zu den o. g., in der Zwischenkriegszeit renommierten südost- und ostmitteleuropäischen Völkerrechtlern und Staatsvertretern avancierte der  in Genf promovierte jüdisch-bulgarische Jurist und Marxist Nissim Mevorach erst nach dem Zweiten Weltkrieg zum international prominenten Völkerrechtsexperten, als er  infolge eines sowjetischen Vorschlags zum Vize-Vorsitzenden der Konferenz der Bevollmächtigten zum Abschluss des Genfer Abkommens IV »über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten« ernannt wurde. Schließlich kam in der vorliegenden Arbeit den (veränderten) globalen Rahmenbedingungen auch für die Frage, weshalb für den Zeitabschnitt der neuen (bipolaren) Weltordnung des Kalten Krieges keine ähnlichen südosteuropäischen Einflüsse wie für das »lange« . Jahrhundert, die Zwischenkriegszeit und die er Jahre zu registrieren sind, allergrößte Relevanz zu. Während es vor und nach Ende des Kalten Krieges wiederholt in Südosteuropa zu sezessionistisch und/oder irredentistisch motivierten Kriegen, Nationalstaatsgründungen und »ethnischen Säuberungen« kam, führten die Bedingungen der Blockkonfrontation, insbesondere das sogenannte Gleichgewicht des Schreckens, entweder zu einer nachhaltigen Deeskalation der zahlreichen Territorialfragen und ethnopolitischen Konflikte in der Region oder zu ihrer vorübergehenden »Einfrierung« im »Eisschrank« der Blockkonfrontation. Demzufolge hat es in den Jahren von  bis  zwar südosteuropäische Einflüsse auf das Völkerrecht gegeben, allerdings sind diese nicht auf akute Konfliktlagen zurückzuführen, sondern stehen in Verbindung zum sowjetmarxistischen Postulat eines eigenständigen »sozialistischen Völkerrechts«. Die infolge der Ost-West-Dicho Mulligan, William: The Great War for Peace. New Haven [u. a.] , .  Naumann, Verflechtung (wie Anm. ), ; zu Apponyi siehe ausführlicher Berzeviczy, Albert de: La Hongrie et l’Union Interparlementaire. Activité du feu comte Albert Apponyi. In: Hongrie dans les relations internationales. Hg. v. l’Association Hongroise des Affaires Etrangères et pour la Société des Nations. Budapest , -.  Hahn, Die Vertreibung (wie Anm. , Kap. ), .  Ben-Nun, Treaty (wie Anm. , Einleitung), -. Zum Leben Nissim Mevorachs und zu seinem beruflichen Werdegang als Völkerrechtler und Diplomat siehe Dobče, Petko: Prof. d-r Nissim Mevorach. Biografičen očerk. In: Evrejski imena v bălgarskatajuridičeska nauka. Sofia , -; Nikolov, Rajko: Diplomat v Amerika. Sofia , -; Manev, Man’o: Mediacijata I graždanskijat proces. Sofia , .

484

S c hlu s s b e m e r ku n g e n

tomie eingetretene Deeskalation des (für die völkerrechtliche Weiterentwicklung relevanten) südosteuropäischen Konfliktgeschehens lässt sich wohl am besten an der Anzahl osteuropabezogener Völkerrechtsurteile internationaler Gerichte ablesen: Während in der Zwischenkriegszeit mehr als die Hälfte der Fälle, die vor den PCIJ kamen, in Ostmittel- und Südosteuropa lokalisiert waren, nahm in der Periode des Ost-West-Konflikts der ostmittel- oder südosteuropäische Anteil an den vom ICJ verhandelten Fällen drastisch ab. Zu nennen ist in dieser Hinsicht lediglich der prominente Corfu Channel-Fall von , dessen Regionalbezug aber eher zufällig war. Nach Ende des Kalten Krieges nahmen die Konflikte in der östlichen Hälfte Europas und somit auch die wichtigen osteuropabezogenen Völkerrechtsurteile wieder stark zu. Neben der normsetzenden Rechtsprechung des ICTY ist hier auf mehrere Grundsatzentscheidungen und Stellungnahmen des ICJ hinzuweisen: das Urteil zum Gabčíkovo-Nagymaros-Fall von , das Urteil von  im Fall Bosnia and Herzegovina v. Yugoslavia betreffend die serbische Verantwortung an dem Genozid von Srebrenica und das in Kapitel  besprochene Gutachten zur kosovarischen Unabhängigkeitserklärung.

 Hrnjaz, Miloš: Eastern Europe before the World Court: Trumbelina of the International Legal Order. Vortrag auf der internationalen Tagung des Leibniz-Instituts für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) »Institutions and International Law in Eastern Europe« (..).

485

Dank

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um das zur Veröffentlichung überarbeitete Manuskript einer interdisziplinär angelegten Habilitationsschrift, die im November  an der Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie der Universität Leipzig zur Erlangung des akademischen Grades Dr. phil. habil. für das Fachgebiet European Studies vorgelegt und im Juli  erfolgreich verteidigt wurde. Die Studie entstand größtenteils am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO; seit  LeibnizInstitut für die Geschichte und Kultur des östlichen Europa) im Rahmen der im Zeitraum - durch das Bundesministerium für Forschung und Bildung (BMBF) geförderten und vom Osteuropahistoriker Professor Dr. Stefan Troebst konzipierten und geleiteten Projektgruppe »Verrechtlichungsprozesse in den internationalen Beziehungen: Prägungen des Völkerrechts durch Konflikte im östlichen Europa seit «. Stefan Troebst ist sowohl für seine große Hilfe bei der konzeptionellen Ausarbeitung des Themas wie auch für die vielseitige Unterstützung in den acht Jahren von der Promotion zur Habilitation sehr herzlich zu danken. Den Mitforschenden in der genannten GWZO-Projektgruppe »Verrechtlichung«, namentlich Dietmar Müller, Isabella Löhr, Arno Trültzsch, Cindy Wittke und Kathleen Zeidler, sowie dem bei der Gruppe assoziierten Völkerrechtshistoriker Gilad Ben-Nun sei für die gute Zusammenarbeit, den regen Austausch und die vielen Anregungen zu meinem Forschungsvorhaben ebenso gedankt. Wichtige Vorarbeiten zum Habilitationsprojekt konnten während meiner dreijährigen Tätigkeit (-) als Universitätsassistent am Institut für Byzantinistik und Neogräzistik der Universität Wien geleistet werden. Der Neogräzistin und Südosteuropahistorikerin Professor Dr. Maria A. Stassinopoulou möchte ich für ihre Unterstützung und ihr Interesse an dem Thema herzlich danken. Zu besonderem Dank verpflichtet bin ich dem Völkerrechtler Professor Dr. Lauri Mälksoo von der Universität Tartu, dem Kultur- und Sozialhistoriker Professor Dr. Hannes Siegrist sowie dem Kultur- und Globalhistoriker Professor Dr. Matthias Middell, beide von der Universität Leipzig, für ihre Gutachten zur o. g. Habilitationsschrift. Ihre unterschiedlichen Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand und die sich daraus ergebenden Anregungen, Verbesserungs- und Ergänzungsvorschläge erwiesen sich bei der Überarbeitung des Manuskripts als ausgesprochen hilfreich. Hannes Siegrist und Stefan Troebst möchte ich darüber hinaus für die Aufnahme des vorliegenden Buches in die von ihnen betreute Schriftenreihe »Moderne Europäische Geschichte« danken. Weiter ist dem GWZO insgesamt und der Abteilung »Verflechtung und Globalisierung« im Besonderen für die Bereitstellung hervorragender Forschungs- und Arbeitsbedingungen zur Bearbeitung meines vornehmlich südosteuropa-, 486

kerrechts-und globalhistorisch angelegten Untersuchungsvorhabens sowie für die großzügige Übernahme des Druckkostenzuschusses herzlich zu danken. Felix Metzler, der große Teile der Arbeit Korrektur gelesen und wervolle Dienste bei der Behebung sprachlicher und stilistischer Ungereimtheiten geleistet hat, sei hier ebenfalls herzlich gedankt. Leipzig, im September  Adamantios Theodor Skordos

487

Bibliographie Völkerrechtsliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts Bergbohm, Carl: Die bewaffnete Neutralität, -. Eine Entwicklungsphase des Völkerrechts im Seekriege. Dorpat  Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staaten als Rechtsbuch dargestellt, ., mit Rücksicht auf die neueren Ereignisse bis  ergänzte Aufl. Nördlingen  Boghitchévitch [Bogićević], Miloš: Halbsouveränität. Administrative und politische Autonomie seit dem Pariser Vertrage (). Berlin [u. a.]  Brierly, James Leslie: The Law of Nations. . Aufl. New York  Bulmerincq, August von: Das Völkerrecht oder das internationale Recht. Systematisch dargestellt. . Aufl. Freiburg  Bulmerincq, August von: Le passé de la Russie depuis les temps les plus reculés jusqu’à la paix de San-Stefano . Brüssel  Geffcken, Friedrich Heinrich: Das Recht der Intervention. Separat-Abdruck des im Erscheinen begriffenen Handbuchs des Völkerrechts. Hg. v. Prof. Dr. von Holtzendorff. Hamburg  Geffcken, Friedrich Heinrich: Zur Geschichte des orientalischen Krieges. Berlin  Givanovitch, Thomas [Živanović, Toma]: Die Konstruktion einer neuen rechtsphilosophischen Richtung. Richtung der zweiartigen synthetischen Rechtsphilosophie. In: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie  () , - Givanovitch, Thomas [Živanović, Toma]: Du principe de causalité efficiente en droit pénal. Paris  Hall, William Edward: A Treatise on International Law. . Aufl. Oxford  Heffter, August Wilhelm: Das europäische Völkerecht der Gegenwart auf den bisherigen Grundlagen. . Aufl. Überarbeitet von Friedrich Heinrich Geffcken. Berlin  Holtzendorff, Frantz von: Handbuch des Völkerrechts. Auf Grundlage europäischer Staatspraxis. Bd. : Die völkerrechtliche Verfassung und Grundordnung der auswärtigen Staatsbeziehungen. Hamburg  Holtzendorff, Frantz von: Handbuch des Völkerrechts. Auf Grundlage europäischer Staatspraxis, Bd. : Einleitung in das Völkerrecht. Hamburg  Lawrence, Thomas Joseph: A Handbook of Public International Law. . Aufl. London  Lawrence, Thomas Joseph: The Principles of International Law. London [u. a.]  Liszt, Franz von: Das Völkerrecht systematisch dargestellt. . Aufl. Berlin  Maiwald, Serge: Der Berliner Kongress  und das Völkerrecht. Die Lösung des Balkanproblems im . Jahrhundert. Stuttgart  Martens, Friedrich von [Martens, Fëdor Fëdorovič]: Völkerrecht. Das internationale Recht der civilisirten Nationen. Bd. . Berlin  Martens, Friedrich von [Martens, Fëdor Fëdorovič]: Völkerrecht. Das internationale Recht der civilisirten Nationen. Bd. . Berlin  Martens, F. [Fëdor Fëdorovič]: Das Consularwesen und die Consularjurisdiction im Orient. Berlin  Moynier, Gustave: Note sur la création d’une institution judiciaire internationale propre a prévenir et à réprimer les infractions a la Convention de Genève. In: Bulletin international des Sociétés de Secours aux Militaires Blessés  (), - Oppenheim, Lassa: International Law. A Treatise. Bd. : Peace. . Aufl. London [u. a.]  Oppenheim, Lassa, International Law. A Treatise. Bd. : Peace. . Aufl. London [u. a.],  Politis, Nicolas [Nikolaos]: La neutralité et la paix. Paris  Politis, Nicolas [Nikolaos]: New Aspects of International Law. Washington 

488

Bib lio g ra p hi e Politis, Nicolas [Nikolaos]: La justice internationale. Paris  Rolin-Jaequemyns, Gustave: Armenia, the Armenians, and the Treaties. Translated from the Revue de Droit International et de Législation Comparée (Brussels) and Revised by the Author. London  Rolin-Jaequemyns, Gustave: Chronique du droit international: La question d’Orient en -. Les évènements de Bulgarie et la théorie de l’équilibre des Balkans. In: Revue de droit internationale et législation comparée  (), - Rolin-Jaequemyns, Gustave: Chronique du droit international: La question d’Orient en -. Les évènements de Bulgarie et les grandes puissances de l’Europe. In: Revue de droit internationale et législation comparée  (), - Rolin-Jaequemyns, Gustave: Le droit international et la question d’Orient. Gent  Streit, Georgios: Der Lausanner Vertrag und der griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch: Vortrag, gehalten auf Einladung des Instituts für Internationales Recht an der Universitat Kiel am . Februar . Berlin  Ullmann, Emanuel von: Völkerrecht. Neubearbeitung auf der Grundlage der . Auflage () im »Handbuch des öffentlichen Rechts«. Tübingen  Wheaton, Henry: Elements of International Law with a Sketch of the History of the Science. Philadelphia 

Völkerrechtliche und völkerrechtsrelevante Verträge, Konventionen, Urteile, Deklarationen, Berichte und Ähnliches IV. Genfer Abkommen vom . August  zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten. In:

Völkerrecht. . Aufl. Hg. v. Christian Tomuschat. Baden-Baden , - A/CN./SER.A//Add. (Part ), Yearbook of the International Law Commission, , Vol. II, Part Two, Report of the Commission on the Work of its Forty-third Session, New York and Geneva . In: International Law Commission. Research. Yearbooks, http://legal.un.org/ docs/?path=../ilc/publications/yearbooks/english/ilc__v_p.pdf&lang=EFSRAC (letzter Zugriff: ..) Act of the Congress of Vienna,  June , Art. - Concerning Navigation/Wiener KongressAkte, . Juni , Art. - betreffend die Schifffahrt. In: Fontes Historiae Iuris Gentium. Quellen zur Geschichte des Völkerrechts. Bd. /: -. Hg. v. Wilhelm G. Grewe. Berlin [u. a.] , - Advisory Committee of Jurists – Permanent Court of International Justice: Procès-Verbaux of the Proceedings of the Committee, June th–July th,  with Annexes. Hg. v. PCIJ. Den Haag  Appendix I to CF-, WCP-, Draft of the Covering Letter to Be Addressed to M. Paderewski in Transmitting to Him the Treaty to Be Signed by Poland Under Article of the Treaty of Peace with Germany. In: Papers Relating to the Foreign Relations of the United States. The Paris Peace Conference . Bd. . Hg. v. Department of State Washington. Washington , - Appendix F to HD-. Draft Letter to the Council of Five on the Special Clauses Proposed by M. Venizelos - Prepared by the Committee on New States. In: Papers Relating to the Foreign Relations of the United States. The Paris Peace Conference . Bd. . Hg. v. Department of State. Washington , - Capotorti, Francesco: Study on the Rights of Persons Belonging to Ethnic, Religious and Linguistic Minorities, UN Doc. E/CN./Sub.//Rev. () Charter of the IMT. In: Yale Law School. Lillian Goldman Law Library. The Avalon Project – Documents in Law, History and Diplomacy, http://avalon.law.yale.edu/imt/imtconst.asp (letzter Zugriff: ..)

489

Bib lio g ra p hi e Charter of the IMTFE. In: Documents on the Tokyo International Military Tribunal. Charter, Indictment and Judgments. Hg. v. Neil Boister und Robert Cryer. New York [u. a.] , - Commission on Human Rights. Sub-Commission on Prevention of Discrimination and Protection of Minorities. Forty-ninth Session. UN ECOSOC. Resolution No. /. th Meeting,  August . Freedom of Movement and Population, Transfers, Resolution /. In: Refugee Survey Quarterly,  () , - Committee for the International Repression of Terrorism. Report to the Council on the First Session of the Committee, Held from April th to May th. Hg. v. League of Nations. Genf  Control Council Law No. . In: Yale Law School. Lillian Goldman Law Library. The Avalon Project – Documents in Law, History and Diplomacy, http://avalon.law.yale.edu/imt/imt.asp (letzter Zugriff: ..) Convention Between Greece and Bulgaria Respecting Reciprocal Emigration, Signed at Neuilly-SurSeine,  November . In: League of Nations. Treaty Series. Bd. . Hg. v. League of Nations. London , - Convention Concerning the Exchange of Greek and Turkish Populations, and Protocol, signed at Lausanne, January , . In: League of Nations. Treaty Series. Publication of Treaties and International Engagements Registered with the Secretariat of the League of Nations. Bd. . Hg. v. League of Nations. Genf , - Declaration Concerning the Protection of Minorities in Albania, Geneva, October , . In: Ungarisches Institut München. Quellen und Materialien zur Beziehungs- und Integrationsgeschichte in Ostmittel- und Südosteuropa im . Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung Ungarns, der Minderheitenfrage und der europäischen Integration. Virtuelle Sammlungen. Schriftverkehr im Rahmen des Völkerbundes mit minderheitenpolitischer Relevanz -, http://www.forost.ungarisches-institut.de/pdf/-.pdf (letzter Zugriff: ..) Declaration on the Rights of Persons Belonging to National or Ethnic, Religious and Linguistic Minorities, o. D. [angenommen von der UN-Generalversammlung am .. per Resoulution /]. In: UN Human Rights Office of the High Commissioner, http://www.ohchr.org/ Documents/Issues/Minorities/Booklet_Minorities_English.pdf (letzter Zugriff: ..) Deutscher Bundestag. . Wahlperiode. Gesetzentwurf der Bundesregierung. Drucksache /. Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuches, .., . In: DIP – Gemeinsames Dokumentations- und Informationssystem von Bundestag und Bundesrat, http:// dip.bundestag.de/dip/btd///.pdf (letzter Zugriff: ..) Die Verfassung der Republik Kosovo, o. D. In Verfassungsgerichtshof Österreich, https://www. vfgh.gv.at/cms/vfgh-kongress/downloads/The_Constitution_of_the_Republic_of_Kosovo_ DEU.pdf (letzter Zugriff: ..) Distr. General, E/CN. /Sub. //, . July , Commission on Human Rights, Sub-Commission on Prevention of Discrimination and Protection of Minorities, Forty-fifth Session, - August , Item  of the Provisional Agenda, The Realization of Economic, Social and Cultural studies, The Human Rights Dimensions of Population Transfer, Including the Implantation of Settlers, Preliminary report prepared by Mr. A. S. Al-Khasawneh and Mr. R. Hatano. In: refworld, http://www.refworld.org/pdfid/bf.pdf (letzter Zugriff: ..) Document: A//, Report of the ILC on the Work of its Forty-second Session,  May– July , Official Records of the GA, Forty-fifth session, Supplement No. , Extract from the Yearbook of the ILC, , vol. II (), . In: International Law Commission. Research. Documentation, http://legal.un.org/docs/?path=../ilc/documentation/english/reports/a__.pdf&lang=EFSXP (letzter Zugriff: ..) Draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind with Commentaries, . In: UN. Office of Legal Affairs, http://legal.un.org/ilc/texts/instruments/english/commentaries/ __.pdf (letzter Zugriff: ..) Draft Code of Offences against the Peace and Security of Mankind with Commentaries, . In: Yearbook of the International Law Commission . Bd. . Hg. v. UN. New York , -

