Nachhaltige Stadtplanung: Konzepte für nachhaltige Quartiere 9783955531942

Neuauflage erscheint im Herbst 2018! The issue of sustainability has long since arrived in the world of city and spati

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Nachhaltige Stadtplanung: Konzepte für nachhaltige Quartiere
 9783955531942

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Nachhaltige Stadtplanung

Nach – haltige Stadt – planung Konzepte für nachhaltige Quartiere

Impressum

Herausgeber Helmut Bott, Gregor C. Grassl

Autoren Helmut Bott (HB), Gregor C. Grassl (GCG) Stephan Anders (SA)

Koautoren Martin Altmann (MA), Jürgen Baumüller (JBA), Julia Böttge (JBÖ), Sigrid Busch (SB), Dominic Church (DC), Thorsten Erl (TE), Manal El-Shahat (MES), Johannes Gantner (JG), Tilman Harlander (THA), Gerhard Hauber (GH), Thomas Haun (TH), Dietrich Henckel (DH), Olaf Hildebrandt (OH), Jürgen Laukemper (JL), Rolf Messerschmidt (RM), Peter Mösle (PM), Christopher Vagn Philipsen (CVP), Waltraud Pustal (WP), Christina Sager (CS), Mario Schneider (MS), Antonella Sgobba (ASG), Guido Spars (GS), Stefan Siedentop (STS), Antje Stokman (AS), Bastian Wittstock (BW), Andreas von Zadow (AVZ)

Mitarbeiter Alexander Sailer, Isabelle Willnauer

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

DETAIL − Institut für internationale ArchitekturDokumentation GmbH & Co. KG www.detail.de © 2013, erste Auflage ISBN: 978-3-95553-193-5 (Print) ISBN: 978-3-95553-194-2 (E-Book) ISBN: 978-3-95553-195-9 (Bundle)

Die Abschnitte »Wohlbefinden und gesundes Raumklima« (S. 171 – 172) und »Energie- und ressourcenschonendes Gebäudedesign« (S. 172 – 175) sind der Publikation »Green Building. Leitfaden für nachhaltiges Bauen« von Michael Bauer, Peter Mösle, Michael Schwarz (Berlin 2013) entnommen. Mit freundlicher Genehmigung von Springer Science + Business Media

Redaktion Redaktion und Lektorat: Cornelia Hellstern (Projektleitung), Sandra Leitte, Yvonne Bruderrek, Andrea Kohl-Kastner, Jana Rackwitz Redaktionelle Mitarbeit: Carola Jacob-Ritz, Florian Köhler, Kai Meyer, Eva Schönbrunner, Theresa Steinel, Lisa Wenz

Die CO2-Emissionen dieser Publikation, die bei der Produktion des Papieres, beim Drucken, Binden und den Transporten anfielen, wurden über die Klimainitiative des Bundesverbandes Druck und Medien e. V. durch first climate-Zertifikate zu 100 % ausgeglichen.

Zeichnungen: Ralph Donhauser Herstellung/DTP: Simone Soesters Umschlag und Gestaltungskonzept: Maria Fischer und Christoph Kienzle, Rose Pistola GmbH Reproduktion: Repro Ludwig Prepress & Multimedia GmbH, Zell am See (A) Druck und Bindung: Aumüller Druck, Regensburg Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

Die für dieses Buch verwendeten FSC-zertifizierten Papiere werden aus Fasern hergestellt, die nachweislich aus umwelt- und sozialverträglicher Herkunft stammen.

Inhalt

Vorwort Herausgeber 6 Vorwort Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 9

4.4.6 Emissionen 176 4.5 Ökonomie 182 4.6 Integration und Synergien 194

KAPITEL 1 — EINFÜHRUNG

KAPITEL 5 — UMSETZUNGSSTRATEGIEN

10

198

Erläuterung des Begriffs Nachhaltigkeit und seine Verwendung in der Stadt- und Quartiersplanung

Strategien zur Umsetzung der in den Handlungsfeldern aufgezeigten Lösungen im Entwicklungsprozess

1.1 1.2 1.3 1.4

5.1 Akteure, Leitbilder und Instrumente 199 5.2 Kommunale Umsetzungsstrategien 206 5.3 Projektspezifische Umsetzungsstrategien 211

Ziele und Motivation des Buchs 11 Nachhaltigkeit 13 Das Quartier 21 Mehrwert nachhaltiger Stadtquartiere 26

KAPITEL 2 — HERAUSFORDERUNGEN

30

KAPITEL 6 — WERKZEUGE

216

Problemstellungen in Bezug auf für die nachhaltige Quartiersplanung relevante Themenfelder

Überblick über Methoden und Werkzeuge für die Planung und Umsetzung von nachhaltigen Quartieren

2.1 Regional-, Stadt- und Quartiersentwicklung 30 2.2 Prozesse und Beteiligung 42 2.3 Mensch und Soziokultur 46 2.3.1 Soziales Gefüge 47 2.3.2 Lebensstile und Verhaltensweisen 52 2.4 Ökologie 56 2.4.1 Arten- und Biotopschutz 57 2.4.2 Stadtklima 59 2.4.3 Wasser- und Bodenschutz 62 2.4.4 Stoffströme 65 2.4.5 Mobilität und Verkehr 67 2.4.6 Energie 70 2.4.7 Emissionen 74 2.5 Ökonomie 78

6.1 Computerunterstützte Planungswerkzeuge 217 6.2 Simulation 222 6.3 Visualisierung 230 6.4 Zertifizierungs- und Bewertungssysteme 234 6.5 Werkzeuge zur Entscheidungsunterstützung 241

KAPITEL 3 — PRINZIPIEN

84

Darstellung übergeordneter Prinzipien, die bei der Planung berücksichtigt werden sollten

KAPITEL 4 — HANDLUNGSFELDER

92

Konkrete Lösungsansätze für die Stadt- und Quartiersplanung hinsichtlich relevanter Themenfelder

4.1 Regional-, Stadt- und Quartiersplanung 92 4.2 Prozesse und Beteiligung 102 4.3 Mensch und Soziokultur 112 4.3.1 Soziales Gefüge 113 4.3.2 Lebensstile und Verhaltensweisen 121 4.4 Ökologie 126 4.4.1 Freiräume und Stadtklima 127 4.4.2 Wasser und Boden 136 4.4.3 Stoffströme 144 4.4.4 Mobilität 151 4.4.5 Energie 162

KAPITEL 7 — PROJEKTE

244

Auswahl an nachhaltigen Quartieren weltweit mit spezifischen Schwerpunkten

Einführung 245 Potsdamer Platz 248 Carlsberg 252 Confluence 254 ecoQuartier 256 Bo01 – Western Harbour 260 Dockside Green 262 Neckarbogen 264 Hammarby Sjöstad 266 Möckernkiez 270 NEST – New Ethiopian Sustainable Town 272 GWL-Terrein 276 Barangaroo 278 Petrisberg 280 NDSM-Werft 282 Weitere Projekte 286

ANHANG Literaturverzeichnis 290 Autoren 298 Projektbearbeiter 300 Bildnachweis 300 Sachwortregister 303

6

Vorwort der Herausgeber

Nachhaltigkeit – Vision, Innovation oder altbekanntes Vorgehen?

M

ittlerweile ist Nachhaltigkeit fast zum Schlagwort degradiert. Den Begriff in seiner Komplexität und Mehrdimensionalität zu beleuchten und gleichzeitig einen fundierten Überblick über das Thema aus der Perspektive der Stadtplanung zu bieten, ist der Anspruch dieser Publikation. Ganz gleich aus welchem Betrachtungswinkel und in welcher Dimension – ökologisch, sozio-kulturell oder ökonomisch – man die Stadt analysiert, es geht immer um den zeitlichen und räumlichen Rahmen, in dem sich Prozesse in dieser Lebenswelt der Mehrheit der Menschen vollziehen. Soziale und ökonomische Strukturen wandeln sich ebenso wie die gebaute Umwelt, in der sich diese Prozesse entfalten. Die Nachhaltigkeit räumlicher Strukturen lässt sich nur über die zeitliche Abfolge ihres Lebenszyklus – von der Errichtung und Einbringung der Baumaterialien und Bauteile über die Nutzung und Unterhaltung von Gebäudestrukturen bis gegebenenfalls zu deren Entsorgung bzw. Wiederverwendung – sowie die Intelligenz der Vernetzung aller Elemente untereinander definieren. Der Begriff der Nachhaltigkeit charakterisiert kein abgeschlossenes System, sondern umfasst auch die Anpassungsfähigkeit, die heute oft mit einem weiteren Schlagwort als Resilienz bezeichnet wird. Nachhaltigkeit ist ein unbestrittenes, uraltes Grundprinzip. Bei dieser Erkenntnis stehen zu bleiben, reicht aber nicht aus. Nachhaltigkeit muss in der Umsetzung immer wieder neu gedacht werden, da sich die Welt und somit die Rahmenbedingungen des Planens und Bauens ständig wandeln. Das gilt umso mehr für eine immer noch auf Wachstum ausgerichtete Gesellschaft auf einem räumlich und in den verfügbaren Ressourcen begrenzten Planeten.

Die vorliegende Publikation kann ein so komplexes Thema selbstverständlich nicht in allen Einzelheiten behandeln kann. Ziel ist es vielmehr, einen fundierten Überblick zu geben, aus dem ein Grundverständnis für die Komplexität der Zusammenhänge und Wechselwirkungen entsteht. Vielfältige Hinweise auf weiterführende Literatur sowie Projektbeispiele sollen dem Leser die Möglichkeit geben, Kenntnisse zu vertiefen und sich mit Details der jeweiligen Fachdisziplinen zu befassen. Um dem Anspruch der ganzheitlichen Betrachtung gerecht werden zu können, war es notwendig, ein Team aus Wissenschaft, Planungspraxis und Wirtschaft zusammenzustellen. Das Thema ist zu komplex und die zu behandelnden Aspekte zu vielfältig, als dass sie eine kleine Gruppe oder gar nur ein einzelner Autor behandeln könnte. Zu groß wäre dabei die Gefahr, aus der Kompilation einschlägiger Veröffentlichungen der Fachwissenschaften nur einen zweiten Aufguss von teilweise bereits veralteten Forschungsständen und Praxiserfahrungen zu erhalten. Die Vielfalt der Autoren dagegen erlaubt es, das Thema Nachhaltigkeit aus sehr unterschiedlichen Positionen zu untersuchen. Der Fokus der Betrachtung richtet sich zwar auf das Quartier als sozialräumliche Einheit der alltäglichen Lebenswelt sowie als Interventionsebene im Stadtumbau und bei der Stadterneuerung. Viele Aspekte lassen sich jedoch nicht auf klar abgrenzbare räumliche Untereinheiten der Stadt einschränken, weshalb sich der Blick immer wieder vom Quartier auch auf die Stadt oder gar die Region weitet. Nachhaltigkeit ist sowohl aus der Fachdiskussion als auch aus dem allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs nicht mehr wegzudenken. Derselbe Begriff wird jedoch kontrovers verstanden. Die einen beziehen sich unter dem Motto »Nachhaltigkeit ist nichts Neues« auf alte Methoden und Werte, während andere gemäß der Devise »Nachhaltigkeit

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ist die Vision der besseren Zukunft« auf Innovation und technischen Fortschritt setzen. Zahlreiche Diskussionen und auch Publikationen beschäftigen sich mit Hightech- und LowtechStrategien – von Städten mit Lehmhäusern und Schafwolldämmung auf der einen und Smart Cities mit vollautomatisierten Gebäuden, steuerbar per Smartphone, und E-Autos auf der anderen Seite. Beide Ansätze sind interessant, aber sehr stark ideologisch geprägt. Das vorliegende Buch soll zu einer offenen und sachlichen Diskussion beitragen, ohne sich auf ein bestimmtes Ergebnis festzulegen: Ohne technische Innovation wird eine nachhaltige zukünftige Entwicklung nicht möglich sein, auf der anderen Seite stellt technische Innovation jedoch keinen Wert an sich dar, sondern hat ganz im Gegenteil einen großen Teil unserer heutigen Probleme erst erzeugt. Natürlich kann in dieser Diskussion niemand die Position der Objektivität beanspruchen. In diesem Buch werden vielmehr Ziele und Maßnahmen formuliert, wie z. B. das Prinzip der sozialen Mischung, der Dichte und der Nutzungsmischung, für die die Autoren der jeweiligen Beiträge nachvollziehbar begründen. Letztendlich basieren diese Betrachtungen aber nicht nur auf Fakten, sondern auch auf Werturteilen. Dies erschließt sich dem Leser aus den Argumentationen, und er mag den Gedankengängen zustimmen oder auch nicht. Um Visionen Realität werden zu lassen, ist es notwendig, Erfahrungen in der Praxis zu sammeln, daraus zu lernen und entsprechende Umsetzungsstrategien zu konzipieren. Einerseits wurden in den letzten Jahrzehnten mit vergleichsweise geringen Forschungsmitteln in Teilbereichen große Fortschritte erzielt – etwa bei der Entwicklung vom Niedrigenergie- zum Passiv- und schließlich zum Plusenergie- bzw. Aktivhaus. Anderseits aber zeigt sich, dass gerade die realisierten Projekte in

Vorwort der Herausgeber

aller Regel eben nicht den ganzheitlichen Ansatz, den dieses Buch fordert, verfolgen. Das wird auch in den dargestellten Praxisbeispielen in Kapitel 7 deutlich. Die komplexe, vieldimensionale Analyse und Planung steht unseres Erachtens erst am Anfang, daher ist dies nicht weiter verwunderlich und spricht keineswegs gegen Projekte, dass sie nur einige der im Buch angesprochenen Dimensionen beachten. Jedes Projekt, das es ermöglicht, neue technische und/oder sozioökonomische Erkenntnisse zu gewinnen, ist wichtig, und so glauben wir, dass sich an den dargestellten Planungsbeispielen vieles lernen lässt. In der vorliegenden Publikation geht es nicht um die einzig richtige Nachhaltigkeitsstrategie, sondern darum, wie sich die komplexen Rahmenbedingungen in der Quartiersplanung erfassen lassen und daraus ein individueller Planungsweg für ganz unterschiedliche Fragestellungen entstehen kann. Hierzu werden zuerst die aktuellen Herausforderungen in der Planung erörtert sowie die Grundlagen des nachhaltigen Planens und Bauens zusammengefasst. Schwerpunkt der Darstellung sind die thematischen Handlungsfelder, die für alle Themenbereiche und Fragen der Stadtund Quartiersplanung konkrete Empfehlungen geben. Die beschriebenen Strategien und Planungswerkzeuge in Zusammenhang mit zahlreichen Praxisbeispielen sollen bei der Umsetzung der Empfehlungen hilfreich sein. Der Fokus in der Debatte um Nachhaltigkeit hat sich von der Gebäudeebene auf das Ensemble, das Quartier, ja auf die Stadt verlagert. Heute gibt es bereits Programme wie EnEff:Stadt oder das KfW-Programm 432 zur energetischen Stadtsanierung. Einige der beschriebenen Stadtquartiere wurden von der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) ausgezeichnet. Wir, die Herausgeber dieses Buchs, haben uns in eben diesem Prozess der Erarbeitung von Bewertungs-

kriterien zur Zertifizierung nachhaltiger Quartiere kennengelernt. Und so entstand die gemeinsame Idee, ein Buch zur nachhaltigen Stadtplanung zu verfassen. Zusammen mit den zahlreichen renommierten Autoren der unterschiedlichsten Fachdisziplinen sind wir überzeugt, Ihnen ein informatives Buch für die Tätigkeit als Planer oder als Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft an die Hand geben zu können. Wir danken an dieser Stelle allen Autoren und insbesondere Stephan Anders, der als Teil des Kernteams die Herausgeber inhaltlich wie organisatorisch unterstützt hat, für ihr großes Engagement zu diesem ersten umfassenden Buch im Bereich der nachhaltigen Stadt- und Quartiersplanung. Besonders sind hier das Unternehmen Drees & Sommer sowie die Universität Stuttgart zu erwähnen, ohne deren Unterstützung dieses Buch nicht entstanden wäre. Wir alle verstehen Nachhaltigkeit als weit mehr als eine Vision oder ein neues Leitbild, es ist eine stetige Herausforderung – oder wie Ulrich Grober in seinem Buch »Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs« (München 2010, S. 13) schreibt: »Die Idee der Nachhaltigkeit ist weder eine Kopfgeburt moderner Technokraten noch ein Geistesblitz von Ökofreaks der Generation Woodstock. Sie ist unser ursprüngliches Weltkulturerbe.«

Stuttgart/Remseck 2013 Helmut Bott und Gregor C. Grassl

Vorwort des Bundesministers für Verkehr, Bau und Stadt entwicklung

Nachhaltigkeit in der Stadtund Quartiersplanung

E

s liegt heute nahe, eine nachhaltige Entwicklung gerade auch zur Grunddeterminante der Stadt- und Quartiersplanung zu machen. Denn unsere Städte, Gemeinden und Quartiere sind die wesentlichen Lebens- und Gestaltungsräume. In ihnen liegen die vielfältigsten Aufgabenstellungen auf engstem Raum dicht zusammen und beeinflussen sich gegenseitig. Die Herausbildung eines umfassenden Verständnisses nachhaltiger Quartiersplanung ist daher eine ebenso ambitionierte wie lohnenswerte Aufgabenstellung. Eine zentrale Herausforderung besteht u. a. in der Beantwortung der Frage, welche Erfolgsfaktoren unbedingt abgebildet sein müssen, um tatsächlich von einer stringenten Nachhaltigkeitsstrategie sprechen zu können. Optimale Ressourcenschonung, Energieeffizienz, Aufenthalts- und Lebensraumqualität sind dabei nur einige Ziele nachhaltiger Quartiersplanung, die Gegenstand konkreter Erfolgsstrategien sein sollten. Fragen der Verkehrsplanung, Energieversorgung und Wohnumfeldgestaltung, aber sicher auch der Konzeption von Einrichtungen der Daseinsvorsorge müssen im Zusammenhang betrachtet werden. So will es nicht zuletzt die »Leipzig Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt«, der sich auch die Stadtentwicklungspolitik des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung verpflichtet sieht. Mutiges Vor- und Querdenken muss ausdrücklich erlaubt sein. Zugleich brauchen wir einen realistischen Blick auf die Situation, denn für den Erfolg nachhaltiger Entwicklungsszenarien wird vor allem auch die behutsame Einbeziehung des vorhandenen Quartiersbestands ausschlaggebend sein. Die Einsicht, dass sich gewachsene Struktu-

ren nicht grundlegend »umkrempeln« lassen, sollte dabei nicht entmutigend wirken – im Gegenteil: Gerade auf diesem Feld sind innovative Ansätze dringend erwünscht. Die Herausbildung innovativer Modellquartiere im Rahmen nachhaltiger Stadt- und Quartiersplanung muss vielfältigste Wechselwirkungen mit anderen Bereichen berücksichtigen. Das macht die Aufgabe besonders spannend und verdienstvoll, der sich die Autoren des vorliegenden Buchprojekts in beeindruckender Breite und Tiefe verschrieben haben. Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich gewinnbringende Einsichten sowie dem Anliegen nachhaltiger Quartiersplanung wichtige neue Impulse.

Berlin 2013 Dr. Peter Ramsauer MdB Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

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K A P ITE L 1

Einführung

1.1 — Ziele und Motivation des Buchs

1 .1

Ziele und Motivation des Buchs He l m u t Bo tt, Gre go r C . Gra s s l

N

achhaltigkeit – der Begriff taucht inzwischen in so vielen Zusammenhängen auf, dass viele diesem Thema überdrüssig sind. Und nun also auch auf der Ebene der Stadt- und Quartiersplanung, wo doch seit der Weltklimakonferenz in Rio de Janeiro 1992 und durch die dort beschlossene »Agenda 21« ohnehin alle Prozesse über die große Politik gesteuert werden und ihre lokale Umsetzung bis in die kleinste Kommune geregelt ist. Vorschriften für Ausgleichsflächen, Energiegesetze, Umweltberichte, Flächennutzungspläne und die kommunale Planungshoheit lassen Planern, Investoren und Nutzern in Deutschland keinen großen Spielraum mehr. Tatsächlich ist in der deutschen Stadt- und Quartiersplanung sehr vieles vorbildlich und (manches vielleicht zu) detailliert geregelt. Trotzdem muss kritisch hinterfragt werden, ob nicht die Grundprinzipien der Funktionstrennung – wie in der Baunutzungsverordnung (BauNVO) festgeschrieben – und andere Vorgaben aus früherer Zeit – z. B. in der Verkehrsplanung – auch weiterhin die Stadtentwicklung noch stärker prägen als die im Baugesetzbuch (BauGB) neu eingefügten Formulierungen zum Thema Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Doch was bedeutet Nachhaltigkeit in ihrer Komplexität für Stadtplanung und Städtebau? Das Buch betrachtet das Thema Nachhaltigkeit aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Beiträge beleuchten städtebauliche Visionen, die weit über den heutigen Zustand vieler Städte hinausweisen müssen, wenn Nachhaltigkeit das formulierte Ziel ist, und gehen u. a. auch auf sozialpolitische Ziele und die Probleme von sozialer Integration oder Segregation ein. Ebenso kommen die Belange von Investoren zur Sprache, denn dies sind nicht nur Hedgefonds,

deren über den Globus verteiltes Kapital nach Anlage mit schnellem Profit sucht, oder Heuschrecken, die alles Verwertbare »fressen« und nach der Zerstörung weiterziehen. Investoren können auch Bauherrengemeinschaften, lokal gebundene Mittelständler, Genossenschaften und Wohnungsbauunternehmen mit langfristigen Investitionszielen und lokaler Verantwortung sein. Des Weiteren beschäftigt sich das Buch mit einem unabhängigen deutschen Immobilienzertifikat für Stadtquartiere sowie dem Leitbild der europäischen Stadt als einem funktionsfähigen, sich in eigener Verantwortung verwaltenden Gemeinwesen, das seine Zukunft zum Wohle aller Mitbürger plant. Wie viel davon ist heute noch Realität? Wie viele Kommunen in Deutschland üben ihre Planungshoheit und Daseinsvorsorge wirklich noch umfassend von A wie Ankauf von Grundstücken zur Stadtentwicklung bis Z wie Zahlung von Handwerkerrechnungen aus? Auch die übergreifenden ökonomischen Effekte nachhaltigen Handelns werden diskutiert. Mit deren mittel- und langfristig positiven Auswirkungen auf die gesamte Volkswirtschaft lässt sich begründen, warum auch einzelne Maßnahmen, die bei kurzfristiger, nur sektoraler Betrachtung unrentabel erscheinen, sinnvoll sein können. Für Versäumnisse in der Stadt- und Quartiersentwicklung müssen alle Bürger früher oder später – wenn das nächste Hochwasser, die nächste Finanzkrise kommt oder ein schlecht geplantes Quartier nach einiger Zeit zum sozialen Brennpunkt wird – als Steuerzahler oder Versicherungsnehmer die Folgekosten tragen. Das Buch bringt Experten unterschiedlichster Fachgebiete und verschiedener politischer Haltungen zusammen, die sich alle einig sind, dass Nachhaltigkeit die Herausforderung unserer Generation ist, die große Herausforderung für die Zukunft der Menschheit überhaupt! Ziel der

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12

Kapitel 1 — Einführung

Herausgeber und aller Autoren ist es, mit diesem Buch eine komplexe, möglichst umfassende Definition von nachhaltiger Stadt- und Quartiersplanung zu geben und eine entsprechende Bewusstseinsbildung anzuregen. Städte und Siedlungen waren auch in der Vergangenheit keineswegs immer nachhaltig. Schon vor Jahrhunderten wurde durchaus in manchen Gesellschaften Raubbau an der Natur betrieben mit den entsprechenden lokalen und regionalen Konsequenzen. Die rasch ansteigende Weltbevölkerung, die Globalisierung und die stetig zunehmende Urbanisierung machen die Probleme, die durch eine nicht nachhaltige Lebensund Wirtschaftsweise entstehen, jedoch zum globalen Problem. Denkt man an die Ursprünge der Nachhaltigkeitsdefinition im 18. Jahrhundert zurück, die noch vor der einsetzenden Industrialisierung entstand, wird die Herausforderung noch klarer. Zu dieser Zeit hatten lediglich etwa 120 Millionen Europäer den Wald, der bis ins Mittelalter noch große Teile des Kontinents bedeckt hatte, bereits auf ein Drittel dezimiert – das entspricht in etwa dem heutigen Waldanteil von 31 % in Deutschland. Aus der kritischen Betrachtung dieses Raubbaus heraus entstand 1713 die erste Schrift zur Nachhaltigkeit des sächsischen Oberberghauptmanns Hans Carl von Carlowitz, die »Sylvicultura oeconomica«. Die Auswirkungen des dezimierten und oft monokulturellen Waldbestands sind in Europa bis in unsere Zeit zu sehen. Es dauerte damals ca. 100 Jahre, bis sich ein Umdenken und die Umstellung in der Forstwirtschaft auf nachhaltige Bewirtschaftung in aller Breite in Mitteleuropa durchgesetzt hatten – weltweit betrachtet ist dies bis heute noch nicht überall so. In Europa leben derzeit etwa 800 Millionen Menschen, allerdings sind nicht mehr Natur- und Rohstoffe vorhanden als damals. In der Stadt- und Quartiersentwicklung muss der Wandel zu einer nachhaltigen Denkweise daher schneller Realität werden! Ziel ist es, mit diesem Fachbuch aufzuzeigen, wie sich ein nachhaltiger Planungs- und Realisierungsprozess organisieren lässt. Der Leser bekommt unterschiedliche Methoden und Werkzeuge zur Realisierung der Projektziele angeboten. Die vorgestellten Projekte zeigen, dass – zumindest in Teilbereichen – auch in den letzten Jahren schon nachhaltige Ziele in der Stadt- und Quartiersplanung umgesetzt wurden und machen somit deutlich, dass auf diesem Gebiet bereits heute wichtige Beiträge zum nachhaltigen Handeln

existieren und es nicht notwendig ist, immer auf andere Rahmenbedingungen aus Politik und Wirtschaft zu warten. Nachhaltiges Planen und Bauen ist keine einfache Aufgabe und erfordert eine neue Form der Planungsintelligenz, um die zunehmend komplexen Prozesse zu verstehen, zu verarbeiten und realisierbare Lösungen zu entwickeln. Ein zentrales Anliegen dieser Publikation ist es, mögliche Wege dazu aufzuzeigen. Einfach nur eine gute Planung reicht nicht mehr aus, erforderlich ist eine höhere Intelligenz in der Planung, eine nachhaltige Quartiersplanung auf dem Weg zu neuen Lösungen. Im Einführungskapitel der Publikation werden der Begriff der Nachhaltigkeit und seine Verwendung in der Stadt- und Quartiersplanung erläutert und historisch eingeordnet sowie Nachhaltigkeit in ihrer grundlegenden Dimension und ihrer strategischen Wirkung dargestellt. Gegliedert nach den allgemein gebräuchlichen drei Säulen der Nachhaltigkeit (Ökonomie, Ökologie, Soziales) und ergänzt durch die Ebene der Planung werden anschließend die wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit aufgezeigt und mit Zahlen und Fakten belegt. Dadurch soll ein Verständnis, das weit über CO2-Reduktion und Energiewende hinausreicht, geschaffen werden. Bezogen auf einzelne Handlungsfelder arbeiten die jeweiligen Autoren anschließend die zuvor thematisierten Problemstellungen auf und zeigen Lösungsansätze sowie konkrete Planungsschritte. Entscheidend für den Projekterfolg sind aber nicht nur die richtigen planerischen Lösungsansätze, sondern zunehmend auch die Umsetzungsstrategie bei Großprojekten, wie es Stadt- und Quartiersentwicklungen immer sind. Zusätzlich erhält der Leser einen Überblick, welche teilweise noch relativ neuen Werkzeuge für nachhaltiges Planen und Bauen zur Verfügung stehen. Von Simulationsinstrumenten über Datenbanken bis hin zu Nachhaltigkeitszertifikaten werden die verschiedenen Möglichkeiten und ihre Anwendung erläutert. Abschließend sind zum Teil bereits realisierte Beispiele vorgestellt, die Anregungen für konkrete Aufgabenstellungen geben und einen Einblick erlauben, was heute mit nachhaltigem Planen und Bauen schon machbar ist. Die Gliederung der Kapitel ermöglicht es, jederzeit schnell Informationen zu Teilgebieten der Nachhaltigkeit zu erhalten. Ziel ist es aber, mit diesem Buch zu vermitteln, dass Nachhaltigkeit nur als großes Ganzes verstanden werden kann und einen komplexen Planungsprozess erfordert.

1.2 — Nachhaltigkeit

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1.2

Nachhaltigkeit Ste p h a n An d e r s, He l m u t Bo tt, Gre go r C . Gra s s l

D

er im Jahr 1987 veröffentlichte Brundtlandbericht definierte erstmals das Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung und zwar als »eine Entwicklung, die die Lebensqualität der gegenwärtigen Generation sichert und gleichzeitig zukünftigen Generationen die Wahlmöglichkeit zur Gestaltung ihres Lebens erhält«.1 Dies ist die grundlegende Prämisse für eine nachhaltige Stadtquartiersentwicklung. Sie steht auf den folgenden zwei ethischen Fundamenten: • Die Zukunftsverantwortung gegenüber den kommenden Generationen ist das bewahrendstatische Element. Sie sichert die menschlichen Bedürfnisse auf lange Zeit. • Die ständige Verteilungsgerechtigkeit als optimierend-dynamisches Element beugt Konflikten vor. Sie ist das stabilisierende Moment einer Gesellschaft. Dieses Leitbild spiegelt sich auch in dem häufig verwendeten Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit wider – andere Bezeichnungen sind das Nachhaltigkeitsdreieck, das magische Dreieck oder im Englischen der Begriff Triple Bottom Line. Das Drei-Säulen-Modell besagt, dass eine Entwicklung nur nachhaltig sein kann, wenn ökologische, ökonomische und soziale Aspekte gleichermaßen Berücksichtigung finden. Die drei Dimensionen sind dabei eng miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig. Kurz gesagt: Ohne den Schutz der Umwelt und die nachhaltige Nutzung der zur Verfügung stehenden Ressourcen ist langfristig eine Gesellschaft nicht überlebensfähig. Es sei angemerkt, dass das Drei-Säulen-System in der Fachwelt umstritten ist, da es die drei Dimensionen der Nachhaltigkeit gleichrangig behandelt. In der Realität ist jedoch die Umwelt die Grundlage

für das Leben und die Wirtschaft auf unserem Planeten. Daher sollte – so die Kritiker – die ökologische Dimension mehr Gewicht bekommen (EinSäulen-Modell). Auch gibt es Überlegungen, noch weitere Dimensionen zu integrieren (Mehr-SäulenModell). In der Praxis konnte sich jedoch bisher keines der anderen Systeme in gleichem Maß durchsetzen, weshalb das Drei-Säulen-Modell auch die Grundlage für dieses Buch bildet, wohlwissend, dass eine intakte Umwelt die Grundlage für menschliches Leben und Wirtschaften ist. SA

Nachhaltigkeitsdefinitionen und -strategien Für den Vorsitzenden des Rats für Nachhaltige Entwicklung Volker Hauff ist eine Nachhaltigkeitsstrategie immer auch eine Zukunftsstrategie.2 Alle Nachhaltigkeitsstrategien, also die verschiedenen Methoden und Instrumente, um eine nachhaltige Entwicklung umzusetzen, lassen sich allgemein einer der folgenden fünf wissenschaftlichen Konzeptionen zuordnen.

Schwache und starke Nachhaltigkeit Die Unterscheidung in schwache und starke Nachhaltigkeit wurde auf Grundlage der Trennung in natürliche sowie künstliche Ressourcen aus chemischen oder technischen Prozessen entwickelt. Die schwache Nachhaltigkeit sichert für die Zukunft nur die Summe beider Ressourcen. Dabei wird davon ausgegangen, dass natürliche Stoffe

1 Hauff 1987, S. 46 2 Deutsche Bundesregierung 2008, S. 13

14

Kapitel 1 — Einführung

Transmissionsverluste minimieren

Grund und Boden Baumaterialien Energie Wasser

Lüftungsverluste minimieren A/V-Verhältnis materialminimiertes Bauen optimieren Grundstücksflächen- Effizienz sinnvolles einsparung innovative Wassersparsystem Fassaden höhere Öffnungsanteile der Materialeffizienz intelligente Fassaden optimieren Tragwerke effektiver Sonnenschutz höhere Bebauungsdichte Zwischenklimazonen Flächeneffizienz Nutzungsdichte solare Langlebigkeit Standortwahl Grundrissstarke Umweltwärme zonierung Nachhaltigkeit Drittverwendungsfähigkeit Lebensstilveränderung FlächenUmnutzung recycling Nachhaltigkeit als Lifestyle Konsistenz Suffizienz Solarstrom Nutzungsneutralität Materialrecycling Materialzyklen Nutzungsflexibilität nachwachsende Reaktivierung Sanierung Baustoffe Leichtbau

Regenwassernutzung Grauwassernutzung

solare Wärme

dezentrale Wasserkreisläufe

Reduktion konditionierter Flächen

Abb. 1

3 Grunwald /Kopfmüller 2006, S. 39 4 Deutscher Bundestag 1998, S. 16 5 Willke 1993, S. 102ff.

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Ökologie Abb. 2

sich durch künstlich gewonnene Produkte aus technischen oder chemischen Prozessen ersetzen lassen. Die starke Nachhaltigkeit dagegen verlangt eine getrennte Betrachtung und gewährleistet so den Erhalt der natürlichen Rohstoffe. In der Realität ist die Einteilung in natürliche und künstliche Ressourcen nur schwer anwendbar. Beispielsweise kann der Verbraucher heute kaum zwischen einer natürlichen Tomate aus biologischem Anbau und einer vielleicht schon als künstlich einzustufenden Tomate aus einem Gewächshaus mit Kunstdünger und Gentechnik unterscheiden. Der Umweltökonom Jürgen Kopfmüller schlägt vor, eine »mittlere Position« zu vertreten: Für die natürlichen Ressourcen sollten keine unveränderbaren, sondern kritische Grenzen gelten, die ein Minimum beschreiben. Auf diese Weise könnte z. B. das Aussterben einer Art oder eine Klimakatastrophe verhindert werden, ohne eine menschliche Entwicklung der Wohnbedürfnisse gänzlich zu blockieren.3 Das Verfahren ist in der Deutschen Umweltgesetzgebung und Baurechtsschaffung durchaus üblich. So ist es trotz stagnierender Bevölkerungszahl und ausreichend großer Anzahl an Brachflächen weiterhin erlaubt, Freiflächen zu bebauen. Handelt es sich dabei allerdings um Lebensräume vom Aussterben bedrohter Arten ist eine Bebauung meist unmöglich.

Substanzielle und prozedurale Nachhaltigkeit Die Konzepte der substanziellen und der prozeduralen Nachhaltigkeit beschäftigen sich damit,

ob bereits zu Beginn einer Entwicklung konkrete Zielvorgaben als unveränderlich festgelegt werden sollen oder ob diese im Prozessverlauf ständig weiterentwickelt und angepasst werden müssen. Die substanzielle Umsetzungsstrategie erarbeitet klare Ziele und eindeutige Kriterien. In der Praxis lässt die Komplexität des ganzheitlichen Planens jedoch Zweifel an dieser Eindeutigkeit aufkommen. Ein möglicher Ansatz ist deshalb, nachhaltige Entwicklung als eine »regulative Idee« im Sinn von Immanuel Kant zu verstehen – als ein Ziel, auf das man sich orientiert, das man jedoch nie ganz erreichen wird, das aber dennoch das Handeln in moralischer Hinsicht reguliert. Daher kann es immer wieder nur zu verbessernden Übergangsbestimmungen kommen.4 Beim primär prozeduralen Vorgehen werden keine langfristigen Ziele verfolgt, sondern zeitnah und konkret die aktuellen Probleme bewältigt. Diese Haltung findet in der soziologischen Systemtheorie Unterstützung, da von ihr teilweise die Steuerbarkeit der Gesellschaft im Generellen bezweifelt wird.5 Im sozialen Bereich der Planung kann diese Herangehensweise zielführend sein, was sich aktuell in der regen Diskussion um Beteiligungsverfahren in der Planung von Stadtquartieren und anderen Großprojekten widerspiegelt. Der Erfolg eines Quartiers ist in diesem Zusammenhang weniger von der Qualität der Quartiersplanung abhängig als von der Art und Weise der Kommunikation mit allen Beteiligten. Ökologisch und ökonomisch ist ein substanzielles Grundverständnis unverzichtbar. Nicht geeignet sind solche Prozesse hingegen, wenn es um physikalische Gesetze und mathematische Zusammenhänge geht wie beispielsweise die Statik einer Brücke oder eines Gebäudes.

Ein-Säulen-Modell Das Ein-Säulen-Modell basiert einzig und allein auf einer ökologischen Grundlage. Der moderne Mensch wird darin als aktiver Systemfaktor für unseren Planeten und Teil der Umwelt betrachtet. Durch den Bau von Siedlungen und Städten erzeugt er nicht nur lokal begrenzte ökologische Schadstellen, sondern wirkt auf den gesamten Funktionsablauf der Erde ein. Deshalb ist es notwendig, mit einer »ökologischen Managementregel« ein neues Verhältnis zwischen Natur und Mensch herzustellen. Die ökologischen Belastungsgrenzen sind durch Experimente genau zu definieren, was jedoch im Fall des Systems Erde die Zerstörung des Planeten zur Folge hätte,

1.2 — Nachhaltigkeit

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substanzielle Regeln

weshalb es nicht möglich ist, diese Methode einzusetzen. Damit das Ein-Säulen-Modell trotzdem anwendbar ist, wurde ein Leitplankenmodell entwickelt, bei dem durch Erfahrungswerte ein sicherer Korridor mit Ober- und Untergrenze erzeugt wird.6 Das »30 ha Ziel« der Bundesregierung, das die Absicht formuliert, zukünftig nicht mehr als 30 ha zusätzliches Land pro Tag für jegliche Stadtentwicklung inklusive Verkehrsinfrastrukturen in Deutschland zu beanspruchen – der Wert liegt heute bei ca. 81 ha pro Tag –, stellt beispielsweise eine solche Obergrenze dar. Da die Leitplanken abhängig von der Risikobereitschaft und dem Wissen der Entscheidungsträger sind, besitzen sie keine wissenschaftliche Genauigkeit. Alternativ besteht der Syndromansatz: »Global relevant sind Syndrome dann, wenn sie den Charakter des Systems Erde modifizieren und damit direkt oder indirekt die Lebensgrundlagen für einen Großteil der Menschheit spürbar beeinflussen oder wenn für die Bewältigung der Probleme ein globaler Lösungsansatz erforderlich ist.«7 Die CO2-Diskussion beschreibt ein solches Syndrom, da der CO2-Ausstoß eine weltweite Klimaerwärmung verursacht und somit der Charakter der Erde verändert wird. In der Stadtplanung ist dieser Ansatz jedoch wegen fehlender Kriterien für Syndrome nicht ausgereift.

Mehr-Säulen-Modelle Modelle, die auf mehreren Säulen beruhen, bauen auf einer ausgewogenen Gesamtbetrachtung auf, um die Entwicklungsherausforderungen nachhaltig zu bewältigen. Etabliert hat sich hier das »magische Dreieck«, bestehend aus der ökologischen, der ökonomischen und der sozial-kulturellen Dimension (Abb. 2).8 Die ökonomische Herausforderung besteht darin, ein unbegrenztes Wirtschaftswachstum zu ermöglichen, indem dieses vom Ressourcenverbrauch entkoppelt wird. Als soziale Dimension der Nachhaltigkeit werden die Sicherung der Grundbedürfnisse des Menschen, die Grundrechte und die Wahrung des sozialen Friedens betrachtet. In der konkreten Umsetzung ergeben sich durch die unterschiedlichen Gerechtigkeitstheorien der verschiedenen Generationen und Kulturen allerdings große Probleme.9 Die ökologische Säule ergänzt das System mit den substanziellen Umweltfaktoren, ohne eine Vorrangstellung einzunehmen, was das System, wie bereits erwähnt, umstritten macht. Vier-Säulen-Modelle beleuchten zusätzlich die Effektivität aller Beteiligungsformen der Öffent-

Sicherung der menschlichen Existenz

Erhaltung des gesellschaftlichen Produktionspotenzials

Bewahrung der Entwicklungsund Handlungsmöglichkeiten

• Schutz der menschlichen Gesundheit • Gewährleistung der Grundversorgung (Nahrung, Bildung etc.) • selbstständige Existenzsicherung • gerechte Verteilung der Umweltnutzungsmöglichkeiten • Ausgleich externer Einkommensund Vermögensunterschiede

• nachhaltige Nutzung erneuerbarer Ressourcen • nachhaltige Nutzung nicht erneuerbarer Ressourcen • nachhaltige Nutzung der Umwelt als Senke • Vermeidung unvertretbarer technischer Risiken • nachhaltige Entwicklung des Sach-, Human- und Wissenskapitals

• Chancengleichheit hinsichtlich Bildung, Beruf, Information • Partizipation an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen • Erhaltung des kulturellen Erbes /der kulturellen Vielfalt • Erhaltung der kulturellen Funktion der Natur • Erhaltung der sozialen Ressourcen

instrumentelle Regeln • Internalisierung der externen ökologischen und sozialen Kosten • angemessene Diskontierung • Begrenzung der Staatsverschuldung • faire weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen • internationale Kooperation

• Resonanzfähigkeit gesellschaftlicher Institutionen • Reflexivität gesellschaftlicher Institutionen • Steuerungsfähigkeit • Selbstorganisationsfähigkeit • Machtausgleich

Abb. 3

lichkeit, vom offiziellen Mandat bis zur individuellen Einwirkung auf gesellschaftliche Entscheidungsprozesse. Als problematisch erweist sich dabei, dass das demokratische System mit Wahlperioden von überwiegend vier bis fünf Jahren keinen Langfristigkeitscharakter besitzt und durch die Aufspaltung in Ministerien, Referate, Ausschüsse, Kommissionen etc. einen geringen Querschnittscharakter aufweist. Zudem ist es immer schwieriger, die Grenze zwischen offizieller Politik und Zivilgesellschaft zu überwinden. Diese Faktoren behindern eine ideale Stadt- und Siedlungsentwicklung. Im Konfliktfall führt die gleichwertige Behandlung der Bereiche Politik, Ökologie, Ökonomie und Kultur zu keiner Lösung; dies spricht prinzipiell gegen Mehr-Säulen-Modelle.

Integrative Nachhaltigkeitskonzepte Sogenannte integrative Nachhaltigkeitskonzepte berücksichtigen alle oben genannten Bereiche und setzen einen Fokus auf generelle Ziele der Nachhaltigkeit. Zentrale Prämissen sind die Sicherung der menschlichen Existenz, die Erhaltung des gesellschaftlichen Produktivitätspotenzials sowie die Bewahrung der Entwicklungs- und Handlungsmöglichkeiten der Gesellschaft (Abb. 3). Dieses grundlegend erweiterte Gerechtigkeitsprinzip ist in einem System der Nachhaltigkeitsregeln auf allen Ebenen nach dem Subsidiaritätsprinzip umzusetzen.10 Das würde eine Nachhaltigkeit von der Basis aus bedeuten: Jeder bewirkt selbst, was er kann und nur wenn er sich außer Stande sieht,

Abb. 1 Strategien des ressourcenschonenden Bauens Abb. 2 Nachhaltigkeitsdreieck Abb. 3 System der Nachhaltigkeitsregeln

6 Klemmer et al. 1998, S. 45ff. 7 WBGU 1996, S. 4f. 8 SRU 1998, S. 11ff. 9 Grunwald/Kopfmüller 2006, S. 49f. 10 ebd., S. 52ff.

16

Kapitel 1 — Einführung

ein Problem allein zu lösen, wird die nächst höhere Ebene eingeschaltet. Da alle Bereiche in die Betrachtung integriert sind, um diese anschließend wieder auf das Wesentliche zu fokussieren, ist dieses Konzept auch für eine nachhaltige Quartiersentwicklung interessant. GCG

1840

Ressourcenbedarf – historische Betrachtung

1900

1929 Abb. 4

11 Weber/Winckelmann 1985, S. 727 12 Strudwick 1995 13 Kiang 2007; Thomas 1997 14 Kloft 1992, S. 115 15 ebd., S. 117 16 ebd., S. 20f. 17 ebd., S. 194

Natur kann nicht, wie in religiösen Schöpfungsmythen oder romantischen Naturverklärungen suggeriert, als abgeschlossenes, harmonischperfektes und statisches System verstanden werden. Natur ist ein manchmal labiles, manchmal eher stabiles Ökosystem, in dem unterschiedlichste Arten manchmal in Symbiose, manchmal in Konkurrenz sich wechselseitig beeinflussen. Im Gegensatzpaar Natur – Kultur drückt sich der Kern der menschlichen Lebenstätigkeit aus, die sich die ursprüngliche Natur aneignet und diese umgestaltet. Das Wort Kultur leitet sich vom lateinischen cultura (Bearbeitung, Pflege, Ackerbau) bzw. colere (pflegen, verehren, den Acker bestellen) ab, also dem Landbau, der menschlichen Umformung der Natur in Kulturlandschaft. Während in der Zeit der Jäger und Sammler über Jahrhunderttausende bis in das Neolithikum trotz vielfältiger Beute die Gesellschaften klein blieben und damit ihr Einfluss auf die Flora und Fauna weitaus geringer war als der der großen Herden wilder Weidetiere, erhöhten sich die Einwirkungen auf das Ökosystem durch die Lebensform des Nomadentums mit Viehzucht bereits erheblich. Die Einführung des Ackerbaus vor etwa 10 000 Jahren in Kleinasien und die damit verbundene feste Ansiedlung und dauerhafte Umgestaltung der Natur zur Kulturlandschaft bewirkten eine starke Zunahme der verfügbaren Nahrungsmittel auf kleinerem Lebensraum und ermöglichten im Vergleich zu früheren Lebensformen eine enorme Siedlungsdichte. Mit Ackerbau und Viehzucht ließen sich dauerhaft mehr Produkte erwirtschaften, als die ackerbauenden Familien und Gesellschaften zum Überleben benötigten. Freiwillige (Opfer für religiöse Zentren) oder erzwungene Abgaben (Steuern) ermöglichten die Entwicklung von Arbeitsteilung und Spezialistentum. Dadurch konnten große Siedlungsanlagen entstehen, deren

Bewohner weitgehend ohne Einbindung in die Landwirtschaft, also städtisch, lebten.11 Die oberägyptische Tempel- und Königsstadt Theben z. B. hatte nach Schätzungen bereits zur Zeit des Neuen Reichs im 2. Jahrtausend v. Chr. 500 000 Einwohner.12 Chang’an, die alte Hauptstadt Chinas, soll in ihrer Blütezeit in der TangDynastie (7. – 10. Jahrhundert n. Chr.) weit über eine Million Einwohner gehabt haben.13 Städte solcher Größenordnungen waren bereits dauerhaft von den Zulieferungen großer Mengen an Nahrungsmitteln aus einem sehr großen Einzugsgebiet abhängig, was wiederum zuverlässige Transportsysteme, große Lagerbauten, Speichereinrichtungen und die Haltbarmachung von Nahrungsmitteln voraussetzte. Die Städte der griechischen Antike waren dagegen vergleichsweise klein, die Einwohnerzahlen der Stadt Athen in der klassischen Zeit werden beispielsweise mit 120 000 – 190 000 angegeben.14 Das Hinterland, die Halbinsel Attika, konnte damals schon den Stadtstaat nicht mehr ernähren; der über die Eigenproduktion hinaus notwendige Getreideimport aus dem Schwarzmeerraum, Sizilien und Nordafrika wird für die klassische Zeit auf etwa ein Viertel des Gesamtbedarfs, d. h. etwa 8000 t, geschätzt. Diese Versorgung erforderte eine enorme Handelsflotte der Griechen, zumal der Gesamtbedarf für das griechische Mutterland auf 100 000 t geschätzt wird. Im Gegensatz zu den riesigen asiatischen Zentralstaaten verfügte Griechenland nicht über ein ausreichend großes, einheitliches Staatsgebiet und so mussten die Nahrungsmittel über Handel in die Städte gelangen.15 Bereits in der Stadtkultur der griechischen Polis begann also die Ausdehnung des ökologischen Fußabdrucks der Stadtbürger über das eigentliche Stadtgebiet und den unmittelbaren Landbesitz der Stadtbürger hinaus. Das antike Rom erhielt Steuern und Abgaben aus einem Reichsgebiet, das in seiner weitesten Ausdehnung mehr als 6000 km umfasste. Rom hatte im 2. Jahrhundert n. Chr. in der Regierungszeit des Kaisers Mark Aurel bereits über eine Million Einwohner, die oströmische Hauptstadt Konstantinopel in der Spätantike ca. 500 000 Einwohner.16 Bereits im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. deckte die Stadt den größten Teil ihres gewaltigen Weinund Ölbedarfs aus spanischen Importen.17 Die Getreideversorgung hingegen erfolgte im Wesentlichen durch Lieferungen aus den Provinzen Afrika, Ägypten und teilweise Sizilien, bei einer Einwohnerzahl von etwa einer Million geht man von einem Bedarf von jährlich etwa 250 000 t aus. Da die umliegende Provinz Latium, also das  

1.2 — Nachhaltigkeit

Dampfmaschine Baumwolle

römische Kernland, nur in geringem Umfang die Produkte für den wachsenden Lebensstandard Roms liefern konnte, waren der Seehafen Ostia und der nur im Winterhalbjahr gut schiffbare Tiber als Zubringer starkem Wirtschaftsverkehr ausgesetzt. Roms Wirtschafts- und Sozialsystem basierte auf permanentem Wachstum sowie der wachsenden Ausbeutung der Provinzen. Die Eroberung neuen Landes für die Veteranen und für noch mehr Steuereinnahmen aus noch mehr Provinzen erforderten ein noch größeres Heer und Bauinvestitionen zur Verteidigung der langen, sich mit jeder Eroberung vergrößernden Grenzen. Alternativ hätten die Steuern erhöht und die Ausbeutung der Provinzen verstärkt werden müssen. Beide Wege entbehren langfristig jeder Nachhaltigkeit. Die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städte Europas vor der industriellen Revolution waren, von wenigen Ausnahmen wie Venedig und Konstantinopel abgesehen, wesentlich kleiner als die Hauptstädte der alten Kulturen und der Antike. In Bezug auf die Nahrungsmittelversorgung bauten sie in hohem Maß auf der Tragfähigkeit des engeren oder weiteren Umlands auf. Zwar gab es auch Fernhandel mit Lebensmitteln, vor allem Salz, gesalzener Fisch, Getreide, Wein etc., doch blieben die Mengen weit hinter denen der Antike zurück. Im Hochmittelalter und in der frühen Neuzeit gab es durchaus Gegenden, in denen es durch Bergbau (Holzkohleherstellung zur Verhüttung) zu Abholzungen kam. Insgesamt war das Ausmaß der Eingriffe jedoch viel geringer als in späteren Jahrhunderten. Der Verbrauch an Nahrungsmitteln und Rohstoffen blieb weitgehend an die Tragfähigkeit der Region gebunden. Produktion und Konsum der täglichen Lebensmittel erfolgten im Handel zwischen Stadt und Umland und war damit an regional und jahreszeitlich verfügbare Produkte und Nahrungsmitteln gebunden. Das schnelle Stadtwachstum im 19. Jahrhundert, zunächst in Europa und später in den USA – London erreichte die Grenze von einer Million Einwohner um 1800 (Abb. 4), Paris um 1840, New York um 1855 und Berlin in der Gründerzeit nach 1871 –, war eines der Resultate der industriellen Revolution und der Einführung der kapitalistischen Marktwirtschaft. Es erfolgte nun aber unter völlig anderen ökonomischen und sozialen Bedingungen. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gingen die physiokratischen Volkswirtschaftstheorien auf dem europäischen Kontinent davon aus, dass das Wachstum einer Volkswirtschaft letztlich von der Produktivität der Landwirtschaft abhänge. Der Schotte Adam Smith jedoch veröffentlichte

P

R

D

Eisenbahn Stahl

Elektroingenieurwesen Chemie

Petrochemie Autos

Informationstechnologie

E

1. Zyklus 1800

17

2. Zyklus 1850

P Prosperity (Aufschwung) R Recession (Abschwung)

3. Zyklus 1900

4. Zyklus 1950

D Depression (Depression) E Improvement (Verbesserung)

Abb. 5

1776 eine dynamische Theorie gesamtwirtschaftlicher Entwicklung, nach der Arbeitsteilung und Spezialisierung zunehmende Produktivität in den einzelnen Produktionssektoren ermöglichten; in Verbindung mit der einsetzenden Mechanisierung schien ein schier grenzenloses Wachstum der Volkswirtschaft möglich. Der Einsatz neuer Transportmittel, zunächst der Eisenbahn und der Dampfschifffahrt, machten die gewerblich-industrielle Entwicklung dann unabhängig von lokal verfügbaren Rohstoffen und der Agrarproduktion des Hinterlandes einer Stadt. Rohstoffe und Lebensmittel aus Kolonien und vom sich im 19. Jahrhundert bereits ausbildenden Weltmarkt ermöglichten den Ankauf scheinbar beliebig vieler Produkte, sodass jegliche traditionelle Vorstellung von der »natürlichen Tragfähigkeit« einer Region – also davon, wie viele Menschen in einer Region von dieser Region selbst ernährt werden können – verloren ging. Wachstum schien unendlich möglich zu sein und natürliche Grenzen nicht mehr zu existieren. Die über den Markt vermittelte kapitalistische Ökonomie löste sich in unendlich viele einzelne Kaufsund Verkaufsakte auf, von denen jeder einzelne scheinbar gerecht, da von der »unsichtbaren Hand des Marktes« (Adam Smith) geregelt war. Für soziales Elend, Umwelt- und Naturzerstörung, zunächst in den Industrieländern selbst und dann in zunehmendem Maße in den involvierten Kolonien und späteren Entwicklungsländern, war in dieser Theorie niemand verantwortlich – es sei denn »der Markt«, der alles regelte. Es kam zu bis dahin unvorstellbaren Umwandlungen ganzer Regionen zu Industrielandschaften. Der im 19. Jahrhundert entstehende und im 20. Jahrhundert ständig weiter ausgebaute Weltmarkt ließ nicht mehr erkennen, wie die Lebensund Arbeitsbedingungen sowie die Naturzerstörung an dem Ort, an dem Rohstoffe abgebaut wurden, mit dem Ort des Konsums zusammenhängen.

Abb. 4 Stadtwachstum von London 1840 –1929 Abb. 5 Die nach dem russischen Ökonomen Nikolai D. Kondratjew (1892–1938) benannten KondratjewZyklen sehen die neuere Wirtschaftsgeschichte als Abfolge von 40 bis 60 Jahre langen Konjunkturzyklen. Auf einen Aufschwung infolge einer Basisinnovation folgte jedes Mal eine Krise, bevor eine neue technische Erfindung einen neuen Boom auslöste.

5. Zyklus 1990

18

Kapitel 1 — Einführung

Abb. 6 Cover des Buchs »Silent Spring« von Rachel Carson Abb. 7 Cover des Buchs »The Limits to Growth« Abb. 8 Vision eines autonomen landwirtschaftlichen Betriebs in Form einer Pyramide aus der Publikation »Ökologisches Bauen« Abb. 9 Tankstellenbesitzer in Perkasie, Pennsylvania (USA) während der Ölkrise 1973

18 von Carlowitz/Rohr 1732 19 Friedman 1998, S. 55 20 Pufé 2012, S. 34

Abb. 6

Abb. 7

Durch die Globalisierung im sogenannten Informationszeitalter wurde schließlich die vollständige internationale Arbeitsteilung eingeführt, bei der nicht mehr nur Fertigprodukte und Rohstoffe ausgetauscht, sondern kleinste Teile immer komplexerer Maschinen und Geräte aus unterschiedlichsten Teilen der Welt an einem anderen Ort montiert werden – nach Plänen und Kalkulationen, die wiederum woanders erstellt worden sind. Dabei wurde die Rohstoffgewinnung und die Produktion mit den entsprechenden Belastungen wie Landschaftszerstörung und Emissionen in wachsendem Umfang aus den hoch entwickelten Ländern Europas und Nordamerikas in Schwellen- und Entwicklungsländer verlagert. Schlecht bezahlte Arbeiter stellen unter oft sehr schlechten Lebensund Arbeitsbedingungen Produkte her, mit denen die nordamerikanischen und europäischen Firmen, die die Produkte entwickelt haben, mit großem Gewinn handeln. Der Ertrag dieser globalen Arbeitsteilung kommt also zu größeren Teilen nicht den Produktionsorten zugute, vielmehr tragen sie vor allem die negativen Aspekte dieser Art des Wirtschaftens. Diese Form der ungleichen Arbeitsteilung hat im Weltmaßstab gesehen die Umweltprobleme verschärft, während es gleichzeitig gelang, die Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie die Umweltstandards in den hoch entwickelten Zentren des Westens zu verbessern. Möglich wurde dies durch die Informationstechnologie, die internationalen Netze, die es erlauben, die extrem ausdifferenzierte Arbeitsteilung und das schnelle Versenden von Daten und Informationen im Weltmaßstab zu organisieren. Gerade diese Netze bieten aber auch die Möglichkeit der schnellen, detaillierten und kritischen Aufklärung von Zusammenhängen. Über die Medien erfahren wir heute sehr schnell von den Arbeitsbedingungen in Fabriken in Asien. Wir können genau sehen, wo unsere billigen Kleidungsstücke herkommen und warum sie so günstig sind, wohlwissend, dass die dortigen Arbeiterinnen unter unmenschlichen Bedingungen tätig sind und die entsprechenden Firmen trotz der niedrigen Preis noch »gute« Gewinne machen. Wir erfahren auch, mit welchem Aufwand (z. B. Treibstoffverbrauch) und welchen negativen Auswirkungen auf die dortigen Ökosysteme landwirtschaftliche Produkte aus armen Ländern zu uns geflogen werden, damit zu jeder Jahreszeit immer jede Art von Fleisch, Fisch, Obst und Gemüse zu niedrigen Preisen zur Verfügung steht. Auf diese Weise hat sich eine globale Wirtschaftsweise durchgesetzt, die gerade das Gegenteil von Nachhaltigkeit darstellt. HB

Das Erwachen des Nachhaltigkeitsbewusstseins Die Ursprünge des Begriffs Nachhaltigkeit reichen bis ins 18. Jahrhundert zurück, als der sächsische Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz (1645 – 1714) »eine beständige und nachhaltende Nutzung des Waldes«18 postulierte. Der Kern seiner Überlegungen war, dass dem Wald nicht mehr Holz entnommen werden darf, als nachwachsen kann. Heutzutage würde diesem Prinzip jeder zustimmen, jedoch war diese Vorgabe in Zeiten, in denen der Bedarf an Holz aufgrund der Verwendung im Schiff- und Hausbau, bei der Verhüttung und allen metallurgischen Arbeiten sowie für das Kochen und Heizen noch unermesslich groß schien, durchaus eine weitsichtige Entscheidung. Im Zuge der Industrialisierung und des weltweiten Ölhandels häuften sich auch die damit verbundenen Naturkatastrophen. Beispiele hierfür sind der unter dem Namen Lakeview Gusher bekannte erste Ölunfall in den USA, aber auch die seit 1960 bis heute andauernde Ölpest im Nigerdelta, die Quecksilberkatastrophe Mitte der 1950er-Jahre im japanischen Minamata oder auch die stetig fortschreitende Austrocknung, Versalzung und Verschmutzung des Aralsees, dem ehemals viertgrößten Binnensee der Erde. Seit den 1960er-Jahren formierte sich in der Gesellschaft verstärkt eine Umweltbewegung, die mit dem 1962 erschienen Sachbuch »Silent Spring« (Abb. 6, deutscher Titel »Der stumme Frühling«) von der amerikanischen Biologin Rachel Carson eine Stimme gefunden hatte. In ihrem Buch beschreibt Carson, welche Auswirkungen der starke Pestizideinsatz in der Landwirtschaft auf die Umwelt und damit langfristig auch auf den Menschen haben kann. Die Publikation gilt als eine der einflussreichsten des 20. Jahrhunderts,19 sie löste in den USA eine heftige politische Debatte aus und führte letztendlich zum späteren Verbot des Insektizids DDT.20 Zehn Jahre später, 1972, setzte ein Forschungsteam aus den USA rund um Dennis L. Meadows mit dem Buch »The Limits to Growth« (Abb. 7, deutscher Titel »Die Grenzen des Wachstums«) einen weiteren wichtigen Meilenstein in der Nachhaltigkeitsdiskussion. Die Erkenntnisse bauen auf der von Jay W. Forrester, einem amerikanischen Pionier der Computertechnik, entwickelten

1.2 — Nachhaltigkeit

System-Dynamics-Methode auf, die mithilfe von Simulationsverfahren die Interaktionen zwischen Objekten in komplexen dynamischen Systemen untersucht.21 Mit dieser Methodik konnten die Forscher erstmalig den Zusammenhang und die Wechselwirkungen zwischen Bevölkerungswachstum, Industrialisierung, Umweltverschmutzung, Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen simulieren. Das Ergebnis stellte den damaligen Glauben an das ständige Wachstum und den Lebensstil der Industrienationen infrage: Sollte die mit dem Wachstum einhergehende Umweltverschmutzung und die Ausbeutung der natürlichen Rohstoffe unverändert anhalten, seien die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten 100 Jahre erreicht.22 1973 zeigte sich bei der ersten Ölkrise, ausgelöst durch ein von den OPEC-Ländern verhängtes Ölembargo, wie abhängig die Industrienationen von fossilen Rohstoffen sind und welche Folgen die Ressourcenknappheit auf die Volkswirtschaften habe kann (Abb. 9). In Deutschland markierte die erste Ölkrise das Ende des durchgehend ho hen Wirtschaftswachstums vergangener Jahre und führte zu Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit und steigenden Sozialausgaben. Befördert durch die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung beschäftigten sich in den 1970er- und 1980er-Jahren verstärkt auch Architekten und Stadtplaner mit dem Bauen nach ökologischen Prinzipien. Eines der wichtigsten Bücher, das Generationen von Planern nachhaltig beeinflusst hat, ist dabei der Band »Ökologisches Bauen« .23 Angefangen vom klimagerechten Bauen über ökologische Entwurfsprinzipien und Technologien bis hin zu Energie- und Stoffkreisläufen spricht das Buch viele Aspekte an, die noch heute eine hohe Relevanz besitzen. Zur damaligen Zeit waren die in dem Buch skizzierten Visionen reine Fiktion (Abb. 8), heute lässt sich jedoch feststellen, dass viele der futuristisch anmutenden Gedanken Realität geworden sind. Als Beispiel hierfür können die vielen ländlichen Gegenden genannt werden, die sich als Ziel gesetzt haben, sich zu 100 % aus regenerativen Energien zu versorgen,24 oder auch das an der Universität Stuttgart weiterentwickelte Verfahren der Baubotanik, das es ermöglicht, mithilfe von Pflanzen »lebendige« Tragkonstruktionen zu realisieren.25 1986 kam es zu einem der schrecklichsten Unfälle in der jüngeren Geschichte – dem Kernkraftunglück von Tschernobyl in der Nähe der ukrainischen Stadt Prypjat, das weitreichende Folgen für die Umwelt und die Gesundheit der Men-

schen hatte bzw. bis heute hat. Der in den 1970erJahren entstandenen Anti-Atomkraft-Bewegung in Deutschland verschaffte dieses Ereignis einen erneuten Aufschwung. Aufgrund der nicht mehr endenden Diskussion, welche gesellschaftliche Entwicklung unter der Berücksichtigung ökologischer Probleme zukünftig anzustreben sei, gründeten die Vereinten Nationen 1983 die World Commission on Environment and Development (WCED) unter dem Vorsitz der ehemaligen norwegischen Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland. Die Kommission musste die schwierige Aufgabe bewältigen, Handlungsempfehlungen für eine nachhaltige Entwicklung zu erarbeiten. Als Ergebnis wurde 1987 der auch Brundtland-Bericht genannte »Our Common Future Report« veröffentlicht, der Nachhaltigkeit wie folgt definiert: »Dauerhafte Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.«26 In den darauffolgenden Jahren setzte sich diese Definition einer nachhaltigen Entwicklung mehr und mehr durch und ist zum globalen Leitbild geworden. In Deutschland wurde die Zielsetzung einer nachhaltigen Entwicklung explizit in der Gesetzgebung verankert. So heißt es in § 1 Abs. 5 des Baugesetzbuchs (BauGB): »Die Bauleitpläne sollen eine nachhaltige städtebauliche Entwicklung, die die sozialen, wirtschaftlichen und umweltschützenden Anforderungen auch in Verantwortung gegenüber künftigen Generationen miteinander in Einklang bringt, und eine dem Wohl der Allgemeinheit dienende sozialgerechte Bodennutzung gewährleisten. Sie sollen dazu beitragen, eine menschenwürdige Umwelt zu sichern, die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen und zu entwickeln sowie den Klimaschutz und die Klimaanpassung, insbesondere auch in der Stadtentwicklung, zu fördern, sowie die städtebauliche Gestalt und das Orts- und Landschaftsbild baukulturell zu erhalten und zu entwickeln.«27 Der Brundtland-Bericht stellte die Diskussionsgrundlage für die Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung (UNCED) dar, die 1992 in Rio de Janeiro stattfand und als Meilenstein in der weltweiten Nachhaltigkeitsdiskussion gilt. Um die im Brundtland-Bericht formulierten Ziele einer nachhaltigen Entwicklung umzusetzen, wurden als Ergebnis der Konferenz vielfältige Vereinbarungen getroffen. Die wichtigsten darunter waren die Deklaration von Rio über Umwelt und Entwicklung, die Klimaschutz-Konvention, die Walddeklaration, die

19

21 Forrester 1961; Forrester 1969; Forrester 1971 22 Meadows et al. 1972, S. 17 23 Krusche et al. 1982 24 www.null-emissionsgemeinden.de 25 de Bruyn et al. 2009 26 Hauff 1987, S. 51 27 Baugesetzbuch 2011

Abb. 8

Abb. 9

28 Pufé 2012, S. 48 29 Stern 2007 1950 ab 1960 1961 1962

Quecksilbervergiftung Minamata (J) / Clean Air Act Ölpest Nigerdelta (1,5 Mio. t Öl) Austrocknung, Versalzung, Pestizide im Aralsee / Gründung OECD Buch »Silent Spring« (R. Carson)

Abb. 10 historische Entwicklung und Rahmenbedingungen der Nachhaltigkeitsdiskussion 1976 1977 1978 1979 1980

Biodiversitäts-Konvention, die Konvention zur Bekämpfung der Wüstenbildung und die Agenda 21. Letztgenannte beinhaltet globale Maßnahmen auf der Ebene von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und wurde als Aktionsplan für das 21. Jahrhundert verstanden. Darauf aufbauend initiierten viele Gemeinden und Regionen der Welt lokale Agenda-21-Prozesse nach dem Motto »Global denken – lokal handeln«. In Deutschland besteht derzeit in rund 2600 Kommunen ein Beschluss zur Erarbeitung einer lokalen Agenda 21.28 Eines der Hauptziele der dritten UN-Klimakonferenz 1997 in Kyoto war es, konkrete, messbare Klimaschutzziele zu vereinbaren. Als Ergebnis wurde das sogenannte Kyoto-Protokoll veröffentlicht, in dem erstmalig verbindliche Ziele für den Klimaschutz festgesetzt werden. So sollten z. B. die Treibhausgase der Industrieländer bis 2012 um 5,2 % gegenüber dem Jahr 1990 reduziert werden. Für Schwellen- und Entwicklungsländer

Abb. 10

wurden keine Reduktionsziele festgelegt. Aktuell haben 191 Staaten sowie die Europäische Union das Kyoto-Protokoll ratifiziert. Die USA als einer der Hauptemittenten klimaschädlicher Gase haben sich dem Protokoll nie angeschlossen. Auf den darauffolgenden 15 Klimakonferenzen, zuletzt in Kopenhagen (2009), Cancún (2010), Durban (2011) und Doha (2012), konnten keine neuen globalen Reduktionsziele vereinbart werden – trotz zahlreicher Veröffentlichungen zu dem Thema wie z.B. die Berichte von Nicholas Stern über die wirtschaftlichen Folgen des Klimawandels29 und der sehr erfolgreiche Dokumentarfilm »An Inconvenient Truth« (2006) des ehemaligen US-Präsidentschaftskandidaten Al Gore sowie Ereignissen wie die atomare Katastrophe von Fukushima im Jahr 2011. In Doha kam es hingegen sogar zu einer Aufweichung der in Kyoto vereinbarten Reduktionsziele, indem beschlossen wurde, diese bis 2020 zu verlängern (Kyoto II). SA

Prognose: erneuerbare Energien decken 47% des Strombedarfs in Deutschland 2020

GreenStar C

TÜV / THS CASBEE UD OnePlanet C BREEAM C Estidama LEED ND SMEO Q DGNB NSQ

>200 kWh/m2a

EnEV 2014 2014

1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012

Weltcharta für die Natur/Buch »Ökologisch Bauen« 1982

Dioxinunfall Seveso (I)/UN-Konferenz HABITAT, Vancouver 1. Wärmeschutzverordnung (WSchV; D) Ölpest Amoco Cadiz (F) Kernschmelze Three Mile Island (USA) Gründung der Partei »Die Grünen« (D)

1980

1970

1960

DGNB

2010

Green Globe 2000 CASBEE Green Star

LEED

HQE

BREEAM 1990

>350 kWh/m2a

2. WSchV (D) /Chemieunfall Bhopal (IND) Wiener Abkommen zum Schutz der Ozonschicht Nuklearkatastrophe Tschernobyl (UA) Giftmüllskandal Love Canal (USA )/ Brundtland-Bericht Brand Bohrinsel Piper Alpha (Nordsee)/Gründung IPCC Ölpest Exxon Valdez (Alaska) Brand Ölquellen Kuwait Verpackungsverordnung (Grüner Punkt) Umweltgipfel in Rio de Janeiro/Agenda 21 Menschenrechtskonferenz in Wien Bericht Enquete-Kommission/Grundgesetz Artikel 20a (D)/Aalborg-Charta 1. Klimakonferenz, Berlin (Berliner Mandat)/3. WSchV 2. Klimakonferenz, Genf/UN-Habitat II, Istanbul 3. Klimakonferenz, Kyoto (Kyoto-Protokoll) 4. Klimakonferenz, Buenos Aires (Arbeitsplan) 5. Klimakonferenz, Den Haag /nukleare Kettenreaktion, Tokaimura (J) Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG)/ UN-Milleniumgipfel, New York 6. + 7. Klimakonferenz Bonn + Marrakesch (Verhandlungen) 8. Klimakonferenz, Neu Delhi/Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung, Johannesburg 9. Klimakonferenz, Mailand 10. Klimakonferenz Buenos Aires (Jahrestag) / EnEV 2004 UN-Klimakonferenz, Montreal/Hurricane Katrina UN-Klimakonferenz Nairobi / Film: »An Inconvenient Truth«100/ Stern-Bericht UN-Klimakonferenz, Bali / EnEV 2007/ Leipzig-Charta UN-Klimakonferenz Posen / Gründung Masdar-City, Abu Dhabi EnEV 2009 / Energiepass/UN-Klimakonferenz, Kopenhagen Ölpest Golf von Mexiko (1 Mio. t Öl) / UN-Klimakonferenz, Cancún Atomunfall Fukushima/Atomausstieg Deutschland / UN-Klimakonferenz, Durban UN-Klimakonferenz, Doha

globale Temperaturentwicklung (Quelle: Weltbank 2010) weltweite Rohölförderung (Quelle: King 1971, S. 39) Anzahl Naturkatastrophen pro Jahr (Quelle: Munich RE) Heizwärmebedarf UNO-Umweltkonferenz Stockholm/Studie »The Limits of Growth« 1972 Ölkrise, Washingtoner Artenschutzübereinkommen 1973

Anti-Atomkraft-Bewegung ab 1970

europäische Wassercharta 1968

18. Jhd. ab 1850 1865 1910 ab 1911 1929 1946 1948

erstmalige Verwendung des Begriffs Nachhaltigkeit Beginn des weltweiten Ölhandels erste Ölpipeline in den USA Ölunfall Lakeview Gusher (USA; 1,2 Mio. t Öl) Beginn Fließbandproduktion / individuelle Mobilität Weltwirtschaftskrise internationale Konvention zur Regelung des Walfangs Gründung der Welt-Naturschutzunion

20 Kapitel 1 — Einführung

Peak Oil

>300 kWh/m2a

>150 kWh/m2a >120 kWh/m2a >100 kWh/m2a >75 kWh/m2a >40 kWh/m2a

1.3 — Das Quartier

21

1 .3

Das Quartier He l m ut Bott

U

nabhängig von der historischen Herkunft des Begriffs wird unter Quartier heute ein räumlicher Teil eines städtischen Gefüges verstanden, der in den Gesamtzusammenhang der Stadt eingebunden ist, sich aber aufgrund seiner Strukturmerkmale sowohl von außen betrachtet wie auch von den Bewohnern und Benutzern empfunden von der Umgebung unterscheidet.1 Der Begriff impliziert bereits, dass es um mehr geht als nur eine bestimmte Anzahl von beliebig nebeneinander aufgereihten und über ein gemeinsames Straßennetz erschlossene Wohneinheiten. Vielmehr umfasst ein Quartier neben einer größeren Zahl von Wohneinheiten auch öffentliche und private Versorgungseinrichtungen sowie Arbeitsplätze und bietet damit Nutzungsmischung und soziale Vielfalt. In Anlehnung an einschlägige Definitionen und Modelle der Quartiersforschung2 soll hier das Quartier als die Überlagerung von drei Ebenen verstanden werden: • Städtebaulich-physisch: Gebäude, öffentlicher Raum (Straßen, Plätze, Parks und Grünanlagen) und private Freiräume erzeugen eine jeweils spezifische Baustruktur und charakteristische Stadträume. • Sozio-ökonomisch: Wohnungen, Versorgungseinrichtungen und sonstige Arbeitsplätze werden von den Bewohnern und Einpendlern in wechselnden Rollen – mal als Anwohner, mal als Beschäftigte – genutzt. Sie bewegen sich dabei in den unterschiedlichsten Aktionsräumen, die sich jedoch zumindest partiell überlagern – Aufenthalt in Teilbereichen (Wohnung, Spielplatz, Straßencafé, Arbeitsplatz, Wohnumfeld), Wege von der Wohnung zur Arbeit, zum Einkaufen, zum Kindergarten, zur Schule, zum Restaurant, zum Verein, zum Spielplatz, zur Kirche, zum Bolzplatz etc. und

zurück. Bewohner und Nutzer des Quartiers haben regelmäßig Kontakte untereinander, die vom Blickkontakt, Grüßen und informellem Gespräch bis zu intensiverer Kommunikation und gemeinschaftlichem Engagement in Initiativen, Vereinen oder etwa in der Selbstverwaltung (z. B. Elternbeirat, Trägerverein von Institutionen, Kirchengemeinde, Parteiuntergliederungen) reichen können. • Symbolisch: In der Überlagerung dieser Aktionsräume entstehen räumliche Schnittflächen – der US-amerikanische Stadtplaner Kevin A. Lynch bezeichnet diese als »Brennpunkte«3 –, die den Bewohnern und Nutzern des Quartiers vertraut sind (z. B. Marktplatz, Umsteigepunkte des ÖPNV, Einkaufszentren). Innerhalb des Quartiers gibt es sichtbare und unsichtbare Elemente (nach Lynch »Merkzeichen«) und/oder regelmäßige Ereignisse und Rituale, die als Symbole für das Quartier und seine Geschichte stehen, mit dem Quartier verbunden sind sowie in der kollektiven Erinnerung und der Erinnerung der meisten Quartiersbewohner existieren, die aber auch von Außenstehenden mit dem Quartier assoziiert werden (z. B. der Name, bestimmte markante Bauten, sehr spezielle Bautypologien, ein ausgeprägtes Landschaftselement, Stadtteilfeste, Umzüge, Vereine mit dem Namen des Quartiers). Die baulich-räumliche Struktur ist die Basis des Quartiers. Dabei handelt es sich häufig um historische Einheiten, die als eingemeindete Dörfer oder Vorstadtsiedlungen oder als Stadterweiterungsabschnitte ihren historischen Charakter bewahren konnten. Es können aber auch Gebiete sein, wie etwa die Stadterweiterungen der Gründerzeit, die innerhalb kurzer Zeit mit ähnlichen Bautypologien zusammenhängend bebaut wurden, oder Stadtteile, die als ganzheitliche Erwei-

1 Schnur 2008 2 Vogelpohl 2008; Schnur 2008 3 Lynch 2001

22

Kapitel 1 — Einführung

Häufigkeit

Weg Grenzlinie Brennpunkt Bereich Merkzeichen

über 75 % 50 – 75 % 25 – 50 % 12 – 25 %

Abb. 1

Abb. 1 Mental Map von Boston nach Kevin Lynch Abb. 2 Aufteilung in Teilgebiete mit ganz unterschiedlichen Charakteristika, HafenCity Hamburg (D) Abb. 3 Luftbild der Altstadt von Lübeck (D)

terungen nach einem Gesamtkonzept errichtet sind. In diesen Fällen weist das Quartier interne Ähnlichkeiten auf. Diese unterscheiden sich möglicherweise von den umliegenden Gebieten (nach Lynch »Bereiche«), was beim Betreten bzw. bei der Einfahrt erlebbar ist. Es wäre also möglich, eine Grenzlinie zu ziehen, die auch physisch sehr stark ausgeprägt sein kann (z. B. Bahndamm, Fluss oder Kanal, extrem stark befahrene, breite Straße). Quartiere entstehen aber auch ohne klare Grenzen in einem kontinuierlichen Straßenraster wie etwa in vielen amerikanischen Städten, wo sie sich an Versorgungszentren oder an Straßen mit einer hohen Dichte von Versorgungseinrichtungen orientieren. In diesen Fällen sind Quartiersgrenzen manchmal wenig ausgeprägt und von einem Quartier zum anderen findet ein fließender Übergang statt (Abb. 1). Der Stellenwert des Quartiers als Raum der alltäglichen Lebenswelt hat durch die Regionalisierung der Stadt und die wachsende berufliche Mobilität sowie die Globalisierung der Ökonomie einerseits an Bedeutung verloren. Andererseits haben selbst global operierende Firmen stets einen lokalen Bezug, mindestens durch die Mitarbeiter der Verwaltung, Forschung und Entwicklung, häufig gilt das ebenfalls für die Produktion. Globale Aktivitäten sind immer auch lokal verortet, selbst international orientierte Fachleute haben in der Regel ein »Basislager« an einem konkreten Ort und nicht im abstrakten Raum.