490

Bib lio g ra p hi e Draft Statute for an International Criminal Court with Commentaries, , Text Adopted by the ILC at its Forty-sixth Session, and Submitted to the GA as a Part of the Commission’s Report Covering the Work at that Session. In: UN. Office of Legal Affairs, http://legal.un.org/ilc/texts/ instruments/english/commentaries/__.pdf (letzter Zugriff: ..) Elements of Crimes. In: ICC. Legal Texts and Tools. Elements of Crimes, http://www.icc-cpi.int/ NR/rdonlyres/D-A AD-EC-ADB-BFDED//ElementsOfCrimesEng.pdf (letzter Zugriff: ..) Entwurf eines Strafgesetzbuches der den Frieden und die Sicherheit der Menschheit bedrohenden Verbrechen (). In: Die Friedens-Warte  (/), - Hansard, Poland, HC Deb.  , vol. , cc. -. In: api.parliament.uk, https://api.parliament.uk/historic-hansard/commons//dec//poland (letzter Zugriff: ..) ICJ, Accordance with International Law of the Unilateral Declaration of Indepedence in Kosovo, Advisory Opinion, ... In: ICJ. Cases, https://www.icj-cij.org/files/case-related//-ADV---EN.pdf (letzter Zugriff: ..). ICTY [], Case No.: IT---T,  December , Prosecutor v. Stanislav Galić. In: ICTY. Cases, http://www.icty.org/x/cases/galic/tjug/en/gal-tje.pdf (..) ICTY [], Case No.: IT---T&IT--/-T, Prosecutor v. Dragoljub Kunarac, Radomir Kovac and Zoran Vukoviv, in the Trial Chamber, before: Judge Florence Ndepele Mwachande Mumba, Presiding Judge David Hunt, Judge Fausto Pocar, Registrar: Mr. Hans Holthuis, Judgement of  February . In: UN. ICTY. Cases, http://www.icty.org/x/cases/kunarac/tjug/en/ kun-tje.pdf (letzter Zugriff: ..) ICTY [], Case No.: IT--/-T, before: Judge Florence Ndepele Mwachande Mumba, Presiding Judge Antonio Cassese, Judge Richard May, Date:  December . In: UN. ICTY. Cases, http://www.icty.org/x/cases/furundzija/tjug/en/fur-tje.pdf (letzter Zugriff: ..). ICTY [], Case No.: IT---T, Prosecutor v. Zejnil Delalić, Zdravko Musić also Known as »Pavo«, Hazim Delić, Esad Landžo also Known as »Zenga«, in the Trial Chamber before: Judge Adolphus G. Karibi-Whyte, presiding, Judge Elizabeth Odio Benito, Judge Saad Saood Jan, Judgement of:  November , para. -. In: UN. ICTY. Cases, http://www.icty.org/x/ cases/mucic/tjug/en/_judg_en.pdf (letzter Zugriff: ..) ICTR [], Case No. ICTR---T, the Prosecutor versus Jean-Paul Akayesu, Judgement, Chamber I, before: judge Laïty Kama, Presiding Judge Lennart Aspegren, judge Navanethem Pillay, Decision of:  September . In: UN Mechanism for International Criminal Tribunal. Lecacy Website of the ICTR. The Cases, http://unictr.unmict.org/sites/unictr.org/files/case-documents/ ictr--/trial-judgements/en/.pdf (letzter Zugriff: ..) ICTY [], Decision on the Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, Prosecutor v. Dusko Tadic [Duško Tadić] a/k/a »Dule«, Decision of:  Octobre . In: UN. ICTY. Cases. Tadić (IT--): http://www.icty.org/x/cases/tadic/acdec/en/.htm (letzter Zugriff: ..). IMTFE, Indictment. In: Documents on the Tokyo International Military Tribunal. Charter, Indictment and Judgments. Hg. v. Neil Boister und Robert Cryer. New York [u. a.] , - IMTFE, Judgement of  November . In: Documents on the Tokyo International Military Tribunal. Charter, Indictment and Judgments. Hg. v. Neil Boister und Robert Cryer. New York [u. a.] , - Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom . Dezember . In: Völkerrecht. Textsammlung. . Aufl. Hg. v. Christian Tomuschat. , - League of Nations, C..M...V., International Repression of Terrorism, Draft Convention for Prevention and Punishment of Terrorism, Draft Convention for the Creation of an International Criminal Court, Observations by Governments, Note by the Secretary-General, Geneva, March th,  [im Folgenden: League of Nations. In: UN archives Geneva, https://biblio-archive.unog.ch/Dateien/CouncilMSD/C--M---V_EN.pdf (letzter Zugriff: ..) League of Nations, C..M...V., Committee for the International Repression of Terrorism, Geneva, May th, , Appendix IV., Suggestions presented to the council by the French

491

Bib lio g ra p hi e ment, December th, . In: UN archives Geneva. Catalogue, https://biblio-archive.unog.ch/ Dateien/CouncilMSD/C--M---V_EN.pdf (letzter Zugriff: ..) League of Nations, Convention for the Prevention and Punishment of Terrorism (archival copy), o. D. [Datum des Abkommens ..]. In: World Digital Library, http://www.wdl.org/en/ item//view// (letzter Zugriff: ..) League of Nations, C...I, Greco-Bulgarian Intermigration Commission. Request for an Advisory Opinion from the Permanent Court of International Justice: Interpretation of Certain Clauses in the Convention Between Greece and Bulgaria Respecting Reciprocal Emigration, signed on November th, . In: UN Archives Geneva, https://biblio-archive.unog.ch/Dateien/ CouncilDocs/C---I_EN.pdf (letzter Zugriff: ..) Londoner Protokoll vom . März . In: Dokumentarium zur Vorgeschichte des Weltkrieges -. Hg. v. Bernhard Schwertfeger. Berlin , - Mandates Palestine Report of the Palestine Royal Commission, o. D. [Juli ]. In: Jewish Virtual Library, http://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/History/peel.html (letzter Zugriff: ..) Minorities Treaty between the Principal Allied and Associated Powers (The British Empire, France, Italy, Japan and the United States) and Czechoslovakia, Signed at Saint-Germain-en-Laye (, . September). In: Ungarisches Institut München. Virtuelle Sammlungen, http://www.forost. ungarisches-institut.de/pdf/-.pdf (letzter Zugriff: ..) Paris Declaration Respecting Maritime Law,  April . In: Fontes Historiae Iuris Gentium. Quellen zur Geschichte des Völkerrechts, Bd. /: -. Hg. v. Wilhelm G. Grewe. Berlin [u. a.], - Peace Agreement between the Government of the Republic of Rwanda and the Rwandese Patriotic Front, Annex V, Protocol of Agreement between the Government of the Republic of Rwanda and the Rwandese Patriotic Front on the Repatriation of Rwandese Refugees and the Resettlement of Displaced Person, o. D. [Datum des Abkommens ..]. In: UN Peacemaker, Peace Agreements, Database Search, https://peacemaker.un.org/rwanda-protocolrepatriation (letzter Zugriff: ..) Proceedings of the International Conference of the Repression of Terrorism. Geneva, November st to th, , Geneva . Hg. v. League of Nations. In: UN archives Geneva, https://biblioarchive.unog.ch/Dateien/CouncilMSD/C--M---V_EN.pdf (letzter Zugriff: ..). Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarates, o. D. [Veröffentlichung des Originals ..]. In: Schutz nationaler Minderheiten, https://www.nationale-minderheiten.eu/rahmenuebereinkommen-zum- schutz-nationaler-minderheiten- (letzter Zugriff: ..) Regulation of Navigation by the Congress of Vienna,  March , Regulation for the Free Navigation of Rivers. In: Fontes Historiae Iuris Gentium. Quellen zur Geschichte des Völkerrechts, Bd. /: -. Hg. v. Wilhelm G. Grewe. Berlin [u. a.], - Report of the International Commission to Inquire into the Causes and Conduct of the Balkan Wars. Hg. v. Carnegie Endowment for International Peace. Washington DC  Rome Statute of the ICC, o. D. [Datum des Abkommens: ..] In: International Criminal Court: Resource library. Core ICC Texts, https://www.icc-cpi.int/resource-library/Documents/RSEng.pdf (letzter Zugriff: ..) Satzung des Völkerbunds (Art. - des Versailler Vertrages), o. D. [Datum der Annahme der Satzung durch den Völkerbund: ..]. In: Fontes Historiae Iuris Gentium. Bd. /: -. Hg. v. Wilhelm G. Grewe. Berlin [u. a.] , - Societé des Nations, Convention pour la prevention et la repression du terrorisme/League of Nations, Convention for the Prevention and Punishment of Terrorism, o. D. [Datum des Abkommens ..], http://www.wdl.org/en/item//view// (letzter Zugriff: ..) Secretary-General Presents His Annual Report to the GA, ... Press Release SG/SM/. In: UN. Meetings Coverage and Press Releases. Secretary-General. Statements and Messages, https:// www.un.org/press/en//.sgsm.html (letzter Zugriff: ..)

492

Bib lio g ra p hi e Special Tribunal for Lebanon, Case No.: STL--/, Interlocutory Decision on the Applicable Law: Terrorism, Conspiracy, Homicide, Perpetration, Cumulative Charging, .., https://www. stl-tsl.org/en/the-cases/stl--/main/filings/orders-and-decisions/appeals-chamber/-f (letzter Zugriff: ..) Statute for the Permanent Court of Internationale Justice. In: The Permanent Court of Internationale Justice. Statute and Rules. Hg. v. International Intermediary Institute. Leiden , - Statute of the ICTR, o. D. [Verabschiedet durch UN Resolution  (), ..]. In: Office for Legal Affairs (OLA), http://legal.un.org/avl/pdf/ha/ictr_EF.pdf (letzter Zugriff: ..) The General Framework Agreement for Peace in Bosnia and Herzegovina, o. D. [Datum des Abkommens ..]. In: OSCE, https://www.osce.org/bih/?download=true (letzter Zugriff: ..) The Laws of War on Land. Oxford,  September . In: The Laws of Armed Conflicts. A Collection of Conventions, Resolutions and Other Documents. . Aufl. Hg. v. Dietrich Schindler und Jiři Toman. Geneva , - Treaty between the Principal Allied and Associated Powers and Greece. Signed at Sèvres, August , . In: The American Journal of International Law  ()  [Supplement], - Treaty between the Allied and Associated Powers and Austria, signed at St. Germain-en-Laye, September , . In: The Treaties of Peace, -. Bd. . Hg. v. Martin Lawrence. New York , - Treaty between the Principal Allied and Associated Powers and Roumania, signed at Paris, December , . In: The American Journal of International Law  (), - Treaty between Great Britain, Germany, Austria, France, Italy, Russia, and Turkey for the Settlement of Affairs in the East: Signed at Berlin, July , . In: The American Journal of International Law  () , - Treaty between Great Britain, France, and Russia, for the Pacification of Greece. Signed at London, th July, . In: The Map of Europe by Treaty Showing the Various Political and Territorial Changes which Have Taken Place since the General Peace of . Bd. . Hg. v. Edward Hertslet. London , - Treaty of Peace between the Allied and Associated Powers and Turkey, signed at Sèvres, August , . In: The Treaties of Peace, -. Bd. . Hg. v. Martin Lawrence. New York ,  Treaty of Peace between the Allied and Associated Powers and Bulgaria, signed at Neuilly-sur-Seine, November , . In: The Treaties of Peace, -. Bd. . Hg. v. Martin Lawrence. New York , - Treaty of Peace between the Principal Allied and Associated Powers and the Serb-Croat-Slovene State, Signed at Saint-Germain-en-Laye, September , . In: Yugoslavia through Documents. From its Creation to its Dissolution. Hg. v. Snežana Trifunovska. Dordrecht [u. a.] , - Treaty of Peace between the United States of America, the British Empire, France, Italy, and Japan and Poland, signed at Versailles,  June . Senate, Document No. , Presented by Mr. Lodge, Washington  Treaty Series No.  (). The Covenant of the League of Nations Embodying an Amendment of Article , in Force for August , , and Amendments of Articles ,  and , in Force from September , . In: Department of State. Office of the Historian, https://history.state.gov/ historicaldocuments/frusParisv/chsubch (letzter Zugriff: ..) UN [], SC, S/RES/ (), Distr.: General  April , Resolution  (), Adopted by the SC at its th meeting, on  April , , . In: UN. Documents, https://undocs.org/S/ RES/() (letzter Zugriff: ..) UN [], SC, Dist.: General,  March , Resolution  (), Adopted by the SC at its th Meeting. In: NATO, http://www.nato.int/nato_static/assets/pdf/pdf__/_ -UNSCR-.pdf (letzter Zugriff: ..) UN [], A//,  September , UN Declaration on the Rights of Indigenous Peoples. In:

493

Bib lio g ra p hi e UN Department of Economic and Social Affairs, http://www.un.org/esa/socdev/unpfii/documents/DRIPS_en.pdf (..) UN [], SC, S/RES/ () Adopted by the SC at its th Meeting on  April . In: UN. Official Documents, https://undocs.org/S/RES/() (letzter Zugriff: ..) UN [], GA, Distr.: General,  October , Resolution Adopted by the GA, /.  World Summit Outcome, . In: UN Women Watch, http://www.un.org/womenwatch/ ods/A-RES---E.pdf (letzter Zugriff: ..) UN, GA [], Official Records, Fifty-seventh Session, Supplement No.  (A//), Report of the Ad Hoc Committee established by GA resolution / of , December , Sixth session ( January- February ), Annex III, Texts of articles  to  and  to  of the draft comprehen-

sive convention, prepared by the Friends of the Chairman, S. -. In: Legislationline, https:// www.legislationline.org/download/id//file/befaacfcab f.pdf (letzter Zugriff: ..) UN [], Preparatory Commission for the ICC, PCNICC///Add., Distr. General,  November , New York, - March , - June , Report of the Preparatory Commission for the ICC, Part II Finalized Draft Text of the Elements of Crimes. In: International Criminal Law Society/Gesellschaft für Völkerstrafrecht. Dokumente, http://www.icls.de/dokumente/ icc_elements_crime.pdf (letzter Zugriff: ..) UN [], SC, Distr. General, S/RES/ (),  June , Adopted by the SC at its th meeting on  June . In: NATO. NATO’s Role in Kosovo. Basic Documents, http://www. nato.int/kosovo/docu/ua.htm (letzter Zugriff: ..) UN [], A/AC.//L./Rev.,  August , Preparatory committee on the establishment of an international criminal court, http://www.iccnow.org/documents/DecisionsTakenAug. pdf (letzter Zugriff: ..) UN, GA [], A/Res. /, Fiftieth session,  December , Resolution adopted by the GA, Establishment of an international criminal court. In: UN. Documents, https://undocs.org/en/A/ RES// (letzter Zugriff: ..) UN, GA [], A/Res. /,  February , th plenary meeting,  December , Establishment of an international criminal court. In: UN. Documents, https://undocs.org/en/A/RES// (letzter Zugriff: ..) UN, GA [], A/RES//,  February , th Plenary Meeting,  December , Annex, Measures to eliminate international terrorism. In: UN. Documents, https://undocs.org/en/A/ RES// (letzter Zugriff: ..) UN [], SC, Resolution  (), Distr. General, S/RES/ (), Adopted by the SC at its rd meeting on  November , http://unscr.com/en/resolutions/doc/ (letzter Zugriff: ..) UN [], SC, Distr. General, S//  May , Letter Dated  May  from the Secretary General to the President of the SC, Annex: Final Report of the UN Commission of Experts Established Pursuant to SC Resolution  (). In: Legacy Website of the ICTY. Documents, http://www.icty.org/x/file/About/OTP/un_commission_of_experts_report_en.pdf (letzter Zugriff: ..) UN Human Rights Committee [], CCPR General Comment No. : Article  (Rights of Minorities),  April , CCPR/C//Rev./Add.. In: Refworld – UNHCR, https://www.refworld. org/docid/fc.html (letzter Zugriff: ..) UN [], SC, Distr. General, S/RES/ (),  May , Adopted by the SC at its th meeting on  May , http://www.icty.org/x/file/LegalLibrary/Statute/statute___ en.pdf (letzter Zugriff: ..) UN [], SC, S./,  May , Report of the Secretary-General Pursuant to Paragraph  of SC Resolution  (). Annex: Statute of the International Court. In: ICTY. Documents. Statute of the Tribunal, http://www.icty.org/x/file/LegalLibrary/Statute/statute_re__en.pdf (letzter Zugriff: ..)

494

Bib lio g ra p hi e UN [], A/RES//,  December , Declaration on the Rights of Persons Belonging to

National or Ethnic, Religious and Linguistic Minorities. In: University of Minnesota. Human Rights Library, http://hrlibrary.umn.edu/resolutions//GA.html (letzter Zugriff: ..) UN [], Doc. A//. Report of the International Law Commission on the Work of its fortythird Session ( April- July ). In: Yearbook of the International Law Commission . Bd. . Hg. v. UN. New York [u. a.] , - UN [], Doc. A/CN./, Report by J. Spiropoulos, Special Rapporteur,  April, . In: Yearbook of the International Law Commission . Bd. . Hg. v. UN. New York , - Völkerstrafgesetzbuch (VStGB). In: Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz. Gesetze/ Verordnungen, http://www.gesetze-im-internet.de/vstgb (letzter Zugriff: ..) »We the Peoples«, The Role of the UN in the st Century,  [Bericht präsentiert auf dem General Assembly Millennium Summit, .-.]. In: UN. Conferences, Meetings and Events, https:// www.un.org/en/events/pastevents/pdfs/We_The_Peoples.pdf (letzter Zugriff: ..) Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom . August  über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll II). Angenommen in Genf am . Juni . In: Völkerrecht. Textsammlung. . Aufl. Hg. v. Christian Tomuschat. Baden-Baden , -

Sekundärliteratur Adams, Alexandra: Der Tatbestand der Vergewaltigung im Völkerstrafrecht. Berlin  Ahlbrecht, Heiko: Geschichte der völkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im . Jahrhundert: unter besonderer Berücksichtigung der völkerrechtlichen Straftatbestände und der Bemühungen um einen Ständigen Internationalen Strafgerichtshof. Baden-Baden  Akashi, Kinji: Japan-Europe. In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Hg. v. Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford , - Åkermark Spiliopoulou, Athanasia: Justifications of Minority Protection in International Law. London [u. a.]  Albrecht, Ulrich: Militärisches Denken als Antwort auf globale Bedrohungen. In: Wissenschaft und Frieden -, http://www.wissenschaft-und-frieden.de/seite.php?artikelID= (letzter Zugriff: ..) Alexandris, Alexis: The Expulsion of Constantine VI: The Ecumenical Patriarchate and Greek Turkish Relations, -. In: Balkan Studies  () , - Almqvist, Jessica: The Politics of Recognition: The Question about the Final Status of Kosovo. In: Statehood and Self-Determination. Reconciling Tradition and Modernity in International Law. Hg. v. Duncan French. Cambridge , - Alpan, Aytek, Soner: But the Memory Remains: History, Memory and the  Greco-Turkish Population Exchange. In: The Historical Review/La Revue Historique IX (), - Ambedkar, Babasaheb R.: Pakistan or the Partition of India. . Aufl. Bombay  Ambedkar, Babasaheb R.: Pakistan or the Partition of India. Bombay  Ambos, Kai: Treatise on International Law. Bd. II: The Crimes and Sentencing. Oxford  Ambos, Kai: Sexuelle Gewalt in bewaffneten Konflikten und Völkerstrafrecht. In: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik  () , - Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. ., erw. Aufl. Frankfurt/M.  (Originalausgabe: Imagined Communities Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London ) Angy, Antonie: Imperialism, Sovereignty and the Making of International Law. Cambridge  Annan, Kofi: Interventions. A Life in War and Peace. New York  Aristide Briand, la Société des Nations et l’Europe -. Hg. v. Jacques Bariéty. Straßburg 