Quartier als Handlungsebene Im Baugesetzbuch (BauGB) wird der Begriff Quartier bei der Festlegung von Sanierungs- oder

Entwicklungsgebieten, Maßnahmen des Stadtumbaus oder der sozialen Stadt nicht benutzt. Hier ist lediglich gefordert, dass die Gebietsgrenzen für Sanierungen oder den Stadtumbau so festzulegen sind, dass sich die Maßnahmen »zweckmäßig durchführen« lassen. Das Städtebauförderungsprogramm »Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – Soziale Stadt«, das der Bund und die Länder 1999 initiiert und 2012 weiterentwickelt haben, verbindet beispielsweise die unterschiedlichsten Maßnahmen der Sozialpolitik mit der städtebaulichen Entwicklung und bezieht sich auf räumliche Teilgebiete der Stadt. Die Interventionsebene für den nachhaltigen Stadtumbau bilden Gebiete, bei denen es sich schon aus verwaltungstechnischen Gründen so wie aufgrund der Konzentration von Investitionen und der Bündelung von sozial-, bildungsund integrationspolitischen Maßnahmen um räumlich definierte Teilbereiche handelt. Bei Stadtumbaumaßnahmen werden im BauGB neben sozialen und ökonomischen Zielsetzungen nachhaltige städtebauliche Strukturen und Klimaschutz gefordert. In § 171a Abs. 3 sind die Ziele von Stadtumbaumaßnahmen aufgelistet: »Stadtumbaumaßnahmen dienen dem Wohl der Allgemeinheit. Sie sollen insbesondere dazu beitragen, dass 1. die Siedlungsstruktur den Erfordernissen der Entwicklung von Bevölkerung und Wirtschaft sowie den allgemeinen Anforderungen an den Klimaschutz und die Klimaanpassung angepasst wird, 2. die Wohn- und Arbeitsverhältnisse sowie die Umwelt verbessert werden, 3. innerstädtische Bereiche gestärkt werden, 4. nicht mehr bedarfsgerechte bauliche Anlagen einer neuen Nutzung zugeführt werden, 5. einer anderen Nutzung nicht zuführbare bauliche Anlagen zurückgebaut werden,

1.3 — Das Quartier

23

Abb. 2

6. brachliegende oder freigelegte Flächen einer nachhaltigen, insbesondere dem Klimaschutz und der Klimaanpassung dienenden oder einer mit diesen verträglichen Zwischennutzung zugeführt werden, 7. innerstädtische Altbaubestände nachhaltig erhalten werden.« Quartiere als sozial-räumliche Einheiten sind eine geeignete Interventionsebene für solchermaßen integrierte Planungs- und Maßnahmenkonzepte des nachhaltigen Stadtumbau.4 In § 166 Abs. 2 heißt es in Bezug auf Entwicklungsmaßnahmen allerdings weiterhin: »Die Gemeinde hat die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass ein funktionsfähiger Bereich […] entsteht, der nach seinem wirtschaftlichen Gefüge und der Zusammensetzung seiner Bevölkerung den Zielen und Zwecken der städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme entspricht und in dem eine ordnungsgemäße und zweckentsprechende Versorgung der Bevölkerung mit Gütern und Dienstleistungen sichergestellt ist.« Diese funktionsfähigen Stadtoder Ortsteile werden im Kontext dieser Publikation als Quartiere bezeichnet. Gerade bei der Entwicklung neuer Stadtteile sind einzelne Entwicklungsabschnitte mit unterschiedlichen Charakteristiken gebräuchlich. So weisen größere neue Stadtteile wie München-Riem oder die HafenCity Hamburg in ihrem Entwurfskonzept (München) oder ihrer Realisierungsstrategie (Hamburg) eine Gliederung in Teilbereiche auf. Die HafenCity auf 157 ha mit geplanten 6000 Wohneinheiten sowie mehr als 45 000 Arbeitsplätzen besteht aus zehn Teilbereichen, hier Quartiere genannt, die jedoch sehr unterschiedliche Nutzungsmischungen und Zuschnitte aufweisen (Abb. 2). Inwieweit diese Teilbereiche schließlich einen Quartierscharakter in der komplexen, oben beschriebenen Bedeutung entfalten können, wird die zukünftige Entwicklung zeigen.

Historische Entwicklung Historisch betrachtet reichen die Vorstellung von der Vierteilung der Stadt und die daraus entstehenden ursprünglich vier Quartiere weit zurück. Das Achsenkreuz mit den vier Hauptrichtungen ist ein archaisches Symbol für die Stadt insgesamt, es stellt in vielen Hochkulturen die Grundlage der städtischen Ordnung dar und wird mit der Einbindung des Lebensraums der Stadtbewohner in die »kosmische Ordnung« verknüpft.5 Der Gliederung der Stadt in räumliche-soziale und verwaltungstechnische Unterabteilungen, z. B. in Phylen (Stämme), widmet schon Platon in seinem Werk »Politéia« (deutscher Titel »Der Staat«, um 370 v. Chr.) längere Abhandlungen, wobei er die Zahlen und Größenordnungen aus der Religion und aus arithmetischen Proportionsregeln ableitet. Als ideale Größe schlägt er die Zahl von 5040 Besitzeinheiten für einen Stadtstaat vor, die in zwölf Phylen gegliedert je 420 Großfamilien ergäben. Die römischen Gründungsstädte in den Kolonien waren unterschiedlich groß und in ihrer äußeren Form keineswegs alle identisch, folglich galt dies ebenfalls für ihre durch die Nord-Süd- und OstWest-Achsen – Cardo maximus und Decumanus maximus – entstehenden vier Quartiere. Auch in mittelalterlichen europäischen Städten war die Unterteilung in kleinere Einheiten üblich, z. B. in Pfarrbezirke, in Teile unterschiedlicher Funktionen (z. B. Gerberviertel), in historische Entwicklungsabschnitte (z. B. Köln oder Hildesheim) oder eine systematische Vierteilung mit einem zentralen Schnittpunkt (z. B. Lübeck, Abb. 3). Siena hatte eine Dreiteilung in »terzi«, weiter unterteilt in je fünf bis sechs »contrade«. Mit dem Stadtwachstum wurde die Viererteilung oft verlassen. So hatte die Großstadt Venedig

4 Franke 2011 5 Rykwert 1988

Abb. 3

24

Kapitel 1 — Einführung

Abb. 4

Abb. 4 Plan von Paris mit 20 Arrondissements mit eigenen Verwaltungseinheiten, 1864, Baron Haussmann Abb. 5 Konzept der Garden City, 1902, Ebenezer Howard Abb. 6 Schema der gegliederten und aufgelockerten Stadt, Roland Rainer

6 Simmel 1903

bereits im Mittelalter die Sechserteilung (»sestiere«) eingeführt. Im 19. Jahrhundert sprengten die raschen Wachstums- und Urbanisierungsschübe die Maßstäblichkeit der europäischen Stadt und es wurden neue, nach verwaltungs- und versorgungstechnischen Prinzipien entstandene Gliederungen vorgenommen. Paris beispielsweise wurde mit dem Umbau und der Erweiterung unter Baron Haussmann ab 1860 in 20 Arrondissements aufgeteilt, die jeweils ein eigenes Rathaus und Selbstverwaltungsaufgaben erhielten (Abb. 4). Diese neuen Verwaltungseinheiten setzten sich aus mehreren bestehenden oder neu geplanten Quartieren zusammen. Eine ähnliche Gliederung erfolgte in allen Großstädten, zu nennen sind hier z. B. die Wiener Bezirke oder später, 1920, die Gliederung Groß-Berlins in Bezirke mit Selbstverwaltungsaufgaben, die sich aus vielfältigen und den unterschiedlichsten Stadtteilen oder Quartieren (Kieze) zusammensetzten. In der Stadtkonzeption der klassischen Moderne ging die Stadtplanung vom Individuum und von der kleinsten Zelle, der Kleinfamilie aus. Die Stadt wurde in ihre Teilfunktionen zerlegt: • funktional optimierte (gut besonnt und durchlüftet) und funktional bestimmte Wohneinheiten in modernen Zeilen- oder Solitärbauten, eingebettet in durchgrünte Wohngebiete • optimierte Industriegebiete, Gewerbe und Verwaltungsareale • Versorgungszentren mit Dienstleistungen und öffentlichen Einrichtungen auf verschiedenen Hierarchieebenen • Flächen für Freizeit, Erholung und Bildung Diese Funktionen wurden durch ein optimiertes, nach Verkehrsarten getrenntes Verkehrssystem verbunden, wobei der motorisierte Individualverkehr Priorität hatte. Zwischen den im Raum verteilten Funktionen spannte sich die Lebenswelt

jedes Bewohners in unterschiedlicher Weise auf. Zwar waren auch in den Konzepten der Moderne räumliche Untergliederungen vorgesehen, deren soziale Bedeutung wurde jedoch höchst unterschiedlich eingeschätzt. Bereits im 19. Jahrhundert gab es, weitverbreitet durch die von England ausgehende Gartenstadtbewegung, den Ansatz, die Großstadt in kleinere Einheiten aufzulösen und als Basis der Siedlungsgliederung Nachbarschaften zu planen (Abb. 5). In diesen sollte die Anonymität der Großstadt aufgehoben und soziale Kontrolle sowie gegenseitige Hilfe ermöglicht werden – als Verbindung städtischen Komforts mit der sozialen Integration in dörflichen Strukturen. Diese Nachbarschaftskonzepte finden sich in den unterschiedlichsten Formen, teilweise überlagert mit politischen Zielsetzungen und Epochen, bis hinein die Planung mancher Siedlungen der Nachkriegszeit. Die Stadtsoziologie sah diese Entwicklung damals allerdings durchaus kritisch, hatte doch ihr berühmter Begründer in Deutschland, Georg Simmel, gerade das anonyme Verhalten, das Wegsehen als die Voraussetzung des Überlebens in der Großstadt betrachtet: »Die geistige Haltung der Großstädter zu einander wird man in formaler Hinsicht als Reserviertheit bezeichnen dürfen. Wenn der fortwährenden äußeren Berührung mit unzähligen Menschen so viele innere Reaktionen antworten sollten, wie in der kleinen Stadt, in der man fast jeden Begegnenden kennt und zu jedem ein positives Verhältnis hat, so würde man sich innerlich völlig atomisieren und in eine ganz unausdenkbare seelische Verfassung geraten. Teils dieser psychologische Umstand, teils das Recht auf Mißtrauen, das wir gegenüber den in flüchtiger Berührung vorüberstreifenden Elementen des Großstadtlebens haben, nötigt uns zu jener Reserve, infolge deren wir jahrelange Hausnachbarn oft nicht einmal von Ansehen kennen und die uns dem Kleinstädter so oft als kalt und gemütlos erscheinen läßt.«6

1.3 — Das Quartier

Abb. 5

Dieses spezifische großstädtische Verhalten, das den Stadtmenschen in die Polarität von Privatheit und Intimität in der Familie und im Freundeskreis auf der einen und von Anonymität in der Öffentlichkeit auf der anderen Seite einspannt, wurde gerade auch in der Phase der Planung großer Stadtrandsiedlungen als Wesen städtischer Kommunikation und Interaktion propagiert.7 Unter anderem auch die steigende Häufigkeit von Wohnungsumzügen bewirke in Verbindung mit den Bedingungen großstädtischer Anonymität, dass der Bezug zu den Nachbarn und den Menschen im Wohnumfeld zunehmend an Bedeutung verliere, die Planung von Nachbarschaften sei somit Wunschdenken und überholte Ideologie. In Lehrbüchern und Regelwerken jener Zeit basiert die Gliederung der Stadt häufig nicht auf räumlichsozialen Einheiten wie Nachbarschaften oder Quartieren, sondern eher auf Einzugsbereichen und erforderlichen Nachfragemengen für Versorgungseinrichtungen auf verschiedenen Hierarchieebenen (z. B. die notwendige Einwohnerzahl für eine kleine Ladengruppe mit Bäckerei und Milchladen oder für einen Kindergarten und eine Grundschule). 8 Mit diesem Ansatz war es möglich, die »gegliederte und aufgelockerte Stadt«9 scheinbar unideologisch und befreit vom konservativen Ballast der Großstadtkritik zu planen, ganz eingebunden in die funktionalistischen Städtebaukonzepte jener Zeit (Abb. 6). Zwar hatten bereits innerhalb des CIAM, der Kerngruppe der modernen Architektur- und Städtebaubewegung, kritische Stimmen gegen den technisch orientierten Funktionalismus opponiert. Namentlich das Team 10 um Aldo van Eyck sowie Alison und Peter Smithson hatte die soziale und kulturelle Dimension der Stadt, insbesondere die Bedeutung des Stadtraums als Ort von Kommunikation und Interaktion und die symbolische Dimension von Architektur, in die Diskussion eingebracht.10 Diese Strömung blieb jedoch noch

25

Abb. 6

ganz auf Stadterweiterung und die Weiterentwicklung der Moderne fokussiert. Spätestens jedoch mit der in den 1960er-Jahren einsetzenden fachlichen Kritik am Funktionalismus11 und an den anonymen Großsiedlungen sowie, verstärkt durch Bürgerinitiativen, am geplanten Abriss von Altbauquartieren im Zuge von Flächensanierungen begann die intensive Beschäftigung mit dem historischen Bestand. Es kam zur Wiederentdeckung der traditionellen europäischen Stadt und des europäischen Stadtraums. Untersuchungen ergaben, dass es in vielen historischen Stadtteilen durchaus noch nachbarschaftliche Zusammenhänge und vor allem auch die Identifikation der Menschen mit ihrem Wohnumfeld gab. Die Vorstellung, die moderne Stadt sei lediglich eine räumliche Struktur, die die Bewohner je nach momentanem Bedarf beliebig nutzten, ihre Wohnung häufig wechselten und dabei keinerlei emotionalen Bezug zum Wohnumfeld entwickelten, traf nur für einen Teil der Einwohner und je nach Stadtteil in unterschiedlicher Weise zu. Es zeigte sich vielmehr, dass ein beachtlicher Teil der Bewohner eines Stadtteils sehr lange, manche sogar ihr ganzes Leben in den älteren Bestandsquartieren verbrachte und es häufig eine sehr starke emotionale Bindung an den Stadtteil und eine ausgeprägte Stadtteilkultur gab. Diese Tradition wurde in der Folge durch vielfältige Initiativen, durch Straßen- und Stadtteilfeste sogar wieder gestärkt und durch die Gründung neuer Betriebe und Einrichtungen vor allem aus der Alternativszene reaktiviert – was natürlich teilweise mit sozialen Umstrukturierungen (Gentrifizierung) verbunden war. Diese Wahrnehmung und Wertschätzung sozial-räumlicher Zusammenhänge der alltäglichen Lebenswelt fanden ihren Niederschlag in der Planung und Forschung und führten sogar zur Etablierung eines Arbeitskreises zur Quartiersforschung bei der Deutschen Gesellschaft für Geographie (DGfG).

7 Bahrdt 1961 8 Borchardt 1974; Müller 1979 9 Göderitz/Rainer/ Hoffmann 1957 10 Hecker 2007 11 Berndt 1971; Mitscherlich 1965; Rossi 1966; Rowe /Kötter 1978

26

Kapitel 1 — Einführung

1.4

Mehrwert nachhaltiger Stadtquartiere Ste p han Anders

1 Klein et al. 2011 2 Stern 2007

Der Mehrwert nachhaltiger Stadtquartiere ist schwer zu definieren und kann nur teilweise anhand quantitativer Kriterien erfasst werden. Zwar lassen sich die erheblichen Einsparungen bei den Kosten und Emissionen von nachhaltigen Quartieren objektiv messen, jedoch spätestens wenn es um Themen des Artenschutzes, der Sicherstellung des sozialen Gleichgewichts oder der Steigerung der Lebensqualität eines Quartiers für seine Bewohner geht, lässt sich der Gewinn für die Gesellschaft nur noch schwer in Zahlen ausdrücken – obwohl dieser immens sein kann. Zudem kann die unterschiedliche, teils isolierte Herangehensweise an die Bereiche Ökologie, soziale Verträglichkeit und Ökonomie bezüglich der natürlichen und gebauten Umwelt je nach Blickwinkel sowohl positive als auch negative Auswirkungen hervorrufen. Wie komplex sich das Zusammenspiel verschiedener Faktoren generell gestaltet, zeigt z. B. das Thema Bienensterben. Als man begann, neue Düngemittel in der Landwirtschaft einzusetzen, war man sich nicht im Klaren über deren Wechselwirkungen, die schlussendlich den Menschen selbst in seiner Existenz gefährden. Wissenschaftliche Untersuchungen an der Leuphana Universität Lüneburg haben ergeben, dass durch die intensive Nutzung der Agrarlandschaften weltweit ein massiver Rückgang an Bienen zu verzeichnen ist, der direkte Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit hat. Die Forscher rechnen damit, dass wenn die Entwicklung weiter anhält und zahlreiche Nutzpflanzen nicht mehr bestäubt werden, 40 % der durch Pflanzen bereitgestellten essenziellen Nährstoffe verloren gehen könnten.1 Welche weiteren Auswirkungen und Wechselwirkungen mit dem Verlust verbunden sind und welche Folgen dies auf das gesamte Ökosystem der Erde hat, ist nur schwer einzuschätzen. Das Beispiel der Jahrhundertflut 2013 in Deutschland machte deutlich, dass viele Stadt- und Quar-

tiersentwicklungen das Thema Hochwasserschutz stark und teilweise aus optischen Gründen sogar bewusst negiert haben. Dabei ist es nicht möglich, dieses komplexe Thema nur auf den Ausbau von Deichen und Flutmulden zu beschränken. Auch die allgemeine Siedlungsentwicklung und die damit einhergehende steigende Versiegelung verschärfen die Situation spürbar. Trotzdem werden Regenwasser rückhaltende Gründächer und Parkanlagen mit Regenwassermanagementsystemen oft aus Kostengründen bereits in der Projektphase verworfen. Hier stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoller wäre, bereits frühzeitig in eine entsprechende Planung mit einem ganzheitlichen, nicht auf ein einzelnes Projekt ausgerichteten Planungsansatz unter Einbindung der Allgemeinheit zu investieren und damit hohe Kosten im Schadensfall zu vermeiden. Der ehemalige Ökonom der Weltbank Nicholas Stern kam in seinem 2007 veröffentlichten Bericht »The Economics of Climate Change«2 zu dem Fazit, dass die Vorteile eines entschiedenen frühen Handelns die wirtschaftlichen Kosten des Nichthandelns langfristig bei Weitem überwiegen. In seinen wirtschaftswissenschaftlichen Modellen hat er errechnet, dass die Menschheit, sollte sie keine Maßnahmen gegen den Klimawandel ergreifen, in Zukunft jährlich 5 – 20 % des globalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) aufbringen müsse, um die Kosten für häufig auftretende Überschwemmungen, Sturmkatastrophen oder auch Krankheiten zu begleichen. Nur ein Beispiel: 20 % des globalen BIPs in Höhe von 72 Billionen USDollar im Jahr 2012 entsprechen ungefähr dem BIP der USA mit 15,6 Billionen US-Dollar. Im Gegensatz dazu, so rechnet Stern vor, könnten mit ca. 1 % des jährlichen globalen BIPs die schlimmsten Auswirkungen auf den Klimawandel vermieden werden – dies entspricht dem BIP der Niederlande mit 0,8 Billionen US-Dollar im Jahr 2012. Die Berechnungen des Stern-Reports sind zwar

1.4 — Mehrwert nachhaltiger Stadtquartiere

global, lassen sich jedoch durchaus auch auf die Stadtebene herunterbrechen. Diese eher allgemeine Betrachtung des Mehrwerts einer nachhaltigen Entwicklung auf globaler Ebene soll im Folgenden durch eine quartiersspezifische und damit für den Nutzer unmittelbar erfassbare Ebene ergänzt werden.

Ökologischer Mehrwert 2001 führten die Bauhaus-Universität Weimar und das Öko-Institut in Freiburg eine Untersuchung zur städtebaulichen und ökologischen Qualität autofreier bzw. autoarmer Quartiere durch.3 Die Ergebnisse der Studie sind relativ eindeutig: In den verkehrsarmen Stadtquartieren lassen sich eine Vielzahl positiver Effekte beobachten. Beispielsweise ist es möglich, aufgrund der reduzierten Verkehrsflächen (Straßen, Parkplätze) enorme Kosten für deren Erstellung, Instandhaltung, Pflege und Reinigung einzusparen. Die dadurch frei werdenden Flächen ermöglichen eine bauliche Nachverdichtung ohne Verlust der Wohnqualität oder durch eine Umnutzung zusätzliche Freizeitflächen. Eine weitere Qualität verkehrsreduzierter Stadtteile sind die damit verbundenen positiven Folgen für die Gesundheit der Bewohner z. B. dank geringerer Belastung durch Lärm und Schadstoffe sowie eine erhöhte Sicherheit. Zudem sind der öffentliche Raum und die Gebäude dort vielfältiger und flexibler nutzbar – als Spielfläche, zum Gehen oder Fahrrad fahren – und können bei Bedarf auch für Veranstaltungen gesperrt werden, was auf einer stark befahrenen Stadtstraße nur bedingt möglich ist. Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass sich durch nur eine Maßnahme – hier die Reduzierung des Verkehrs im Quartier – enorme Effekte erreichen lassen. Zu einem geringeren Verkehrsaufkommen im Quartier kann auch die Bereitstellung der notwendigen Infrastruktur in fußläufiger Entfernung für den täglichen Bedarf sowie die gute Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz beitragen. So lassen sich Pkw-Fahrten vermeiden und Fahrtzeit einsparen. Dieser Aspekt ist nicht zu unterschätzen – häufig sind die Eltern einen Großteil des Tags damit beschäftigt, ihre Kinder zu diversen Freizeitaktivitäten zu fahren. Selbstverständlich müssen in der Zwischenzeit noch die Einkäufe und Behördengänge getätigt werden – und dies im Regelfall mit dem privaten Pkw. Die Lage eines Quartiers ist somit ein wichtiger Bestandteil der Nachhaltigkeit, denn sie beein-

flusst maßgeblich die Möglichkeiten der Nutzer, sich schnell und umweltverträglich zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem öffentlichen Personennahverkehr fortzubewegen. Grundsätzlich ist die Einsparung von Ressourcen eines der wichtigsten Ziele bei der Planung nachhaltiger Quartiere. Darunter fallen Energie, Wasser, Baustoffe und andere wertvolle Rohstoffe, im weiteren Sinne aber beispielsweise auch Böden, Kosten und der Faktor Zeit. So entscheidet z. B. die Lage eines Stadtquartiers auch über die durch jeden Bewohner täglich zurückgelegten Entfernungen und damit über den Verbrauch der Ressourcen Zeit und Energie.4 Boden ist, insbesondere in dicht besiedelten Ländern wie Deutschland, eine sehr wichtige Ressource, die nicht vermehrt werden kann. Böden erfüllen in unserem Ökosystem eine überlebenswichtige Funktion, sie bilden die zentrale Lebensgrundlage für Pflanzen, Tiere und Menschen und sind für die Säuberung des Niederschlags und die Anreicherung des Grundwassers verantwortlich. Allerdings gehen wir derzeit alles andere als sparsam mit Böden um. So wurden in Deutschland in den Jahren 2007– 2010 durchschnittlich ca. 87 ha pro Tag für Siedlungs- und Verkehrsflächen verbraucht, dies entspricht beinahe der gesamten städtebaulichen Entwicklungsfläche von Stuttgart 21. Laut Statistischem Bundesamt liegen die Gründe hierfür in der Ausdehnung der Städte in das Umland, der zunehmenden funktionalen Trennung von Wohnen und Arbeiten, Versorgungs- und Freizeiteinrichtungen sowie der wachsenden Mobilität.5 Die Nutzung brachliegender oder untergenutzter Flächen in der Stadt ist daher eine Möglichkeit, außerhalb liegende Flächen zu schonen und somit den Flächenverbrauch zu senken.

Mehrwert für Mensch und Gesellschaft Neben diesen ökologischen Vorteilen nachhaltiger Quartiere lassen sich noch eine ganze Reihe weiterer positiver Auswirkungen nennen. Diese hängen teilweise eng mit den ökologischen Aspekten zusammen und bedingen sich gegenseitig. So bieten ausreichend große Grün- und Freiräume nicht nur einen Lebensraum für Tiere und Pflanzen, sondern haben auch eine positive Wirkung auf das Mikroklima und damit direkt auf den Menschen. Das Wohlbefinden einer Person im öffentlichen Raum hängt jedoch nicht nur vom Mikroklima ab, auch wenn in Städten wie Abu

27

3 Christ et al. 2001, S. 105 4 Fuchs /Schleifnecker 2001, S. 55; Jenks / Dempsey 2005, S. 24; OECD 2008, S. 115 5 Statistisches Bundesamt 2012, S. 20

28

Kapitel 1 — Einführung

Abb. 1

a

Abb. 1 Wärmebilder zum Vergleich der Temperaturen a Central Abu Dhabi: mittlere Oberflächentemperatur Straße 57 °C, mittlere Temperatur Straßenraum 52 °C b Masdar City: mittlere Oberflächentemperatur Straße 33 °C, mittlere Temperatur Straßenraum 37 °C

6 7 8 9

UBA 2011, S. 5 Mercer 2012 Rotermund, S. 10f. Blaser/Buser/Borer 2009, S. 2

Dhabi, wo die Oberflächentemperatur der Straße bis zu 70 °C erreicht, die gefühlte Temperatur im Außenraum zu einem entscheidenden Faktor werden kann (Abb. 1). Eine zusätzliche Rolle spielen viele subjektive Faktoren wie beispielsweise die Gestaltung, die Barrierefreiheit, die Vitalität, der Lärmpegel bis hin zur gefühlten Sicherheit, um nur einige wenige Punkte zu nennen. Welchen Stellenwert das Thema Lärm beim Wohlbefinden einnimmt, zeigt beispielsweise eine repräsentative Umfrage des Umweltbundesamts aus dem Jahr 2011. Demnach sind 83 % der befragten Teilnehmer von Straßenverkehrslärm belastet, 36 % davon sogar stark bzw. äußerst.6 Diesem Aspekt gilt es somit in Zukunft verstärkt Beachtung zu schenken. Eine nachhaltige Quartiersplanung verfolgt das Ziel, Wohnraum und Arbeitsplätze für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen anzubieten sowie die Funktionen Wohnen und Arbeiten wieder stärker miteinander zu mischen. Dies hat nicht nur unter sozialen Gesichtspunkten Vorteile, sondern macht das Quartier auch anpassungsfähig bei sich ändernden Rahmenbedingungen und damit langfristig (wert-)stabil. So werden heutzutage in vielen monofunktionalen Gebieten wie der Bürostadt Niederrad in Frankfurt am Main oder dem Märkischen Viertel in Berlin die Nutzungen wieder stärker durchmischt und die Quartiere gleichzeitig energetisch und gestalterisch aufgewertet. Auch wenn die sozialen Faktoren teilweise stark subjektiv und nur begrenzt quantifizierbar sind, übernehmen sie für die nachhaltige Entwicklung eines Quartiers oder einer Stadt eine entscheidende Rolle. Nicht umsonst sind Städte mit einer

b

hohen Lebensqualität wie z. B. Wien, Zürich, München oder Auckland7 auch wirtschaftlich erfolgreich, denn sie ziehen gut ausgebildete Menschen und damit auch international agierende Unternehmen an.

Ökonomischer Mehrwert Die dritte Dimension der Nachhaltigkeit ist die Ökonomie. Deren Vorteile sind im Bezug auf eine nachhaltige Stadtentwicklung schwer zu berechnen, lassen sich aber auf der Ebene des Quartiers bzw. Gebäudes durchaus mit konkreten Zahlen verknüpfen. So fallen bei Büro- und Industriegebäuden fast 90 % der Lebenszykluskosten während der Nutzungsphase an;8 gleiches gilt auch für Grün-, Frei- und Verkehrsflächen. Es ist wichtig, schon frühzeitig nicht nur die Kosten für den Bau, sondern ebenso für die Nutzung und auch den Rückbau eines Gebäudes oder einer Freifläche in die Kalkulation miteinzubeziehen. So weist ein Artikel zum Lebenszyklus von Grünräumen darauf hin, dass Freiflächen allzu oft »in der Vergangenheit nach wenigen Jahren zurückgebaut oder angepasst werden [mussten], weil der Pflegeaufwand personell und finanziell nicht zu bewältigen war. Oder das Erscheinungsbild der gesamten Anlage entsprach aufgrund fehlender Ressourcen in der Pflege nicht den Vorstellungen und Ansprüchen der Nutzenden.«9 Am Beispiele der Lebenszykluskosten zeigt sich sehr deutlich, dass nachhaltige Stadtquartiere einen enormen Mehrwert gegenüber konventionell geplanten Quartieren haben, auch wenn sich dieser nicht immer in Zahlen darstellen lässt. Es bleibt zu hoffen, dass zukünftig noch mehr Quar-

1.4 — Mehrwert nachhaltiger Stadtquartiere

29

Stadtklima Gesundheit Freiraumangebot

Durchlüftung Versiegelung Wohlbefinden Verschattung Dichte

Kompaktheit Effizienz Infrastruktursysteme Verkaufsaufkommen

Energiebedarf Lebenszykluskosten

Abb. 2

tiere unter nachhaltigen Gesichtspunkten geplant werden, auch wenn dies bei der Planung und im Bau höhere Kosten verursachen kann – langfristig gesehen wird sich diese Entwicklung auszahlen.

Komplexität und Wechselwirkungen Verfolgt man die Diskussion über nachhaltige Stadtplanung der letzten Jahre, ließe sich diese unter dem städtebaulichen Leitbild der Stadt München »kompakt, urban, grün« zusammenfassen. So einfach und charmant dieses Leitbild zunächst klingt – die Realität ist weitaus komplexer, da unzählige Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen städtebaulichen Parametern bestehen (Abb. 2). So kann z. B. eine Nachverdichtung der Stadt neben den positiven Effekten auf die Effizienz von Energie- und Verkehrssystemen oder die Auslastung der sozialen Infrastruktur10 auch negative Auswirkungen mit sich bringen. Eine hohe Dichte und die damit verbundene Versiegelung der Böden stören den natürlichen Wasserhaushalt und können die Gefahr von Überschwemmungen erhöhen.11 Der Freiflächenanteil reduziert sich, zudem wird das Stadtklima negativ beeinflusst, was z. B. zu erhöhten Temperaturen in der Stadt führt, die für die Bewohner sehr belastend sein können.12 Weitere negative Effekte sind die Abnahme der solaren Gewinne durch die gegenseitige Verschat-

tung der Gebäude sowie der zunehmende Ressourcenbedarf bei steigender Gebäudehöhe aufgrund der speziellen statischen Anforderungen und des höheren Strombedarfs u. a. für Aufzüge und technische Lüftung.13 Bei der energetischen Sanierung eines fernwärmeversorgten Stadtquartiers kann z. B. unter Umständen der Fall auftreten, dass die Effizienzverluste des nicht mehr voll ausgelasteten Fernwärmenetzes die energetischen Effizienzgewinne auf Gebäudeebene aufheben.14 Gleiches gilt für die Reduzierung des Abwassers: Eine Maßnahme, die unter ökologischen Gesichtspunkten zu begrüßen ist, kann langfristig gesehen zu höheren Kosten für Wartung und Instandhaltung der Infrastruktur führen, da z. B. in Deutschland aufgrund der Reduzierung des Abwassers Leitungen häufiger von dauerhaften Ablagerungen gereinigt und dazu mit Trinkwasser durchspült werden müssen. Auch kann es aufgrund der längeren Fließzeit des Abwassers zu Fäulnisprozessen kommen, die dann im weiteren Verlauf chemische Prozesse auslösen können, die zu Korrosionen der Leitungen und Pumpwerke führen können.15 Nicht zu vergessen sind die möglichen Auswirkungen baulicher Dichte auf das menschliche Verhalten. Empirische Untersuchungen zeigen eine enge Korrelation von steigender Dichte und sinkender Geburtenzahl, höherer Sterblichkeit, Jugend- und Erwachsenenkriminalität sowie psychischen Störungen.16 Pauschale Aussagen über die Auswirkungen von planerischen Eingriffen auf das gesamte Stadtgefüge sind nicht möglich. Vielmehr gilt es, die Faktoren bei jedem Projekt ganzheitlich zu bewerten und je nach Situation und Standort abzuwägen.

Abb. 2 komplexe Wechselwirkungen zwischen städtebaulichen Parametern

10 11 12 13 14 15 16

Fuhrich et al. 2006, S. 42 Henninger 2011, S. 17 Jendritzky 2007, S. 108 Hegger et al. 2008, S. 63 Koziol 2011, S. 24 Koziol et al. 2006, S. 18 Friedrichs 1983, S. 134f.

K A P ITE L 2

Heraus forderungen

2 .1

Regional -, Stadt - und Quartiers entwicklung He l m u t Bott, Ste fan Siedentop

2.1 — Regional-, Stadt- und Quartiersentwicklung

G

roße Städte sind keine autark funktionsfähigen Systeme – sie importieren große Mengen an Ressourcen aus einem näheren und weiteren Umland und sind auf die Abführung und Entsorgung von gasförmigen, flüssigen und festen Abfallstoffen angewiesen. Städte stellen im globalen Stoffstromsystem die Netzknoten punkte der Produktion, Distribution und des Konsums materieller Güter dar. Obwohl sie nur etwa 2–3 % der Landfläche der Erde beanspruchen, sind städtische Siedlungen für drei Viertel des weltweiten Ressourcenverbrauchs und 80 % der Treibhausgasemissionen verantwortlich.1 Längst besteht in der internationalen Global-ChangeDebatte eine Übereinkunft dahingehend, dass die Urbanisierung – hier verstanden als ein Prozess der Bevölkerungskonzentration in Städten, verbunden mit der physischen Ausdehnung primär baulich genutzter Flächen – als einer der zentralen Faktoren des globalen Wandels der Umwelt anzusehen ist.2 Das Wachstum der Städte und die in ihnen heute praktizierten flächen-, energie- und materialzehrenden Lebensweisen basieren auf dem Prinzip der »angeeigneten Tragfähigkeit«.3 Die natürliche Tragfähigkeit eines Raums, unter der man eine der natürlichen Umwelt dauerhaft entnehmbare und eine in die natürliche Umwelt dauerhaft entlassbare Menge an Stoffen pro Flächen- und Zeiteinheit versteht und die somit begrenzt ist, wird durch die »Aneignung« von Tragfähigkeit ergänzt. Für die Entwicklung moderner Ökonomien war die Emanzipation von den begrenzenden Bedingungen lokaler und regionaler Ressourcenausstattungen essenziell, da erst dies ein arbeitsteilig organisiertes Wirtschaftssystem in überregionalen Maßstäben ermöglichte.4 Aus ökologischer Perspektive ist das Konsumniveau einer Stadt,

das die natürliche Tragfähigkeit überschreitet, aber nur dann aufrechtzuerhalten, wenn es gelingt, die Ressourcen- und Entsorgungspotenziale anderer Räume dauerhaft in Anspruch zu nehmen. Nachhaltigkeit verlagert sich dann »von nachhaltigen Einzelsystemen, d. h. den ortsgebundenen (lokalen) natürlichen Ökosystemen auf regionale Systeme höherer Ordnung«.5 Die Urbanisierung beinhaltet damit ein Dilemma: Angesichts steigender Bevölkerungszahlen in den meisten Teilen der Welt (Abb. 1, S. 32), wachsender Wertschöpfung und zunehmendem Wohlstand ist die räumliche Ausdehnung der Siedlungsräume schiere Notwendigkeit. Dieses Wachstum vollzieht sich aber häufig auf Flächen, die für die Ver- und Entsorgung der Städte eine wichtige Bedeutung haben. Es sind nicht selten gute Agrarböden und Flächen mit wertvollen Umweltfunktionen (wie die Retention oder die bioklimatische Regulierung), auf denen sich die Siedlungsentwicklung vollzieht. Der Verlust biologisch aktiver Flächen im Umland der Städte steigert deren Abhängigkeit von exterritorialen Ressourcen und verfestigt ihre »ökologische Defizitwirtschaft«.6 Es wäre jedoch vollkommen verfehlt, urbane Systeme generell als »parasitäre« oder als per se nicht nachhaltige Systeme zu diskreditieren. Bei gegebenem Wohlstandsniveau können Städte aufgrund ihrer größen- und dichtebedingten Effizienzvorteile produktive und reproduktive Aktivitäten ressourcenschonender organisieren als ländliche Siedlungsformen.7 So weist Dodman8 darauf hin, dass der ökologische Fußabdruck Londons zwar 125-mal größer ist als die administrative Stadtfläche, dass aber der Pro-Kopf-Fußabdruck der Londoner Bevölkerung nur etwa 50 % des Durchschnittswerts Großbritanniens beträgt.9 Ähnliches kann für andere europäische oder nordamerikanische Großstädte und die jeweiligen Länder aufgezeigt werden, da in größeren Städten das Wohnen und die Mobilität ressourcensparender

31

1 Giradet 1996; OECD 2010; UN 2007 2 Seto/Sanchez-Rodríguez/ Fragkias 2010; Angel/ Sheppard/Civco 2005; McGranahan /Marcotullio 2005 3 Rees 1992 4 Einig/Siedentop/Petzold 1998 5 Haber 1992 6 Rees 1992 7 z. B. OECD 2010 8 Dodman 2009 9 zum Konzept des ökologischen Fußabdrucks siehe WWF 2008

32

Kapitel 2 — Heraus forderungen

unter 0 % 0 bis unter 0,5 % 0,5 bis unter 1,0 % 1,0 bis unter 1,5 % 1,5 bis unter 2,5 % 2,5 % und mehr keine Werte Abb. 1

10 OECD 2010; Naess 2006; Frank /Kavage/ Appleyard 2007 11 Crutzen 2002 12 United Nations 2010 13 UN Habitat 2008, S. 24f. 14 UN Habitat 2008 15 Forsyth 2012 16 Schneider/Woodcock 2008

erfolgen kann als in suburbanen oder ländlichen Regionen. Neben größenbedingten Skaleneffekten (z. B. Effizienzvorteile bei der Energieversorgung mit Kraft-Wärme-Kopplung) ermöglichen die höhere bauliche Dichte und das höhere Maß an Nutzungsmischung in Städten vergleichsweise energiesparende Wohn- und Mobilitätsformen.10 Vor diesem Hintergrund muss es bei einem gegebenen Wohlstandsniveau das Ziel nachhaltiger Stadtentwicklung sein, die Effizienzvorteile von Städten konsequenter zu nutzen und das Ausmaß der ökologischen Defizitwirtschaft urbaner Systeme auf ein verantwortbares Maß zu beschränken. Metropolen und Städte sind somit keinesfalls als Hemmnisse einer nachhaltigen, menschlichen Entwicklung anzusehen, im Gegenteil, sie sind der entscheidende Lösungsbeitrag. Allerdings setzt dies ein radikales Umdenken in der Planung und Gestaltung von Städten voraus. Die nachhaltige Stadt der Zukunft ist nicht nur eine energietechnisch umgerüstete Stadt. Der Umbau von Städten mit dem Ziel, Dichte, Kompaktheit und Nutzungsmischung zu bewahren und zu fördern sowie wertvolle Freiräume zu schützen, muss als wichtiger Beitrag zur Nachhaltigkeit angesehen werden. HB

Komparativer Kostenvorteil Als komparativer Kostenvorteil wird in der Volkswirtschaftslehre eine Situation bezeichnet, in der eine Region ein Gut zu geringeren Kosten herstellen kann als die Konkurrenz in anderen Regionen. Im Zusammenhang hier verweisen komparative Kostenvorteile auf standortbedingte Kostenvorteile des suburbanen Raums, insbesondere bei flächenextensiven Branchen des produzierenden Gewerbes.

Urbanisierung Die durch den Menschen verursachten physischen Veränderungen des Planeten sind inzwischen so immens, dass Wissenschaftler bereits vom »Anthropozän« als neuem Erdzeitalter sprechen, in dem menschliche Einflüsse die Erde prägen.11 Einer der wirkmächtigsten Prozesse ist dabei die Urbanisierung (Abb. 2). Auch wenn die Definition des »Städtischen« umstritten ist, die Mehrheit

der Weltbevölkerung wird in Zukunft in städtisch geprägten Siedlungsräumen leben.12 Ihren Antrieb findet die Urbanisierung in zwei eng miteinander verbunden Faktoren, dem natürlichen Wachstum der in Städten lebenden Bevölkerung und der Zuwanderung von Bevölkerung aus ländlichen Gebieten.13 In frühen Urbanisierungsstadien dominieren häufig einzelne Städte, nicht selten die Hauptstädte, was als Urban-Primacy-Phänomen bezeichnet wird.14 In diesen Städten konzentrieren sich die politischen und ökonomischen Steuerungsund Kontrollfunktionen eines Lands, sie sind die Kraftzentren der wirtschaftlichen Entwicklung und Zielgebiete von intrastaatlichen und internationalen Migrationsströmen. Dieses Phänomen dominiert die aktuellen Urbanisierungsprozesse in den Entwicklungs- und Schwellenländern. Nicht zuletzt aufgrund übermäßiger Agglomerationskosten in den Primärstädten haben sich in den stärker entwickelten Ländern hingegen meist mehrpolige Städtesysteme herausgebildet. Das physische Wachstum großer Städte findet weltweit in den suburbanen15 Gebieten statt, die meistens ein gegenüber dem städtischen Kern geringeres Maß an baulicher Verdichtung, eine diskontinuierliche, disperse Siedlungsform und eine geringere räumliche Mischung städtischer Funktionen aufweisen.16 Nicht nur in entwickelten Staaten, auch in Entwicklungs- und Schwellenländern ist ein Rand-Kern-Gefälle des demografischen und wirtschaftlichen Wachstums zu beobachten. Während für suburbane Gebiete hohe Wachstumsraten typisch sind, lässt sich für innerstädtische Gebiete eher eine stagnative oder schrumpfende Bevölkerung feststellen. Die Entstehung suburbaner Gebiete geht auf die komparativen Kostenvorteile dieser vorstädtischen Standorte zurück. Sowohl für private Haushalte als auch für Unternehmen sind sub-

2.1 — Regional-, Stadt- und Quartiersentwicklung

Kernstadt Stadtregion insgesamt Dekonzentration

Umland weiteres Umland (außerhalb der Stadtregion)

Dekonzentration

Konzentration

Bevölkerungsabnahme

Bevölkerungszunahme

Konzentration

33

Urbanisierung

Suburbanisierung

Desuburbanisierung

Resuburbanisierung

Umland Kernstadt weiteres Umland Bevölkerungszunahme

Stagnation

Bevölkerungsabnahme

Abb. 1 jährliche Bevölkerungsentwicklung, Durchschnittswerte 2005 – 2010 (basierend auf Daten des Statistischen Bundesamts, 2012) Abb. 2 Phasenmodell der Stadtentwicklung (nach Schmitz-Veltin 2012, basierend auf van den Berg et al. 1982)

Abb. 2

urbane Standorte aufgrund geringerer Bodenpreise, besserer Flächenverfügbarkeit oder auch geringerer Umweltbelastungen attraktiv. Suburbanes Wachstum wird aber nicht selten auch durch aktive staatliche Politiken, vor allem den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und staatliche Fiskalpolitiken, gefördert. Mit der Suburbanisierung entstand ein funktionaler Raum (Suburbia) mit spezifischen baulichen, ökonomischen und sozialen Eigenschaften.17 Durch die veränderte Siedlungsstruktur verändern sich auch die Mobilitäts- und Interaktionsmuster stadtregionaler Akteure. Es etablieren sich regionalisierte Lebensweisen, womit gemeint ist, dass die Nutzung von Wohn-, Arbeits-, Konsumund Freizeitstätten in einem ausgedehnten stadtregionalen Handlungsraum den Lebensalltag der Menschen prägt. In zahlreichen Industriestaaten ließen sich in den 1970er- und 1980er-Jahren zudem sogenannte Deurbanisierungsprozesse feststellen (Counterurbanisierung), die als (relativer oder absoluter) Bedeutungsgewinn ländlicher Gebiete gegenüber den verdichteten Regionen verstanden werden.18 Danach waren ländlich-periphere Gebiete für standortungebundene Industrien wie auch für

private Haushalte zunehmend attraktiv. Das ubiquitär ausgebaute Verkehrssystem sowie als negativ bewertete Standorteigenschaften wie hohe Bodenpreise oder überalterte Infrastruktursysteme in den verdichteten Stadtregionen gelten als entscheidende Bedingungen für ein derartiges räumliches Übergreifen des Bevölkerungs- und Beschäftigungswachstum in ländliche Gebiete hinein. In den vergangenen 20 Jahren hat sich der Wachstumsschwerpunkt jedoch wieder in städtisch geprägte Gebiete zurückverlagert. Im Zuge des Bedeutungszuwachses von Wissen für die mo derne Ökonomie gelten Metropolregionen mit internationaler Bedeutung als die wirtschaftlichen Taktgeber (Metropolisierung). In vielen westeuropäischen und nordamerikanischen Stadtregionen wurden zudem Anzeichen einer beginnenden Reurbanisierung beobachtet, die sich in einem erneuten Wachsen der Kern- und Innenstädte äußert.19 Die Renaissance der historischen Zentren vollzieht sich jedoch eingebettet in die Herausbildung polyzentrischer Stadtregionen, in denen sich komplexe Muster funktionsräumlicher Arbeitsteilungen innerhalb eines stadtregionalen Zentrensystems ausbilden. Suburbane Gemeinden

17 van den Berg et al. 1982; Champion 2001 18 Champion 2001 19 Herfert /Osterhage 2012; Siedentop 2008

34

Kapitel 2 — Herausforderungen

über 10 % 5,1 –10 ,0% 2,1– 5 ,0% unter 2 % kein Wachstum keine Daten verfügbar

Abb. 3

Abb. 3 Wachstum der besiedelten Flächen in Europa 1990 – 2006 (basierend auf Daten des EU-Forschungsprojekts CORINE Land Cover) Abb. 4 Flächenverbrauch in Deutschland 1993 – 2008 [in ha/Tag]

profitieren von derartigen Entwicklungen durch funktionale Anreicherungs- und Verdichtungsprozesse, was Vermutungen einer zunehmenden Angleichung von Kernstadt und Suburbia Nachdruck verleiht. Sogenannte postsuburbane Räume ähneln danach in funktionaler Hinsicht zunehmend den Kernstädten, sie emanzipieren sich teilweise von deren hegemonialem Anspruch und ihrer funktionalen Abhängigkeit.20

Flächenverbrauch 20 21 22 23 24

Aring 1999 SRU 2002 Siedentop et al. 2007 EEA 2006 Angel/Sheppard/Civco 2005 25 Angel 2011

Der Flächenverbrauch, also die Inanspruchnahme von bislang nicht für Siedlungs- und Verkehrszwecke baulich genutzte Bodenflächen, ist der physische Ausdruck von Urbanisierung, Sub- und Deurbanisierung. Der Flächenverbrauch gilt als umweltpolitisches Schlüsselproblem und zudem als ein sogenanntes persistentes Problem der Umweltpolitik,21 weil politische Bemühungen der Eindämmung über Jahrzehnte wenig erfolgreich blieben. Flächenverbrauch für Siedlungs- und Verkehrsnutzungen hat zahlreiche negative Wirkungen, unter denen der Verlust oder die Beeinträchtigung von bodengebundenen Umweltfunktionen am bedeutsamsten ist. Bei der Bewertung des

Flächenverbrauchs wird aber häufig übersehen, dass der rein quantitative Umfang umgenutzter Fläche allein wenig aussagekräftig ist. Von Bedeutung ist auch die Vornutzung und Lage der Flächen, ihr landschaftsökologisches Funktionsprofil und die Intensität der bisherigen Bodennutzung, z. B. in Bezug auf die Versiegelung.22 Die flächenhafte Ausdehnung urbaner Siedlungsräume ist ein globaler Prozess mit regional sehr unterschiedlicher Dynamik (Abb. 3). Die Europäische Umweltagentur schätzt, dass das Wachstum der Siedlungsfläche in den am stärksten wachsenden europäischen Regionen in den vergangenen 20 Jahren bis zu 2 % pro Jahr betrug, während in anderen Teilen Europas kaum Flächenumwandlungen nachweisbar sind.23 Den Schätzungen Shlomo Angel zufolge betrug die jährliche Wachstumsrate der bebauten Flächen in den 1990erJahre rund 3,6 % in den Entwicklungsländern und 2,9 % in den Industriestaaten. Insbesondere im östlichen Asien wurden noch weitaus höhere Wachstumsraten ermittelt.24 Der Flächenverbrauch weist einige Charakteristika auf, die für das Verständnis der sich daraus ergebenden Wirkungen von Bedeutung sind. Zum einen lässt sich zeigen, dass die Wachstumsrate der Siedlungs- und Verkehrsfläche deutlich höher ausfällt als die der Bevölkerung. Das daraus resultierende weltweite Sinken der Siedlungsdichte beträgt 2 % pro Jahr oder sogar mehr.25 Zum ande-

2.1 — Regional-, Stadt- und Quartiersentwicklung

Flächenverbrauch [ha/Tag]

Erholungsfläche, Friedhof Verkehrsfläche

35

Gebäude- und Freifläche gleitender Vierjahresdurchschnitt

140 120 100 80 60 40 Ziel 2020: 30 ha / Tag

20 0 1993– 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 1996

2020 Jahr

Abb. 4

ren vollzieht sich das Wachstum der Städte nur selten in konzentrischer Form um die bestehenden Siedlungsräume herum. Typisch sind eher diskontinuierlich-disperse Wachstumsmuster, die zu stark fragmentierten Siedlungs- und Freiraumstrukturen geführt haben26 – ein Phänomen, das heute die siedlungsräumliche Realität der Metropolregionen weltweit prägt. Die in Wissenschaft und Politik derzeit am intensivsten diskutierten Wirkungen des Flächenverbrauchs sind:27 • fortschreitender Verlust hochwertiger landwirtschaftlicher Böden28 • Reduzierung der biologischen Vielfalt29 • Herausbildung autoabhängiger Siedlungsstrukturen und Zuwachs des Pkw-Verkehrs30 • Erzeugung von Folgekosten für die Erstellung und den Betrieb von technischen Infrastruktureinrichtungen31 Zweifelsohne stellt unter den Wachstumsbedingungen die anhaltende private Nachfrage nach Wohn-, Gewerbe-, Freizeit- und Verkehrsflächen eine zentrale Triebkraft des Flächenverbrauchs dar (Abb. 4). Aber auch das (Bauflächen-)Angebotsverhalten lokaler Gebietskörperschaften, flächenverbrauchsbegünstigende staatliche Steuer- und Subventionssysteme sowie die ökonomischen Interessen intermediärer Akteure (z. B. Developer) tragen in erheblichem Maße zum Flächenverbrauch bei.32 In Deutschland steigt der Flächenverbrauch vor allem durch den weiteren Rückgang der Belegungsdichte im Wohnungsbestand, was zu relevanten Anteilen auf den Alterungsprozess der Bevölkerung zurückzuführen ist (Remanenzeffekt). Hinzu kommt die teilweise durch Nutzerpräferenzen erklärbare Dominanz gering verdichteter Bauformen im Wohn- und Gewerbebau. Immobilienanalysten und Wohnungsmarkt-

experten gehen daher auch bei schrumpfender Bevölkerung von einer steigenden Nachfrage nach Wohnraum aus. Auf der Angebotsseite fehlen baureife Flächen im Siedlungsbestand, während die Neuerschließung von Siedlungsflächen nach wie vor von der subventionierten Baulandbereitstellung auf der »grünen Wiese« und dem damit forcierten Bodenpreisgefälle zwischen Bestandsund Neubaustandorten sowie der mangelhaften Abstimmung der kommunalen Baulandpolitiken angetrieben wird.33

Wachsen und Schrumpfen Während die Metropolen in Asien, Afrika und Lateinamerika mit zum Teil exzessiven Wachstumsraten ihrer Bevölkerung konfrontiert sind, erlebten zahlreiche Städte in den westlichen Industriestaaten eine längere Phase der Stagnation oder gar Schrumpfung. In den 1990er-Jahren galten bereits etwa 40 % der Städte in den entwickelten Staaten als schrumpfend.34 In Ländern, die sich im zweiten demografischen Übergang befinden, ist – ungeachtet erheblicher Varianzen innerhalb des Städtesystems und einer teilweise festzustellenden Reurbanisierung – nicht von einer Rückkehr zu einem stärkeren städtischen Bevölkerungswachstum auszugehen. Die Bewältigung von anhaltenden strukturellen Schrumpfungsprozessen ist vor diesem Hintergrund für Planer als gleichberechtigte Aufgabe neben die Steuerung und Gestaltung von Wachstum getreten.35 In Deutschland vollzieht sich wie in anderen europäischen Ländern ein tiefgreifender de mografischer Wandel, der sich seit Anfang der

26 Sieverts 1997 27 Überblick bei Siedentop 2005 28 Gardner 1996 29 EEA 2006; EEA 2011 30 Naess 2006; Gutsche 2003; Banister 1999 31 Schiller/Gutsche 2009; Preuß 2009; Schiller/Siedentop 2005 32 Schiller/Gutsche 2009 33 Siedentop et al. 2009 34 UN Habitat 2008, S. 12; auch Wiechmann/ Pallagst 2012 35 Wiechmann/Pallagst 2012

Demografischer Übergang Der demografische Übergang beschreibt ein global beobachtbares Phänomen, wonach hohe Geburtenund Sterberaten von geringen Geburten- und Sterberaten abgelöst werden. Durch das frühere Sinken der Sterberaten steigt die Bevölkerungszahl im ersten demografischen Übergang stark an. Das Wachstum verlangsamt sich im weiteren Zeitverlauf, wenn auch die Geburtenraten sinken. In einigen Gesellschaften wie Deutschland sinkt die Geburtenrate auf ein Niveau, das die natürliche Reproduktion der Bevölkerung nicht mehr gewährleistet. Dies wird als zweiter demografischer Übergang bezeichnet. Es kommt zu einer langfristig negativen natürlichen Bevölkerungsentwicklung.

36

Kapitel 2 — Herausforderungen

36 Siedentop 2003 37 Schiller/Gutsche 2009; Schiller/Siedentop 2005 38 Koziol 2001 39 Siedentop 2010 40 Hüchtker et al. 2000 41 UBA 2003 42 Siedentop 2003 43 siehe exemplarisch Ministerium für Wirtschaft, Energie, Klimaschutz und Landesplanung Rheinland-Pfalz 2010

2000er-Jahre erstmals auch in rückläufigen Bevölkerungszahlen äußert. Auch die derzeit bundesweit noch steigenden Haushaltszahlen werden ab dem Jahr 2020 in den meisten Regionen zurückgehen, sodass mit Sättigungs- und Rückgangstendenzen der Immobiliennachfrage zu rechnen ist. Eine rückläufige Nachfrage wird sich allerdings nicht gleichmäßig über den Wohnungsbestand erstrecken. Insbesondere der Geschosswohnungsbau der 1950er- bis 1970er-Jahre droht im künftigen Wettbewerb um Mieter und Käufer zurückzubleiben. In städtebaulicher Hinsicht muss daher mit einem enormen Bedarf zum Stadtumbau gerade bei nicht mehr konkurrenzfähigen Wohnungsbeständen gerechnet werden. Eine Fortsetzung des Bauens auf der »grünen Wiese« würde das Leerlaufen weniger attraktiver Quartiere forcieren und gleichzeitig zu einem Entzug der für den Stadtumbau dringend benötigten finanziellen Ressourcen führen.36 Eine stärker bestandsorientierte Siedlungsentwicklung ist schließlich auch aus infrastruktureller Hinsicht geboten. Weiterer Flächenverbrauch unter demografischen Stagnations- oder Schrumpfungsbedingungen könnte bereits mittelfristig zu erheblichen Problemen bei der Finanzierung infrastruktureller Leistungen führen. Die Gebührenbelastung für die privaten und öffentlichen Haushalte wird bei sinkender Siedlungsdichte spürbar zunehmen, da die nicht reduzierbaren Fixkosten der Trinkwasser- und Energieversorgung sowie der Entsorgung von Schmutzwasser auf eine geringere Anzahl von Nutzern der Infrastruktur umgelegt werden muss, d. h. immer weniger Stadtbewohner müssen für immer stärker überdimensionierte Netze finanziell aufkommen.37 Die schrumpfende Stadt wird eine teure Stadt sein38 – an diesem generellen Sachverhalt kann die räumliche Planung wenig ändern. Ein gebremster Flächenverbrauch könnte diesen Prozess aber zweifelsohne in seiner Intensität begrenzen und zum Einlenken auf einen Kurs der Flächenkreislaufwirtschaft beitragen.

Abb. 5

Innenentwicklung Einer der wichtigsten Ansätze für eine Stadtentwicklung, die den Flächenverbrauch reduziert, ist die sogenannte Innenentwicklung.39 Mit diesem Begriff werden verschiedene städtebauliche Handlungsansätze und Maßnahmen bezeichnet, deren gemeinsames Merkmal eine mehr oder minder

ausgeprägte räumliche Orientierung am Bestand ist. In der städtebaulichen Praxis werden mit Innenentwicklung zumeist drei Maßnahmentypen angesprochen: • Schließung von Baulücken auf Flächen in zusammenhängend überbauten Ortsteilen • Flächenrecycling, womit die Um- und Wiedernutzung brachgefallener Siedlungsflächen gemeint ist • Nachverdichtung, die auf die Erweiterung oder Ergänzung der baulichen Nutzung eines oder mehrerer Grundstücke abzielt, sei es durch Neuerrichtung, Erweiterung oder Umbau von Gebäuden Während es bei der Schließung von Baulücken um die Ausschöpfung bestehenden Baurechts geht, zielen Flächenrecycling und Nachverdichtung auf die Schaffung neuen Baurechts durch Überplanung von bereits besiedelten Gebieten, ohne dabei unerschlossene Freiraumflächen in Anspruch zu nehmen. Neben diesen primär quantitativen Aspekten hat Innenentwicklung auch eine qualitative Dimension. Maßnahmen der Innenentwicklung sollen ebenfalls dazu beitragen, die innerstädtische Freiraumsituation zu verbessern sowie den städtebaulichen Bestand zu stabilisieren und zu optimieren. Vor diesem Hintergrund wurde das Bild einer »doppelten Innenentwicklung«40 entworfen, die den offenen Landschaftsraum vor weiteren baulichen Eingriffen schützt, gleichzeitig aber den Siedlungsraum u. a. durch Freiraum mobilisierende und aufwertende Maßnahmen qualifiziert. Trotz umfassender Bemühungen zur Mobilisierung von Baulandpotenzialen im Bestand bleibt der Flächenverbrauch in Deutschland hoch. Schätzungen gehen davon aus, dass der Brachflächenbestand bundesweit derzeit um täglich 9–12 ha anwächst.41 Nur etwa 30 % des jährlichen Wohnbaus entstanden in den 1990er-Jahren innerhalb des Siedlungsbereichs, z. B. durch Brachflächenrevitalisierung oder Baulückenschließungen.42 Eine Ursache liegt wohl darin begründet, dass das im Bestand verfügbare Baulandpotenzial in der kommunalen Planungsverwaltung nach wie vor unterschätzt wird. Vorsichtige Schätzungen quantifizieren die inneren Siedlungsreserven auf über 5 % des Nettowohnbaulandbestands. Ein erheblicher Teil davon wird als unmittelbar oder mittelbar marktverfügbar eingestuft.43 Zum anderen stoßen Innenentwicklungsprojekte in der Planung und Politik nicht selten auf erhebliche Skepsis. Risiken nicht erkannter Altlasten, komplexe

Bevölkerungsentwicklung

2.1 — Regional-, Stadt- und Quartiersentwicklung

37

Wachstum

0 Schrumpfung

Zeit

kompakte Stadt

Zersiedelung

Perforation und Auflösung

Abb. 5 Der »Fingerplanen« ist ein regionaler Entwicklungsplan für den Großraum Kopenhagen, der 1947 ausgearbeitet wurde. Er verhinderte das städtische Wachstum in alle Richtungen und lenkte es stattdessen in »Finger« zwischen den Grünflächen. Abb. 6 von der kompakten zur dispersen und perforierten Stadtstruktur der Zukunft

Abb. 6

Akteursstrukturen, schwierige nachbarschaftliche Planungssituationen im Bestand oder überhöhte Buchwerte von Liegenschaften in den Bilanzen von Unternehmen und Banken können objektive oder subjektive Hindernisse für das Bauen im Bestand sein. Auch entziehen sich Innenentwicklungsprojekte den vertrauten Routinen der Bauleitplanung, die in ihrer Hauptzielrichtung jahrzehntelang auf die Schaffung von Baurechten im Außenbereich fokussiert war. Dennoch kann insgesamt kein Zweifel daran bestehen, dass die Innenentwicklung und der Stadtumbau den Städtebau in Deutschland zukünftig dominieren werden.

Leitbilder Die Diskussion zu Leitbildern und Strategien einer flächensparsamen, energieeffizienten und sozialgerechten Stadtentwicklung hat sich im Zuge der globalen Nachhaltigkeitsdebatte der 1990er- und 2000er-Jahre spürbar intensiviert. Im Mittelpunkt steht dabei die kompakte Stadt, deren wesentliche Prinzipien eine höhere Dichte und zentrumsorientierte Entwicklung sowie die Mischung städtebaulicher Nutzungen sind.44 Dichte, Mischung und Kompaktheit gewährleisten – so die Befürworter kompakter Stadtentwicklung – günstige Voraussetzungen für nicht motorisierte Mobilität und den öffentlichen Verkehr und verringern damit die Abhängigkeit von motorisierten Verkehrsmitteln. Vorteile werden zudem in positiven Skaleneffekten bei der Vorhaltung öffentlicher Infrastrukturleistungen, einem geringeren Maß an sozialer Segregation und Exklusion sowie im Schutz von Agrar- und Naturflächen gesehen.45 Die Befürworter kompakter Städte stützen sich

auf empirische Forschungsergebnisse, die die verkehrliche Relevanz städtebaulicher Eigenschaften wie Dichte und Mischung nachweisen konnten.46 Unter sonst gleichen Bedingungen gilt, dass mit höherer Dichte, Kompaktheit und Mischung die motorisierte Verkehrsleistung sinkt, während der Anteil des Fußgängerverkehrs und des öffentlichen Verkehrs steigt. In zahlreichen Studien konnte ferner aufgezeigt werden, dass verdichtete innerstädtische Stadtgebiete geringere Pro-Kopf-Kosten der Infrastruktur aufweisen als suburbane und ländliche Gebiete mit niedrigerer Dichte und disperser Siedlungsstruktur.47 Geringe Dichte und damit einhergehende Defizite der Erreichbarkeit von Arbeitsplätzen und Dienstleistungsstandorten ohne eigenen Pkw kann schließlich zu sozialen Exklusionseffekten von nicht motorisierten Haushalten führen.48 Demgegenüber stehen kritische Stimmen, die auf negative Begleiterscheinungen höherer städtebaulicher Dichten und Akzeptanzdefizite der Bevölkerung hinweisen.49 Hohe Dichten – so die verbreitete Einschätzung – hätten negative Wirkungen auf die lokale Umwelt- und Lebensqualität, sie entsprächen nicht den mehrheitlichen Wünschen der Bevölkerung nach Wohnformen mit individueller Verfügbarkeit von Freiraum. Darüber hinaus wird in Städten mit starkem Wachstumsdruck auf die Gefahr steigender Bodenpreise und hoher Wohnkosten verwiesen, wenn durch eine restriktive Flächenpolitik ein Mangel an Bauland entstehe (siehe auch Handlungsfeld Regional-, Stadt- und Quartiersplanung, S. 96).50 Es sei illusorisch, dem Wachstumsdruck der Städte aufgrund von steigendem Wohlstand und Zuwanderung allein durch eine Verdichtung nach innen zu begegnen. Vor diesem Hintergrund wird daher die kompakte Stadt als Leitbild für die schnell wachsenden Metropolen der Entwicklungs- und Schwellenländern

44 ausführlich hierzu OECD 2012, S. 27f. 45 Siedentop 2005 46 Cervero /Murakami 2010; Gutsche 2003 47 Ecoplan 2000; Doubek / Zanetti 1999 48 Motte-Baumvol/Massot / Byrd 2010 49 beispielhaft Breheny 1997 50 z. B. Angel 2011; Bengston /Youn 2006

Euro / Einwohner

38

Kapitel 2 — Herausforderungen

2000 1800 1600 1400 1200 1000 800 Gas Strom Straße Trinkwasser Schmutzwasser Gesamtkosten Strukturtyp Einfamilienhaus Gesamtkosten Strukturtyp Plattenbau

600 400 200

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

5

10

15

20

25

30

35

40

45

50

55

60

13

14

15

16

17 Jahr 65 70 75 80 85 Einwohnerrückgang [%]

Abb. 7

Abb. 7 Infrastrukturkosten pro Einwohner bei rückgehender Bevölkerung für die Stadtstrukturtypen Einfamilienhaus und Plattenbau Abb. 8 erstes zertifiziertes Museum in PassivhausBauweise, Kunstmuseum Ravensburg (D) 2013, Lederer + Ragnarsdóttir + Oei

51 Vejre et al. 2007 52 Joss 2010; Joss 2011 53 z. B. Hollander 2011; Siedentop 2004; Wiechmann/Pallagst 2012 54 Popper/Popper 2002 55 Hollander 2011 56 Lütke/Daldrup 2002

eher kritisch gesehen. In solchen Städten erscheint eine gesteuerte Außenentwicklung als der geeignetere Weg, um den Wachstumsdruck zu bewältigen, ohne prekäre ökologische oder soziale Effekte in Kauf nehmen zu müssen. Ein international viel diskutierter Ansatz ist dabei die punktaxiale Entwicklung, die im Englischen meist als Transit Oriented Development (TOD) bezeichnet wird. Verwiesen sei auf den »Fingerplanen« für die Region Kopenhagen51 (Abb. 5, S. 36) und die Siedlungsstrukturkonzepte vieler deutscher Regionalpläne. Der Grundgedanke ist dabei, neue Siedlungsgebiete im fußläufigen Einzugsgebiet der Haltepunkte des stadtregionalen öffentlichen Schienenschnellverkehrs zu entwickeln. Neben derartigen axialen Entwicklungskonzepten kann auch die Planung größerer Städte im weiteren Umland der Metropolkerne (New Towns) zu deren Entlastung beitragen. In jüngster Vergangenheit orientierten sich diesbezügliche Planungen häufig an ehrgeizigen ökologischen Zielen (Eco Cities).52 Eine Evaluation solcher Ansätze erscheint noch verfrüht. Die langfristigen Erfahrungen mit der Planung von New Towns sind indes nicht immer positiv. Häufig konnten die ursprünglichen Planungsideale einer integrierten Standortentwicklung mit ausreichender Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen und Dienstleistungen (selfcontained cities) nicht erreicht werden. Auf der anderen Seite haben der anhaltende

Bevölkerungsrückgang in vielen Städten und seine komplexen Wirkungen auf den Immobilien- und Wohnungsmarkt sowie die städtischen Infrastruktursysteme eine weltweite Debatte um geeignete planerische Strategien im Umgang mit städtischer Schrumpfung ausgelöst.53 Viele Beiträge beschäftigen sich vorwiegend mit planungsprozessoralen Fragen, sodass noch wenig Klarheit dahingehend besteht, zu welchen Ergebnissen ein Prozess des »Smart Decline«54 oder »Right Sizing«55 in siedlungsstruktureller Hinsicht führen könnte. Vorstellungen, wonach ein Schrumpfen »von außen nach innen« (ausgehend von den Siedlungsrändern) sinnvoll sei, erscheinen wenig realistisch, da Siedlungsgebiete in der Regel von innen nach außen gewachsen sind, sodass die äußere Stadt (bzw. Stadtregion) über vergleichsweise modernere Gebäudestrukturen und Infrastrukturanlagen verfügt. Andererseits gilt es, ein verstreutes Schrumpfen zu verhindern, das – bei längerem Andauern – zu einer weitgehenden Auflösung des baulichen Zusammenhangs der Stadt und einer Unwirtschaftlichkeit ihrer Infrastruktursysteme führen würde (Abb. 6, S. 37). Vieles spricht daher für eine räumlich-konzentrierte Vorgehensweise, die die verfügbaren finanziellen Ressourcen des Stadtumbaus auf Gebiete mit besonderem Handlungsbedarf lenkt.56 Ziel ist es, öffentliche Investitionen vor allem in solchen Quartieren vorzunehmen, in denen eine nachhaltige Stabili-

2.1 — Regional-, Stadt- und Quartiersentwicklung

39

Abb. 8

sierung des Bestands möglich erscheint. Ein räumlich fokussierter Mitteleinsatz bedingt konsequenterweise aber auch, Stadträume zu benennen, in denen Wohn- oder Gewerbenutzungen aus städtischer Sicht nicht nachhaltig gesichert werden können (Abb. 7).57 Das physisch-materielle Ergebnis des Stadtumbaus darf jedoch auf  keinen Fall dem Typus einer »perforierten Patchwork-Stadt aus heterogenen Fragmenten geschrumpfter und verinselter Stadtviertel«58 entsprechen. Unrealistisch ist aber gleichzeitig auch das Bild von einer kompakten, von außen nach innen zurückgebauten und nutzungsgemischten Stadt mit hoher Dichte. Gewarnt sei vor überzogenen Erwartungen an die Planbarkeit des Stadtumbaus. Dennoch, staatliches Handeln wird zum Anstoß von privatwirtschaftlichen Investitionen wie auch zu deren baukultureller, sozialer und ökologischer Qualifizierung unverzichtbar sein. Ohne aktive staatliche Steuerung droht der Stadtumbau gänzlich zu unterbleiben.59 Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass es kein allgemeingültiges, für alle Städte und großstädtischen Regionen gleichermaßen geeignetes Leitbild geben kann. Während für stagnierende oder sogar schrumpfende Großstädte in Europa die kompakte Stadt als adäquate Antwort gilt, werden die Boomstädte in Asien, Afrika und Lateinamerika auf eine räumlich geordnete Expansionsplanung setzen müssen. Wesentliche

Prinzipien der kompakten Stadt wie eine gute Erreichbarkeit durch den öffentlichen Verkehr und eine fußgängerfreundliche Stadtgestaltung (Walkability) können aber auch bei der Planung von Entlastungsstädten und suburbanen Siedlungen handlungsleitend sein. STS

Baukultur Stadtumbau und Stadterneuerung können nur nachhaltig sein, wenn die Interventionen nicht als eindimensionale Optimierung eines Teilziels, sondern im Rahmen eines ausgewogenen Gesamtkonzepts durchgeführt werden. Städtebauliche Leitbilder, die nur einen Sektor ins Zentrum stellen (z. B. die autogerechte Stadt), erzeugen in aller Regel Defizite in den anderen Sektoren. Eine nur auf Energieeinsparung fokussierte Stadterneuerung hat schon in den vergangenen Jahren zur Verunstaltung historischer Gebäude, die das Erscheinungsbild von Quartieren prägen, geführt. Der gestalterische Charakter eines Stadtteils trägt – ganz abgesehen von der kulturhistorischen und baugeschichtlichen Bedeutung – zur Identität eines Quartiers und der Identifikation mit ihm bei (Abb. 8). Auch das ist eine Bedingung für Lebensqualität. Baukultur ist ein wesentlicher Bestand-

57 Siedentop 2004 58 Oswalt/Overmeyer/ Prigge 2002, S. 57 59 Häußermann 2002

40

Kapitel 2 — Herausforderungen

Abb. 9

Abb. 9 Dreifamilienhaus im Minergie-P-ECOStandard, Liebefeld (CH) 2006, Halle 58 Architekten Abb. 10 ehemalige Großwäscherei in Darmstadt (D)

Weitere Informationen • Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR): Trends der Siedlungsflächenentwicklung. Status quo und Projektion 2030. BBSR Analysen kompakt 09/2012. Bonn 2012 • European Environment Agency (EEA): UrbanSprawl in Europe. The Ignored Challenge. EEA Report 10/2006. Kopenhagen 2006 • Nuissl, Henning; Siedentop, Stefan: Landscape Planning for Minimizing Land Consumption. In: Meyers, Robert A. (Hrsg.): Encyclopedia of Sustainability Science and Technology. New York et al. 2012, S. 5758–5817 • UN Habitat: State of the World’s Cities 2008/2009. Harmonious Cities. London 2008

teil der Kultur einer Stadt und ihrer Teilbereiche. Die Ertüchtigung eines Quartiers unter der komplexen Zielvorstellung der Nachhaltigkeit, so wie in diesem Buch dargelegt, muss deshalb u. a. auch dem Kriterium der Gestaltungsqualität genügen und darf nicht zur Zerstörung des baukulturellen Erbes oder zur Aufgabe von Gestaltqualität führen. Das Aufbringen einer aus energetischer Sicht leistungsstarken Außendämmung auf differenzierte, plastisch gegliederte Fassaden der Gründerzeit oder des Jugendstils kann die Zerstörung eines gestaltprägenden und identitätsstiftenden Ensembles bedeuten. Vor einer solchen Maßnahme muss untersucht werden, ob sich nicht mit anderen Mitteln die gleichen Einspareffekte beim Primärenergieverbrauch erzielen lassen. Es könnte in diesem Fall beispielsweise sinnvoller sein, ein kleines Blockheizkraftwerk (BHKW) zu installieren, das Strom erzeugt und mit der Abwärme die Heizenergie sowie die Warmwasserbereitungsichert. Dies hätte einen enormen Einspareffekt an Primärenergie zur Folge, da herkömmliche Kraftwerke ca. zwei Drittel der Primärenergie über ein Kühlsystem an die Umwelt abgeben, diese also noch zusätzlich belasten. In den letzten Jahren wurden auch Erfolg versprechende Versuche mit Innendämmung durchgeführt, sodass man davon ausgehen kann, dass auch auf diesem Weg in Zukunft erhebliche Einspareffekte möglich sind, ohne dabei größere bauphysikalische Probleme wie z. B. Dampfkondensation in der Außenwand zu erzeugen. Voraussetzung dafür sind natürlich eine vorangehende sorgfältige Analyse, Planung und Berechnung. Eine ganz ähnliche Problematik stellt sich bei der Erneuerung von Fenstern. Feingliedrige Fensterrahmen und Fensterteilungen in Bauten der klassischen Moderne gehören ganz wesentlich zum Gestaltkonzept der formal einfachen kubischen Bauten. Diese durch breite Rahmen und groß-

flächige Scheiben zu ersetzen, wie es oft geschehen ist und immer noch geschieht, kann die Anmut dieser Bauten zerstören und in die Banalität versinken lassen. In diesem Fall müssen alternative konstruktive Lösungen gefunden werden. Es könnte beispielsweise sinnvoller sein, mit Doppelfenstern zu arbeiten und in der Fassadenebene die Originalkonstruktion zu erhalten bzw. sie hinsichtlich Materialstärke und Material möglichst orginalgetreu zu erneuern. Im Beispiel des Umbaus der ehemaligen Großwäscherei handelte es sich bei den Fenstern um Einscheibenverglasungen, in sehr feinen T-Stahlprofilen gefasst und sehr kleinteilig gegliedert – ein charakteristisches Merkmal von Industriebauten des 19. Jahrhunderts mit ihrem typischen Fassadenausdruck. Zum Zeitpunkt des Umbaus Ende der 1970er-Jahre gab es jedoch noch keinerlei thermisch getrennte Metallprofile für Fenster. Eine feinteilige Metallfassade als Rekonstruktion der Industriebaufassade mit einer thermischen Verbesserung schien unter den finanziellen Bedingungen der Eigentümer nachgerade unmöglich zu sein, eine großflächige Doppelfensteranlage ebenfalls. Deshalb wurden damals Holzfenster mit einer kleinteiligen Gliederung eingebaut, die jedoch nicht dem Fabrikcharakter der alten Anlage entsprechen (Abb. 10). Unter heutigen Bedingungen würde die Aufgabe möglicherweise anders gelöst werden – in ästhetischer Hinsicht wahrscheinlich befriedigender. Hier zeigt sich einmal mehr, dass Konzepte eben immer auch von den jeweiligen ökonomischen, technischen und sozialen Randbedingungen abhängig sind. Auch auf anderen Gebieten der Stadtplanung muss das Prinzip der vieldimensionalen Betrachtung und der Integration unterschiedlichster Bereiche eingehalten werden, wobei Gestaltqualität und Baukultur immer Berücksichtigung finden sollten. Beim Rückbau von für den Auto-

2.1 — Regional-, Stadt- und Quartiersentwicklung

verkehr optimierten Straßen zu verkehrsberuhigten oder Shared-Space-Zonen, ist es beispielsweise erforderlich, das historische Profil der Straße, den Rhythmus der Bebauung und die Grundprinzipien der Raum bildenden Baustruktur zu reflektieren und in die Konzeptionsfindung einzubeziehen. Selbstverständlich müssen auch Überlegungen z. B. zu Aufenthaltsqualität, zur Verbesserung des Stadtklimas, zur Artenanreicherung und zur Entsiegelung von Oberflächen einfließen. Der Umbau darf eben nicht ausschließlich unter Verkehrsaspekten nach zeitgemäßen Vorstellungen erfolgen.

Technischer Fortschritt In die Forschung zur Verbesserung der Energieeffizienz und zur Energieeinsparung wurde bisher – dies gilt es zu bedenken – verglichen mit den Forschungsmitteln, die einst in die Nuklearindustrie gesteckt wurden, noch recht wenig investiert. Wir sind heute dennoch in der Lage Passiv- oder gar Plusenergiehäuser zu bauen (Abb. 9). Gerade aber bei der energetischen Ertüchtigung des enormen Bestands fehlt es noch an der Entwicklung wichtiger Bauteile, Komponenten und Systeme, die auch gestalterischen Anforderungen gerecht werden – oder aber die Kosten für solche Elemente sind noch sehr hoch. Findet sich für eine gegebene Aufgabe zurzeit noch keine angemessene Lösung, so kann es durchaus sinnvoll sein, zu warten und zu überprüfen, ob nicht Weiterentwicklungen (z. B. Innendämmung) eine gute Lösung sein können. Das Beispiel der Abwägung von Außendämmung oder BHKW zeigt, dass es sinnvoll und notwendig ist, stets Alternativen zu entwickeln und dabei kreativ in verschiedenen Sektoren und Dimensionen zu denken, also sich nicht von vorneherein nur auf das Ziel der Verbesserung des Wärmedurchgangskoeffizienten (U-Wert) der Außenwand festzulegen. Neue technische, aber auch organisatorische oder andere Lösungen können sich abzeichnen, und es kann sogar sinnvoll sein, eine Maßnahme vorübergehend zurückzustellen, da es einfach noch keine wirklich überzeugende Lösung gibt.

Von entscheidender Bedeutung wird es zukünftig sein, nicht mehr einzelne Gebäude als Projekt zu betrachten, sondern Quartiere, Stadtteile und ganze Städte wieder als ein System zu verstehen. Dementsprechend sind auch die Herausforderungen des einzelnen Gebäudes meist durch Quartiersansätze einfacher und effektiver zu lösen. So kann beispielsweise das neu errichtete Plusenergiegebäude sein benachbartes, unter Denkmalschutz stehendes historisches Anwesen mit regenerativer und lokaler Energie versorgen und damit zu einer ausgeglichenen Quartiersbilanz beitragen. Die Komplexität der Anforderungen steigt dabei ständig. Smart Grids und der mit zunehmender Geschwindigkeit fortschreitende Technologiewandel werden hier unsere Städte fordern. Besonders wichtig ist es jedoch, in Prozessen und nicht in abgeschlossenen und perfekten Lösungen zu denken. Eine Stadt, ein Quartier und auch ein Gebäude sind immer im Wandel. Menschen, Gebäude, Bäume – alles wird älter, Neues kommt hinzu. Stadt und Quartier sind niemals fertig. Gebäude, Straßen und öffentliche Freiräume werden erweitert, umgebaut, müssen erneuert und neuen Anforderungen und Bedürfnissen angepasst werden. So wird heute unter dem Schlagwort »Resilienz« verstärkt darüber diskutiert, wie Gebäude oder ganze Städte aufgebaut sein müssen, um auf Änderungen der äußeren Rahmenbedingungen flexibel reagieren zu können. Ein Beispiel hierfür stellen etwa unter der Straße liegende begehbare Infrastrukturkanäle dar, die es ermöglichen, dass sich neue Rohre und Leitungen ohne großen Aufwand installieren lassen. Die Umrüstung auf Nachhaltigkeit ist ebenfalls als ein Prozess zu sehen, bei dem Maßnahmen in unterschiedlichen Zyklen erfolgen. Dabei muss immer auch über den zu erwartenden technischen Wandel nachgedacht werden. Feinstaub und Lärmprobleme, die ganz wesentlich durch den motorisierten Individualverkehr verursacht werden, sind heute von dringlicher Relevanz, da sie die Wohn- und Lebensbedingungen im Quartier unerträglich machen und gesundheitliche Probleme verursachen können. Deshalb mag der Einbau von Lärmschutzfenstern vielerorts unerlässlich und gesetzlich geboten sein. Elektromobilität könnte diese Problematik in absehbarer Zeit lösen. Vielleicht kann hierauf dann aber erst beim nächsten Zyklus der Fenstererneuerung reagiert und auf Lärmschutzfenster verzichtet werden. HB

41

Abb. 10

Ehemalige industrielle Großwäscherei Die Anlage in Darmstadt aus dem späten 19. und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde 1978 von einer Eigentümergemeinschaft gekauft, die zuvor als studentische Mieter die Anlage zum Wohnen und Arbeiten genutzt hatten, und zu Maisonette-Eigentumswohnungen sowie Büros umgebaut und teilrenoviert. 2010 wurden erhebliche Renovierungsarbeiten erforderlich, da Dächer undicht waren und Fenster erneuert werden mussten. Bei einem kleineren Teil der ehemaligen Großwäscherei ließ sich mit außen liegender Wärmedämmung der U-Wert der gemauerten Außenwände erheblich verbessern. Zuvor war überprüft worden, inwieweit es insbesondere an den Anschlusspunkten zu anderen Bauteilen, die nicht gedämmt werden konnten, zu Kondensatbildung kommen könnte. Teile der Dachhaut wurden völlig neu mit einer Dämmung zwischen und Holzweichfaserplatten auf den Sparren aufgebaut. Den größeren Teil der Anlage prägt jedoch Sichtmauerwerk, das noch im alten Reichsformat gemauert wurde. Kein Mitglied der Eigentümergemeinschaft konnte sich vorstellen, diese Sichtmauerwerkfassaden nun mit Wärmedämmung zu verkleiden. Nach längeren Beratungen und der Einholung von Fachgutachten wurde entschieden, stattdessen ein BHKW zu installieren. Der Mauerziegelbau mit einem hohen Schornstein ist ein Quartiersmerkmal und ein wichtiges Element des ehemals dörflichen, sozial und in seinen Nutzungen gemischten Stadtteils. Positiver Nebeneffekt dieser Maßnahme war die Gründung einer Gesellschaft, die nun den Strom des BHKW in das Netz gemäß dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) einspeist. Der erzeugte Strom wird in der Bilanz einer alternativen Gesellschaft im südlichen Schwarzwald, die seit Langem die regenerative und lokale Stromerzeugung fördert, als Ökostrom zugerechnet.

K A P ITE L 2

Heraus forderungen

2.2

Prozesse und Beteiligung Ro l f Me s serschmidt, Andreas von Zadow

2.2 — Prozesse und Beteiligung

D

ie Anforderungen an die Prozesse der Stadt- und Quartiersplanung sind durch die aktuellen Aufgaben in der Innenentwicklung (siehe Herausforderung Regional-, Stadt- und Quartierentwicklung, S. 36), beim Um- bzw. Rückbau von Städten sowie bei großmaßstäblichen Stadtentwicklungen erheblich gestiegen. Maßnahmen zum Klimaschutz und zur Entwicklung von Mobilitätskonzepten unter Berücksichtigung lokaler und regionaler Stoffkreisläufe spielen zunehmend eine bedeutende Rolle. Gleichzeitig sind soziokulturelle Aspekte wie die demografische Entwicklung, der Umgang mit sich verändernden Sozialstrukturen und neuen Formen des bürgerschaftlichen Engagements einzubeziehen. So besteht bei der Stadt- und Quartiersplanung eine erhebliche Herausforderung darin, für die hohe Komplexität, die aus diesen Ansätzen resultiert, sowie die notwendige und sinnvolle Beteiligung einer großen Anzahl von Akteuren adäquat strukturierte, integrative Planungs- und Umsetzungsprozesse zu etablieren. Das heißt, die Organisation der Planung entscheidet immer mit über die Qualität des Ergebnisses.

Integrierte Planung Um ambitionierte Quartierskonzepte z. B. in den Bereichen Energie oder Verkehr erarbeiten und umsetzen zu können, ist die Beteiligung der im lokalen Projektzusammenhang relevanten Fachplaner und Experten möglichst vom Projektstart an in einem integralen Planungsprozess notwen-

dig (Abb. 1, S. 44).1 Diese strukturellen Voraussetzungen müssen bei der Generierung einer nachhaltigen Quartiersplanung für jedes Projekt immer wieder neu erarbeitet und durchgesetzt werden. Dazu gehören u. a. die zu einem frühen Zeitpunkt notwendigen Beauftragungen der Experten und die Bereitstellung der benötigten Honorare. Oft wird nämlich bereits zu Beginn des Prozesses die Nachhaltigkeit von Planung und Ergebnis determiniert. Zudem muss den vielfältigen Wechselwirkungen zwischen den Planungsdisziplinen und -inhalten mit angemessenen Verfahren zur Konzeptentwicklung Rechnung getragen werden. Durch die wechselseitige Integration der Fachkonzepte der einzelnen Disziplinen und in Verbindung mit der klassischen Stadtplanung während des Planungsprozesses lassen sich Synergieeffekte erzielen. Erst so wird eine ganzheitliche Quartiersplanung und -umsetzung durchführbar und die ökonomische Realisierung der Nachhaltigkeitsansprüche z. B. durch multifunktionale Nutzung von Quartiersflächen und -gebäuden gerade im verdichteten innerstädtischen Kontext ermöglicht. Klassische, linear angelegte Planungsprozesse, bei denen die verschiedenen Fachplanungen nacheinander abgearbeitet werden, bieten diese wichtige Integralität in der Regel jedoch nicht. Die Stadt- und Quartiersentwicklung muss unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten langfristig angelegt werden. Bei der ökonomischen Betrachtung über einen längeren Zeitraum (Lebenszykluskostenrechnung) können beispielsweise ökologische Maßnahmen trotz höherer Investitionskosten wirtschaftlich sein. Dazu bedarf es einer möglichst umfassenden Betrachtung des Lebenszyklus des Quartiers von der Planung über die Realisierung und Nutzung bis hin zu einem späteren Weiterund Umbau. Auch über Bürgerbeteiligungsmodelle sollten bereits frühzeitig nachgedacht werden und die Bürger schon bei der Festlegung

43

1 Gaffron /Huismans/ Skala 2005; DGNB 2012

44

Kapitel 2 — Herausforderungen

Interessengruppen, Öffentlichkeit

Verwaltung

integrierte Planung

Projektentwickler, Eigentümer

Planer, Experten

Abb. 2

Abb. 1

Weitere Informationen • Blundell Jones, Peter; Petrescu, Doina; Till, Jeremy (Hrsg.): Architecture and Participation. London/New York 2005 • Ministerium für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport des Landes NRW (Hrsg.): Neue Formen der Kommunikation und Kooperation im Städtebau. Bausteine Nr. 23, Düsseldorf 2001 • Rösener, Britta; Selle, Klaus (Hrsg.): Kommunikation gestalten. Beispiele und Erfahrungen aus der Praxis für die Praxis, Kommunikation im Planungsprozess, Bd. 3. Dortmund 2005 • Salzburger Institut für Raumordnung & Wohnen (Hrsg.): Stadt im Umbau. Neue urbane Horizonte. Tagungsband zum Symposium. Salzburg 2009 • www.akbw.de/recht/vergabe-und-wettbewerb/ rpw_2008.html

2 Scholz /Selle 1996 3 Selle 2000

der Projektziele miteinbezogen werden. Die Prozessqualität in der frühen Planungsphase und bei der besonders wichtigen Festlegung des städtebaulich-funktionalen Quartierskonzepts stellen die Basis dar für einen später optimalen Betrieb und ein konstruktives bürgerschaftliches Engagement während der Nutzungsphase.

hafen Berlin Brandenburg oder die Infrastrukturplanungen für dezentrale Energieprojekte haben sowohl im politischen als auch im bürgerlichen Lager die Suche nach zielführenderen Partizipationsverfahren neu eröffnet. Das große Medieninteresse an dieser Thematik, aber auch das Potenzial neuer Medien- und Kommunikationskanäle können dazu beitragen, eine neue Verfahrensqualität für nachhaltige Planungen zu etablieren.

Bürgerbeteiligung Die gesetzlich vorgeschrieben Verfahren zur Bürgerbeteiligung leisten im Sinne einer aktiven Einbeziehung der Bürger keinen ausreichenden Beitrag, sondern haben in erster Linie legitimierende Bedeutung und wirken als demokratisches Korrektiv.2 In der Regel dienen sie dem Handling von Richtungsentscheidungen, vorwiegend mit Ja/Nein-Optionen, und fördern aufgrund dieses häufig konflikthaften Charakters gerade nicht die Zusammenarbeit oder Kooperation zwischen Beteiligten, Experten, Betroffenen und Genehmigungsbehörden. Statt einer gemeinsamen Suche nach der besten Lösung gehen die Interessenparteien oft in Stellung gegeneinander. So entsteht in der Regel eine Gewinner- und Verliererdynamik, die sich noch jahrzehntelang negativ auf das Image und die Umsetzung einer Planung auswirkt. Entsprechend herrscht eine zunehmende Frustration darüber, dass gesetzliche Instrumentarien für eine kompetente Diskussion und Suche nach plausiblen Lösungen zu kurz greifen. Großprojekte wie Stuttgart 21, der Flugroutenstreit beim Großflug-

Beteiligungsverfahren Die Herausforderung liegt also in der Anwendung von Verfahren, die dazu geeignet sind, einen fachlichen Diskurs aller Beteiligten mit dem Schwerpunkt auf Informationsaustausch, Kreativitätsanregung und Konsensorientierung gezielt zu fördern, damit auf der Suche nach integrierten Lösungen im Ergebnis ein Höchstmaß an Plausibilität für eine Planung erreicht werden kann. Dies dient sowohl einer gezielten Qualifizierung der Planungen als auch einer Verringerung des Umsetzungsrisikos und der Vergrößerung der Akzeptanz. Ziel ist es, »Win-Win«-Situationen zu suchen und zu entwickeln, die positive Effekte für möglichst viele verschiedene Beteiligte haben.3 Dazu gibt es keine Blaupausen, zumal die Methoden situationsbezogen angepasst werden müssen. Allerdings liegen bereits vielfältige ermutigende Erfahrungen vor, dass diese Aufga-

2.2 — Prozesse und Beteiligung

Abb. 4

Abb. 3

benstellung realistisch bewältigt werden kann. Eine besondere Aufgabe bei der Durchführung kreativer und kooperativer Verfahren fällt dabei einer vermittelnden Moderation und/oder dem »neutralen« Planungsteam zu. Deren Rolle ist es – in weit umfangreicherem Maße als bei den gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren –, einen breiten Austausch zwischen allen Beteiligten herzustellen und zu fördern.4 In einer offenen Entwicklungssituation und bei der Diskussion neuer Lösungsansätze sind zunächst die Vorstellungen und Grundsätze der beteiligten Seiten zu akzeptieren, aber auch regelmäßig im Verlauf des Verfahrens zu hinterfragen. Ein solches Verfahren zu einem tatsächlich kreativen und transparenten Prozess zu machen, der gegenseitige Wertschätzung zwischen den Beteiligten, ein sachlich akzeptiertes Fundament, zielführende Ergebnisse und neue Koalitionen zur Projektumsetzung produziert – darin liegt die eigentliche praktische Herausforderung. Denn nur so lässt sich eine hohe Prozessqualität erreichen. Klassische Wettbewerbsverfahren genügen diesen Anforderungen nicht. Mehrstufige Wettbewerbsverfahren gehen in die richtige Richtung, fördern den Dialog, nicht aber eine wirkliche Zusammenarbeit. Für dauerhaft nachhaltige Quartiere und Planungskonzepte müssen kreative, konstruktive und kooperationsfördernde Verfahren eingesetzt werden wie beispielsweise Planungs-Charrettes im rein fachlichen Kontext oder Perspektivenwerkstätten, wenn Öffentlichkeitsbeteiligung beabsichtigt ist.5 Diese können aber durchaus sinnvoll mit verschiedenen Formen klassischer Wettbewerbsverfahren verknüpft werden und so

45

einen entscheidenden Lösungsbeitrag zur Quartiersentwicklung liefern.6 In diesen Verfahren zur Konzeptentwicklung sind die gewünschten Nachhaltigkeitskriterien bei der Definition der Projektziele, der Auslobung und der weiteren Umsetzung zu berücksichtigen. Dies bedeutet, dass die dafür notwendigen Experten und Fachleute sowohl auf der Planungsseite wie auch auf der Seite der Entscheidungsträger kompetent vertreten, einbezogen bzw. beteiligt werden müssen. Besonders gilt dies für solche nachhaltigen Planungen, die gezielt innovative Zielsetzungen verfolgen, indem sie mit der konzeptionellen Aufgabenstellung für die Region oder die Beteiligten Neuland betreten. Oft bekommen solche Vorhaben den Charakter von Pionierprojekten, bei denen man sich auf eine technisch, organisatorisch oder sozial experimentelle Umsetzung in die Praxis einlässt. Gerade bei diesen wirklich neuartigen Konzepten sind die Anforderungen und Hürden im Vergleich zu vielfach erprobten Planungen und Realisierungen erheblich größer. Hier muss mit einer höheren Komplexität, einer größeren Anzahl von Akteuren und einem größeren Abstimmungsbedarf umgegangen werden. Das verlangt von vielen Beteiligten auch in finanzieller und politischer Hinsicht mehr Risikobereitschaft. Dieses Bauen auf »unsicherem Grund« erfordert also einen umso gründlicheren Vorbereitungsprozess, ein besonders umsichtiges Vorgehen und eine möglichst breit aufgestellte Trägerschaft.7 Insofern gilt auch und gerade in diesen Fällen: Der methodisch entscheidende Ansatz, um nachhaltige Quartiere zu realisieren, ist eine hohe Prozessqualität.

Abb. 1 Zusammenarbeit bei einer integrierten Planung Abb. 2 moderierte Planungsworkshops ermöglichen Dialog und Ideenaustausch zwischen Experten und betroffenen Bürgern anhand der konkreten Planung, St. Clement’s Hospital, London (GB) 2012 Abb. 3, 4 offene Planungswerkstatt zum Thema Stadtentwicklung im Rahmen der Erstellung eines integrierten städtebaulichen Entwicklungskonzepts (ISEK), Marktoberdorf

4 von Zadow 1997; Wates 2008 5 Ley/Weitz 2009 6 von Zadow 2009 7 Thompson/von Zadow 2009, S. 48

K A P ITE L 2

Heraus forderungen

2 .3

Mensch und Soziokultur

2.3 — Mensch und Soziokultur

47

2 .3.1

Soziales Gefüge Ti l m an Harlander

S

oziale Stadt- und Quartierspolitik hat in europäischen Städten angesichts der Herausforderungen des demografischen Wandels, der Integrationsaufgaben aufgrund wachsender Migrationsströme, aber auch zunehmender wirtschaftlicher Ungleichgewichte und einer sich öffnenden Schere zwischen Arm und Reich in den letzten Jahren einen herausgehobenen Stellenwert erlangt.1 In der im Mai 2007 verabschiedeten »Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt« unterstreichen die beteiligten EU-Minister, dass wirtschaftliche, ökologische und soziale Dimensionen der Nachhaltigkeit »gleichzeitig und gleichgewichtig« zu berücksichtigen seien.2 Es sind vor allem der soziale Zusammenhalt (social cohesion) und der gewünschte soziale Ausgleich, die sich insbesondere in den europäischen Randländern, aber auch innerhalb Deutschlands in den benachteiligten Regionen und Quartieren zunehmend schwerer erreichen lassen. Ähnlich wie in den anderen mittel- und nordeuropäischen Wohlfahrtsstaaten haben allerdings in Deutschland Armut, Ausgrenzung und Segregation ein (noch) vergleichsweise geringes Ausmaß.

Sozialer und wirtschaftlicher Strukturwandel Bisher nicht wirklich zu ermessen ist, welche so zialen und sozialräumlichen Folgen der gegenwärtige Übergang von der Industriegesellschaft zur Wissens- und Informationsgesellschaft

langfristig nach sich ziehen wird. Wechselnde, oft prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Patchwork-Biografien lösen Vollbeschäftigung und klassische industriegesellschaftliche Erwerbsbiografien ab – der »flexible Mensch«3 ist gefordert. Die neuen Unsicherheiten erfassen dabei auch die gesellschaftliche Mitte in Deutschland – sozialer Abstieg und Deklassierung »sind keine Rand- und Ausnahmephänomene mehr, sondern lassen sich breit beobachten und betreffen immer häufiger auch Angehörige der Mittelschicht«.4 Regional verläuft der soziale und wirtschaftliche Strukturwandel höchst ungleichgewichtig. Wachsende und schrumpfende bzw. stagnierende Räume weisen mittlerweile extrem divergierende Dynamiken und Problemlagen auf. Während die Städte in stark deindustrialisierten Regionen wie den neuen Bundesländern, dem Ruhrgebiet oder dem Saarland mit sinkenden Einwohnerzahlen, hohem Wohnungsleerstand und anhaltenden Entmischungstendenzen zu kämpfen haben, sind für die Städte der Wachstumsregionen mit ihrer gegenläufigen Aufwertungsdynamik Ansiedlungsdruck, Flächenknappheit und boomende Wohnungsmärkte typisch. Einheitliche Stadtentwicklungs- und Quartierspolitiken lassen sich vor einem solchen Hintergrund nicht verfolgen. Anders als zunächst vielfach erwartet,5 führt der Übergang zur Informations- und Wissensgesellschaft in sozialräumlicher Hinsicht nicht zu einem allgemeinen Bedeutungsverlust der Städte, zu Dezentralisierung und Dispersion. Im Gegenteil, vieles spricht dafür, dass gegenwärtig die genuin städtischen Standortvorteile eine neue, auch ökonomisch begründete Wertschätzung und Bedeutung erfahren. Nach Jahrzehnten der Suburbanisierung zeige sich in den westlichen Industrieländern in einem eindrucksvollen »urban turnaround« eine zunehmend deutlichere »Herausbildung einer neuen Form städtischer Zentralität und einer neuen Attraktivität der Stadt«.6

1 2 3 4 5 6

BBR 2007 BMVBS 2013, S. 1 Sennett 1998 Conze 2009, S. 933 Cairncross 1997 Läpple 2008, S. 25

48

Kapitel 2 — Heraus forderungen

7 Florida 2002 8 Statistisches Bundesamt 2011 9 Statistisches Bundesamt 2009 10 Statistisches Bundesamt (31.05.2013) 11 Statistisches Bundesamt (14.01.2013) 12 Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung 2011 13 Kuhn 2010 14 Hannemann 2010 15 Beck 1994 16 Harlander 2010

Millionen Personen

mittlere Bevölkerung Obergrenze mittlere Bevölkerung Untergrenze 90 85 80 75 70 65 60 0 1950

2000

2050

Abb. 1

Abb. 1 Bevölkerungsentwicklung 1950 – 2060, ab 2009 nach der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts Abb. 2 Entwicklung der Geburten- und Wanderungssalden in Baden-Württemberg 1990 –2011 Abb. 3 Status-Quo-Szenario Pflegebedürftige in Deutschland 2005 – 2030 [in Millionen]

Insbesondere die sogenannte creative class,7 also diejenigen, die im Bereich wissens- und kulturbasierter Dienstleistungen tätig sind wie Softwareentwickler, Medienleute, Wissenschaftler und deren Umfeld seien auf die soziale und räumliche Dichte des »privilegierten Innovationsfelds« innerstädtischer Quartiere mit seinen vielfältigen urbanen Milieus angewiesen und brächten damit neue städtische Standortkonzentrationen hervor.

Demografischer Wandel Wir werden weniger – neue und für die Stadtentwicklung einschneidende Herausforderungen gehen von den (regional allerdings sehr stark divergierenden und zeitversetzten) allgemeinen demografischen Schrumpfungsperspektiven aus.8 Nach der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamts9 ist vor allem aufgrund der seit ca. 40 Jahren anhaltend niedrigen Geburtenrate (ca. 1,4 statt der zum einfachen Ersatz der Elterngeneration notwenigen 2,1 Kinder je Frau) bis 2060 deutschlandweit mit einem Rückgang der Bevölkerung von gegenwärtig 80,2 Millionen10 auf 65 bzw. 70 Millionen Menschen zu rechnen (Abb. 1). Dass die Bevölkerungsprognosen de facto mit erheblichen Unsicherheiten behaftet sind, wird an den aktuellen Schwankungen der Zuwanderung aus dem Ausland deutlich: Während die Wanderungssalden generell seit 2004 weit hinter früheren Margen zurückblieben und 2008 sowie 2009 sogar negative Werte angenommen haben, schnellten die Zahlen im Kontext der EU-Osterweiterung, aber auch der EU-Schuldenkrise 2011 und 2012 so weit empor, dass gegenwärtig – erstmals seit Mitte der 1990er-Jahre – das erhebliche Geburtendefizit wieder mehr als ausgeglichen wird.11 Für die Prognose des künftigen Wohnungsbedarfs und der vorbereitenden Baulandmobilisierung und -entwicklung auf Stadt- und Quartiersebene ist ohnehin die Entwicklung der Zahl der Haushalte, also der eigentlichen Nachfrager auf den Wohnungsmärkten, bedeutsamer als die Zahlen der Bevölkerungsstatistik. Hier ist aufgrund der auch zukünftig zu erwartenden Tendenz zur Verkleinerung der Haushalte selbst bei abnehmenden Bevölkerungszahlen zunächst noch mit weiterem Wachstum zu rechnen. Bezieht man darüber hinaus

zusätzliche Nachfragekomponenten mit ein wie eine wachsende Eigentumsquote, die Alterung, Wohnflächenzuwächse etc., dann erscheinen, wie kürzlich das Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung12 in einer Studie für BadenWürttemberg herausgestellt hat, im Zeitraum bis 2030 auch aus diesen Gründen ganz erhebliche Neubauleistungen erforderlich. Dies umso mehr, als der allgemeine Zuwanderungsboom nach vorheriger Stagnation und langem Rückgang in den letzten Jahren teilweise wieder zu deutlichen Bevölkerungszuwächsen geführt hat (Abb. 2). Wichtiger noch als die quantitativen Bedarfsschätzungen sind die qualitativen Veränderungen, die sich aus dem sozialen Wandel mit der Verkleinerung der Haushaltsgrößen (in Deutschland durchschnittlich auf nur noch etwa zwei Personen) ergeben und große Herausforderungen für eine sozial nachhaltige Quartierspolitik mit sich bringen. Der typische städtische Haushalt wird nicht mehr durch den klassischen Familienhaushalt repräsentiert, sondern durch Ein- und Zweipersonenhaushalte, die mittlerweile in den Großstädten bereits ca. 80 % ausmachen. Noch in den 1950er- und 60er-Jahren standen allein Familienhaushalte für Normalität, andere Wohnweisen galten als Sonderwohnformen.13 Inzwischen hat sich mit dem anhaltenden Wachstum der Zahl der Singles, Alleinerziehender, (nicht)ehelicher Lebensgemeinschaften ohne Kinder, Wohngemeinschaften und Ähnlichem eine Pluralisierung der Haushaltstypen mit je eigenen Ansprüchen an das Wohnen und das urbane Umfeld Bahn gebrochen, die diese Verhältnisse regelrecht umkehrt.14 Die Ursachen für diese Entwicklung sind komplex und wurzeln u. a. in der Verlängerung der Ausbildungszeiten, dem Bedeutungsverlust der Ehe und erhöhten Scheidungsraten, dem allgemeinen Wertewandel und nicht zuletzt auch der steigenden Lebenserwartung. Befördert, begleitet und überlagert wird dieser Prozess der Pluralisierung von einer zunehmenden Individualisierung, in deren Gefolge sich die Lebensstile unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen immer weiter ausdifferenzieren.15 Wir werden älter – nicht wenige Planer und Kommunalpolitiker sehen in der Alterung auch in stadt- und quartiersentwicklungspolitischer Hinsicht eine der größten Herausforderungen des demografischen Wandels.16 Tatsächlich geraten durch die demografische Alterung, also die gegenläufige Entwicklung von Bevölkerungswachstum bei den Älteren und Schrumpfung bei den Jüngeren (üblicherweise durch den sogenannten Altenquotienten ausgedrückt), nicht nur die sozialen

2.3 — Mensch und Soziokultur

Tausend Personen

Wanderungssaldo

49

Geburtensaldo

220 200 180 160 140 120 100 80 60 40 20 0 -20 1990

1992

1994

1996

1998

2000

2002

2004

2006

2008

2010

Abb. 2

Mittlerweile haben in Deutschland etwa 20 % der Bevölkerung – ca. 16 Millionen Menschen – einen Migrationshintergrund, etwa 7,2 Millionen davon sind Ausländer ohne deutschen Pass. Dass Deutschland – jenseits der (allzu) lange gepflegten Gastarbeiter- und Rückkehrer-Perspektiven – längst zum Einwanderungsland geworden ist, hat mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000 und durch das Zuwanderungsgesetz von 2005 auch rechtliche Anerkennung gefunden. Den Städten und Quartieren kommt in der Praxis der Integrationspolitik eine Schlüsselrolle zu.18 Es sei angemerkt, dass global gesehen die Zahlen der Schrumpfung zu relativieren sind. Das Thema Schrumpfung und Stagnation trifft bisher nur auf die entwickelten Länder zu. In Asien, Afrika und Lateinamerika dagegen steigen die Bevölkerungszahlen noch stark. Gemäß Prognosen der UN wird die Bevölkerung weltweit bis 2050 voraussichtlich auf 9,6 Milliarden Menschen anwachsen. Global dauert es folglich wohl noch lange, bis wir von Schrumpfung sprechen können. Die Prozesse werden aber auch dort langfristig die gleichen sein, vermutlich sogar mit deutlich stärkerer Ausprägung. Die Einkindpolitik in China z. B. führt schon heute zu ersten Ansätzen einer Überalterung und folglich in absehbarer Zeit auch zur Schrumpfung.

Sozialer Zusammenhalt – Segregation Nicht erst mit dem Blick auf die Nachbarländer, auf die brennenden Banlieues in Frankreich 2005 und 2007 oder die Unruhen in England 2011, hat

männlich Pflegebedürftige

Sicherungssysteme in eine gefährliche Schieflage, sondern es erwächst hieraus auch die Herkulesaufgabe eines altengerechten Umbaus des Wohnungsbestands und der Bewältigung des steigenden Pflegeaufwands (Abb. 3). Nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamts ist bis 2060 mit einer deutlichen Steigerung der Lebenserwartung (um sechs bis sieben Jahre) und mit mehr als der Verdoppelung der Zahl der Hochaltrigen über 80 Jahre (von gegenwärtig ca. vier Millionen auf über neun Millionen) zu rechnen – um zwei besonders aussagekräftige Zahlen zu nennen. Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt damit immens, während die Akzeptanz traditioneller Heimunterbringung weiter sinkt und zugleich die Tragfähigkeit familiärer Netzwerke, die die Pflegeleistungen bislang noch überwiegend erbracht haben, immer weiter abnimmt. Mit der Anpassung der Wohnungen an die Anforderungen der Barrierefreiheit,17 der Verbesserung der verschiedenen Formen des betreuten Wohnens, der Initiierung innovativer generationenübergreifender Wohnprojekte und der Einrichtung von ambulant betreuten Wohngemeinschaften steht Deutschland noch weitgehend am Anfang. Die altengerechte Ausstattung ist nur eine der Bedingungen, dass ältere Menschen in ihrer angestammten Wohnumgebung verbleiben können. Die andere ist die entsprechende Anpassung des Wohnumfelds und eine qualitativ hochwertige – und bezahlbare – Versorgungssicherheit im Quartier. Konsens besteht inzwischen darüber, dass es in der Quartiersplanung grundsätzlich nicht um Sondermaßnahmen für bestimmte Altersgruppen, sondern übergreifend im Sinn eines Universal Designs um die Schaffung menschenwürdiger und menschengerechter Lebensräume geht. Wir werden »bunter« – auch die erfolgreiche Integration der Zugewanderten ist eine der großen stadt- und sozialpolitischen Zukunftsaufgaben.

weiblich

insgesamt

4 3 2 1 0 2005 2010

2015

Abb. 3

17 Jocher/Loch 2011 18 Gesemann/Roth 2009

2020

2025 2030

50

Kapitel 2 — Heraus forderungen

Abb. 4 19 Stadtbauwelt 196/2012 20 Herfert /Osterhage 2012, S. 107 21 BBSR 2011, S. 3 22 Harlander et al. 2007 23 Holm 2010 24 Kuhn 2012 25 Jung 2012, S. 84 26 Harlander /Kuhn / Wüstenrot Stiftung 2012

Weitere Informationen • Birg, Herwig: Die ausgefallene Generation. Was die Demographie über unsere Zukunft sagt. München 2006 • Bischoff, Ariane; Selle, Klaus; Sinning, Heidi: Informieren, Beteiligen, Kooperieren. Kommunikation in Planungsprozessen. Dortmund 2007 • Brake, Klaus; Herfert, Günter (Hrsg.): Reurbanisierung. Materialität und Diskurs in Deutschland. Wiesbaden 2012 • Gehl, Jan: Leben zwischen Häusern. Konzepte für den öffentlichen Raum. Berlin 2011 • Gesemann, Frank; Roth, Roland (Hrsg.): Lokale Integrationspolitik in der Einwanderungsgesellschaft. Migration und Integration als Herausforderung von Kommunen. Wiesbaden 2009 • Häußermann, Hartmut; Läpple, Dieter; Siebel, Walter (Hrsg.): Stadtpolitik. Frankfurt am Main 2008 • Hradil, Stefan: Die Sozialstruktur Deutschlands im internationalen Vergleich. Wiesbaden 2006 • Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD): Divided We Stand. Why Inequality Keeps Rising. Paris 2011 • Siebel, Walter (Hrsg.): Die europäische Stadt. Frankfurt am Main 2004 • Wehler, Hans-Ulrich: Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland. München 2013

die Sorge um den sozialen Zusammenhalt in den Städten bzw. um das viel zitierte Auseinanderdriften der Stadtgesellschaften auch in Deutschland einen zuvor ungeahnten Stellenwert erhalten.19 Die OECD-Studien sowie die »Armuts- und Reichtumsberichte« der Bundesregierung bestätigen die sich zunehmend öffnende Schere zwischen Arm und Reich nach Einkommen und Vermögen, die inzwischen auch in Deutschland ihre nicht mehr zu übersehenden sozialräumlichen Korrelate gefunden hat. Im Extremfall stehen auf der einen Seite die mehr oder weniger abgeschlossenen, gegenwärtig stark expandierenden Enklaven des urbanen Luxuswohnens, auf der anderen Seite die sozial einseitig belegten »überforderten« Nachbarschaften vieler Großwohnsiedlungen der 1960er- und 70er-Jahre sowie noch nicht aufgewerteter, vernachlässigter Altbauquartiere. Wirkliche »gated communities« wie den Aachener Barbarossapark gibt es hierzulande allerdings nur in einer verschwindend geringen, wenn auch durch die Medien stark beachteten Zahl. Anders als in den USA, China, Südamerika, Südafrika oder den osteuropäischen Transformationsstaaten ist die Anlage ausgedehnter ab geschlossener Wohnkomplexe wohnkulturell wie planungsrechtlich mit den deutschen Traditionen wenig kompatibel und bislang auch kaum gewünscht. Aber ähnlich wie in einigen unserer europäischen Nachbarländer expandieren auch in Deutschland neue Formen eines durch architektonische und städtebauliche Mittel abgeschirmten und sozial oftmals weitgehend homogenen Wohnens (Abb. 5). Die neuen Luxusprojekte sind Teil einer allgemeinen, nach Jahrzehnten der Suburbanisierung kaum mehr für möglich gehaltenen, aber inzwischen auch empirisch deutlich belegbaren Renaissance der Städte. Selbst wenn Ursachen, Stabilität und

Verlaufsformen des Trendwechsels im Einzelnen unter Wissenschaftlern immer noch umstritten sind, so fassen die Stadtforscher Günter Herfert und Frank Osterhage die Ergebnisse ihrer Untersuchung von 78 deutschen Stadtregionen dahingehend zusammen, dass man »von einem neuen Leittrend der stadtregionalen Entwicklung in Deutschland sprechen [kann]. Die Reurbanisierung hat demnach die Suburbanisierung als dominantes Raummuster der 1990er-Jahre weitestgehend abgelöst.«20 Bei näherem Hinsehen erweist sich die Reurbanisierung allerdings keineswegs als stadtentwicklungspolitischer Selbstläufer, sondern als ein höchst selektiver Prozess, an dem Städte je nach ökonomischer Stärke, großräumiger Lage und nicht zuletzt aufgrund ihrer jeweiligen Boden- und Wohnungspolitik in sehr unterschiedlicher Weise teilhaben.21 Das neue Stadtwohnen22 ist quantitativ erfolgreich, doch in Wachstumszentren wie München, Hamburg, Frankfurt am Main oder Berlin scheint der Preis hierfür in sozialer Hinsicht durch die damit einhergehende Fragmentierung des Stadtraums und die tendenziell flächenhafte Verdrängung der auf niedrige Mieten angewiesenen Bevölkerungsgruppen hoch.23 Während die Städte in den Schrumpfungsregionen mit Haltestrategien um die verbliebenen Einwohner kämpfen, droht in den Boomregionen mit den Preissteigerungen, die die Renaissance des Stadtwohnens begleiten, und Gentrifizierungs- und Verdrängungsprozessen eine neuerliche Vereinseitigung der Sozialstrukturen – diesmal in umgekehrter Richtung.24 Entwickelt sich, so die seit einigen Jahren auch zunehmend von den Medien aufgeworfene neue soziale Frage in den Städten, das Stadtwohnen zu einer Domäne der Reichen und Superreichen, in der für Arme, ja selbst für klassische mittelständische Familien kein Platz mehr sein wird? »Stadtluft macht arm«, so titelte der Spiegel im November 2012 und konstatierte: »Deutsche Metropolen erleben einen beispiellosen Immobilienboom. Gebaut werden meist Luxusobjekte, bezahlbarer Wohnraum wird Mangelware. Jetzt treibt die Knappheit die Mieten in die Höhe – und die Bürger aus den Zentren.«25 Offensichtlich geht es in den wachstumsstarken Städten im Umgang mit den Bestandsquartieren um eine nicht leicht zu justierende Balance: Die Aufwertung degradierter Altstadtquartiere ist ja grundsätzlich erwünscht und eröffnet mit dem Zuzug einkommensstärkerer Gruppen zumindest anfänglich neue soziale Mischungsoptionen,26 muss aber, wie etwa der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude wiederholt unterstrichen hat, durch den Ein-

2.3 — Mensch und Soziokultur

satz aller verfügbaren Schutzinstrumente flankiert werden, um unerwünschte soziale Folgen wenigstens abzuschwächen. Darüber hinaus gilt es, auch weiterhin die überforderten Nachbarschaften der Großsiedlungen mit ihren städtebaulichen und infrastrukturellen Defiziten sowie die oft durch einen überproportionalen Anteil an Migranten, Arbeitslosen und Hartz-IV-Empfängern geprägten einseitigen Sozialstrukturen behutsam zu stabilisieren und aufzuwerten. Das 1999 gestartete Bund-LänderProgramm »Soziale Stadt« mit über 600 Programmgebieten hat sich hierbei zum wichtigsten städtebaulichen Instrument in diesem Bereich entwickelt, droht aber durch eingeleitete finanzielle Kürzungen gerade bei den sozial besonders effektiven nicht investiven Maßnahmen in den Bereichen Bildung, Beschäftigung, Integration und Teilhabe seine Wirkungskraft zumindest teilweise einzubüßen.

Lokale Identität und öffentlicher Raum Eine der großen Herausforderungen der Gegenwart besteht in der Sicherung einer unverwechselbaren Stadt- und Quartiersidentität, die für die Stadtbürger eine je eigene »Heimat« stiften kann. Bestandteile dieser Identität sind gleichermaßen der historische Stadtgrundriss, die Bauten und Räume einer Stadt wie das gesamte Gewebe aus Geschichte, Tradition, kollektiver Erinnerung, Selbstbildern und Mentalitäten – all das, was mit einem neueren Begriff als »Eigenlogik der Städte« bezeichnet wird.27 Eben diese Unverwechselbarkeit ist in der Gegenwart durch die Prozesse eines uniformen Umbaus der Städte, der die kulturellen Unterschiede nivelliert, massiv gefährdet. So entstehen mit den überall gleichartigen, zum Teil privatisierten Räumen der Flughäfen, Einkaufszentren und filialisierten Fußgängerzonen »NichtOrte«28 ohne Geschichte und Identität. Für eine behutsame, nachhaltige Stadtentwicklungspolitik und Stadtbildpflege geht es in der Bewahrung des kulturellen und baulichen Erbes um den schwierigen Balanceakt zwischen konservierendem Denkmalschutz und einer »qualifizierten Weiterentwicklung«29 von Stadt. Ähnlich diffizil ist bei der Planung und Gestaltung der

öffentlichen Räume insbesondere in den historischen Altstädten der konfliktträchtige Interessenausgleich zwischen dem Wunsch nach Inszenierungen, Festivals, Stadtevents und dem mit der Wohnnutzung verknüpften Ruhebedürfnis der Anwohner. Ein solcher Interessenausgleich zwischen einer Übernutzung und möglicherweise auch einer Unternutzung der Stadt ist nur im Dialog mit allen Beteiligten – Anwohnern, Gewerbetreibenden und öffentlicher Hand – erreichbar: »Eine bürgerschaftlich akzeptierte und mitgetragene Aufwertung des öffentlichen Raums ist nicht möglich ohne Partizipation«, resümieren die Autoren einer Studie zu Projekten und kommunalen Strategien einer Aufwertung der öffentlichen Räume in Baden-Württemberg.30 Generell erfährt der öffentliche Raum als Erweiterungsfläche des privaten Wohnens, als Erholungsfläche und als Kommunikations- und Begegnungsraum für Menschen aller Altersgruppen heute wieder eine starke und wachsende Beachtung. Ein gelungenes, mit dem Deutschen Städtebaupreis 2012 ausgezeichnetes Beispiel hierfür ist die Neugestaltung des Georg-Büchner-Platzes in Darmstadt (Abb. 4). Mit der Schaffung eines urbanen, kommerzfreien und öffentlich bespielbaren Platzes gelang es nicht nur, für das Staatstheater ein attraktives Entree zu schaffen, sondern auch die verloren gegangene städtebauliche Verbindung zur Innenstadt wiederherzustellen. Die überkommene starre Trennung von öffentlichen und privaten Räumen wird zunehmend obsolet. Größte Bedeutung gewinnen die transitorischen Zonen des Übergangs von innen und außen, von privaten Innen- und öffentlichen Freiräumen, also Fassaden und Erdgeschosszonen, aber auch etwa (halb-)öffentliche Innenhöfe oder temporär zwischengenutzte Lückengrundstücke und Brachen. Gut funktionierende Sozialräume entstehen immer dann, wenn Spielräume zur Aneignung und kreativen Selbstgestaltung bestehen und eine Nutzerbeteiligung stattgefunden hat. Freie ungehinderte Zugänglichkeit und kommunikative Qualitäten des öffentlichen Raums haben dabei zweifellos eine Schlüsselfunktion für den sozialen Zusammenhalt und die (nachbarschaftliche) Identitätsbildung im Quartier. Ebenso wichtig ist der Aufbau und die Sicherung bezahlbarer Zugänglichkeit insbesondere zu Bildungs-, Kultur-, Gesundheits-, Versorgungs-, Freizeit- und Serviceeinrichtungen auf Quartiersebene, die all den Bewohnergruppen eine gleichberechtigte Teilhabe am städtischen Leben ermöglichen, die sich über den Markt aus eigener Kraft nicht in angemessener Weise versorgen können.

51

27 Löw/Terizakis 2011; zur Kritik Häussermann 2011 28 Augé 1994 29 Kaltenbrunner/Ripp 2013, S. 100 30 Kuhn/Dürr/Simon-Philipp 2012, S. 202

Abb. 4 Neugestaltung Georg-Büchner-Platz, Darmstadt (D) 2010, Lederer + Ragnarsdóttir + Oei Abb. 5 abgeschirmtes Wohnen, Rosenpark, Stuttgart-Vaihingen (D) 2006, Leon Wohlhage Wernik Architekten

Abb. 5

52

Kapitel 2 — Heraus forderungen

2 .3. 2

Lebensstile und Verhaltensweisen Mar io Schneider

1 2 3 4

Weltbank 2010, S. 3 Debiel et al. 2010, S. 262f. Campbell 2007, S. 78 Beyers et al. 2010, S. 19f.

In allen Kulturen stehen die Menschen in Wechselwirkung mit der Natur und verändern diese in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichen Folgen. Mit der industriellen Revolution, insbesondere durch den Einsatz fossiler Brennstoffe seit der Erfindung der Dampfmaschine im 18. Jahrhundert, hat diese Entwicklung exponentiell zugenommen. Der in den hoch entwickelten Ländern extrem hohe Konsum von Energie, Wasser, Nahrungsmitteln und Konsumgütern sowie der wachsende Anspruch auf Wohnflächen und Mobilität haben durch die globalisierte Ökonomie nicht nur in diesen Ländern, sondern weltweit teilweise weitreichende Folgen. Ein Sechstel der Weltbevölkerung in einkommensstarken Ländern ist für fast ein Drittel der Treibhausgase in der Atmosphäre verantwortlich und zeichnet sich durch einen sehr ressourcen- und energieintensiven Lebensstil aus.1 Konsum in Mitteleuropa führt z. B. in Südamerika oder Afrika zu Abholzungen oder Landschaftszerstörung für die Rohstoffgewinnung. Damit schaden die Menschen durch ihre Konsumgewohnheiten und Lebensstile der Umwelt immer mehr. Dies gilt besonders für die Bevölkerung der westeuropäischen Industrienationen, trotz eines dort allgemein hohen Umweltbewusstseins und trotz des Wissens um den Klimawandel. Die wechselseitigen Beziehungen zwischen menschlichem Verhalten, Umwelt und Klima sind komplex und vielfältig. Erwiesenermaßen hängt der Klimawandel stark mit dem Verbrauch fossiler Brennstoffe zusammen.2 Die Klimaerwärmung wirkt sich dann wiederum auf die Verfügbarkeit anderer natürlicher Ressourcen wie etwa Wasser und die Produktion von Nahrungsmitteln aus. Wir leben nach Auffassung mancher Wissenschaftler bereits heute im Anthropozän, einem neuen Erdzeitalter, in dem die Erde durch anthropogene, also vom Menschen verursachte Einflüsse, geprägt ist. Durch das Wachstum der

Weltbevölkerung verstärkt sich der Einfluss der Menschheit auf die Umwelt so noch weiter. In Zukunft müssen nicht nur quantitativ mehr Menschen versorgt werden, auch die Zahl der Menschen, die einen ressourcenintensiven Lebensstil pflegen, wie er in den heutigen Industrienationen bereits üblich ist, wird steigen.3

Einfluss auf den ökologischen Fußabdruck Der Einfluss verschiedener menschlicher Verhaltensweisen bzw. Lebensstile auf die Umwelt lässt sich mit dem sogenannten ökologischen Fußabdruck darstellen. Dieser ermöglicht es, das Angebot und die Nachfrage an Biokapazität innerhalb eines räumlichen Bereichs direkt zu vergleichen. Die Biokapazität gibt an, wie viel biologisch produktive Fläche zur Ressourcengewinnung sowie zum Abbau von Abfallstoffen und CO2 zur Verfügung steht. Der Flächenverbrauch an Biokapazität, also der ökologische Fußabdruck, wird dabei in globalen Hektar (gha) angegeben.4 Um beispielsweise den jährlichen ökologischen Fußabdruck eines Landes zu ermitteln, werden der Verbrauch und die Inanspruchnahme an biologisch produktiven Flächen mit der zur Verfügung stehenden Biokapazität des Landes verglichen. Dabei finden sowohl Flächen zur Entnahme von erneuerbaren Ressourcen wie landwirtschaftlichen Erzeugnissen Berücksichtigung, als auch der Verbrauch von biologisch produktiven Flächen durch Versiegelung oder Abbau nicht erneuerbarer Rohstoffe. Die Fläche der zur Verfügung stehenden Biokapazität sollte im Idealfall der

2.3 — Mensch und Soziokultur

Anzahl der Erden

ökologischer Fußabdruck

moderates Business as Usual

53

zügige Reduktion

2,5

2

1,5

1

0,5

0 0

1970

1980

1990

2000

2010

2020

2030

2040

2050

Abb. 1

Fläche des ökologischen Fußabdrucks entsprechen oder diese sogar übersteigen. Zurzeit verhält es sich allerdings genau umgekehrt. Der ökologische Fußabdruck der Menschheit übersteigt die vorhandene Biokapazität bei Weitem. Abb. 1 zeigt die Entwicklung des weltweiten ökologischen Fußabdrucks von 1960 bis 2007 sowie mögliche zukünftige Entwicklungen. Sein starkes Wachstum hängt vor allem mit dem steigenden Ausstoß von Treibhausgasen zusammen. Bereits heute ist das in die Atmosphäre entlassene CO2 für über 50 % des ökologischen Fußabdrucks verantwortlich.5 Im Durchschnitt stünden jedem Erdbewohner – ausgehend von einer Erdbevölkerung von sieben Milliarden Menschen – 1,8 gha zur Erzeugung von Nahrung, Energie und Konsumgütern sowie zum Abbau von CO2 zur Verfügung;6 rein rechnerisch wären es pro Mensch sogar 2,1 gha. Diese Fläche reduziert sich jedoch dadurch, dass andere, für den Menschen nützliche, aber nicht direkt von ihm genutzte Arten des Ökosystems (z. B. Insekten für die Bestäubung von Blüten, Bäume zur Sauerstoffproduktion) einen Teil der biologisch produktiven Fläche zum Leben benötigen – ein Großteil dieser Arten macht unser Leben auf der Erde überhaupt erst möglich.7 Selbstverständlich variiert die Biokapazität der einzelnen Länder stark, so steht den Bewohnern Brasiliens pro Kopf wesentlich mehr Biokapazität zur Verfügung, als den Bewohnern Saudi-Arabiens. Die Lebensweisen der Menschen bestimmen, wie stark ihr Einfluss auf ihre Umwelt ist. Ein durchschnittlicher Deutscher benötigt (bei seinem heutigen Lebensstil) 4,9 gha, ein Inder 0,8 gha, der weltweite Durchschnitt liegt bei 2,2 gha (Abb. 2). Um den menschlichen Einfluss auf den Klimawandel zu verringern, wäre es notwendig, die CO2-Emissionen im globalen Durchschnitt auf 2 t pro Kopf und Jahr zu reduzieren.8 Innerhalb Deutschlands steht jedem Bürger rechnerisch

lediglich eine Biokapazität von 1,7 gha zur Verfügung.9 Um diesem ökologischen Defizit entgegenzuwirken, müsste entweder die Biokapazität Deutschlands erhöht oder aber der ökologische Fußabdruck der Bevölkerung reduziert werden. Der größte Anteil des ökologischen Fußabdrucks eines Deutschen entfällt mit über 50 % auf Flächen zum Abbau von CO2.10 Der durchschnittliche CO2-Ausstoß eines deutschen Vierpersonenhaushalts lag im Jahr 2009 bei 43,5 t. Betrachtet man diesen genauer, so wird deutlich, welche Bereiche des täglichen Lebens die größten Verursacher von CO2 sind: Bei der Herstellung, dem Verbrauch und der Entsorgung von Konsumgütern wie Kleidung, Elektronik und Ähnlichem entstehen die meisten CO2-Emissionen (11 t/Jahr). Die Erzeugung und Bereitstellung von Heizwärme, Nahrungsmitteln und individueller Mobilität stellen die nächst größeren Verursacher dar.11 Abb. 4 (S. 54) zeigt die Anteile von Ernährung, Wohnen, Mobilität sowie Erzeugung und Verbrauch von Konsumgütern am ökologischen Fußabdruck Deutschlands (CO2 ist jeweils miteingerechnet). Die Ernährung hat dabei den größten Anteil, gefolgt von den Bereichen Wohnen und Infrastruktur sowie Mobilität. Die Art und Weise, wie wir uns ernähren, wie wir wohnen und wann wir welche Transportmittel nutzen, ist dafür verantwortlich, dass der ökologische Fußabdruck die national in Deutschland vorhandene Biokapazität um fast das Dreifache übersteigt.