495

Bib lio g ra p hi e Arnauld, Andreas von: Völkerrecht. ., neu bearbeitete Aufl. Heidelberg  Askin Dawn, Kelly: Prosecuting Wartime Rape and Other Gender-Related Crimes under International Law: Extraordinary Advances, Enduring Obstacles. In: Berkeley Journal of International Law  () , - Askin Dawn, Kelly: War Crimes against Women. Prosecution in International War Crimes. Den Haag  Athen, Marco: Der Tatbestand des völkerrechtlichen Interventionsverbot. Baden-Baden  Atkins, Judi: Forward Thinking. A New Approach to Humanitarian Intervention? Tony Blair’s »Doctrine of the International Community«. In: British Politics  (), - Aust, Martin: Völkerrechtstransfer im Zarenreich. Internationalismus und Imperium bei Fedor F. Martens. In: Osteuropa  () , - Baberowski, Jörg: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt. . Aufl. München  Bachmann, Wiebke: Die UdSSR und der Nahe Osten: Zionismus, ägyptischer Antikolonialismus und sowjetische Außenpolitik bis . München  Badescu, Cristina Gabriela: Humanitarian Intervention and the Responsibility to Protect. Security and Human Rights. Abingdon [u. a.]  Bakić, Dragan: Nikola Pašić and the Foreign Policy of the Kingdom of Serbs, Croats and Slovenes, -. In: Balcanica  (), - Ball, Howard: Prosecuting War Crimes and Genocide. The Twentieth-Century Experience. Lawrence  Banken, Roland: Die Verträge von Sèvres  und Lausanne . Eine völkerrechtliche Untersuchung zur Beendigung des Ersten Weltkrieges und zur Auflösung der sogenannten »Orientalischen Frage« durch die Friedensverträge zwischen den alliierten Mächten und der Türkei. Berlin  Barnett, Michael: Empire of Humanity. A History of Humanitarianism. London [u. a.]  Barth, Boris: Europa nach dem großen Krieg: Die Krise der Demokratie in der Zwischenkriegszeit -. Frankfurt/M. [u. a.]  Bartl, Peter: Montenegro. In: Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Hg. v. Edgar Hösch, Karl Nehring und Holm Sundhaussen. Köln [u. a.] , -. Bartsch, Sebastian: Minderheitenschutz in der internationalen Politik. Völkerbund und KSZE/OSZE in neuer Perspektive. Opladen  Barutciski, Michael: Lausanne Revisited: Population Exchanges in International Law and Policy. In: Crossing the Aegean. An Appraisal of the  Compulsory Population Exchange between Greece and Turkey. . Aufl. Hg. v. Renée Hirschon. New York [u. a.] , - Bass, Gary J.: Freedom’s Battle. The Origins of Humanitarian Intervention. New York  Bass, Gary J.: Stay the Hand of Vengeance: The Politics of War Criminals Tribunals. Princeton  Bassiouni, M. Cherif: The Making of the International Criminal Court. In: International Criminal Law. Bd. III: International Enforcement. . Aufl. Hg. v. M. Cherif Bassiouni. Leiden , - Bassiouni, M. Cherif: The Time Has Come for an International Criminal Court. In: Indiana International and Comparative Law Review  (), - Batak kato mjasto na pametta/Batak als bulgarischer Erinnerungsort. Hg. v. Martina Baleva und Ulf Brunnbauer. Sofia  Baumgart, Winfried: Der Friede von Paris . Studien zum Verhältnis von Kriegsführung, Politik und Friedensbewegung. München [u. a.]  Baxi, Upendra: India-Europe. In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Hg. v. Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford , - Beck, Ulrich: Kosmopolitische Globalisierung. Die schöpferische Selbstzerstörung der Weltordnung. In: Internationale Politik () , -, https://zeitschrift-ip.dgap.org/de/ip-die-zeitschrift/archiv/jahrgang-/juli/kosmopolitische-globalisierung (letzter Zugriff: ..) Beer, Mathias: Flucht und Vertreibung der Deutschen. Voraussetzungen, Verlauf, Folgen. München 

496

Bib lio g ra p hi e Bekou, Olympia: History and Core International Crimes: Friends or Foes? In: History and International Law. An Intertwined Relationship. Hg. v. Annalisa Ciampi. Cheltenham ,  Bendikaitė, Eglė: Mittler zwischen den Welten. Shimshon Rosenbaum: Jurist, Zionist, Politiker. In: Osteuropa  () -, - Ben-Nun, Gilad: The Fourth Geneva Convention for Civilians. The History of International Humanitarian Law. London [u. a.]  Ben-Nun, Gilad: »Treaty after Trauma«: »Protection for All« in the Fourth Geneva Convention. In: History and International Law. An Intertwined Relationship. Hg. v. Annalisa Ciampi. Cheltenham , - Benzing, Markus: Das Beweisrecht vor internationalen Gerichten und Schiedsgerichten in zwischenstaatlichen Streitigkeiten. Heidelberg [u. a.]  Berman Nathaniel: Passion and Ambivalence. Colonialism, Nationalism, and International Law. Leiden [u. a.]  Bernath, Mathias. Das Osmanische Reich und Südosteuropa, -. In: Handbuch der europäischen Geschichte. Bd. : Europa von der Französischen Revolution zu den nationalstaatlichen Bewegungen des . Jahrhunderts. . Aufl. Hg. v. Walter Bussmann. Stuttgart , - Berry, David S.: The Caribbean. In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Hg. v. Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford , - Bertsch, Daniel: Anton Prokesch von Osten (-). Ein Diplomat Österreichs in Athen und an der Hohen Pforte. Beiträge zur Wahrnehmung des Orients im Europa des . Jahrhunderts. München  Berzeviczy, Albert de: La Hongrie et l’Union Interparlementaire. Activité du feu comte Albert Apponyi. In: La Hongrie dans les relations internationales. Hg. v. l’Association Hongroise des Affaires Etrangères et pour la Société des Nations. Budapest , - Bew, John: »From an Empire to a Competitor«: Castlereagh, Canning and the Issue of International Intervention in the Wake of the Napoleonic Wars. In: Humanitarian Intervention. A History. Hg. v. Brendan Simms und David J. B. Trim. Cambridge , - Bienk-Koolman, Sabine: Die Befugnis des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zur Einsetzung von ad hoc-Strafgerichtshöfen. Zur Rechtmäßigkeit der Einsetzung des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien sowie zum nachfolgenden Wandel in Praxis und Rechtsauffassung. Berlin  Biondich, Mark: The Balkans. Revolution, War, and Political Violence since . Oxford  Birkhäuser, Noah: Sanktionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen gegen Individuen. Bern [u. a.]  Blomeyer-Bartenstein: Horst, Conferences of Ambassadors. In: History of International Law. Foundations and Principles of International Law, Sources of International Law, Law of Treaties. Hg. v. Yong Zhou. Amsterdam  Bloxham, Donald/Gerwarth, Robert/Conway, Martin/Moses, A. Dirk/ Weinhauer, Klaus: Europe in the World. System and Cultures of Violence. In: Political Violence in Twentieth-Century Europe. Hg. v. Donald Bloxham und Robert Gerwarth. Cambridge , - Boeckh, Katrin: Von den Balkankriegen zum Ersten Weltkrieg. Kleinstaatenpolitik und ethnische Selbstbestimmung auf dem Balkan. München  Borger, Julian: Kofi Annan’s Syrian Strategy Echoes Past Failures in Bosnia and Rwanda . In: The Guardian, .. , https://www.theguardian.com/world//may//kofi-annan-weak-syria-violence (letzter Zugriff: ..) Bothe, Michael: Friedenssicherung und Kriegsrecht. In: Völkerrecht. . Aufl. Hg. v. Wolfgang Graf Vitzthum und Alexander Proelß. Berlin [u. a.] , - Brand, Ulrich: Internationale Politik. In: Globalgeschichte, -. Hg. v. Reinhard Siedler und Ernst Langthaler. Wien [u. a.] , - Brandes, Detlef/Sundhaussen, Holm/Troebst, Stefan: Vorwort. In: Lexikon der Vertreibungen.

497

Bib lio g ra p hi e Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung in Südosteuropa. Hg. v. Detlef Brandes, Holm Sundhaussen und Stefan Troebst. Wien [u. a.] , - Brandes, Detlef: Der Weg zur Vertreibung -. Pläne und Entscheidungen zum »Transfer« der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen. München  Brewer, David: The Greek War of Indepedence: The Struggle for Freedom from Ottoman Oppression. New York [u. a.]  Brook, Timothy: The Tokyo Judgment and the Rape of Nanking. In: The Journal of Asian Studies,  () , - Broszat, Martin: Das Sudetendeutsche Freikorps. In: Zeitgeschichte  () , - Brouwer, Anne-Marie de: Supranational Criminal Prosecution of Sexual Violence. The ICC and the Practice of the ICTY and ICTR. Antwerpen  Bruder, Franziska: »Den ukrainischen Staat erkämpfen oder sterben«. Die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) -, Berlin  Brumlik, Micha: Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen. Berlin  Brunnbauer, Ulf /Buchenau, Klaus: Geschichte Südosteuropas. Stuttgart  Brunnbauer, Ulf: Politische Entwicklung Südosteuropas von  bis /. In: Geschichte Südosteuropas. Vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. v. Konrad Clewing und Oliver Jens Schmitt. Regensburg , - Burkhardt, Sven-U.: Vergewaltigung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sexualisierte Gewalt, Makrokriminalität und Völkerstrafrecht. Münster  Butler, William: Periodization and International Law. In: Research Handbook on the Theory and History of International Law. Hg. v. Alexander Orakhelashvili. Cheltenham , - Cabanes, Bruno: The Great War and the Origins of Humanitarianism, -. New York [u. a.]  Calic, Marie-Janine: Südosteuropa. Weltgeschichte einer Region. München  Calic, Marie-Janine: Krieg und Frieden in Bosnien-Hercegovina. . Aufl., erw. Neuausgabe v. . Frankfurt/M.  Calic, Marie-Janine: Geschichte Jugoslawiens im . Jahrhundert, München  Campagna, Norbert, Völkerrecht. In: Handbuch Rechtsphilosophie. Hg. v. Eric Hilgendorf und Jan C. Joerden. Stuttgart , - Carteny, Andrea: All against One: The Congress of Oppressed Nationalities of Austria-Hungary (), Working Paper No . . In: Department of Communication, University of Toronto, http://wp.comunite.it/data/wp_no__.pdf (letzter Zugriff: ..). Cassese, Antonio: States: Rise and Decline of the Primary Subjects of the International Community. In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Hg. v. Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford , - Ciampi, Annalisa: History, Isolation and Effectiveness of Human Rights. In: History and International Law. An Intertwined Relationship. Hg. v. Annalisa Ciampi. Cheltenham , - Clark, Bruce: Twice a Stranger. The Mass Expulsions that Forged Modern Greece and Turkey. Cambridge  Clavin, Patricia: Securing the World Economy. The Reinvention of the League of Nations. . Oxford  Clewing, Konrad: Staatensystem und innerstaatliches Agieren im multiethnischen Raum: Südosteuropa im langen . Jahrhundert. In: Geschichte Südosteuropas. Vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. v. Konrad Clewing und Oliver Jens Schmitt. Regensburg , - Clogg, Richard: A Concise History of Greece. . Aufl. Cambridge  Coates, Ken: North American Indigenous Peoples’ Encounters. In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Hg. v. Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford , - Cogen, Marc: An Introduction to European Intergovernmental Organizations. Burlington [u. a.]  Cohen, Boaz: Dr. Jacob Robinson, the Institute of Jewish Affairs and the Elusive Jewish Voice in

498

Bib lio g ra p hi e Nuremberg. In: Holocaust and Justice. Representation and Historiography of the Holocaust in Post-War Trials. Hg. v. David Bankier und Dan Michman. Jerusalem , - Cohen, David: Öffentliche Erinnerung und Kriegsverbrecherprozesse in Asien und Europa. In: Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit . . Aufl. Hg. v. Christoph Cornelißen, Lutz Klinkhammer und Wolfgang Schwentker. Frankfurt/M. , - Collins, Emma: Admissibility in the Rome Statute of the International Criminal Court. Oxford [u. a.]  Conrad, Sebastian: Globalgeschichte. Eine Einführung. München  Constantinides, Aristoteles: The Cyprus Problem in the UN Security Council. In: Austrian Review of International and European Law  (), - Cowan, Jane K.: Fixing National Subjects in ’s Southern Balkans. Also an International Practice. In: American Ethologist  () , - Crampton, R. J.: A Concise History of Bulgaria. . Aufl. Cambridge [u. a.]  Craven, Matthew: Introduction. International Law and its Histories. In: Time, History and International Law. Hg. v. Matthew Craven, Malgosia Fitzmaurice und Maria Vogiatzi. Leiden [u. a.] , - Daase, Cindy: Der Superfriedensstifter – Richard Holbrooke und Martii Ahtisaari. Zur Rolle von Mediatoren in Friedens- und Rechtsetzungsprozessen. In: Leipziger Zugänge zur rechtlichen, politischen und kulturellen Verflechtungsgeschichte Ostmitteleuropas. Hg. v. Dietmar Müller und Adamantios Theodor Skordos. Leipzig , - Daddow, Oliver: Tony’s War? Blair, Kosovo and the Interventionist Impulse in British Foreign Policy. In: International Affairs  () , - Dahm, Georg/Delbrück, Jost/Wolfrum, Rüdiger: Völkerrecht. Der Staat und andere Völkerrechtssubjekte, Räume unter internationaler Verwaltung. Bd. I/. . Aufl. Berlin  Davion, Isabelle: Das System der kollektiven Sicherheit im Praxistest. Polen und die Tschechoslowakei im Völkerbund. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte  () , - Dekker, Guido Den: The Law of Arms Control. International Supervision and Enforcement, Den Haag  Deschênes, Jules, Qu’est-ce qu’ une minorité? In: Les cahiers de droit  () , - Diggelmann, Oliver: The Periodization of the History of International Law. In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Hg. v. Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford , - Dimitrov, Teodor: Der griechisch-bulgarische und griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch in den zwanziger Jahren. In: Die Minderheiten zwischen den beiden Weltkriegen. Hg. v. Umberto Corsini und Davide Zaffi. Berlin , - [Originalausgabe: Le minoranze tra le due guerre. Bologna ] Ditrych, Ondrei: »International Terrorism« as Conspiracy: Debating Terrorism in the League of Nations. In: Historical Social Research  () , - Dokumentarium zur Vorgeschichte des Weltkrieges -. Hg. v. Bernhard Schwertfeger. Berlin  Dörmann, Knut: Elements of War Crimes under the Rome Statute of the International Criminal Court. Sources and Commentary. Cambridge [u. a.]  Douglas, R. M.: »Ordnungsgemäße Überführung«. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. . Aufl. München  (Originalausgabe: »Orderly and Humane«. The Expulsions of the Germans after the Second World War. Yale ) Douglas-Scott, Sionaidh: EU Human Rights Law and History: A Tale of Three Narratives. History and International Law. An Intertwined Relationship. Hg. v. Annalisa Ciampi. Cheltenham , - Drach, Markus C. Schulte von: Vergewaltigung in bewaffneten Konflikten. Kampf um das Ende der sexuellen Kriegsführung. In: Süddeutsche.de, .., http://www.sueddeutsche.de/politik/ vergewaltigung-in-bewaffneten-konflikten-kampf-um-das-ende-der-sexuellen-kriegsfuehrung-. (letzter Zugriff: ..)

499

Bib lio g ra p hi e Dragostinova, Theodora: Between Two Motherlands: Nationality and Emigration among the Greeks of Bulgaria. London [u. a.]  Dragostinova, Theodora: Negating Nationality in the Emigration of Minorities between Bulgaria and Greece, -. In: East European Politics and Societies  () , - Duchhardt, Heinz: Der Wiener Kongress. Die Neugestaltung Europas /. München  Duchardt, Heinz: From the Peace of Westphalia to the Congress of Vienna. In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Hg. v. Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford , - Dülffer, Jost: Humanitäre Intervention, Menschenrechte und die Legitimation von Gewalt – Der deutsche Weg in den Zweiten Weltkrieg. In: Politische Gewalt in Deutschland: Ursprünge – Ausprägungen – Konsequenzen. Hg. v. José Brunner, Doron Avraham und Marianne Zepp. Göttingen , - Düllfer, Jost: Recht, Normen und Macht. In: Dimensionen internationaler Geschichte. Hg. v. Jost Düllfer und Wilfried Loth. München , - Efe, Peri: Ein Bürokrat und Gelehrter aus Milet-i Rum im Osmanischen Reich des . Jahrhunderts: Alexandros Karatheodoris. Diplomarbeit, Universität Wien  El Zeidy, Mohamed M.: The Genesis of Complementarity. In: The International Criminal Court and Complementarity. From Theory to Practice. Hg. v. Carsten Stahn und Mohamed M. El Zeidy. Cambridge [u. a.] , - El Zeidy, Mohamed M.: The Principle of Complementarity in International Criminal Law: Origin, Development and Practice. Leiden [u. a.]  Elias, T. O.: Africa and the Development of International Law. Hg. und überarbeitet v. Richard Akinjide. Dordrecht  Elias, T. O.: New Horizons in International Law. Alphen aan den Rijn  Elsner, Bernd Roland: Die Bedeutung des Volkes im Völkerrecht. Unter besonderer Berücksichtigung der historischen Entwicklung und der Praxis des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Berlin  Elwert, Georg: Market of Violence. In: Dynamics of Violence. Processes of Escalation and De-Escalation in Violent Group Conflicts. Hg. v. Georg Elwert und Stephan Feuchtwang. Berlin , - Ermacora, Felix: Minderheiten als Brücken und Gräben zwischen Staaten und Völkern. In: Die Minderheiten zwischen den beiden Weltkriegen. Hg. v. Umberto Corsini und Davide Zaffi. Berlin , - (Originalausgabe: Le minoranze tra le due guerre. Bologna ) Esquirol, Jorge L.: Latin America. In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Hg. v. Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford , - Evans, Gareth: The Responsibility to Protect. Ending Mass Atrocity once and for all. Washington  Evans, Malcom D.: Religious Liberty and International Law in Europe. Cambridge  Farbstein, Susan Hannah: The Effectiveness of the Exercise of Jurisdiction by the International Criminal Court: the Issue of Complementarity, ECMI Working Paper , August . In: European Centre for Minority Issues, https://www.ecmi.de/fileadmin/redakteure/publications/pdf/ working_paper_.pdf (letzter Zugriff: (..) Fassbender, Bardo/Wendehorst, Christiane/Wet, Erika de/Peters, Anne/Michaels, Ralf/Tietje, Christian/Merkt, Hanno/Weiss, Friedl/Hein, Jan von: Paradigmen im internationalen Recht. Implikationen der Weltfinanzkrise für das internationale Recht. Heidelberg [u. a.]  Ferencz, Benjamin B.: An International Criminal Court. A Step toward World Policy – A Documentary History and Analysis. Bd. : Half a Century of Hope. London [u. a.]  Figes, Orlando: Krimkrieg. Der letzte Kreuzzug. Berlin  [Originalausgabe: Crimea: The Last Crusade. New York ] Fink, Carole: Writing th Century International History: Explorations and Examples. Göttingen 

500

Bib lio g ra p hi e Fink, Carole: Defending the Rights of Others. The Great Powers, the Jews, and International Minority Protection. Cambridge  Fisch, Jörg: Adolf Hitler und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. In: Historische Zeitschrift  () , - Fisch, Jörg: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Domestizierung einer Illusion. München  Fraenkel, Ernst: Internationale Gerichts- und Schiedsbarkeit. In: Völkerrecht und Internationale Beziehungen. Hg. v. Günther Docker-Mach und Thomas Plümper. München , - Frank, Matthew: Making Minorities History: Population Transfer in Twentieth-Century Europe. Oxford  Frank, Matthew: Expelling the Germans. British Opinion and Post- Population Transfer in Context. Oxford [u. a.]  Fried, Nico: »Ich habe gelernt: Nie wieder Ausschwitz.« Die Erinnerung an das Vernichtungslager gehört zu den Leitlinien von Außenminister Joschka Fischer. In: Süddeutsche.de, .., http://www.sueddeutsche.de/politik/fischer-ich-habe-gelernt-nie-wieder-auschwitz-. (letzter Zugriff: ..) Fuhrmann, Johannes: Der Beitrag des Libanontribunals zur Weiterentwicklung des Völkerrechts. Berlin [u. a.]  Galnoor, Itzhak: The Partition of Palestine. Decision Crossroads in the Zionist Movement. Albany  Gardam, Judith G.: Women, human rights and international humanitarian law, International Review of the Red Cross, No. , ... In: ICRC. Resource Centre, https://www.icrc.org/ eng/resources/documents/article/other/jpg.htm (letzter Zugriff: ..) Gathii, James Thugo: Africa. In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Hg. v. Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford , - Gerlach, Christian: Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im . Jahrhundert. München  (Originalausgabe: Violent Societies: Mass Violence in the Twentieth-Century World. Cambridge ) Gerwarth, Robert, Die Besiegten: Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs, Berlin  [Originalausgabe: The Vanquished. Why the First World War Failed to End, -. London ] Geschichte der Menschenrechte im . Jahrhundert. Hg. v. Stefan-Ludwig Hoffmann. Göttingen  Gibbons, Herbert Adams: An Introduction to World Politics. New York  [Originalausgabe  Glasius, Marlies: Terror, Terrorizing, Terrorism: Instilling Fear as a Crime in the Cases of Radovan Karadzic and Charles Taylor. In: Narratives of Justice in and out of the Courtroom: Former Yugoslavia and Beyond. Hg. v. Dubravka Zarkov und Marlies Glasius. Heidelberg [u. a.] , - Gledhill, John/King, Charles: Institutions, Violence, and Captive States in Balkan History. In: Ottomans into Europeans. State and Institution Building in South-East Europe. Hg. v. Alina Mungiu-Pippidi und Wim van Meurs. London , - Glendon, Mary Ann: The Forgotten Crucible: The Latin Amerika Influence on the Universal Human Rights Idea. In: Harvard Human Rights Journal  (), - Gornig, Gilbert H.: Die Definition des Minderheitenbegriffs aus historisch-völkerrechtlicher Sicht. In: Minderheitenschutz und Menschenrechte. Hg. v. Dieter Blumenwitz, Gilbert H. Gornig und Dietrich Murswiek. Köln , - Grandits, Hannes: Südosteuropäische Geschichte als global verflochtene Regionalwissenschaft. Aktuelle Perspektiven des Berliner Wissenschaftsstandortes. In: Südosteuropäische Hefte  () , - Greive, Martin: Wissen Völkermord. Warum so viele Menschen in Ruanda gemordet haben. In: Die Welt N, .., http://www.welt.de/wissenschaft/article/Warum-so-vieleMenschen-in-Ruanda-gemordet-haben.html (letzter Zugriff: ..)