Verhaltensmuster Die Lebensstile und die damit verbundenen Verhaltensweisen der Menschen beeinflussen also deren ökologischen Fußabdruck. Obwohl die Bevölkerung der westeuropäischen Industrie-

Abb. 1 ökologischer Fußabdruck der Menschheit Abb. 2 Verbrauch von Biokapazität [in gha]

USA 9,6 Industrienationen 6,4

Deutschland 4,9 durchschnittl. Verbrauch Welt 2,2 theoret. Verfügbarkeit pro Person 1,8

Indien 0,8

Abb. 2

5 WWF 2010, S. 34 6 Schulte 2008, S. 3 7 Wackernagel/Beyers 2010, S. 89 8 BMU und BDI 2010, S. 15 9 WWF 2011 10 Beyers et al. 2010, S. 75 11 Lehmann 2010, S. 148

54

Kapitel 2 — Heraus forderungen

5,4 –10,7 4,7– 5,4 4,0 – 4,7

3,2 – 4,0 2,5 – 3,2 1,8 – 2,5

1,1–1,8 0,4 –1,1 keine Daten

Abb. 3

12 13 14 15 16 17

Kuckartz 2005, S. 5 Jaeggi et al. 1996, S 181 Preisendörfer 1999, S. 78 Weber 2008, S. 121f. Visschers 2009, S. 5 Diekmann/Franzen 1996, S. 137; BMU 2010, S. 17

18%

22%

25% 35%

Mobilität andere Konsumbereiche Wohnen und Infrastruktur Ernährung und Getränke Abb. 4

nationen, so auch in Deutschland, über ein ausgeprägtes Umweltbewusstsein verfügt, werden umweltschädliche Verhaltensweisen weitgehend beibehalten. Die Menschen in den industriellen Gesellschaften sind sich zwar durchaus bewusst, dass der Menschheit nicht unbegrenzte Ressourcen zur Verfügung stehen und deren Verbrauch reduziert werden muss, trotzdem ziehen sie kaum persönliche Konsequenzen. Stadtbewohner fahren immer größere, leistungsfähigere Fahrzeuge, Urlaubsreisen führen zu entfernten Orten, aber Produkte aus ressourcenschonendem biologischem oder regionalem Anbau werden oft nur dann gekauft, wenn sie kostengünstiger sind als konventionelle Erzeugnisse.12 Um diese Diskrepanz zwischen Bewusstsein und Verhalten zu erklären, gibt es verschiedene Ansätze, die im Folgenden erörtert werden. In der Umweltpsychologie wird zwar davon ausgegangen, dass ein hohes Umweltbewusstsein ein stärker umweltorientiertes Verhalten bedingt, oft bleibt das Verhalten aber deutlich hinter dem Bewusstsein zurück. Trotz steigendem Umweltbewusstsein verändert sich das Umweltverhalten nur langsam, daher muss es außer einem mangelnden Umweltbewusstsein noch andere Überzeugungen und äußere Faktoren als Ursachen für umweltschädliches Verhalten geben.13 Diese spielen beispielsweise bei der Wahl des Verkehrsmittels eine Rolle. Eine positive Wertschätzung des öffentlichen Nahverkehrs und das Bewusstsein um die Umweltfreundlichkeit dieser Transportmöglichkeit führen beispielsweise nicht zwangsläufig zu seiner Wahl, wenn nicht auch ausreichende und komfortable Transportverbindungen und -möglichkeiten zur Verfügung stehen.14 Auf vielfältige Ursachen, die zu einer Diskrepanz

zwischen Umweltbewusstsein und Umweltverhalten führen können, weist Melanie Weber hin: eingefahrene Verhaltensweisen und Gewohnheitsmuster, situative Gründe, die das Umweltverhalten anderen Faktoren unterordnen, eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten, mangelnder Anreiz, geringe Rückmeldung über die Verhaltensfolgen, keine öffentliche Selbstverpflichtung und Kontrolle oder mangelndes Wissen über die tatsächliche Verhaltensrelevanz.15 Eine Studie der ETH Zürich zum Konsumverhalten und zur Förderung des umweltverträglichen Konsums geht davon aus, dass sich die Menschen für ein nachhaltiges Verhalten nicht zwingend der Konsequenzen ihres Konsumverhaltens bewusst sein müssen.16 Da viele Käufe ohne langes Nachdenken getätigt werden, kann auf solche Automatismen nur schwer durch Informationsvermittlung und Bewusstseinsschärfung Einfluss genommen werden. Sie lassen sich allerdings durch politische oder infrastrukturelle Maßnahmen beeinflussen. Der Preis von Produkten und Dienstleistungen scheint ebenfalls ein wichtiger Faktor in Bezug auf umweltfreundlichen Konsum und umweltfreundliches Verhalten zu sein. Es gibt nicht nur einen großen Widerspruch zwischen Umweltbewusstsein und Umweltverhalten, sondern auch eine Konkurrenz zwischen der Bewertung ökologischer und ökonomischer Zielen. Ist ihre ökonomische Lage gut und führen die Menschen einen von ihnen angestrebten Lebensstil, gewinnt der Umweltschutz an Bedeutung. Treten allerdings ökonomische Probleme auf, die den Lebensstandard zu senken drohen, wie etwa eine Verringerung des Einkommens, verliert der Umweltschutz an Bedeutung.17

2.3 — Mensch und Soziokultur

Raumwärmebedarf pro m2 Wohnfläche 350 70

7000

300

6000

250

5000 200 4000 150 3000 100

2000 1000 0 1960

1970

1980

1990

2000

2010

2020

60

50

40

Wohnfläche pro Kopf [m2]

8000

Raumwärmebedarf pro m2 Wohnfläche [kWh/a]

Raumwärmebedarf pro Kopf [kWh/Kopf]

Wohnfläche pro Kopf Raumwärmebedarf pro Kopf

55

30

20

50

10

0

0

2030

Abb. 3 ökologischer Fußabdruck der Welt (Daten von 2007, veröffentlicht am 13. Oktober 2010) Abb. 4 Anteile am ökologischen Fußabdruck eines Deutschen Abb. 5 Entwicklung von Wohnfläche und Raumwärmebedarf in Deutschland 1960 – 2030 (ab 2010 Prognose)

Abb. 5

Außerdem verhindert der meist höhere Preis oft die Entscheidung für den Kauf eines umweltfreundlichen Produkts. Generell scheinen Menschen eher bereit zu sein für technologische Maßnahmen zu bezahlen, als ihr Verhalten zu ändern oder auf bestimmte Konsumgüter oder Komfort zu verzichten. Verhaltensänderungen oder eine Senkung des Lebensstils sind für viele Menschen unattraktiv.18

Rebound-Effekte Die tendenzielle ablehnende Haltung, auf bestimmt Dinge zu verzichten, sowie die Bevorzugung technischer Lösungen, die keine oder nur geringfügige Umstellungen der Verhaltensweisen verlangen, führen häufig zur Optimierung vorhandener Systeme. Diese lässt sich z. B. durch technische Steigerung der Effizienz erreichen, indem etwa der Energieverbrauch reduziert wird (Abb. 5). Bei unveränderten Verhaltensweisen führt mehr Effizienz aber nicht automatisch zu Einsparungen. Es kann im Gegenteil sogar zu verstärktem Verbrauch kommen, zum sogenannten ReboundEffekt. So spart beispielsweise ein Haushalt durch technische Effizienzsteigerung Geld, da er durch energiesparende Einrichtungen und Maschinen weniger für Beleuchtung, Heizung oder Mobilität bezahlen muss. Verfügt der Haushalt aber weiterhin über das gleiche Einkommen wie vor der Effizienzsteigerung, hat er aufgrund der niedrigeren Energierechnungen überschüssige Kaufkraft, die dann für weitere Produkte und Tätigkeiten, die wiederum Energie verbrauchen,

eingesetzt wird.19 Somit ist beim gleichen Einsatz von Zeit, Geld, Anstrengung und Ressourcen ein höherer Konsum möglich. Der Rebound-Effekt ist aber nicht nur bei Haushalten zu beobachten. Auch in der Wirtschaft führt ein verringerter Verbrauch mitunter zu erhöhter Ressourcennachfrage. Eine Effizienzsteigerung beim Kraftstoffverbrauch im Gütertransport kann z. B. zur Folge haben, dass sich Frachtkosten verringern und dadurch mehr Güter über längere Strecken transportiert werden können. Im Zuge der gestiegenen Transportleistung könnten so 30–80 % der eigentlichen Einsparungen wieder verbraucht werden.20 Ähnliches lässt sich auch in den Bereichen Wohnen und Industrie beobachten. In den letzten Jahren ist die Bevölkerungszahl in Deutschland konstant geblieben, gleichzeitig wurden Maßnahmen ergriffen, um den Energieverbrauch der Haushalte zu reduzieren. Trotzdem kam es seit den 1990er-Jahren zu einem Anstieg des Energieverbrauchs in den Haushalten.21 Dies hängt u. a. mit der Zunahme der Einpersonenhaushalte, dem Wunsch nach mehr Wohnfläche und einer wachsenden Ausstattung mit elektronischen Geräten zusammen. Ähnliches gilt für die industrielle Produktion, die zwar in den letzten Jahren einerseits energieeffizienter wurde, andererseits aber durch zunehmende Automatisierungsprozesse immer mehr Strom verbraucht. Durch Effizienzsteigerungen allein wird sich also der Ressourcenverbrauch nicht beeinflussen lassen. Erst wenn auch Maßnahmen ergriffen werden, um die dem Verbrauch zugrunde liegenden Verhaltensweisen zu ändern, wird es möglich sein, den Ressourcenverbrauch längerfristig zu reduzieren.

18 Visschers et al. 2009, S. 17 19 Madlener/Alcott 2011, S. 20 20 Maxwell et al. 2011, S. 82 21 BMWi 2010, S. 13

Weitere Informationen • Beyers, Bert et al.: Großer Fuß auf kleiner Erde? Bilanzierung mit dem Ecological Footprint. Anregungen für eine Welt begrenzter Ressourcen. Heidelberg 2010 • Madlener, Reinhard; Alcott, Blake: Herausforderungen für eine technisch-ökonomische Entkoppelung von Naturverbrauch und Wirtschaftswachstum unter besonderer Berücksichtigung der Systematisierung von Rebound-Effekten und Problemverschiebungen. Berlin 2011 • Santarius, Tilman: Der Rebound-Effekt. Über die unerwünschten Folgen der erwünschten Energieeffizienz. Wuppertal 2012 • Wackernagel, Mathis; Beyers, Bert: Der Ecological Footprint. Die Welt neu vermessen. Hamburg 2010 • www.footprint-deutschland.de

K A P ITE L 2

Heraus forderungen

2.4

Ökologie

2.4 — Ökologie

57

2 . 4 .1

Arten- und Biotopschutz G e rhard Haub er, Wal traud Pus tal

D

as hochkomplexe Thema Biodiversität kann vereinfacht als die »Vielfalt des Lebens auf der Erde« definiert werden.1 Dabei umfasst dieser Begriff Komponenten wie Gene, Arten, Populationen, ökologische Systeme, natürliche Lebensräume und berücksichtigt alle geografischen Maßstäbe von der lokalen bis hin zur globalen Ebene.2 Es handelt sich also um unsere wesentlichen Lebensgrundlagen. Diese zu schützen und nachhaltig zu erhalten ist überlebenswichtig. Auch wenn es mittlerweile Wirtschaftlichkeitsberechnungen gibt, die dies aus ökonomischer Sicht als sinnvoll nachweisen,3 sind ein Viertel aller Tierarten in der EU vom Aussterben bedroht. Nur 17 % der EU-rechtlich geschützten Lebensräume und Arten und 11 % der Ökosysteme befinden sich in einem guten Zustand; alle anderen sind gefährdet – hauptsächlich durch das Verhalten des Menschen (Abb. 1, S. 58).4

Biodiversität Im Bundesnaturschutzgesetz 2009 (BNatSchG) wurde die biologische Vielfalt als eigenständiger Punkt in § 1 Abs. 1 Nr. 1 aufgenommen. Dabei handelt es sich um die Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten einschließlich der innerartlichen Vielfalt sowie die Formen von Lebensgemeinschaften und Biotopen, die in engem Bezug zueinander stehen. Die langfristige Existenzsicherung einer Art ist nur möglich, wenn sowohl ein Minimum an genetisch differenzierten Populationen als auch das Gefüge zugehöriger Ökosysteme erhalten bleiben. Der Begriff der biologischen Vielfalt ist Bestandteil des 1992 auf der UN-Konferenz für Umwelt

und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro geschlossenen internationalen Übereinkommens über die biologische Vielfalt, der Convention on Biological Diversity (CBD, Biodiversitäts-Abkommen), zum Schutz von Lebensräumen und Arten. Neben 191 weiteren Staaten ist auch die Bundesrepublik Deutschland Vertragspartei. Wesentliche Ziele der CBD sind: • die Erhaltung der biologischen Vielfalt (der Ökosysteme, der Arten sowie der genetischen Vielfalt) • die ökologische nachhaltige Nutzung ihrer Bestandteile • die gerechte Aufteilung der aus der Nutzung der genetischen Ressourcen resultierenden Gewinne5 Grundsätzlich umfasst der Begriff der Biodiversität alle Lebewesen, neben den wild lebenden Organismen auch die in Gefangenschaft gehaltenen und die gezüchteten. § 1 des BNatSchG beschränkt sich jedoch auf diejenigen, die Teil von Natur und Landschaft sind.6

Verdrängung Die neu ausgewiesene Siedlungs- und Verkehrsfläche betrug in Deutschland im Jahr 2010 täglich ca. 77 ha, dies entspricht etwa 108 Fußballfeldern.7 Diese Siedlungen, Straßen, Industriegebiete und Parkplätze zerstören z. B. Wanderungsrouten von Tieren oder verändern den Wasserhaushalt eines Gebiets. Auch die unter dem Aspekt der Flächeneinsparung positiv zu bewertende Nachverdichtung von Innenstädten und Siedlungen kann natürliches Schutzgut zerstören.8 Wesentliche Gefährdungsursachen der Biodiversität sind neben dem Flächenverbrauch für die Bebauung auch

1 Millennium Ecosystem Assessment 2005 2 Werner/Zahner 2009 3 Bateman 2012 4 Europäische Kommission 2011, Lebensversicherung und Naturkapital, S. 1 5 Schumacher/FischerHüftle 2011, § 1, Randnummer 30, 35 6 Schumacher/FischerHüftle, § 1 Rdnr. 39 7 UBA 2012, S. 60 8 z. B. LUBW 2013

58

Kapitel 2 — Herausforderungen

Indexwert (1970 = 1)

paleartischer Living Planet Index (LPI) 2 +6%

Palearktis Nearktis

1

0 1970

1980

1990

2000

2008 Neotropis

Indexwert (1970 = 1)

Afrotropis

Indopazifik

nearktischer LPI

Indopazifik

2

-6% 1 Antarktis

0 1980

1990

2000

2008

-38%

1

2

1

-50 %

0

0 1970

1980

1990

2000

2008

indopazifischer LPI

neotropischer LPI Indexwert (1970=1)

Indexwert (1970=1)

afrotropischer LPI 2

Indexwert (1970=1)

1970

2

1 -64 %

0 1970

1980

1990

2000

2008

1970

1980

1990

2000

2008

Abb. 1

Abb. 1 weltweite Entwicklung der Biodiversität

9 BNatSchG Rdnr. 6, S. 82f. 10 ebd. § 40 Rdnr. 2– 4 11 Diese sind unter www.bfn.de einzusehen. 12 BNatSchG § 1 Rdnr. 77f.

Weitere Informationen • Sukopp, Herbert; Wittig, Rüdiger (Hrsg.): Stadtökologie. Stuttgart 1998 • Werner, Peter; Zahner, Rudolf: Biologische Vielfalt und Städte. BfN-Skripten 245, 2009 • www.cbd.int: Originaltext des CBD-Abkommens von 1992 und aktuelle Informationen der UN • www.biodiv.de: deutscher Verein mit aktuellen und übersichtlichen Informationen rund um das Thema Artenvielfalt • uknea.unep-wcmc.org: Eco System Assessment

schädliche Stoffeinträge (Luftschadstoffe, Überdüngung, Pflanzenschutzmittel, Arzneimittelrückstände in Böden und Gewässern etc.), die immense Probleme und an anderer Stelle Kosten (z. B. Trinkwasseraufbereitung) verursachen. Auch die Gefährdung durch Neobiota, (gebietsfremde und invasive Arten) nimmt zu,9 was häufig zum Aussterben endemischer und zur Verdrängung heimischer Arten, zum Einschleppen von Krankheitserregern oder zur Zerstörung bestimmter Biotoptypen führt.10 Zur Bestimmung des Gefährdungsgrads dienen z. B. sogenannte Rote Listen für alle Artengruppen auf nationaler und internationaler Ebene.11 Da nicht alle Bestandteile der Biodiversität in gleichem Maße gefährdet sind, müssen an Art und Umfang der Gefährdung angepasste Schutzstrategien entwickelt werden.

Schutzstrategien Langfristiges Überleben von Arten ist nur möglich, wenn einerseits ausreichende Habitatgrößen und -qualitäten zur Verfügung stehen

und andererseits ausreichende Möglichkeiten für Wanderungen, Austausch und Ausbreitung gewährleistet sind. Mit dem Austausch zwischen Populationen werden die genetische Verarmung und in deren Folge das drohende Aussterben verhindert. Vor dem Hintergrund des Klimawandels erlangen der Erhalt der genetischen Vielfalt und damit die Verbesserung der Anpassungsmöglichkeiten von Arten besondere Relevanz.12 Die Schutzstrategien für Lebensgemeinschaften und Biotope als Teil der biologischen Vielfalt erstrecken sich sowohl über die Naturlandschaft als auch über die Kulturlandschaft und umfassen somit ebenfalls die besiedelten Bereiche oder Stadtlandschaften. Je reicher diese Landschaften an Strukturen sind, desto höher ist der Artenreichtum. Der Schutz spezieller, besonders bedrohter oder streng geschützter Lebensräume und Arten und der Umgang mit ihnen im Rahmen der Stadtplanung hilft in der Regel auch anderen Arten und ist deshalb ein Mittel der Wahl, um erfolgreich Artenschutz zu betreiben. Geregelt ist dies im BNatSchG in Kapitel 4 Abschnitt 2, »Netz Natura 2000« sowie in Kapitel 5 Abschnitt 3 »Besonderer Artenschutz«.

2.4 — Ökologie

59

2.4.2

Stadtklima Jü r ge n B a u m ü l l e r

S

eit die Menschen begonnen haben, sesshaft zu werden und Städte zu bauen, gibt es das Phänomen des Stadtklimas. Jede Stadt schafft sich aufgrund ihrer örtlichen Lage ein eigenes Klima, das sich zum Teil erheblich von den Klimabedingungen der Region unterscheidet. Die Unterschiede hängen von vielen Faktoren ab, insbesondere von der Größe und Dichte der Stadt. Städte haben ein zum Umland verändertes Klima, das sich im Wesentlichen gegenüber der freien Landschaft durch die unterschiedliche Energiebilanz und die Verminderung der Windgeschwindigkeit, also der Durchlüftung, ergibt. Gewöhnlich ist es in Städten windstiller, wärmer, trockener und schmutziger. Sämtliche meteorologischen Parameter einschließlich der Luftzusammensetzung sind in einem Stadtgebiet im Vergleich zur umgebenden Landschaft verändert. Das Stadtklima ist jedoch prinzipiell kein Schönwetterphänomen, wenngleich bei autochthonen (durch lokale Einflüsse geprägten) Wetterlagen die Unterschiede zum Umland besonders deutlich werden können. Die verschmutzte Stadtatmosphäre einer Großstadt schwächt die einfallende Sonnenstrahlung ab, insbesondere im UV-Bereich, die Windgeschwindigkeit wird reduziert, die Anzahl der Windstillen steigt, die relative Luftfeuchtigkeit ist geringer und die Temperaturen sind höher (Abb. 2, S. 60). Besonders große Temperaturunterschiede treten in klaren Nächten auf. Für Millionenstädte kann der maximale Temperaturunterschied in der Minimumtemperatur der Nacht gegenüber dem Umland über 10 °C betragen. Man spricht deshalb auch von der »Wärmeinsel Stadt«. Eine der größten Veränderungen in einer Stadtatmosphäre ist die Anreicherung der Luft mit Schadstoffen aller Art, die bei ungünstigen Wetterlagen zu gesundheitsschädlichen Konzentrationen führen kann.

Hohe Schadstoffkonzentrationen treten bevorzugt im Winter auf (»London Smog«), wenn bei hohem Schadstoffanfall durch Heizung, Industrie und Verkehr eine austauscharme Wetterlage vorherrscht, oder im Sommer bei hohen Temperaturen und starker Sonneneinstrahlung durch Autoabgase (»Los Angeles Smog«). Ein nicht zu vernachlässigender Faktor in Städten ist die anthropogene Wärmeerzeugung, die ebenfalls zu einer zusätzlichen Erwärmung speziell auch im Winter während der Heizperiode führt. Abhängig von der Stadtgröße, der Lage und der Jahreszeit muss man mit ca. 10 – 70 W/m2 rechnen.1

Globale Herausforderung Derzeit leben über 50 % der Menschen in Städten, bis 2050 werden es 70 % sein.2 Bei dann ca. 9 Milliarden Menschen auf der Erde sind dies 6,3 Milliarden in Städten. Ferner nimmt die Anzahl der Megastädte mit mehr als 10 Millionen Einwohnern ständig zu. Mit der Stadtgröße wachsen dort auch die Probleme hinsichtlich Luftverschmutzung und Überwärmung (Abb. 3, S. 61). Diese Entwicklung geschieht vor dem Hintergrund eines Klimawandels mit deutlich ansteigenden Temperaturen, die global gesehen bis zum Ende des Jahrhunderts bis zu 5 °C in der Jahresmitteltemperatur betragen können.3 Schon heute ist die Erwärmung innerhalb der letzten 100 Jahre mit ca. 0,9 °C deutlich messbar. Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, die Emissionen der Treibhausgasemissionen zu reduzieren und die Anpassung an den Klimawandel in den Städten und Regionen zu planen. Welche Probleme auf uns zukommen, zeigen die Auswirkungen des Hitzesommers 2003 in Europa.

1 Kuttler 2010 2 UN 2008 3 IPPC 2007

60

Kapitel 2 — Herausforderungen

Element

Maßzahl

Unterschied zum Umland

Strahlung

Globalstrahlung Ultraviolettstrahlung Sonnenscheindauer

bis 20 % weniger Sommer: bis 5 % weniger, Winter: bis 30 % weniger bis 15 % weniger

Temperatur

Jahresmittel nächtliches Minimum Heiztage Dauer der Frostperiode Bodeninversion

bis 1,5 K höher bis 12 K höher bis 10 % weniger bis 25 % kürzer kaum vorhanden im Stadtbereich

Feuchte

Jahresmittel (relative Feuchte)

Sommer: bis 10 % weniger Winter: bis 2 % weniger

4,5

Verdunstung

Mittelwert

bis 60 % weniger

4,0

Windgeschwindigkeit

Jahresmittel Böen Windstille (Kalme)

bis 30 % niedriger bis 20 % weniger bis 20 % häufiger

Bewölkung

Bedeckungsgrad

bis 10 % höher

Sichtweite

Nebelhäufigkeit Sicht bis 5 km

etwas geringer deutlich schlechter

Niederschlag

Niederschlagshöhe Tage mit mehr als 5 mm Tage mit Schneefall Tau

bis 10 % größer bis 10 % häufiger bis 5 % weniger bis 65 % weniger

Luftbeimengungen

Konzentration

stark erhöht

[K] a

6,0 5,5 5,0

3,5 3,0 2,5 2,0

Abb. 1

b

Abb. 1 prognostizierter Temperaturanstieg in Europa von heute bis zum Ende des 21. Jahrhunderts a im Winter b im Sommer Abb. 2 Stadtatmosphäre im Vergleich zum Umland Abb. 3 Einflussgrößen des urbanen Wärmehaushalts Abb. 4 Ablaufschema für notwendige Stadtklimauntersuchungen Abb. 5 Beispiel für eine Analysekarte aus dem »Klimaatlas Region Stuttgart«: Wärmebelastung der Region Stuttgart im Jahr 2000

4 BUM 2008

Abb. 2

Nationale Herausforderung Die Klimaveränderung wird sich in Europa außer im Niederschlagsbereich insbesondere auch auf die Lufttemperatur auswirken, wobei sich im Winter gegenüber dem Sommer räumliche Unterschiede ergeben (Abb. 1). Auf nationaler Ebene hat das Bundeskabinett daher 2008 die »Deutsche Anpassungsstrategie an den Klimawandel (DAS)« beschlossen.4 Der Bund formuliert hier einen Handlungsrahmen und bietet damit Orientierung für konkrete Umsetzungsstrategien. In einem mittelfristigen Prozess sollen schrittweise mit den Bundesländern und anderen gesellschaftlichen Gruppen die Risiken des Klimawandels bewertet, der mögliche Handlungsbedarf benannt, die entsprechenden Ziele definiert sowie mögliche Anpassungsmaßnahmen entwickelt und umgesetzt werden. Ergänzt wurde diese Anpassungsstrategie 2011 durch den »Aktionsplan Anpassung (APA)« zur DAS. Die Bundesregierung sieht dabei vier Schwerpunkte: • Wissen bereitstellen, informieren, befähigen • Rahmensetzung durch den Bund

• Aktivitäten in direkter Bundesverantwortung • internationale Verantwortung Seit 2008 gibt es außerdem diverse Pilotprojekte zur Klimaanpassung, gefördert durch das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS), das Bundesinstitut für Bau-, Stadtund Raumforschung (BBSR) sowie das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Bei KlimaMORO handelt es sich um regionale Modellvorhaben, während bei den ExWoSt-Projekten die Stadt im Vordergrund steht. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) leistet mit der Förderung des Forschungsprogramms »KLIMZUG – Klimawandel in Regionen zukunftsfähig gestalten« einen Beitrag zur Steigerung der Anpassungskompetenz in Deutschland.

Regionale Herausforderung Die in Deutschland vorhandenen Regionalpläne, die in der Regel alle zehn Jahre fortgeschrieben

2.4 — Ökologie

61

effektive terrestrische Ausstrahlung (langwellig)

Sonnenstrahlung (kurzwellig)

Reflexion und Absorption durch Dunst, Wolken, Staubpartikel, andere luftfremde Beimengungen

vom Boden reflektierter Anteil

diffuse Himmelsstrahlung + direkte Sonnenstrahlung = Globalstrahlung

be Al

künstlich erzeugte Wärme

vom Boden ausgehende Wärmestrahlung konvektiver Transport fühlbarer und latenter Wärme

atmosphärische Gegenstrahlung

advektiver Transport fühlbarer und latenter Wärme

do Windrichtung Wärmespeicherung, Verdunstung, Photosynthese in Pflanzen Abb. 3

Messung

Berechnung Analyse Diagnose Verletzbarkeit Anpassungsmaßnahmen

umweltfreundliche Planung und Stadtentwicklung

Untersuchung

Therapie Gegensteuermaßnahmen Abb. 4

Abb. 5

werden, sind ein gutes Instrument, um Klimaanpassungsmaßnahmen an den Klimawandel auf regionaler Ebene sicherzustellen und voranzutreiben. Eine raumbezogene Entwicklung muss das Ziel haben, ökologische Schutzgüter und Ausgleichsfunktionen dauerhaft zu sichern, um, wie es vom Gesetzgeber verlangt wird, eine umweltverträgliche Entwicklung von Siedlungen und Infrastruktur zu gewährleisten. Klima, Klimaschutz und Luft sowie seit 2011 auch die Klimaanpassung sind wichtige Belange der räumlichen Planung im Rahmen einer sachgerechten Abwägung der Regionalplanung und der Bauleitplanung. Für eine entsprechende Berücksichtigung dieser Belange sind flächenbezogene kommunale Untersuchungen und Informationen erforderlich mit Schwerpunkten in den Bereichen Stadtumbau, Stadtgestaltung und Denkmalpflege, Grün- und Freiflächenplanung, klimaangepasste Siedlungsentwicklung und Gewerbeentwicklung. Regionale planungsbezogene Klimaatlanten wie z. B. der Klimaatlas Region Stuttgart5 stellen ein wertvolles Hilfsmittel zur Bewältigung dieser Aufgabe dar (Abb. 5). Im Vordergrund der Anpassung stehen neben Maßnahmen zum Hochwasserschutz die Sicherung von regionalen Grünzügen und Grünzäsuren.

Lokale Herausforderung Die größte Verantwortung bezüglich des Stadtklimas und des Klimawandels liegt bei den Städten und Gemeinden, da sie die Planungshoheit innehaben. In einigen Städten in Deutschland wie beispielsweise Berlin, Hannover, Hamburg, Stuttgart oder Nürnberg werden bereits erfolgreich Klimaanpassungsstrategien entwickelt. Die konkrete Umsetzung von Maßnahmenkonzepten wird jedoch noch einige Zeit dauern. Als inhaltliche Schwerpunkte haben sich das Problem der Überhitzung im Sommer, Hochwasser an den Flüssen und Küsten sowie lokale Hochwasser durch Starkniederschläge herauskristallisiert. Grundlegende Voraussetzungen für Maßnahmenkonzepte und Betroffenheitsanalysen sind gesamtstädtische Klimauntersuchungen der aktuellen Situation und Szenarien der zukünftigen Entwicklung. Da die Betroffenheit von Region zu Region und von Stadt zu Stadt verschieden ist, sind lokalbezogene Untersuchungen und Maßnahmenkonzepte notwendig (Abb. 4).

5 VRS 2008

Weitere Informationen • Baumüller, Jürgen; Baumüller, Nicole: Städte im Klimawandel. Anpassung in der Region Stuttgart. In: PlanerIn 02/2010 • Kuttler, Wilhelm: Klimawandel im urbanen Bereich. Teil 1: Wirkungen. Environmental Sciences Europe 2011 • Kuttler, Wilhelm: Klimawandel im urbanen Bereich. Teil 2: Maßnahmen. Environmental Sciences Europe 2011 • IPCC: Fourth Assessment Report. Climate Change 2007 (AR4) • www.klimamoro.de • www.klimzug.de

62

Kapitel 2 — Herausforderungen

2 . 4 .3

Wasser- und Bodenschutz Antje Stok man

D

ie Qualität von Böden und die Verfügbarkeit von Wasser sind eine zentrale Voraussetzung für die menschliche Besiedlung von Landschaft. Ihr Erscheinungsbild ist Ergebnis der Wechselwirkungen zwischen Wasserhaushalt und Böden im globalen Wasserkreislauf – ohne Wasser kein Boden und ohne Boden kein Wasser. Im Gegensatz zu anderen Ressourcen, die in einem degenerativen Materialstrom darzustellen wären, wird Wasser – global gesehen – nicht verbraucht, sondern befindet sich in einem dauerhaften Kreislauf, der von der Sonnenstrahlung angetrieben wird. Ständig verdunstet flüssiges Wasser und bildet in der Atmosphäre Wolken, deren Wasservorräte in Form von Niederschlägen wieder auf die Erde fallen und dadurch sowohl Gewässer wie auch Grundwasser entstehen lassen. Das fließende Wasser formt durch fortwährende Erosion wiederum Böden und Topografie und gleichzeitig wirken diese über viele Faktoren auf die Gestalt der Gewässer ein. Gewässer und Böden verändern sich innerhalb unterschiedlicher Zeiträume und in unterschiedlicher räumlicher Ausdehnung – sie sind also Ausdruck komplexer natürlicher Prozesse der Landschaftsveränderung. Den Wassersystemen und Böden kommen vielfältige natürliche Funktionen als Lebensgrundlage für Menschen, Tiere, Pflanzen und Bodenorganismen zu, die im Wasserhaushaltsgesetz (WHG) und Bundes-Bodenschutzgesetz (BBodSchG) genau beschrieben werden (Abb. 1). Gewässer sind die Grundlage für menschliches Trinkwasser, Brauchwasser für die Industrie und Bewässerungswasser für die Landwirtschaft. Gleichzeitig haben sie wichtige Funktionen für die Fischerei, den Warentransport, die Erholung sowie die Biodiversität und leisten durch ihre biologische Selbst-

reinigung einen wichtigen Beitrag zum Abbau von Schadstoffen. Neben den aquatischen Ökosystemen der Gewässer stellen die Böden als terrestrische Ökosysteme einen wichtigen Lebensraum für Flora und Fauna dar, dienen als Grundlage der Land- und Forstwirtschaft sowie als Baugrund und Rohstofflieferant für die urbane Entwicklung. Sie wirken wie ein Schwamm und speichern in ihren Poren das Regenwasser, was zu einer Reduzierung des oberflächigen Niederschlagsabflusses führt und so Hochwasserereignisse in den Flüssen reduziert. Das gespeicherte Wasser stellen sie der Vegetation zur Verfügung, ohne diese im Boden gespeicherten Wasservorräte gäbe es keine grünen, produktiven Landschaften. Gleichzeitig können Böden im Wasser gelöste Schad- und Nährstoffe aufnehmen, an Bodenpartikel binden und durch Stoffumwandlungsprozesse entfernen. So entsteht durch die Versickerung von Niederschlagswasser durch die reinigende Wirkung der Bodenpassage in der Regel sauberes, für die Trinkwassergewinnung geeignetes Grundwasser. Für die aktuelle Urbanität ist kennzeichnend, dass sich die Besiedlung und Bewirtschaftung der Boden- und Wasserressourcen aufgrund technischer Möglichkeiten zunehmend von den natürlichen geologischen, topografischen und hydrologischen Verhältnissen ablöst. Dabei verändert sich der menschliche Umgang von der Anpassung der menschlichen Bedürfnisse an die natürlichen Verhältnisse hin zur vom Menschen beherrschten Anpassung der natürlichen Verhältnisse an die menschlichen Bedürfnisse. Je höher der Nutzungsdruck und damit der ökonomische Wert von Grund und Boden, umso brisanter ist die Frage, wie viel bzw. welcher Raum den natürlichen Wassersystemen zugestanden werden soll und wie viel Boden als versiegelter Baugrund benötigt wird. Die daraus resultierenden Auswirkungen auf den urbanen Boden- und Wasserhaushalt werden im Folgenden beschrieben.

2.4 — Ökologie

Lebensgrundlage für Menschen Funktion als Lebensgrundlage für Menschen, Tiere, Pflanzen und Bodenorganismen (BBodSchG § 2 (2) 1 a)

63

Baugrund, Rohstofflieferant

Lebensgrundlage für Tiere

natürliche Bodenfruchtbarkeit

Lebensgrundlage für Pflanzen

Potenzial für Biotopentwicklung

Lebensgrundlage für Bodenorganismen Nitratrückhaltevermögen

Grundwasserneubildung natürliche Funktion als Bestandteil des Naturhaushalts, insbesondere mit seinen Wasser- und Nährstoffkreisläufen (BBodSchG § 2 (2) 1 b)

Nährstoffhaushalt Oberflächenabfluss

Wasserhaushalt

Rückhaltevermögen bei Niederschlag Wasserspeicherung für Vegetation

Festlegung und Pufferung anorg. Schadstoffe/Schwermetalle natürliche Funktion als Abbau-, Ausgleichs- und Aufbaumedium für stoffliche Einwirkungen aufgrund der Filter-, Puffer- und Stoffumwandlungseigenschaften, insbesondere auch zum Schutz des Grundwassers (BBodSchG § 2 (2) 1 c)

Abbau organischer Schadstoffe Grundwasserschutz Säurepufferung

Niederschlagswasserspeicher

Filter für nicht sorbierbare Stoffe

Reduzierung Oberflächenabfluss

Abb. 1

Urbane Veränderungen Durch die starke globale urbane Veränderung und das Wirtschaftswachstum der letzten ca. 150 Jahre wurde ein großer Teil der Gewässersysteme und Böden maßgeblich überformt. Land- und Forstwirtschaft waren seit der Einführung des Feldbaus in der neolithischen Revolution vor 10 000 Jahren in der Regel auf den Erhalt bzw. eine Steigerung der Produktivität natürlicher Ökosysteme ausgerichtet. Dies hat sich durch den Wandel der Landwirtschaft zur Agrarindustrie in vielen Regionen geändert. Durch Großmaschinen werden die Böden verdichtet und sind dadurch in ihren ökologischen Funktionen partiell gefährdet. In Städten dienen die Böden im Wesentlichen als Baugrund, die Gewässer als Kanalisation und beide als Möglichkeit zur Deponierung und Entsorgung fester und flüssiger Abfälle. Diese mit der Urbanisierung einhergehenden Eingriffe in den Naturhaushalt bedeuten in der Konsequenz gravierende Veränderungen ihrer maßgeblichen Eigenschaften und Funktionen. Im Bereich von Städten wird der ursprüngliche Boden häufig abgetragen und durch ortsfremde,

industriell hergestellte Bodenbeläge überdeckt. Dies führt zu einer Verdichtung und Versiegelung des Bodens, d. h. er ist vom Kreislauf aus Regenwasserversickerung, Schadstofffilterung und Pflanzenwachstum abgeschnitten. In diesem Zusammenhang lassen sich drei verschiedene Gruppen von urbanen Böden unterscheiden:1 • veränderte Böden natürlicher Entwicklung, die insbesondere in weniger dicht bebauten Bereichen bzw. im Bereich von Parkanlagen und Gärten zu finden sind • Böden künstlicher Aufträge, geprägt durch umgelagerte natürliche Substrate (Sand, Kies, Schotter etc.), technogene Substrate (Bauschutt, Müll, Schlamm etc.) oder Mischungen daraus • versiegelte Böden, deren Versiegelungsgrad entweder extrem (100 % unter Gebäuden/ Asphalt) oder mäßig (80 % unter Pflaster mit geringem Fugenanteil, 40 % mit hohem Fugenanteil) einzustufen ist (Abb. 2). Da das in den urbanen Böden nicht versickernde Wasser anderweitig aus der Stadt abgeführt werden muss, wird der Niederschlag durch oberund unterirdische Kanäle abgeleitet. Dadurch beschleunigt sich der Abfluss des Wassers enorm und es steht weder für Grundwasserneubildung

1 Sukopp/ Wittig 1996, S. 169 –176

Abb. 1 hierarchische Struktur natürlicher Bodenfunktionen Abb. 2 Versiegelung von Stadtböden

Flächenanteile bei Versiegelungen 0 –15 %

gering

Agrarland, Wald, Park, Schrebergärten, Friedhof, Flug- und Sportplätze (z. T. mäßig)

10 – 50 %

mäßig

frei stehende und Reihenhäuser mit Garten

45 –75 %

mittel

Zeilenbau mit Gemeinschaftsgrün, öffentliche Gebäude

70 – 90 %

stark

dichte Blockbebauung, Gewerbe und Industrie

85 –100 %

sehr stark

Stadtkerne, z. T. Industrie

Abb. 2

64

Kapitel 2 — Herausforderungen

Niedrigwasser (l/s·km2) Hochwasser (l/s·km2)

Verdunstung

saubere Niederschläge

709

Oberflächenabfluss Versickerung Grundwasser Trennhorizont Grundwasserspeicher

Grundwasserstand Grundwasser

307 202 3 2 1 Wald

Brache Landwirtschaft

Bebauung

Abb. 3

Talaue Fluss Talaue mit Niederterrasse Auwald mit Landschaftsnutzung natürliches Überflutungsgebiet

Siedlung

bewaldeter Hang

Versickerungsflächen wasserspeichernde Freiflächen

versiegelte Fläche

Versickerung Anreicherung des Grundwassers

landwirtsch. Hochfläche

verschmutzte Niederschläge Wasserentnahme

Abb. 3 Zunahme von Hochwasserereignissen bei gleichzeitiger Zunahme von Niedrigwasserphasen bzw. Austrocknung von Gewässern (Abflussschere) als besonderes Problem in Siedlungsgebieten Abb. 4 natürlicher (a) und urbaner (b) Wasserhaushalt

Grundwasserdefizit

Wasser- kanalientnah- sierter me = Fluss = zusätzl. ÜberAbsenflutungskung gefahr VersiUferfiltrat ckerung

Industriegebiet

Stadtgebiet

• Henninger, Sascha (Hrsg.): Stadtökologie. Paderborn 2011 • Hüttl, Reinhard; Bens, Oliver (Hrsg.): Georessource Wasser. Herausforderung Globaler Wandel. Beiträge zu einer integrierten Wasserressourcenbewirtschaftung in Deutschland. Heidelberg 2012 • Hurck, Rudolf; Raasch, Ulrike; Kaiser, Mathias: Wasserrahmenrichtlinie und Raumplanung. Berührungspunkte und Möglichkeiten der Zusammenarbeit. In: Alfred Toepfer Akademie für Naturschutz (Hrsg.): Fließgewässerschutz und Auenentwicklung im Zeichen der Wasserrahmenrichtlinie. Kommunikation, Planung, fachliche Konzepte. Schneverdingen 2005, S. 37– 50. • Sukopp, Herbert; Wittig, Rüdiger (Hrsg.): Stadtökologie. Ein Fachbuch für Studium und Praxis. Stuttgart 1996 • Versteyl, Ludgar-Anselm; Sondermann, Wolf Dieter: BBodSchG. Bundes-Bodenschutzgesetz. Kommentar. 2005 • UNESCO: The United Nations World Water Development. Report 1. 2003 • WWF International et al: Living Planet Report 2012. Biodiversity, biocapacity and better choices. Gland 2012

2 UNESCO 2003

a Verdunstung Oberflächenabfluss versiegter Grundwasserstrom

schwacher Grundwasserstrom

Wohngebiet

Abwasser und verschmutztes Regenwasser gelangen über die Kanalisation in den kanalisierten Fluss und von dort zu schnell in die Meere versiegelte Fläche

Abb. 4

Weitere Informationen

wasserundurchlässige Schichten

noch für Pflanzen und Menschen zur Verfügung. Das Wasser fließt sehr schnell und in großen Mengen über die Kanäle in die Flüsse, wobei es insbesondere bei Starkregenereignissen oder lang anhaltenden Niederschlägen zu extremen Ab flussspitzen kommt. Während sich bei einem natürlichen Flusslauf die Wassermassen bei Hochwasser in den breiten Auenbereichen in der Fläche verteilen können und dadurch langsamer abfließen, steht im urbanen Raum nicht genug Platz für die Gewässer zur Verfügung. Diese werden so begradigt, eingedeicht und kanalisiert, dass sie möglichst viel Wasser in kurzer Zeit möglichst schnell ableiten können. Das führt weiter flussabwärts zu immer höheren Hochwasserspitzen und den damit verbundenen Überflutungsgefahren. Gleichzeitig sinkt durch den hohen Versiegelungsgrad das Grundwasser im urbanen Raum immer weiter ab. In niederschlagsarmen Zeiten können deshalb bestimmte Gewässer bzw. Gewässerabschnitte komplett trockenfallen – diese Phänomene sind sonst nur für aride bzw. semiaride Gebiete typisch. Während die Wasserpegel bei Hochwasserereignissen in den Flüssen immer weiter zunehmen, sacken die angrenzenden entwässerten Bodenschichten in sich zusammen, und durch das Eindringen von Sauerstoff zersetzt sich der Boden. Diese Bodensenkungen sind eine typische Folge von Entwässerungen und Eindeichungen und insbesondere in wasserreichen Gegenden wie z. B. den Niederlanden ein großes Problem. Die Absen-

versiegelte / teils offene Fläche b

kung wiederum verstärkt zusätzlich die Hochwassergefahr: Einmal eingedrungenes Wasser kann nicht auf natürlichem Wege abfließen und überschwemmt wesentlich größere Bereiche des durch die Senkungen tieferliegenden Landes als vor der Eindeichung und Entwässerung. Gleichzeitig verschärft sich das Problem der globalen Wasserknappheit durch die wachsende Weltbevölkerung und den Klimawandel. Die UNESCO geht davon aus, dass sich der weltweite Wasserverbrauch zwischen 1930 und 2000 etwa versechsfacht hat. Hierfür sind die Verdreifachung der Weltbevölkerung und die Verdoppelung des durchschnittlichen Wasserverbrauchs pro Kopf verantwortlich.2 Gleichzeitig rechnet die UNESCO damit, dass durch Effekte des Klimawandels bis Ende dieses Jahrhunderts die Hälfte der Weltbevölkerung unter Wassermangel leiden und ein Drittel der globalen Landfläche nicht mehr für die Landwirtschaft nutzbar sein könnte. Die große Herausforderung der Stadtplanung besteht folglich darin, kompakte Städte zu entwickeln, die keine weiteren großen Freiflächen versiegeln und selbst noch in ihrer urbanen Bebauung dem natürlichen Wasserhaushalt mit Verdunstung, Versickerung und Abfluss möglichst nahekommen. Außerdem muss das Ziel sein, den weltweiten Trinkwasserverbrauch in den von Wassermangel betroffenen Gebieten zu reduzieren, d.h. die Süßwassermenge, die direkt oder indirekt zur Bereitstellung von Waren und Dienstleistungen verwendet wird.

2.4 — Ökologie

65

2.4.4

Stoffströme Ju l i a Bö ttge, B a s t i a n Wi tt s to ck

M

enschliches Handeln verursacht nahezu immer die Bewegung von Material – direkt oder indirekt. Direkte Stoffbewegungen sind z. B. Baustofftransporte oder Lebensmitteleinkäufe, indirekte Stoffbewegungen beispielsweise die Lieferung von Kohle für die Stromerzeugung, die hinter dem Betätigen eines Lichtschalters steckt. Solche Materialbewegungen werden als Stoffströme oder Stoffflüsse bezeichnet (Abb. 1 und 3, S. 66). Aufgrund der Vielzahl von Aktivitäten und Prozessen im urbanen Raum sind die dort auftretenden Stoffströme äußerst komplex und umfangreich und bedürfen der gründlichen Analyse und Optimierung, um ihre umweltbelastenden, negativen Auswirkungen zu minimieren. Bereits in den 1970er-Jahren wurde die Analogie zwischen dem urbanen Metabolismus mit seinen Stoff- und Energieströmen und dem menschlichen Stoffwechsel mit seinen Ver- und Entsorgungsströmen hergestellt1, ein Vergleich, der in der Folge die Grundlage für weiterführende Betrachtungen bildete. Um eine transparente Darstellung der Stoffströme zu erhalten und um Optimierungspotenziale im Hinblick einer nachhaltigen Entwicklung aufzuzeigen, beschäftigen sich einige Studien mit dieser Thematik (z. B. Studie der TU Wien 1996). Allerdings ist aufgrund der angesprochenen Komplexität der Fokus dabei immer nur auf eine Auswahl von Stoffströmen gerichtet. Als besonders schwierig stellt sich auch das Formulieren von Zieldefinitionen heraus, da sich die Stoffstrombilanzen je nach Art der Wertschöpfung (z. B. Dienstleistung, Produktion), die in der Stadt generiert wird, der Stadtwicklung (wachsende Städte gegenüber schrumpfenden) sowie aufgrund vieler weiterer Aspekte stark voneinander unter-

scheiden. Dementsprechend müssen auch die Zieldefinitionen von Stoffströmen immer regional festgelegt werden.2 Insgesamt sind die Fragen zu diesem Themenbereich vielfältig und multidimensional. Eine der grundlegenden Fragen dabei ist die nach den bewegten Stoffmengen. Aber auch die Differenzierung nach verschiedenen Verwendungszwecken, Sektoren und Arten der Materialien ist von Bedeutung, ebenso deren Verbleib. Zur Untersuchung der Stoffströme, z. B. eines bestimmten Materials, dient die Stoffstromanalyse (Material Flow Analysis – MFA).3 Über diese Analyse hinaus gilt es jedoch auch, die ökologischen Implikationen von Stoffströmen zu erkennen. Gewinnung von Rohstoffen und die Bewegung von Material an sich stellt keine Umweltwirkung dar, verursacht jedoch u. a. umweltrelevante Emissionen (beispielsweise Luftschadstoffe, Lärm etc.). So können beispielsweise die Art des Transports und die Entfernung relevante Einflussgrößen auf die ökologischen Profile von Stoffströmen darstellen, die sich immer auch durch ihre Vorketten auszeichnen. Vorketten können u. a. den Rohstoffabbau, die Werkstoffbereitstellung sowie den Transport inklusive aller Auswirkungen berücksichtigen, da Ressourcen in unterschiedlichem Ausmaß verfügbar sind und ihre Aufbereitung zu verarbeitbaren Werkstoffen in sehr unterschiedlicher Intensität den Einsatz von Maschinen und Energie erfordert. Für eine Darstellung der Umweltwirkungen aus der gesamten Vorkette mit Blick auf eine Optimierung eignet sich die Methodik der Ökobilanz. Die ökologischen Profile von Produkten und Werkstoffen lassen sich damit über ihren gesamten Lebenszyklus beschreiben (siehe Zertifizierungs- und Bewertungssysteme, S. 234ff. und Handlungsfeld Stoffströme, S. 144ff.).4 Für jeden einzelnen Prozessschritt werden dabei Umwelteinwirkungen und benötigte Ressourcen

1 Meadows 1972 2 TU Wien 1996 3 Beckenbach/Urban 2011 4 Klöpffer/Grahl 2009

66

Kapitel 2 — Herausforderungen

CO2-Äquivalente [t/a]

Freiburg-Vauban

Referenz

8000 7000 6000 5000 4000 3000 2000 1000 0 Gebäude Infrastruktur

Strom

Wärme

Personenverkehr

Abb. 2

Abb. 1

Abb. 1 Tagebau in der Eifel:  Veränderung der Landschaft durch den Abbau von Rohstoffen Abb. 2 Stoffstromanalyse als Bewertungselement: Treibhausgasemissionen für das Gesamtszenario Freiburg-Vauban im Vergleich zu einem hypothetischen Neubauviertel ohne besondere Maßnahmen Abb. 3 Abfallaufkommen 2010 in Deutschland

Flugverkehr

Güterverkehr

Warenkorb

(Ab)Wasser, Abfall

übrige Abfälle

14 %

Abfälle aus der Gewinnung und Behandlung von Bodenschätzen

10 % 373 Mio. t

Abfälle aus Abfallbehandlungsanlagen

52 %

Bau- und Abbruchabfälle

11 %

13 %

Siedlungsabfälle Abb. 3

Weitere Informationen • Sperling, Carsten et al.: Nachhaltige Stadtentwicklung beginnt im Quartier. Ein Praxis- und Ideenhandbuch für Stadtplaner, Baugemeinschaften, Bürgerinitiativen am Beispiel des sozialökonomischen Modellstadtteils Freiburg-Vauban. Forum Vauban e.V., Öko-Institut e.V. 1999 • Jordi, Beat: Stoffflüsse im urbanen Raum. Die Versorgung der Stadt hängt von ihrem Umland ab. bafu, 2006 • Donner, Susanne: Die Stadt als Mine. In: Technology Review 2011

erfasst. Basierend auf diesen komplexen Modellen ist es möglich, Schwachstellen zu identifizieren und dafür Handlungsalternativen bewerten. Diese Analysen und Darstellungsweisen erlangen auch mehr und mehr für Städte eine Bedeutung. Insbesondere für die Planung einzelner Quartiere ist es wichtig zu ermitteln, welche Stoffströme durch das Quartier verursacht und/oder beeinflusst werden (Abb. 2). Zu berücksichtigen ist , welche ökologischen Konsequenzen sich aus diesen Stoffströmen ergeben und mithilfe welcher Mechanismen sie reduziert werden können. Dabei spielen die dezentrale Energieversorgung ebenso wie die regionale Lebensmittelproduktion, die Nutzung von Recycling-Baustoffen und eine umfassende Abfallverwertung bis hin zur letztendlichen vollstän-

digen Kreislaufführung eine Rolle. Allerdings sind es erst die Interaktionen im urbanen Raum – das Zusammenspiel zwischen Prozessen, den Stoffströmen der Stadt und ihrer ökologischen Konsequenzen –, die auf bestmögliche Lösungen für urbane Räume hinweisen, häufig als Kompromiss zwischen konkurrierenden Anforderungen. Dieses Modell der Stoffströme einer Stadt muss im Zuge einer nachhaltigen Entwicklung um weitere städteplanerische, ökonomische und soziale Aspekte erweitert werden, um Themen wie z. B. Zusammenleben, Wertschöpfung, Lebensqualität, etc. Rechnung tragen zu können und damit eine nur einseitige Verbesserung in einem Teilbereich zu Lasten des Gesamtsystems Stadt zu vermeiden.

2.4 — Ökologie

2 . 4 .5

Mobilität und Verkehr Jü r gen Laukemp er, Antonella Sgobba

E

in wichtiger Beitrag zur nachhaltigen Stadtentwicklung kann durch eine wirksamere Nutzung der Ressourcen Raum, Zeit und Energie im Bereich Verkehr bzw. Mobilität geleistet werden. Besonders in Städten sind die maßgeblich vom Straßenverkehr verursachten, auf Mensch und Umwelt negativ wirkenden Effekte spürbar. Zunehmende Urbanisierung, die Knappheit der Ressourcen und die negativen Auswirkungen des Klimawandels stellen die urbane Mobilität vor neue Herausforderungen. Gleichzeitig sind neben der Notwendigkeit, Verkehrsemissionen (Lärm, CO2, Luftschadstoffe etc.) zu vermeiden, den Ressourcenverbrauch des Verkehrssektors (Energie, Fläche etc.) zu senken und die Sicherheitsbedingungen zu verbessern, die individuellen und allgemeinen steigenden Mobilitätsansprüche zu berücksichtigen. Denn mobil zu sein, ist ein Grundbedürfnis geworden. In diesem Kapitel wird zwischen den Begriffen »Verkehr« und »Mobilität« unterschieden, dabei steht »Verkehr« für den Transport von Waren und Menschen bzw. messbarer Mobilität, während »Mobilität« das moderne Bedürfnis nach Beweglichkeit und das Potenzial zur Fortbewegung bezeichnet.

Entwicklung der Mobilität Mobilität gehört zu den grundlegenden menschlichen Bedürfnissen, da die Suche nach besseren Lebensbedingungen die Menschen seit jeher zu Ortswechseln bewogen hat. Als Menschen sesshaft wurden, stieg der Bedarf, Waren, Menschen und

Informationen zu transportieren. Die Römer bauten dafür ein Straßennetz von bis zu 10 000 km Länge und nutzten Flüsse wie den Tiber, um etwa Holz von Umbrien nach Rom zu befördern und Nahrungsmittel für die Millionenstadt aus dem Hafen von Ostia in die Stadt zu transportieren. Diese ersten Formen der Logistik und des Verkehrs waren überwiegend durch Muskelkraft bestimmt und somit begrenzt. Mit der industriellen Revolution änderten sich durch die Einführung der Dampfmaschine sowie der Elektrifizierung und später durch die Erfindung des Verbrennungsmotors die Rahmenbedingungen grundlegend. Die Eisenbahn und dann das Automobil als Fortbewegungsmittel zu Lande und die Dampfschifffahrt zu Wasser ermöglichten es, den Raum in bis dato unbekanntem Maße zu »komprimieren« und die individuelle Mobilität freier zu gestalten. Parallel schuf die Verbesserung der Verkehrsverbindungen neue Stadthierarchien. Mit der Erfindung des Flugzeugs und den immer dichter werdenden Fluglinien und -netzen wiederholte sich dieser Vorgang im globalen Maßstab. Bis in die 1950er-Jahre war das Straßenbild der europäischen Städte von Fahrrädern, Bussen und Straßenbahnen dominiert. Erst der steigende Wohlstand in der Phase des Wirtschafswunders versetzte große Teile der Bevölkerung in die Lage, ein Auto zu erwerben. Damit änderte sich auch das Bild der Stadt, nicht nur weil Autos und Verkehr immer mehr Platz in Anspruch nahmen, sondern auch weil die Städte nun nach der Idee der Trennung der Funktionen in der Moderne autogerecht gebaut und zurückgebaut wurden. Das steigende Umweltbewusstsein, teilweise ausgelöst von der ersten und zweiten Ölkrise in den 1970er-Jahren, führte zu ersten Widerständen und Initiativen für die »Rettung« der europäischen Städte. Die Zuspitzung der Umweltproblematik im Zeitalter des globalen Klimawandels, der zunehmende Urbanisierungsprozess sowie

67

68

Kapitel 2 — Herausforderungen

Mineralölprodukte Gase Strom (inklusive erneuerbare Energien) Fernwärme erneuerbare Wärme Stein- und Braunkohle Biokraftstoffe Sonstige

132 TWh 148 TWh 15 TWh

205 TWh

12 TWh 4 TWh 1 TWh

77 TWh

Haushalte 609 TWh 25 %

41 TWh 140 TWh

33 TWh

24 TWh

257 TWh

Industrie 729 TWh 30 %

GHD 376 TWh 16 %

110 TWh

Verkehr 714 TWh 29 %

78 TWh

3 TWh 17 TWh

105 TWh

33 TWh 15 TWh 42 TWh

220 TWh

662 TWh

56 TWh Abb. 1 Abb. 1 Endenergieverbrauch in Deutschland 2011 nach Sektoren und Energieträgern Abb. 2 Zunahme der Mobilität und Aufteilung auf die Verkehrsmittel am Beispiel Frankreich Abb. 3 Verkehrsaufwand inklusive Fuß- und Radverkehr zwischen 2002 und 2009 in Deutschland [in Milliarden Personenkilometer] Abb. 4 Problem der ungleichmäßigen Auslastung der Verkehrsinfrastruktur – Tageslinie nach Wegezweck für die Stadt Braunschweig Abb. 5 Wechselwirkungen zwischen individuellen Bedürfnissen und dem Verkehrsaufwand

1 Europäische Kommission 2011 2 Europäisches Parlament 2008 3 BMVBS 2009 4 UBA 2012, S. 41 5 ebd. 6 UBA 2011 7 UBA 2012 8 VDA 2011 9 UBA 2012 10 ebd. 11 ebd.

die Endlichkeit fossiler Energievorkommen und insbesondere die beginnende Knappheit der Ölressourcen erfordern heute eine neue Kultur der urbanen Mobilität. Das Thema ist von großer Aktualität und steht auf der politischen Agenda: 2011 verabschiedete die Europäische Komission das »Weißbuch Verkehr« als Fahrplan zu einer wettbewerbsorientierten und nachhaltigen Mobilität. Dabei wurden zehn Orientierungswerte und die Absicht formuliert, die CO2-Emissionen gegenüber dem Stand von 1990 bis zum Jahr 2050 um 60 % zu reduzieren.1 Bereits 2008 hatte die Komission das EU-Klimapaket erlassen, mit dem Ziel, »bis zum Jahr 2020 den Ausstoß von Treibhausgasen in der Europäischen Union um 20 % zu reduzieren, den Anteil erneuerbarer Energiequellen auf 20 % zu steigern und die Energieeffizienz um 20 % zu erhöhen«.2 Um diese Ziele zu erreichen, hat die deutsche Bundesregierung ihrerseits einen Förderplan für die Elektromobilität verabschiedet und strebt bis zum Jahr 2020 eine Million E-Fahrzeuge auf deutschen Straßen an.3 Die Optimierung und Verbesserung der auf Verbrennungsmotoren basierenden Fahrzeugtechnik hat bereits zur Senkung des Energieverbrauchs und der Emissionen beigetragen. In Deutschland beispielweise wurde bei Pkw-Neuzulassungen zwischen 1998 und 2011 eine Abnahme der CO2Emissionen von 22 % erreicht. Ziel ist es, ab 2020 durchschnittlich maximale Emissionen in Höhe von 95 g/km zuzulassen.4 Auch hinsichtlich des Energieverbrauchs ist gemäß Umweltbundesamt zwischen 1995 und 2010 beim Personenverkehr eine Abnahme des Primärenergieverbrauchs des Straßenverkehrs festzustellen.5 Der Anteil des Verkehrs am Endenergieverbrauch lag 2011 bei 29 %, größtenteils durch den Straßenverkehr verursacht (Abb. 1),6 während der Anteil des Personenverkehrs an den CO2Gesamtemissionen 2010 18,3 % betrug.7 Sich von den Ölreserven unabhängig zu machen,

bleibt eine Herausforderung für den Verkehr. Ein Umsteigen auf umweltverträgliche Verkehrsmittel und eine bessere Auslastung der Verkehrsträger kann einen sehr wichtigen Beitrag zur Energiewende leisten, auch wenn die Ansprüche und der Bedarf nach individueller Mobilität immer noch sehr hoch sind. Dies belegen die Pkw-Dichte, die in Deutschland im Jahr 2011 bei 525 Pkw/1000 Einwohner lag8, und der Verkehrsaufwand des motorisierten Individualverkehrs (MIV), der mit fast 900 Milliarden Personenkilometer (Pkm) im Jahr 2009 mit einem Anteil von 75,8 % den ersten Platz im Modal Split (Aufteilung des Verkehrsaufkommens auf unterschiedliche Transportmittel) einnahm (Abb. 3 und 4).9 Die meisten Personenkilometer wurden mit 35 % (2009) im Freizeitbereich zurückgelegt, weitere verkehrsintensive Bereiche waren Beruf (18 %) und Einkauf (16 %).10 Ein weiterer nennenswerter und ressourcenintensiver Aspekt sind Verkehrsflächen. Zur Befriedigung des Mobilitätsbedürfnisses ist auch ein erheblicher Flächenbedarf erforderlich, der jedoch nur während geringer Zeitintervalle (Hauptverkehrszeiten) ausgeschöpft wird (Abb. 5). Gerade in den Städten führt der Flächenanspruch für fließenden und ruhenden Verkehr zu Konflikten und Platznot. Der tägliche Flächenverbrauch für Verkehr lag im Jahr 2010 bei 21 von insgesamt 77 ha/Tag. Bis 2020 soll nun aber, so das erklärte Ziel der Bundesregierung, der gesamte tägliche Flächenverbrauch für Siedlung und Verkehr auf 30 ha/Tag gesenkt werden.11 Neben Emissionen und Platzproblemen ist ein sehr hoher Anteil an motorisierter Individualmobilität in Städten für Staus verantwortlich. Durch die zunehmende Urbanisierung wird es aller Voraussicht nach zu einer Zuspitzung dieser negativen Aspekte kommen. Werden sich bis 2050 die im urbanen Umfeld zurückgelegten Kilometer, die aktuell bei 60 % der gesamten gefahrenen Kilometer liegen, verdreifachen, so wird entsprechend auch die Zeit, die man im Stau verliert, bis

2.4 — Ökologie

alle Fortbewegungsarten Pferde

[m/Person und Tag]

TGV

Zweiräder Busse und Autos

69

Schiffe Flugzeuge

100 000

10 000

1000

100

10 1800

1850

1900

1950

Abb. 2 private Erledigung dienstliche Erledigung Einkauf

Luftverkehr Fußgänger Fahrradverkehr

900 750 600

300

80

150

40

0

0 2002

2005

2008

[Mrd. Pkm]

450

Werktagsverkehr Di bis Do

[Mrd. Pkm]

MIV ÖPNV Schienenverkehr

1990 Jahr

Ausbildung Freizeit Beruf/Arbeit

350000 300000 250000 200000 150000 100000 50000 0

2009

0 2

4

6

8 10 12 14 16 18 20 22 Uhrzeit

Abb. 3

Abb. 4

auf 106 Stunden pro Person und Jahr steigen.12 Den Umweltbelangen und dem Bedarf, individuell mobil zu sein gleichermaßen gerecht zu werden, gestaltet sich schwierig. Jedoch ist ein Umdenken weg vom Konzept einer autogerechten hin zu einer umweltgerechten, energieeffizienteren und emissionsärmeren Mobilität unausweichlich. AS

die unterschiedlichen Verkehrsträger jedoch im Verbund mit anderen Emissionsquellen. In Innenstadtbereichen kann dies zu sehr hohen Belastungen führen. Durch ein gestiegenes Umweltbewusstsein und eine Verschärfung der gesetzlichen Regelungen in Bezug auf den Immissionsschutz konnte durch technische Entwicklungen eine wesentliche Reduzierung dieser Auswirkungen erreicht werden. Elektromobilität, vor allem beim Einsatz von erneuerbarer Energie, wird immer gesellschaftsfähiger, trotz der teilweise noch vorhandenen Nachteile. Eine gesellschaftliche Wandlung hinsichtlich des Mobilitätsverhaltens hat bereits eingesetzt. Mobilitätsfreiheit manifestiert sich nicht mehr ausschließlich darin, mit einem eigenen Fahrzeug jederzeit jeden Punkt erreichen zu können. Das Mobilitätsbedürfnis wird immer mehr und mit unterschiedlichsten Mitteln befriedigt. Bei der Auswahl werden eine Vielzahl von Faktoren, wie Bequemlichkeit, Verfügbarkeit, Kosten, aber auch Umweltauswirkungen berücksichtigt. Diese Verhaltensänderungen bieten hervorragende Chancen, eine nachhaltige Verkehrsentwicklung und nachhaltige Stadtplanung voranzutreiben, indem verträgliche Transportketten angeboten und vor allem umweltfreundliche und nachhaltige Verkehrsmittel gefördert werden. JL

Folgen des Mobilitätsbedürfnisses Das Mobilitätsbedürfnis sowie die Mobilitätsfreiheit des Menschen werden mit ökologisch negativen Auswirkungen erkauft. Die Herausforderung für die Zukunft wird es sein, eine Balance zu finden zwischen diesem Bedürfnis, den sozialen Belangen der Menschen sowie einer nachhaltigen Stadtentwicklung. Während die Lärmemissionen von Fahrzeugen hörbar sind und sich eindeutig einer Lärmquelle zuorden lassen, sind andere Belastungen zunächst weniger deutlich wahrnehmbar. Im Bereich der messbaren Umweltauswirkungen hinsichtlich Luftverschmutzung mit Feinstaub, CO2 und Stickoxiden stehen

Arbeit

Wohnen

Bildung Verkehr Ergebnis der physischen Ortsänderung von Personen und Gütern

Erholung

Einkaufen

Abb. 5

12 Arthur D. Little 2011

Weitere Informationen • BMVBS (Hrsg.): Verkehr in Zahlen 2010/2011 • Infas; DLR: Mobilität in Deutschland 2008 (MiD 2008). 2010 • Kuhnert, Nikolaus; Ngo, Auh-Linh: Post-Oil City. Die Geschichte der Stadt der Zukunft. In: ARCH+ 196–197/2010

70

Kapitel 2 — Herausforderungen

2 . 4 .6

Energie Gre go r C . Gra s s l, Ol a f Hi l d e b ra n d t

1 2 3 4

Meadows 1972 Krause 1980 ebd. Enquete Kommission 1990 5 PBL 2012 6 BMU 2010; UBA 2011; UBA 2013

Schon 1972 wurde im Bericht des Club of Rome »Die Grenzen des Wachstums« prognostiziert, dass bei anhaltender Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und unveränderter Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen die absoluten Wachstumsgrenzen im Laufe der nächsten 100 Jahre erreicht sein werden.1 1980 wurde in der Öko-Institut-Prognose »Energiewende« ein Gegenentwurf zur offiziellen Energiepolitik der damaligen Bundesregierung für eine Energieversorgung der Bundesrepublik unter vollständiger Abkehr von Kernenergie und Energie aus Erdöl aufgezeigt (Abb. 1).2 Konsequente Energiesparmaßnahmen und hö hereEffizienz waren in dieser Prognose die zentralen Bausteine der Umstrukturierung zu einer bedarfsorientierten, dezentralen Energiewirtschaft.3 In den 1990er-Jahren richtete sich der Fokus der Energiepolitik auf Strategien zum Klimaschutz. Auch in den Maßnahmenpaketen der Enquete-Kommissionen verschiedener Deutscher Bundestage spielten Strategien zur rationellen Energieverwendung eine wichtige Rolle.4 Inzwischen sind sich die internationalen Fachleute einig: Die globalen atmosphärischen Konzentrationen der treibhauswirksamen Gase steigen als Folge menschlicher Aktivitäten, z. B. durch den Verbrauch fossiler Brennstoffe und die Abholzung vieler Wälder seit dem 18. Jahrhundert deutlich. Seit 1906 kam es zu einem Anstieg der globalen bodennahen Mitteltemperatur um etwa 0,8 K. Dieser Erwärmungstrend beschleunigte sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte deutlich und liegt nun bei 0,15 K pro Dekade (Abb. 2). Die Folgen sind bekannt, z. B. das Abschmelzen der Gebirgsgletscher sowie der Schneebedeckung und der Anstieg des Meeresspiegels. In der internationalen Klimapolitik wird als Ziel formuliert, dass die globale Mittelwerttemperatur um nicht mehr als 0,2 K pro Dekade und insgesamt

um maximal 2 K gegenüber der vorindustriellen Zeit steigen darf. Nur durch eine konsequente Reduzierung der Treibhausgasemissionen (THG) lassen sich die Folgen des globalen Klimawandels für den Menschen und die Ökosysteme verhindern. Weltweit ist jedoch trotz aller Bemühungen ein gegenläufiger Trend erkennbar: Die CO2Emissionen nahmen im Jahr 2011 um 3 % zu und erreichten mit 34 Milliarden t den bisher höchsten Stand. Der Hauptemittent ist infolge des forcierten Wirtschaftswachstums und der Produktionsverlagerungen von den USA und Europa in den asiatischen Raum inzwischen China mit fast 30 %, gefolgt von den USA (16 %) und der Europäischen Union (11 %) (Abb. 7, S. 73). In China stiegen die durchschnittlichen Emissionen inzwischen auf knapp über 7 t pro Kopf (USA über 17 t). Die Steigerung des Lebensstandards, höhere Anforderungen an Wohn- und Geschäftsgebäude sowie deren Infrastruktur und die Zunahme der Mobilität sind Kernursachen dafür, dass trotz verbesserter Effizienz und einem zunehmenden Einsatz von erneuerbaren Energien weltweit der Trend nach oben zeigt. 5 Um langfristig die Klimaschutzziele zu erreichen, müssten die zulässigen CO2-Emissionen pro Kopf bis zum Jahr 2050 auf 2,0 – 2,5 t/a gesenkt werden. Die deutsche Bundesregierung hat sich das ambitionierte Ziel gesetzt, den CO2-Ausstoß in Deutschland bis 2020 um 40 % und bis 2050 um 85 % zu senken (Abb. 5, S. 72). Der Anteil erneuerbarer Energien an der Stromproduktion soll bis 2030 auf 50 % und bis 2050 auf 80 % steigen. Außerdem ist der Umstieg auf erneuerbare Wärmeenergie gesetzlich vorgeschrieben, und es wurden umfangreiche Maßnahmen zum Umbau der Energiewirtschaft beschlossen. Die THG würden bis 2050 von ca. 900 auf unter 200 Millionen t sinken.6 Bisher konnten in Deutschland zwischen 1990 und 2009 die CO2-Emissionen um ca. 25 % reduziert werden. Die Pro-Kopf-Emissionen

2.4 — Ökologie

Primärenergiebedarf [Mio. t SKE]

Erdgas

Erdöl

Kohle

Wind + Wasser

71

Sonne

Biomasse

2020

2030

450 400

300

200

100

0 1980

1990

2000

2010

Abb. 1

Lufttemperatur [ºC]

Jahresmitteltemperatur geglätteter Mittelwert

Unsicherheitsbereich verschiedener Klimasimulationen (A1B-Szenario) seit 2001

14 13 12 11 10 9 8 7 6 1881 1900

1920

1940

1960

1980

2000 2011

2100

Abb. 1 Primärenergiebedarf und seine mögliche Deckung bis zum Jahre 2030 (ohne nichtenergetischen Verbrauch), angegeben in Steinkohleeinheiten (SKE) Abb. 2 Entwicklung der Lufttemperatur zwischen 1881 und 2011 und Temperaturprognosen bis 2100 in Deutschland Abb. 3 die 20-20-20 Ziele der EU bis 2020

liegen derzeit bei 9,9 t, gegenüber 12,9 t im Jahr 1990 und sollen bis 2050 auf 3 t pro Person und Jahr reduziert werden. Die grundsätzliche Notwendigkeit einer Energiewende ist in Deutschland weitgehend akzeptiert und die Anstrengungen der deutschen Politik dazu haben bisher weltweit Vorbildcharakter. Laut einer Studie des Weltenergierats – Deutschland aus dem Jahr 2012 will die Mehrheit aller befragten Länder Teile dieser Energiepolitik in ihre nationale Strategie übernehmen. Allerdings traut keines dieser Länder Deutschland die Umsetzung der Ziele im gesetzten Zeitraum zu. Die Herausforderungen für ein Land, das zu den 20 größten Treibhausgasemittenten zählt (Abb. 7, S. 73), die in der Summe für 80 % der globalen Emissionen verantwortlich sind, scheinen in der Sicht von außen zu groß.7

Energiegewinnung Die wichtigste Energiequelle der Erde ist die Sonne. Die heute erneuerbaren Energieformen wie Biomasse, Windenergie, Wasserenergie und

langfristig auch die fossilen Brennstoffe, z. B. Kohle und Erdgas, beruhen direkt oder indirekt auf der Solarenergie. Wind, Wasser, Sonne, Erdwärme und Bioenergie stehen als Energieträger nahezu unendlich zur Verfügung. Historisch war mit Beginn der Nutzung des Feuers Holz der alleinige direkte Energieträger des Menschen. Im Laufe der Geschichte gewannen vor allem Kohle, Torf, natürliche Öle und insbesondere seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert auch Erdöl, Erdgas und elektrische Energie immer größere Bedeutung. Man unterteilt heute drei Gruppen von Energieträgern: • Fossile Brennstoffe wie Kohle, Öl und Erdgas sind in geologischer Vorzeit aus Abbauprodukten von toten Pflanzen und Tieren entstanden. Es handelt sich dabei um hochkonzentrierte, dichte Brennstoffe, die dadurch zur bevorzugten Quelle der Energieversorgung wurden. Heute werden noch fast 80 % des weltweiten Energiebedarfs fossil gedeckt, in Deutschland waren es 2009 noch knapp über 60 %. • Nukleare Energiequellen werden zur Erzeugung von Sekundärenergie wie elektrischem Strom mittels Kernreaktionen genutzt. Dazu

[%]

Abb. 2

100

-20 %

80 60 40 20 0 Senkung CO2-Emissionen Abb. 3

7 vgl. Weltenergierat – Deutschland 2012

+20 %

+20 %

Energieeffizienz

erneuerbare Energien im Energiemix

Kapitel 2 — Herausforderungen

CO2-Äquivalente [g/kWh]

72

700 600 500 Effizienztechnologien 400 300

erneuerbare Energien

200 100

Windpark mittel

Wasser-KW groß

PV-amorph

Solaranlagen

Holz-HS-HW 1 MW mit Netz

Holz-Pellet-Heizung 10 kW

Nahwärme-Mix

Fernwärme-Mix

Elektro-WP-Wasser (Mix)

Elektro-WP-Boden (Mix)

Gas Brennwert

Erdgas

Heizöl

0 Stromnetz

Abb. 4 spezifische CO2Emissionen in g/kWh Nutzenergie nach Energieträgern und Erzeugungssystemen Abb. 5 Entwicklung der Treibhausgasemissionen (THG) zwischen 1990 und 2009 und Zielwerte für THG bis 2050 für Deutschland Abb. 6 Aufteilung des Endenergieverbrauchs in Deutschland nach Anwendungen für das Jahr 2011

Abb. 4 8 BMU 2012

THG [Mio. t CO2-Äquivalente]

Abfall Landwirtschaft Industrieabfälle

Energie Summe THG

1400

1200

1000

800

600

400

200

0 1990 2006 2009 2020 2030 2040 2050

wird radioaktives Material, beispielsweise Uran, benötigt. Auf die aus dem Umgang und der Entsorgung entstehenden Probleme soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden. Weltweit liegt der Anteil der Energiegewinnung aus Kernkraft bei ca. 6 %, in Deutschland waren es 2009 noch über knapp 10 %. • Erneuerbare Energien sind in ihrer Nutzung im Gegensatz zu den Energieträgern Erdöl, Kohle, Erdgas und Uran klimafreundlich sowie weitgehend umwelt- und ressourcenschonend. Sie sorgen für mehr Unabhängigkeit von Energieimporten und stärken die heimische Wirtschaft. Darüberhinaus werden durch die Nutzung erneuerbarer Energien klimaschädliche Emissionen vermieden, die mit erheblichen Folgeschäden und -kosten verbunden sind. Darum ist der Ausbau der erneuerbaren Energien nicht nur sinnvoll, sondern auch gesamtwirtschaftlich vorteilhaft.8 Ihr Anteil an der Energiegewinnung betrug in Deutschland 2009 knapp 10 %.

Abb. 5

IKT Beleuchtung 3,3% 2,3% Raumwärme 30,4%

mechanische Energie 36,3%

Warmwasser 4,7% Kälte 2,0% Abb. 6

Prozesswärme 20,6 %

Abb. 4 zeigt die spezifischen CO2-Emissionen verschiedener Brennstoffe und Erzeugungssysteme. Dabei sind durch den Einsatz von Effizienztechnologien – teilweise auch in Verbindung mit Umweltenergien wie Geothermie – niedrige CO2Emissionen zu erwarten, jedoch erst der Einsatz von erneuerbaren Energieträgern bedeutet eine substanzielle Reduktion der Emissionen in der Strom- und Wärmeerzeugung. Die Umstellung der Energieversorgung auf regenerative Energien stellt die Stadtplaner vor eine große Herausforderung. Während ländliche Räume meist über genügend Platz für Solarsiedlungskonzepte, Biomasseanbau, Windkraftanlagen, Wasserkraftwerke oder Geothermieanlagen

verfügen, kann im urbanen Raum meist nur ein kleiner Anteil der notwendigen Energieerzeugung lokal abgedeckt werden. Je kompakter und dichter die Stadt gebaut ist, desto höher wird der Energiebedarf und desto weniger Flächen stehen für die Energieerzeugung zur Verfügung. Die Fassaden können wegen der hohen gegenseitigen Verschattung kaum energetisch genutzt werden, die Dachflächen sind im Verhältnis zur Bruttogeschossfläche (BGF) des Gebäudes sehr klein und werden meist als Technikflächen oder Terrassen verwendet. Die wenigen verbleibenden Freiflächen dienen ausschließlich als Erholungsflächen – soweit sie nicht dem Verkehr zugeordnet sind. Große effektive Windanlagen oder Tiefengeothermie stellen leistungsstarke Alternativen zu gebäudegebundenen Anlagen zur Erzeugung regenerativer Energie dar, allerdings sind auch diese kaum im urbanen Kontext zu realisieren. Zudem sind die Genehmigungsauflagen hoch. Für Großwindkraftanlagen ab 2 MW ist beispielsweise ein Mindestabstand von 1 km zur nächsten Wohnbebauung empfohlen, um eine Beeinträchtigung der Bewohner durch Schattenwurf und Lärm zu vermeiden. Die Stadt muss sich daher im Bereich der Versorgung mit erneuerbaren Energien aus den großen Windparks, der Biomasseerzeugung und anderen Energieerzeugungen des Umlands bedienen oder eigene Stadtteil und Quartiersnetze beispielsweise mit Blockheizkraftwerken aufbauen. Hier hat die kompakte Stadt Vorteile, da die Netzverluste mit zunehmender Dichte geringer werden. Für die meisten erneuerbaren Energien stellt sich die zeit- und witterungsabhängige Energiegewinnung als wettbewerbsnachteilig dar. Um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, sind daher neue Speichertechnologien notwendig. Offene Wärmenetze, die nicht nur die Wärmeversorgung

2.4 — Ökologie

73

CO2-Emissionen [Mio. t]

1990

2010

9000 8000 7000 6000 5000 4000 3000 2000 1000 Taiwan

Spanien

Australien

Frankreich

Indonesien

Südafrika

Italien

Mexiko

Brasilien

UK

Iran

Saudi-Arabien

Kanada

Südkorea

Deutschland

Japan

Indien

Russische Föderation

USA

China

0

sicherstellen, sondern auch überschüssige Wärme abnehmen, Smart Grids und andere sogenannte intelligente Stadtmodelle befinden sich in der Erprobungsphase. Ziel ist es, ein urbanes Energiemanagement-Konzept für einen optimalen Ausgleich der Bedarfe und des Energieaufkommens auszuarbeiten. GCG

Energieverbrauch Der Primärenergieverbrauch ist der wesentliche Indikator für den Ressourcenverbrauch und die Verursachung von Treibhausgasemissionen. Er bezeichnet den Energiegehalt aller eingesetzter Energieträger. Der Endenergieverbrauch (EEV) gibt die Energiemenge an, die von den Endverbrauchern nach der Umwandlung der Primärenergieträger in den verschiedenen Energieformen Strom, Wärme, Brenn- und Kraftstoffe genutzt wird. Nutzenergie ist diejenige Form von Energie, die für den Energieverbraucher einen unmittelbare Nutzen hat bzw. eine Dienstleistung bewirkt, z. B. Raumwärme, Warmwasser, Beleuchtung etc. Bei der Umwandlung der Endenergie in Nutzenergie für Energiedienstleistungen geht etwa die Hälfte der Endenergie verloren. Die Endenergiebilanzen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2011 zeigen, dass neben mechanischer Energie ca. 30 % des EEV allein für Raumwärme benötigt werden (Abb. 6).9 In den Sektoren Gewerbe, Handel, Dienstleistungen und Haushalte, die zusammen über 40 % des EEV ausmachen, dominiert die Raumwärme sehr stark, im Haushaltsbereich beträgt der Anteil über 70 %. In Deutschland ist ein Trend zu immer höheren Komfort und technologischer Ausstattung er-

kennbar, der tendenziell zu einem Anstieg des Nutzenergiebedarfs führt. Zum Beispiel ist in den vergangen zehn Jahren die Wohnfläche pro Kopf bundesweit um 10 % auf rund 41 m2 gestiegen. Hauptursachen sind sinkende Haushaltsgrößen und wachsende Ansprüche an den persönlich verfügbaren Wohnraum. Insbesondere im ländlichen Raum liegen die Wohnflächen teilweise weit über dem Bundesdurchschnitt. Im Bereich der Stromanwendungen ist die Ausstattung mit Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) in den letzten Jahren signifikant angestiegen. So erhöhte sich z. B. die Zahl der Haushalte mit PCs von 1998 bis 2011 von rund 39 auf über 82 %. Die Ausstattung mit Mobiltelefonen stieg im gleichen Zeitraum sogar von ca. 11 auf 90 %. Im Bereich Verkehr ist eine kontinuierliche Zunahme der Wegelängen pro Tag und Strecke zu verzeichnen. Die hier aufgezeigten Herausforderungen sind nur einige der zentralen Themen der aktuell im Fokus stehenden energetischen Stadtsanierung und Quartiersentwicklungen. Die Energie ist dabei ein Querschnittsthema, das sich in fast allen Handlungsfeldern der Quartiersplanung wiederfindet. Energie ist der Kraftstoff unserer Städte und wirkt sich auch auf das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben aus. Diskussionen um Photovoltaikanlagen auf einem Kirchendach zeigen, dass nachhaltige urbane Energie ein breites und komplexes Themenfeld ist. Die nationalen und internationalen energiepolitischen Ziele sind inzwischen klar – was das für Konsequenzen für die Stadtplanung mit sich bringt, muss sich erst noch zeigen. Lösungsansätze, wie diesen neuen Herausforderungen in der Planung begegnet werden kann, zeigt das Kapitel »Handlungsfeld Energie« (S. 162) auf. OH

jährlicher Ölverbrauch pro Einwohner [l]

Abb. 7 80 000 Houston Phoenix Detroit 60 000

Los Angeles San Francisco Washington D.C. Chicago New York

40 000

Melbourne Adelaide Sydney Toronto

20 000

Zürich Frankfurt/ M. London Wien AmsterSingapur dam

Paris

Hongkong Moskau

0 0

50

100 150 200 250 300 Bebauungsdichte [Personen/ha]

Abb. 8

Abb. 7 Treibhausgasemissionen der 20 größten Emittentenländer der Jahre 1990 und 2010 Abb. 8 Zusammenhang zwischen Dichte und Ölverbrauch

9 DIW/EEFA 2012; AGEB 2012

Weitere Informationen • Meadows, Dennis: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Stuttgart/München 1972/1991

74

Kapitel 2 — Herausforderungen

2 . 4 .7

Emissionen Jü r ge n B a u m ü l l e r, Sig r i d Bu s ch, Dietr ich Henck el, Antonella Sgobba

U

nter zivilisationsbedingter Emission (lat. emittere: herausschicken, heraussenden) versteht man Aussendungen von Schadstoffen in die Umwelt, die durch menschliche Nutzungen verursacht werden. Jede Emission führt zu einer Immission, d. h. einem Schadenseintrag in die Umgebung. Da viele Schadstoffe nicht nur lokal, sondern großräumig wirken, ist der Schutz vor Beeinträchtigungen durch Emissionen (Immissionsschutz) seit Langem das Ziel globaler umweltpolitischer Konferenzen und Initiativen (siehe Leitbilder, S. 201). Zur Steuerung, Vermeidung und Begrenzung von Emissionen und Schadstoffeinträgen auf verschiedenen räumlichen Ebenen stehen grundsätzlich folgende Instrumente zur Verfügung: • marktwirtschaftliche Instrumente (z. B. Emissionsrechtehandel) • ordnungsrechtliche Instrumente (z. B. Gesetze, Verordnungen und Vorschriften sowie Richtlinien und Normen) • planerische Instrumente (z. B. Raumordnung, Stadt- und Quartiersplanung)

1 UBA 2008, S. 10

Während marktwirtschaftliche Instrumente im Hinblick auf den Themenbereich der nachhaltigen Stadt- und Quartiersplanung nur eine indirekte Rolle spielen, sind ordnungsrechtliche und planerische Instrumente wichtige Bestandteile der städtebaulichen Praxis. Auf diese Instrumente sowie ihre Anwendung für den Immissionsschutz wird im Kapitel »Handlungsfeld Emissionen« (S. 176) ausführlich eingegangen. Im Folgenden werden zunächst grundlegende Aspekte von Lärm-, Luftschadstoff-, Licht- und anthropogenen Wärmeemissionen behandelt und

die Relevanz der Minderung ihrer negativen Effekte als Herausforderung für die Stadt- und Quartiersplanung verdeutlicht.  SB, AS

Lärm Der Begriff »Umgebungslärm« bezeichnet nach §47 b des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (BImSchG) »belästigende oder gesundheitsschädliche Geräusche« im Frequenzbereich des menschlichen Hörens. Lärm stellt ein unterschätztes Risiko dar, dessen negative Auswirkungen auf die Gesundheit von Schlafstörungen, Kopfschmerzen, hormonellen Reaktionen, Nervosität, Hörschäden über Konzentrationsmangel, Herabsetzung der Lern- und Leistungsfähigkeit bis hin zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen reichen können. Die Weltgesundheitsorganisation WHO berechnete 2011 die lärmbedingten Gesundheitsschäden in der EU mit einem Verlust von über 1 Million gesunden Lebensjahren. Darüber hinaus kann Lärmbelastung auch ökonomische Schäden erzeugen, z. B. die Abwertung lärmbelasteter Immobilien oder zusätzliche Kosten für die Erstellung von Lärmschutzmaßnahmen. Nach Angabe des Umweltbundesamts nimmt der Immobilienwert eines Wohngebäudes ab 50 dB um 0,5 % für jedes zusätzliche Dezibel ab.1

Lärmemissionsquellen Grundsätzlich lassen sich die folgenden Arten von Geräuschquellen unterscheiden, deren Schallemissionen kumulativ den sogenannten Umgebungslärm bilden: • Mobilität (Straßen-, Schienen- und Luftverkehrslärm)

2.4 — Ökologie

unter Lärmbelästigung leidender Bevölkerungsanteil [%]

Straßenverkehr

Flugverkehr Schienenverkehr

75

Industrie/Gewerbe Nachbarschaft

70 60 50 40

30 20 10 0 2000

2002

2004

2006

2008

2010

Abb. 1

• Produktion (Industrie-, Gewerbe- und Baulärm) • Ausübung sonstiger Aktivitäten (Nachbarschaft-, Sport- und Freizeitlärm) Laut einer Studie des Bundesamts über die Lärmbelästigung der Bevölkerung von 2010 fühlen sich über die Hälfte der Befragten von Lärm belastet, wobei Straßenverkehrslärm gefolgt von Nachbarschafts- und Luftverkehrslärm am häufigsten kritisch bewertet werden (Abb. 1). Die Wahrnehmung von Schallemissionen unterliegt subjektiven Faktoren wie der psychischen und physischen Situation des Menschen und seiner Einstellung gegenüber der Beschallung, weswegen Lärmereignisse bei Nacht oft kritischer bewertet werden als bei Tag. Die menschliche Schmerzgrenze für Lärm liegt für gewöhnlich bei einem Schalldruckpegel von 120 dB(A), jedoch schon ab 60 dB(A) können Stressreaktionen ausgelöst werden, ab 85 dB(A) ist bei längerer Einwirkung mit Gehörschäden zu rechnen und Schallpegel von 200 dB(A) können sogar tödlich sein (Abb. 2).

Lärmbewertungsverfahren und Lärmschutz Aufgrund der differenzierten Wahrnehmung und Bewertung von Lärm existieren bundesweit keine übergeordneten Ansätze und einheitlichen Grenzwerte für die Gesamtheit des Schalleintrags, sondern lediglich separate ordnungsrechtliche Emissions- und Immissionsbegrenzungen sowie Lärmbewertungsverfahren für verschiedene Lärmquellen. Die zulässigen Lärmobergrenzen unterscheiden sich je nach Emissionsquelle, Nutzung (gemäß Baunutzungsverordnung – BauNVO) und Bauvorhaben, z. B. Umbau, Neubau oder Planung (Abb. 3, S. 76).  SB, AS

Luftschadstoffe Die Hauptbestandteile der Luft sind Stickstoff (N), Sauerstoff (O2) und das Edelgas Argon (Ar). Diese Gase machen 99,9 % der Zusammensetzung aus. Obwohl die weiteren neun Bestandteile nur 0,1 % betragen, haben diese Spurenstoffe eine große Bedeutung. Zum einen können sie auch in geringen Konzentrationen Schäden an Mensch, Tier und Pflanze hervorrufen, z. B. Schwefeldioxid (SO2) oder Stickstoffdioxid (NO2), zum anderen sind sie teilweise als Treibhausgase wirksam und tragen dadurch zum Klimawandel bei, z. B. Kohlendioxid (CO2), Methan (CH4), Distickstoffmonoxid (N2O) und Fluorchlorkohlenwasserstoff (FCKW). Luftschadstoffe entstehen durch natürliche Prozesse wie Waldbrände und Vulkanausbrüche, aber vor allem in erheblichem Maße infolge menschlicher Aktivität, insbesondere in den Städten. Hauptquellen sind der Autoverkehr, Hausheizungen sowie die industrielle Produktion. Im Vordergrund stehen dabei in Deutschland inzwischen die Schadstoffe Feinstaub (PM 10, PM 2,5) und Stickstoffoxid (NO2). Sowohl die Hauptschadstoffe als auch deren Quellen haben sich in den Städten im Laufe der Zeit stark verändert (Abb. 7, S. 77). Bedingt durch den spürbar stattfindenden Klimawandel ist die Reduktion von Treibhausgasemissionen ein ernst zu nehmendes Thema geworden und war 1997 Gegenstand des Weltklimagipfels der Vereinten Nationen im japanischen Kyoto, auf dem das sogenannte Kyoto-Protokoll ausgearbeitet wurde. Im Jahr 2012 ist dieses Protokoll ausgelaufen, auf neue Reduktionsziele konnte sich die Weltgemeinschaft bisher allerdings nicht einigen. Als wichtigstes Treibhausgas gilt CO2, dessen Emissionen eng verknüpft sind mit dem Energieverbrauch bzw. dem Verbrauch fossiler Brennstoffe.

Abb. 1 Belästigung der Bevölkerung durch unterschiedliche Lärmquellen Abb. 2 Schalldruckpegel verschiedener Lärmereignisse und deren Auswirkungen

dB(A) 180

Spielzeugpistole am Ohr abgefeuert

170

Ohrfeige aufs Ohr, Silvesterböller auf Schulter explodiert Airbag-Entfaltung in unmittelbarer Nähe

160 150

Hammerschlag in einer Schmiede aus 5 m Entfernung (Spitzenpegel)

130

lautes Händeklatschen aus 1 m Entfernung (Spitzenpegel)

120

Schmerzschwelle: Gehörschaden schon bei kurzer Einwirkung möglich häufiger Schallpegel in Diskotheken, Martinshorn aus 10 m Entfernung

110 100

häufiger Pegel bei Musik über Kopfhörer, Presslufthammer in 10 m Entfernung

85

Hörschaden bei Einwirkungsdauer von 40 Stunden pro Woche möglich Dauerschallpegel an Hauptverkehrsstraße tagsüber erhöhtes Risiko für Herz-KreislaufErkrankungen bei dauernder Einwirkung Dauerschallpegel an Hauptverkehrsstraßen nachts Kühlschrank aus 1 m Entfernung

70 65

50 40 35 25

Lern-/Konzentrationsstörung möglich sehr leise Zimmerventilatoren bei geringer Geschwindigkeit Atemgeräusche in 1 m Entfernung

0

Hörschwelle

Abb. 2

76

Kapitel 2 — Herausforderungen

Verkehr

Anlagen

Planung

Lärmquellen

Straßen, Schienenwege, Magnetschwebebahnen

Straßen in der Baulast des Bundes

Industrie- und Gewerbeanlagen

Sportanlagen

Freizeitanlagen

Vorschriften

16. BlmSchV

Lärmsanierung

TA Lärm1

18. BlmSchV 2

Freizeitlärmrichtlinie 2

Immissionsgrenzwerte

Immissionsrichtwerte

Nacht

Tag

Nacht

Tag

Nacht 3

Tag 4

Nacht 3

Tag 5

Nacht 3

Krankenhäuser

57

47

67

57

45

35

45 /45

35

45 /45

35

Schulen

57

47

67

57

Altenheime

57

47

67

57

Kurheime

57

47

67

57

Kurgebiete

DIN 18 005 Orientierungswerte

Tag

Nutzung

Verkehr, Industrie, Gewerbe, Freizeit

Tag

keine Werte

Nacht 6

keine Werte

45

35

45 /45

35

45 /45

35

45

35

45 /45

35

45 /45

35

50

35

50 /45

35

50 /45

35

keine Werte Pflegeanstalten reine Wohngebiete

59

49

67

57

Wochenendhausgebiete Ferienhausgebiete

keine Werte

keine Werte

Campingplatzgebiete

50

40 / 35

50

40 / 35

50

40 / 35

55

45 /40

allgemeine Wohngebiete

59

49

67

57

55

40

55 /50

40

55 /50

40

55

45 /40

Kleinsiedlungsgebiete

59

49

67

57

55

40

55 /50

40

55 /50

40

55

45 /40

60

45 /40

besondere Wohngebiete

keine Werte

keine Werte

Dorfgebiete

64

54

69

59

60

45

60 /55

45

60 /55

45

60

50 /45

Mischgebiete

64

54

69

59

60

45

60 /55

45

60 /55

45

60

50 /45

Kerngebiete

64

54

69

59

60

45

60 /55

45

60 /55

45

65

55 /50

Gewerbegebiete

69

59

72

62

65

50

65 /60

50

65 /60

50

65

55 /50

55

55

55

55

Friedhöfe Kleingartenanlagen keine Werte

keine Werte

Parkanlagen Sondergebiete6 Industriegebiete 1 2 3 6

keine Werte

70

70

keine Werte

70 /70

70

55

55

45 – 65

35 – 65

keine Werte

Besonderheiten: Immissionsrichtwerte für seltene Ereignisse, Zuschläge für Tageszeiten mit besonderer Empfindlichkeit, Kriterien für einzelne Geräuschspitzen Besonderheiten: Immissionsrichtwerte für seltene Ereignisse, Kriterien für einzelne Geräuschspitzen, sehr differenzierte Beurteilungszeiträume lauteste (volle) Nachtstunde 4 außerhalb der Ruhezeiten /innerhalb der Ruhezeiten 5 außerhalb der Ruhezeiten /innerhalb der Ruhezeiten sowie an Sonn- und Feiertagen bei zwei Werten gilt der zweite Wert für Industrie-, Gewerbe- und Freizeitlärm

Abb. 3

Abb. 4

Ackerland

Vorstadt

Park

innerstädtisches Wohngebiet

Zentrum

Gewerbegebiet

Vorstadt

33 32 31 30

Land

Nachmittagstemperatur [ºC]

Abb. 3 Grenz-, Richtund Orientierungswerte für schalltechnische Immissionen [in db (A)] Abb. 4 Urban-HeatIsland-Effekt

Wärme Die anthropogenen Wärmeemissionen sind von Stadt zu Stadt sehr unterschiedlich und liegen in einigen Städten im Größenbereich der Nettostrahlungsbilanz, d. h. durch die Verbrennung von fossilen Brennstoffen wird so viel Wärme in das urbane System eingebracht wie ohnehin schon durch die Sonne. Sie hängen ab von der Wirtschaftsstruktur, der geografischen Lage und der Topografie, der Einwohnerzahl, dem Autoverkehr sowie vom Energieverbrauch der Bevölkerung. In den nördlichen Breiten nimmt die Wärmeabgabe im Winter durch Heizungen zu, während in südlichen Ländern oft im Sommer durch Gebäudekühlung ein Maximum an Wärmeabgabe erreicht wird, also in einer Zeit hoher Lufttemperaturen. Der Verbrauch wird sowohl nach Tages-, Wochen- als auch Jahresgängen differenziert. Morgens und abends können die Wärmeabgaben um bis zu 50 % höher ausfallen als das Tagesmittel, auch verteilt sich die Wärmeabgabe nicht gleichmäßig über die Stadt. In kleinräumigen Bereichen,

beispielsweise in Straßenräumen, können gegebenenfalls Wärmeabgaben in der Größenordnung von einigen Hundert Watt pro m2 auftreten (Abb. 4). JB

Lichtverschmutzung Lichtverschmutzung ist nicht leicht abzugrenzen, zumal die Formulierung – obwohl mittlerweile eingebürgert – eher den Verlust (die Verschmutzung) der natürlichen Dunkelheit durch Licht und nicht die Verschmutzung des Lichts meint. Üblicherweise wird als Lichtverschmutzung jeder negative Effekt von künstlichem Licht – vor allem im Außenraum – bezeichnet. Dazu gehören: • Blendung, die Unwohlsein erzeugt (Glare) • Belästigung durch nicht gewünschtes Licht, z. B. Straßenlampe, die die Wohnung erhellt

2.4 — Ökologie

77

Abb. 5 Luftverschmutzung an einer Hauptverkehrsstraße Abb. 6 nächtliche Lichtemissionen in Europa Abb. 7 Schadstoffe und Schadstoffquellen von 1700 bis 2010 am Beispiel Stuttgart Abb. 5 Jahr

Abb. 6 Einwohner Kraftfahrzeuge

Hauptschadstoffquellen

Schadstoffe Gerüche

Maßnahmen

Gesetze etc.

1700

13 000



Müll, Fäkalien

1800

15 000



Müll, Fäkalien

Gerüche

Kehrwoche

1900

180 000



Hausbrand, Industrie

SO2, CO, Staub, Rauch

Gewerbeordnung

1950

505 000

33 000

Hausbrand, Industrie

SO2, CO, Staub

Ersatz von Kohle durch Erdöl bzw. Erdgas, Überwachung der Luftschadstoffe

§ 16 GewO

1970

632 000

189 000

Hausbrand, Industrie, Kfz

SO2, CO, Staub, NOX

Ersatz von Kohle durch Erdöl bzw. Erdgas, Verbrennungsverbote, Stand der Technik

BlmschG, BlmschV

1980

602 000

244 000

Hausbrand, Industrie, Kfz

SO2, CO, Staub, NOX

Katalysator

Smogverordnung

1990

599 000

299 000

Kfz, Hausbrand

SO2, CO, Staub, NOX

Euronormen, Luftreinhalteplan

BlmschG, BlmschV

2000

587 000

343 000

Kfz, Lkw

NOX, Benzol, Russ, PM10

Euronormen

EU-Richtlinien

2010

582 000

350 000

Kfz, Lkw

NOX, Benzol, Russ, PM10

Luftreinhalteplan, Aktionsplan

EU-Richtlinien

Abb. 7

(Light Trespass) • Beleuchtung des Nachthimmels, die ihn zum Leuchten bringt (Skyglow) • zu viel Licht, nicht genutztes Licht (Overillumination) Mit Lichtverschmutzung ist eine Vielzahl von negativen Effekten verbunden wie dem erhöhten Energieverbrauch, der über das für die gewünschte Beleuchtung notwendige Maß hinausgeht, die Störung des individuellen Wohlbefindens sowie vor allem die Erzeugung negativer externer Effekte, insbesondere negativer Umwelteffekte (u. a. durch Störung der natürlichen Rhythmen bei Flora und Fauna, einschließlich des Menschen), die dadurch beeinträchtigte Funktion von Ökosystemen sowie der Verlust des dunklen Nachthimmels. So geht man davon aus, dass rund zwei Drittel der US-Amerikaner von ihrem Wohnort aus die Milchstraße nicht sehen können. In Dubai gibt es – wie Nasa-Aufnahmen dokumentieren – Situationen, in denen man als einzigen Himmelskörper den Mond erkennen kann. Lichtverschmutzung ist allerdings schwer zu defi-

nieren, da Licht in der Regel positiv bewertet wird. Es erhöht subjektiv das Sicherheitsgefühl, obwohl die tatsächliche Sicherheitswirkungen keineswegs belegbar ist. Licht gilt als Ausdruck von Wohlstand und Modernität, es ermöglicht die Abkopplung von natürlichen Rhythmen und die Erweiterung wirtschaftlicher, kultureller und freizeitorientierter Aktivitäten in die Nacht. Auch wenn es mittlerweile zahlreiche Ansätze zur Reduzierung des Energieverbrauchs und zur Erhöhung der Effizienz gibt, ist auf absehbare Zeit mit einer weiteren Zunahme des Beleuchtungsniveaus zu rechnen. Gründe dafür sind einerseits die sogenannten Reboundeffekte (Verbilligung erhöht Nachfrage nach zusätzlicher Beleuchtung überproportional), der Lebenswandel hin zu kontinuierlicher Aktivität zu allen Tages- und Nachtzeiten, vor allem aber das nach wie vor verfolgte Ziel des Wirtschaftswachstums sowie der Ausbau beleuchtungsintensiver Großinfrastrukturen in den entwickelten, vor allem aber in den sich entwickelnden Ländern. Für Europa geht man von einem Zuwachs an Beleuchtung von rund 5 % pro Jahr aus. DH

Weitere Informationen Lärm: • Baumüller, Jürgen: Städtebauliche Lärmfibel. Hrsg. vom Wirtschaftsministerium BadenWürttemberg. Stuttgart 1994 • Umweltbundesamt (UBA), Europäische Akademie für städtische Umwelt (Hrsg.): Umgebungslärm, Aktionsplanung und Öffentlichkeitsbeteiligung – Silentcity. Berlin 2008 Luftschadstoffe: • Allen, L. et al.: Global to City Scale Urban Anthropogenic Heat Flux: Model and Variability. Megapoli Scientific Report 10-01. London 2010 • Hupfer, Peter; Kuttler, Wilhelm: Witterung und Klima. Eine Einführung in die Meteorologie und Klimatologie. Wiesbaden 2006 Lichtverschmutzung: • Hänsch, Robert et al.: Möglichkeiten der ökonomischen Bewertung des Verlusts der Nacht. Wien 2012 • Köhler, Dennis; Walz, Manfred; Hochstadt, Stefan (Hrsg.): LichtRegion – Positionen und Perspektiven im Ruhrgebiet. Essen 2010 • Rich, Catherine; Longcore, Travis (Hrsg.): Ecological Consequences of Artificial Night Lighting. Washington D. C. 2006 • Posch, Thomas et al. (Hrsg.): Das Ende der Nacht. Lichtsmog: Gefahren – Perspektiven – Lösungen. Berlin 2013 • Held, Martin; Hölker, Franz; Jessel, Beate (Hrsg.): Schutz der Nacht – Lichtverschmutzung, Biodiversität und Nachtlandschaft. BfN-Schriften Nr. 336. Bonn 2013

K A P ITE L 2

Heraus forderungen

2 .5

Ökonomie Ma r t i n Al tmann, Gregor C. Gras s l, Guido Spars

2.5 — Ökonomie

S

pätestens seit der Immobilienund Finanzkrise in Europa und den USA ab 2007 wird deutlich, dass nur nachhaltige und langfristig angelegte Investmentstrategien zukunftsfähig sind. Sowohl im globalen als auch im nationalen und kommunalen Kontext führen kurzfristige Interessen oft zu Fehlentwicklungen. Dies äußert sich auch in der Stadtund Quartiersplanung. Experten sehen speziell in Deutschland aktuell einen Boom an Immobilieninvestitionen, allerdings lediglich in Wachstumszentren wie den Top-7-Standorten (München, Hamburg, Berlin, Frankfurt am Main, Stuttgart, Köln und Düsseldorf ). Die Preise insbesondere für Wohnimmobilien in diesen Metropolen steigen kontinuierlich,1 insgesamt entwickelte sich der durchschnittliche Baulandpreis in Deutschland laut aktuellen Auswertungen des Statistischen Bundesamts von 2013 in den letzten Jahren kontinuierlich um 2 – 3 % nach oben. Für den Zeitraum von 2000 bis 2013 entspricht dies einer Preissteigerung von ca. 30 % (zur Preisentwicklung 2000 – 2007 siehe Abb. 1, S. 80). Aufgrund der besonders hohen Nachfrage und dem hohen Anlagedruck vieler privater und institutioneller Investoren wird diese Entwicklung in Deutschland allerdings nicht als Indiz für eine Immobilienblase gewertet. Insgesamt sind jedoch Entwicklungsstrategien erforderlich, die zum einen die Renditeerwartungen von Investoren als auch die Zielsetzungen und Anforderungen der Kommunen und Nutzer im Auge haben. Gleichzeitig müssen die Städte eine geordnete und verträgliche Entwicklung in den Stadtteilen und Quartieren vor dem Hintergrund »Innenentwicklung vor Außenentwicklung« sicherstellen. Mit der zunehmenden Verknappung von Grundstücken und Flächen sowie den künftig zu erwartenden Änderungen in den demografischen

und sozialen Verhältnissen nimmt die Beachtung von Brachflächen und unter- bzw. schlecht ausgenutzten Flächen zu. Quartiere werden damit als Planungs- und Entwicklungsprojekte erkannt.2 Dies bedeutet, dass mehr Planungsgrößen in die Bewertung eingehen, z. B. Bestand, Denkmalschutz, Infrastruktur, Verkehr, Nachbarschaften und soziale Strukturen. Darüber hinaus kommt der Beteiligung von Bürgern und Politik im Planungsprozess eine immer größere Tragweite auch im wirtschaftlichen Sinne zu. Da die Partnerschaft von Kommunen und Investoren bei Stadtentwicklungsprojekten somit zunehmend an Bedeutung gewinnt, wird auch die ökonomische Tragfähigkeit von immobilienwirtschaftlichen Projekten zu einer entscheidenden Größe bei der Bewertung der Realisierbarkeit. Die Sichtweise und Renditeanforderungen von privatwirtschaftlicher und öffentlicher Projektträgerschaft unterscheiden sich dabei jedoch erheblich. Die Bewertungsmethoden für eine nachhaltige Quartiers- bzw. Flächenentwicklung sind entsprechend darauf auszurichten. Aufgabe ist es, eine Win-Win-Situation zu schaffen, die auch qualitative Faktoren berücksichtigt. Diese unterschiedlichen Sichtweisen und Herausforderungen auf den verschiedenen Ebenen werden in diesem Kapitel erläutert.

Globale und nationale Perspektiven Das Konzept der nachhaltigen Entwicklung erlebt seit den 1990er-Jahren eine besondere Aufmerksamkeit in Politik, Öffentlichkeit und wissenschaftlichem Diskurs. Seit der Arbeit der Brundlandt-Kommission (1987 Veröffentlichung des

79

1 Spars 2012, S. 18f. 2 Spars 2013

80

Kapitel 2 — Herausforderungen

Kaufwert für Bauland [€/m2]

Bauland insgesamt

baufreies Land

Rohbauland

140 120 100 80 60 40 20 0 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010

2011 Jahr

Abb. 1

3 Lendi 1998 4 Kuhn/Rok 2011 5 Deutsche Bundesregierung 2012

Brundtland-Berichts) und der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (United Nations Conference on Environment and Development – UNCED) 1992 in Rio de Janeiro ist nachhaltige Entwicklung zu einem Leitbild avanciert, auf das sich unterschiedlichste politische Kräfte und gesellschaftliche Akteure beziehen. Mit der Agenda 21 als einem von fünf Abschlussdokumenten der Rio-Konferenz liegt ein 40 Kapitel umfassender Katalog von Zielen und Maßnahmen vor, der auch die Thematik der Städte und der Stadtentwicklung beinhaltet. Das Konzept der nachhaltigen Entwicklung ist somit in den letzten Jahren zum kleinsten gemeinsamen Nenner geworden, auf den sich Regierungen, Parteien, Politiker, Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaftler national wie auch international als Zielrahmen einigen konnten. Eine lange Reihe von Absichtserklärungen und Beschlussdokumenten belegen hierbei das ernsthafte Bestreben, jedoch auch die Unbestimmtheit des Begriffs. In Deutschland fanden die Ergebnisse der RioKonferenz in einer entsprechenden Neufassung von Baugesetzbuch (BauGB) und Raumordnungsgesetz (ROG) ihre Umsetzung.3 Explizit ist der Begriff »nachhaltige Entwicklung« als Zielformulierung in den Gesetzestext eingegangen. In § 1 Abs. 5 Satz 1 BauGB ist für die Bauleitplanung das Nachhaltigkeitsprinzip verankert, Bebauungspläne sollen künftig eine nachhaltige Entwicklung gewährleisten. Das 49 Seiten umfassende Beschlussdokument der Konferenz »Rio+20« (2012) enthält eine Aufwertung des UN-Umweltprogramms UNEP (United Nations Environment Programme), das zwar nicht, wie von Deutschland gefordert, in den Stand einer eigenständigen UN-Umweltorganisation erhoben, aber mit mehr Rechten und Mitteln ausgestattet wird. Das Dokument beinhaltet bisher allerdings keine neu formulierten oder weiter gefassten Entwicklungs- und Umweltschutzziele, diese sollen jedoch in den kommenden Jahren ausgearbeitet werden. Allerdings strebt man eine stärkere Beteiligung der Wirtschaft an einer nachhaltigen Entwicklung nach dem Modell der Green Economy an. Nachhaltige Entwicklung ist eine

Wirtschaftsweise, »die natürliche Ressourcen nur im Rahmen ihrer Regenerations- und Ab sorptionsfähigkeit nutzt und gleichzeitig allen Menschen in gleichem Maße ein ethisch vereinbartes Mindestmaß an Lebensqualität garantiert« (Abb. 2).4 Die Politik hat hierbei die Aufgabe, auf allen Entscheidungsebenen dafür zu sorgen, dass die jeweiligen Standards verbindlich vereinbart und ihre Nichteinhaltung geahndet wird. Mit dem Fortschrittsbericht 2012 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie dokumentiert die Bundesregierung den Erfolg ihres »Managementkonzepts der Nachhaltigkeit«. Sie hat das Leitbild in zehn Managementregeln zusammengefasst, hierzu gemeinsam mit dem Rat der Nachhaltigkeit als Expertenteam 38 Ziele formuliert und Indikatoren zur Messung der Zielerreichung in 21 Themenfeldern bestimmt. Somit wird in einem Monitoring-Prozess regelmäßig der Stand der Entwicklung ausgewertet und alle vier Jahre in einem Fortschrittsbericht publiziert.5 Die Bundesregierung sieht im nachhaltigen Wirtschaften der Unternehmen langfristig einen Wettbewerbsvorteil im internationalen Handel, sofern es deutschen Unternehmen gelingt, sich frühzeitiger auf die Ziele nachhaltiger Entwicklung auszurichten. Auch in der deutschen Wirtschaft hat sich Nachhaltigkeit inzwischen als relevantes Leitbild etabliert. So bietet z. B. das Konzept der Corporate Social Responsibility (CSR) den Unternehmen einen wichtigen Ansatz, eigenverantwortlich unternehmerisches Handeln mit gesellschaftlicher Verantwortung zu verbinden. Insgesamt wird das Nachhaltigkeitsziel des Übergangs zu einer kohlenstoffarmen, ressourceneffizienteren Produktion erhebliche Investitionen erfordern, kann aber zugleich auch wirtschaftliche Chancen im Bereich der Green Economy bieten. Die Gesamtwirtschaft ist zunehmend von der Globalisierung geprägt, hierzu gehören die intensive internationale Vernetzung und Arbeitsteilung die wachsende Bedeutung globaler Konzerne und der steigende internationale Wettbewerb auf den Märkten. Mit der wachsenden Bedeutung liberalisierter Kapitalmärkte tritt im Bereich der Immobilienmärkte immer stärker die Sekundärfunktion der Immobilien als Vermögensanlage (Asset) in den Vordergrund. Somit bewegen sich die globalen Finanzströme nach eigenen Regeln in bestimmte Anlagesegmente (z. B. Immobilienteilmärkte und -projekte), die untereinander in Konkurrenz um diese Investitionen treten. Die Städte und Regionen, die sowohl im Bereich der technischen Infrastruktur als auch im Bereich der nachhaltigen Wirtschaft und Stadtentwicklung

2.5 — Ökonomie

generell vor großen Zukunftsinvestitionen stehen, werden hierbei künftig noch stärker auf private Investoren und innovative Finanzierungsmodelle (z. B. Stadtentwicklungsfonds) angewiesen sein.6 Das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) ermittelte bereits 2008 einen Nachholbedarf bei kommunalen Infrastrukturen in Höhe von 70 Milliarden Euro.7 Es gilt, große Herausforderungen der nachhaltigen Stadt- und Quartiersentwicklung im Bereich der Wiedernutzung von Immobilien und Brachen, bei der Umgestaltung und Anpassung der sozialen und technischen Infrastrukturen (z. B. hinsichtlich des demografischen Wandels) und bei der Konzeption innovativer Mobilität strukturiert anzugehen.8 Hierbei stellt die defizitäre Finanzlage der Kommunen mit zum Teil dramatischen Verschuldungslagen einzelner Gemeinden eine ernsthafte Bedrohung für die Umsetzung nachhaltiger Entwicklungskonzepte dar. GS

Perspektive Kommune Für Kommunen sind Quartiersentwicklungen zunächst eine organisatorische Herausforderung. Lange Laufzeiten, die Erarbeitung grundlegender Strategien, komplexe Planungsverfahren und die haushalterischen Rahmenbedingungen führen oft zur Überforderung der kommunalen Strukturen. Zusätzlichen Verwaltungsaufwand birgt auch die in den letzten Jahren schrittweise Einführung der Doppelten Buchführung (Doppik). Diese verlangt Ressourcenaufkommen und -verbrauch vollständig und periodengerecht in Form von Erträgen und Aufwendungen zu erfassen und in Haushaltsplanung und Rechnungslegung abzubilden. Erträge und Aufwendungen werden hierbei im Ergebnishaushalt geplant. Die Rechnungslegung über die tatsächlich realisierten Erträge und Aufwendungen erfolgt in der Ergebnisrechnung. Mit diesem Vorgehen soll der Anspruch an die Sicherstellung der Generationengerechtigkeit gewährleistet werden. Die Umsetzung ideeler, nachhaltiger Ziele wird somit oft bereits auf unterster Ebene durch Hürden in der Praxis gehemmt. Mit der Entscheidung für einen grundlegenden Stadtumbau in Stadtteilen oder Quartieren folgt die Kommune den Anforderungen einer angemessenen Daseinsvorsorge, sei dies die Schaffung

von bezahlbarem Wohnraum, die Ansiedlung von Unternehmen oder die Bindung von Kaufkraft durch Ausweisung von Sondergebieten des Einzelhandels. Die Kommune kann die Rahmenbedingungen schaffen, aber zumeist nicht als alleiniger Projektträger auftreten. Nur wenn durch die Akquisition von Fördermitteln und Zuschüssen wichtige Leitinvestitionen, z. B. in den Bereichen Kultur oder Soziales, angestoßen werden, hat eine Stadt die Möglichkeit, aktiv und investiv zu gestalten. Dabei bindet der Wettbewerb um die Mittel von Förderprogrammen (Städtebauförderung wie beispielsweise Stadtumbau West, Soziale Stadt oder Ähnliches) im Rahmen der Entwicklung von Projekten personelle Kapazitäten und Mittel zur Kofinanzierung. Zukunftsweisende Ergebnisse zeigen sich bereits in umfassenden Stadtentwicklungskonzepten und Projektideen, die tatsächliche Umsetzung konkreter Maßnahmen gestaltet sich demgegenüber weitaus schwieriger. Daher ist die Einbindung von privatem Kapital und Kapazitäten in Form von Public-Privat-Partnership (PPP)Modellen oder Entwicklungsgesellschaften oft die einzige Möglichkeit zur Realisierung solcher Projekte. Formelle und informelle Instrumentarien sowie öffentlich-rechtliche Verträge (z. B. städtebauliche Verträge) sollen dabei die Zielerreichung sichern. Die Begleitung und Überwachung des Entwicklungsprozesses, die Übernahme und Bewirtschaftung von Infrastrukturanlagen sowie das politische Risiko des Scheiterns eines Projekts bleiben jedoch bei der Kommune. Somit müssen verlässliche Partnerschaften gefunden oder etabliert werden, die in der Lage sind, auf Anforderungen der Stadt flexibel einzugehen. Viele Kommunen versuchen, über vertragliche Regelungen entsprechende Kosten und Lasten auf die private Seite abzuwälzen. Um einmalige Investitionen und Folgelasten des Betriebs und der Unterhaltung von kommunalen Infrastrukturen zu finanzieren, dennoch aber den Einfluß zu wahren, können z. B. folgende Regelungen vereinbart werden: • Festlegung von städtebaulichen Strukturen und Nutzungen über die Bauleitplanung • Herstellung und unentgeltliche Übergabe von öffentlichen Flächen • Vorhalten von Grundstücks- oder Wohnungsflächen für ausgewählte Bevölkerungsgruppen • Errichtung und gegebenenfalls Betrieb von sozialen Infrastrukturen • Ergänzung bzw. Instandsetzung von äußeren Infrastrukturen im Quartier • Festlegung von übergeordneten Qualitäten (Nachhaltigkeit, Energieversorgung) in Verträgen und in der Bauleitplanung

81

6 Spars 2012, S. 24f. 7 Reidenbach et al. 2008 8 Beckmann 2012

Soziales (individuelle Bedürfnisse und Wohlbefinden)

Steuerung durch die Politik

Ökonomie

Steuerung durch die Politik

Ökologie (Ökosysteme, Rohstoffe etc.; dienen dem Allgemeinwohl) Abb. 2

Abb. 1 durchschnittliche Kaufwerte für baureifes Land und Rohbauland Abb. 2 Wechselverhältnis zwischen den drei Säulen der Nachhaltigkeit. Die Politik nimmt eine steuernde Funktion zwischen den drei Säulen ein. Bei jedem Projekt gilt es zwischen ökologischen, sozialen und ökonomischen Zielen abzuwägen.

82

Kapitel 2 — Herausforderungen

Diese Faktoren belasten die Entwicklungskalkulation des Trägers und entlasten die kommunalen Haushalte. Es zeigt sich auch, dass Quartiersentwicklung in Abhängigkeit des Standorts, der Marktbedingungen und der jeweiligen wirtschaftlichen Lage unterschiedlich bewertet werden muss und eine gemeinsame, umsetzbare Gesamtlösung anzustreben ist. MA

Perspektive Projekt

Interessenkonflikt Hochbau Gerade im Hochbau kommt es immer wieder zur Zerstückelung des Projekts »Quartiersentwicklung« in zahlreiche einzelne Hochbauprojekte. Hier treffen unterschiedlichste wirtschaftliche Rahmenbedingungen und Betrachtungsweisen von Wirtschaftlichkeit aufeinander. Während der private Eigennutzer einer Immobilie, egal ob Eigenheimbauherr, Baugruppe oder Kleinunternehmer, meist ein langfristiges Verständnis und Interesse sowie einen hohen Qualitätsanspruch an seine Immobilie und das Stadtquartier hat, sind sowohl die großen Investoren, aber auch die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften auch kostengetrieben. Dafür sind auf der einen Seite die Renditeerwartung des Investors und gegebenenfalls der dahinterstehenden Immobilienfonds verantwortlich, auf der anderen Seite die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften, deren Aufgabe es ist, bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung zu stellen.

Quartiersentwicklungen sind lange dauernde Projekte, bei denen neben den Lebenszykluskosten als reine Investitionskosten auch die Sekundär- und Tertiäreffekte mittel- und langfristig berücksichtigt werden müssen. Die Herausforderung vom ökonomischen Standpunkt aus ist die transparente und strukturierte Erweiterung der Sichtweise von einer kurzfristigen Kosten- und Renditebetrachtung auf langfristige sowohl quantitative als auch qualitative Bewertungen von Quartiersentwicklungen. Ein wesentliches Problem hierbei ist, dass viele Projekte länger laufen als Legislaturperioden und dass es sich nicht um einzelne, in sich abgeschlossene Projekte handelt. Am Anfang von Quartiersentwicklungen stehen unterschiedlich motivierte Ideen. Auf politischer und gesellschaftlicher Seite können dies die Beseitigung städtebaulicher Missstände, Schaffung und Erhalt einer kommunalen Identität (oft auch in Abgrenzung zu benachbarten Städten und Kommunen), oder konkreter Handlungsdruck aus nicht befriedigter Nachfrage (Wohnungsmangel, Baulandnachfrage, Unternehmensexpansionen) sein. Diese Ideen entstehen sowohl aus volkswirtschaftlichen Überlegungen wie der Schaffung von Grundlagen für bauliche Investitionen und damit neuen Arbeitsplätzen, aber auch gänzlich ohne wirtschaftliche Begründung. Ebenso erwachsen Quartiersideen aus privatwirtschaftlicher Sicht, Motive sind hier meist die Umsetzung eines konkreten Geschäftsmodells oder vorhandenes, aber un(ter)genutztes Eigentum an großen Flächen. Erst wenn diese Ideen auf einen realen Markt und eine konkrete Entwicklungsfläche treffen, wird aus einer Vision ein tatsächlicher Projektansatz. Die große Herausforderung bei Quartiersentwicklungsprojekten besteht in der Koordination oft unzähliger Einzelprojekte. Die Quartiersentwicklung im Sinne einer Aufgabe des öffentlichen

Interesses, die allein durch die Kommune von der Baurechtsschaffung über die Erschließung bis hin zum Hochbau (Kindergarten, Sozialwohnungsbau etc.) und eventuell sogar dem Betrieb abgewickelt wird, ist ein kaum mehr anzutreffendes Modell. In den meisten Fällen beschränkt sich die Kommune auf ihre hoheitliche Aufgabe, Planungs- und Baurecht zu schaffen und gibt diesen wirtschaftlichen Vorteil mit entsprechenden Auflagen an die nachfolgenden Projektbeteiligten (Erschließungsträger, Investoren etc.) weiter. In vielen Fällen werden bereits die Planungsaufgaben nicht nur als Outsourcing (Vergabe von Planungsleistungen durch die Kommune an private Stadtplanungsbüros) abgewickelt, sondern als Aufgabe des Investors, also nicht mehr federführend durch die Stadt, die diese durch die kommunalen Verfahrensschritte lediglich noch begleitet. Ebenso ist es üblich, die Erschließungsaufgaben mit allen wirtschaftlichen Abhängigkeiten und Folgekosten an einen Träger oder Investor weiterzugeben. Unterschiedliche Abrechnungsvorschriften und -methoden wie kostendeckende öffentlich-rechtlich geregelte Erschließungsgebühren gegenüber gewinnorientierten Kostenkalkulationen eines Investors wirken sich dabei mittel- und langfristig oft nachteilig für die Kommune aus. Auch wenn die Vielzahl der beteiligten Akteure gestiegen ist: Die Verantwortung der Stadt, aus zahlreichen einzelnen Projekten mit komplexen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ein Quartier zu entwickeln, bleibt. Gelingen kann dies nur, wenn man sich der unterschiedlichen Interessenlagen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen jedes einzelnen Projektbeteiligten bewusst ist und diese entsprechend berücksichtigt. GCG

Unterschiedliche Interessenlagen Die komplexen Rahmenbedingungen einer nachhaltigen Quartiersentwicklung spiegeln sich im stufenweisen Prozess der Entwicklung durch die verschiedenen Interessenlagen der Beteiligten wider. Je schwieriger die Standorteigenschaften sowie die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von Grundstückseigentümern und Kommunen, desto mehr Gewicht erhalten Nutzer und Investoren als Repräsentanten des Investitionskapitals. Bei sehr attraktiven Flächen und Quartieren im Sinne eines »Selbstläufers« wird das mögliche Gewicht der

83

privater Grundstückseigentümer = Unternehmer

desamt für I mm Bun ob

Bundeshaushaltsordnung (Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit)

Planungshoheit

aben ufg na li ie

Absicht zur Gewinnerzielung

jekt Pro ze + Einwohner ng splät itu beit ere /Ar en rb ög Vo rm Ve es

Fachaufsicht Bundesministerium der Finanzen

is

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kommunalen Einflussnahme größer, somit sind die Voraussetzungen gut, verstärkt übergeordnete Ziele der nachhaltigen Stadtentwicklung durchzusetzen (Abb. 3). Das grundsätzliche Interesse der Kommunen gilt der Absicherung der städtebaulichen, architektonischen und sozialen Entwicklungsziele für Flächen oder Quartiere. Soweit sie aufgrund mangelnder wirtschaftlicher Möglichkeiten nicht selbst Eigentümer und Projektträger sein können, müssen sie ihre Einflussnahme über die kommunale Bauleitplanung, öffentlich-rechtliche Verträge oder gegebenenfalls die Beteiligung an Projektgesellschaften sicherstellen. Übergeordnete politische Zielsetzungen wie die Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen oder die attraktive Gestaltung des Wohn- und Arbeitsstandorts spielen insbesondere bei größeren Flächenentwicklungen eine wichtige Rolle. So können durch die Aufgabe eines Altstandorts der Industrie oder des Militärs bei ungenügender Quartiersplanung Arbeitsplätze, Wirtschaftskraft und Einwohner verloren gehen, wohingegen sich durch eine Stärkung des Standorts durch nachhaltige Neu- oder Umgestaltung positive Effekte auch für die benachbarten Gebiete erzielen lassen. Die unterschiedlichen Rahmenbedingungen führen häufig bereits in frühen Planungsphasen zu Konflikten zwischen Kommune, Eigentümer und Investoren und damit zu Verzögerungen. Mit informellen Rahmenplanungen können frühzeitig Eckpunkte und Ziele formuliert werden, die eine gewisse wirtschaftliche Verifizierung ermöglichen (z. B. Nutzungsschwerpunkte, Nettobauland, Kostentragung, Nachhaltigkeitskriterien etc.). In einem auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Prozess muss auch die wirtschaftliche Komponente ein angemessenes Gewicht erhalten. Immer stärker gewinnt in diesem Zusammenhang das Win-Win-Prinzip an Bedeutung: auf der einen Seite die kurz- und mittelfristige Rendite von privaten Partnern, auf der anderen Seite die langfristigen qualitativen und wirtschaftlichen Effekte für eine Kommune, deren Bürger und einen gesamten Standort. Ein maßgebliches Hemmnis bei der Quartiersentwicklung ist die häufig fehlende Bereitschaft von Grundstückseigentümern, mangels Erfahrung oder Kapital bzw. Risikobereitschaft aktiv in Wertschöpfungsprozesse einzutreten. Somit werden oft Verhandlungs- und Bodenordnungsprozesse erforderlich, die die verschiedenen Wertvorstellungen bei Verkauf und Kauf deutlich machen. An der Verfügbarkeit von Grundstücken und Flächen können Projekte häufig scheitern. Deshalb

Gru nds tüc ks ka ufp re

2.5 — Ökonomie

politischer Wille der Bürger, vertreten durch gewählte Vertreter

haushaltsrechtliche Vorgaben (Gemeinde, Land)

Inv e stor

marktgerechte Produkte für Nutzer, Enderwerber

Vorgaben von Finanzierern, Kapitalgebern Gew pital inn/ Ve rzinsung Eigenka

Realisierung Projekt Abb. 3

muss das Rollenverständnis der Grundstückseigentümer, die in der Regel als Verkäufer kein Entwicklungsinteresse haben (z. B. reine Abwicklungs- oder Verwertungsgesellschaften), zu Beginn geklärt werden. Idealerweise gehen alle Flächen in die Hand eines »neuen« Projektträgers über, der den Entwicklungsprozess mit Partnern professionell anstößt und auf der Grundlage klarer Vereinbarungen steuert. Finanzierung und Entwicklungsstrategien bestimmen die Rolle der Marktteilnehmer (Investoren, Projektentwickler, Finanzierungsinstitute, Planer und Berater) als Partner. Über lange Zeiträume laufende Quartiersentwicklungen haben dabei unterschiedliche Dimensionen, da zumeist die eigentliche Flächenentwicklung und die darauf aufbauende Gebäudeentwicklung andere Risikobewertungen erfordern. Da das Ziel privater Partner auf die erreichbare Verzinsung des eingesetzten Kapitals ausgerichtet ist, kommt der Planungssicherheit und der Konstanz eine besondere Bedeutung zu. Für eine nachhaltige Entwicklung von Quartieren, die meist große Flächen und mehrere Jahre (fünf bis acht Jahre oder mehr) umfassen, sind diese Interessenlagen klar zu formulieren und zu bewerten, um einen phasenweisen, kooperativen Prozess zu ermöglichen. Das Management des Gesamtprozesses und die Bewertung der Zielerreichung unter Beachtung der verschiedenen Interessen stellt dabei die eigentliche und größte Herausforderung dar. MA

Abb. 3 Zielsetzungen und Rollenverteilung am Beispiel Konversionsprozess

Weitere Informationen • Burmeister, Thomas: Praxishandbuch städtebauliche Verträge. Bonn 2000 • Libbe, Jens; Köhler, Hadia; Beckmann, Klaus J.: Infrastruktur und Stadtentwicklung. Technische und soziale Infrastrukturen. Herausforderungen und Handlungsoptionen für Infrastruktur- und Stadtplanung. Hrsg. vom Deutschen Institut für Urbanistik und der Wüstenrot-Stiftung. Berlin 2010

K A P ITE L 3

Prinzipien Ste ph an Anders, B astian Wittstock

Kapitel 3 — Prinzipien

B

ei der Planung, dem Bau und der Nutzung von nachhaltigen Stadtquartieren gibt es verschiedene Prinzipien und Aspekte, die zu beachten sind. Die Vorgehensweisen und Planungsansätze sind dabei nicht als Dogmen zu verstehen, sondern müssen individuell je nach Projekt und dessen Zielsetzung untereinander abgewogen werden. So ist beispielsweise die maximal mögliche Dichte bei einer Quartiersentwicklung in einer ländlich geprägten Region im Regelfall niedriger anzusetzen als in einer Großstadt. Dafür hat das Quartier im ländlichen Raum unter Umständen ein höheres Potenzial, große und attraktive Freiräume für die Nutzer bereitzustellen.

Integrale Planung und Beteiligung Die nachhaltige Planung von Quartieren ist komplex und erfordert die Beteiligung der Öffentlichkeit mit ihrem Wissen und ihren Erfahrungen sowie die möglichst frühzeitige Bildung eines integralen Planungsteams. Dieses sollte zumindest aus Vertretern der Disziplinen Stadtplanung, Landschaftsplanung, Verkehrsplanung, Architektur und Energie bestehen und von einem erfahrenen Moderator begleitet werden. Je nach Größe, Komplexität und Zielsetzung des Projekts sollten zusätzlich Experten zu den Themen Recht, Finanzen, Ökologie, Soziales oder Kunst das Team ergänzen. Die möglichst frühzeitige Etablierung eines integralen Planungsteams ist gerade deshalb von

großer Bedeutung, da in frühen Planungsphasen wesentliche Entscheidungen getroffen werden, die die Nachhaltigkeit eines Projekts signifikant beeinflussen. Je weiter die Planung eines Quartiers fortgeschritten ist, desto höher werden der Aufwand und die Kosten, die mit Änderungen verbunden sind (Abb. 1, S. 86). Zurzeit verlaufen die meisten Planungsprozesse noch linear: Für ein freies Grundstück wird eine Markt- und Standortanalyse durchgeführt, daraus ein Nutzungskonzept entwickelt und ein städtebaulicher Wettbewerb ausgeschrieben, der Gewinner des ersten Preises beginnt die Arbeit zu detaillieren und gibt diese an die Fachplaner für Verkehr, Energie, Ver- und Entsorgung etc. weiter. Wenn nun der Energieplaner zu dem Schluss kommt, dass die städtebauliche Grundstruktur nicht für die angestrebte Passivhausqualität geeignet ist, müssten theoretisch alle Planungsschritte überarbeitet werden. Das Ergebnis sind suboptimale Lösungen. Großprojekte wie Stuttgart 21 machen die Folgen einer unzureichenden Informationspolitik für den Projektablauf und die damit verbundenen Kosten sichtbar. Es ist somit unbedingt ratsam, neben der Kommunikation innerhalb des integralen Planungsteams auch frühzeitig den Dialog mit der breiten Öffentlichkeit zu suchen und diesen nicht als ein notweniges Übel, sondern als ein Potenzial für die Planung zu verstehen, um dem Projekt eine breitere öffentliche Akzeptanz zu verleihen. Darüber hinaus muss auch der sozial-psychologischen Aspekt berücksichtigt werden: Bei der frühzeitigen Integration aller Planer und sonstigen Beteiligten steigt die Identifikation mit dem Projekt. Das heißt, die Bereitschaft, sich für die Realisierung und die Durchsetzung der Planungsziele zu engagieren, nimmt zu – und damit die Chancen einer optimalen Umsetzung. SA

85

86

Kapitel 3 — Prinzipien

[%]

Beeinflussbarkeit

Kosten und Emissionen

100

75

Herstellung Vorprodukte

50

Rohstoffabbau

Herstellung / Bau

Recycling / Verwertung

25 Entsorgung

0 Initiierung

Planung

Realisierung

Nutzung

Rückbau

Verwertung Abb. 2

Abb. 1

Abb. 1 Beeinflussbarkeit der Kosten und Emissionen eines Quartiers über den Lebenszyklus betrachtet Abb. 2 Lebenszyklus von Gebäuden Abb. 3 Mehrfamilienhaus in Holztafelbauweise: Der nachwachsende Rohstoff Holz verursacht über den gesamten Lebenszyklus viel weniger Emissionen als beispielsweise Beton oder Stahl. Berlin (D) 2007, Kaden Klingbeil Architekten Abb. 4 Konversion einer ehemaligen Kaserne, Stadtteil Vauban, Freiburg i. Br. (D)

Abb. 3

Nutzung

Kapitel 3 — Prinzipien

Lebenszyklusbetrachtung In DIN EN ISO 14  040 ist der Lebensweg eines Produktsystems als eine Reihe aufeinanderfolgender und miteinander verbundener Stufen von der Rohstoffgewinnung oder -erzeugung über deren jeweilige Verwendung bis hin zur endgültigen Beseitigung des Produkts beschrieben. Übertragen auf die Ebene eines Gebäudes heißt dies, dass alle über den Lebenszyklus auftretenden Emissionen und Kosten des Gebäudes insgesamt (z. B. Energiebedarf im Betrieb) als auch der einzelnen Bestandteile wie Türen, Fenster und Wände systematisch erfasst und bewertet werden – vom Abbau der notwendigen Rohstoffe über deren Verarbeitung und Nutzung bis hin zu ihrem Rückbau bzw. Recycling (Abb. 2). Ist die Betrachtung für Gebäude schon komplex, wird sie für Quartiere noch unweit komplexer. Ein Quartier besteht nicht nur aus Gebäuden, sondern zudem aus einer Vielzahl von Bausteinen wie Straßen, Wege, Plätze, technische Infrastruktur, Grün- und Freiflächen für Menschen und Tiere, die diese nutzen. Jeder dieser Bausteine hat dabei eine bestimmte Lebensdauer und verursacht unterschiedliche Kosten und Emissionen bei Bau, Nutzung, Instandsetzung und Rückbau. Die Gesamtheit der Zyklen der einzelnen Elemente bildet somit ein projekt- oder objektspezifisches Szenario, in dem jedes Jahr die entsprechenden Prozesse ausgelöst werden.1 Diese eher technische Sichtweise auf ein Gebäude oder ein Quartier gilt es, durch die Optimierung der Bauqualität zu stützen. Ein Gebäude kann zwar nahezu vollständig aus nachwachsenden Rohstoffen gebaut sein und mehr Energie erzeugen, als es benötigt. Wenn es jedoch Konstruktionsmängel aufweist, nur mit sehr hohem Wartungsaufwand nutzbar ist oder nach Auszug der Erbauer und Erstnutzer nicht mehr den gestalterischen Vorstellung eines neuen Eigentümers entspricht, kann es durchaus sein, dass das Gebäude trotz guter Ökobilanz und niedriger Lebenszykluskosten nach wenigen Jahren wieder abgerissen wird. So zeigt sich bei der Langzeitbetrachtung verschiedener Quartiere und Bautypologien, dass es einigen gelingt, über die Jahrzehnte – je nach Bedarf – Raum für verschiedene Nutzungen flexibel zur Verfügung zu stellen und sparsam mit vorhanden Ressourcen umzugehen. Ein gutes Beispiel hierfür sind Gründerzeitquartiere wie z. B. der Stuttgarter Westen, in denen Wohnungen

87

von reichen Kaufleuten mit Zimmern für die Bediensteten im Laufe der Jahre zu Wohngemeinschaften, kleinen Werkstätten oder Büros umgenutzt wurden. Lebenszyklusorientierte Planung heißt somit auch vorausschauende und flexible Planung. Es ist daher unbedingt empfehlenswert, alle mit der Entwicklung und Nutzung eines Quartiers verbundenen Auswirkungen frühzeitig abzuschätzen und aus deren Analyse nachhaltige Konzepte zu entwickeln. BW, SA

Abb. 4

Innen vor außen Boden ist, insbesondere in dicht besiedelten Ländern wie Deutschland, ein sehr wichtige Ressource die sich nicht vermehren lässt. Das primäre Ziel einer nachhaltigen Quartiersentwicklung muss somit darin liegen, sparsam mit denen noch zur Verfügung stehenden Flächen umzugehen. Dies kann durch die Nutzung von brachliegenden bzw. untergenutzten Flächen wie ehemalige Militär-, Bahn- oder Gewerbeflächen erfolgen oder auch durch eine verdichtete Bauweise. Die Bebauung ungenutzter innerstädtischer Flächen wie im Freiburger Stadtteil Vauban (Abb. 4) oder dem Tübinger Loretto-Areal hat dabei gleich mehrere Vorteile verglichen mit einer Bebauung auf der »grünen Wiese«, auch wenn die Anfangsinvestitionen aufgrund vorhandener Altlasten und erhöhtem Planungsaufwand höher ausfallen können, als zu Beginn vorgesehen. Die Modernisierung und Reaktivierung der bestehenden Straßen, Gebäude und der technischen Infrastruktur senkt nämlich auf der anderen Seite den Ressourcenbedarf für den Bau. Gleichzeitig lässt sich die bestehende Infrastruktur für Energie, Ver- und Entsorgung, Schulen und Kindergärten durch die Nachverdichtung auf Stadtteilebene effizienter nutzen. Dies reduziert wiederum Kosten und Emissionen. Eine innenstadtnahe Lage ermöglicht außerdem, zu Fuß, mit dem Fahrrad oder den öffentlichen Verkehrsmitteln Einrichtungen des täglichen Bedarfs wie Schulen, Arbeitsstätten und Einkaufsmöglichkeiten bequem zu erreichen, was zu einer Reduzierung des Pkw-Verkehrs und den damit verbundenen Emissionen führt. Neben diesen technischen Aspekten erlaubt die Nutzung von Brachflächen, ergänzende Angebote für die umliegenden Quartiere zu schaffen und sozialen Fehlentwicklung von Stadtteilen vorzu-

1 König et al. 2009, S. 20

88

Kapitel 3 — Prinzipien

beugen. Damit kann auch ein wichtiger Beitrag dazu geleistet werden, die soziale und funktionale Mischung zu verbessern und die Stadt lebendiger und attraktiver für verschiedene Bevölkerungsgruppen zu gestalten.

Bestand nutzen

Abb. 5

Abb. 6

Der größte Teil der Städte in Europa ist bereits gebaut. Die jährliche Neubauquote in Deutschland beispielsweise schwankt zwischen 1 und 2 %, gemessen am derzeitigen Bestand. Durch den aktuellen Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft werden große innerstädtische Gewerbe- und Industrieareale frei, die ein enormes städtebauliches Entwicklungspotenzial bieten, das es für die nachhaltige Transformation unserer Städte zu nutzen gilt. Deshalb ist es notwendig, sich verstärkt mit dem Bestand auseinanderzusetzen. Dazu zählen zum einen bestehende Gebäude und Straßen, aber auch vorhandene identitätsstiftende Materialien, Pflanzen oder Tiere bis hin zu abstrakten Elementen wie (Zwischen-)Nutzungen oder Namen (Abb. 5). Gebaute Beispiele wie die HafenCity in Hamburg oder das GWL-Terrein in Amsterdam (siehe S. 276f.) zeigen, dass neben der Tatsache, dass sich Ressourcen beim Bau einsparen lassen, der Bestand eine wichtige Funktion hinsichtlich der identitätsstiftenden Funktion eines Orts für seiner Nutzer übernehmen kann. Der Blick in die einheitlich gestalteten Großwohnsiedlungen der 1970erJahre zeigt deutlich, wie wichtig identitätsstiftende Elemente bei der Quartiersentwicklung sind. Des Weiteren bieten bestehende Gebäude die Möglichkeit, vorhandene Potenziale zu stärken und z.B. Musiker, Künstler oder Vereine in das Quartier zu integrieren. Diese Personengruppen und Institutionen sind wichtig für die urbane Vielfalt, können sich jedoch meist einen Neubau nicht leisten. Die Nutzung des Bestands ist daher bei der Planung von nachhaltigen Stadtquartieren ein wichtiger Aspekt.

Mischung Die zentralen Aspekte in der Diskussion um eine nachhaltige Stadtentwicklung sind die Themen Dichte und Nutzungsmischung. War es ursprüngAbb. 7

lich eines der Grundprinzipien der europäischen Stadt, dass Wohnen und Arbeiten oder unterschiedliche soziale Schichten eine enge räumliche Beziehung zueinander hatten und in Symbiose miteinander standen (Abb. 6), so änderte sich das Bild unserer Städte im Zuge der Industrialisierung und dem daraus resultierenden Leitbild der Funktionstrennung, das der Congrès International d’Architecture Moderne (CIAM) 1933 in der Charta von Athen formulierte, dramatisch. Die industrielle Produktion wurde immer mehr von den am Ort natürlich zur Verfügung stehenden Ressourcen entkoppelt und besetzte riesige Flächen am Rand der Stadt, zu denen die Arbeiter nun täglich pendeln mussten. Die Massenmotorisierung seit den 1950er-Jahren bewirkte dann zunächst die Suburbanisierung des Wohnens, schließlich auch der Dienstleistungen und des Einzelhandels (Shoppingcenter und Fachmärkte). Die Folgen sind überfüllte Straßen, hohe Emissionen und ein gigantischer Flächenverbrauch während der letzten Jahrzehnte. Seit einiger Zeit ist ein entgegengesetzter Trend zu erkennen. Unterstützt durch die fortschreitende Deindustrialisierung Europas und die damit verbundene Möglichkeit, monofunktional genutzte Flächen wie ehemalige Fabrikgelände, Güterbahnhöfe oder Frachthäfen wieder für andere Nutzungen zu öffnen, wird verstärkt versucht, gemischte Quartiere zu entwickeln, die eine Vielfältigkeit aufweisen können. Anders als bei reinen Industrie-, Büro- oder Wohngebieten wird hier der öffentliche Raum viele Stunden am Tag frequentiert. Dies verbessert das Sicherheitsgefühl der Nutzer, was wiederum zu einer höheren Attraktivität des Quartiers beiträgt. Auch bildet eine gemischt genutzte städtebauliche Struktur die Grundlage für die Stadt der kurzen Wege. Kurze Strecken zwischen Wohnen, Arbeiten und Freizeit lassen sich bequem zu Fuß, mit dem Fahrrad oder den öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen. Neben der Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs (MIV) und den damit verbundenen Lärm- und Staubemissionen erhöht sich dadurch wiederum die Attraktivität des öffentlichen Raums und es stehen mehr Flächen für Fuß- und Radverkehr zur Verfügung. Sicher können Wohnung und Arbeitsplatz auch in Zukunft häufig in größeren Entfernungen voneinander liegen. Eine Mischnutzung des Stadtgebiets erzeugt jedoch durch die Ein- und Auspendler einen symmetrischen Ziel- und Quellverkehr und sorgt für die Mehrfachnutzung von Parkierungsanlagen. Reine Arbeits- und Wohnquartiere hingegen bewirken eine schlechte Ressourcenausnutzung des öffent-

Kapitel 3 — Prinzipien

89

Abb. 8

lichen Personennahverkehrs (ÖPNV), da morgens und abends die einseitige Überlastung jeweils in einer Richtung stattfindet und die doppelte Zahl von Parkplätzen – am Wohn- und am Arbeitsort – vorgehalten werden muss. Nicht zuletzt bieten gemischt genutzte Strukturen die bessere Anpassung an sich ändernde Rahmenbedingungen (siehe Resilienz, S. 91) und sind somit langfristig stabil und attraktiv für Eigentümer, Nutzer und Investoren. Allerdings bergen sie ein höheres Konfliktpotenzial als monofunktionale Gebiete, wenn beispielsweise ein Supermarkt im Erdgeschoss eines Gebäudes morgens früh mit Waren beliefert wird und sich dadurch die Bewohner der darüberliegenden Wohnungen gestört fühlen oder wenn lärmende Gäste in gastronomischen Betrieben ein und aus gehen. Es gilt somit, intelligente Konzepte zu entwickeln, um die Anforderungen der verschiedenen Nutzungen zu berücksichtigen und Konfliktpotenziale auf ein Minimum zu reduzieren. Quartiere wie das Loretto-Areal in Tübingen (Abb. 7) und Vauban-Viertel in Freiburg zeigen, dass dies möglich ist. Sie verdeutlichen auch, wie wichtig soziale Diversität für das Leben im Quartier ist. So treffen sich im öffentlichen Raum Menschen aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten, aus verschiedenen Berufsgruppen, in unterschiedlichen sozialen Situationen und können miteinander ins Gespräch kommen und neue soziale Netzwerke knüpfen. Dieses Miteinander fördert das gegenseitige Verständnis, beugt Segregation vor und bildet die Grundlage für eine intakte Gesellschaft.