501

Bib lio g ra p hi e Greve, Kathrin: Vergewaltigung als Völkermord. Aufklärung sexueller Gewalt gegen Frauen vor internationalen Strafgerichten. Baden-Baden  Grewe, Wilhelm G.: Epochen der Völkerrechtsgeschichte. Baden-Baden  Grewe, Wilhelm G.: Vom europäischem zum universellen Völkerrecht. Zur Frage der Revision des »eurozentrischen Bildes« der Völkerrechtsgeschichte. In: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht  (), - Grimmeiß, Kevin: Sezession und Reaktion. Zur völkerrechtlichen Regelung des Sezessionsvorgangs. Tübingen  Gross, Leo: The Criminality of Aggressive War. In: Essays on International Law and Organization. Hg. v. Leo Gross. Bd. . Den Haag [u. a.] , - Grzebyk, Patrycja: Criminal Responsibility for the Crime of Aggression. New York [u. a.]  Grzybowski, Janis: To Be or Not Be: The Ontological Predicament of State Creation in International Law. In: The European Journal of International Law  () , - Guesta, José Luis de la/Ottenhof, Reynald: The Association Internationale de Droit Pénal and the Establishment of the International Criminal Court. In: Revue Internationale de Droit Pénal  () , - Gunneriusson, Håkan: Bordieuan Field Theory as an Instrument for Military Operational Analysis. Cham  Gütermann, Christoph: Das Minderheitenschutzverfahren des Völkerbundes. Berlin (West)  Hadler, Frank/Middell, Matthias: Transnationalisierung in Ostmitteleuropa bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. In: Handbuch einer transnationalen Geschichte Ostmitteleuropas. Bd. : Von der Mitte des . Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. v. Frank Hadler und Matthias Middell. Göttingen [u. a.] , - Hahn, Eva/Hahn, Hans Henning: Die Vertreibung im deutschen Erinnern: Legenden, Mythos, Geschichte. Paderborn [u. a.]  Halbach, Uwe/Richter, Solveig/Schaller, Christian: Kosovo – Sonderfall mit Präzedenzwirkung? Völkerrechtliche und politische Entwicklungen nach dem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs. Berlin  Halecki, Oskar: The Limits and Divisions of European History. London [u. a.]  Halecki, Oskar: Grenzraum des Abendlandes. Eine Geschichte Ostmitteleuropas. Salzburg  (Originalausgabe: Borderlands of Western Civilization. New York ) Hankel, Gerd: Die Leipziger Prozesse: Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem Ersten Weltkrieg. Hamburg  Harrington, Joanna: Feature Article in Honour of Fifty Years of the Yearbook/Article vedette en l’honneur des cinquante ans de l’Annuaire. Exploring the »Canadian« in the Canadian Yearbook of International Law. In: The Canadian Yearbook of International Law , - Hatschikjan, Magarditsch: Einleitung. Was macht Südosteuropa aus? In: Südosteuropa. Ein Handbuch. Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur. Hg. v. Magarditsch Hatschikjan und Stefan Troebst. München , - Hausleitner, Mariana: Deutsche und Juden in Bessarabien -. Zur Minderheitenpolitik Russlands und Großrumäniens. München  Heinsch, Robert: Die Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts durch die Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda. Zur Bedeutung von internationalen Gerichtsentscheidungen als Rechtsquelle des Völkerrechts. Berlin  Henckaerts, Jean-Marie: Mass Expulsion in Modern International Law and Practice. Den Haag [u. a.]  Henze, Martina: »Important forums […] among an Increasingly International Penological Community«: Die internationalen Gefängniskongresse -. In: Die Internationalisierung von Strafrechtswissenschaft und Kriminalpolitik (-). Deutschland im Vergleich. Hg. v. Sylvia Kesper-Biermann und Petra Overath. Berlin , -.

502

Bib lio g ra p hi e Heraclides, Alexis/Dialla, Ada: Humanitarian Intervention in the Long Nineteenth Century. Setting the Precedent. Manchester  Herdegen, Matthias: Syrien-Konflikt: Eingreifen erlaubt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, .., http://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/syrien-konflikt-eingreifen-erlaubt.html (letzter Zugriff: ..) Herdegen, Matthias: Völkerrecht. München  Herrmann, Florian: Das Standardwerk: Franz von Liszt und das Völkerrecht. Baden-Baden  Hillgruber, Christian: Macht und Recht in den internationalen Beziehungen. In: Macht und Recht. Völkerrecht in den internationalen Beziehungen. Hg. v. Ulrich Lappenküpper und Reiner Marcowitz. Paderborn , - Hillgruber, Christian: Der Staat im Völkerrecht. In: Zeitschrift für Rechtsphilosophie  () -, - Hillgruber, Christian: Die Aufnahme neuer Staaten in die Völkerrechtsgemeinschaft. Das völkerrechtliche Institut der Anerkennung von Neustaaten in der Praxis des . und . Jahrhunderts. Frankfurt/M. [u. a]  Hilpold, Peter: Von der humanitären Intervention zur Schutzverantwortung. In: Die Schutzverantwortung (RP). Ein Paradigmawechsel in der Entwicklung des internationalen Rechts? Hg. v. Peter Hilpold. Leiden , - Hilpold, Peter: The Kosovo Opinion of  July : Historical, Political and Legal Pre-Requisites. In: Kosovo and International Law. The ICJ Advisory Opinion of  July . Hg. v. Peter Hilpold. Leiden [u. a.] , - Hilpold, Peter: Humanitäre Intervention: Neue Perspektiven für ein geächtetes Instrument der Völkerrechtsgeschichte? In: Die Verteilung der Welt. Selbstbestimmung und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Hg. v. Jörg Fisch. München , - Hirschon, Renée: Preface. In: Crossing the Aegean. An Appraisal of the  Compulsory Population Exchange between Greece and Turkey. . Aufl. Hg. v. Renée Hirschon. New York [u. a.] , x–xvii Hobe, Stephan: Einführung in das Völkerrecht. Begründet von Otto Kimminich. . Aufl. Tübingen [u. a.]  Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des . Jahrhunderts. . Aufl. München  (Originalausgabe: Age of Extremes. The Short Twentieth Century -. London ) Hoffmann, Stefan-Ludwig: Zur Genealogie der Menschenrechte. In: Menschenrechte in der Weltgesellschaft. Deutungswandel und Wirkungsweise eines globalen Leitwerts. Hg. v. Bettina Heintz und Britta Leisering. Frankfurt/M. , - Holquist, Peter: Bureaucratic Diaries and Imperial Experts. Autobiographical Writing in Tsarist Russia in the late Nineteenth Century: Fëdor Martens, Dmitrii Miliutin, Pëtr Valuev. In: Imperial Subjects. Autobiographische Praxis in den Vielvölkerreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen im . und frühen . Jahrhundert. Hg. v. Martin Aust und Frithjof Benjamin Schenk. Wien [u. a.] , - Hoover, Herbert/Gibson, Hugh: The Problems of Lasting Peace. In: Prefaces to Peace. New York , - Höpken, Wolfgang: »Modern Wars« and »Backward Societies«: The Balkan Wars in the History of Twentieth-Century European Warfare. In: The Wars of Yesterday. The Balkan Wars and the Emergence of Modern Military Conflict, -. Hg. v. Katrin Boeckh und Sabine Rutar. New York [u. a.] , - Höpken, Wolfgang, Staatensystem. In: Südosteuropa. Ein Handbuch. Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur. Hg. v. Magarditsch Hatschikjan und Stefan Troebst. München , - Höpken, Wolfgang: »Blockierte Zivilisierung«? Staatsbildung, Modernisierung und ethnische Gewalt auf dem Balkan (./. Jahrhundert). In: Leviathan  (), - Hösch, Edgar: Geschichte der Balkanländer. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart. ., aktual. und erw. Aufl. München 

503

Bib lio g ra p hi e Housden, Marty: The League of Nations and the Organisation of Peace. Harlow  Hroch, Miroslav: Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas. Eine vergleichende Analyse zur gesellschaftlichen Schichtung der patriotischen Gruppen. Prag  Hudson, Manley O.: The Proposed International Criminal Court. In: The American Journal of International Law  () , - Humanitäre Intervention. Ein Instrument außenpolitischer Konfliktbearbeitung. Grundlagen und Diskussion. Hg. v. Herfried Münkler und Karsten Malowitz. Wiesbaden  Humanitarian Intervention: A History. Hg. v. Brendan Simms und David J. B. Trim. Cambridge  Hummer, Waldemar: Die Europäische Union und RP im Hinblick auf den internationalen Schutz von Menschenrechten. In: Schutzverantwortung in der Debatte. Die »Responsibility to Protect« nach dem Libyen-Dissens. Hg. v. Michael Staack und Dan Krause. Opladen [u. a.] , - Hümmrich-Welt, Simon: Responsibilty to Rebuild: Verantwortung zum Wiederauf bau von PostKonflikt-Staaten. Tübingen  Huntford, Roland: Nansen. The Explorer as Hero. London  ICRC: How is the Term »Armed Conflict« Defined in International Humanitarian Law?, Opinion Paper, March . In: ICRC. Resources. Documents. Article, https://www.icrc.org/eng/resources/documents/article/other/armed-conflict-article-.htm (letzter Zugriff: ..) Irmscher, Tobias H.: Minderheiten und Volksgruppen. In: Völkerrecht. Lexikon zentraler Begriffe und Themen. Hg. v. Burkhard Schöbener. Heidelberg [u. a.] , - Irmscher, Tobias H.: Selbstbestimmungsrecht der Völker. In: Völkerrecht. Lexikon zentraler Begriffe und Themen. Hg. v. Burkhard Schöbener. Hamburg , - Isensee, Josef: Krieg und Frieden. Im Zweifel für den Frieden. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, .., http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/krieg-und-frieden-im-zweifel-fuerden-frieden-.html?printPagedArticle=truepageIndex_ (letzter Zugriff: ..) Ishay, Micheline: The History of Human Rights: From Ancient Times to the Globalization Era. Berkeley  Jamison, Matthew: Humanitarian Intervention since  and »Liberal Interventionism«. In: Humanitarian Intervention. A History. Hg. v. Brendan Simms und David J. B. Trim. Cambridge [u. a.] , -  Janis, Mark W.: North America: American Exceptionalism in International Law. In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Hg. v. Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford , - Jergovic, Miljenko: Der Haß des Dusan Tadic. Verbrecher aus Loyalität – Anatomie eines bosnischen Archetypus. In: Zeit-Online, .., http://www.zeit.de///Der_Hass_des_Dusan_Tadic (letzter Zugriff: ..) Jeßberger, Florian: Zur Rolle des Internationalen Strafgerichtshofes bei der Verfolgung des Terrorismus. In: Neujustierung des Strafrechts durch Terrorismus und organisierte Kriminalität. Hg. v. Arndt Sinn und Mark A. Zöller. Heidelberg [u. a.] , - Jouannet, Emmanuelle: The Liberal-Welfarist Law of Nations: A History of International Law. Cambridge [u. a.]  Jurdi, Nidal Nabil: The International Criminal Court and National Courts: A Contentious Relationship. Burlington [u. a.]  Justenhoven, Heinz-Gerhard: Internationale Schiedsgerichtsbarkeit: Ethische Norm und Rechtswirklichkeit. Stuttgart  Kahn, Yasmin: The Great Partition. The Making of India and Pakistan. London [u. a.]  Kaldor, Mary: Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung. Berlin  (Originalausgabe: New and Old Wars. Organized Violence in a Global Era, Cambridge ) Kalnoky, Boris: Wer trägt die Schuld am Massaker von Srebrenica? In: Die Welt, .., https:// www.welt.de/print-welt/article/Wer-traegt-die-Schuld-am-Massaker-von-Srebrenica.html (letzter Zugriff: ..)

504

Bib lio g ra p hi e Kamouzis, Dimitris: Incorporating the Ecumenical Patriarchate into Modern Turkey: The Legacy of the  Patriarchal Election. In: When Greeks and Turks Meet. Interdisciplinary Perspectives on the Relationship since . Hg. v. Vally Lytra, London , - Katz, Yossi: Partner to Partition: The Jewish Agency’s Partition Plan in the Mandate Era. London [u. a.]  Katz, Yossi: Transfer of Population as a Solution to International Disputes. Population Exchanges between Greece and Turkey as a Model for Plans to Solve the Jewish-Arab Dispute in Palestine during the s. In: Political Geography  () , - Kau, Marcel: Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekt. In: Völkerrecht. . Aufl. Hg. v. Wolfgang Graf Vitzthum und Alexander Proelß. Berlin [u. a.] , - Kawashima, Shin: China. In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Hg. v. Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford , - Keber, Tobias O.: Der Begriff des Terrorismus im Völkerrecht: Entwicklungslinien im Vertrags- und Gewohnheitsrecht unter besonderer Berücksichtigung der Arbeiten zu einem »Umfassenden Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus«. Frankfurt/M.  Kessler, Wolfgang: Jugoslawien – Der erste Versuch. Vorgeschichte und Gründung des »ersten Jugoslawien«. In: Eine europäische Krisenregion in Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Jürgen Elvert. Stuttgart , - Keyserlingk, Robert H.: Arnold Toynbee’s Foreign Research and Press Service, - and its Post-war Plans for South-east Europe. In: Journal of Contemporary History  () ,  Khan, Mujeeb R.: The Ottoman Eastern Question and the Problematic Origins of Modern Ethnic Cleansing, Genocide, and Humanitarian Interventionism in Europe and the Middle East. In: War and Diplomacy. The Russo-Turkish War of - and the Treaty of Berlin. Hg. v. Hakan M. Yavuz und Peter Sluglett. Salt Lake City , - Kieniewicz, Stefan: The Free State of Cracow -. In: The Slavonic and East European Review  () , - Kiessling, Friedrich: Macht – Recht – Legitimität. Aufstieg und Verfall von Verrechtlichung und kollektiver Sicherheit in den internationalen Beziehungen der Zwischenkriegszeit. In: Macht und Recht. Völkerrecht in den internationalen Beziehungen. Hg. v. Ulrich Lappenküpper und Reiner Marcowitz. Paderborn , - King, Charles: The Moldovans: Romania, Russia, and the Politics of Culture. Stanford  Kintzinger, Martin: From the Late Middle Ages to the Peace of Westphalia. In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Hg. v. Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford , - Kirsch, Stefan/Oehmichen, Anna: Die Erfindung von »Terrorismus« als Völkerrechtsverbrechen durch den Sondergerichtshof für den Libanon. In: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik  (), - Kiste, Stephan: Naturrecht und Positives Recht. In: Handbuch Rechtsphilosophie. Hg. v. Eric Hilgendorf und Jan C. Joerden. Stuttgart , - Kleinschmidt, Harald: Geschichte des Völkerrechts in Krieg und Frieden, Tübingen  Koch, Arnd: Über den Wert der Verbrechenselemente (»Elements of Crimes«) gem. Art.  IStGHStatut. In: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik  () , - Kofi Annan. In: UN. Former Secretary-General, https://www.un.org/sg/en/content/kofi-annan (letzter Zugriff: ..) Köhler, Sabrina, Sexuelle Kriegsgewalt. Eine kritische Auseinandersetzung mit einem Kriegsphänomen beispielhaft am Balkankonflikt, MA-Arbeit, Europa-Universität Viadrina Frankfurt/O. , https://www.kuwi.europa-uni.de/de/lehrstuhl/lw/depolitbez/projekte/Gender-Lectures/SabrinaKoehler/MA-Sabrina-Koehler_Sexuelle-Kriegsgewalt_April-.pdf (letzter Zugriff: ..) Kohn, Elizabeth A.: Rape as Weapon for War: Women’s Human Rights during the Dissolution of Yugoslavia. In: Golden Gate University Law Review  () , -

505

Bib lio g ra p hi e Köksal, Özlem: Aesthetics of Displacement: Turkey and its Minorities on Screen. New York [u. a.]  Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords. In: Völkerrecht. Textsammlung. . Aufl. Hg. v. Christian Tomuschat. Baden-Baden , - Korzec, Paweł: Polen und der Minderheitenschutzvertrag (-). In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas  () , - Koskenniemi, Martti: Georg Friedrich von Martens (-) and the Origins of Modern International Law. In: Von der Diplomatie zum kodifizierten Völkerrecht:  Jahre Institut für Völkerrecht der Universität Göttingen (-). Hg. v. Christian Callies, Georg Nolte und PeterTobias Stoll. Köln , - Koskenniemi, Martti: Why History of International Law Today? In: Rechtsgeschichte  (), - Koskenniemi, Martti: The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of International Law, . Cambridge [u. a.]  Koskenniemi, Martti: Gustave Rolin-Jaequemyns and the Establishment of the Institut de Droit International (). In: Revue Belge de Droit International ( ), - Koskenniemi, Martti: Review of the Epochs of International Law. In: International and Comparative Law Quarterly  (), - Koskenniemi, Martii: History of International Law, since World War II. In: Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Juni , http://opil.ouplaw.com/view/./law:epil/ / law--e (letzter Zugriff: ..) Kovács, Péter: The Protection of Minorities under the Auspices of the League of Nations. In: The Oxford Handbook of International Human Rights Laws. Hg. v. Dinah Shelton. Oxford , - Krieger, Heike: Das Konzept der Internationalen Schutzverantwortung (..). In: Bundeszentrale für Politische Bildung (Nr. /), http://www.bpb.de/izpb//das-konzept-derinternationalen-schutzverantwortung (letzter Zugriff: ..) Kroll, Stefan: Normgenesse durch Re-Interpretation. China und das europäische Völkerrecht im . und . Jahrhundert. Frankfurt/M.  Krüger, Peter: From the Paris Peace Treaties to the End of the Second World War. In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Hg. v. Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford , - Kunde, Martin: Der Präventivkrieg. Geschichtliche Entwicklung und gegenwärtige Bedeutung. Frankfurt/M. [u. a.]  Kunz, Josef L.: Kriegsrecht und Neutralitätsrecht. Berlin [u. a.]  Kührer-Wielach, Florian: Siebenbürgen ohne Siebenbürger? Zentralstaatliche Integration und politischer Regionalismus nach dem Ersten Weltkrieg. München  Künnecke, Arndt: Der europäische Minderheitenbegriff. Entwicklung und Wirkung, Tl. . In: Jurisprudencija/Jurisprudence  () , - Kürkçüoğlü, Ömer: The Adoption and Use of Permanent Diplomacy. In: Ottoman Diplomacy. Conventional or Unconventional? Hg. v. A. Nuri Yurdusev. New York , - Lachs, Manfred: The Teacher in International Law (Teachings and Teaching). Den Haag [u. a.]  Ladas, Stephen P.: The Exchange of Minorities. Bulgaria, Greece and Turkey. New York  Lange, Felix: Wider das »völkerrechtliche Geschwafel« – Hermann Mosler und die praxisorientierte Herangehensweise an das Völkerrecht im Rahmen des Max-Planck-Instituts. In: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (ZaöRV)  (), - Lauterpacht, Elihu: The Life of Hersch Lauterpacht. Cambridge  Leggewie, Claus: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt. München  Lemberg, Hans: Sind nationale Minderheiten Ursachen für Konflikte? Entstehung des Problems und Lösungskonzepte in der Zwischenkriegszeit. In: Definitionsmacht, Utopie, Vergeltung.

506

Bib lio g ra p hi e »Ethnische Säuberung« im östlichen Europa des . Jahrhunderts. Hg. v. Ulf Brunnbauer, Michael G. Esch und Holm Sundhaussen. Berlin , - Lemnitzer, Jan Martin: Power, Law and the End of Privateering. New York  Leontaritis, George B.: Greece and the First World War: From Neutrality to Intervention, -. Colorado  Leontiades, Leonidas: Der griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch. In: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht  (), - Lesaffer, Randall: The End of the Cold War: An Epochal Event in the History of International Law? In: Tilburg Working Paper Series on Jurisprudence and Legal History  (), - Lesaffer, Randall: Introduction. in: Peace Treaties and International Law in European History. From the Late Middle Ages to World War One. . Aufl. Hg. v. Randal Lesaffer. Cambridge [u. a.] , - Lesaffer, Randall: International Law and Its History: The Story of an Unrequited Love. In: Time, History and International Law. Hg. v. Matthew Craven, Malgosia Fitzmaurice und Maria Vogiatzi. Leiden [u. a.] , - Lewis, Mark: The History of the International Association of Penal Law, -: Liberal, Conservative, or Neither? In: Historical Origins of International Criminal Law. Bd. . Hg. v. Morten Bergsmo, Cheah Ling Wui, Song Tianying und Yi Ping. Brüssel , - Lewis, Mark: The Birth of the New Justice. The Internationalization of Crime and Punishment, -. Oxford  Link, Werner: Macht und Völkerrecht zwischen den beiden Weltkriegen. in: Macht und Recht. Hg. v. Ulrich Lappenküpper und Reiner Marcowitz. Paderborn [u. a.] , - Link, Werner: Die Neuordnung der Weltpolitik. Grundprobleme globaler Politik an der Schwelle zum . Jahrhundert. München , - Livanios, Dimitris: »Conquering the Souls«. Nationalism and Greek Guerrilla Warfare in Ottoman Macedonia, -. In: Byzantine and Modern Greek Studies  (), - Lock, Tobias: Das Verhältnis zwischen dem EuGH und internationalen Gerichten. Tübingen  Loeffler, James: Völkerrecht. In: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Bd.  (Ta – Z). Hg. v. Dan Diner. Stuttgart [u. a.] , - Londres, Albert: Les Comitadjis ou le terrorisme dans les Balkans. Paris  Lovrić-Pernak, Kristina: Morale internationale und humanité im Völkerrecht des späten . Jahrhunderts. Bedeutung und Funktion in Staatenpraxis und Wissenschaft. Frankfurt/M.  Lucas, Daphne: Die Weiterentwicklung des Schutzes vor sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten durch die internationale Gerichtsbarkeit. In: Gunda Werner Institut der Heinrich Böll Stiftung, .., http://www.gwi-boell.de/de////die-weiterentwicklung-des-schutzes-vor-sexueller-gewalt-bewaffneten-konflikten-durch-die (letzter Zugriff: ..). Maas, Peter: Love Thy Neighbor. A Story of War. New York  Macartney, Carlile Aylmer: National States and National Minorities. Oxford  Macht und Recht. Hg. v. Ulrich Lappenküpper und Reiner Marcowitz. Paderborn [u. a.]  Madsen, Mikael Rask: Legal Diplomacy. Die europäische Menschenrechtskonvention und der Kalte Krieg. In: Geschichte der Menschenrechte im . Jahrhundert. Hg. v. Stefan-Ludwig Hoffmann. Göttingen , - Makrydimitris, Antonis: Oi ypourgoi ton exoterikon tis Elladas -. Athen  Mälksoo, Lauri: Russian Approaches to International Law. Oxford  Mälksoo, Lauri: Russia-Europe. In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Hg. v. Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford , - Mälksoo, Lauri: Friedrich Fromhold von Martens (Fyodor Fyodorovich Martens), -. In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Hg. v. Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford , - Mandela, Nelson: Address Delivered at Kosovo Seminar. In: A Continent Apart. Kosovo, Africa and Humanitarian Intervention. Hg. v. Elizabeth Sidiropoulos. Johannesburg , -

507

Bib lio g ra p hi e Mann, Michael: The Dark Side of Democracy. Explaining Ethnic Cleansing. Cambridge  Maogoto, Jackson: Early Efforts to Establish an International Criminal Court. In: The Legal Regime of the International Criminal Court. Essays in Honour of Professor Igor Blishchenko. Hg. v. José Doria, Hans-Peter Gasser und Cherif M. Bassiouni. Leiden , - Marjanović, Vladislav: Das Attentat von Marseille und die Internationale Bekämpfung des Terrorismus. In: Zeitgeschichte  (), - Marsh, Peter: Lord Salisbury and the Ottoman Massacres. In: Journal of British Studies  () , - Marston, Geoffrey: Early Attempts to Suppress Terrorism: The Terrorism and International Criminal Court Conventions of . In: British Yearbook of International Law  () , - Masalha, Nur: »Dis/Solving« the Palestinian Refugee Problem. Israeli »Resettlement« Plans in the First Decade of the State (-). In: Across the Wall. Narratives of Israeli-Palestinian History. Hg. v. Ilan Pappé und Jamil Hilal. London [u. a.] , - Masalha, Nur: Imperial Israel and the Palestinians. The Politics of Expansion. London [u. a.]  Mastronardi, Philippe: Menschenwürde und kulturelle Bedingtheit des Rechts. In: Die Rechtsstellung des Menschen im Völkerrecht: Entwicklungen und Perspektiven. Hg. v. Thilo Marauhn. Tübingen , - Mazower, Mark: Governing the World. The History of an Idea. London [u. a.]  Mazower, Mark: Saviors and Sovereigns: The Rise and Fall of Humanitarianism. In: World Affairs Journal, März/April , https://cgt.columbia.edu/wp-content/uploads///Saviors-Sovereigns-The-Rise-and-Fall-of-Humanitarianism.pdf (letzter Zugriff: ..) Mazower, Mark: Der Balkan. . Aufl. Berlin  (Originalausgabe: The Balkans. A Short History. London ) Mazower, Mark: Minorities and the League of Nations in Interwar Europe. In: Human Diversity  () , - Mazowiecki, Tadeusz: Serbien trägt die größte Schuld. In: Die Zeit, ..,  Medoff, Rafael: Zionism and the Arabs. An American Jewish Dilemma, -. Westport  Meijknecht, Anna: Minority Protection System between World War I and World War II. In: Max Planck Encyclopedia of Public International Law (letzte Aktualisierung: Oktober ), http:// opil.ouplaw.com/view/./law:epil//law--e?rskey=ugwUm d&result=&prd=EPIL (letzter Zugriff: ..) Meijknecht, Anna: Towards International Personality: The Position of Minorities and Indigenous Peoples in International Law. Antwerpen [u. a.]  Mendelsohn, Kurt: The Balance of Resettlements: A Precedent for Palestine. Leiden  Menschenrechte. Jolie und Hague trommeln gegen sexuelle Gewalt in Kriegen. In: Deutsche Welle, .., http://www.dw.de/jolie-und-hague-trommeln-gegen-sexuelle-gewalt-in-kriegen/ a- (letzter Zugriff: ..) Merkel, Reinhard: Vorwort. In: Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht. Hg. v. Reinhard Merkel. Frankfurt/M. , - Meron, Theodor: The Normative Impact on International Law of the International Tribunal for Former Yugoslavia. In: War Crimes Law Comes of Age: Essays. Hg. v. Theodor Meron. Oxford , - Meron, Theodor: War Crimes Law Comes of Age. In: The American Journal of International Law  () , - Meron, Theodor: War Crimes in Yugoslavia and the Development of International Law. In: The American Journal of International Law  () , - Meron, Theodor: Rape as Crime under International Humanitarian Law. In: The American Journal of International Law  () , - Meyer, Frank: Die Verantwortlichkeiten von Vertragsstaaten nach der Völkermordkonvention. Besprechung zum Urteil des Internationalen Gerichtshofs vom . Februar . In: Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht  () , -

508

Bib lio g ra p hi e Middell, Matthias: Was ist ein globaler Moment? Überlegungen anhand des Jahres . In: Leipziger Zugänge zur rechtlichen, politischen und kulturellen Verflechtungsgeschichte Ostmitteleuropas. Hg. v. Dietmar Müller und Adamantios Theodor Skordos. Leipzig , - Mill, John Stuart: A few words on Non-Intervention. In: Fraser’s Magazine (). Nachdruck in: Foreign Policy Perspectives  (), - Miller, Russell A./Bratspies, Rebecca M.: Progress in International Law – An Explanation of the Project. In: Progress in International Law. Hg. v. Russell A. Miller und Rebecca M. Bratspies. Leiden [u. a.] , - Minority Schools in Albania (Albania, Greece), Advisory. In: The World Court Reference Guide. Judgments, Advisory Opinions and Orders of the Permanent Court of International Justice and the International Court of Justice (-). Hg. v. Bimal N. Patel. Dordrecht , - Mitrović, Andrej: Jugoslavija na Konferenciji mira -. Belgrad  Morris, Benny: Yosef Weitz and the Transfer Committees -. In: Middle Eastern Studies  () , - Mosler, Hermann: Die Konferenz zur internationalen Bekämpfung des Terrorismus (November ). In: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht  (), - Motta, Giuseppe: Less than Nations. Central-Eastern European Minorities after WWI. Bd. . Cambridge  Moutafidou, Ariadni: Anton Prokesch von Osten in Athen -. Ein Beitrag zu einem differenzierten Bild seiner politischen Ziele und seines Staatskonzepts. In: Österreichische Osthefte  (), - Moyn, Samuel. The Last Utopia: Human Rights in History. Cambridge  Müller, Dietmar: Staaten als Opfer, Staaten als Täter. Das Attentat von Marseille  und seine völkerrechtlichen Folgen. In: Mitropa , - Müller, Dietmar: Zu den Anfängen des Völkerstrafrechts. Vespasian Pella und Raphael Lemkin. In: Leipziger Zugänge zur rechtlichen, politischen und kulturellen Verflechtungsgeschichte Ostmitteleuropas. Hg. v. Dietmar Müller und Adamantios Theodor Skordos. Leipzig , - Müller, Dietmar: Staatsbürger auf Widerruf. Juden und Muslime als Alteritätspartner im rumänischen und serbischen Nationscode. Ethnonationale Staatsbürgerschaftskonzepte, -. Wiesbaden  Müller, Dietmar: Das »lange« . Jahrhundert der »ethnischen Säuberungen« in Europa. In: Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas  (), - Münkler, Herfried: Die neuen Kriege. . Aufl. Hamburg  Münkler, Herfried: Die neuen Kriege. Kriege haben ihre Gestalt fundamental verändert. In: Der Bürger im Staat  () , - Mulligan, William: The Great War for Peace. New Haven [u. a.]  Naimark, Norman M.: Zwangsmigration im Europa des . Jahrhunderts: Probleme und Verlaufsmuster. In: Comparativ  () , - Naimark, Norman M.: Stalin und der Genozid. Berlin  (Originalausgabe: Stalin’s Genocides. Princeton ) Naimark, Norman M.: Flammender Haß. Ethnische Säuberungen im . Jahrhundert. . Aufl. Frankfurt/M.  (Originalausgabe: Fires of Hatred. Ethnic Cleansing in Twentieth-Century Europe. Harvard ) Naumann, Katja: Zwischen nationaler und transnationaler Geschichtsschreibung: Der ostmitteleuropäische Internationalismus vor dem Ersten Weltkrieg. In: Handbuch einer transnationalen Geschichte Ostmitteleuropas. Bd. : Von der Mitte des . Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. v. Frank Hadler und Matthias Middell. Göttingen , - Naumann, Katja: Verflechtung durch Internationalisierung. Die ostmitteleuropäische Partizipation an Internationalen Organisation. In: Handbuch einer transnationalen Geschichte Ostmitteleuropas. Bd. : Von der Mitte des . Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. v. Frank Hadler und Matthias Middell. Göttingen , -

509

Bib lio g ra p hi e Neff, Stephen C.: War and the Law of Nation. A General History. Cambridge  Newman, Bernard: Danger Spots of Europe. London  Niewerth, Johannes: Der kollektive und der positive Schutz von Minderheiten und ihre Durchsetzung im Völkerrecht. Berlin  Nijman, Janne E.: Minorities and Majorities. In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford , - Normand, Roger/Zaidi, Sarah: Human Rights at the UN. The Political History of Universal Justice. Bloomington  Ntovas, Alexandros: The Paradox of Kosovo’s Parallel Legal Orders in the Reasoning of the Court’s Advisory Opinion. In: Statehood and Self-Determination. Reconciling Tradition and Modernity in International Law. Hg. v. Duncan French. Cambridge , - O’Boyle, Michael/Lafferty, Michelle: General Principles and Constitutions as Sources of Human Rights Law. In: The Oxford Handbook of International Human Rights Laws. Hg. v. Dinah Shelton. Oxford , - O’Connell, Mary Ellen: Peace and War. In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Hg. v. Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford , - O’Grady, Siobhán: Kofi Annan’s Legacy was Complicated by the Rwandan Genocide. In: The Washington Post, .., https://www.washingtonpost.com/world////kofi-annans-legacy-was-complicated-by-rwandan-genocide/?noredirect=on (letzter Zugriff: ..) »Obama: Souveränität kein Schutzschild für Tyrannen«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, ..,  Obregón, Liliana: The Civilized and the Uncivilized. In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Hg. v. Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford , - Onuf, Nicholas: Humanitarian Intervention: The Early Years. In: Florida Journal of International Law  () , - Opfer, Björn: Im Schatten des Krieges. Besatzung oder Anschluss – Befreiung oder Unterdrückung? Eine komparatistische Untersuchung über die bulgarische Herrschaft in Vardar-Makedonien - und -. Münster  Opitz, Peter J.: Menschenrechte und Internationaler Menschenrechtsschutz im . Jahrhundert. München  Oppenheim, Lassa: The Science of International Law. Its Task and Method. In: The American Journal of International Law  () , - Oral, Nilufer: Regional Co-operation and Protection of the Marine Environment Under International Law. Leiden  Orford, Anne: Reading Humanitarian Intervention. Human Rights and the Use of Force in International Law. Cambridge [u. a.]  Osterhammel, Jürgen: Schutz, Macht und Verantwortung. Protektion im Zeitalter der Imperien und danach. In: Die Flughöhe der Adler. Historische Essays zur globalen Gegenwart. Hg. v. Jürgen Osterhammel. München , - Osterhammel, Jürgen: Kosmopolis und Imperium. Von Anerkennung zur Verantwortung. In: Die Flughöhe der Adler. Historische Essays zur globalen Gegenwart. Hg. v. Jürgen Osterhammel. München , S. - Osterhammel, Jürgen: Cosmopolis und Imperium. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. , .., N Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des . Jahrhunderts. . Aufl. München  Osterhammel, Jürgen: Krieg im Frieden. Zu Form und Typologie imperialer Interventionen. In: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaates. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich. . Aufl. Hg. v. Jürgen Osterhammel. Göttingen , - Ottomans into Europeans. State and Institution Building in South-East Europe. Hg. v. Wim van Meurs und Alina Mungiu-Pippidi. London 

510

Bib lio g ra p hi e Özsu, Umut: Formalizing Displacement. International Law and Population Transfers. Oxford  Özsu, Umut: Ottoman Empire. In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Hg. v. Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford , - Paech, Norman/Stuby, Gerhard: Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen, aktual. Ausgabe. Hamburg  Pappe, Ilan: Die ethnische Säuberung Palästinas. . Aufl. Berlin [u. a.]  (Originalausgabe: The Ethnic Cleansing of Palestine. Oxford ) Pasha, Djemal: Memoirs of a Turkish Statesman, -. New York  Patel, Bimal N.: India. In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Hg. v. Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford , - Paul, Angela: Kritische Analyse und Reformvorschlag zu Art. II Genozidkonvention. Berlin [u. a.]  Payk, Marcus M.: Institutionalisierung und Verrechtlichung. Die Geschichte des Völkerrechts im späten . und frühen . Jahrhundert. In: Archiv für Sozialgeschichte  (), - Paz, Reut Yael: »If I forget thee, O Jerusalem«, International Law, and Jerusalem. In: International Law and Religion. Historical ans Contemporary Perspectives. Hg. v. Martti Koskenniemi, Mónica García-Salmones Rovira und Paolo Amorosa. Oxford , - Peace Treaties and International Law in European History. From the Late Middle Ages to World War One. . Aufl. Hg. v. Randall Lesaffer. Cambridge [u. a.]  Pekesen, Berna: Vertreibung und Abwanderung der Muslime vom Balkan. In: EGO – Europäische Geschichte Online. Hg. v. Institut für Europäische Geschichte, .., http://ieg-ego.eu/de/ threads/europa-unterwegs/ethnische-zwangsmigration/berna-pekesen-vertreibung-der-muslimevom-balkan (letzter Zugriff: ..) Pella, Vespasian V.: Towards an International Criminal Court. In: American Journal of International Law  () , - Pentzopoulos, Dimitris: The Balkan Exchange of Minorities and its Impact on Greece. London  (Originalausgabe Paris/Den Haag ) Pernthaler, Peter: Die Entstehung des völkerrechtlichen Menschenrechts- und Minderheitenschutzes im . und . Jahrhundert. Wien  Pietropaoli, Stefano: Defining Evil. The War of Aggression and International Law. In: Jura gentium di filosofia del diritto internazionale e della politica, , http://www.juragentium.org/topics/ wlgo/cortona/en/pietropa.htm (letzter Zugriff: ..) Piskorski, Jan M.: Die Verjagten. Flucht und Vertreibung im Europa des . Jahrhunderts. München  (Originalausgabe: Wygnańcy. Przesiedlenia i uchodźy w dwudziestowiecznej Europie. Warschau ) Pohanka, Reinhard: Das Osmanische Reich. Wiesbaden  Pohl, Rolf: Sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe. In: Heinrich Böll Stiftung. Gunda Werner Institut. Feminismus und Geschlechterdemokratie, .., http://www.gwi-boell.de/de//// sexualisierte-gewalt-als-kriegeswaffe (letzter Zugriff: ..) Pompe, Cornelis Arnold: Aggressive War: An International Crime. Den Haag  Portmann, Michael: Politische Geschichte Südosteuropas von  bis . In: Geschichte Südosteuropas. Vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. v. Konrad Clewing und Oliver Jens Schmitt. Regensburg , - Prasad, Rajendra: India Divided. . Aufl. Bombay  Preiser, Wilhelm: Die Epochen der antiken Völkerrechtsgeschichte. In: Juristenzeitung  (), - Preuß, Ulrich K.: Der Kosovo-Krieg, das Völkerrecht und die Moral. In: Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht. Hg. v. Reinhard Merkel. Frankfurt/M. , - Pritchard, Sarah: Der völkerrechtliche Minderheitenschutz: historische und neuere Entwicklungen. Berlin  Pustogarov, Vladimir Vasil’evich: Our Martens. F. F. Martens, International Lawyer and Architect of Peace. Den Haag 