Dichte Dichte ist die Voraussetzung für einen sparsamen Umgang mit Ressourcen. Dabei kann unter Dichte

zum einen die bauliche Dichte und zum anderen die Nutzungsdichte verstanden werden. Beispielsweise lässt sich durch die Flexibilität von Stadträumen und Gebäuden deren Nutzungsdichte bei gleichbleibender baulicher Dichte erhöhen. Beispiel hierfür ist die Teilung eines Arbeitsplatz mit mehreren Personen (Desksharing), die Inanspruchnahme von Schul- und Universitätsräumen in den Abendstunden und Ferien durch Vereine. Die Unternehmen und Vereine müssten dann keine eigenen Veranstaltungsräume bauen und die zusätzlichen Einnahmen aus der Untervermietung ließen sich beispielsweise für die energetische Sanierung der Gebäude verwenden. Das würde Emissionen reduzieren und die Umwelt schonen. Am Beispiel des Prinzips Desksharing zeigt sich heute schon, dass sich bis zu 20 % der Flächen und damit auch Kosten für Heizung, Lüftung und die Arbeitsplatzausstattung einsparenlassen2 – und dies ohne einen Euro zusätzlich zu investieren. Eine weitere Möglichkeit für eine erhöhte Nutzungsdichte ist die temporäre Umnutzung einer Verkehrsfläche als Fußgängerzone, Markt, Spielplatz oder Freilichttheater (Shared Space). Neben der Nutzungsdichte ist auch die bauliche Dichte entscheidend dafür, ein Quartier effizient betreiben zu können (Abb. 8). Auf einem Grundstück kann im Vergleich ein Zweifamilienhaus nie die gleiche Nutzungsdichte erreichen wie ein 50-stöckiges Hochhaus. Dichte ist die Voraussetzung für eine Versorgung der Quartiere mit Nah- oder Fernwärme (Abb. 9 und 10, S. 90) und für die Anbindung an das öffentliche Nahverkehrsnetz, denn für eine neue Haltestelle im ÖPNV ist eine bestimmte kritische Masse an potenziellen neuen Passagieren erforderlich. Ein weiterer Vorteil baulicher Dichte ist die Erreichbarkeit und Auslastung bestehender sozialer Infrastrukturen wie Schulen oder Kindergärten. Die effiziente Verwendung vorhandener Ressour-

Abb. 5 Werksschwimmbad, ehemalige Kokerei Zollverein, Essen (D) 2001, Dirk Paschke, Daniel Milohnic Abb. 6 belebter Stadtplatz Amagertorv, Kopenhagen (DK) 2012 Abb. 7 Wohnen und Arbeiten eng zusammen, LorettoAreal, Tübingen (D) Abb. 8 Stadtquartier am Wasser, Borneo-Sporenburg, Amsterdam (NL) 2005

2 Zinser/Boch 2007, S. 123

90

Kapitel 3 — Prinzipien

Leitungslänge je Wohneinheit 70 60

200 50 150

40

Wohneinheiten je ha

Leitungslänge je Wohneinheit [m]

Wohneinheiten je Hektar 250

30

100

20

cen durch hohe bauliche Dichte und die flexible Nutzung von Flächen und Räumen ist daher ein primäres Ziel nachhaltiger Quartiersplanung. Dabei sei angemerkt, dass eine hohe bauliche Dichte auch negative Auswirkungen hervorrufen kann, beispielsweise die mangelnde Durchlüftung eines Quartiers. Es gilt aus diesem Grund, je nach Standort und Projektzielen abzuwägen, welche Dichte anzustreben ist (siehe Handlungsfeld Integration und Synergien, S. 196).

50 10 0

0 Stadt

Dorf kompakt

Rand des Hauptorts

weiteres Umland

Streusiedlung dynamisch

Streusiedlung traditionell

Abb. 9

Energieverbrauch [MW/km2]

nach: Siedentop et al. 2006 nach: Roth et al. 1980 Mindestdichte aus Sicht wirtschaftlicher Fernwärmeversorgung Grenze wirtschaftlicher Versorgung nach: Siedentop et al. 2006 65

Block

60 55

Zeile/Platte

50 45 40 Block

35 Zeile

30 25

EFH dicht/Dorf Reihenhaus

20

Dorf

15

EFH locker EFH locker

10 5

Zeile

Platte

EFH dicht MFH 90+

0 0

0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7 0,8 0,9 1,0 1,1 1,2 1,3 1,4 1,5 GFZ

Abb. 10 Abb. 9 Leitungslängen für die Wasserver- und -entsorgung je Wohneinheit bei unterschiedlichen Siedlungsdichten Abb. 10 Schwellenwerte minimaler Bebauungsdichten aus Sicht der Wirtschaftlichkeit der Fernwärmeversorgung

Freiräume Die Qualität und fußläufige Erreichbarkeit von Freiräumen ist für die Attraktivität eines Quartiers von hoher Bedeutung. Als Ort der Kommunikation, der Erholung und des kulturellen Lebens leisten Freiräume einen wichtigen Beitrag zum Wohlbefinden und zur Identifikation der Nutzer mit dem Quartier. Am Beispiel des Central Parks in New York, des Petersplatzes in Rom oder der Strandpromenade von Rio de Janeiro (Abb. 11) zeigt sich, dass sie, vielmehr noch als einzelne Gebäude, den Charakter einer Stadt maßgeblich bestimmen. Unter Freiräumen sind dabei nicht nur großzügige Grün- und Wasserflächen zu verstehen, sondern auch Wege, Plätze und Straßenräume (z. B. Avenue des Champs-Élysées in Paris) sowie private Gärten, Balkone, (Dach-)Terrassen und Innenhöfe. Sie stehen in einer wechselseitigen Beziehung mit der Dichte eines Quartiers. Je höher diese ist, desto mehr Freiflächen sollte es darin geben, auch wenn diese Maxime Zielkonflikte beinhalten kann. Schließlich ist das Verhältnis von Bebauungsdichte zum Anteil an öffentlichen Freiräumen in einem Quartier auch ein entscheidender Faktor für die Wirtschaftlichkeit eines Projekts. Insbesondere für das Stadtund Mikroklima und damit auch für das Wohlbefinden und die Gesundheit der Bewohner spielen ausreichend große Freiflächen aber eine wichtige Rolle. Daneben kommt den Freiflächen aufgrund ihrer Attraktivität und Multifunktionalität eine besondere Bedeutung zu. So lassen sich durch eine flexible Nutzung je nach Tages- oder Jahreszeit enorme Flächen sowie damit verbundene Kosten für den Bau und die Instandhaltung einsparen. Beispielsweise wäre es möglich, einen Straßenraum bei Berufsverkehr zu 70 % für den motorisierten Individualverkehr und in Zeiten mit

Kapitel 3 — Prinzipien

geringem Verkehrsfluss (mittags, nachts, am Wochenende oder in den Ferien) zu 70 % für Fußgänger, Fahrradfahrer und Cafés zu nutzen. Die Teilsperrung des Broadway in New York oder die Shared-Space-Maßnahmen aus den Niederlanden zeigen, dass solche Konzepte durchaus realistisch und umsetzbar sind. Aufgabe einer nachhaltigen Quartiersentwicklung ist es also, zwischen Verdichtung auf der einen Seite (effiziente Infrastruktursysteme, Stadt der kurzen Wege etc.) und Freiräumen auf der anderen Seite (Wohlbefinden, Gesundheit etc.) abzuwägen und je nach Standort und Zielen ein ausgewogenes Verhältnis zu finden.

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System zu entwickeln, das es ermöglicht, über lange Zeiträume hinweg unterschiedlichste Strukturen und Nutzungen aufzunehmen, ohne dabei Abstriche in der gestalterischen Qualität machen zu müssen. Insbesondere in Zeiten der Globalisierung und des immer schneller werdenden Wandels gewinnt diese Fähigkeit von Städten und Quartieren verstärkt an Gewicht. Nicht zuletzt werden durch die langfristige Nutzbarkeit von Gebäuden und Freiflächen auch enorme Ressourcen für den Abriss und Neubau eingespart, ohne dabei zusätzliche Kosten zu verursachen. Abb. 11

Resilienz Der Begriff Resilienz beschreibt die Eigenschaft eines Systems, sich gegenüber Störungen robust zu verhalten und nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist das Stehaufmännchen, das nach Antippen immer wieder in seinen Ursprungszustand zurückkehrt. In den vergangenen Jahren wurde der Begriff der Resilienz verstärkt auch in Zusammenhang mit Städtebau und Stadtplanung verwendet. Nicht ohne Grund, denn auch Städte oder Quartiere können als komplexe Systeme angesehen werden, die sich mehr oder weniger gut an sich ändernde Rahmenbedingungen anpassen können. Beispiele wie die Autostadt Detroit in Michigan, USA oder das Ruhrgebiet in Deutschland mit Schwerindustrie und Bergbau zeigen, wie anfällig ganze Regionen sein können, die primär auf nur einem Wirtschaftszweig aufgebaut sind. Aber nicht nur auf der Ebene der Region spielt die Anpassungsfähigkeit von Systemen eine wichtige Rolle, auch auf der Quartiersebene zeigt sich die Qualität einer flexiblen und anpassungsfähigen Planung für eine nachhaltige Entwicklung. Ein Beispiel hierfür stellt der Masterplan der Büros KCAP und ASTOC für die HafenCity in Hamburg dar, in dem bewusst nur die zentralen Elemente des städtebaulichen Entwurfs wie Grünräume, Sichtbeziehungen und markante Gebäude festgelegt wurden. Alle anderen Strukturen folgen zwar einem städtebaulichen Regelwerk, bieten jedoch in ihrer Ausgestaltung einen hohen Grad an Flexibilität für unterschiedliche Strukturen und Nutzungen (siehe Veränderung der Baustruktur in Abb. 12). Für die nachhaltige Planung von Quartieren gilt es somit, ein robustes und anpassungsfähiges

Bewertung und Monitoring Nachhaltige Quartiersplanung ist ein dehnbarer Begriff. Aus diesem Grund sollten möglichst frühzeitig mit allen relevanten Akteuren die Ziele des Projekts diskutiert und in Form von (messbaren) Kriterien festgehalten werden. Eine regelmäßige Überprüfung (Monitoring) dieser Ziele und Kriterien während der Planung, ermöglicht es, Missstände frühzeitig zu erkennen und Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Ein solcher Kriterienkatalog hilft auch, Zielkonflikte aufzuzeigen und diese auf eine transparente Art und Weise unter allen Beteiligten zu diskutieren. Ein Beispiel hierfür stellt das von der Deutschen Gesellschaft für nachhaltiges Bauen e. V. (DGNB) entwickelte Zertifizierungssystem für Stadtquartiere dar. Dieses basiert auf insgesamt 45 Kriterien für die Bewertung von Quartieren, die sich in die Themenfelder Ökologie, Ökonomie, Soziokultur und Funktion, Technik sowie Prozess aufteilen (siehe Zertifizierungs- und Bewertungssysteme, S. 238f.).

Abb. 11 Strandpromenade, Copacabana, Rio de Janeiro (BR) 1970, Roberto Burle Marx Abb. 12 Anpassungsfähigkeit der Planung, Masterplan von 2000 (a) und 2010 (b), HafenCity Hamburg (D)

a

Allen nachhaltigen Ansätzen bei der Planung zum Trotz entwickeln sich Quartiere nach ihrer Fertigstellung oft anders als gedacht. Die Gründe hierfür sind vielfältig und reichen von einfachen Planungsfehlern über sich ändernde Rahmenbedingungen bis hin zum Maß der Akzeptanz durch die Nutzer und deren Verhalten. Es empfiehlt sich daher, ein Quartiersmanagement zu etablieren, das die Einhaltung der gesteckten Ziele regelmäßig überprüft und bei berechtigten Zweifeln gemeinsam mit Bewohnern, der Kommune und Planern Gegenmaßnahmen erarbeitet und diese konsequent umsetzt. SA Abb. 12

b

K A P ITE L 4

Handlungsfelder

4 .1

Regional -, Stadt und Quartiers planung He l m u t Bott, Ste fan Siedentop

4.1 — Regional-, Stadt- und Quartiers planung

A

ufgabe der Stadtplanung ist einerseits die Entwicklung des gestaltgebenden Entwurfs, andererseits die integrierende Organisation des komplexen Planungsverfahrens und dessen Moderation. Gerade im Laufe der letzten Jahrzehnte müssen immer mehr fachwissenschaftliche und technische Teiluntersuchungen und sektorale Fachplanungen einbezogen werden, die es auch untereinander abzuwägen gilt. Während bei der Entstehung und Abstimmung des Planungsprogramms zunächst die politische Willensbildung und die Beteiligung der Öffentlichkeit im Vordergrund des Prozesses stehen, ist es bei den weiteren Schritten wichtig, möglichst frühzeitig alle Fachplaner (Landschaftsplanung, Verkehr, Wasserwirtschaft, Energieversorgung etc.) in den Entwurfs- und Planungsprozess zu integrieren. Stadtplanung findet auf den unterschiedlichsten Maßstabs- und Hierarchieebenen statt – von der Stadtentwicklungsplanung bis zum Entwurf kleiner Ensembles. Dabei dominiert in der deutschen Gesetzgebung, basierend auf dem Grundgesetz, parteiübergreifend die Auffassung, dass die gestaltende Planung der räumlichen Entwicklung des Gemeinwesens demokratisch, d. h. durch die Bürger und deren Repräsentanten in den Parlamenten, legitimiert sein muss. Die gestaltende Planung darf nicht allein der Marktentwicklung, also den oft kurzfristigen Interessen einzelner Investoren, überlassen bleiben. Es gilt vielmehr das im Baugesetzbuch (BauGB) in §1 Abs. 7 definierte Abwägungsgebot: »(7) Bei der Aufstellung der Bauleitpläne sind die öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen.« In §1 Abs. 5 wird die nachhaltige städtebauliche Entwicklung gefordert: »(5) Die Bauleitpläne sol-

len eine nachhaltige städtebauliche Entwicklung, die die sozialen, wirtschaftlichen und umweltschützenden Anforderungen auch in Verantwortung gegenüber künftigen Generationen miteinander in Einklang bringt, und eine dem Wohl der Allgemeinheit dienende sozialgerechte Bodennutzung gewährleisten. Sie sollen dazu beitragen, eine menschenwürdige Umwelt zu sichern, die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen und zu entwickeln sowie den Klimaschutz und die Klimaanpassung, insbesondere auch in der Stadtentwicklung, zu fördern, sowie die städtebauliche Gestalt und das Orts- und Landschaftsbild baukulturell zu erhalten und zu entwickeln.« Die Gemeinden müssen zwar die übergeordneten Planungen der Landes- und Regionalplanung berücksichtigen, sind darüber hinaus jedoch im Rahmen der Gesetze in ihren Planungsentscheidungen frei. Diese kommunale Planungsautonomie ist ein hohes Gut der deutschen Verfassung, das aus historischen Traditionen und Erfahrungen resultiert und keineswegs selbstverständlich ist. In sehr vielen Staaten werden Planungen in zentralen Institutionen erarbeitet und/oder von zentralen Behörden gesteuert bzw. kontrolliert; in anderen Staaten wiederum dominieren die Interessen der Projektentwickler und des Immobilienmarkts die Planungen. HB

Nachhaltige Stadt- bzw. Regionsmodelle In Wissenschaft und Politik herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass Allokationsprinzipien, also Mechanismen, die zu Standortentscheidun-

93

94

Kapitel 4 — Handlungsfelder

gebietsscharfe Darstellung Entwicklungsachse des Landesentwicklungsplans 1983 regionale Entwicklungsachse Siedlungsbereiche der Entwicklungsachse Abb. 1

Oberzentrum Mittelzentrum Unterzentrum bzw. Kleinzentrum Grenze des Mittelbereichs

Abb. 2

Abb. 1 Grünzüge im Regionalplan Stuttgart 2009 Abb. 2 Wohnbaustandorte im Regionalplan Stuttgart 2009 Abb. 3 ausgewählte positivund negativplanerische Instrumente der Regionalplanung zur Steuerung der Siedlungsentwicklung

1 Einig 2003 2 Benz 2005 3 Landis 2006; Carruthers 2002 4 Ye et al. 2005; Downs 2005 5 Carruthers 2002 6 Ganser / Williams 2007 7 Einig 2005; Siedentop 2012

gen von Haushalten und Unternehmen führen, die sich über Marktmechanismen ergeben, eine nachhaltige Entwicklung von Städten allein nicht gewährleisten können. Die Steuerung von städtischen Wachstumsprozessen – und seit einigen Jahren auch von Schrumpfungsprozessen – durch Instrumente der Stadt- und Regionalplanung gilt als wesentliche Voraussetzung für eine ökonomisch effiziente, ökologisch verantwortbare und sozial gerechte Stadt- und Regionalentwicklung. Im Kapitel »Herausforderung Regional-, Stadtund Quartiersentwicklung« werden mit dem Verweis auf das Leitbild der kompakten Stadt bereits wichtige Ziele raumplanerischer Steuerung und Gestaltung erörtert (S. 37). Von zentraler Bedeutung ist es dabei, den andauernden Flächenverbrauch einzudämmen, fußgänger- und ÖPNVfreundliche Stadträume zu erhalten und zu fördern sowie ökologisch sensible Flächen zu schützen. Darüber hinaus besteht ein Konsens, dass die Koordination der kommunalen Entwicklungsplanungen auf regionaler Ebene (Regional Governance) für eine effektive Wachstumssteuerung unerlässlich ist.1 Neben konventionellen hierarchischen Steuerungsmechanismen kommt dabei der Aktivierung und Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure in Form von kooperativen, informellen Politikformen vermehrte Bedeutung zu.2 Auch wenn die Bezeichnungen international variieren – häufig anzutreffen sind Growth Management3 und Smart Growth4 –, erweisen sich die Kerninhalte wachstumssteuernder Politikins-

trumente meist als sehr ähnlich. Ziel ist es, dem Wachstum der bebauten Stadtfläche Grenzen zu setzen (Urban Containment) und die Erschließung neuer Baugebiete auf die aus raumplanerischer Sicht geeigneten Standorte zu lenken. In Deutschland sind die Regional- und Flächennutzungsplanung die wichtigsten Planungsebenen, während in anderen Ländern auch staatliche Institutionen maßgeblich an der Entwicklungssteuerung beteiligt sind. In den USA haben beispielsweise die State-Growth-ManagementProgramme häufig direkte Steuerungsrelevanz,5 in England nimmt der Staat mit inhaltlichen Vorgaben unmittelbaren Einfluss auf das lokale Planungshandeln (Planning Policy Guidance).6 In Bezug auf den Einsatz wachstumssteuernder Instrumente kann eine grobe Kategorisierung nach der Art ihrer prinzipiellen Wirkungsweise vorgenommen werden (Abb. 3).7 Mit positivplanerischen Instrumenten wird die Ausweisung von Bauland für Siedlungszwecke unmittelbar gesteuert. Dies kann die mengenmäßige Regulierung der Flächenausweisung der Kommunen wie auch Vorgaben zur Standortwahl beinhalten. In Deutschland zählen die Ausweisung von zentralen Orten und Siedlungsachsen verbunden mit der Maßgabe einer Konzentration der Siedlungsentwicklung auf höherrangige Zentren und ÖPNV-erschlossene Achsenräume zu den wichtigsten Instrumenten der Positivplanung (Abb. 2). In einigen Regionalplänen werden darüber hinaus quantifizierte Ziel- oder Orientie-

4.1 — Regional-, Stadt- und Quartiers planung

positivplanerische Instrumente

negativplanerische Instrumente

Vorranggebiet für Siedlungsentwicklung (Wohnen)

Die betreffenden Flächen stellen priorisierte Gebiete für die Neuausweisung von Bauland (z. B. Wohnbauland) dar. Innerhalb des Gebiets sind keine Nutzungen zulässig, die einer späteren Wohnnutzung zuwiderlaufen.

Mengenwerte für die Baulandausweisung

In Gemeinden ohne ausreichende Erwerbsbasis und Infrastrukturversorgung soll sich die Baulandausweisung am Bedarf der örtlichen Bevölkerung orientieren (»Eigenentwicklung«). Den betreffenden Gemeinden werden maximale Wohnungsbauoder Baulandausweisunskontingente als Orientierungs- oder Richtwerte vorgegeben.

Mindestdichten

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regionale Grünzüge

Regionale Grünzüge sind zusammenhängende Freiraumflächen, in denen bauliche Vorhaben in der Regel unzulässig sind. Grünzüge beanspruchen im Vergleich zu Vorranggebieten multifunktionalen Freiraumschutz, da nicht eine einzelne Umweltfunktion den Schutzanspruch begründet.

Grünzäsuren

Grünzäsuren sind gliedernde Freiraumflächen in unmittelbarer Randlage zu hochverdichteten Siedlungsräumen. Sie sollen ein Zusammenwachsen benachbarter Siedlungsflächen verhindern und wichtige Umweltfunktionen schützen.

Vorranggebiete für Freiraumfunktionen

In Vorranggebieten wird eine definierte Freiraumfunktion vor Beeinträchtigungen durch bauliche Vorhaben geschützt. Neben Vorranggebieten für Natur und Landschaft wird dieses Instrument auch für den Schutz von Wasserressourcen, Agrarflächen, klimatisch wirksamen Ausgleichsflächen und abbauwürdigen Bodenschätzen eingesetzt.

Für bestimmte Gemeindetypen (z. B. orientiert am »Zentrale Orte System«) werden Mindestdichten bei der Erschließung von Bauland angegeben. Die Werte haben meist nur orientierende Funktion und sind als Wohneinheiten je Hektar oder Einwoher je Hektar angegeben.

Abb. 3

rungswerte für die maximale Wohnbautätigkeit oder Baulandausweisung auf gemeindlicher Ebene formuliert. Dies betrifft meistens kleine, ländlich geprägte Gemeinden, deren Wachstum über die Nachfrage der örtlichen Bevölkerung und Gewerbetreibenden hinaus (Eigenentwicklung) als nicht wünschenswert betrachtet wird. Zahlreiche Regionalpläne benennen zudem Mindestdichten, an denen sich die kommunale Bauleitplanung orientieren soll. Dichtekonzepte finden sich aber auch in der kommunalen Flächennutzungsplanung (z. B. in Berlin). Negativplanerische Steuerung zielt demgegenüber darauf ab, bestimmte Gebiete vor einer baulichen Nutzung zu schützen. Hierbei kann es sich um Funktionsflächen für den Biotop- und Artenschutz, aufgrund von Grundwasservorkommen zu schützende Gebiete, Agrar- und Forstflächen oder mikroklimatisch wirksame Flächen handeln. Die wichtigsten Instrumente sind planerisch definierte Siedlungsgrenzen (Urban Growth Boundaries), regionale Grünzüge (Green Belts) und umweltfunktionale Vorrang- und Schutzgebiete. Dabei kommen z. B. in den USA8 und in Deutschland9 unterschiedliche Instrumente zum Einsatz. Siedlungsgrenzen definieren die maximale Ausdehnung des bebauten Stadtraums. Sie umgrenzen den entwickelten Siedlungsraum einer Stadt, schließen dabei aber auch Freiräume als zukünftige (bauliche) Entwicklungsflächen mit ein. Grünzüge sind dagegen abgegrenzte Freiraumflächen

in städtischer Randlage mit hohem Siedlungsdruck, in denen jegliche bauliche Aktivitäten unzulässig sind (Abb. 1). Ausnahmen betreffen lediglich bauliche Vorhaben mit explizitem Freiraumbezug wie z. B. Bauten der Landwirtschaft, der Freizeit- oder der Energiewirtschaft. Negativplanung findet sich auch auf kommunaler Ebene, wenn z. B. bestimmte Freiraumflächen aus städtebaulichen Gründen und/oder aufgrund von Anliegen des Natur- oder Immissionsschutzes im Flächennutzungsplan als Erholungs-, Naturschutzoder Immissionsschutzfläche dargestellt werden. In der Stadtplanung rückt die Innenentwicklung verstärkt ins Blickfeld, vor allem dann, wenn die Flächeninanspruchnahme begrenzt werden soll (siehe Innenentwicklung, S. 36).10 Immer mehr Kommunen versuchen, ihre zum Teil erheblichen inneren Flächenreserven zu aktivieren. Neben der Nutzung von Baulücken kommt Brach- und Konversionsflächen dabei eine hervorgehobene Bedeutung zu. Die Nachverdichtung in bestehenden Siedlungsgebieten ist dagegen aufgrund von Akzeptanzproblemen eher nachrangig. Die Marktverfügbarkeit von Potenzialflächen für die Innenentwicklung unterliegt jedoch häufig starken Einschränkungen, u. a. auch weil die Eigentümer der Grundstücke nicht bereit sind, diese zu veräußern. Natürlich sind wachstumssteuernde Planungen in ihrer Effektivität umstritten.11 Mehrheitlich wird dabei die Meinung vertreten, dass raumplanerische Wachstumsbeschränkungen zu hö heren Bauland- und Hauspreisen sowie Mieten

8 Bengston et al. 2004 9 Domhardt et al. 2006 10 Bock et al. 2011; Innenministerium SchleswigHolstein 2011; Bragado et al. 2001 11 Distelkamp et al. 2011 mit weiteren Nachweisen

96

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Planung, Prozesse

Ökonomie

uliche Q teba ua äd

Energie

t litä

st

Emissionen

Arten-/ Biotopschutz

Mensch, Soziokultur Stadtteilklima

Mobilität

Wasser/ Bodenschutz Stoffströme

Abb. 4

12 Pendall et al. 2002; Dawkins /Nelson 2002; Landis 2006; Pfeiffer 2005 13 Downs 2001 14 Steinacker 2003 15 Korthals Altes 2006; Levine 1999 16 Dawkins /Nelson 2002 17 Aring 2005 18 Pendall et al. 2002; Dawkins /Nelson 2002 19 Landis 2006 20 Nelson et al. 2002 21 Ogura 2010; Levine 1999 22 Jun 2004; Bae /Jun 2003 23 Siedentop 2012; Einig et al. 2011 24 Einig /Siedentop 2005 25 Schiller/Gutsche 2009; Preuß 2009 26 Krumm 2004; Bizer et al. 2011

führen können.12 Dies gilt vor allem dann, wenn solche Strategien in Gebieten mit wirtschaftlichem Wachstum und hohen Einkommen verfolgt werden.13 Eine Politik der Baulandverknappung führt nachweislich zu höheren Dichten im Neubau und einer Konzentration des Neubaus in Kern- und Innenstädten,14 in bestimmten Fällen aber auch zu einer geringeren regionalen Neubautätigkeit.15 Zudem können Haushalte mit unterdurchschnittlichen Einkommen infolge steigender Mieten von einer derartigen Politik negativ betroffen sein. Allerdings wird darauf verwiesen, dass noch weitere Faktoren preissteigernde Effekte zur Folge haben können, deren Wirksamkeit sogar größer sein kann als die planerisch erwirkte Verknappung der Baulandverfügbarkeit.16 Genannt werden u. a die Zahlungsbereitschaft für Wohneigentum oder Mieten, die wiederum stark vom Einkommen abhängig ist, sowie die von den Eigentümern erwarteten Preise.17 Verschiedene Quellen weisen darauf hin, dass die Preissteigerungen beim Bauland vor allem von der Art und Weise abhängen, wie wachstumsbegrenzende Instrumente implementiert werden.18 Es komme nur dann zu einer Preissteigerung, wenn durch Maßnahmen des Wachstumsmanagements eine wirkliche Verknappung – gemessen an der tatsächlichen Nachfrage – entsteht.19 Außerdem können in höher verdichteten Siedlungsgebieten steigende Immobilienpreise, die durch Wachstumsmanagement verursacht wurden, durch niedrigere Fahrt- und Energiekosten sowie besser erreichbare Arbeitsplätze, Infrastruktur und Dienstleistungen kompensiert werden.20 Bei wachstumsbegrenzendem Eingreifen auf lokaler oder regionaler Ebene besteht die Gefahr von Ausweichreaktionen zugunsten entfernter Räume.21 Instrumente wie lokale Wachstumsmoratorien, Wachstumsgrenzen (Urban Growth Boundaries) oder regionale Grünzüge können – bei zu enger Bemessung des im Kernbereich der Stadtregion marktverfügbaren Baulands – Haushalte und Unternehmen auf periphere Standorte in verkehrsungünstiger Lage verdrängen, was zur Zunahme sowohl von Verkehrs- als auch Siedlungsflächen beitragen kann.22 Hieraus leitet sich die Schlussfolgerung ab, dass wachstumsbegrenzende Planungen bei Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum stets von positivplanerischen Instrumenten begleitet sein sollten. Die Siedlungsexpansion im Umland der Städte strikt zu beschränken, ist nur dann zu verantworten, wenn die Verfügbarkeit von anderen entwicklungsgeeigneten Flächen, z. B. im Rahmen der kernstädtischen Innenentwicklung, gewähr-

leistet ist. Die Akteure der Stadt- und Regionalplanung sollten mit geeigneten MonitoringSystemen die Marktverfügbarkeit von Flächen und etwaige Preisreaktionen infolge der Verknappung von Bauland kontinuierlich überwachen. In Deutschland wird die Effektivität der raumplanerischen Wachstumssteuerung insgesamt als gering oder allenfalls moderat eingeschätzt.23 Die geltenden flächen- und bodenschützenden Normen des Planungsrechts gelten unter den gegenwärtigen bodenrechtlichen und bodenökonomischen Bedingungen als nicht ausreichend, um zu einer stärkeren Eindämmung des Flächenverbrauchs beizutragen. Als zu übermächtig erweisen sich die ökonomischen Anreize für eine bauliche Bodennutzung, zu schwach erscheinen hingegen die Gegenkräfte der räumlichen Planung auf überörtlicher und örtlicher Ebene.24 Das kommunale Steuerrecht belohnt das Wachstum einer Gemeinde mit höheren Einnahmen und Zuweisungen.25 Ein Wachstumsverzicht wird meistens mit der (vermeintlichen) Folge eines rückläufigen Einnahmen- und Steueraufkommens gleichgesetzt. Restriktive Steuerungsbemühungen der Regionalplanung stoßen daher meist auf starken Widerstand der Kommunalpolitik. Darüber hinaus hat die in den vergangenen Jahren in vielen Bundesländern verfolgte Kommunalisierung der Regionalplanung deren Verbindlichkeit geschwächt. Vor diesem Hintergrund wird seit einigen Jahren über die Ergänzung des raumplanerischen Instrumentariums durch ökonomische Anreize diskutiert.26 In diesem Zusammenhang lassen sich zwei instrumentelle Ansätze unterscheiden: • Preislösungen (z. B. Bauland- oder Versiegelungsabgabe) oder • Mengenlösungen (z. B. Flächenausweisungszertifikate) Bei Preislösungen setzt der Staat einen Preis für die bauliche Inanspruchnahme von Flächen oder die Bodenversiegelung fest. Eine erfolgreiche Begrenzung des Siedlungsflächenwachstums ist dann zu erwarten, wenn die Preise für die bauliche Inanspruchnahme des Bodens bzw. dessen Versiegelung die Kosten der Unterlassung des Vorhabens übersteigen. Dagegen definieren zertifikatbasierte Mengenlösungen das anzustrebende Versiegelungsniveau bzw. die maximal tolerierbare Baulandausweisung als Mengenziel. Der damit für einen bestimmten Zeitraum definierte Gesamtumfang von Bodenversiegelung oder Baulandausweisung wird an die kommunalen Planungsträger in Form von Zertifikaten verteilt. Eine Ausweisung von Bauland

4.1 — Regional-, Stadt- und Quartiers planung

97

Abb. 5

ist nur dann möglich, wenn die Gemeinde ein Zertifikat einlöst. Gemeinden, die eine größere Menge an Zertifikaten benötigen, als ihnen zugeteilt wurde, können diese in begrenztem Umfang käuflich erwerben. Somit bildet sich ein Knappheitspreis, der die relative Marktverfügbarkeit von Zertifikaten anzeigt. Die Vorteile eines solchen Instrumentariums liegen auf der Hand: Zum einen wird ein Flächensparziel treffsicher erreicht, da die Gesamtmenge der Zertifikate limitiert ist. Zum anderen verbleibt den Gemeinden ein höheres Maß an Handlungsfreiheit gegenüber mengenrestriktiven Raumordnungsvorgaben, da sie bei Bedarf weitere Zertifikate erwerben können.27 Gleichwohl muss die Allokation dieser Zertifikate in Plänen vorab festgelegt sein. Bislang sind derartige Instrumente noch Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen. Immerhin aber hat sich die Bundesregierung 2012/2013 zu einem Praxistest des Instruments der handelbaren Zertifikate entschieden.28 Auch dieser Modellversuch wird zeigen, ob in Zukunft eine Ergänzung regulativer Instrumente des Planungsrechts durch ökonomische Anreize schaffende Instrumente zu erwarten ist. Eine weitere Reformströmung betont die Bedeutung kooperativer und informeller Planung.29 Dieses Konzept basiert auf der Einsicht, dass hierarchische Steuerungsformen, bei denen eine übergeordnete Instanz (z. B. die Landesregierung) das Verhalten von Akteure, die in der Hierarchie von Staat und Gesellschaft nachgeordnet sind (z. B. Gemeinden, private Haushalte), vor allem mit Ge- und Verboten zu regulieren versucht, unter den stark veränderten ökonomischen, sozialen und institutionellen Bedingungen mit den Jahren an Wirksamkeit eingebüßt haben. Durch die zunehmende Deregulierung und Privatisierung öffentlicher Infrastrukturaufgaben steigt die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Akteure bei der Herstellung und Sicherung regionaler Kollektivgüter,

gleichzeitig verringert sich der Möglichkeitsrahmen einer verbindlichen, primär an staatliche und kommunale Akteure gerichteten Raumplanung signifikant. Vor diesem Hintergrund werden netzwerkartige Kooperationsstrukturen zwischen Staat, Gemeinden und nicht staatlichen Organisationen als vielversprechend bewertet, um regionale Politikziele gemeinschaftlich zu erreichen. An die Stelle hierarchischer Steuerung tritt eine kooperative Selbststeuerung der Akteure innerhalb eines regionalen Handlungsraums. Der Erfolg solcher institutioneller Arrangements (Regional Governance) wurde jedoch noch nicht systematisch evaluiert, sodass sich über deren Effektivität noch kaum belastbare Aussagen machen lassen. STS

Abb. 4 Grundlagen einer nachhaltigen Quartiersplanung sind eine hohe städtebauliche Qualität und die Fokussierung auf den Menschen. Ergänzend sind weitere Themen wie Energie, Wasser und Mobilität bei der Planung zu berücksichtigen und zu einem integralen Gesamtkonzept zu verbinden. Abb. 5 Stadtcollage von Collin Rowe/Fred Koetter

Quartiersplanung Nachhaltige Quartiersplanung bedeutet zuallererst das Entwerfen und Realisieren funktionierender Stadträume mit hoher Aufenthaltsqualität und guten, anpassungsfähigen Baustrukturen. Selbst bei Beachtung aller in diesem Buch zusammengestellten Ziele und Maßnahmen, die im Kapitel »Handlungsfelder« von den einzelnen Wissenschaften und Planungsdisziplinen beschrieben werden (Abb. 4), entsteht allerdings keineswegs automatisch ein gutes Quartier.

Städtebauliche Qualität Zur Schaffung eines gelungenen Quartiers bedarf es eines sehr guten städtebaulichen Entwurfs, in dem durchdachte Abfolgen öffentlicher Straßenund Platzräume, Regel- und Sonderbausteine und charakteristischer Bauensembles ebenso wie Gärten, Parks und Grünzüge, Gewässer und Topo-

27 Bizer et al. 2012 28 ebd. 29 Benz 2005; Fürst 2005; Diller 2004

98

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Abb. 6

Abb. 6 dichte Blockstrukturen am Beispiel von Paris (F) Abb. 7 unterschiedliche Dichte in verschiedenen städtebaulichen Strukturen mit gleich vielen Wohneinheiten Abb. 8 Wasserspiegel (Miroir d’Eau), Place de la Bourse, Bordeaux (F) Abb. 9 Grasbrookpark mit Blick in Richtung MagellanTerrassen, HafenCity Hamburg (D)

30 Rowe /Kötter 1978 31 Lynch 2001

grafie in einen spannungsvollen räumlichen Gesamtzusammenhang eingebunden sind. Alle Einzelaspekte wie Energie- und Wassersysteme, die Beachtung von Stoffkreisläufen oder die Sicherstellung von Artenvielfalt auch im Siedlungsgebiet müssen in diesen Entwurf integrierbar sein. Das heißt, alle diese Disziplinen sollten schon im frühen Stadium ihren Input, ihre Forderungen und die Bedingungen für die Umsetzung ihrer Teilziele in den Entwurfs- und Planungsprozess einbringen. Aber ein schlechter städtebaulicher Entwurf wird auch durch das gewissenhafte Abarbeiten aller Teilaspekte nicht zu einem guten. Ein nachhaltiges Quartier muss zuallererst auch ein städtebaulich gelungenes Quartier sein. Es muss nicht alles »schön« sein, und vor allem ist es nicht nötig, dass es viele formal aufwendige und auffällige Gebäude aufweist. Gerade die architektonische Qualität gelungener, sich einfügender Bauten bildet eine gute Voraussetzung dafür, dass ein eigener urbaner Charakter entstehen kann, denn eine gewisse Grundordnung, erzeugt durch sogenannte Regelbausteine, bildet die Grundlage für die Entwicklung eines Quartiers. Durch die Aneinanderreihung extrem individualistischer Bauten mit höchst unterschiedlichen Materialien, Farben und Gebäudehöhen formt sich nur schwerlich ein Zusammenhang, eine wiedererkennbare Baustruktur. Und schließlich gilt: Erst vor dem Hintergrund der Regelbausteine fallen Sonderbauten – heute oft modisch »Iconic Architecture« genannt – auf. Der Quartierscharakter entsteht auf mehreren Ebenen – städtebaulich-physisch, sozioökonomisch und symbolisch. Dabei konstituiert die baulich-räumliche Struktur das Grundgerüst, auf dem sich ein ausgeprägter Quartierscharakter entwickeln kann. Die heutigen Städte sind in der Regel viel zu groß, um sie als Ganzes, als Einheit zu erleben. Sie fügen

sich aus unterschiedlichsten Teilen aus verschiedenen Epochen der Stadtentwicklung zusammen, die im günstigen Fall lebendige Stadtquartiere mit starkem Eigenleben und ausgeprägter Identität bilden. Insbesondere die europäische Stadt kann man als »Collage City« verstehen (Abb. 5, S. 97)30 – eine Collage bestehend aus heterogenen, identifizierbaren Elementen verschiedener Materialität und Farbe, die sich zu einer gestalteten, neuen Einheit mit innerer Vielfalt zusammenfügen. Begreift man ein Quartier in seiner städtebaulich-physischen Dimension als ein solches Element der Collage Gesamtstadt, setzt man es einerseits in gestalterische Beziehung zu den Nachbarquartieren und zur ganzen Stadt, gesteht ihm jedoch andererseits eine gewisse Eigenständigkeit zu, fordert sogar die Identifizierbarkeit und den Unterschied zu den anderen Quartieren. Erst das ermöglicht die Wiedererkennung. Unabhängig von der Qualität der Stadträume und der Baustrukturen kann die städtebauliche Gestaltung durch geeignete Konzepte dazu beitragen, dass sich ein Quartierscharakter bildet: In den Kategorien Lynchs beschrieben (siehe Das Quartier, S. 21f.), sind Grenzlinien – und als Teil davon Eingangssituationen –, charakteristische Wege, Brennpunkte, Merkzeichen und erlebbare Bereiche mit einer gewissen inneren Kohärenz in der Lage, durch ihre räumliche Erlebbarkeit ein Stadtquartierscharakter entstehen zu lassen und/oder zu festigen.31 Bauten, bauliche Objekte und Stadträume können auch zu Symbolen werden, die das Quartier repräsentieren

Dichte Dichte ist in mehrfacher Hinsicht ein notwendiges Kriterium der Nachhaltigkeit, wie bereits in anderen Kapiteln aus verschiedenen Perspektiven

4.1 — Regional-, Stadt- und Quartiers planung

Ökologie

Ökologie Flächeneffizienz

soziales Umfeld

Nutzungsmischung

Typologie Block mittlere Versiegelung 60 Wohneinheiten/ha

Typologie Reihenhaus hohe Versiegelung 60 Wohneinheiten/ha

Typologie Hochhaus geringe Versiegelung 60 Wohneinheiten/ha

Kultur

99

Individualität

Kultur

Ökologie Flächeneffizienz

soziales Umfeld

Nutzungsmischung

Kultur

Flächeneffizienz

soziales Umfeld

Nutzungsmischung

Individualität

Individualität

Abb. 7

angesprochen. Sie wird als Baudichte (in der Baunutzungsverordnung – BauNVO § 16 »Maß der baulichen Nutzung«) mit den Angaben Grundflächenzahl (GRZ) und Geschossflächenzahl (GFZ) gemessen. Um eine Stadt der kurzen Wege zu planen, in der sich ein Großteil der Besorgungen zu Fuß oder per Rad erledigen lässt, ist Dichte eine der Grundvoraussetzungen: Höhere Siedlungsdichte bedeutet höhere Nachfragedichte pro Hektar und bietet dadurch die Chance eines engeren Besatzes mit Geschäften und Dienstleistungsunternehmen, mit Kindergärten und Schulen sowie sonstigen Versorgungseinrichtungen. Natürlich spielt dabei die Größe der Wohneinheiten und die Belegungsdichte eine wichtige Rolle (Abb. 7). Bei hoher baulichen Dichte, jedoch extrem großen Wohneinheiten und sehr kleinen Haushaltsgrößen kann kaum ein lebendiges Quartier entstehen. Eine größere Dichte, auch Bewohnerdichte, trägt selbstverständlich auch zur Belebung des öffentlichen Raums bei, was wiederum eine positive Rückkoppelung auf das Dienstleistungsangebot (Cafés, Bars, Restaurants, Geschäfte) bewirkt. Andere Menschen in der städtischen Öffentlichkeit zu beobachten, mit ihnen Blickkontakt aufzunehmen und in nonverbale Kommunikation zu treten sowie umgekehrt die Reaktion auf das eigene Verhalten wahrzunehmen, ist immer noch eine der spannendsten Aktivtäten in der Stadtgesellschaft – gerade trotz und wegen der wachsenden Bedeutung der Medien im Allgemeinen und der sozialen Medien im Besonderen. Hieraus lässt sich der urbane Rückkoppelungseffekt ableiten.32 Belebte Straßen und Plätze ziehen Passanten und Beobachter an, wodurch sie noch belebter werden. Gerade bei Jugendlichen ist die Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit ausgeprägt und ein wichtiger Bestandteil der Sozialisation und der Identitätsbildung. Das Bedürfnis zur Selbstdarstellung befriedigen

nur belebte Orte, in einem verödeten Stadtteil ohne Passanten ist das nicht möglich. Lebendige Quartiere bieten die Chance der sozialen Einbindung, was nicht automatisch als Folge der hohen Frequenzzahlen erreicht wird, sondern zusätzlich der Erfüllung weiterer, auch individueller Bedingungen (Bereitschaft und persönliche Offenheit zur Kommunikation) bedarf. Sie ermöglichen aber auch eine angemessene soziale Kontrolle, die die Intimität der engen Nachbarschaft ebenso wenig bieten kann wie die leere Anonymität (Abb. 8 und 9).

32 Bott 2000; Bott 2004 33 Zhou 2009

Dichte und Funktionsüberlagerungen Bauliche Dichte allein bietet keineswegs die Garantie für die Entstehung eines lebendigen Stadtquartiers, wie die Probleme der Stadtrandsiedlungen aus den 1960er- und 1970er-Jahren mit dem städtebaulichen Leitbild der Urbanität durch Dichte gezeigt haben. Wenn ein Quartier keinen attraktiven öffentlichen Raum bietet, keine Nutzungen in Verbindung mit zum Verweilen einladenden öffentlichen Aufenthaltsräumen zur Verfügung stellt und die alltäglichen Wege und Aktivitäten des sozialen Lebens nicht in den öffentlichen Raum eingebunden sind, so kann kein belebtes Quartier entstehen. Dies zeigt sich beispielsweise bei vielen extrem verdichteten Wohnsiedlungen in China, in denen aus eben diesen Gründen nicht einmal die Spielplätze und kleinen Parks in der Nachbarschaft frequentiert werden, sofern sie nicht in den so zialen Lebenszusammenhang, die alltäglichen Wege der Bewohner eingebunden sind.33 Ein Beispiel für eine solche Fehlplanung aus den 1960er-Jahren ist der mit Hochhäusern bebaute Amsterdamer Stadtteil Bijlmermeer, in dem die unterschiedlichen Verkehrsarten auf verschiede-

Abb. 8

Abb. 9

100

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Abb. 10

Abb. 11

nen Ebenen organisiert waren (gemäß den Ideen Le Corbusiers) und z. B. das Parkhaus über Laufstege und Galeriegänge direkt von den Fahrstühlen und von den Wohnungen zugänglich war. Nirgendwo entstanden Orte zum Verweilen und Kommunizieren. Zum Einkaufen mussten die Bewohner in das Einkaufszentrum fahren oder gehen. Der funktionalistisch entworfene Stadtteil wurde zum sozialen Desaster, was allerdings noch weitere Ursachen hatte, und durchlief schon mehrere Umplanungs- und Stadtumbauphasen (Abb. 11). »A city is not a tree«, schrieb der US-amerikanische Architekt und Architekturtheoretiker Christopher Alexander bereits 1965, womit er ausdrücken wollte, dass es nicht möglich ist, städtisches Leben hierarchisch-funktional zu organisieren – vom Stamm über die Hauptäste zu den feinen Ästen bis hin zum letzten Blatt. Eine Straße in einer Stadt ist nicht nur ein Raum für Transport, von dem man die Aufenthaltsfunktion, seine soziale Funktion und seine Gestaltungsdimension abkoppeln darf – also gerade die Umkehrung dessen, was der funktionalistische Städtebau propagierte. Städtisches Leben und Stadtkultur im Allgemeinen entstehen gerade aus der Überlagerung und Durchdringung vielfältiger Aktivitäten und Funktionen und nicht aus deren feinsäuberlicher Trennung und Sortierung (Abb. 10). Dies betrifft alle Lebensbereiche. Die Stadtbewohner sind nicht entweder Beschäftigte oder Verbraucher, Fußgänger oder Autofahrer, Anwohner oder

Passanten, Kunden von Imbissbuden oder Restaurantgäste, Teilnehmer an einem lauten Event oder stille Hörer eines Kammerorchesters. Jeder Stadtbewohner kann dies alles sein, nur eben nicht gleichzeitig und meist jeweils an verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten. Und gerade diese Vielfalt der Rollen, Funktionen, Aktivitäten und Angebote macht die Qualität des Stadtlebens aus.

Definitionen und Obergrenzen von Dichte Bauliche Dichte ist nicht zuletzt ein Gebot der Flächeneinsparung. Die Baudichte, das »Maß der baulichen Nutzung« ist in Deutschland nach Baugebieten geregelt. Interessanterweise haben sich die Werte, die der Bund und die Länder in der BauNVO einheitlich festsetzen, seit der Einführung des BauGB (zuerst Bundesbaugesetz, BBauG) verändert – sie wurden erhöht, lassen also eine dichtere Bebauung zu. Als das BBauG zu Beginn der 1960er-Jahre erarbeitet wurde, war das Leitbild der gegliederten und aufgelockerten Stadt weithin anerkannt. Dichte Bebauung galt als verpönt. In reinen und allgemeinen Wohngebieten (WR und WA) sowie Mischgebieten (MI) war gemäß BauNVO von 1962 eine maximale GFZ von 1,0 möglich bei einer Bebauung mit vier oder mehr Geschossen, dabei musste allerdings eine GRZ von 0,3 eingehalten werden.

4.1 — Regional-, Stadt- und Quartiers planung

Flächennutzung

101

Grundflächenzahl (GRZ)

Geschossflächenzahl (GFZ)

reines Wohngebiet (WR)

0,4

1,2

allgemeines Wohngebiet (WA)

0,4

1,2

besonderes Wohngebiet (WB)

0,6

1,6

Dorfgebiet (MD)

0,6

1,2

Mischgebiet (MI)

0,6

1,2

Kerngebiet (MK)

1,0

3,0

Abb. 12

Die zulässige GFZ liegt mit 1,2 in WR und WA heute um 20 % höher, die GRZ stieg bei Mischgebieten um 50 % auf 0,6.34 Nach der Abkehr von der Flächensanierung, d. h. Abriss von Altbausubstanz, hin zur erhaltenden Stadterneuerung wurde schon 1990 aufgrund der Erfahrungen mit den Bestandsquartieren die Definition der »Gebiete zur Erhaltung und Entwicklung der Wohnnutzung (besondere Wohngebiete)« eingeführt, in denen bereits eine GFZ von 1,6 und eine GRZ von 0,6 zulässig waren (Abb. 12). In besonderen Wohngebieten (WB) – die Definition bezieht sich nur auf Bestandsgebiete – wird eine um 30 % höhere Dichte (GFZ 1,6) zugelassen als bei Mischgebieten (GFZ 1,2). Dies ist insofern widersprüchlich, als in einem besonderen Wohngebiet zulässige und demnach angemessene Vorgaben in einem Mischgebiet ebenso vertretbar sein müssten. In §17 der BauNVO, der diese Obergrenzen regelt, heißt es allerdings im Absatz 2: »(2) Die Obergrenzen des Absatzes 1 können überschritten werden, wenn 1. besondere städtebauliche Gründe dies erfordern, 2. die Überschreitungen durch Umstände ausgeglichen sind oder durch Maßnahmen ausgeglichen werden, durch die sichergestellt ist, dass die allgemeinen Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse nicht beeinträchtigt, nachteilige Auswirkungen auf die Umwelt vermieden und die Bedürfnisse des Verkehrs befriedigt werden, und 3. sonstige öffentliche Belange nicht entgegenstehen.« Der gesetzliche Rahmen ermöglicht also durchaus höhere Dichten. Ein Stadtplaner muss dann allerdings begründen und nachweisen, dass die Funktionsfähigkeit und Qualität des Quartiers gesichert ist.

Auch in Bezug auf das Ziel Flächeneinsparung trifft die Einschränkung zu, dass Dichte allein keine Qualität ist. Es gilt beim Entwurf nachzuweisen, dass trotz hoher Dichte angemessene Besonnung und Belichtung gewährleistet sind und dass durch den hohen Versiegelungsgrad, der bei einer GRZ von 0,6 leicht bei 80 % liegen kann, kein problematisches Mikroklima entsteht. Nicht zuletzt muss überlegt werden, wie mit den großen Mengen an abfließendem Regenwasser umgegangen werden kann. Bei solch hohen Dichten ist es kaum möglich, mit offenen Retensionsmulden zu arbeiten. Wie immer gilt auch hier, dass der Einzelfall und seine spezifischen Bedingungen analysiert und berücksichtigt werden müssen. So ist beispielsweise die Nachfrage nach sehr dichten Baustrukturen in Ballungszentren sicher größer als am Stadtrand und in ländlichen Gebieten. Das Mikroklima hingegen ist in einer windreichen Gegend an der Küste oder auf einer Kuppenlage eher beherrschbar als im Rheintal, in der Kölner Bucht oder im engen Stuttgarter Talkessel und ein hochverdichtetes Quartier in der Nachbarschaft eines großen Parks oder Grünzugs bietet bessere Voraussetzungen als Gebiete ohne dieses Angebot von Grünflächen. Letztendlich kommt es aber auch auf das soziale und städtebauliche Umfeld und auf die Qualität des Entwurfs an. Dichte in Blockstrukturen mit ruhigen Blockinnenbereichen ist eher vertretbar als bei frei stehenden Solitärbauten, die von allen Seiten durch Verkehrslärm beeinträchtigt werden. Dichte wird in einem Wohnumfeld mit gesicherter Privatheit der Wohnung und wohnungsnahen Freiräumen (Terrassen, Loggien, Balkone) als angenehmer empfunden als dort, wo die Wohnung unmittelbar vom frequentierten öffentlichen Raum aus einsehbar ist und die privaten Freiflächen gestört werden können. HB

Abb. 10 Überlagerung verschiedener historischer Bestandteile in der Stadt, Highline Park, New York (USA) Abb. 11 öffentlicher Raum im Stadtteil Bijlmermeer in Amsterdam als Beispiel für eine Fehlplanung des städtebaulichen Leitbilds der Urbanität durch Dichte Abb. 12 Obergrenzen der GRZ und GFZ in Abhängigkeit zur Flächennutzung nach BauNVO § 17 Abs.1

34 Boeddinghaus 2005

Weitere Informationen • Bock, Stephanie; Libbe, Jens; Hinzen, Ajo (Hrsg.): Nachhaltiges Flächenmanagement. Ein Handbuch für die Praxis. Ergebnisse aus der REFINA-Forschung. Deutsches Institut für Urbanistik GmbH (Difu). Berlin 2011. • Innenministerium Schleswig Holstein (Hrsg.): Qualitätvolle Innenentwicklung. Eine Arbeitshilfe für Kommunen. Kiel 2010 • Krumm, Raimund: Nachhaltigkeitskonforme Flächennutzungspolitik. Ökonomische Steuerungsinstrumente und deren gesellschaftliche Akzeptanz. IAW-Forschungsbericht. Tübingen 2004 • OECD: Compact City Policies. A Comparative Assessment. OECD Green Growth Studies. Paris 2012

K A P ITE L 4

Handlungsfelder

4.2

Prozesse und Beteiligung Ro l f Me s serschmidt, Andreas von Zadow

4.2 — Prozesse und Beteiligung

D

er entscheidende Faktor bei der Realisierung nachhaltiger Stadtquartiere ist die Prozessqualität. Durch Optimierung des Planungsprozesses mithilfe von Partizipationsmodellen, Verfahren zur Konzeptfindung und einer Projektsteuerung mit Nachhaltigkeitsmanagement kann die Basis für eine lange, wertsteigernde Nutzungszeit eines Stadtquartiers gelegt werden, die durch ein Quartiersmanagement weiter unterstützt werden sollte. Der Quartiersentwicklungs- und -nutzungsprozess einschließlich der notwendigen Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten beginnt mit der Projektentwicklung und der Planung, gefolgt von der Realisierung von Infrastruktur und Hochbaumaßnahmen sowie der Freianlagen. Daran schließt sich die lange Nutzungsphase von Stadtquartieren an, die nach einem Transformations- und Alterungsprozess in einen Umbau- und Recyclingprozess übergeht. Mit den dann notwendigen Interventionen beginnt im Sinne einer zyklischen Betrachtung die Projektentwicklung und -planung mit geänderten Vorzeichen wieder von vorne. Eine Lebenszyklusbetrachtung des gesamten Quartiers über einen langen Nutzungszeitraum ist daher sinnvoll, um dem Ziel eines ganzheitlichen und langfristig nachhaltigen Stadtquartiers nahezukommen (Abb. 1, S. 104).

Verlauf von Planungsprozessen Der Verlauf und die Organisation des Planungsprozesses für ein Stadtquartier haben entscheidende Auswirkungen auf die Qualität der Pla-

nung, Realisierung und späteren Nutzung. Dieser Prozess beginnt mit der Projektentwicklung und beinhaltet die Rahmenplanung und/oder den städtebaulichen Entwurf, die Bauleitplanung sowie die Erschließungsplanung, wobei jede dieser Planungsphasen so organisiert und planerisch angelegt werden muss, dass die relevanten Nachhaltigkeitsaspekte in eine ganzheitliche Quartiersrealisierung integriert werden können (Abb. 3, S. 105). Im Rahmen der Projektentwicklung ist es erstrebenswert, Nachhaltigkeitsaspekte bereits bei der Definition der Projektziele zu berücksichtigen und durch entsprechende Voruntersuchungen und Gutachten zu bekräftigen. Übergeordnete Flächennutzungs-, Stadtentwicklungs- und Rahmenpläne sollten auf das Plangebiet projiziert und mit einer Analyse der lokalen Potenziale und Restriktionen gerade auch unter Gesichtspunkten der Nachhaltigkeit überlagert werden. Dazu gehören u. a. auch stadtklimatische Systeme, Biotopvernetzungsstrukturen und die vorhandenen örtlichen Potenziale der Energieversorgung. Eine frühe Beteiligung aller Akteure und ein Abstimmen gemeinsamer Ziele zwischen Grundstückseigentümern, Investoren, Gemeinderat und kommunaler Stadtplanung sowie interessierten Bürgern macht es möglich, einen auf den speziellen Fall angepassten integralen Planungsprozess zu entwickeln. Besonders wichtig ist das städtebaulich-funktionale Quartierskonzept, das zu Beginn des Planungsprozesses in einer Rahmenplanung oder einem städtebaulichen Entwurf entwickelt wird. Es definiert die zukünftige Nutzung, die Gestaltung sowie die grundlegenden Ansätze der Nachhaltigkeit des Projekts und legt die Basis für die Lebensqualität im Quartier, für dessen Auswirkungen auf die Umwelt und auch dafür, wie die Bewohner und Nutzer das Quartier annehmen. Aufgrund seiner Bedeutung für das

103

104

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Notwendigkeit Intervention

Transformation + Alterung

Betrieb + Unterhaltung

Umsetzungsprozess

Festlegung von Projektzielen (Grundlage)

Rahmenplanungsprozess

Bauleitplanung/ Erschließungsplanung

Abb. 1

1 DGNB 2012 2 Gaffron/Huismans/Skala 2005; DGNB 2012

Abb. 2

Gesamtprojekt ist es vorteilhaft, dieses Konzept über konkurrierende und kooperierende Planungsverfahren (siehe Beteiligungsverfahren, S. 44f.) zu entwickeln.1 Da wesentliche Planungsentscheidungen mit erheblichen Auswirkungen auf Ökonomie, Ökologie und soziokulturelle Aspekte bereits zu Beginn der Planungsphase gefällt werden, ist die Bildung und Zusammenarbeit eines interdisziplinären Planungsteams schon in diesem frühen Stadium von hoher Bedeutung und eine strukturelle Voraussetzung dafür, nachhaltige Quartiersplanungen zu generieren. Deshalb sollten alle im lokalen Projektzusammenhang relevanten Fachplaner und Experten daran beteiligt sein.2 Über die Erarbeitung hochqualifizierter Fachplanungen z. B. in den Bereichen Energie oder Verkehr hinaus ist es unbedingt erforderlich, diese dann auch mit der klassischen Stadtplanung zu einem ganzheitlichen Quartiersplanungs- und -umsetzungskonzept zu verknüpfen. Beispielsweise kann eine besonders energieeffiziente Bebauungsstruktur entwickelt werden, wobei sich Maßnahmen zur Wasserbehandlung in attraktive und für die Bewohner nutzbare Quartiersfreiräume integrieren lassen und neue Potenziale für die Energienutzung aus der Abwasserbehandlung

ausgeschöpft werden können. Gerade durch die Integration und Vernetzung verschiedener Fachplanungen entstehen Synergieeffekte, die es oft überhaupt erst ermöglichen, Nachhaltigkeitsansprüche durch die multifunktionale Nutzung von Quartiersfreiflächen und Gebäuden gerade im verdichteten innerstädtischen Kontext auf ökonomische Weise zu realisieren. Dazu müssen der Vorentwurf und Teile des Entwurfs für die Erschließungsplanung – Verkehrsanlagen, Freianlagen, Ver- und Entsorgungstechnik – vorgezogen und parallel zum städtebaulichen Konzept bearbeitet werden. Dieses Zusammenwirken von städtebaulichem Entwurf und Erschließungsplanung bildet dann die Grundlage für die ebenfalls früh zu beginnende Bauleitplanung. Nur mit dieser parallelen, integrierten Planung sind im Gegensatz zu den klassisch linear angelegten Planungsprozessen die notwendigen Integrationsleistungen in effizienter Weise möglich (Abb. 4). Innerhalb der Erschließungsplanung ist ein besonderes Augenmerk auf die Schnittstellen zwischen den Disziplinen zu legen, da z. B. eine attraktive Straßenraumgestaltung mit Straßenbäumen, Belagswechseln und gliedernden Pflasterrinnen nur zu erreichen ist, wenn Straßen-, Freiraum- und Entwässerungsplanung einbezo-

4.2 — Prozesse und Beteiligung

Beeinflussbarkeit Grundlagenermittlung

Vorplanung

Entwurfs- und Genehmigungsplanung

Ausführungsund Detailplanung

105

Aufwand der Änderungen

Ausschreibung, Vergabe

Bauausführung

Beginn

Fertigstellung Vorzertifizierung

Abb. 3

Analyse

städtebaulicher Entwurf

Bebauungsplan Fachplanungen

Träger öffentlicher Belange

linearer Planungsprozess

Beteiligung Öffentlichk. Analyse

städtebaulicher Entwurf Bebauungsplan Fachplanungen Träger öffentlicher Belange

integrativer Planungsprozess Abb. 4

gen werden (Abb. 2). Nach der Baurechtschaffung mit dem Inkrafttreten des Bebauungsplans erfolgt die Fertigstellung der Erschließungsplanung, bei der besonders auf eine ressourcenschonende Material- und Konstruktionswahl der Infrastruktur sowie auf einen nachhaltigen Bauprozess geachtet werden sollte. Für die Baurechtschaffung ist die enge Abstimmung von Bauleitplanung, städtebaulichem Entwurf und vorgezogener Erschließungsplanung notwendig. Die Beteiligung der Träger öffentlicher Belange und die Erarbeitung eines Umweltberichts sollten möglichst frühzeitig erfolgen, um z. B. Naturschutz oder eine Altlastensanierung von Anfang an in der Quartiersplanung berücksichtigen zu können. Es empfiehlt sich, Nachhaltigkeitsmaßnahmen soweit möglich im öffentlichen Baurecht über den Bebauungsplan verbindlich festzulegen. Auch darüber hinausgehende Maßnahmen im Rahmen von städtebaulichen Verträgen und privatem Recht, z. B. Grundstückskaufverträgen, sind einzubeziehen. Für die Vermarktung und Realisierung der Hochbauten sollte der Nachhaltigkeitsansatz ebenfalls berücksichtigt werden. Zum einen unterstützt ein aktives, zielgruppengerechtes Marketing eine schnelle Umsetzung und damit aus Nachhaltig-

keitssicht eine rasche Nutzung der dann vielleicht bereits gebauten Infrastruktur. Zum anderen sollten bei der Vermarktung besonders auch die Nachhaltigkeitsaspekte als Bestandteile des Leitbilds und Images des Quartieres präsentiert werden. Dies kann neben der klassischen Öffentlichkeitsarbeit z. B. auch über ein Gestaltungs- und Nachhaltigkeitshandbuch geschehen. Bei der Vermarktung müssen auch die Rahmenbedingungen für die Realisierung der im Quartier vorgesehenen Bausteine geschaffen werden, z. B. mit Grundstückskaufoptionen zur Projektentwicklung für Mehrgenerationenwohnen, mit kleinkörnigen Mischnutzungsprojekten oder unterschiedlich großen Baugemeinschaftsprojekten.3 Idealerweise begleitet eine Projektsteuerung den gesamten Prozess. Dabei sind gerade bei komplexen Quartiersentwicklungen die klassischen Funktionen der Steuerung von Qualität, Terminen und Kosten wichtig, aber auch ein Nachhaltigkeitsmanagement mit speziellen Navigations- und Koordinationsaufgaben im Rahmen eines integralen Planungsprozesses über alle Planungs- und Realisierungsphasen hinweg. Eine Nachhaltigkeitszertifizierung auf Quartiersebene und andere Planungswerkzeuge sollten diesen Prozess unterstützen.

Abb. 1 integraler Planungsprozess Abb. 2 Straßenraum mit integrierter Entwässerung im Quartier Abb. 3 Beeinflussbarkeit der Nachhaltigkeit eines Projekts: Je später eine Planung verändert wird, desto höher ist der damit verbundene Aufwand. Abb. 4 Gegenüberstellung unterschiedlicher Planungsprozesse: Lineare Planungsprozesse benötigen in der Regel mehr Zeit. Eine integrative Querkommunikation kombiniert mit zeitnahen Beteilgungsangeboten kann Planungsergebnisse erheblich beschleunigen.

3 DGNB 2012

106

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Beteiligung der Öffentlichkeit

Vorbereitung, Auslobung

städtebaulicher Wettbewerb

Jury

Preiskrönung, Weiterbearbeitung

Perspektivenwerkstatt, öffentliche Ideenentwicklung

Planer, Experten

integrierte Vision, Bebauungsplan

Umsetzung in Bebauungsplan

Wettbewerbsverfahren

Ausschreibung, Vorbereitung, Teambriefing

Architektur-/ Freiraumwettbewerb

konsensorientierte kooperative Planung Abb. 5

Verfahren zur Konzeptfindung

4 DGNB 2012 5 BMVBS 2013, RPW 6 ebd.

In allen Planungsphasen sind Verfahren zur Konzeptfindung wichtig, wobei die Auswahl des städtebaulich-funktionalen Quartierskonzepts besondere Bedeutung hat. Deshalb sollte dieses über konkurrierende und kooperierende Planungsverfahren entwickelt werden, um auch alternative Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen und lokales Wissen einbinden zu können, damit über ein schrittweises Vorgehen eine Konzeptoptimierung gerade auch bezüglich der Nachhaltigkeitsaspekte möglich ist.4 Insbesondere für den Umgang mit der systemimmanenten Komplexität von Nachhaltigkeit und bei vielschichtigen Aufgaben bieten mehrstufige Verfahren, z. B. mit Kolloquien und Zwischenpräsentationen, oder teilöffentliche Werkstattverfahren gute Möglichkeiten, lokales Wissen auch zu Nachhaltigkeitsthemen vertieft einzubeziehen. Dabei ist es ebenso möglich, Bürger und Interessenvertreter aktiv in ein laufendes Verfahren einzubinden. Mehrstufige Verfahren erlauben es zudem, neue Erkenntnisse und Bedürfnisse auch nach Beginn des Verfahrens einzubringen und zu berücksichtigen. Für nachhaltige Projekte ist neben der Mehrstufigkeit entscheidend, dass das Verfahren inter-

disziplinäres Arbeiten unterstützt. Dies bedeutet für konkurrierende Verfahren wie Wettbewerbe, Mehrfachbeauftragungen und Investorenauswahlverfahren, dass bereits in der Auslobung Nachhaltigkeitsaspekte und -kriterien zu verankern sind und für die Bearbeitung der Planungsaufgabe eine Kooperation von Stadtplanern z. B. mit Landschaftsplanern, Verkehrsplanern und Energieexperten in Arbeitsgemeinschaften verlangt wird. Fachkonzepte müssen bereits in der Vorprüfung der eingegangenen Arbeiten durch entsprechende Fachplaner, die dann in der Preisgerichtssitzung als Sachverständige oder besser noch als stimmberechtigte Jurymitglieder vertreten sein sollten, intensiv geprüft werden. Nur so bekommen die Nachhaltigkeitsaspekte bei der Entscheidungsfindung auch das notwendige Gewicht. Nach der Jurysitzung mit Wahl des Wettbewerbssiegers ist es von großer Bedeutung, das gesamte Planungsteam inklusive der beteiligten Fachplaner für die Umsetzung der im Verfahren entwickelten Konzepte zu beauftragen. Dies sollte bereits im Auslobungstext sichergestellt werden.5 In bestimmten Fällen, wenn der Auslober eine Aufgabe oder seine Ziele zu diesem Zeitpunkt noch nicht eindeutig definieren kann, z. B. bei städtebaulichen Projekten, ist es auch denkbar, ein formalisiertes kooperatives Verfahren zu wählen. Besonderes Kennzeichen ist die schrittweise Annäherung an Aufgabe und Ziele in einem Meinungsaustausch zwischen den Beteiligten, z. B. in Planungswerkstätten. Dabei müssen alle Teilnehmer auf dem gleichen Informationsstand gehalten werden.6 Im Hinblick auf Nachhaltigkeit haben kooperative Planungen verschiedene Vorteile. Sie lassen sich beispielsweise mit einer aktiven und intensiven Bürgerbeteiligung auf Städtebauebene verbinden. Durch den kreativen Diskurs entsteht ein Mehr an sozialen und ökologischen Ideen, gleichzeitig können die Veranstaltungen auch als Vermark-

4.2 — Prozesse und Beteiligung

3 – 6 Monate Vorbereitung und Analyse

1 Woche öffentliche Veranstaltungen

1 Monat Ergebnisbericht

107

3 – 9 Monate Masterplanung

Wettbewerbe und Realisierung

UK = Unterstützerkreis UK

UK

UK

UK

UK

UK

UK Projekt

öffentliche Perspektivenwerkstatt

Einarbeitung, Aktivierung

Vision und Präsentation

Detaillierung des Masterplans

Bericht

Ausstellung

Projekt

Projekt SP

SP

SP

SP

SP

SP

SP = Steuerungsgruppe Stadtplanung Abb. 6

tungsbeitrag sowie zur Öffentlichkeitsarbeit und frühen Gewinnung von Interessenten genutzt werden. Die vor der Entscheidung zu einem solchen kooperativen Verfahren manchmal infrage gestellte Gewährleistung von Vielfalt und Qualität lässt sich durch die Beteiligung von unterschiedlichen Fachplanern, verbunden mit der Integration von Stadtverwaltung, Bürgern, Interessenvertretern, Experten und Lokalpolitik sicherstellen. Im Zusammenhang mit der Entwicklung nachhaltiger Stadtquartiere sind Verfahren, deren explizite Zielsetzung die Konsensfindung ist, besonders geeignet. Dieser Ansatz ist gerade für die qualitätsvolle Umsetzung von Planungen interessant, da durch das konsensorientierte Verfahren mit seiner Annährung an Aufgaben und Ziele Streitpunkte infolge einer zugespitzten Diskussion konkurrierender Konzepte vermieden werden. Besonders zielführend können solche Verfahren aber auch zur Überwindung von bereits existierenden Planungskonflikten sein, z. B. durch den Einsatz offener Planungswerkstätten mit kooperierenden oder konkurrierenden Planungsteams. Einen hochinteressanten Ansatz stellen spezielle interdisziplinäre Workshops wie Charrettes dar. Darunter versteht man einen intensiven und oft mehrere Tage dauernden Entwurfsworkshop, der auf einen Präsentationstermin hinarbeitet. Mit dieser Methode lassen sich Planungsteams, Interessensvertreter, Auftraggeber, Städte etc. durch ständige Abstimmungen und Zwischenpräsentationen einbeziehen. Die Kombination von Einzel- und Teamarbeit ermöglicht eine gute interdisziplinäre Kooperation und durch Arbeiten vor Ort eine intensive Auseinandersetzung mit dem Gebiet und den lokalen Gegebenheiten (Abb. 6). Zur Erkundung des Handlungsspielraums mittels alternativer Entwürfe ist ein Planen mit verschiedenen Szenarien wichtig.7 Dadurch erweitert sich die Bandbreite möglicher Lösungen. In einem

weiteren Schritt können dann die mit den verschiedenen Vorschlägen verbundenen Qualitäten untersucht und diskutiert werden. Dabei besteht das Ziel darin, umfassende Szenarien mit unterschiedlichen Fachplanungskonzepten und Nachhaltigkeitsansätzen zu entwickeln und nicht nur Varianten der Bebauungsstruktur8 oder eines Planungssektors wie z. B. eine alternative Zufahrt im Verkehrsbereich. Zu Beginn sollten breit angelegte Szenarien zur Entwicklung des Grundkonzepts geschaffen werden. Anschließend lassen sich darauf aufbauend detaillierte und konkrete Szenarien wie z. B. Bebauungsstrukturen im Zusammenhang mit Energieversorgungsvarianten oder Integrationsmöglichkeiten von Regenwassermanagement im öffentlichen Raum aufzeigen. All diese Planungsansätze sollten immer auch mit der Partizipationsstrategie verbunden werden, da solche Szenarien die Diskussionen zur Quartiersentwicklungen gewinnbringend befruchten können. Entscheidend für alle Verfahren nachhaltiger Planung ist, dass die entwickelten Konzepte nicht den Endpunkt einer Planung darstellen, sondern entwicklungsoffen sind, d. h. sie sollen flexibel an neue Erkenntnisse und Bedürfnisse anpassbar sein und so für nachfolgende Entwicklungsschritte ausreichend Spielraum bieten.