511

Bib lio g ra p hi e Quigley, John: Soviet Legal Innovation and the Law of the Western World. Cambridge [u. a.]  Quinn-Judge, Sophie: Fraternal Aid, Self-defence, or Self-interest? Vietnam’s Intervention in Cambodia, -. In: Humanitarian Intervention: A History. Hg. v. Brendan Simms und David J. B. Trim. Cambridge , - Ralston, Jackson Harvey: International Arbitration from Athens to Locarno. Stanford [u. a.]  Raphael, Lutz: Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa -, München  Rasilla, Ignacio de la: The Problem of Periodization in the History of International Law. In: Law and History Review  () , - Rathberger, Andreas: The Ambassador’s Conference of Constantinople, the Cretan Crisis, and the Plans for an International Condominium over the Ottoman Empire -. In: Südost-Forschungen  (), - Reisman, W. Michael: Editorial Comments. Coercion and Self-Determination: Construing Charter Article  (). In: American Journal of International Law  () , - Reisman, W. Michael: Sanctions and Enforcement. In: The Future of the International Legal Order. Bd. . Hg. v. Cyril Black und Richard Falk. Princeton , - Richter, Christian: Tödliche militärische Gewalt und strafrechtliche Verantwortung. Anmerkungen zum Einstellungsbeschluss der Generalbundesanwaltschaft. In: Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht  () , - Richter, Heinz A.: Der griechisch-türkische Krieg -. Mainz  Richter, Heinz A.: Geschichte der Insel Zypern. Bd. : -. Ruhpolding  Rindfleisch, Alexander: Zwischen Kriegserwartung und Verrechtlichung: Die internationalen Debatten über das Seekriegsrecht, -. Norderstedt  Röben, Betsy: Johann Caspar Bluntschli, Francis Lieber und das moderne Völkerrecht -. Baden-Baden  Röben, Volker: Der völkerrechtliche Rahmen für die Sezession einer Minderheit aus dem Staatsverband: Kosovo als Präzedenzfall? In: Die Friedens-Warte  () , - Roberts, Ivor: The Black Hand and the Sarajevo Conspiracy. In: Balkan Legacies of the Great War. The Past is Never Dead. Hg. v. Othon Anastasakis, David Madden und Elizabeth Roberts. London [u. a.] , - Rodogno, Davide: Against Massacre. Humanitarian Intervention in the Ottoman Empire, -. Princeton  Roelofsen, Cornelis G.: International Arbitration and Courts. In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Hg. v. Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford , - Rohdewald, Stefan: Mehr als Feind oder Freund: Überregionale Kommunikation im (süd)östlichen Europa von den Osmanen bis zum Kalten Krieg. Berlin  Roscher, Bernhard: Der Briand-Kellogg-Pakt von . Der Verzicht auf den Krieg als Mittel nationaler Politik im völkerrechtlichen Denken der Zwischenkriegszeit. Baden-Baden  Rubin, Gil: The End of Minority Rights: Jacob Robinson and the »Jewish Question« in World War II. In: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts  (), - Ryne, Linn: Fridtjof Nansen. Man of many facets. In: Metropolitan News Company, o. D., http:// www.mnc.net/norway/Nansen.htm (letzter Zugriff: ..) Saab, Ann Pottinger: Reluctant Icon. Gladstone, Bulgaria and the Working Classes, -. Cambridge  Safferling, Christoph: Internationales Strafrecht. Strafanwendungsrecht, Völkerstrafrecht, Europäisches Strafrecht. Berlin [u. a.]  Sahara, Tetsuya: Two Different Images. Bulgarian and English Sources on the Batak Massacre. In: War and Diplomacy. The Russo-Turkish War of - and the Treaty of Berlin. Hg. v. Hakan M. Yavuz und Peter Sluglett. Salt Lake City , - Sahli, Fatiha/El Quazzani, Abdelmalek: Africa North of the Sahara and Arab Countries. In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Hg. v. Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford , -

512

Bib lio g ra p hi e Satjukow, Elisa: Die andere Seite der Intervention: Eine serbische Erfahrungsgeschichte der NATOBombardierung . Bielefeld  Saul, Ben: The Legal Response of the League of Nations to Terrorism. In: Journal of International Criminal Justice  (), - Saxer, Urs: Die internationale Steuerung der Selbstbestimmung und der Staatsentstehung. Selbstbestimmung, Konfliktmanagement, Anerkennung und Staatennachfolge in der neueren Völkerrechtspraxis. Heidelberg [u. a.]  Sbârnă, Gheorghe: The Interparliamentary Conferences. Elements of Participation to the Construction of the European Ideas in the first Inter-War Decade, In: Europe as Viewed from the Margins. An East-Central European Perspective from World War I to the Cold War. Hg. v. Ion Stanciu, Silviu Miloiu und Iulian Oncescu. Târgovişte , - Schabas, William A.: International Sentencing: From Leipzig () to Arusha (). In: International Criminal Law. Bd. : International Enforcement. . Aufl. Hg. v. M. Cherif Bassiouni. Leiden , - Schabas, William A.: An Introduction to the International Criminal Court. . Aufl. Cambridge [u. a.]  Schabas, William A.: An Introduction to the International Criminal Court. . Aufl. Cambridge  Schachter, Oscar: The Legality of Pro-Democratic Invasion. In: American Journal of International Law  () , - Schechtman, Joseph B.: Population Transfer in Asia. New York  Schechtman, Joseph B.: European Population Transfers -. New York  Scherrer, Christian P.: Genocide and Crisis in Central Africa: Conflict Roots, Mass Violence, and Regional War. London  Scheuermann, Martin: Minderheitenschutz contra Konfliktverhütung? Die Minderheitenpolitik des Völkerbunds in den zwanziger Jahren. Marburg  Scheuermann, Martin: Ein Weltende mit Hindernissen. Albanische Muslime in Griechenland und der »Bevölkerungstausch«. In: Finis mundi – Endzeiten und Weltenden im östlichen Europa. Festschrift für Hans Lemberg zum . Geburtstag. Hg. v. Joachim Hösler und Wolfgang Kessler. Stuttgart , - Schmidt-Rösler, Andrea: Rumänien nach dem Ersten Weltkrieg: Die Grenzziehung in der Dobrudscha und im Banat und die Folgeprobleme. Frankfurt/M.  Schmitt, Oliver Jens: Căpitan Codreanu. Aufstieg und Fall des rumänischen Faschistenführers. Wien  Schmitt, Oliver Jens: Die Albaner. Eine Geschichte zwischen Orient und Okzident. München  Schöllgen, Gregor: Das Zeitalter des Imperialismus. . Aufl. München  Schröder, Meinhard: Verantwortlichkeit, Völkerstrafrecht, Streitbeilegung und Sanktionen. In: Völkerrecht. . Aufl. Hg. v. Wolfgang Graf Vitzthum und Alexander Proelß. Berlin [u. a.] , - Schulz, Matthias: Internationale Institutionen. In: Dimensionen internationaler Geschichte. Hg. v. Jost Dülffer und Wilfried Loth. München , - Schulz, Matthias: The Guarantees of Humanity: the Concert of Europe and the Origins of the Russo-Ottoman War of . In: Humanitarian Intervention: A History. Hg. v. Brendan Simms und David J. B. Trim. Cambridge , - Schulz, Matthias: Normen und Praxis. Das Europäische Konzert der Großmächte als Sicherheitsrat, -. München  Schulz, Oliver: Ein Sieg der zivilisierten Welt? Die Intervention der europäischen Großmächte im griechischen Unabhängigkeitskrieg (-). Berlin  Schulz, Oliver: »This clumsy fabric of barbarous power«. Die europäische Außenpolitik und der Europäische Raum am Beispiel des Osmanischen Reiches. In: Das europäische Mächtekonzert. Friedens- und Sicherheitspolitik vom Wiener Kongreß zum Krimkrieg. Hg. v. Wolfram Pyta. Wien [u. a.] , -

513

Bib lio g ra p hi e Schulze, Hagen: Staat und Nation in der europäischen Geschichte. . Aufl. München  Schumacher, Leslie Rogne: The Eastern Question as a Europe Question: Viewing the Ascent of »Europe« through the Lens of Ottoman Decline. In: Journal of European Studies  () , - Schwank, Nicolas: Entwicklung innerstaatlicher Kriege und gewaltsamer Konflikte seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes. In: Dossier Innerstaatliche Konflikte. Hg. v. Bundeszentrale für Politische Bildung, .., https://www.bpb.de/internationales/weltweit/innerstaatliche-konflikte/ /entwicklung-innerstaatlicher-kriege-seit-dem-ende-des-ost-west-konfliktes (letzter Zugriff: ..) Schwartz, Michael: Ethnische »Säuberungen« in der Moderne: Globale Wechselwirkungen einer Politik der Gewalt. In: Comparativ  () , - Schwartz, Michael: Ethnische »Säuberungen« in der Moderne. Globale Wechselwirkungen nationalistischer und rassistischer Gewaltpolitik im . und . Jahrhundert. München  Scott Brown, James: In Memoriam. Thomas Joseph Lawrence, -. In: The American Journal of International Law  () /, - Sedgwick, Burnham James: Memory on Trial: Constructing and Contesting the »Rape of Nanking« at the International Military Tribunal for the Far East, -. In: Modern Asian Studies  () , - Seewann, Gerhard: Minderheiten. In: Südosteuropa. Ein Handbuch. Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur. Hg. v. Magarditsch Hatschikjan und Stefan Troebst. München , - Segesser, Daniel Marc: Kontinuität oder Bruch? Die Diskussion über militär- und völkerrecht- liche Bestimmungen zur Ahndung von Verstößen gegen die Bestimmungen des Ius in Bello in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts. In: Militär und Recht vom . bis . Jahrhundert: Gelehrter Diskurs – Praxis – Transformationen. Hg. v. Jutta Nowosadtko, Diethelm Klippel und Kai Lohsträter. Göttingen , - Segesser, Daniel Marc: Humanitarian Intervention and the Issue of State Sovereignty in the Discourse of Legal Experts between the s and the First World War. In: The Emergence of Humanitarian Intervention. Ideas and Practice from the Nineteenth Century to the Present. Hg. v. Fabian Klose. Cambridge , - Segesser, Daniel Marc: Recht statt Rache oder Rache durch Recht? Die Ahndung von Kriegsverbrechen in der internationalen wissenschaftlichen Debatte -. Paderborn  Segesser, Daniel Marc: »Aggression is the Most Dangerous International Crime«. Die internationale Debatte zur Frage der Ahndung von Kriegsverbrechen -. In: Krieg und Verbrechen. Situation und Intention: Fallbeispiele. Hg. v. Timm C. Richter. München , - Segesser, Daniel Marc/Gessler, Myriam: Raphael Lemkin and the International Debate on the Punishment of War Crimes (-). In: Journal of Genocide Research  () , - Segesser, Daniel Marc: On the Road to Total Retribution? The International Debate on the Punishment of War Crimes, -. In: A World at Total War. Global Conflict and the Politics of Destruction, -. Hg. v. Roger Chickering, Stig Förster und Bernd Greiner. Cambridge , - Seraphim, Franziska: Kriegsverbrecherprozesse in Asien und globale Erinnerungskulturen. In: Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien und Japan seit . . Aufl. Hg. v. Christoph Cornelißen, Lutz Klinkhammer und Wolfgang Schwentker. Frankfurt/M. , - Sergeant, Jean-Claude: When Gladstone and W. T. Stead Campaigned against the »Bulgarian Horrors«. In: Southern Horrors. Northern Visions of the Mediterranean World. Hg. v. Gilbert Bonifas und Martine Monacelli. Cambridge , - Sharp, Alan: The Versailles Settlement. Peacemaking after the First World War, -. . Aufl. London  Shaw, Malcolm: The Definition of Minorities in International Law. In: The Progression of International Law. Four Decades of the Israel Yearbook on Human Rights. An Anniversary Volume. Hg. v. Yoram Dinstein und Fania Domb. Leiden , -

514

Bib lio g ra p hi e Shotwell, James T. /Deák, Francis: Turkey and the Straits. A Short History. New York  Sieber Egger, Anja: Krieg im Frieden: Frauen in Bosnien-Herzegowina und ihr Umgang mit der Vergangenheit. Bielefeld  Siegel, Björn: Österreichisches Judentum zwischen Ost und West. Die Israelitische Allianz zu Wien -. Frankfurt/M.  Sierpowski, Stanislaw: Die Stellung Polens zu den Bestimmungen des Völkerbunds über die nationalen Minderheiten. In: Friedenssichernde Aspekte des Minderheitenschutzes in der Ära des Völkerbundes und der Vereinten Nationen in Europa. Hg. v. Manfred Mohr. Berlin [u. a.] , - Sigg, Marco: Die Balkankriege /. Bulgarische Kriegsrechtsverletzungen im Spiegel der europäischen Kriegsberichtserstattung und des Carnegie-Berichts. In: Am Rande Europas? Der Balkan – Raum und Bevölkerung als Wirkungsfelder militärischer Gewalt. Hg. v. Bernhard Chiari und Gerhard P. Groß. München , - Simmler, Christiane: Das uti possidetis-Prinzip. Zur Grenzziehung zwischen neu entstandenen Staaten. Berlin  Simmler, Christiane: Selbstbestimmungsrecht der Völker contra uti possidetis? Zum Verhältnis zweier sich angeblich widersprechender Regeln des Völkerrechts. In: Verfassung und Recht in Übersee/Law and Politics in Africa, Asia and Latin America  () , - Simpson, Gerry: Law and Force in the Twenty-first Century. In: Routledge Handbook of International Law. Hg. v. David Armstrong. London [u. a.] , - Skordos, Adamantios Theodor: Unentschieden. Fußball, die »Kleinasiatische Katastrophe« und Geschichtspolitik treffen sich in einem Vereinstrikot. In: Mitropa  (), - Skordos, Adamantios Theodor: Ethno-Political Violence in Southeast Europe – The Cyprus Case. In: Austrian Review of International and European Law  (), - Skordos, Adamantios Theodor: Zum Scheitern verurteilt. Die Carnegie-Kommission in Griechenland. In: Comparativ  () , - Skordos, Adamantios Theodor: Das panslawische Feindbild im Griechenland des . und . Jahrhunderts. In: Südost-Forschungen  (), - Skordos, Adamantios Theodor: Geschichtsregionale Völkerrechtsforschung. Der Fall Südosteuropa. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung  () , - Skordos, Adamantios Theodor: Griechenlands Makedonische Frage. Bürgerkrieg und Geschichtspolitik im Südosten Europas. Göttingen  Skouteris, Thomas: The Turn to History in International Law. In: Oxford Bibliographies of International Law, .., http://www.oxfordbibliographies.com/view/document/obo- / obo--.xml (letzter Zugriff: ..) Sluga, Glenda, René Cassin: Les droits de l’ homme und die Geschichte der Menschenrechte, . In: Geschichte der Menschenrechte im . Jahrhundert. Hg. v. Stefan-Ludwig Hoffmann. Göttingen , - Smith, Michael Llewellyn: Venizelos’ Diplomacy, -. From Balkan Alliance to Greek-Turkish Settlement. In: Eleftherios Venizelos. The Trials of Statesmanship. Hg. v. Paschalis M. Kitromilides. Edinburgh , - Spiermann, Ole: Judge Max Huber at the Permanent Court of International Justice. In: The European Journal of International Law  (), - Spiermann, Ole: International Legal Argument in the Permanent Court of International Justice. The Rise of the International Judiciary. Cambridge [u. a.]  Spiermann, Ole: A Permanent Court of International Justice. In: Nordic Journal of International Law  () , - Stang, Fredrik: Presentation of Ferdinand Buisson and Ludwig Quidde. In: Nobel Lectures in Peace (-). Including Presentation, Speeches and Laureates’ Biographies. Hg. v. Frederick W. Haberman. Singapore [], - Steele, David: Lord Salisbury. A Political Biography. London 

515

Bib lio g ra p hi e Steiger, Heinhard: From the International Law of Christianity to the International Law of the World Citizen – Reflections on the Formation of the Epochs of the History of International Law. In: Journal of the History of International Law  (), - Stein, Leslie: The Making of Modern Israel, -. Cambridge [u. a.]  Stern, Fritz: Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder. Berlin (West)  Stola, Dariusz: Forced Migration in Central European History. In: International Migration Review  () , - Stolleis, Michael: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Bd. : -. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur, -. München  Strohmeyer, Arno: Historische Komparatistik und die Konstruktion von Geschichtsregionen: der Vergleich als Methode der historischen Europaforschung. In: Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas  (), - Sundhaussen, Holm: Orientalische Krise (-). In: Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Hg. v. Holm Sundhaussen und Konrad Clewing. ., erw. und aktual. Auflage. Wien [u. a.] ,  Sundhaussen, Holm: Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten, -. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen. Wien [u. a.]  Sundhaussen, Holm: Wie »balkanisch« waren die »Balkankriege« des . Jh.s? In: Jahrbuch für Europäische Geschichte  (), - Sundhaussen, Holm: »Wir haben nur Missverständnisse geklärt«. Die Krisenregion Balkan. In: Am Rande Europas? Der Balkan – Raum und Bevölkerung als Wirkungsfelder militärischer Gewalt. Hg. v. Bernhard Chiari und Gerhard P. Groß. München , - Sundhaussen, Holm: Geschichte Serbiens, .-. Jahrhundert. Wien [u. a.]  Sundhaussen, Holm: Zwangsmigrationen und ethnische Säuberungen. In: Geschichte Südosteuropas. Vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. v. Konrad Clewing und Oliver Jens Schmitt. Regensburg , - Sundhaussen, Holm: Von »Lausanne« nach »Dayton«. Ein Paradigmenwechsel bei der Lösung ethnonationaler Konflikte. In: Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte. Hg. v. Rüdiger Hohls, Iris Schröder und Hannes Siegrist. Stuttgart , - Sundhaussen, Holm: Die Wiederentdeckung des Raumes: Über Nutzen und Nachteil von Geschichtsregionen. In: Südosteuropa. Von vormoderner Vielfalt und nationalstaatlicher Vereinheitlichung. Festschrift für Edgar Hösch. Hg. v. Clewing Konrad und Oliver Jens Schmitt. München , - Sundhaussen, Holm: Prolegomena zu einer Geschichte der Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen im Balkanraum. In: Vertreibungen europäisch erinnern? Historische Erfahrungen – Vergangenheitspolitik – Zukunftskonzeptionen. Hg. v. Dieter Bingen, Włodzimierz Borodziej und Stefan Troebst. Wiesbaden , - Sundhaussen, Holm: Südosteuropa und der Balkan. Begriffe, Grenzen, Merkmale. In: Handbuch der Südosteuropa-Linguistik. Hg. v. Uwe Hinrichs. Wiesbaden , - Suppan, Arnold: Hitler – Beneš – Tito. Konflikt, Krieg und Völkermord in Ostmittel- und Südosteuropa. Bd. /. Wien  Swatek-Evenstein, Mark: Geschichte der »Humanitären Intervention«. Baden-Baden  Tang, Chi-Hua: China-Europe. In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Hg. v. Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford , - Temperley, Harold: The Bulgarian and Other Atrocities, -, in the light of Historical Criticism. London  The Cham Albanians of Greece. A documentary History. Hg. v. Robert Elsie und Bejtullah Destani. London  The Emergence of Humanitarian Intervention: Ideas and Practice from the Nineteenth Century to the Present. Hg. v. Fabian Klose. Cambridge 

516

Bib lio g ra p hi e The Permanent Court of International Justice. -. Hg. v. Registry of the International Court of Justice. Maubeuge  The World Court Reference Guide. Judgments, Advisory Opinions and Orders of the Permanent Court of International Justice and the International Court of Justice (-). Hg. v. Bimal N. Patel. Dordrecht  Ther, Philipp: Die dunkle Seite der Nationalstaaten. »Ethnische Säuberungen« im modernen Europa. Göttingen  Ther, Philipp: Von Ostmitteleuropa nach Zentraleuropa – Kulturgeschichte als Area Studies. In: Themenportal Europäische Geschichte, , https://www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae (letzter Zugriff: ..) Thion, Li-Ann: Managing Babel. The International Legal Protection of Minorities in the Twentieth Century. Leiden [u. a.]  Thornberry, Patrick: International Law and the Rights of Minorities, Oxford  Thürer, Daniel: Max Huber: A Portrait in Outline. In: The European Journal of International Law  (), - Todorova, Maria: Imagining the Balkans, Updated Edition, Oxford  Todorova, Maria: Historische Vermächtnisse zwischen Europa und dem Nahen Osten. In: Europa im Nahen Osten – Der Nahe Osten in Europa. Hg. v. Angelika Neuwirth und Günther Stock. Berlin , - Todorova, Maria: Historische Vermächtnisse als Analysekategorie. Der Fall Südosteuropa. In: Europa und die Grenzen im Kopf. Hg. v. Karl Kaser, Dagmar Gramshammer-Hohl und Robert Pichler. Klagenfurt [u. a.] , - Todorova, Maria: Der Balkan als Analysekategorie: Grenzen, Raum, Zeit. In: Geschichte und Gesellschaft  (), - Todorova, Maria: Imagining the Balkans. Oxford  Tokay, Gül: A Reassessment of the Macedonian Question, -. In: War and Diplomacy. The Russo-Turkish War of - and the Treaty of Berlin. Hg. v. Hakan M. Yavuz und Peter Sluglett. Utah , - Tomuschat, Christian: Protection of Minorities under Article  of the International Covenant on Civil and Political Rights. In: Völkerrecht als Rechtsordnung – Internationale Gerichtsbarkeit – Menschenrechte. Festschrift für Hermann Mosler. Hg. v. Rudolf Bernhardt, Wilhelm Karl Geck, Günther Jaenicke und Helmut Steinberger. Berlin (West) , - Toynbee, Arnold J.: The Western Question in Greece and Turkey. A Study in the Contact of Civilisations. London [u. a.]  Troebst, Stefan: Eastern Europe’s Imprint on Modern International Law. In: History and International Law. An Intertwined Relationship. Hg. v. Annalisa Ciampi. Cheltenham , - Troebst, Stefan/Wildt, Michael: Vorwort. In: Comparativ  () , - Troebst, Stefan: Ethnonationale Homogenisierungspolitik zwischen Vertreibung und Zwangsassimilierung. Schweden und Bulgarien als europäische Prototypen. In: West-östliche Europastudien. Rechtskultur, Kulturgeschichte, Geschichtspolitik. Hg. v. Stefan Troebst. Leipzig , - Troebst, Stefan: Vom »Bevölkerungstransfer« zum Vertreibungsverbot – eine europäische Erfolgsgeschichte? In: Erinnerungskultur – Kulturgeschichte – Geschichtsregionen. Hg. v. Stefan Troebst. Stuttgart , - Troebst, Stefan: »Speichermedium der Konflikterinnerung: Zur osteuropäischen Prägung des modernen Völkerrechts«. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung  () , - Troebst, Stefan: Vom spatial turn zum regional turn? Geschichtsregionale Konzeptionen in den Kulturwissenschaften. In: Dimensionen der Kultur und Gesellschaftsgeschichte. Hg. v. Matthias Middell. Leipzig , - Troebst, Stefan: Berliner Kongreß. In: Lexikon zur Geschichte Südosteuropas. Hg. v. Edgar Hösch, Karl Nehring und Holm Sundhaussen. Wien [u. a.] ,  f.

517

Bib lio g ra p hi e Troebst, Stefan: Maria Todorova als Balkan-, Osteuropa- und Europahistorikerin (Vorwort). In: Todorova, Maria. Die Kategorie der Zeit in der Geschichtsschreibung über das östliche Europa. Hg. v. Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) Leipzig , - Troebst, Stefan: Von den Fanarioten zur UÇK. Nationalrevolutionäre Bewegungen auf dem Balkan und die »Ressource Weltöffentlichkeit«. In: Europäische Öffentlichkeit. Transnationale Kommunikation seit dem . Jahrhundert. Hg. v. Jörg Requate und Martin Schulze Wessel. Frankfurt/M. [u. a.] , - Troebst, Stefan: Vom ethnopolitischen Schlachtfeld zum interethnischen Stabilitätspol: Gewalt und Gewaltfreiheit in der Region Makedonien im »langen« . Jahrhundert. In: Nationalitätenkonflikte im . Jahrhundert: Ursachen von interethnischer Gewalt im Vergleich. Hg. v. Philipp Ther und Holm Sundhaussen. Wiesbaden , - Troebst, Stefan: Balkanisches Politikmuster? Nationalrevolutionäre Bewegungen in Südosteuropa und die »Ressource Weltöffentlichkeit«. In: Osteuropa  () , - Troebst, Stefan: Le monde méditerranéen – Südosteuropa – Black Sea World: Geschichtsregionen im Süden Europas. In: Der Süden. Neue Perspektiven auf eine europäische Geschichtsregion. Hg. v. Frithjof Benjamin Schenk und Martina Winkler. Frankfurt / M [u. a.] , - Troebst, Stefan: Politische Entwicklungen in der Neuzeit. In: Südosteuropa. Ein Handbuch. Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur. Hg. v. Magarditsch Hatschikjan und Stefan Troebst. München , - Troebst, Stefan: Nationalismus und Gewalt im Osteuropa der Zwischenkriegszeit. Terroristische Separatismen im Vergleich. In: Osteuropäische Geschichte in vergleichender Sicht. Hg. v. Michael G. Müller, Fikret Adanır, Christian Lübke und Martin Schulze Wessel. Berlin , - Troebst, Stefan, Mussolini, Makedonien und die Mächte, -. Die »Innere Makedonische Revolutionäre Organisation in der Südosteuropapolitik des faschistischen Italiens. Köln [u. a.]  Troebst, Stefan: Lemkin and Lauterpacht in Lemberg and Later: Pre- and Post-Holocaust Careers of Two East European International Lawyers. In: Institut für die Wissenschaften vom Menschen/ Institute for Human Sciences, , http://www.iwm.at/transit/transit-online/lemkin-and-lauterpacht-in-lemberg-and-later-pre-and-post-holocaust-careers-of-two-east-european-international-lawyers (letzter Zugriff: ..) Troebst, Stefan: »Geschichtsregion«: Historisch-mesoregionale Konzeptionen in den Kulturwissenschaften. In: EGO – Europäische Geschichte Online. Hg. v. Institut für Europäische Geschichte, .., http://www. ieg-ego.eu/troebsts--de (letzter Zugriff: ..) Trültzsch, Arno: Völkerrecht und Sozialismus. Sowjetische versus jugoslawische Perspektiven. In: Leipziger Zugänge zur rechtlichen, politischen und kulturellen Verflechtungsgeschichte Ostmitteleuropas. Hg. v. Dietmar Müller und Adamantios Theodor Skordos. Leipzig , - Tsagourias, Nicholas: Nicolas Politis’ Initiatives to Outlaw War and Define Aggression, and the Narrative of Progress in International Law. In: The European Journal of International Law  () , - Ungern-Sternberg, Antje von: Religion and Religious Intervention. In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Hg. von Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford ,  Vec, Miloš: From the Congress of Vienna to the Paris Peace Treaties of . In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Hg. v. Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford , - Verosta, Stephan: History of International Law,  to . In: Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Juni , http://opil.ouplaw.com/view/./law:epil// law--e?rskey=naoE&result=&prd=EPIL (letzter Zugriff: ..) Viefhaus, Erwin: Die Minderheitenfrage und die Entstehung der Minderheitenschutzverträge auf der Pariser Friedenskonferenz . Eine Studie zur Geschichte des Nationalitätenproblems im . und . Jahrhundert. Würzburg 

518

Bib lio g ra p hi e Vitzthum, Wolfgang Graf: Seerechtsglobalisierung: von der iberischen Epoche bis zur Ära der Vereinten Nationen. In: Praxis-Handbuch UNO. Die Vereinten Nationen im Lichte globaler Herausforderungen. Hg. v. Sabine von Schorlemer. Berlin [u. a.] , - Vogler, Helmut: Reform des Minderheitenschutzes in den Vereinten Nationen. In: Die Reform der Vereinten Nationen. Die Weltorganisation zwischen Krise und Erneuerung. Hg. v. Klaus Hüfner. Opladen , - Volkan, Vamik: Das Versagen der Diplomatie. Zur Psychoanalyse nationaler, ethnischer und religiöser Konflikte. . Aufl. Gießen  Völkerrecht. . Aufl. Hg. v. Torsten Stein und Christian von Buttlar. Köln [u. a.]  Völkerrecht. . Aufl. Textsammlung. Hg. v. Christian Tomuschat. Baden-Baden  Voos, Sandra: Die Schule von New Haven. Darstellung und Kritik einer amerikanischen Völkerrechtslehre. Berlin  Vrdoljak, Ana Filipa: Liberty, Equality, Diversity: States, Cultures, and International Law. In: The Cultural Dimension of Human Rights. Hg. v. Ana Filipa Vrdoljak. Oxford , - Vyver, Johan D. van der: Sovereignty. In: The Oxford Handbook of International Human Rights Law. Hg. v. Dinah Shelton. Oxford , - Wahl, Susen: Osteuropa und die Zusammenarbeit mit Internationalen Strafgerichtshöfen. Ausgewählte Länder. Berlin  Weber, Herman: Der Minderheitenschutz des Völkerbundes. In: Friedenssichernde Aspekte des Minderheitenschutzes in der Ära des Völkerbundes und der Vereinten Nationen in Europa. Hg. v. Manfred Mohr. Berlin [u. a.] , - Weiss-Wendt, Anton: The Soviet Union and the Gutting of the UN Genocide Convention. Madison  Weitz, Eric D.: From the Vienna to the Paris System: International Politics and the Entangled Histories of Human Rights, Forced Deportations, and Civilizing Missions. In: American Historical Review  () , - Weitz, Eric. D.: A Century of Genocide. Utopias of Race and Nation. Princeton [u. a.]  Wenzel, Nicola: Das Spannungsverhältnis zwischen Gruppenschutz und Individualschutz im Völkerrecht. Berlin  Werle, Gerhard: Völkerstrafrecht. ., neu bearb. Aufl. Tübingen  Western, Jon: Prudence or Outrage? Public Opinion and Humanitarian Intervention in Historical and Comparative Perspective. In: The Emergence of Humanitarian Intervention. Ideas and Practice from the Nineteenth Century to the Present. Hg. v. Fabian Klose. Cambridge , - Wexler, Leila Sadat: The Proposed Permanent International Court. An Appraisal. In: Cornell International Law Journal  () , - Wheatley, Steven: Democracy, Minorities and International Law. Cambridge [u. a.]  Wheeler, Nicholas J.: Saving Strangers. Humanitarian Intervention in International Society. Oxford  Whelan, Daniel J.: Indivisible Human Rights: A History. Philadelphia  Wiederhold, Steffen: Die Lehren vom Monismus mit Primat staatlichen Denkens. Sonderwege deutschen Völkerrechtsdenkens im Kaiserreich und deren Bewahrung durch die Bonner Schule. Baden-Baden  Will, Martin: Internationaler Gerichtshof (IGH). In: Lexikon zentraler Begriffe und Themen. Hg. v. Burkhard Schöbener. Heidelberg [u. a.] , - Winter, Jay/Prost, Antoine: René Cassin and Human Rights: From the Great War to the Universal Declaration. Cambridge [u. a.]  Wolff, Stefan: Disputed Territories. The Transnational Dynamics of Ethnic Conflict Settlement. New York , - Wood, Hugh McKinnon: The Treaty of Paris and Turkey’s Status in International Law. In: The American Journal of International Law  () , - Wullweber, Helga: Kriegsverbrechen Vergewaltigung. Beispiel: Bosnien-Herzegowina. In:

519

Bib lio g ra p hi e schaft und Frieden  (), http://www.wissenschaft-und-frieden.de/seite.php?artikelID= (letzter Zugriff: ..) Wullweber, Helga: Vergewaltigung als Waffe und das Kriegsvölkerrecht. In: Kritische Justiz  () , - Yanagihara, Masaharu: Japan. In: The Oxford Handbook of the History of International Law. Hg. v. Bardo Fassbender und Anne Peters. Oxford , - Yavuz, Hakan M./Sluglett, Peter: Introduction. In: War and Diplomacy. The Russo-Turkish War of - and the Treaty of Berlin. Hg. v. Hakan M. Yavuz und Peter Sluglett. Salt Lake City , - Yıldırım, Onur: Diplomacy and Displacement. Reconsidering the Turco-Greek Exchange of Populations, -. New York  Zayas, Alfred de: Ethnic Cleansing: Applicable Norms, Emerging Jurisprudence, Implementable Remedies. In: International Humanitarian Law. Bd. : Origins. Hg. v. John Carey, William v. Dunlap und R. John Pritchard. Ardsley , - Zayas, Alfred de: The International Judicial Protection of the Rights of Peoples and Minorities. In: Peoples and Minorities in International Law. Hg. v. Catherine Brölmann, René Lefeber and Marjoleine Zieck. Kluwer , - Zayas, Alfred de: International Law and Mass Population Transfers. In: Harvard International Law Journal  (), - Zelepos, Ioannis: Griechischer Unabhängigkeitskrieg (-). In: Europäische Geschichte Online (EGO). Hg. v. Leibniz-Institut für Europäische Geschichte – IEG, .., http://www. ieg-ego.eu/zeleposi--de (letzter Zugriff: ..) Zelepos, Ioannis: Kleine Geschichte Griechenlands. Von der Staatsgründung bis heute. München  Zelepos, Ioannis: Die Ethnisierung griechischer Identität, -. Staat und private Akteure vor dem Hintergrund der »Megali Idea«. München  Zernack, Klaus: Osteuropa. Eine Einführung in seine Geschichte. München  Ziegenhofer, Anita: Botschafter Europas: Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger- und dreißiger Jahren. Wien [u. a.]  Ziegler, Karl-Heinz: Völkerrechtsgeschichte. . Aufl. München  Zischg, Robert: Nicht-internationaler bewaffneter Konflikt und Völkerrecht. Zur Zulässigkeit der Unterstützung der Konfliktparteien durch dritte Staaten. Baden-Baden  Zöller, Mark A.: Terrorismusstrafrecht. Ein Handbuch. Heidelberg  Žunec, Ozren/Kulenović, Tarik: Die jugoslawische Armee und ihre Erben. Entstehung und Aktionen der Streitkräfte -. In: Der Jugoslawien-Krieg: Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen. Hg. v. Dunja Melčić. Wiesbaden , - Zur Entstehung des modernen Minderheitenschutzes in Europa. Hg. v. Christoph Pan und Beate Sibylle Pfeil. Wien [u. a.]  Zyberi, Gentian: The International Court of Justice and the Rights of Peoples and Minorities. In: The Development of International Law by the International Court of Justice. Hg. v. Christian J. Tams und James Sloan. Oxford , -

Quellen und Literatur in ost- und südosteuropäischen Sprachen Ağanoğlu, H. Yıldırım: Osmanlı’dan Cumhuriyet’e Balkanlar’ın Makûs Talihi Göç. Istanbul  Anorthodoxoi polemoi. Makedonia, Emfylios, Kypros. Hg. v. Vasilis K. Gounaris, Stathis Kalyvas und Ioannis D. Stefanidis. Athen  Biografija Slobodan Jovanovića. In: Riznica Srpska Književnost, .., http://riznicasrpska.net/ knjizevnost/index.php?topic=. (letzter Zugriff: ..)

520

Bib lio g ra p hi e Charakopoulos, Maximos, To ellinotourkiko symfono filias. In: I Kathimerini, http://www.kathimerini.gr//opinion/epikairothta/arxeio-monimes-sthles/to-ellhnotoyrkiko-symfwno-filias (letzter Zugriff: ..) Divani, Lena: I »ypoulos thopeia«. Ellada kai xenoi, -. Athen  Divani, Lena: Ellada kai meionotites. To systima diethnous prostasias tis Koinonias ton Ethnon. . Aufl. Athen  Dobče, Petko: Prof. d-r Nissim Mevorach. Biografičen očerk. In: Evrejski imena v bălgarskatajuridičeska nauka. Sofia , - Družinina, Elena I.: Kjučuk-Kajnardžijskij mir  goda: Ego podgotovka i zaključenie, Moskau  Dündar, Fuat: Modern Türkiye’nin Şifresi. İttihat ve Terakkinin Etnisite Mühendisliği (-). Istanbul  Duţu, Mircea: Vespasian V. Pella (-). Fondator al dreptului internaţional penal. Promotor al unificării dreptului penal. Artizan al justiţiei penale internationale. Bukarest  Janković, Ivan: Prilozi za biografiju Tome Živanovića. In: Pravni Zapisi  () , - Jovanovski, Dalibor: Balkanot od  do  godina. Skopje  Kostopoulos, Tasos: I apagorevmeni glossa. Kratiki katastoli ton slavikon dialekton stin Elliniki Makedonia. Athen  Kostopoulos, Tasos: Polemos kai ethnokatharsi. I xechasmeni plevra mias dekaetous ethnikis exormisis, -. Athen  Koumas, Manolis: Mikra krati, syllogiki asfaleia, Koinonia ton ethnon: I Ellada kai to zitima tou afoplismou, -. Nikosia  Makrydimitris, Antonis: Oi ypourgoi ton exoterikon tis Elladas -. Athen  Manev, Man’o: Mediacijata i graždanskijat proces. Sofia  Martens, Fëdor Fëdorovič: Sovremennoe mezhdunarodnoe pravo tsivilizovannykh narodov,  Bde. Sankt Petersburg  Memoari srpskih ratnika: -. Hg. v. Borislava Lilić. Belgrad  Michailidis, Iakovos D.: Taftotites, diplomatia, politikoi kai stratiotikoi syschetismoi: i periptosi ton slavophonon stin Ellada (-). In: Makedonikes taftotites sto chrono. Diepistimonikes prosengiseis. Hg. v. Ioannidis Stefanidis, Vlasis Vlasidis und Evangelos Kofos. Athen , - Michailidis, Iakovos D.: Metakiniseis slavofonon plithysmon -. O polemos ton statistikon. Athen  Michailidis, Iakovos D.: Politikes synistoseis mias oikonomikis diamachis. In: Taftotites sti Makedonia. Hg. v. Vasilis K. Gounaris, Iakovos D. Michailidis und Giorgos V. Angelopoulos. Athen , - Millas, Herkül: Yunan Ulusunun Doğuşu. Istanbul  Mitrović, Andrej: Jugoslavija na Konferenciji mira -. Belgrad  Nikolov, Rajko: Diplomat v Amerika. Sofia  Omilia proedrou tis dimokratias, k. Prokopi Paflopoulou kai Ypourgou Eksoterikon, k. Nikou Kotzia, stin teleti orkomosias tis KV seiras Akolouthon Presveias. In: Elliniki Dimokratia. Ypourgeio Eksoterikon, .., https://www.mfa.gr/epikairotita/proto-thema/omilia-proedrou-tes-demokratias-prokope-paulopoulou-kai-upourgou-exoterikon-nikou-kotzia-sten-telete-orkomosiastes-kb-seiras-akolouthon-presbeias.html (letzter Zugriff: ..) Panagiotopoulou, Anna A.: I metanastefsi ton Ellinon tis Voulgarias stin Ellada tin periodo tou mesopolemou (-) vasei tis symvasis tou Neuilly. Thessaloniki  (unveröffentlichtes Dissertationsmanuskript) Pavićević, Dejan M.: Pojam Prava u sintetičkoj pravnoj filozofiji Tome Živanovića. In: PravnoEkonomski Pogledi () , - Petrović, Nenad Ž.: Kontroverzni život, publicističko i političko delovanje pravnika i diplomate Miloša Bogićevića. In: Republika () /, -, http://www.republika.co.rs/-/. html (letzter Zugriff: ..)