Partizipation und Bürgerbeteiligung Die besondere Herausforderung bei professionellen Verfahren zu einer nachhaltigen Quartiersgestaltung – egal ob als Stadterweiterung auf der »grünen Wiese« oder als Konversion auf vormals

Abb. 5 Gegenüberstellung Wettbewerbsverfahren zu konsensorientierte/kooperative Planung Abb. 6 typischer Planungsablauf mit öffentlicher Perspektivenwerkstatt

7 Albers 1996 8 Müller-Ibold 1997

108

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Abb. 7

anderweitig genutztem Gelände – besteht darin, den breiten Verständigungsprozesses über Zielsetzung und Rahmenbedingungen mit der eigentlichen städtebaulichen Planung zu koppeln. Neben der planerisch zu bearbeitenden Fragestellung geht es gleichzeitig darum, systematisch die Kooperation und die Kommunikationsbereitschaft involvierter Partner, Entscheider und Betroffener zu fördern; diese Verfahren leisten sozusagen Stadtplanung mit einem Mediationsanteil. Viele Beispiele zeigen, dass sich komplexere Projekte erst verwirklichen lassen, wenn es gelingt, Informationsdefizite und unnötiges Misstrauen bis hin zu Konfrontationsdenken durch eine offene und transparente Zusammenarbeit abzubauen. Erst die gemeinsame Suche ganz unterschiedlicher Interessenvertreter legt die Grundlage für hochqualifizierte, nachhaltige und umsetzbare Ergebnisse. Auf diese Weise lassen sich Zeit und Mittel einsparen und Fehlentwicklungen bereits frühzeitig vermeiden. Einige Gegenbeispiele sind weltweit bekannt: Stuttgart 21, der Flughafen Berlin Brandenburg, der Taksim-Platz in Istanbul. Aber auch viele kleine Projekte scheitern am Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Was nützt ein noch so grandioses Nachhaltigkeitskonzept auf dem Papier, wenn es angesichts praktischer und/oder politischer Realitäten aufgegeben wird? Und wie viele Wettbewerbsergebnisse sind mit erheblichem Aufwand gekürt, aber nie gebaut worden? Partizipation ist deshalb der zentrale methodische Ansatz, der mit der entsprechenden inneren Haltung zum Gelingen einer nachhaltigen Quartiersplanung beiträgt. Das gilt umso mehr, wenn es um wirklich innovative Aufgaben geht, also um Pionierprojekte, die für die Beteiligten neu, herausfordernd und auch unternehmerisch riskant sind. Dann kommt es darauf an, in einem kreativen Prozess verfügbares Wissens in seiner ganzen

Breite konstruktiv zu aktivieren, sowohl vonseiten der Fachleute und Planer als auch seitens der Entscheider, Eigentümer, Investoren, Betreiber, Träger öffentlicher Belange und Fachverwaltungen. Hinzu kommen Interessenverbände, Betroffene und die weitere Öffentlichkeit, die es in geeigneter Weise zu beteiligen und im Idealfall als Mitwirkende zu gewinnen gilt. Die in diesem Kapitel angesprochenen Verfahren zur Konzeptfindung leisten in dieser Hinsicht unterschiedliche Beiträge und lassen sich je nach Aufgabenstellung differenziert einsetzen. Dabei bildet der klassische Wettbewerb das Schlusslicht in Sachen Partizipation (Abb. 5, S. 106). Seine Stärke besteht darin, eine große Anzahl von Planungsalternativen zu erzeugen, die aber überwiegend theoretisch sind. Mehrstufige Wettbewerbe mit diskursiven und kooperativen WorkshopPhasen leisten bereits eine erheblich größere Querkommunikation und führen somit auch zu einer erhöhten Umsetzungswahrscheinlichkeit der Ergebnisse. Das Charrette-Verfahren hingegen setzt von Beginn an auf ein Maximum an Kooperation der Planungsbeteiligten und kann daher bereits im Konzeptfindungsstadium sowohl die Bearbeitungstiefe als auch die Plausibilität und Umsetzbarkeit eines nachhaltigen Quartierskonzepts deutlich steigern. Dadurch verdichten sich bei der Charrette erste Ideen bereits in der Frühphase der kooperativen Bearbeitung, sodass sich die Anzahl der zu vertiefenden Alternativen auf wenige, aber umsetzbare Szenarien reduziert. Die Perspektivenwerkstatt schließlich nutzt die Vorzüge des Charrette-Verfahrens und ergänzt sie mit weiteren Bausteinen zu einer konsensorientierten öffentlichen Bürgerbeteiligung, wodurch das Verfahren auch die größte politische Unterstützung mobilisieren und eine zügige Genehmigung am besten befördern kann (Abb. 6, S. 107). In diesem Kontext ist festzuhalten, dass die gängige Praxis zur Durchführung gesetzlich vorge-

4.2 — Prozesse und Beteiligung

Umsetzbarkeit [%]

Perspektivenwerkstatt

Charrette-Verfahren

109

einstufiger Wettbewerb

mehrstufiger Wettbewerb

100

Umsetzbarkeit

Leistungstiefe

Nachhaltigkeitstiefe

lokales Wissen

interdisziplinäres Team

Konsensorientierung

Kommunikationsbreite

Bürgerbeteiligung

Aufgabenstellung

0

Abb. 8

schriebener Bürgerbeteiligungsmaßnahmen nach §3 BauGB, z. B. mit Erörtungen, Anhörungen, Stellungnahmen, Abwägungsverfahren und öffentlichen Auslegungen, meist nicht zur Förderung von Kooperation, Partizipation, Konsensfindung oder der kreativen Suche nach integrierten Lö sungen zur Quartiersplanung (zur besseren Qualifizierung der Planungen, Reduktion des Risikos, Vergrößerung der Akzeptanz, Win-Win-Situationen etc.) beiträgt. Vielmehr haben die hier genannten Beteiligungsmaßnahmen in erster Linie legitimierende Bedeutung und sollen als Korrektiv wirken. In der Regel kommen sie zum Einsatz, um mit konflikthaften Richtungsentscheidungen (ja oder nein) umzugehen und fördern eben deshalb gerade nicht die Zusammenarbeit und Kooperation der Konfliktbeteiligten. Eine wesentliche Rolle bei der Durchführung kreativer und kooperativer Verfahren spielt eine brückenbauende Moderation und das neutrale Planungsteam. Dessen Aufgabe ist es, den offenen Austausch zwischen allen Beteiligten herzustellen, das Hierarchiegefälle zu überwinden, den Informationsfluss zu fördern und die Plausibilität der Vorschläge zu erhöhen. Es sollte ein Dialog auf Augenhöhe entstehen, um gegebenenfalls verhärtete Fronten aufzulösen oder abzumildern, eingefahrene Denkweisen zu überwinden und Grenzen zu überschreiten. In einer offenen Entwicklung und Diskussion neuer Lösungsansätze sind die Setzungen der jeweiligen Seiten zu akzeptieren, aber auch immer wieder zu überprüfen. Genau diese Haltung und Übung im Prozess ermöglicht auch das Zustandekommen neuer Lösungen. Die beschriebenen Partizipationsansätze können durch unterstützende Aktivitäten dazu genutzt werden, die Kommunikation anzuregen, die Transparenz zu erhöhen und einen kreativen Diskurs zu fördern. Dabei bieten sich verschiedene Möglichkeiten an:

• Aufbau einer Projektseite im Internet, auf Facebook und/oder Twitter • themenzentrierte Arbeitsgruppen, Informationsveranstaltungen • Befragungen, Meinungserkundungen • interne Projektzeitung, Newsletter etc. bis zur Postwurfsendung an alle Haushalte • Ausstellungen vor Ort, Roadshows • visualisierte Darstellung von Grundlagen, Analysen, Konzepten, Planentwürfen und Ansichtszeichnungen zur Illustration und Kommunikation stadtplanerischer, wirtschaftlicher, sozialer Themen und Nachhaltigkeit • Ausarbeitung unmittelbar vor Ort, um kurze Ansprechwege und Einsichtnahmen zu ermöglichen Es ist wichtig zu betonen, dass diese und ähnliche Aktivitäten ihre Wirkung jedoch erst im Kontext moderierter Verfahren entfalten können, als einzelne Angebote sind sie nicht ausreichend. Partizipation zu einem tatsächlich kreativen und transparenten Prozess zu machen, der zu gegenseitiger Wertschätzung zwischen den Beteiligten, einem sachlich akzeptierten Fundament, zielführenden Ergebnissen und neuen Koalitionen zur Projektumsetzung führt – darin liegt die praktische Herausforderung, um eine hohe Prozessqualität zu erreichen.

Steuerung und Nachhaltigkeitsmanagement Zur Realisierung und späteren Aufrechterhaltung der Nachhaltigkeitsaspekte eines Stadtquartiers

Abb. 7 lebendiger Außenraum bereits vor Fertigstellung, Carlsberg, Kopenhagen (DK) Abb. 8 Auswahl des Konzeptfindungsverfahrens und deren Auswirkung auf Ergebnis und Umsetzbarkeit der Planung. Durch eine hohe Kommunikationsbreite und Konsensorientierung bringen die Charrette-Verfahren und Perspektivenwerkstätten umsetzungsfähigere Ergebnisse als Wettbewerbsverfahren.

110

Kapitel 4 — Handlungsfelder

über den gesamten Lebenszyklus ist eine darauf ausgerichtete Qualitätssicherung und ein Management der Umsetzungsprozesse notwendig. Bei den dafür als geeignet vorgeschlagenen Instrumenten wird grundsätzlich zwischen verbindlichen Regelungen im Rahmen des öffentlichen Baurechts mit Bebauungsplänen und städtebaulichen Verträgen sowie privatrechtlichen Festsetzungen, z. B. notariellen Grundstückskaufverträgen, unterschieden. Ergänzend sollten Leitlinien und Empfehlungen definiert werden, in Verbindung mit der Etablierung eines nur beratenden oder auch mitentscheidenden Beirats. Nur so ist zu gewährleisten, dass die entwickelten Qualitäten auch tatsächlich umgesetzt werden.

9 Everding 2007; www.nikis-niedersachsen.de 10 Everding 2007 11 www.nikis-niedersachsen.de 12 DGNB 2012

Das Baugesetzbuch fordert in Bebauungsplänen als dem zentralen Instrument der Bauleitplanung u. a. auch die Berücksichtigung des Klima- und des Naturschutzes. Für Grünordnungsaspekte werden oft bereits hier sehr weitgehende ökologische Festsetzungen, z. B. durch Pflanzlisten und Vorgaben zu Dachbegrünungen, getroffen. In energetischer Hinsicht lassen sich je nach Gesetzeslage und rechtlicher Auslegung zwar wichtige Voraussetzungen beispielsweise hinsichtlich einer dichten Bauweise, der Gebäudeorientierung und der Vermeidung von Gebäudeverschattungen schaffen, nicht jedoch z. B. eine bestimmte Kompaktheit oder ein erhöhter Energiestandard direkt und verbindlich festlegen. Bezüglich der Energieversorgung können und sollten im Bebauungsplan bereits die Grundlagen für eine aktive Nutzung der Sonnenenergie durch entsprechende Ausrichtung und Neigung der Dächer vorgesehen und bei beabsichtigter Nahwärmeversorgung Leitungsrechte und die Flächenreservierung für eine Energiezentrale berücksichtigt werden. Die Art der Versorgung selbst, z. B. mit Photovoltaik, Solarthermie oder Nahwärmenetz, lässt sich jedoch nicht bindend festsetzen. Deshalb ist zu empfehlen, die Maßnahmen grundsätzlich, soweit möglich, im Bebauungsplan zu verankern, und im Bereich Hinweise und Empfehlungen dann auf weitergehende Maßnahmen und ergänzende Instrumente zu verweisen.9 Bei vielen Nachhaltigkeitsqualitäten bedarf es zu deren Sicherung zusätzlicher privatrechtlicher Verträge mit Festlegungen, die weiter gehen als die Vorgaben im für Bebauungspläne vorgegebenen Festsetzungskatalog des BauGB (§9). In notariellen Grundstückskaufverträgen mit den Endnutzern können direkt im Vertrag oder in einer Bezugsurkunde als Anhang z. B. über die Ener-

gieeinsparverordnung (EnEV) hinausgehende Energiestandards mit Festlegung eines maximalen Energieverbrauchs pro m2 Nutzfläche, der Anschluss an ein Nahwärmenetz oder die Ausstattung mit Photovoltaikanlagen festgelegt werden. Auch bestimmte Mischnutzungskonzepte wie die ausschließliche Nutzung von Erdgeschossflächen für Gewerbe lassen sich so – über die Festsetzung eines Mischgebiets im Bebauungsplan hinaus – bestimmen. Voraussetzung für solche Vertragsergänzungen ist aber, dass private Projektentwickler oder Kommunen selbst im Besitz der betreffenden Grundstücke sind, z. B. über eine Bodenvorratspolitik oder Grundstücksentwicklungen durch eigene Gesellschaften.10 Städtebauliche Verträge zwischen Kommunen und privaten Investoren können neben klassischen Vereinbarungen zu Nutzung, Fristen und Kostenübernahmen auch wichtige Nachhaltigkeitsaspekte definieren.11 So lassen sich Quartiersinfrastrukturmaßnahmen wie z. B. die Energieversorgung mit einem Nahwärmenetz auf Biomassebasis, die Wasserver- und -entsorgung mit Grauwasserreinigung oder die Wiederverwendung als Brauchwasser auf Quartiersebene vertraglich vereinbaren. Die in Erschließungsverträgen üblichen Materialbeschreibungen der Straßen und Leitungen sollten auch die Umweltqualitäten einer ressourcenschonenden Infrastruktur bezüglich des Einsatzes von Recyclingmaterialien, lokalen und regionalen Materialen und solchen aus erneuerbaren Rohstoffen berücksichtigen.12 Des Weiteren stellen Gestaltungs- und Nachhaltigkeitshandbücher ein wichtiges Mittel des Nachhaltigkeitsmanagements dar. Mit einem solchen Handbuch lassen sich nicht nur gestalterische Aspekte wie z. B. ein städtebauliches Konzept zum Fassadenmaterial, zur Farbgebung und den Nebenanlagen definieren. Durch Leitlinien und Empfehlungen zu Nachhaltigkeitsaspekten auf der Basis von Fachkonzepten können dabei über die verbindlichen Festlegungen im Bebauungsplan und in Kaufverträgen hinausgehende Maßnahmen beschrieben werden. Dies kann z. B. die Errichtung energieeffizienter Gebäude im Passivhausstandard, die Anwendung wohngesunder Materialien und Haustechnik oder der Einsatz von moderner Holzbauweise betreffen. Gerade um ökologische Maßnahmen wie z. B. Solaranlagen in Dächern, oberflächige Regenentwässerung in private und öffentliche Freiräume und Fassadenbegrünungen gestalterisch in eine hochwertige und zeitgemäße Architektur zu integrieren, ist ein

4.2 — Prozesse und Beteiligung

solches Handbuch sehr hilfreich. Es kann aber auch zur Erläuterung der für das Quartier entwickelten Nachhaltigkeitskonzepte dienen und mit Illustrationen die Möglichkeiten zu deren Umsetzung aufzeigen. Nicht zuletzt können die Vermittlung der komplexen Inhalte und die Darstellung bereits realisierter ähnlicher Gebäude, Freiräume oder Infrastrukturtechnologien auch das Marketing eines nachhaltigen Stadtquartiers unterstützen. Wird auf flexible Anpassungen der Inhalte verzichtet und eine rechtlich verbindliche Form angestrebt, ist es auch möglich, die Inhalte und Konzepte solcher Handbücher als kommunale Satzung zu beschließen oder über einen Grundbucheintrag beim Grundstückskauf abzusichern. Die Etablierung eines Quartiersgestaltungs- und Nachhaltigkeitsbeirats ist ein weiteres sehr sinnvolles und ergänzendes Instrument. Einem solchen Beirat sollten der Stadtplaner, Fachleute, die Vertreter der kommunalen Verwaltung und der Grundstückseigentümer sowie gegebenenfalls externe Planer angehören. Insbesondere in späteren Realisierungsphasen kann es sinnvoll sein, auch die Quartiersnutzer zu beteiligen. Da viele Festlegungen in Bebauungsplänen und Handbüchern auch aus Flexibilitätsgründen nur Leitplanken für die Realisierung sein können und sollen, ist deren Interpretation und Anwendung in Bezug auf die Nachhaltigkeitsziele und die spezifischen Anforderungen der Architekturprojekte von großer Bedeutung. Gerade auch innovative und noch nicht vorgedachte Maßnahmen zur Umsetzung der Entwicklungsziele sollten möglich sein, und die Planungen dahingehend von den Festsetzungen abweichen dürfen. Deshalb ist es von Vorteil, wenn es projektbegleitend für den Endnutzer und den Planer freiwillige oder gegebenenfalls auch verbindliche Beratungsangebote gibt und verpflichtende Zustimmungen als Teil eines gemeinsam vereinbarten Qualitätsprozesses vorgeschrieben sind. Dabei kann es sich um die Durchführung eines Wettbewerbs, eines Investorenauswahlverfahrens oder einer Entwurfswerkstatt gemeinsam mit dem Grundstückseigentümer handeln, aber auch um die zwingend vorgeschriebene Freigabe der Vorentwurfs- oder Entwurfsplanung eines Gebäudes oder sogar um ein bau- und später nutzungsbegleitendes Monitoring. Beispiele für ein Monitoring der Nachhaltigkeitsmaßnahmen bei der Quartiersumsetzung sind die Kontrolle von Passivhausdetails auf bauphysikalische Korrektheit sowie von Materialqualitäten auf ökologische und gesundheitliche Unbe-

denklichkeit, die fachliche Prüfung von Energieausweisen im Hinblick auf einen geforderten erhöhten Energiestandard nach Realisierung bis hin zur Untersuchung des tatsächlichen Energieverbrauchs im Betrieb. Für ein effektives EnergieMonitoring des Wärme- und Stromverbrauchs ist es erforderlich, die messtechnischen Voraussetzungen für einen jährlichen Abgleich der Verbrauchswerte mit vordefinierten oder allgemeingültigen Quartiersanforderungen zu schaffen.13 Verträge mit Betreibergesellschaften sollen die Nachhaltigkeit des Quartiers langfristig sichern. Dies kann die Energieversorgung, eine dezentrale Abwasserbehandlung, den Unterhalt und Betrieb von Gemeinschaftseinrichtungen oder die Organisation eines Carsharing-Modells btreffen.14 Als Betreiber kommen sowohl Stadtwerke und externe Dienstleister als auch von den Quartiersnutzern getragene oder mitgetragene Vereine und Genossenschaften infrage. Gerade die vielen in letzter Zeit von Bürgern gegründeten Energiegenossenschaften zeigen, wie sich mit neuen bzw. wiederentdeckten Organisationsmodellen auf Nachhaltigkeitsherausforderungen reagieren lässt. Dadurch können die Nutzer mitentscheiden und teilweise sogar finanziell vom Quartiersmanagement profitieren. Weiterhin kann eine finanzielle Förderung bei Grundstückskäufen nachhaltige Projekte interessant machen und damit die Umsetzung von Nachhaltigkeitsaspekten unterstützen. Zu denken ist dabei z. B. an den Bau von Passivhäusern, dies gilt aber auch für Baugemeinschaften, die Teilnahme am Carsharing oder die Verwendung von besonders ökologischen oder baubiologischen Materialien. Praktisch lassen sich solche Förderungen über die Kostenübernahme einer Energieberatung, eine pauschale Kaufpreisreduzierung oder über ein Punktesystem mit positiver Bewertung der Verbesserungsmaßnahmen umsetzen.15 Abschließend lässt sich festhalten, dass der nachhaltige Entwicklungsansatz und der Infrastrukturbau in städtebaulichen Verträgen festgelegt werden sollten. Der Bebauungsplan muss dann entsprechende Voraussetzungen schaffen, die idealerweise mit einer Qualitätsvereinbarung mit den Grundstückskäufern privatrechtlich erweitert und durch einen in dieser Vereinbarung abgesicherten Prozess mit einem Quartiersbeirat bis hin zum späteren Monitoring umgesetzt und gesteuert werden. Die Erfahrung zeigt, dass die erfolgreiche Umsetzung eines Qualitäts- und Nachhaltigkeitsmanagements von einer integrierten Strategie abhängt, die mehrere oder sogar alle beschriebenen Instrumente einbezieht.

111

13 DGNB 2012 14 ebd. 15 ebd.

Weitere Informationen • Duijvestein, Kees: Building and Environment. Thinking in Systems, Designing in Variants. TU Delft, 1995 • Duijvestein, Kees: The Environmental Maximisation Method. In: De Jonge, Taeke M.; Van der Voordt, D. J. M. (Hrsg.): Ways to Study and Research Urban, Architectural and Technical design. TU Delft, 2002 • Gaffron, Philine; Huismans, Gé; Skala, Franz (Hrsg.): Ecocity Book 1. A Better Place to Live. Hamburg/Utrecht/Wien 2005 • Gaffron, Philine; Huismans, Gé; Skala, Franz (Hrsg.): Ecocity Book 2. How to Make it Happen. Hamburg/Utrecht/Wien 2008 • Löhnert, Günter; Dalkowski, Andreas; Römmling, Uwe: sol·id·ar Planungswerkstatt Berlin. Integrale Planung. Zusammenhänge – Zielkonflikte – Meilensteine. In: XIA Intelligente Architektur 09/2011 • Messerschmidt, Rolf: NetzWerkZeug Nachhaltige Stadtentwicklung/Anwendung Karlsruhe Südost. In: Wohnbund Informationen 01/2003 • Thompson, John; von Zadow, Andreas (2009): Stadtentwicklung ist eine Gemeinschaftsleistung. In: Wolfgang Christ (Hrsg.): Access for All. Zugänge zur gebauten Umwelt. Basel/Boston/ Berlin 2009 • von Zadow, Andreas: Perspektivenwerkstatt. Hintergründe und Handhabung des Community Planning. Berlin 1997/2007 • von Zadow, Andreas: Konzertierte Aktionen für einen integrativen Stadtumbau. In: Salzburger Institut für Raumordnung & Wohnen (Hrsg.): Stadt im Umbau. Neue urbane Horizonte. Tagungsband zum Symposium. Salzburg 2009 • www.communityplanning.net • http://cordis.europa.eu/easw/home.html • www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/FP/ExWoSt/ Forschungsfelder/2004undFrueher/3stadt2/05_ Veroeffentlichungen.html • www.perspektivenwerkstatt.de • www.werkstatt-stadt.de

K A P ITE L 4

Handlungsfelder

4 .3

Mensch und Soziokultur

4.3 — Mensch und Soziokultur

113

4 .3.1

Soziales Gefüge Ti l m an Harlander

S

tädte, Wohnungswirtschaft und engagierte Bürger haben im Sinne einer sozial nachhaltigen Quartiersplanung eine Vielzahl an Strategien, Projekten und Einzelmaßnahmen entwickelt, um auf die Herausforderungen des demografischen Wandels, die wachsenden Integrationsaufgaben und die Gefährdungen des sozialen Zusammenhalts zu reagieren. Grundsätzlich geht es darum, die städtischen Quartiere als Wohn- und Arbeitsort, Lebens- und Begegnungsraum für alle Bevölkerungsgruppen lebenswert, attraktiv und sicher zu gestalten und an die sich ändernden Bedürfnisse anzupassen. Einheitliche Strategien und Patentrezepte kann es dabei schon angesichts der Vielfalt unterschiedlicher Quartierstypen nicht geben: Gründerzeitliche Innenstadtquartiere, Kleinsiedlungen am Stadtrand, Großsiedlungen der 1960erund 70er-Jahre, Einfamilienhausgebiete oder auch seit den 1990er-Jahren errichtete Stadtquartiere weisen ganz unterschiedliche Stärken und Schwächen und daraus folgenden Interventionsbedarf auf. Nicht zuletzt muss die Gestaltung des Sozialraums Quartier in eine übergreifende, integrierte und partizipativ gestaltete Stadt(teil)entwicklungsplanung eingebunden sein,1 in der soziale, ökologische, wirtschaftliche und städtebaulicharchitektonische Aspekte zu einem ganzheitlichen Handlungskonzept zusammengeführt werden.

Nutzungsmischung Was charakterisiert ein sozial nachhaltiges Stadtquartier? Die Antwort hierauf fällt seit der »Leit-

bildrenaissance der europäischen Stadt«2 gänzlich anders aus als im Siedlungsbau und den städtebaulichen Konzepten des Funktionalismus der Moderne. Grundsätzlich gilt heute – zumindest in Gesetzestexten, Programmen, Memoranden und Weißbüchern – die an der Tradition der europäischen Stadt orientierte dichte, kompakte Stadtstruktur der kurzen Wege mit kleinteiliger funktionaler und sozialer Mischung als tragfähiges und zeitgemäßes Modell.3 In städtebaulicher Hinsicht steht dies im Gegensatz zu den fließenden Räumen und dem Zeilenbau der Moderne und ist, im Rückgriff auf den Parzellenstädtebau der vormodernen Stadt, vielmehr dessen möglichst kleinräumiger multifunktionaler Blockrandbebauung in einem netzförmigen Straßensystem verbunden.4 In Abkehr von den Monokulturen der Moderne sollen Wohnungen, Arbeitsstätten und Dienstleistungseinrichtungen wieder enger verflochten werden, der öffentliche Straßenraum durch die Öffnung der Erdgeschosszonen eine nachhaltige urbane Belebung erfahren und damit zugleich der (Arbeits-)Pendelverkehr eine deutliche Reduzierung erfahren. In der Praxis sind die bisherigen Ergebnisse eher ernüchternd. Blieb schon bei neuen Stadterweiterungen das Ziel der kleinräumigen Nutzungsmischung meist ein frommer Planerwunsch,5 so zeigte sich auch beim Stadtumbau im Bestand, dass die Realisierungschancen einer kleinteiligen Verflechtung von Arbeiten und Wohnen hier zwar höher liegen, aber doch in vielen Fällen mit der Maßstabslogik großer (internationaler) Investoren konfligieren. Auch die anhaltenden Konzentrations- und Flächenerweiterungsprozesse im städtischen Einzelhandel erweisen sich als schwer zu überwindende Hürde.6 Spielhallen, Wettbüros, Ramschläden und Call-Shops, die stattdessen in die kleinteiligen Ladenflächen drängen, wirken dagegen dem Ziel urbaner, kleinteiliger Nutzungsmischung entgegen.

1 BMVBS 2012, 5 Jahre Leipzig Charta, S. 17 2 Jessen 2004, S. 92 3 BMVBS 2011, S. 23 4 Feldtkeller 2012 5 Jessen 2004, S. 99 6 Mayer-Dukart 2010, S. 75f.

114

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Abb. 1

Abb. 1 Siedlung mit Alterswohnungen, Kinderkrippe und Eltern-Kind-Zentrum, Zürich (CH) 2011, poolArchitekten

7 8 9 10

Kuhn /Harlander 2010 Soehlke 2010 Feldtkeller 2012, S. 104 Steffen/Baumann/Fritz 2007

Am erfolgreichsten waren bislang jene Ansätze, die die angestrebte funktionale und soziale Mischung auch mit einer Vielfalt verschiedener Bauträger, insbesondere Baugemeinschaften und neuer Genossenschaften, zu erreichen versuchten.7 Die Tübinger Planungen können dabei als ein Pionierprojekt gelten. Hier wusste man die sich bietenden Chancen zur Entwicklung eines attraktiven Stadtquartiers »von unten« auf einem ehemals militärisch genutzten Konversionsgebiet, dem Französischen Viertel bzw. Loretto-Areal, zu nutzen.8 In der gezielt als Mischgebiet und nicht, wie sonst üblich, als allgemeines Wohngebiet ausgewiesenen Tübinger Südstadt sind Wohnen und Arbeiten beispielhaft funktional miteinander verflochten: Für jedes Erdgeschoss musste eine gewerbliche Nutzung nachgewiesen werden. Da die üblichen Bauträger auf die städtischen Vorgaben nicht eingehen wollten, blieb der Stadt gar nichts anderes übrig, so Andreas Feldtkeller, der ehemalige Leiter des Tübinger Stadtsanierungsamts und Initiator der SüdstadtPlanungen, »als die Verwirklichung einer kleinteiligen und vielfältigen Nutzungsmischung mit den künftigen Nutzern selbst zu versuchen«.9 Kleinteilige Nutzungsmischung im Quartier gilt als Schlüsselbaustein für urbane Vielfalt, Lebendigkeit, Sicherheit und soziale Qualitäten des öffentlichen Raums. Ideale Modelle gibt es jedoch nicht. Nutzungsmischung ist horizontal und vertikal, im Einzelgebäude, Block oder Quartier

möglich – ihre jeweilige Ausgestaltung ist im Austausch mit Betroffenen und Nutzern individuell vor Ort zu erarbeiten.

Stadtquartiere für Jung und Alt Die Herausforderungen des demografischen Wandels haben dazu geführt, dass die Kommunen verstärkt bemüht sind, ihre Stadtquartiere zu gleichermaßen gut nutzbaren Räumen für Menschen aller Altersgruppen und Nationalitäten, besonders auch für ältere Mitbürger und Familien, weiterzuentwickeln (Abb. 1).10 Noch immer fällt trotz des allgemeinen, vor allem jedoch auf den Zuzug jüngerer »Bildungswanderer« gegründeten Reurbanisierungstrends der Wanderungssaldo zwischen Stadt und Umland bei älteren Menschen und Familien mit Kindern in der Regel für die Städte negativ aus. Für diese Gruppen gibt es dort nach wie vor zu wenig geeigneten und bezahlbaren Wohnraum und in vielen Fällen auch nur unzureichende Wohnumfeldbedingungen. So sind die Möglichkeiten für ein wohnungsnahes, gemeinschaftliches Spielen von Kindern mit Gleichaltrigen im Straßenraum nach Jahrzehnten der Dominanz der Autoverkehrs heute weitgehend

4.3 — Mensch und Soziokultur

verschwunden und der städtische Kinderalltag ist oft durch stadträumliche »Verinselung« und »Medialisierung« geprägt. Gerade in den letzten Jahren ist ein Umdenken zu erkennen und das Ziel einer kindgerechten Wiedergewinnung des Stadtraums genießt heute einen hohen Stellenwert. Wie innovativ hier beispielsweise Kommunen in Baden-Württemberg mit unterschiedlichen Verkehrsberuhigungsmaßnahmen, Spielplatzgestaltungen, Schulhoföffnungen, dem Ausbau von Betreuungsinfrastrukturen, Kinder-KulturWerkstätten oder Kinderstadtplänen und Ähnlichem experimentieren, dokumentieren entsprechende Wettbewerbsinitiativen.11 Die Anpassung des Wohnungsbestands und der Stadtquartiere an die sich ausdifferenzierenden Bedürfnisse des Alterns ist ein weiterer Punkt und gehört zu den anspruchvollsten Aufgaben sozial nachhaltiger Stadtpolitik (Abb. 2, S. 116). Gerade ältere Menschen können in der Stadt von der Nähe zu Fachärzten, Apotheken, Kultur- und Bildungseinrichtungen sowie von einem breiten Einzelhandelsangebot und einem gut ausgebauten ÖPNV besonders profitieren. Wohnwunschbefragungen unterstreichen deutlich das Anliegen, so lange als möglich in der vertrauten Wohnumgebung zu verbleiben. Auch statistisch gesehen entspricht dieser Wunsch der Realität: Mehr als 95 % der über 65-Jährigen leben in Deutschland in den eigenen vier Wänden, weniger als 5 % in Heimen. Selbst von den Pflegebedürftigen werden zwei Drittel zu Hause gepflegt. Je altersgerechter und barriereärmer die Wohnung und das Wohnumfeld gestaltet sind, desto länger kann die eigene Wohnung trotz wachsender Einschränkungen genutzt werden. 2030 wird jeder vierte Bundesbürger über 65 Jahre alt sein, die Zahl der Schwerbehinderten wird auf sieben Millionen Menschen geschätzt. Damit ist das Thema Barrierefreiheit kein Nischenthema mehr, sondern wird zur gesamtgesellschaftlichen Zukunftsaufgabe.12 Völlige Barrierefreiheit kann dabei allerdings nicht das Ziel sein. Barrieren gliedern auch Räume oder schaffen, wie etwa beim umzäunten Kinderspielplatz, im Einzelfall Sicherheit. Zudem ist das Überwinden von Barrieren für Kinder eine wichtige Erfolgserfahrung in der körperlichen Entwicklung, in der Ausbildung des Bewegungsapparats und der allmählichen Ausweitung des Erfahrungshorizonts. Auch für ältere und behinderte Menschen sind angemessene Anforderungen an den Bewegungsapparat durchaus förderlich. Bei dem Bemühen um die Reduktion von Barrieren geht es also immer um einen Ausgleich unterschiedlicher Interessen und Ansprüche an

den Quartiersraum bzw. um die Gleichberechtigung beim Zugang zu Möglichkeiten, Räumen und um Wertschätzung (Abb. 4, S. 118).13 Ebenso wichtig wie die Anpassung der Wohnungen und des Wohnumfelds mit baulichen Mitteln ist die Herstellung von Pflege- und Versorgungssicherheit auf Quartiersebene. Ein entscheidender Aspekt setzt bei der Bezahlbarkeit möglicher quartiersnaher Dienst- und Pflegeleistungen an. Als beispielhaft für einen innovativen, inzwischen mehrfach kopierten Ansatz gilt die preisgekrönte Seniorengenossenschaft Riedlingen mit den Seniorenwohnanlagen »Rösslegasse« und »Am Stadtgraben«. Nach ihrem auf gegenseitigem Geben und Nehmen basierenden Betreuungskonzept erbringen die etwa 650 Riedlinger Mitglieder der Genossenschaft Dienst- und Pflegleistungen (Fahrdienste, Reparaturen etc.) für die bedürftigen Mitglieder nicht zu Marktpreisen, sondern gegen geringes Entgelt: Für die Dienstleistungen bezahlt der Leistungsnehmer einen vom Vorstand festgelegten Betrag von derzeit 8,20 € je Arbeitsstunde. Den Helfern werden 6,15 € ausbezahlt, den Rest erhält die Genossenschaft zur Finanzierung ihrer Aufgaben. Im Rahmen sozial nachhaltiger Quartiersplanung geht es grundsätzlich nicht um Sondermaßnahmen für einzelne Alters- oder ethnische Gruppen, sondern um Qualitätssteigerungen, die letzten Endes allen Bewohnern zugutekommen.14 Auch die Dokumentationen der Modellvorhaben und Fallstudienprojekte des Projekts »Innovationen für familien- und altengerechte Stadtquartiere« im Rahmen des Forschungsprogramms »Experimenteller Wohnungs- und Städtebau« (ExWoSt) durch das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) bzw. das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) belegen eindrucksvoll die Fortschritte auf diesem Feld.15 Gleichsam rahmensetzende Bedeutung kommt dabei der Aufwertung des öffentlichen Raums zu. Er dient laut BBSR zugleich »als Bühne der Quartiersgesellschaft, der Bildung sozialer Netze, aber auch als Austragungsort von Konflikten zwischen sozialen Gruppen. Deshalb ist der Freiraum das ideale Erprobungsfeld für eine neue Planungskultur«.16 Gefragt ist die Kreativität der Beteiligten in der Entwicklung und Erprobung neuer Verkehrsund/oder Grünkonzepte (z. B. Shared Spaces, Urban Gardening), eines veränderten Umgangs mit Wasser (z. B. Freilegungen von Bächen), mit Kunst im öffentlichen Raum (z. B. temporäre Installationen, gestaltende Lichtplanung etc.) oder auch neuer Interpretationen des Übergangs von privaten und öffentlichen Räumen.17

115

11 ARGE 2008 12 BMVBS 2012, Barrieren in Stadtquatieren überwinden, S. 7 13 Willinger 2012, S. VI 14 ARGE BW 2012, S. 15 15 BMVBS /BBSR 2010 16 BBSR 2009, S. 6 17 Kuhn /Dürr/Simon-Philipp 2012

116

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Abb. 2

Ebenso wichtig wie die Planung der Freiräume ist der komplementäre Ausbau der Gemeinschaftseinrichtungen auf Quartiersebene. Auch hier haben sich Trägerschaften, Akteurskonstellationen, bauliche Formen, inhaltliche Ausrichtung und Größe enorm ausdifferenziert und vielfältige Bezeichnungen etabliert: Nachbarschaftszentrum, Bürgerhaus, Stadtteiltreff, Mehrgenerationenhaus, Haus der Kulturen und Generationen, Nachbarschaftsbörse, Bewohnertreff, Haus der Familie und Community Center.18 In erfolgreichen Projekten wie dem genossenschaftlichen Wohnprojekt »Wagnis 1« in München entwickelten sich beispielsweise ein Café und ein Nachbarschaftstreff zu einem sozialen Bezugspunkt für das gesamte Quartier.

Soziale Mischung

18 BMVBS /BBSR 2010 19 Harlander / Kuhn / Wüstenrot Stiftung 2012 20 Magistrat der Stadt Frankfurt am Main 2010, S. 9 21 BBR 2011, S. 5

In der baulichen Praxis der meisten Städte überwiegt bei der Entwicklung neuer urbaner Wohnformen gegenwärtig die Konzentration auf gehobene und hochpreisige Wohnungsmarktsegmente (Abb. 6, S. 119). Die damit einhergehende soziale Verengung der Adressaten auf vermögendere urbane Schichten und internationale Investoren wird allerdings zunehmend kritisch gesehen. Es wächst die Sorge über die zu beobachtenden forcierten Entmischungstendenzen und ein Auseinanderdriften der Stadtgesellschaften, das den überkommenen sozialen Zusammenhalt in Deutschland infrage zu stellen beginnt. Und so ist das Thema der sozialen Mischung wieder zu einem zentralen Topos geworden.19 Das Ziel einer sozialen Mischung, das auch das Baugesetzbuch (BauGB § 1) und Wohnraumförderungsgesetz (WoFG § 6 ) mit der Absicht der »Schaffung und

Erhaltung sozial stabiler Bewohnerstrukturen« fordern, trifft auf einen breiten Konsens bei Kommunalpolitikern wie innerhalb der Wohnungswirtschaft. Die Zielakzeptanz lässt sich noch weiter erhöhen, wenn in einer modernen Integrations- und Diversitätspolitik auf kommunaler Ebene unter »Mischung« nicht (mehr) die Einebnung und Nivellierung kultureller und ethnischer Unterschiede verstanden werden, sondern gerade umgekehrt eine Balance von Integration und Diversität, von geteilter Gemeinsamkeit und individueller Vielfalt angestrebt wird.20 Dabei gilt es, auch die Grenzen jeder Mischungspolitik im Auge zu behalten, wie die von mehreren Schweizer Bundesämtern herausgegebene Studie »Soziale Mischung und Quartierentwicklung: Anspruch versus Machbarkeit« aus dem Jahr 2011 unterstreicht. Die Sorge um Teilhabe, um Wahlmöglichkeiten auf dem Wohnungsmarkt, um das soziale Profil eines Gemeinwesens und um soziale Mischung ist laut dieser Studie in einer demokratischen Gesellschaft ein Muss. Auf der anderen Seite gelte es aber auch »anzuerkennen, dass ein sozial durchmischtes Quartier keine Lösungen für Armut, Ausgrenzung und Diskriminierung bietet und damit auch nicht die negativen Begleiterscheinungen sozio-ökonomisch segregierter Quartiere zu beseitigen vermag«.21 Mischung im Wohnen ist nur dann möglich, wenn nach Größe, Ausstattung und vor allem nach Preis geeigneter Wohnraum für alle Bevölkerungsgruppen zur Verfügung steht. Vielleicht liegt die größte Hypothek für eine nachhaltige Mischungspolitik auf Quartiersebene in dem unaufhaltsamen Abschmelzen des früheren Sozialwohnungsbestands, das durch die gegenwärtigen Neubauraten im geförderten Wohnungsbau in keiner Weise kompensiert wird. Die vor allem in den Großstädten kumulierenden Probleme auf den unteren Wohnungsteilmärkten

4.3 — Mensch und Soziokultur

117

Abb. 3

haben dazu geführt, dass mehr und mehr Kommunen, zum Teil mithilfe kommunaler Wohnungsgesellschaften, inzwischen auf diesem Feld neue, eigene Aktivitäten entwickeln. München als Stadt mit den höchsten Immobilienpreisen und größtem Nachfragedruck auf dem Wohnungsmarkt ist zugleich die Stadt, die konsequent im Rahmen ihrer 1994 vom Stadtrat erstmals beschlossenen Politik »Sozialgerechter Bodennutzung« (SoBoN) immer dann, wenn neues Baurecht geschaffen wird, die Umsetzung einer Förderquote von 30 %, bei städtischen Grundstücken sogar von 50 %, für den preisgünstigen, geförderten Miet- und Eigentumswohnungsbau fordert und umsetzt. Inzwischen haben auch zahlreiche andere Städte wie Hamburg, Stuttgart, Aachen, Heidelberg, Regensburg oder Nürnberg ähnliche, in Höhe und Ausgestaltung variierende Förderquoten eingeführt. Was den Bestand betrifft, so steht die Debatte um geeignete Instrumente zur Begrenzung sozial unerwünschter Entmischungs- und Verdrängungsprozesse der gegenwärtig vor allem in den Wachstumszentren zu beobachtenden Gentrifizierung noch weitgehend am Anfang. Luxussanierungen und Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen können kaum verhindert werden. Ein Umwandlungsverbot hat, wie der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude mehrfach beklagte,22 der Landesgesetzgeber bislang nicht bereitgestellt und auch der Einsatz von Erhaltungssatzungen (BauGB § 172) kann die angesprochenen Prozesse nur bremsen, aber nicht dauerhaft verhindern.23 Nun stellt sich die Frage, auf welcher städtebaulichen Maßstabsebene und in welcher städtebaulichen Körnung sich Mischung als am sinnvollsten, am wirkungsvollsten erwiesen hat und in welchem Verhältnis (Quartier, Block, Haus) dabei sozial und ethnisch heterogene und homogene Struk-

turen zueinander stehen sollen. Eine klassische, viel zitierte Antwort gibt darauf der amerikanische Sozialforscher Herbert J. Gans in einem bereits 1961 erstmals publizierten Aufsatz: Grundsätzlich seien beide, homogene und heterogene Strukturen, per se weder als gut oder schlecht zu qualifizieren. Lediglich ihre extremen Formen seien gleichermaßen unerwünscht. Im Ergebnis postuliert er ein im konkreten Fall auszubalancierendes Ideal, in dem ausreichende Homogenität gegeben sein sollte, um Konflikte zu verhindern und um positive Beziehungen mit den Nachbarn aufzubauen, und in dem zugleich genügend Heterogenität bestehen müsse, um auch einer gewissen Vielfalt Raum zu geben.24 In der Praxis führte das zu der wiederholt geäußerten Empfehlung, das unmittelbare Umfeld der Wohnung bzw. den Wohnblock eher homogen, größere Einheiten wie das Quartier aber nach Möglichkeit heterogen zu halten.25 Gemeinden und Wohnungsbaugesellschaften experimentieren in der Frage sozialer Mischung auf Haus-, Block- oder Quartiersebene bis heute mit unterschiedlichsten Projekten. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass Mischung in der Regel umso mehr Fingerspitzengefühl, Einsatz und vor allem Bereitschaft zur aktiven Beteiligung der Bewohner aufseiten der Projektentwickler erfordert, je feinkörniger und kleinteiliger sie konzipiert ist.26

Programm »Soziale Stadt« Einen komplexen Ansatz zur Aufwertung von Problemquartieren in Großsiedlungen und Innenstadtrandlagen verfolgt das 1999 aufgelegte

Abb. 2 Pflegeheim und Diakonie, Düsseldorf (D) 2009, Baumschlager Eberle Abb. 3 sozialer Mietwohnungsbau als Neuinterpretation des vorherigen Zeilenbaus, Buchheimer Weg, Köln (D) 2012, ASTOC Architects and Planners

22 Süddeutsche Zeitung vom 07.12.2012 23 Reiß-Schmidt 2012, S. 415 24 Gans 1974, S. 197 25 Spiegel 1983, S. 88 26 Harlander/Kuhn / Wüstenrot Stiftung 2012, S. 402f.

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Kapitel 4 — Handlungsfelder

Abb. 4 Abb. 4 Siedlung für Demenzkranke »De Hogeweyk«, Weesp (NL) 2012, Molenaar & Bol & Van Dillen architekten Abb. 5 Logo der Aktion »Gute Fee« in Stuttgart Abb. 6 hochpreisiges Wohnen, Marco Polo Tower, Hamburg (D) 2010, Behnisch Architekten

27 GdW 1998 28 Buschkowsky 2012, S. 42 29 Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2011, S. 201 30 GdW 2010, S. 9 31 Siebel 2006, S. 11

Abb. 5

Bund-Länder-Programm »Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – Soziale Stadt«. Verschiedene Länderprogramme, aber auch die Studie des Bundesverbands deutscher Wohnungsund Immobilienunternehmer (GdW) »Überforderte Nachbarschaften« hatten bereits wichtige Vorarbeiten geleistet.27 Die Finanzierung erfolgt durch Bund, Länder und Kommunen. Das Programm basiert auf dem Grundgedanken, dass der befürchteten Abwärtsspirale in den betroffenen Quartieren durch Abwanderung, mangelnde Unterhaltungsinvestitionen, Vernachlässigung, Vandalismus etc. aufgrund der multiplen Problemlagen nur durch einen integrierten Ansatz umfassender Quartiersentwicklung begegnet werden kann. Dieser beinhaltet sowohl bauliche wie nicht-investive Maßnahmen in Bereichen wie z. B. Spracherwerb, Verbesserung von Schul- und Bildungsabschlüssen, Betreuung von Jugendlichen in der Freizeit und Förderung der lokalen Ökonomie. Der in Problemquartieren wirkende Entmischungsmechanismus führte bislang häufig nicht nur zu einem überproportionalen Anstieg von Transfereinkommensempfängern, sondern auch, wie etwa in Berlin-Neukölln oder Duisburg-Marxloh, zu teils extrem hohen Anteilen von Ausländern bzw. Menschen mit Migrationshintergrund.28 Insofern kommt dem Programm auch in der Praxis der Integrationspolitik eine Schlüsselrolle zu.29 Das Programm, das sich in Deutschland zum wichtigsten Instrument der Stabilisierung benachteiligter und benachteiligender Quartiere entwickelt hat, umfasste im Jahr 1999 in 124 Gemeinden 161 Gebiete, Ende 2011 waren es bereits 603 Gebiete in 375 Gemeinden. Nahezu alle Verbände haben scharf gegen die 2011 durch die Bundesregierung beschlossenen drastischen Kürzungen protestiert, die 2012 allerdings nur zum Teil wieder rückgängig gemacht wurden.

Gerade von den durch die Kürzungen besonders betroffenen nicht-investiven Mitteln im Sozialbereich gingen die wichtigsten stabilisierenden sozialen Impulse aus. Alle zwei Jahre werden bundesweit besondere Modellprojekte mit dem Preis »Soziale Stadt« ausgezeichnet. Gemein ist den bisherigen Preisträgern bei allen Unterschieden der Problemlagen im Einzelnen der gewählte Ansatz, bauliche, soziale und ökonomische Maßnahmen zu verbinden. Sie setzten beispielhaft das vom GdW formulierte zentrale Ziel der sozialen Quartiersentwicklung um, nämlich die Schaffung selbsttragender Strukturen zwischen den Menschen in einem Quartier. Denn soziale Netzwerke tragen wesentlich dazu bei, stabile Nachbarschaften zu bilden.30

Städtebauliche Kriminalprävention Eine sozial nachhaltige Stadt ist auch eine sichere Stadt und wird als solche empfunden – zwei Sachverhalte, die sich nicht immer decken. Kriminologen sprechen in diesem Zusammenhang vom sogenannten Kriminalitätsparadox: Gerade die Gruppen mit den niedrigsten Viktimisierungsraten wie ältere Menschen und Frauen entwickeln die ausgeprägtesten Sicherheitsängste, während die am meisten durch Gewaltkriminalität betroffene Gruppe, nämlich Jugendliche, am sorglosesten sind. Wegen des durchweg schwer quantifizierbaren Dunkelfelds sind Kriminalstatistiken zum Thema Sicherheitsängste nur eingeschränkt aussagekräftig. Sicherheitsängste stellen eine eigene, ernst zu nehmende soziale Realität dar. Im Bereich Sicherheit geht es, so der Stadtsoziologe Walter Siebel, um eine in der Praxis schwer zu findende Balance: »Zu wenig Kontrolle kann den öffentlichen Raum ebenso gefährden wie zu viel Kontrolle.«31 Unsicherheit sei ein Strukturelement des öffentlichen Raums. Vollständig kontrollierte Räume seien keine öffentlichen Räume mehr, aber umgekehrt können unsichere Parks und Straßenräume sehr schnell ihren Öffentlichkeitscharakter verlieren.

4.3 — Mensch und Soziokultur

Die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Behörden ist hier bislang noch punktuell und fragmentarisch. Eine Erklärung des Innenministeriums von Baden-Württemberg zur verstärkten Berücksichtigung sicherheitsfördernder Aspekte in Städtebau und Gemeindeentwicklung hebt zu Recht hervor, dass die beste Prävention mit einer funktionierenden informellen sozialen Kontrolle in der Entwicklung sozial und funktional gemischter lebendiger Stadtquartiere mit qualitätvollen öffentlichen Räumen besteht.32 Raumstrukturen determinieren das Verhalten nicht, aber sie schaffen auf vielfältige Weise so wohl Handlungsmöglichkeiten als auch Handlungsbeschränkungen. Architektur und Städtebau können wesentlich dazu beitragen, das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung zu erhöhen. Im öffentlichen Raum wie im Gebäude heißt dies die Beseitigung von Angsträumen, bessere Einsehbarkeit, gute Beleuchtung, ausreichende Orientierungshilfen und generell übersichtliche, gepflegte und gut gestaltete Räume. Entscheidend im Sinne der Stärkung funktionsfähiger sozialer Nachbarschaften ist dabei nicht so sehr der Ausbau von polizeilicher Kontrolle oder Überwachung, sondern die Stimulation von informeller sozialer Kontrolle und die Übernahme von Verantwortung durch die Bewohner selbst. Grundlegend sind hier insbesondere die Arbeiten des US-amerikanischen Architekten Oscar Newman zum »Defensible Space« (1972 und 1996).33 Sein griffiger Grundgedanke, dass Sicherheit und die Identifikation der Bewohner nur dann wachsen können, wenn die eigene Lebens- und Wohnumwelt auch durch geeignete Symbole, Zonierungen und Barrieren als verteidigenswert und verteidigensfähig gestaltet wird, wurde weltweit vielfach aufgegriffen und weiterentwickelt. Inzwischen gibt es in den einzelnen Bundesländern eine ganze Reihe von Handbüchern, Ratgebern und Checklisten, die zahlreiche Einzelmaßnahmen etwa zur Entschärfung von Kriminalitätsschwerpunkten oder zur Stärkung des subjektiven Sicherheitsempfindens von Kindern wie in der inzwischen vielfach nachgeahmten Stuttgarter Aktion »Gute Fee« aufzeigen. Diese bereits 1998 gestartete Bürgeraktion hat im Stadtgebiet Stuttgart inzwischen über 1100 Aktionspartner. Mit dem Aktionsaufkleber »Gute Fee« gekennzeichnet, sind diese gut erkennbar und stehen bei Notfällen im Kinderalltag als Ansprechpartner zur Verfügung (Abb. 5).

119

Abb. 6

Neue urbane Wohnformen Urbane Quartiere erweisen sich vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen und demografischen Wandels als ein komplexer sozialer Kosmos mit außerordentlich differenzierten, zum Teil auch auseinanderstrebenden und schwer kompatiblen sozialen Milieus und Wohnwünschen. Die überkommenen Angebote der Wohnungsmärkte entsprechen dieser Vielfalt längst nicht mehr. In typologischer Hinsicht experimentieren Städte und Wohnungswirtschaft mit einer Vielzahl teilweise wiederentdeckter, zum Teil weiterentwickelter, aber auch neuer verdichteter urbaner Gebäudetypen.34 Die Bandbreite hierbei ist groß und reicht

32 Siebel 2006, S. 54 33 Newman 1972; Newman 1996 34 Harlander et al. 2007

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Kapitel 4 — Handlungsfelder

Abb. 7 Abb. 7 Einfamilienhausgebiet in der seit 1998 unter kontinuierlichen Bevölkerungsverlusten leidenden Stadt Beverungen (D)

35 Krämer/Kuhn 2009 36 Wüstenrot Stiftung 2012, S. 295 37 ebd., S. 293

Weitere Informationen • Buschkowsky, Heinz: Neukölln ist überall. Berlin 2012 • Feldtkeller, Andreas: Zur Alltagstauglichkeit unserer Städte. Wechselwirkungen zwischen Städtebau und täglichem Handeln. Berlin/ Tübingen 2012 • Hatzfeld, Ulrich; Pesch, Franz (Hrsg.): Stadt und Bürger. Darmstadt 2006 • Hergott, Barbara S. et al. (Hrsg.): Altengerechtes Wohnen. Handbuch und Planungshilfe. Berlin 2012 • Hopfner, Karin; Simon-Philipp, Christina; Wolf, Claus (Hrsg.): größer höher dichter. Wohnen in Siedlungen der 1960er und 1970er Jahre in der Region Stuttgart. Stuttgart/Zürich 2012 • Kuhn, Gerd; Harlander, Tilman (Hrsg.), Baugemeinschaften im Südwesten Deutschlands. Stuttgart 2010 • Münch, Sybille: Integration durch Wohnungspolitik? Zum Umgang mit ethnischer Segregation im europäischen Vergleich. Wiesbaden 2010 • Städtebau-Institut: Stadtquartiere für Jung und Alt. Europäische Fallstudien. Werkstatt: Praxis, Heft 63. Hrsg. von Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und dem Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung. Bonn 2009

von einfachen Remakes historischer Vorbilder über gestapelte Maisonette-Wohnungen und andere »Haus in Haus-Lösungen« bis hin zu neuen Turm- und Wohnhochhäusern wie z. B. dem Marco Polo Tower in Hamburg (Abb. 6, S. 119). Die Suche nach der idealen städtischen Wohnform in Block, Zeile, Stadthaus, Stadtvilla, Townhouse, Loft oder Wohnhochhaus ist, wenn sie verabsolutiert wird, ein Irrweg – städtisches Bauen ist Bauen in typologischer Vielfalt. Grundlegende Qualitätsmerkmale eines attraktiven Stadtwohnens sind neben der Lage flexible, nutzungsneutrale Grundrisse, eine möglichst hochwertige Ausstattung und vor allem großzügige, geschützte private Freibereiche. Typologische Vielfalt entsteht nicht im großmaßstäblichen Investorenstädtebau, sondern konvergiert am besten mit einer Mischung unterschiedlicher Bauträgertypen. Vor allem in den Großstädten, aber auch in zahlreichen Mittel- und Kleinstädten ist der Einsatz neuer Bauträgerformen wie Baugemeinschaften und neuer Baugenossenschaften (etwa die Bauund Wohngenossenschaft »WohnSinn« in Darmstadt-Kranichstein) fast schon selbstverständlich.35

Einfamilienhausgebiete Als zunehmend gefährdete Räume können die gelegentlich als »vergessene Räume der Stadtentwicklung« apostrophierten Einfamilienhausgebiete der 1950er- bis 1970er-Jahre angesehen werden.36 Mit dem demografisch bedingten drastischen Rückgang der Nachfrage für diesen Gebäudetypus und den parallelen qualitativen Veränderungen des Bedarfs durch die Pluralisierung der Lebensstile und den Bedeutungsverlust

traditioneller Familienmodelle hat ein Attraktivitätsverlust der Wohnform des frei stehenden Einfamilienhauses eingesetzt, der vor allem an peripheren Standorten und in Schrumpfungsregionen zu gravierendem Wertverfall und Leerständen zu führen droht (Abb. 7). Damit konstituiert sich zugleich die Bestandsentwicklung dieser Gebiete als ein zunehmend wichtiges, aber aufgrund der typischen kleinteiligen Eigentümerstrukturen auch besonders schwieriges kommunales Handlungsfeld. Die grundlegenden Herausforderungen liegen dabei auf der Ebene der baulichen und energetischen Verbesserung der Gebäudesubstanz, der Verbesserung der Infrastrukturversorgung, der Nachverdichtung und Nutzungsdiversifizierung und generell der städtebaulichen und altersgerechten Aufwertung und Attraktivitätssteigerung der Gebiete für neue Nutzergruppen. Die Problemlagen sind in den verschiedenen Teilräumen außerordentlich heterogen, insofern werden für gefährdete Gebiete in den Handlungsempfehlungen eines aktuellen Forschungsprojekts der Wüstenrot Stiftung aus dem Jahr 2012 (»Die Zukunft von Einfamilienhausgebieten aus den 1950er- bis 1970er-Jahren. Handlungsempfehlungen für eine nachhaltige Nutzung«) auch sehr unterschiedliche Strategien vorgestellt. Dabei dienen Stabilisierungsstrategien vorwiegend der Beseitigung kleinerer Mängel und Missstände unter Beibehaltung des Gebietscharakters. Qualifizierungsstrategien beinhalten hingegen gezielte Aufwertungsmaßnahmen, um bei ungünstigen Rahmenbedingungen oder unattraktiven Gebietseigenschaften so gegenzusteuern, dass der Eintritt in eine gefährliche Abwärtsspirale aus Leerständen, Wegzug und weiterem Attraktivitätsverlust vermieden werden kann. Und schließlich sind radikalere Umstrukturierungsstrategien denkbar, die vom Abriss einzelner Gebäude über Änderungen der Nutzungsart bis hin zum flächenhaften Rückbau reichen können.37

4.3 — Mensch und Soziokultur

121

4 .3. 2

Lebensstile und Verhaltensweisen Ma r i o Schneider

R

äumlich-infrastrukturelle Maßnahmen greifen häufig zu kurz, wenn es um die Veränderung von Lebensstilen und Verhaltensweisen geht. Diese folgen komplexen Mustern, sind über längere Zeiträume eingeübt, verlaufen unbewusst und haben sich emotional tief eingeprägt. Eine erfolgreiche Einflussnahme, um diese »Automatismen« aufzulösen, kann sowohl mithilfe struktur- als auch personenfokussierter Maßnahmen wie Kampagnen gelingen. Im Gegensatz zu strukturfokussierten städtebaulichen bzw. architektonischen Maßnahmen, bei denen es darum geht, durch die Umgestaltung der äußeren physischen Rahmenbedingungen Verhaltensänderungen zu bewirken,1 sollen auf Personen fokussierte Maßnahmen eine intrinsische und freiwillige Verhaltensänderung erreichen. Ziel ist, dass ein Individuum seine Haltung nicht nur aufgrund kurzfristiger Vorteile verändert, sondern aufgrund von Einsicht und Verständnis. Konkret heißt das in Bezug auf einen nachhaltigen Lebensstil, dass der Mensch sich der ökologischen Krise und seiner eigenen Verantwortung bewusst ist, da die Krise nur begrenzt technologisch, wirtschaftlich und politisch zu bewältigen ist. Dies setzt aktuelles Wissen über den Zustand der Umwelt und ökologischen Zusammenhänge voraus sowie die Bereitschaft, das persönliche Handeln entsprechend zu gestalten und die Umweltprobleme als Bedrohung anzuerkennen.2 Um dauerhafte Verhaltensänderungen zu bewirken, sind beide Maßnahmen erforderlich, struktur- und personenfokussierte. Erstere sind Angebote und Anreize, neue Verhaltensweisen anzunehmen, letztere sollen bewirken, dass Individuen alte Verbrauchsmuster zugunsten neuer aufgeben. Den physischen Strukturen und räum-

lichen Rahmenbedingungen kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Denn gerade die gebaute Infrastruktur (Gebäude, Straßen, Großkraftwerke etc.) bleibt über Jahre in Betrieb und verändert sich nur langsam (Abb. 1, S. 122).3 Die heutige Gestalt der Städte mit ihren ressourcenund CO2-intensiven Wirtschaftsstrukturen wird sich noch für lange Zeit auf die Lebensstile und die Energieverbrauchsmuster der Bevölkerung auswirken.

Möglichkeiten der Einflussnahme In der räumlichen Planung gibt es bereits Instrumente, die dabei helfen sollen, unterschiedliche Eingriffsarten und mögliche Auswirkungen zu berücksichtigen. Die »Planungsquadriga« z. B. bietet vier Möglichkeiten (Abb. 3, S. 123): Ausweisen von Standorten, Errichten von Anlagen, Ausrichten von Einrichtungen sowie Steuern von Verhaltensweisen.4 Die Punkte »Standorte ausweisen« und »Anlagen errichten« beziehen sich auf Sachgebilde, z. B. Gebäude oder andere bauliche Infrastrukturen. Bei diesen können die Eingriffe in materieller Form erfolgen, indem neue Strukturen geschaffen oder vorhandene verbessert werden. Die Punkte »Ausrichten von Einrichtungen« sowie »Steuern von Verhaltensweisen« dagegen sind keine räumlichen Kategorien sondern Sozialgebilde. Dabei handelt es sich um nichträumliche Strukturen wie die Organisation von Einrichtungen oder um individuelle Verhaltensweisen, bei denen Eingriffe oft auf nicht-materielle Weise erfolgen wie etwa durch den Erlass von Gesetzen oder die Einführung von Steuern. Eingriffe in Sachgebilde können Auswirkungen

1 Kaufmann-Hayoz et al. 2010, S. 698 2 Scheuthle et al. 2010, S. 643 3 Wackernagel /Beyers 2010, S. 117 4 Jung 2008, S. 78

122

Kapitel 4 — Handlungsfelder

minimal

maximal

Solarkraftwerk Straße Brücke Kohlekraftwerk kommerzielles Gebäude Windkraftwerk Eisenbahnstrecke, Haus, Damm 2000

2020

2040

2060

2080

2100

2120

Abb. 1

Abb. 1 Lebensdauer verschiedener Infrastrukturen Abb. 2 Beeinflussung der Handlungsmöglichkeiten durch unterschiedliche Angebote und stadträumliche Gestaltungen am Beispiel der Verkehrsmittelwahl Abb. 3 PlanungsinstrumentQuadriga und die Möglichkeiten, in die Planung einzugreifen

5 Kaufmann-Hayoz et al. 2010, S. 698 6 Visschers et al. 2009, S. 17 7 Kaufmann-Hayoz et al. 2010, S. 698 8 BBR 2005, S. 27; INFAS /DLR 2010, S. 122

auf die Sozialgebilde haben, und umgekehrt kann sich eine Veränderung der Sozialgebilde auf die Sachgebilde auswirken. Verbessert der Neubau einer Straße die Erreichbarkeit eines Orts, ändert sich das Pendlerverhalten, es werden z. B. längere Wege in Kauf genommen und der motorisierte Individualverkehr (MIV) nimmt zu. Die Antizipation zu erwartender Verhaltensweisen in der Planung ist ein sehr wichtiger Aspekt, wobei die gesellschaftlichen und materiellen Strukturen dazu dienen können, das Verhalten von Personen zu verändern.5

Veränderung von Verhaltensweisen Die meisten Menschen in den Industrienationen sind sich der negativen Auswirkungen ihres Verhaltens auf die Umwelt bewusst, ändern es aber dennoch nicht. Dies liegt mitunter daran, dass Umweltschutz und umweltgerechtes Verhalten oft mit Verzicht assoziiert werden. Nur die wenigsten Menschen sind bereit, ihren erreichten Lebensstil durch Verzicht auf umweltschädliche Produkte und Dienstleistungen ihrem Bewusstsein und Kenntnisstand anzupassen.6 Sie nehmen jedoch gerne technische Lösungen an, die keine oder nur sehr geringe Umstellungen ihrer Verhaltensweisen erfordern. Hierzu gehören Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz wie das Dämmen von Häusern oder der Erwerb eines sparsameren Hybridfahrzeugs. Technische Lösungen sind aber erst dann effektiv, wenn sich auch die für den Ressourcenverbrauch grundlegenden Verhaltensweisen verändern, sodass kein Rebound-Effekt eintritt. Interventionen müssen deshalb auch auf Veränderung der Gewohnheiten abzielen.

Strukturfokussierte Interventionen Äußere Strukturen können das Verhalten von Menschen beeinflussen, ein gewünschtes Verhalten unterstützen oder ein unerwünschtes erschweren. Materielle und gesellschaftliche Strukturen stehen in Wechselwirkung zu der Bildung von Intentionen und der Umsetzung von umweltrelevanten Verhaltensweisen. So beeinflussen auf der einen Seite soziokulturelle Faktoren (Lebensstil und soziale Normen) sowie sozioökonomische Aspekte (Marktverhältnisse und Preisrelationen) das Verhalten. Andererseits haben aber auch institutionelle sowie technisch-infrastrukturelle Faktoren einen erheblichen Einfluss.7 Die siedlungs- und infrastrukturellen Rahmenbedingungen wirken sich z. B. erheblich auf die individuelle Verkehrsmittelwahl aus. Dies hängt ab von der Nutzungsmischung innerhalb einer Siedlung, der Verfügbarkeit eines Autos und von Parkplätzen, der Erschließungsqualität durch ÖPNV oder auch von der Gestaltung des Straßenraums.8 Durch die Verknappung von Parkflächen und attraktive Alternativen zum Pkw ist eine Veränderung im Mobilitätsverhalten zu erreichen. Auch die räumliche Kombination verschiedener Nutzungen wie Arbeiten und Kinderbetreuung kann zur Reduzierung von Wegen und somit zu einem reduzierten Verkehrsaufkommen führen (Abb. 2). Die Auswirkung der siedlungs- und infrastrukturellen Rahmenbedingungen auf das Verhalten lässt sich auch bei der Wahl des Wohnorts aufzeigen: Teurer Wohnraum sowie hohe Immissionen in den Städten und der oft gleichzeitige Wunsch, im Grünen zu wohnen, führen dazu, dass Menschen an die Stadtränder ziehen. Die Entscheidung erfährt eine zusätzliche Begünstigung durch die Subventionen der Pendlerpauschale. Es wird schwer sein, das Mobilitätsverhalten zu

4.3 — Mensch und Soziokultur

planerische Einflussmöglichkeiten

123

politische/kommunale Einflussmöglichkeiten

Nutzungsmischung (Distanz zwischen Wohnen, Arbeiten, soziale Einrichtungen und Nahversorgung)

finanzielle Anreize (Pendlerpauschale, City-Maut, Fahrpreisermäßigungen etc.)

Gestaltung Straßenraum (Verkehrswege, Grünzüge etc.)

ÖPNV-Angebote (Anzahl Haltestellen, Taktung, Anzahl Linien etc.) Parkplatzangebot (Verfügbarkeit, Preis, Lage etc.)