521

Bib lio g ra p hi e Politis, Nikolaos: To zitima tou afoplismou. Ai apopseis ton tessaron megalon dynameon. Ta ypomnimata tis Gallias, M. Vretanias, Italias kai Germanias. Athen  Ristić, Ivan: Nikola Pašić i Bugari: geneza ideoloških i političkih stavova. In: Zbornik Matice srpske za istoriju  (), - Sbârnă, Gheorghe: Vespasian V. Pella – în slujba știinţei dreptului și cauzei păcii. Ploiești  Schroeder-Negru, Olga: Rebeliunea de la Tatar Bunar din. . Germanii basarabeni între antibolşevism şi patriotism românesc. In: Istoria între ştiinţă şi şcoală - perioada interbelică şi Basarabia. Studii, materiale surse şi sugestii. Hg. v. Stefan Ihrig, Vasile Dumbrava, Dietmar Müller und Igor Șarov. Chişinău , - Sbârnă, Gheorghe: Vespasian V. Pella și adoptarea Convenţiei internaţionale pentru prevenirea și reprimarea terorismului din . In: Punctul Critic, .., https://www.punctulcritic.ro/ gheorghe-sbarna-vespasian-v-pella-si-adoptarea-conventiei-internationale-pentru-prevenirea-sireprimarea-terorismului-din-.html (letzter Zugriff: ..) Skopetea, Elli: To »protypo vasileio« kai i megali Ellada. Opseis tou ethnikou provlimatos stin Ellada (-). Athen  Streit, Georgios: Imerologion – Archeion. Bd. . Athen  Svolopoulos, Konstantinos: Anafores ston Eleftherio Venizelo. Athen  Svolopoulos, Konstantinos: I elliniki exoteriki politiki, -. Bd. . Athen  Svolopoulos, Konstantinos: I elliniki exoteriki politiki meta tin Synthikin tis Lozannis. I krisimos kampi, Ioulios–Dekemvrios . Thessaloniki  Tankova, Vasilka Atanasova: Balkanskite vojni: - g.: pamet i istorija. Sofia  Tasić, Nikola [u. a.]: Istoria Beograda. Belgrad  Yalçın, Kemal: Emanet Çeyiz: Mübadele İnsanları. Istanbul  Vespasian V. Pella. In: Universitatea din Iași »Alexandru Ioan Cuza«, o. D., http://.uaic.ro/personalitati/drept/vespasian-v-pella/(letzter Zugriff: ..) Vučetić, Biljana: Srpska revolucionarna organizacija u Osmanskom carstvu na početku XX veka. In: Istorijski časopis  (), - Živanović, Toma: Osnovi krivičnog prava Kraljevine JugoslavijeJugoslavije. Bd. : Krivična dela protiv privatnih dobara. Belgrad  Živanović, Toma: Osnovi krivičnog prava Kraljevine JugoslavijeJugoslavije. Bd. : Krivična dela protiv opštih dobara. Belgrad  Živanović, Toma: Sistem sintetičke pravne filozofije. : Nauka o sintetičkoj pravnoj filozofiji. Belgrad  Zdravković, Milan: Toma Živanović. In:Iustitia: Časopis Udruženja sudijskih i tužilačkih pomoćnika Srbije () Nr. , -

522

Abkürzungsverzeichnis Association Internationale de Droit Pénal Committee for the International Repression of Terrorism Committee for Population Transfer Foreign Research and Press Service General Assembly (UN) International Bureau for the Unification of Criminal Law International Criminal Court International Commission on Intervention and State Sovereignty International Court of Justice International Civilian Representative International Criminal Tribunal for the Prosecution of Persons Responsible for Genocide and other such Violations of International Humanitarian Law Committed in the Territory of Rwanda and Rwandan Citizens Responsible for Genocide and other such Violations Committed in the Territory of neighbouring States, between  January  and  December  ICTY International Criminal Tribunal for the Prosecution of Persons Responsible for Serious Violations of international Humanitarian Law Committed in the Territory of the Former Yugoslavia since  IKRK Internationales Komitee des Roten Kreuzes ILA International Law Association ILC International Law Commission IMT International Military Tribunal IMTFE International Tribunal for the Far East IPBPR Internationaler Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte IU Interparlamentarische Union JNA Jugoslovenska Narodna Armija (Jugoslawische Volksarmee) KFOR Kosovo Force OUN Organisation Ukrainischer Nationalisten PCIJ Permanent Court of International Justice RPF Rwandese Patriotic Front SC Security Council (UN) SFRJ Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien SRSG Special Representative of the Secretary-General STL Special Tribunal for Lebanon UÇK Ushtria Çlirimtare e Kosovës (Befreiungsarmee des Kosovo) UN United Nations UNHCR UN High Commissioner for Refugees UNMIK UN Interim Administration Mission in Kosovo UNSCOP UN Special Committee on Palestine VDRO Vătrešna Dobrudžanska Revoljucionna Organizacija (Innere Dobrudschanische Revolutionäre Organisation) VMRO Vnatrešna Makedonska Revolucionerna Organizacija (Innere Makedonische Revolutionäre Organisation) VStGB Völkerstrafgesetzbuch AIDP CIRT CPT FRPS GA IBUCL ICC ICISS ICJ ICR ICTR

523

Personenregister Abdülhamid II., Sultan  Abdülmecid I., Sultan  Adams, Alexandra  Adachi, Mineichirō  Ahmet Cemal Pascha (Paşa)  Ahtisaari, Martii  Akayesu, Jean-Paul , , ,  ff. Al-Khasawneh, Awn Shawkat  f.,  Albright, Madeleine  f. Aleksandar I. Karađorđević, König , , ,  Alexander I., Zar , ,  f.,  Alexander II., Zar ,  f.,  Alexandrowna, Maria (Zarin)  Alić, Fikret  Almqvist, Jessica  Altamira, Rafael  Amanpour, Christiane  Ambedkar, B. R.  ff. Ambos, Kai  Annan, Kofi  ff., , Anzilotti, Dionisio  f. Arntz, Aegidius Rudolph Nicolaus ,  Ashcroft, John  Asser, Tobias  Atatürk, Mustafa Kemal Pascha (Paşa) , , , ,  Austin, John  Ayala Lasso, José  Badescu, Cristina Gabriela  Balfour, Lord Arthur James (. Earl of Balfour)  Barnett, Michael  Barthou, Louis , ,  Bass, Gary J.  Bassewitz, Rudolf Graf von  Bassiouni, M. Cherif  Baumgart, Winfried  Beck, Ulrich  Beer, Mathias  Bekerman, Lucien  Bellot, Hugh Hale - Beneš, Edvard , , , , , , , ,  f. Ben-Gurion, David , 

524

Ben-Horin, Eliahu , Bernath, Mathias  Bewes, Wyndham A.  Bezobrazov, Vladimir  Bismarck, Otto von , ,  Blair, Tony ,  f. Bleichröder, Gerson von  f. Bluntschli, Johann Caspar , , , , , , , ,  f., ,  Bogićević, Miloš ,  Bonne, Avraham  Boutros-Ghali, Boutros , ,  Brătianu, Ion I. C.  Brouwer, Anne-Marie de  Bruns, Viktor  Bulmerincq, August von ,  Burkhardt, Sven-U.  Bush senior, George  Buttlar, Christian von  Byron, Lord George Gordon (. Baron Byron)  ff. Calic, Marie-Janine ,  f.,  Caloyanni, Megalos , , , ,  Calvo, Carlos  f. Canning, George  f.,  Canning, Lord Stratford (. Viscount Stratford de Redcliffe) Capotorti, Francesco  ff. Carton de Wiart, Henri , , , ,  Cassese, Antonio  Cassin, René  Castlereagh, Lord Henry Robert Stewart (. Marquess of Londonderry)  ff. Catharinus, Jacobus  Chamberlain, Neville ,  Charron, René  Christian IX., König  Churchill, Winston  f.,  f., ,  Cecil, Lord Robert (. Viscount Cecil of Chelwood)  f. Černjajev, Mihail Grigorijevič  Černozemski, Vlado Georgiev  Clarendon, Lord George William Frederick Villiers (. Earl of Clarendon)  f.

P e r s o n e n re gi s te r

Clark, Bruce  Claude, Inis L.  Clemenceau, Georges ,  , ,  Clinton, Bill  Coandă, Constantin  Codrington, Sir Edward  Colban, Erik ,  Colonna-Walewski, Alexandre Florian Joseph Graf von , ,  Corfe, A. C.  f. Cottin, Émile  Craven, Matthew  f. Cuéllar, Javier Pérez de  Curtin, John  Curzon, Lord George (. Marquess Curzon of Kedleston)  ff.,  f. Danin, Ezra  Daškov, Dmitrij Vasil’evič  Däubler-Gmelin, Herta  Delalić, Zejnil  Delić, Hazim  Derby, Lord Edward Henry Stanley (. Earl of Derby)  Descamps, Baron Édouard - Deschênes, Jules  f. Disraeli, Lord Benjamin (. Earl of Beaconsfield) ,  ff.,  Divani, Lena  f. Dollfuß, Engelbert ,  Dostoevskij, Fëdor Mihajlovič  Dragostinova, Theodora  Drummond, Sir James Eric  Duca, Ion Gheorghe ,  Duchhardt, Heinz  Dunant, Henri  Dyke, Johan Vernon van  Eden, Sir Anthony (. Earl of Avon)  Ehrlich, Ludwik ,  El Zeidy, Mohamed M. , ,  Elias, Taslia Olawala  Enver Pascha (Paşa)  Epstein, Eliyahu  Evans, Gareth  f. Farbstein, Susan Hannah  Fernandes, Raul  Fernández y Medina, Benjamin  Field, David Dudley 

Fink, Carole , ,  Fisch, Jörg  Fischer, Joschka  Fraenkel, Ernst  Franck, Thomas M.  Frank, Matthew ,  Franz Ferdinand, Erzherzog  Frasheri, M. Mehdi  Fromkin, David  Fuad Pascha (Paşa)  Furundžija, Anto - Galić, Stanislav  f. Galip Kemali Bey  f.,  Garašanin, Ilija  Gaulle, Charles de ,  Gayda, Virginio  Geffcken, Friedrich Heinrich , ,  f. Georg I., König  Georg II., König  Gidel, Gilbert  Gladstone, William Ewart  Gledhill, John  Glendon, Mary Ann  Grewe, Wilhelm ,  Gorbačëv, Michail  Gorčakov, Aleksandr  f. Graefrath, Bernhard  Grotius, Hugo ,  Gustav III. (König)  Gütermann, Christoph , ,  Gutman, Roy  Hagerup, Francis  f. Halecki, Oskar  f. Hall, William Edward ,  f. Hamel, Gerard van  Hamid Bey  Hamilton, Thomas J.  Hatano, Ribot  f. Hautefeuille, Laurent-Basile  Heffter, August Wilhelm ,  Heinsch, Robert ,  Herdegen, Matthias  Hillgruber, Christian  Hilpold, Peter ,  Hitler, Adolf , , , , , , ,  Hobe, Stephan ,  Hobbes, Thomas 

525

P e r s o n e n re gi s te r

Holmes, John  Holtzendorff, Franz von , ,  f.,  Hoover, Herbert , ,  Housden, Martyn  Höpken, Wolfgang  f.,  ff., , ,  Hroch, Miroslav  Huber, Max - Hudson, Manley O. ,  f.,  Hummers, Waldemar  Huntford, Ronald  Hymans, Paul  f. Ibrahim Pascha (Paşa)  f., ,  Ignat’ev, Graf Nikolaj Pavlovič  f. İnönü, Mustafa İsmet Pascha (Paşa) ,  f. Isensee, Josef  Janis, Mark W.  Jovanović, Slobodan  Jović, Mirko  Kačenovski, Dmitrij Ivanovič  Kaklamanos, Dimitrios  Kallab, Jaroslav  Kaplan, Robert  Karadžić, Vuk  Karatheodoris Pascha (Paşa), Alexandros  Karavelov, Ljuben  Katharina II., Kaiserin  ff.,  f. Katz, Yossi  Kebers, Tobias O.  Kerim, Abdul  Ki-Moon, Ban  King, Charles  Komarnicki, Titus , , ,  Konstantin I., König  Konstantin VI., Patriarch (Konstantin Araboglou)  Koskenniemi, Martti - Kosygin, Alexej Nikolaevič ,  Kovács, Péter  Krieger, Heike  Kunarac, Dragoljub  ff. Ladas, Stephen  La Fontaine, Henri  Lagoudakis, Georgios  Landžo, Esad  Langewiesche, Dieter 

526

Lapradelle, Albert Geouffre de ,  Larnaude, Fernand  Lasson, Adolf  Lauterpacht, Hersch  Laval, Pierre  f. Lawrence, Thomas Joseph , , ,  f. Lemkin, Raphael (Rafał ) , ,  Lesaffer, Randall - Levski, Vasil  Lieber, Francis , ,  Lieven, Christoph Fürst von  Lifschitz, Zalman  Liszt, Franz von , , , , , ,  f. Lockwood Jr., Bert B. , Loder, Bernhard ,  Loftus (Lord), Augustus  Lueder, Carl  Mabbott, John  f.,  Macartney, Carlile Aylmer ,  ff.,  MacGahan, Januarius Aloysius  Mahmud II. (Sultan)  Maiorescu, Titu  Mandela, Nelson  f. Mandelstam, André N.  Martens, Fëdor Fëdorovič ,  f., ,  f., , , , , ,  Masaryk, Tomáš Garrigue  Massey, William  Mazarakis-Ainian, Konstantinos  Mazower, Mark ,  Mazowiecki, Tadeusz ,  McKinley, William  Mehmed Ali Pascha/Paşa (Carl Détroit)  Mendelsohn, Kurt  ff. Merkel, Reinhard  Meron, Theodor , ,  Meštrović, Ivan  Metternich, Clemens Fürst von , ,  Mevorach, Nisim ,  Michajlov, Ivan  Middell, Matthias ,  Mihailović, Dragoljub (Draža) ,  Milan I. Obrenović, Fürst  Mill, John Stuart  Milošević, Slobodan ,  Mitrany, David  Mladić, Ratko 

P e r s o n e n re gi s te r

Mohl, Robert von  Moore, John Bassett  Morin, Achille  Mounier, Pierre  Mountbatten, Lord Louis (. Earl Mountbatten of Burma) ,  Moynier, Gustave , - Muhammad Ali Pascha (Paşa) , ,  Münkler, Herfried ,  f. Musić, Zdravko ,  Mussolini, Benito, Duce , , ,  Nagy de Vàmos, Emil  Naimark, Norman  Nansen, Fridtjof , - Napoleon III., Kaiser  Neogy, Kshitish Chandra  Newman, Bernard  Niemeyer, Theodor  Nijman, Janne  Nikola I. Petrović-Njegoš, Fürst  Nikolaus I. (Zar) - Njenga, Frank  f. Nyyssönen, Johannes  Obama, Barack  Omer Pascha (Paşa)  Oppenheim, Heinrich Bernhard  Oppenheim, Lassa Francis Lawrence  f., , , , ,  ff., ,  Orts, Pierre  Osterhammel, Jürgen  f., ,  Özsu, Umut  Paderewski, Ignacy Jan  Pallis, Alexandros  Palmerston, Lord Henry John Temple (. Viscount Palmerston)  f. Pasha as-Said, Nuri  Pašić, Nikola ,  f. Payk, Marcus M.  Pavelić, Ante , ,  Peel, Lord William Robert Wellesley (. Earl Peel) -,  Pella, Vespasian (Verspasien) , , , , -, , , ,  ff., ,  f.,  f., -,  Petrović-Njegoš, Danilo  Phillimore, Lord Walter George (. Baron Phillimore) ,  f.,  f.

Phillimore, Sir Robert  Pipinelis, Panagiotis  Piskorski, Jan ,  Politis, Nikolaos (Nicolas) , ,  ff., ,  ff., , , , , , , , , , ,  f.,  f. Pollock, Ernest  Poortugael, Cornelis den Beer  Pradier-Fodéré, Paul  Prasad, Rajendra  f. Preiser, Wolfgang ,  Prokesch von Osten, Anton  f. Quidde, Ludwig  Rakovski, Georgi  Rappaport, Emil Stanisławn  Rašković, Jovan  Ražnatović, Željko (Arkan) ,  f. Redslob, Robert  Renton, Alexander Wood  Reeves, Jesse R.  Reisman, W. Michael  ff. Ricci-Busatti, Arturo  Richter, Christian  Rindfleisch, Alexander  Rivier, Alphonse ,  Robinson, Jacob  f. Rodogno, Davide  f.,  Rolin-Jaequemyns, Edouard Gustave Marie  Rolin-Jaequemyns, Gustave Henri Ange Hippolyte  ff., ,  ff.,  Roosevelt, Franklin  Root, Elihu  f. Roover, Marcel de  f. Rössler, Julian  Rougier, Antoine  f. Rumbold, Horace  Sachinis, Vasileios  Sadullah Bey  Safferling, Christoph  Saldaña, Quintiliano  Salisbury, Lord Robert Arthur Talbot Gascoyne-Cecil (. Marquess of Salisbury) , , ,  Sampson, Nikos  Samuel, Lord Herbert Louis (. Viscount Samuel) 

527

P e r s o n e n re gi s te r

Saul, Ben ,  Schachter, Oscar  Scharet, Mosche  Schechtman, Joseph -, ,  ff. Scheuermann, Martin  Schmidt-Rösler, Andrea  Schücking, Walther  Schulz, Matthias , ,  Schwartz, Michael , ,  Scott, James Brown  Segesser, Daniel Marc  Šešelj, Vojislav  Shaw, Malcom  Siegel, Björn  Sigg, Marco  Simpson, Sir John Hope  f. Smith, Herbert Arthur  f. Sommaruga, Cornelio  Spiermann, Ole ,  Spiropoulos, Ioannis (Jean)  f. Stein, Torsten  Strauch, Hermann  Streit, Georgios  f. Sundhaussen, Holm -, , , , , , , ,  Supilo, Frano  Šuvalov, Graf Pëtr  Svolopoulos, Konstantinos  f.,  Tabenkin, Jitzchak  f. Tadić, Duško ,  f.,  f., ,  f.,  Talât Pascha (Paşa)  Tardieu, André  Tellini, Enrico  Tevfik Rüștü Aras Bey  Theodoroff, Theodore  Ther, Philipp  f. Thiam, Doudou  f. Thion, Li-Ann  Thon, Yaakov - Thornberry, Patrick 

528

Thouvenel, Édouard Antoine de ,  f. Tittoni, Tommaso , ,  Todorova, Maria  f., , ,  f. Tomuschat, Christian  Toynbee, Arnold -,  Triepel, Heinrich  Troebst, Stefan , , ,  Trumbić, Ante  Tuđman, Franjo  ff.,  Ullmann, Emanuel von  f., , ,  f. Vabres, Henri Donnedieu de , ,  Venizelos, Eleftherios ,  f., , , -, -, , -, -,  f., ,  Verosta, Stephan  Verzijl, Johan (Jan) Hendrik Willem ,  Volkan, Vamik D.  Wachenheim, Hedwig  Weber, Hermann  Weitz, Eric. D.  f. Weitz, Yosef  ff.,  f., ,  Welles, Sumner  Werle, Gerhard  Western, Jon  Westlake, John , ,  ff.,  Wheaton, Henry ,  Williams, Sir John Fischer  Wilson, Woodrow Thomas  Wood, Hugh McKinnon  f. Woodhead, Sir John  f. Wunderlich, Georg  Žabotinskij, Vladimir ,  Zayas, Alfred de  Zernack, Klaus ,  Ziegler, Karl-Heinz , ,  Zimmermann, Andreas  Živanović [Givanovitch], Toma ,  f.,  f., , 