Abb. 2

verändern, solange Autofahren »belohnt« oder unterstützt wird und kein (bezahlbarer) Wohnraum und keine hohe Umweltqualität in den Städten vorhanden ist. Stattdessen könnte man die Subventionierung des MIV auf ökologische Alternativen umlenken, z. B. auf bezahlbaren Wohnraum in der Nähe von Arbeitsplätzen oder auf einen schnellen, günstigen und komfortablen ÖPV. Warum sich eine Person in einer bestimmten Situation nicht umweltfreundlich verhält, liegt aber nicht nur an infrastrukturellen, ökonomischen, rechtlichen oder gesellschaftlichen Strukturen, sondern auch an den Bedürfnissen und Einstellungen des Individuums. Aufgrund persönlicher Präferenzen werden Handlungsoptionen nicht wahrgenommen, obwohl sie durchaus möglich und sinnvoll wären. Das geschieht besonders bei gewohnheitsmäßigem Verhalten. Dieses wird nicht mehr bewusst hinterfragt und schränkt somit den Möglichkeits- bzw. Handlungsraum einer Person ein.9 Ihr Möglichkeitsraum erweitert sich erst dann wieder, wenn sich Routinen abschwächen. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn sich die äußeren Umstände der Person verändern, wie etwa durch einen Berufs- oder Wohnortwechsel, durch Veränderung der Familienstruktur oder Brüche der Lebensgewohnheiten – vielleicht auch durch traumatische Erfahrungen wie etwa dramatische Unfälle in Kernkraftwerken. Diese Veränderungen öffnen Gelegenheitsfenster, in denen neue Verhaltensalternativen erprobt werden können.10 Durch die Umgestaltung der Umwelt oder die Einführung neuer Produkte kann es ebenfalls zur Wahrnehmung neuer Handlungsmöglichkeiten kommen und somit zu einer Erweiterung oder Verminderung individueller Handlungskompetenzen. Dies begünstigt umweltfreundliche Handlungsalternativen systematisch.11 Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch das

britische Umweltministerium Department for Environment, Food and Rural Affaires (Defra) in seiner Studie »A framework for pro-environmental behaviours«.12 Darin wurden innerhalb der britischen Gesellschaft sieben unterschiedliche Konsumententypen ausgemacht. Jede dieser Bevölkerungsgruppen hat ganz verschiedene Einstellungen zur Umwelt. Das Defra kam zu dem Ergebnis, dass man die Bevölkerung generell nicht dazu zwingen könne, ihren Lebensstil radikal zu ändern. Stattdessen sollte man sich auf Maßnahmen konzentrieren, die einen Wandel der Verhaltensweisen der unterschiedlichen Konsumententypen unterstützen.13 Dies kann neben vielen anderen Maßnahmen über die Schaffung von Möglichkeitsräumen für umweltfreundliches Verhalten sowie über die Erschwerung umweltschädlichen Verhaltens geschehen. Preissteigerungen bei umweltschädlichen Produkten sind beispielsweise eine einfache Möglichkeit, um umweltschädliches Verhalten zu erschweren. Die Effektivität solcher Maßnahmen ist aber meist nur dann hoch, wenn gleichzeitig umweltfreundliche Alternativen angeboten werden. So führt eine Erhöhung der Kraftstoffpreise und Abschaffung der Pendlerpauschale nicht zwangsläufig zu einem veränderten Mobilitätsverhalten, wenn nicht entsprechende sowie ausreichend Mobilitätsalternativen zur Verfügung stehen.

Personenfokussierte Interventionen Ob Menschen Möglichkeitsräume für umweltfreundliches Verhalten nutzen, hängt auch von ihrem Überzeugungssystem ab, also von individuellen Werten und Einstellungen. Diese bestimmen, wie die Umwelt wahrgenommen und bewertet wird. So kann das Fahrrad für eine

9 Visschers et al. 2009, S. 47 10 Kaufmann-Hayoz et al. 2010; Visschers et al. 2009, S. 13 11 Kaufmann-Hayoz et al. 1996, S. 88 12 Defra 2007 13 ebd., S. 47

Sozialgebilde: Förderung / Verhinderung von Tätigkeiten Verhaltensweisen steuern (Bahnung und Lenkung)

Einrichtungen ausrichten (Gründung und Gestaltung)

Sachgebilde: Ausbau von Stätten Anlagen errichten (Bau und Instandhaltung)

Standorte ausweisen (Eignung und Nutzung) Abb. 3

124

Kapitel 4 — Handlungsfelder

1 Oberschicht / obere Mittelschicht

2 mittlere Mittelschicht

3 untere Mittelschicht / Unterschicht

Sinus C1 Sinus B1 Performer Liberal-Intellektuelle Sinus AB12 (aufgeklärte Bildungs- (multioptionale, Sinus C12 Konservativeffizienzorientierte elite) 7% Expeditive Etablierte Sinus B12 Leistungselite) 7% (unkonventio(das klassische Sozialökologische (idealisnelle, kreative Establishment) Sinus C2 tisches, konsumkritisches / Avantgarde) 10 % Adaptivebewusstes Milieu) 6% Pragmatische (zielSinus B23 7% strebige junge Mitte bürgerliche Mitte mit LebenspragmaSinus AB23 (leistungs- und tismus und NutzenTraditionelle anpassungsbereiter kalkül) 9 % Sinus BC23 (sicherheits- und bürgerlicher Mainstream) ordnungsliebende Kriegs- / Hedonisten 14% Nachkriegsgeneration) (spaß-/erlebnisorientierte Sinus B3 15 % moderne Unterschicht / Prekäre (um Orientierung untere Mittelschicht) und Teilhabe bemühte Unter15 % schicht mit Zukunftsängsten / Ressentiments) 9%

soziale Lage Grundorientierung

A Tradition

B Modernisierung / Individualisierung

C Neuorientierung

Abb. 4

14 Bamberger/Kühnel 1998, S. 15 15 Scheuthle /Frick /Kaiser 2010, S. 655 16 Stern 2000, S. 421 17 Scheuthle /Frick /Kaiser 2010, S. 648; Visschers et al. 2009, S. 7 18 Scheuthle /Frick /Kaiser 2010 19 BMU/BDI 2010, S. 6 20 Visschers et al. 2009, S. 10 21 Scheuthle /Frick /Kaiser 2010, S. 647

Sinus-Milieus Die Sinus-Milieus verbinden demografische Eigenschaften wie Bildung, Beruf oder Einkommen mit den realen Lebenswelten der Menschen, d. h. mit ihrer Alltagswelt, ihren Lebensauffassungen und Lebensweisen: Welche grundlegenden Werte sind von Bedeutung, wie sehen die Einstellungen zu Arbeit, Familie, Freizeit, Ökologie, Geld oder Konsum aus? Dadurch wird der Mensch innerhalb seines Bezugssystems ganzheitlich wahrgenommen. Die Sinus-Milieus sind als wissenschaftlich fundiertes Modell etabliert und werden kontinuierlich durch Begleitforschung und Beobachtung soziokultureller Trends aktuell gehalten. Auf ihrer Basis arbeiten führende Markenartikelhersteller und namhafte Dienstleister aller Branchen, viele öffentliche Auftraggeber aus Politik, Medien und Verbänden sowie Werbe- und Mediaagenturen in der strategischen Planung wie in der operativen Umsetzung – national wie international. SinusMilieus werden für jedes Land einzeln entwickelt und validiert, sie liegen aktuell für 18 Nationen vor. Die Einteilung der Gesellschaft in »Gleichgesinnte«, die in den Sinus-Milieus abgebildet werden, hat sich bewährt, sie sind heute Bestandteil der wichtigsten Markt-Media-Studien.

Person mit hohem Umweltbewusstsein auch für einen mehrere Kilometer langen Arbeitsweg eine Option sein, während eine Person mit niedrigem Umweltbewusstsein diese Möglichkeit schon im Vorfeld ausschließt.14 Die ideologischen Überzeugungen sind sozusagen die »Brillen«, durch die Menschen bestimmte Gelegenheitsstrukturen wahrnehmen. Personenzentrierte Maßnahmen zeichnen sich primär durch Freiwilligkeit der Verhaltensänderung aus. Diese setzt Systemwissen voraus, um die Zusammenhänge und Prozesse von Umweltproblemen zu erkennen.15 Dieses Wissen allein, das beispielsweise bereits in der Schule vermittelt werden könnte, führt aber nicht zu einer Verhaltensänderung, wenn die jeweiligen Personen nicht auch über das entsprechende Handlungswissen verfügen, wie sie negative Konsequenzen für Mensch und Umwelt vermeiden können.16 Zusätzlich kann Wissen um die konkrete Wirksamkeit des eigenen Handelns gewisse Verhaltensweisen fördern. Denn Personen, die davon überzeugt sind, dass sich ihr Verhalten positiv auf die Umwelt auswirken kann, verhalten sich allgemein umweltfreundlicher.17 Gängige Interventionswerkzeuge, um das Verhalten von Personen zu ändern, sind Argumente, Vorbilder, unmittelbare und verhaltensspezifische Hinweise sowie Erinnerungshilfen, Selbstverpflichtung, »Foot-in-the-door«-Technik und externe Anreize oder Sanktionen.18 So könnten z. B. Handy-Apps wie Produktvergleiche via QRCode dabei helfen, die Konsequenzen individuellen Verhaltens aufzuzeigen, indem sie die Umweltverträglichkeit unterschiedlicher Produktesichtbar machen und damit eine neue Entscheidungsgrundlage für das Kaufverhalten abbilden. Eine ähnliche Herangehensweise empfehlen das Bundesministerium für Umwelt (BMU) und der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI): Sie favorisieren ein Siegel, das die Umweltbelas-

tung von Produkten bewertet (und zwar von der Rohstoffgewinnung über die Produktion zur Distribution bis zum Einkauf und der Entsorgung) und so den ressourcenschonenden Konsum vereinfacht. Durch einen solchen »Product Footprint«, könnten die Konsumenten die Klima- und Umweltverträglichkeit eines Produkts direkt erkennen und entsprechend handeln.19 Die Wahl der Maßnahmen hängt auch stark von der zu beeinflussenden Zielgruppe ab. Allgemein sollten Anreizsysteme und Sanktionen mit Bedacht eingesetzt werden. Zwar können Letztere dabei helfen, das Auftreten bestimmter Verhaltensweisen zu verringern, ebenso kann es aber auch zu einer Reaktanz der Betroffenen kommen. In diesem Fall würden sich die von Sanktionen betroffenen Personen bewusst gegenteilig verhalten. Beispiele gab es in der Geschichte oft, wie etwa bei der Alkoholprohibition in den USA oder dem relativen Misserfolg der Anti-Raucher-Kampagnen. Umgekehrt können auch Anreize für umweltfreundlicheres Verhalten die persönliche Motivation untergraben, indem sich die Betroffenen nur dann umweltfreundlich verhalten, wenn sie im Gegenzug dafür eine Belohnung erhalten.20 Anstatt spezifisches Verhalten lediglich zu belohnen oder zu bestrafen, muss daher parallel das Umweltbewusstsein der Menschen gefördert werden. Es ist davon auszugehen, dass Menschen dann auf ihre Überzeugungen zurückgreifen, wenn sich ihnen eine neuartige Situation stellt oder das übliche Vorgehen nicht zum gewünschten Ziel führt. Dies ist z. B. der Fall, wenn sich durch politische oder wirtschaftliche Entscheidungen jene äußeren Strukturen verändern, die bestimmte Verhaltensweisen erleichtern oder unerwartet verhindern.21 Um das Problembewusstsein zu fördern, sind zielgruppenspezifische Kampagnen und Argumente erforderlich. Diese sind dann besonders effektiv, wenn die Rezipienten den Willen haben,

4.3 — Mensch und Soziokultur

1 Oberschicht / obere Mittelschicht

Liberal-Intellektuelle 68 % Konservativ-Etablierte 55 %

Expeditive 64 % AdaptivePragmatische 42 %

Traditionelle 40 %

bürgerliche Mitte 43 % Hedonisten 59 %

3 untere Mittelschicht / Unterschicht

soziale Lage Grund-

Performer 51%

Sozialökologische 62 %

2 mittlere Mittelschicht

125

Prekäre 51%

A Tradition

B Modernisierung / Individualisierung

C Neuorientierung

orientierung Abb. 5

die Botschaft aufzunehmen und zu verarbeiten. Ohne diese Bereitschaft wird sich kaum eine Verhaltensänderung einstellen.22 Je spezifischer und personenbezogener Interventionen geplant werden, desto wahrscheinlicher ist ihr Erfolg. Denn Umweltbewusstsein und Umweltverhalten variieren von Person zu Person. Die jeweilige Ausprägung von Bewusstsein und Verhalten hängt dabei unter anderem von der Verfügbarkeit materieller und zeitlicher Ressourcen, der aktuellen Lebensphase, der geografischen Lage (Urbanisierungsgrad, Einkaufsmöglichkeiten) und Werteinstellung ab.23 In der Stadt- bzw. Quartiersplanung ist es allerdings kaum möglich, auf jede einzelne Person abgestimmte spezifische Maßnahmen zu ergreifen, gruppenspezifische Maßnahmen scheinen hier erfolgversprechender. Bei der Planung von gruppenspezifischen Interventionen kann beispielsweise auf bestehende Forschung zu Konsumententypen (z. B. Defra 2007) oder Milieus (z. B. Sinus-Milieus, Abb. 4) zurückgegriffen werden. So liefert die Milieu-Forschung nützliche Einsichten, wie aufgeschlossen bzw. ablehnend bestimmte Bevölkerungsgruppen einzelnen Maßnahmen gegenüberstehen. Mit der genauen Erfassung der Zielgruppe lassen sich die entsprechenden Maßnahmen zur Verhaltensänderung ergreifen. Eine Studie des BMU von 2010 zu Umweltbewusstsein und Umweltverhalten in Deutschland liefert hierzu interessante Erkenntnisse: So stehen z. B. besonders Menschen mit höherem Bildungsstand dem Ausleihen von Gebrauchsgegenständen (wie Werkzeug oder Gartengeräte) sehr offen gegenüber (Abb. 5). Zusammen mit der großen Akzeptanz von Carsharing-Angeboten in diesen umweltbewussten Milieus bietet sich hier die Gelegenheit der Einflussnahme durch strukturals auch personenfokussierte Maßnahmen. Die Umsetzung des Prinzips »Teilen statt besitzen« könnte dabei zur Einsparung von Energie und Ressourcen führen. Gleichzeitig würden die

Mitglieder dieser Gruppen eine Vorbildfunktion übernehmen und so Verhaltensänderungen in anderen Milieus anregen.24 Um den Problemen des Klimawandels, des hohen Ressourcenverbrauchs und der Umweltverschmutzung und -zerstörung entgegenzuwirken, ist ein Eingreifen auf mehreren Ebenen notwendig. Das bedeutet, dass sich mögliche Maßnahmen sowohl auf Sachgebilde als auch auf Sozialgebilde beziehen müssen. Es geht also nicht nur um technologische Lösungen wie die Steigerung der Energieeffizienz, sondern es müssen auch die den Problemen zugrunde liegenden Verhaltensmuster überwunden werden. Das verlangt unterschiedliche Maßnahmen, die u. a. die äußeren Situationen und Strukturen dergestalt verändern, dass sich neue Handlungsräume für umweltfreundliches Verhalten bilden. Gleichzeitig muss die Wertvorstellung der Menschen so geprägt sein, dass sie diese Möglichkeitsräume erkennen und nutzen. Denn das Überzeugungssystem und damit individuelle Werte und Einstellungen bestimmen, wie die Umwelt wahrgenommen und bewertet wird.25 Es geht dabei auch um den Aufbau alternativer Vorbilder für den Lebensalltag, mit denen gängige, durch die Werbung angeheizte Konsummuster neutralisiert werden können. Hohes Umweltbewusstsein führt jedoch nicht unbedingt zu einem besseren Umweltverhalten, wenn nicht auch die strukturellen Rahmenbedingungen so angepasst sind, dass entsprechende Möglichkeitsräume für umweltfreundliches Verhalten geöffnet werden.26 Um Verhaltensweisen erfolgreich zu beeinflussen, bedarf es ganzer Bündel aus verschiedenen Maßnahmen und Eingriffsarten, zu denen auch die Gegenoffensive zu Konsum anheizenden Werbestrategien zählt, wie etwa Pkw-Werbung mit glitzernden Neuwagen auf leeren Straßen in unberührten Landschaften.27

Abb. 4 Milieu-Konzept des Sinus-Instituts Abb. 5 Attraktivität des Ausleihens von Gebrauchsgegenständen im Milieuvergleich (Bevölkerungsdurchschnitt 51 %)

Weitere Informationen • Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – BMU (Hrsg.): Umweltbewusstsein in Deutschland 2010. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage. Dessau-Roßlau 2011 • Department of Environment, Food and Rural Affairs – Defra (Hrsg.): A Framework for ProEnvironmental Behaviours. Report. London 2007 • Linneweber, Volker; Lantermann, Ernst-Dieter; Kals, Elisabeth (Hrsg.): Spezifische Umwelten und umweltbezogenes Handeln. Göttingen 2010 • Visschers, Vivianne et al.: Konsumverhalten und Förderung des umweltverträglichen Konsums. Bericht im Auftrag des Bundesamtes für Umwelt BAFU. Zürich 2010

22 Visschers et al. 2009, S. 10 23 BMU 2010, S. 13 24 Defra 2007, S. 11, 48 25 Bamberger/Kühnel 1998, S. 9 26 Preisendörfer 1999, S. 78 27 Stern 2000, S. 419

K A P ITE L 4

Handlungsfelder

4.4

Ökologie

4.4 — Ökologie

127

4.4.1

Freiräume und Stadtklima Ste p han Anders, Gerhard Hauber, Walt raud Pus tal

D

ie Gestalt einer Stadt definiert sich wesentlich durch ihre räumlichen Strukturen, die sich aus den landschaftlichmorphologischen Bedingungen sowie den Bau- und Infrastrukturen ergeben. Die Vernetzung und Gestaltung multifunktionaler grüner Freiräume spielt dabei eine entscheidende Rolle. In Zukunft wird es notwendig sein, Freiräume noch viel konsequenter zu schützen und als lebensnotwendige Elemente urbanen Lebens zu entwickeln und zu erweitern – und sie nicht nur wie bisher häufig auf »Restflächen« zwischen der Bebauung zu reduzieren. Denn den Freiflächen kommt eine entscheidende Funktion bei den Strategien zur Klimaanpassung unserer Städte zu (gegen Starkregen, Überhitzung etc.), sie sind essenziell für die Artenvielfalt und deren Weiterentwicklung im urbanen Umfeld. Als attraktive Frei- und Bewegungsräume für alle Generationen müssen weitere Freiflächen geschaffen bzw. die bestehenden ausgebaut werden.

Maßstabsebene Region Regionalplanung der Zukunft Die Regionalplanung ist das zwischen übergeordneter Landesebene und kommunaler Ebene vermittelnde Planungsinstrument. Ihre Aufgabe ist es – oft in langwierigen Prozessen, Verhandlungen und Abstimmungen –, auf der Basis von hochspezialisierten Gutachten die Grundlagen der räumlichen Entwicklung eines Gebiets als

Wirtschaftsraum, Erholungslandschaft und Naturraum für die nächsten Jahre bzw. Jahrzehnte festzulegen. Grundlegende Anforderung ist dabei immer die Abschätzung der Folgen der menschlichen Eingriffe in die natürlichen Gegebenheiten und die Abwägung dieser Auswirkungen gegen die städtebaulichen Nutzungsanforderungen. Dabei war bisher der Wert von Arten und Biotopen von eher allgemeinerer gesellschaftlicher Bedeutung und nur schwer präzise zu formulieren. Der 2011 von der britischen Regierung vorgelegte Bericht »National Ecosystem Assessment« (NEA) zeigt nun eine neue Herangehensweise auf.1 Im NEA wird versucht, Ökosysteme und deren Entwicklungsprozesse in monetäre Werte zu übersetzen. Nur so lässt sich eine Vergleichbarkeit von Bewirtschaftungsszenarien herstellen. Die Ergebnisse sind eindeutig: So zeigt eine vergleichende Studie, dass eine konventionell betriebene, im Wesentlichen auf das Einkommen der Bauern bezogene Landwirtschaft gegenüber einer nachhaltigen, auch den Biotop- und Artenschutz berücksichtigenden Bewirtschaftung gesamtwirtschaftlich betrachtet gravierende Unterschiede aufweist. Die erste Variante kostet langfristig sehr viel mehr Geld, als sie einbringt und hinterlässt zudem eine geschädigte Umwelt. Dagegen sorgt die nachhaltige Bewirtschaftung für eine monetär positive Bilanz und erhält langfristig das bewirtschaftete Gebiet für die Gesellschaft. Als einfaches Beispiel sei hier der reduzierte Eintrag von Dünger, Pestiziden und Sedimenten (Erosion) in Flüsse aufgrund einer naturnahen Bewirtschaftung genannt. Das bedeutet einen geringeren Aufwand und damit verbunden weniger Kosten für die Aufbereitung dieses Wassers zu Trinkwasser.2 Die Regionalplanung der Zukunft wird diese Art der Herangehensweise weiterentwickeln und das Kosten-Nutzen-Verhältnis einzelner Entscheidungen unter diesem veränderten Blickwinkel neu ermitteln müssen. Dabei

1 Watson 2011 2 National Ecosystem Assessment 2011

128

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Abb. 1 begrünte Dachfläche, auf der in mehreren Bienenstöcken auch Honig produziert wird, City Hall, Chicago (USA) Abb. 2 Vernetzung der Grünräume durch die Renaturierung eines Kanals, Seoul (ROK) Abb. 3 empfohlene Grünund Freiflächen je Einwohner Abb. 4 Trockenmauer, Trochtelfingen (D) Abb. 5 Integration von städtischer Grünraumplanung und Urban Farming, Essbare Gärten, Andernach (D)

3 4 5 6

Werner 2009 nach Blair 2001 Werner 2009 Klausnitzer 1998

Abb. 1

Abb. 2

sollte der Arten- und Biotopschutz als gesellschaftliche Notwendigkeit höchste Priorität genießen.

der Praxis hat es sich bewährt, einige Leitarten aus Flora und Fauna zu definieren und konkret die zu deren Schutz und Entfaltung erforderlichen Biotopräume und Vernetzungssysteme zu schaffen. Wichtig ist es dabei, nicht nur perfekte und groß angelegte Szenarien zu entwickeln und zu verfolgen, sondern auch mit einer Vielzahl kleinerer Maßnahmen die bestehenden Potenziale vorhandener Strukturen auszubauen und zu festigen. So können z. B. Siedlungen mit einem hohen Grünanteil unter Gesichtspunkten des Artenschutzes optimiert oder die Pflegemaßnahmen für das Straßenbegleitgrün auf die Bedürfnisse der dortigen Flora und Fauna abgestimmt werden. Es gibt unzählige Möglichkeiten auf allen Maßstabsebenen, wichtig ist es zunächst, den Artenschutz als grundlegendes Thema im Bewusstsein und in der täglichen Praxis zu verankern (Abb. 1).

Biotopschutz und Artenvielfalt in urbanen Gebieten Der Artenvielfalt in urbanen Gebieten kommt eine zunehmend wichtigere Rolle beim Erhalt der gesamten Artenvielfalt zu. In Europa findet man in der Regel mehr als 50 % aller Arten einer biogeografischen Region in den dortigen Städten.3 Überleben ist dort für viele Arten, vor allem für die »urban adapters« und »exploiters«,4 besser möglich als in unserer ausgeräumten (d. h. zur rationelleren Bewirtschaftung von Hecken, Bäumen, Ackerrainen etc. befreiten), intensiv genutzten Agrarlandschaft. Trotzdem scheinen die StadtUmland-Beziehungen ebenfalls ein wichtiger Faktor für die Entwicklung einer nachhaltigen Biodiversität zu sein.5 Ausreichender Austausch, Nachschub- und Rückzugsräume sowie der Anschluss an andere Populationen zur genetischen Auffrischung sind dabei entscheidend. Allerdings ist die Stadt kein einfacher Standort: hochdynamisch, laut, mit vielen Störungen und extremen Emissionen. Es ist erwiesen, dass die starke Veränderung der Lichtverhältnisse in Städten u. a. Gesangsrhythmus, Brutaktivität und Nahrungsaufnahme sowie teilweise auch die Flugaktivität einiger Vogelarten verändert.6 Der Umgang mit toxischen Einflüssen kann Stress für den Organismus bedeuten, der zu Veränderungen in Flora und Fauna führt. Die Forderung nach ausreichend großen, spezifisch strukturierten und vernetzten Flächen für die Entwicklung der Tier- und Pflanzenwelt bekommt deshalb im Kontext des Gesamtkomplexes »Artenschutz in der Stadt« eine neue Wertigkeit (Abb. 2). Will man den Artenschutz wirklich stärken, muss er zum wesentlichen stadtplanerischen Einflussfaktor werden. Angesichts der erwiesenen Bedeutung von Biotopen für die (Wert-)Erhaltung unserer Umwelt, kann es nur noch um die Frage gehen, mit welchen Methoden und Strategien Biotopschutz und Artenvielfalt umgesetzt werden. In

Grünsysteme und ihre Integration Die Vernetzung und Gestaltung von Grünräumen in Städten ist eine wichtige Grundlage für die Akzeptanz des Wohnumfelds und für die Identifikation der Bürger mit ihrem Quartier und damit zentrales Element für Zufriedenheit und Lebensqualität. Grünsysteme umfassen Grünflächen wie Parkanlagen, Spiel- und Sportplätze, Straßenbegrünung, Straßenbäume, Alleen, Kleingärten, Friedhöfe, Gewässer- und Uferzonen, Naturschutzflächen, Stadtwälder, Gehölzinseln, aber auch private Gärten und Parks, Wege- und Treppenanlagen, die z. B. über alte Trockenmauern (Abb. 4) private und öffentliche Grünbereiche verknüpfen. Besonders bedeutende Grünsysteme sind Gewässer, vor allem Fließgewässer. Aus dieser Aufzählung wird deutlich, dass Grünund Freiraumsysteme in ihrer Zusammensetzung ausgesprochen inhomogen sind und sich sehr individuell in jeder Stadt oder Siedlung oft über viele Jahrhunderte entwickelt haben. Legt man die klassischen statistischen Bewertungsmaßstäbe an, um die quantitative Grünund Freiflächenversorgung der Stadtbewohner

4.4 — Ökologie

Bezugsgröße

maximale Entfernung

Größe der Freifläche

129

m2 pro Einwohner

Wohnung

250 m

< 1 ha

4

Quartier

500 m

1,1–10 ha

6

Stadtteil

1000 m

10 – 40 ha

7

Gesamtstadt

5000 m

> 40 ha

8

Abb. 3

zu untersuchen, ergeben sich für Innenstädte oder erweiterte Innenstadtlagen in der Regel vergleichsweise negative Zahlen. Für die Stadt Berlin z. B. heißt das nach den in Abb. 3 aufgeführten Richtwerten, dass annähernd 30 % bzw. etwa eine Million Einwohner nur unzureichend Zugang zu Grün- und Erholungsflächen haben.7 In solch dicht besiedelten Bereichen ohne entsprechende Maßnahmen auf eine Verbesserung zu hoffen, ist realitätsfremd. Das von der Greater London Authority für London entwickelte Freiraumkonzept »All London Green Grid« konzentriert sich deshalb konsequent auf die Qualifizierung bestehender Rest- und Zwischenflächen sowie auf die Zugänglichkeit und Verbindung vorhandener Grünflächen. Dabei wird nicht nur auf die Vernetzung von öffentlichen Parks und Grünflächen gesetzt, sondern auf jede Art von durch Flora und Fauna besiedelbare Räume. Denn nur durchgängige Verbindungen schaffen qualitative Verbesserungen in dicht besiedelten Gebieten. Neuere städtebauliche Entwicklungen versuchen, sich an den genannten oder ähnlichen Richtwerten zu orientieren. Flächennutzungspläne, Grünordnungspläne und die Verpflichtung zu Ausgleichsmaßnahmen haben zu einer nachhaltigeren Entwicklung geführt. Über die Festlegung der Grundflächenzahl (GRZ) im Bebauungsplan beispielsweise wird in der Regel ein Freiflächenanteil von ca. 40 % gesichert, womit zumindest das Potenzial zur Erweiterung des Grünflächenanteils festgeschrieben ist. Ein Grünsystem ist ein sich ständig veränderndes und nie fertiges Konstrukt. Als Grundlage für die weitere Entwicklung eines vorhandenen Systems bieten sich folgende Möglichkeiten an: • konsequenter und radikaler Schutz jeglicher Biotopflächen, -systeme und -strukturen als Grundlage eines stabilen Natursystems (siehe Herausforderung Arten- und Biotopschutz, S. 57f.) • Betrachtung und Einbeziehung aller grüngeprägten Flächen, ob gepflegt oder nicht, öffentlich oder privat • konsequente Vernetzung von Grünflächen

und dadurch Schaffung der Durchgängigkeit für Mensch und Tier und damit auch für Pflanzen • Erarbeitung einer Vision für ein Grünsystem als Grundlage für die weitere städtebauliche Entwicklung (in vielen Städten schon vorhanden) • Motivation der Bewohner zu Mikromaßnahmen wie z. B. die Naturgartenbewegung, Essbare Gärten in Andernach (Abb. 5), Prinzessinnengarten in Berlin, UrbanFarmers in Zürich GH, WP

7 SenStadtUm 2013 8 Reuter/Kapp/Baumüller 2012, S. 192

Stadtklimatisch angepasste Bebauungsstruktur Spätestens seit dem Hitzesommer in Europa 2003 ist der Einfluss des Stadtklimas auf das Wohlbefinden und die Gesundheit der Menschen in das allgemeine Bewusstsein gerückt. In Anbetracht des fortschreitenden Klimawandels und der damit verbundenen Zunahme von extremen Wetterereignissen wird eine stadtklimatisch angepasste Baustruktur vermehrt an Bedeutung gewinnen. Mit Blick auf den planerischen Handlungsbedarf sollten folgende Ziele klimagerechter Planung verfolgt werden: • Verbesserung der Aufenthaltsbedingungen bezüglich Behaglichkeit bzw. Bioklima • Verbesserung der Siedlungsdurchlüftung • Förderung der Frischluftzufuhr durch Ausnutzung lokaler Windsysteme • Verminderung der Freisetzung von Luftschadstoffen und Treibhausgasen • Ermittlung und sachgerechte Bewertung vorhandener oder zu erwartender Belastungen (z. B. zusätzlicher Verkehr, Klimaveränderung) • sachgerechte Reaktion auf Belastungssituationen durch Anpassung von Nutzungskonzepten8

Abb. 4

Welche Maßnahmen im Einzelnen sinnvoll sind und gegenüber anderen Nachhaltigkeitsaspekten wie beispielsweise der flächensparenden Bauweise favorisiert werden sollten, hängt stark von den lokalen Rahmenbedingungen ab. So ist die Abb. 5

130

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Abb. 6

Ab

sta

nd

Abb. 6 Durchlüftung mittels »grüner Finger«, Masdar City, Abu Dhabi (UAE), Masterplan: Foster + Partners Abb. 7 städtebauliche Prinzipien zur Erhaltung der Frischluftschneisen bei einer Hangbebauung Abb. 8 Zusammenhang zwischen städtebaulicher Dichte und Durchlüftung a hohe Dichte an den Rändern der Stadt b abnehmende Dichte zu den Rändern der Stadt hin

Abb. 7

a

Abb. 8

b

9 Reuter/Kapp/Baumüller 2012, S. 192 – 248

Freihaltung von Kaltluftbahnen und ein Verzicht auf Hochhäuser, die die Durchlüftung negativ beeinflussen können, z. B. im Talkessel von Stuttgart weitaus wichtiger als beispielsweise in der Hafenstadt Helsinki, die eher mit zu vielen kalten Luftströmungen zu kämpfen hat. Dabei gilt es jedoch nicht nur Richtung und Menge der Luftströmung zu berücksichtigen, sondern auch deren Eigenschaften (Temperatur, Feuchte, Schadstoffe). Die Struktur des Stadtbauprojekts Masdar City im Emirat Abu Dhabi (Abb. 6) ist beispielsweise dahingehend städtebaulich optimiert, dass die heißen Winde aus der Wüste am Tag nicht in die Stadt gelangen und die kühlenden Winde vom Meer in der Nacht mittels großzügiger »grüner Finger« und durch traditionelle Windtürme in die Stadt hineingelenkt werden. So ergibt sich ein um 45° aus der Nord-Süd-Richtung gedrehtes Raster. Die von Nordost nach Südwest durchgehenden Straßen leiten so die kühle Luft in den Abendstunden durch die Stadt. Gleichzeitig werden aufgrund der zueinander versetzen Straßen von Nordwest nach Südost die heißen Winde aus der Wüste über die Stadt hinweggelenkt bzw. abgeblockt. Außerdem wurde insgesamt bei der Ausrichtung darauf geachtet, dass die öffentlichen Räume maximal verschattet werden. Zum Gesamtverständnis bildet die „Städtebauliche Klimafibel« ein Standardwerk für den Bereich der stadtklimatisch angepassten Bebauungsstruktur.9 Darin werden folgende Empfehlungen für die stadtklimatisch optimierte Planung von Städten und Quartieren formuliert: 1. Erhaltung und Gewinnung von Vegetationsflächen: • Bewahrung von Vegetationsflächen durch Landschafts- und Grünordnungspläne (Verwirklichung der Ziele von Naturschutz und Landschaftspflege) • Vermeidung der Bodenversiegelung (z. B. Verminderung der thermischen Belastung bzw. des Heat-Island-Effekts) • Dachbegrünung • Fassadenbegrünung

2. Sicherung des lokalen Luftaustauschs: • Kaltluftentstehung (grünes Freiland, Gewässer, Wälder) • Frischluftzufuhr (Abb. 7) • Grünzüge (z. B. klimaregulierende Funktion, Abstandshalter) • günstige Siedlungs- und Bebauungsformen (z. B. abnehmende Dichte zu den Rändern, Frischluftschneisen; Abb. 8) 3. Maßnahmen zur Luftreinhaltung (Verringerung der Emissionen): • im Bereich Gewerbe und Industrie z. B. Schutzabstände durch trennende Grünzüge an der windabgewandten Seite der Siedlungen • im Bereich Gebäudeheizung z. B. Verbot von Brennstoffen mit hohen Staubemissionen, Holz • im Bereich Verkehr z. B. Förderung des Umweltverbundes, Verlagerung von Durchgangsverkehr aus Wohngebieten 4. planungsbezogene Stadtklimauntersuchungen (Simulation, Windkanaluntersuchungen, Messungen, Gutachten) Um diese Anforderungen erfüllen zu können, müssen stadtklimatische und lufthygienische Aspekte schon auf der Ebene der Flächennutzungs- und Verkehrsplanung berücksichtigt werden. SA

Maßstabsebene Quartier Integration und Gestaltung von Freiräumen Wesentliches Ziel der Raumordnung ist der sparsame und schonende Umgang mit Grund und Boden, wie auch in § 1a des BauGB formuliert (siehe Quartier als Handlungsebene, S. 22). Dieser

4.4 — Ökologie

Forderung liegt die Erkenntnis zugrunde, dass für künftige Siedlungsentwicklung nur in begrenztem Umfang Raum zur Verfügung steht, wenn die Funktionen des allgemeinen Naturhaushalts einschließlich der Nahrungsmittelproduktion auch zukünftigen Generationen nachhaltig zur Verfügung stehen sollen. In der Folge werden heute Neubausiedlungen wesentlich dichter geplant und bestehende Quartiere nachverdichtet. Die Überarbeitung von Bebauungsplänen ermöglicht planungsrechtlich die Nachverdichtung im Bestand: Große Gärten lassen sich teilen, dadurch neu entstehende (Teil-)Grundstücke werden auch in Villengegenden mit Doppel-, Reihen- oder Mehrfamilienhäusern neu bebaut. Das schont einerseits Natur und Landschaft im Außenbereich der Stadt, fordert aber den äußerst sensiblen Umgang mit den Freiflächen im städtischen Innenbereich. Gerade dort, wo Menschen dicht zusammenleben, ist es notwendig, die ökologischen Funktionen auch bei Nachverdichtung zu berücksichtigen. Die städtebauliche Planung muss somit nicht nur eine dem Quartierscharakter angemessene Dichte der Bebauung gewährleisten, sondern auch trotz der mit der Nachverdichtung einhergehenden Reduzierung an Freiflächen die ökologischen und gestalterischen Qualitäten der verbleibenden Freiräume deutlich erhöhen. Das gelingt nur, wenn die Grünplanung und die Berücksichtigung aller Umweltbelange kontinuierlich fester Bestandteil der Stadtplanung sind. Diese integrierte Grünplanung muss Leitbilder für die Gesamtstadt formulieren und systematisch umsetzen. Dabei sollte ein »grünes Rückgrat« innerhalb der Gesamtstadt als Hauptelement dienen, sei es als »grüner Gürtel« aus vernetzten Parks, Gärten, Gewässern oder als durchgängig renaturiertes Flusssystem mit verbundenen Park-, Sport- und Spielanlagen, Fuß- und Radwegenetzen sowie ein- und angebundenen öffentlichen Einrichtungen. In den Quartieren muss an dieses System angedockt und über Vorgaben der Stadtverwaltung hinsichtlich privater Bauvorhaben (Quartiere oder Einzelgebäude) die Bebauung entsprechend gesteuert werden. Zur Förderung ökologisch orientierter, naturnaher Stadtentwicklung empfiehlt es sich, folgende allgemeine Grundsätze zu beachten, die sich teilweise mit denen für die stadtklimatisch optimierte Planung decken: • flächensparende Erschließung, möglichst geringe Bodenversiegelung • sorgsamer, DIN-gerechter Umgang mit dem Oberboden, Vermeidung von Bodenverdichtung

• Erhaltung der Bodenfunktion zur Neubildung von Grundwasser durch geringe Versiegelung • naturverträglicher Umgang mit Regenwasser • Dachbegrünung • Fassadenbegrünung (Haus- und Mauerberankungen) • umweltfreundliche Beleuchtung • Vermeidung von großflächigen Fensterfassaden oder Verwendung von Vogelschutzglas • Belassen und Ermöglichen von spontaner Vegetation auf Brachflächen, Straßenbanketten, Baumscheiben und anderen nicht genutzten Bereichen • abgestimmtes Pflegekonzept in öffentlichen Grünanlagen zur Förderung naturnaher Bereiche • Förderung naturnaher Parks und Stadtwälder, Wald- und Gehölzsäume • intensive Straßenbegrünung mit standortgerechten, möglichst gebietsheimischen Bäumen (Baumreihen, Alleen) • naturnahe Gestaltung und extensive Pflege von mindestens 50 % der öffentlichen Grünflächen • Öffentlichkeitsarbeit für naturintegrierte Stadtentwicklung • Patenschaften von Anwohnern und Schulen für bestimmte Grünbereiche • Förderung des Angebots für Naturerfahrung im urbanen Bereich  

Eine ökologische, naturnahe Stadtentwicklung kann jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn das Ziel eines funktionierenden Naturhaushalts politisch gewollt ist und dies in der Öffentlichkeit deutlich dargelegt wird. Planungen und Interventionen müssen als multidisziplinäre Projekte in Angriff genommen werden. Mittel- und langfristige Erfolge kann es jedoch nur geben, wenn sich die Bewohner durch aktives Mitgestalten und durch Übernahme von Verantwortung mit »ihrer« ökologischen Stadt identifizieren. GH, WP

Sonneneinstrahlung Das natürliche Licht der Sonne spielt für das Wohlbefinden der Menschen eine entscheidende Rolle. Ein anschauliches Beispiel dafür bietet das Dorf Viganella in den Bergen des italienischen Piemont, das topografisch bedingt nur an wenigen Stunden am Tag direkt besonnt wird und an 83 Tagen im Jahr sogar ganztätig verschattet ist. Insbesondere in den Wintermonaten sorgte das bei den Bewohnern des Dorfs für gedrückte

131

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Abb. 9 Rückstrahlvermögen (Albedowert) verschiedener Oberflächen Abb. 10 Platanenkubus im Rahmen der Landesgartenschau 2012, Nagold (D), Ferdinand Ludwig/IGMA der Universität Stuttgart, Daniel Schönle Abb. 11 begrünte Lärmschutzwand, Frankfurt am Main (D) 2013 Abb. 12 menschlicher Organismus als thermischer Wirkungskomplex (KlimaMichel-Modell) Abb. 13 Sonnensegel in der Fußgängerzone »Calle Sierpes«, Sevilla (E) Abb. 14 Wasservernebler im Außenraum, Hiroshima (J)

10 vgl. Frentzen 2006

Rückstrahlvermögen (Albedo) [%]

132

100 90 80 frischer Schnee

weißer Anstrich

70 60

alter Schnee

50 trockener Sand

40 Eis 30 20

Wände

Wüste

roter, brauner, grüner Anstrich

Dächer Wiesen

Stadt 10 Wasser

Wald

Straßen

0 Abb. 9

Stimmung, viele wanderten ab. Um diesen Missstand zu beheben, beschloss der Bürgermeister, an einer Felswand in 1100 m Höhe 14 lenkbare Spiegel zu installieren, um das Sonnenlicht in das Dorf zu lenken. Mittlerweile wird der Ansatz auch in anderen lichtarmen Dörfern diskutiert.10 Was die einen zu wenig haben, haben die anderen zu viel. So versucht man in der traditionellen arabischen Architektur durch enge Straßenräume, Gebäudestaffelung oder Lichtsegel so wenig direktes Sonnenlicht wie möglich in den Außenraum zu lassen, um der extremen Aufheizung vorzubeugen. Die beiden Extrembeispiele zeigen deutlich, dass je nach Standort des Quartiers spezifische Strategien für den Umgang mit der Sonneneinstrahlung entwickelt werden müssen. Dabei sei angemerkt, dass im Zuge der Klimaerwärmung und der damit verbundenen Zunahme von extremen Wettersituationen auch in gemäßigten Klimazonen zukünftig verstärkt über temporäre Maßnahmen zur Reduzierung der Hitzebelastung wie Sonnensegel, Begrünung, Luftbefeuchtung oder Wasserelemente nachgedacht werden muss (Klimaanpassung).

bung auf (Heat-Island-Effekt). Nicht ohne Grund werden die Häuser in Griechenland traditionell weiß gestrichen. Jedoch ist der Albedowert einer Oberfläche nicht immer gleichzusetzen mit dem Beitrag zum Heat-Island-Effekt. So haben Grünflächen zwar ein geringes Rückstrahlvermögen und absorbieren somit einen Großteil der eintreffenden Solarstrahlung, jedoch wird die eintreffende Energie im Photosynthese-Prozess umgewandelt und trägt deshalb nicht zur Aufheizung bei. Gleichzeitig haben Grünflächen, aber auch versickerungsfähige Oberflächen wie Rasengittersteine oder wassergebundene Decken durch die Verdunstung des gespeicherten Wassers eine Art Pufferfunktion für das Mikroklima. Dabei müssen Grünflächen nicht immer nur auf die Horizontale beschränkt sein, sondern können durchaus auch, wie bei einer Fassadenbegrünung oder einem Baum, als vertikale Begrünung eingesetzt werden (Abb. 10 und 11). Für die nachhaltige Planung von Quartieren ist es wichtig, Materialien nicht nur im Hinblick auf ihre gestalterische Qualität, Beständigkeit und Kosten auszuwählen, sondern auch deren Auswirkungen auf das Mikroklima zu berücksichtigen.

Oberflächen

Thermischer Komfort und Wohlbefinden

Abb. 10

Neben der Intensität der direkten Solarstrahlung haben auch die verwendeten Oberflächen einen wesentlichen Einfluss auf den Wärmeeintrag in der Stadt. Im Gegensatz zu Schnee, Sand oder hellen Farben absorbieren Wasser, Dächer und Straßen einen Großteil der eintreffenden Sonnenstrahlen und weisen damit ein geringes Rückstrahlvermögen (Albedowert) auf (Abb. 9). Je geringer der Albedowert ist, desto mehr Solarstrahlung wird von den Oberflächen absorbiert und desto mehr heizen sie sich und ihre UmgeAbb. 11

Die Lufttemperatur für sich allein betrachtet lässt noch keine Aussage über den thermischen Komfort im Außenraum zu. Dieser wird durch eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren wie der direkten Sonnenstrahlung, der Windgeschwindigkeit, der Luftfeuchte oder auch der Wärmestrahlung der Umgebungsoberflächen bestimmt. So macht es beispielsweise einen großen Unterschied, ob man sich bei 35 °C in der direkten Sonne oder im Schatten aufhält. Für den Wärmehaushalt des

4.4 — Ökologie

M QH QSW QL

D A

EKM

B R QRE QL E QH

R EKM

M

E QSW

E

R

QRE

Gesamtenergieumsatz turbulenter Fluss fühlbarer Wärme turbulenter Fluss latenter Wärme turbulenter Fluss latenter Wärme durch Wasserdampfdiffusion Wärmefluss über Atmung (fühlbar und latent)

Komponenten der Strahlungsbilanz Q I direkte Sonnenstrahlung D diffuse Sonnenstrahlung R Reflexstrahlung (kurzwellig) A Wärmestrahlung der Atmosphäre E Wärmestrahlung der Umgebungsoberflächen EKM Wärmestrahlung des Menschen

Abb. 12

Menschen kann dies bei Windstille soviel wie ein Lufttemperaturunterschied von 15 °C bedeuten,11 was klimatologisch etwa der Temperaturamplitude im Tagesverlauf an einem Tag ohne Bewölkung entspricht. Zur quantitativen Beschreibung der komplexen Bedingungen des menschlichen Wärmehaushalts dient ein Wärmebilanzmodell, das sogenannte Klima-Michel-Modell nach VDI 3787 (Abb. 12),12 aus dem sich interessante Schlussfolgerungen ableiten lassen. So hängt die gefühlte Temperatur (preceived temperatur – PT) u. a. von der Windgeschwindigkeit und der Luftfeuchte ab, die den Wärmefluss vom Körper zur Umgebung beeinflussen. Führen selbst geringe Windgeschwindigkeiten (z. B. durch Ventilatoren) im Sommer zu einer ausreichenden Verdunstung und einem damit verbundenen angenehmen, kühlenden Effekt, verstärkt Wind im Winter die eisigen Temperaturen, wodurch sich 0 °C wie -15 °C anfühlen können. Simulationen zu Windgeschwindigkeiten in Bodennähe zeigen, dass diese in einzelnen Bereichen stark voneinander abweichen können. Dies sollte bei der Planung und Nutzung berücksichtigt werden. Verschattende Elemente wie enge Straßenzüge und Sonnensegel (Abb. 13) oder die Berücksichtigung der lokalen Windgeschwindigkeiten stellen eine Möglichkeit dar, die gefühlte Temperatur zu beeinflussen. Eine weitere Möglichkeit ist die Veränderung der Luftfeuchte. So tragen Grün- und Wasserflächen durch Verdunstung auf ganz natürliche Art und Weise dazu bei, die gefühlte Temperatur zu senken. Solarbetriebene Sprühnebelanalgen für Außenbereiche erzielen ähnliche Effekte (Abb. 14) und werden in manchen Ländern teilweise auch schon im öffentlichen Straßenraum eingesetzt. Insbesondere im Hinblick auf die Klimaanpassung von bestehenden Stadtstrukturen stellen sie eine interessante Lösung dar. SA

133

Abb. 13

Einfluss von Freiräumen auf das Mikroklima Wesentliche Klimaveränderungen wie ansteigende Durchschnittstemperaturen und veränderte Niederschlagsverteilungen werden unsere Städte und das Leben ihrer Bewohner nachhaltig beeinflussen und verändern. Als Folgen können häufigere und längere Hitzeperioden im Sommer sowie weniger, aber heftigere Regenereignisse auftreten. Die Auswirkungen sind dramatisch, lokale und regionale Überflutungen aufgrund von überforderten Kanalsystemen werden zunehmen. Außerdem ist mit einem deutlichen Anstieg von klimabedingten Gesundheitsproblemen zu rechnen. Dem können Grün- und Freiräume positiv entgegenwirken. Sie sind eines der wesentlichen Elemente, um die Klimaanpassung in Städten überhaupt zu ermöglichen. Sie senken (Spitzen-) Temperaturen im Sommer, filtern die Luft und reduzieren dadurch Luftverschmutzungen, sie sind in der Lage, Regenwasser zu klären, gereinigt ins Grundwasser abzugeben oder temporär einzustauen und damit Kanal- wie auch Flusssysteme zu entlasten. Pflanzen helfen, die vorhandenen Probleme zu erkennen und zu bewerten. So reagieren z. B. manche Pflanzengruppen auf erhöhte städtische Temperatureinflüsse, andere auf Luftverschmutzung bzw. auf bestimmte Bestandteile der verschmutzten Luft. Zur Bioindikation von Luftverschmutzung in Städten werden in standardisierten Untersuchungsverfahren z. B. Flechten eingesetzt, da sie sehr weit verbreitet und umfassend untersucht sind. So lassen sich sogar über Jahrzehnte Veränderungen in der Zusammensetzung der Luftbelastung dokumentieren.13 Allerdings gestaltet sich der Komplex Vegetation – Klima – Lufthygiene als nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint. So können Bäume

Abb. 14

11 Jendritzky/Nübler 1981; Jendritzky/Sievers 1987 12 Helbig et al. 1999, S. 136f. 13 z. B. Stadt Reutlingen, 1979, 1984, 1989, 1994, 2000, 2010

134

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Abb. 15

Weitere Informationen • Bruse, Michael: Stadtgrün und Stadtklima. In: LÖBF-Mitteilungen 01/2003 • Fezer, Fritz: Das Klima der Städte. 54 Tabellen. Gotha 1995 • Kemper, Tobias; Riechel, Robert; Schuller, Tobias: Klimaanpassung in Mittel- und Südhessen. Modellvorhaben der Raumordnung. Raumentwicklungsstrategien zum Klimawandel. Gießen 2011 • LA.BAR Landschaftsarchitekten in Kooperation mit der TU Berlin Fachgebiet Landschaftsbau – Objektbau: Leitfaden nachhaltiges Bauen – Außenanlagen. Endbericht. Im Auftrag des BMVBS und des BBSR. Hrsg. vom BBR. Berlin 2011 • Landeshauptstadt München: Grünplanung in München. München 2005 • Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz Berlin: Versorgung mit öffentlichen, wohnungsnahen Grünanlagen. In: Umweltatlas Berlin. Berlin 2013 • www.cchangeproject.org • www.london.gov.uk/priorities/environment/ greening-london/parks-green-spaces/green-grid • www.stadtklimalotse.net • www.staedtebauliche-klimafibel.de • www.umweltbundesamt-daten-zur-umwelt.de

zwar einen Teil der Luftschadstoffe entweder direkt aufnehmen oder an der Blattoberfläche deponieren, dies kann aber in Emissionsbereichen wie Straßen bei geringer Durchlüftung dazu führen, dass hier sogar erhöhte Schadstoffkonzentrationen auftreten. Auf Fußgängerbereiche, Plätzen und in Park- und Grünflächen allerdings ist die positive Wirkung von Bäumen mess- und spürbar. Bei der Belastung durch steigende Temperaturen muss eine differenzierte Betrachtung vorgenommen werden. In der Regel treten die typischen erhöhten innerstädtischen Temperaturen zumindest tagsüber nicht im Aufenthaltsbereich der Menschen (bis ca. 2 m über Boden), sondern eher auf Dachniveau auf. Insbesondere die Verschattung durch Gebäude hält die Temperaturen auf einem Niveau, das sich kaum vom Umland unterscheidet. Nachts jedoch, insbesondere bei sommerlichen Strahlungswetterlagen, findet keine Abkühlung statt. Die tagsüber in Gebäudefassaden und Straßen- bzw. Wegeoberflächen gesammelte Wärmeenergie wird ab gegeben und es bleibt unangenehm warm. Hier können Bäume an der richtigen Stelle natürlich die Wärmeaufnahme tagsüber reduzieren, dürfen aber nachts nicht den Luftaustausch zum Erliegen bringen. Ein geeigneteres Mittel wäre hier die Dach- und Fassadenbegrünung. Interessant sind in diesem Zusammenhang Untersuchungen der TU Berlin über die Kombination von Fassadenbegrünung und Fassadenaufbauten: Die Belaubung hält die Fassaden im Sommer kühl und reduziert den Aufwand für die Innenraumklimatisierung, während die Begrünung ihre Belaubung im Winter verliert und sich bei entsprechend exponierten Wänden die Sonneneinstrahlung erhöht. Am deutlichsten werden die Gewinne durch Grünflächen beim Regenwassermanagement (siehe

Handlungsfeld Wasser und Boden, S. 139). Jeder Liter Regenwasser, der nicht oder zeitlich verzögert in die Kanäle und städtischen Flusssysteme eintritt, trägt insbesondere bei starkem Regen zu einer Entspannung bei. Kanalüberläufe in die Flüsse aufgrund überlasteter Kläranlagen verursachen große Schäden an Flora, Fauna und speziell in Biotopen. Kontrollierte Versickerung sowie Rückhaltung und Überflutung von Parkanlagen können dem entgegenwirken und lassen sich kostengünstig in die Parkgestaltung integrieren. Auch eine entsprechende Nachrüstung ist möglich. Zudem sind die Flächen verfügbar und verändern ihre Nutzung als Naherholungsraum nur geringfügig, denn wenn es regnet, sind in der Regel nur wenige Menschen im Park. Hinzu kommt die klimatisch positive Wirkung der erhöhten Verdunstung des im Boden gespeicherten Regenwassers. Man könnte sogar darüber nachdenken, gespeichertes Regenwasser im Sommer zur Bewässerung zu nutzen, damit über die gezielte Verdunstung die Klimafunktionen noch gesteigert werden. Aus den angesprochenen Themen ergibt sich folgender Maßnahmenkatalog für eine Klimaanpassung in den Städten: • exzessiver Einsatz von Dach- und Wandbegrünungen • Integration von Regenwassermanagement in alle Grünflächen und andere Freiflächen • Vorbereitung der Begrünung von Straßen durch entsprechende Untersuchungen und Simulationen zur Vermeidung nachteiliger Effekte • möglichst hoher Einsatz von Grünvolumen in Parks und fußgängerdominierten Bereichen • Entwicklung von breit gestreuten »Klimainseln« im Stadtraum zur Schaffung öffentlicher Erholungsflächen

4.4 — Ökologie

Abb. 16

Mehrfachnutzung von Freiflächen Grünflächen und andere Freiräume werden schon immer multifunktional genutzt. Neu ist ihre Funktion zur Klimaanpassung mit der Konsequenz, dass diese Flächen zukünftig mehrfach belegt werden müssen. Unproblematisch ist die Einbindung der Grünflächen in das Regenwassermanagement. Schwieriger wird es, wenn z. B. Schutzzonen bzw. Schutzzeiten zum Erhalt der Artenvielfalt die Nutzungsmöglichkeiten für denMenschen einschränken. So benötigt beispielsweise die an innerstädtischen Flüssen angesiedelte Tier- und Pflanzenwelt möglichst viele natürliche Uferbereiche und geschützte Flachwasserzonen. Allerdings hat sich in den letzten Jahren der »Urban Beach« als Trend zur Freizeitnutzung von Flussufern rasant entwickelt. Hier muss eine Abwägung zwischen den Interessen stattfinden. Kleingärten und Urban Farming bzw. Gardening sowie Privatgärten in Einzelhaussiedlungen können beispielsweise zusätzlich zu ihrem eigentlichen Nutzen auf die jeweiligen Biotopsysteme bzw. auf zu schützende Arten ausgerichtet werden. Multifunktionalität ist ein wichtiges Grundprinzip nachhaltiger Planung und kann sich ausgesprochen positiv auf die »Ökologisierung« unserer Städte auswirken. Ideen und Konzepte sind vorhanden, allerdings steigt mit der intensiven multifunktionalen Nutzung und Unterhaltung der Aufwand. Ganz entscheidend für eine erfolgreiche Durchsetzung derartiger Konzepte wird die Einbeziehung der Bewohner und Nutzer in die Planung sein. Denn nur in einem offenen, breit angelegten Dialog mit dem Ziel eines gesellschaftlichen Konsens kann die Umsetzung solch ambitionierter Projekte gelingen. GH, WP

Abb. 17

Abb. 15 Renaturierung eines Feuchtbiotops im neuen Stadtviertel Pearl District, Tanner Springs Park, Portland/Oregon (USA) 2010, Atelier Dreiseitl Abb. 16, 17 Renaturierung eines Flusslaufs und naturnahe Gestaltung des anliegenden Bishan Parks, Singapur (SGP) 2012, Atelier Dreiseitl

135

136

Kapitel 4 — Handlungsfelder

4.4.2

Wasser und Boden Antje Stok man

E

in nachhaltiger Umgang mit den Ressourcen Wasser und Boden sowie ihr nachhaltiger Schutz erfordern eine ganzheitliche Betrachtung der vielfältigen Zu sammenhänge und Wechselwirkungen zwischen den Aspekten Grundwasser-, Boden- und Gewässerschutz. Dafür sind integrierte Ansätze auf wissenschaftlicher, rechtlicher, politischer und planerischer Ebene unverzichtbar, die die verschiedenen Faktoren als Teile eines Gesamtsystems betrachten und einbeziehen. Die Basis für die Formulierung konkreter Strategien und Maßnahmen im Handlungsfeld Wasser und Boden bilden die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse und gültigen Gesetze. Die Ressource Boden ist aufgrund der sehr geringen Bodenneubildungsraten ein nicht vermehrbares Gut. Insofern stellt der Bodenschutz einen elementaren Bestandteil von Nachhaltigkeitsstrategien dar, die darauf ausgerichtet sind, die wichtigsten Bodenfunktionen zu erhalten. Diese sind: • Lebensraum: Lebensgrundlage und Lebensraum für Menschen, Tiere, Pflanzen und Bodenorganismen • Nutzung: Rohstofflagerstätte, land- und forstwirtschaftliche Produktion, Baugrund und Standort für sonstige wirtschaftliche und öffentliche Nutzungen, Verkehr, Ver- und Entsorgung etc. • Regelung, Speicher und Filter: Speicherung und Filterung des Niederschlagswassers, Rückhalt von Nährstoffen, Einlagerung von Schadstoffen in die Bodenmatrix und Abbau organischer Schadstoffe durch Bodenorganismen, Speicherung klimarelevanter Spurengase etc. • erdgeschichtliches und kulturhistorisches Archiv

Rechtliche Grundlage für die Berücksichtigung und den Schutz dieser Bodenfunktionen sind das Bundes-Bodenschutzgesetz (BBodSchG) und die Bundes-Bodenschutz- und Altlastenverordnung (BBodSchV), die durch länderspezifische Bodenschutzgesetze ergänzt werden. Auf EU-Ebene gibt es bislang noch keine Einigung zu einer kohärenten Bodenschutzpolitik: Der erstmals 2006 vorgelegte Entwurf einer europäischen Bodenschutzrahmenrichtlinie konnte bisher noch nicht verabschiedet werden. Ziel der europäischen Union ist es jedoch, die bereits bestehenden Regelungen der Mitgliedsstaaten zusammenzuführen, zu vereinheitlichen und für alle Mitglieder verbindlich zu machen. Auch auf internationaler Ebene thematisiert die United Nations Conference on Environment and Development (UNCED) in ihren umweltpolitischen Grundsätzen und Zielen den vor- und nachsorgenden Bodenschutz als eine der wichtigsten Aufgaben der Zukunft. Die Ressource Wasser ist im urbanen Bereich sowohl durch die Verschmutzung des Oberflächen- und Grundwassers als auch durch Grundwasserabsenkungen sowie extreme hydraulische Schwankungen der Gewässer zwischen Niedrigund Hochwasser gefährdet. Insofern ist das integrierte Wasserressourcenmanagement (IWRM) darauf ausgerichtet, nachhaltige Anstrengungen zur koordinierten Entwicklung und Bewirtschaftung der vorhandenen Wasser- und Landvorkommen und der damit verbundenen natürlichen Ressourcen zu fördern. Im Gegensatz zum Bodenschutz wurden die Prinzipien des IWRM durch die Einführung der europäischen Wasserrahmenrichtlinie (WRRL) im Jahr 2000 zur Leitlinie für die Wasserwirtschaft in Deutschland und Europa (Abb. 2). Ziel der WRRL ist es, die Wasserpolitik in der EU auf eine umweltverträgliche, nachhaltige Wassernutzung auszurichten. Die Richtlinie stellt die natürlichen Wassereinzugsgebiete als Betrach-

4.4 — Ökologie

vom Land

vom Meer

Verdunstung Niederschlag oberirdischer Abfluss

137

menschliche Cd Nutzung Pb

H+ Pb speichert Wasser Cd Ni Pb dämpft Hochwasserspitzen Haftwasser H+ filtert (z.B. Schwermetalle)

Filtration

Sickerwasser kapillarer Aufstieg

Altlast Hg Pb Cd

puffert (z.B. saure Einträge) wandelt Stoffe um (z.B. anorganische Schadstoffe)

H+ Cd Grundwasser Pb Hg Pb

Cd

Cd = Cadmium Pb = Blei Ni = Nickel Hg = Quecksilber H+ = Wasserstoff (positiv)

Abb. 1

tungseinheiten in den Mittelpunkt und fordert damit einen an den natürlichen Zusammenhängen des Wasserkreislaufs orientierten räumlichen Handlungsrahmen, der nicht an administrativen Grenzlinien wie Stadt-, Kreis- oder Landesgrenzen haltmacht. Für alle Fließgewässereinzugsgebiete wurden umfassende Bestandsaufnahmen sowie integrierte Bewirtschaftungspläne erarbeitet, die die Wechselwirkungen der oberirdischen Gewässer, des Grundwassers und gegebenenfalls auch der Küstengewässer berücksichtigen. Der Bearbeitungsprozess erfolgte im Dialog zwischen Verwaltungen, Nutzern und Interessengruppen der jeweiligen Wassereinzugsgebiete. In vielen Einzugsgebieten wurden sogenannte Gewässerbeiräte gegründet, in denen Interessenvertreter ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen mitarbeiten. Ziel der WRRL ist es, innerhalb von 15 Jahren die ökologische Funktionsfähigkeit der Oberflächengewässer wieder in gutem Zustand zu bringen sowie die Erhaltung der Nutzbarkeit des Grundwassers. Die in den Bewirtschaftungsplänen für alle Gewässereinzugsgebiete festgelegten Maßnahmenprogrammen müssen also bis Dezember 2015 umgesetzt werden. Auf Bundesebene wurde mit dem 2010 in Kraft getretenen Wasserhaushaltsgesetz (WHG) eine deutschlandweit einheitliche und auf die europäische Wasserrahmenrichtlinie abgestimmte Grundlage für die Umsetzung des Wasserrechts geschaffen. Auch auf internationaler Ebene hat das Prinzip des integrierten Wasserressourcenmanagements in nahezu alle Nachhaltigkeitsstrategien und wasserpolitischen Deklarationen Eingang gefunden, so auch in die 2001 von den UN-Mitgliedsstaaten verabschiedeten Milleniumszielen sowie in die Weltwasserberichte der UNESCO seit 2003, die einen Überblick über die Wasserressourcen weltweit geben, auch im Zusammenhang mit anderen Aspekten wie Bevölkerungswachstum oder Klimawandel.

Maßstabsebene Stadt und Region Für eine nachhaltige Entwicklung von Städten und Regionen sind Maßnahmen des vorsorgenden Bodenschutzes sowie des integrierten Wasserressourcenmanagements eine grundlegende Voraussetzung. Dafür bedarf es umfassender Grundlageninformationen und Planungswerkzeuge.

Bodenschutz und nachhaltiges Flächenmanagement Im Vergleich zur land- und forstwirtschaftlichen Bewirtschaftung von Böden stellt die Urbanisierung und die damit einhergehende Überformung des Bodens einen wesentlich gravierenderen Eingriff in den Naturhaushalt dar. Natürliche Böden werden verdichtet, versiegelt, abgetragen bzw. durch andere Böden oder künstliche Substrate überlagert sowie durch Schadstoffe belastet. Deshalb fordert der Bundesgesetzgeber einen sparsamen und ressourcenbewussten Umgang mit Grund und Boden (BauGB § 1 Abs. 6). Trotz dieser gesetzlichen Vorgaben hat sich der Anteil der Siedlungs- und Verkehrsfläche an der Gesamtfläche der Bundesrepublik Deutschland in der Vergangenheit kontinuierlich vergrößert. Ihr Anteil beträgt heute rund 13 %,1 fällt jedoch regional sehr unterschiedlich aus und erreicht in den Verdichtungsräumen mehr als 50 %. Der mittlere Versiegelungsgrad der Siedlungs- und Verkehrsflächen liegt bei ca. 46 %,2 das entspricht also ca. 6 % des Bundesgebiets. Während bis zum Ende des 20. Jahrhunderts die tägliche Inanspruchnahme neuer Flächen in Deutschland angestiegen ist, zeichnet sich nun eine Trendwende ab: Im Vier-Jahres-Durchschnitt von 1997 bis 2000

Abb. 1 wichtige Bodenfunktionen (Filter und Puffer) Abb. 2 Flussgebietseinheiten in Deutschland, die als Basis für die Umsetzung der europäischen Wasserrahmenrichtlinie dienen

1 Statistisches Bundesamt 2010 2 Gunreben / Dahlmann /Frie 2007, S. 34ff.

Abb. 2

138

Kapitel 4 — Handlungsfelder

3 Statistisches Bundesamt 2010 4 BBR 2004 5 Hoyer et al. 2011, S. 18

a

b fehlend sehr gering Abb. 3

gering mittel

hoch sehr hoch

betrug diese noch 129 ha pro Tag und ging seitdem kontinuierlich auf 94 ha pro Tag (2006– 2009) zurück. Gemessen an der seit 2003 sinkenden Bevölkerungszahl ergibt sich jedoch eine steigende Flächenbelegung pro Kopf: 580 m2 pro Einwohner im Jahr 2009 im Vergleich zu 498 m2 pro Einwohner 1992.3 Das bedeutet, dass trotz der sich abschwächenden Zunahme des Verbrauchs bisher unbebauter Flächen die Effizienz der Flächennutzung immer geringer wird. Ziel der Bundesregierung ist es, den Flächenverbrauch bis zum Jahr 2020 auf 30 ha pro Tag zu begrenzen. Auf regionaler und kommunaler Ebene ist deshalb eine schrittweise Verringerung des Flächenverbrauchs und der Bodenversiegelung von höchster Bedeutung. Um dieses Ziel zu erreichen und die Überbauung naturnaher Böden zu begrenzen, müssen vorrangig die bereits überformten Bauflächen im Bestand zur Verstärkung der Innenentwicklung aktiviert und im Innen- wie auch im Außenbereich flächensparendes Bauen gefördert werden.4 Entscheidend hierfür sind die Einführung eines Systems zum Flächenressourcenmanagement und kommunale Bodenschutzkonzepte auf der Basis eines kommunalen Neubauflächen-, Baulücken- und Brachflächenkatasters, mit dessen Hilfe das Nachverdichtungspotenzial erfasst werden kann. Eine weitere wichtige Planungs- und Entscheidungshilfe für Kommunen ist die Erstellung eines regionalen bzw. kommunalen Fachinformationssystems Boden inklusive einer flächendeckenden Bodenversiegelungskartierung zur Bewertung der Funktionserfüllung nach Bundesbodenschutzgesetz. Um die Bodenversiegelung zu reduzieren, sollten – sowohl auf den Bestand als auch auf den Neubau bezogen – Maßnahmen umgesetzt werden, die eine Entsiegelung befördern bzw. die weitere Zunahme der Versiegelung des Stadtgebiets konsequent unterbinden. Dieses lässt sich sowohl durch Festsetzungen im Bebauungsplan, durch finanzielle Anreize zur Entsiegelung privater Flächen, konsequente Entsiegelungsmaßnahmen auf stadteigenen Grundstücken und öffentlichen Verkehrsflächen sowie durch die Einführung einer erhöhten kommunalen Regenwassergebühr für die Entwässerung versiegelter Privatflächen über die städtische Kanalisation erreichen. Darüber hinaus müssen unerwünschte Stoffeinträge in den Boden soweit wie möglich vermieden sowie bereits vorhandene Altlasten und altlastverdächtige Flächen umfassend erfasst, untersucht, bewertet und gegebenenfalls saniert werden (Abb. 3).

Integriertes Wasserressourcenmanagement Der Wasserhaushalt urbaner Gebiete unterscheidet sich deutlich von dem der freien Natur- und Kulturlandschaft. Da der Niederschlag auf einen hohen Anteil versiegelter Flächen trifft, wird den Böden ein beträchtlicher Teil des Niederschlagswassers entzogen, das stattdessen durch die Kanalisation auf dem schnellsten Wege in das nächste urbane Gewässer eingeleitet wird. Das führt zu sinkenden Grundwasserständen, zu sinkenden Niedrigwasserabflüssen der urbanen Gewässer und zu ihrem zeitweisen Austrocknen in Trockenperioden einerseits sowie zur extremen Verschärfung der Hochwasserproblematik bei Regenperioden andererseits. Gleichzeitig gelangen die von den versiegelten Flächen abgewaschenen Schadstoffe sowie die ungereinigten Überläufe aus der Kanalisation in die Gewässer und verschmutzen diese. Im Zuge des Klimawandels ist mit zunehmenden Überflutungen durch Starkregenereignissen sowie mit einem Anstieg der Trockenperioden zu rechnen. Ziel des IWRM auf regionaler und kommunaler Ebene ist es deshalb: • die Abflussgeschwindigkeit des Niederschlagswassers und damit das Hochwasserproblem der urbanen Gewässer zu verringern • die Grundwasserabsenkung und den Rückgang der Grundwasserneubildung zu reduzieren, • der Verschlechterung der Qualität von Niederschlagswasser, Gewässern und Grundwasser entgegenzuwirken • die Struktur der Gewässer und ihre ökologische Durchgängigkeit zu verbessern Für den urbanen Bereich stellt das Prinzip der wassersensitiven Stadtentwicklung ein wichtiges Leitbild dar, um die Berücksichtigung des urbanen Wasserkreislaufs in Städtebau und Landschaftsplanung zu gewährleisten. Darüber hinaus ist die Verbesserung der Erlebbarkeit von Wasser und Gewässern in der Stadt und ihre gestalterische, multifunktionale Integration in die Stadtund Freiraumgestaltung ein übergeordnetes Ziel. Dies alles kann nur durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Wassermanagement, Städtebau und Freiraumplanung gelingen, da diese zusammen gedacht werden müssen, um Synergien für eine ökologische, ökonomische, soziale und kulturelle Nachhaltigkeit zu ermöglichen und nutzen zu können (Abb. 4).5 Für die Umsetzung der wassersensitiven Stadtentwicklung ist es erforderlich, regionale bzw.

4.4 — Ökologie

Komponenten

Aufgaben

139

Akteure

Wasserversorgung sichern Umweltingenieure Regenwassermanagement nachhaltige Wasserwirtschaft

Abwasserbehandlung

Umweltwissenschaftler

Wasserabläufe verbessern Schutz von Oberflächenund Grundwasser wassersensible Stadtplanung

Betrachtung der ökologischen Anforderungen

Stadtplanung

Betrachtung der ökonomischen Anforderungen Betrachtung der sozialen Anforderungen Betrachtung der kulturellen Anforderungen

Landschaftsplanung

Sicherung der Gestaltungsqualität Beitrag zur städtischen Attraktivität

Umweltplaner

Stadt- und Landschaftsplaner Akteure der Verwaltung

Integration

• Management des gesamten Wasserkreislaufs • Beitrag zur Nachhaltigkeit in Städten • Schaffung von Rahmenbedingungen für attraktive und humane Lebensumgebungen

Architekten und Bauingenieure Landschaftsarchitekten Stadtplaner und Architekten

Abb. 4

kommunale Entwicklungspläne zu erarbeiten, um zu einer integralen Herangehensweise an die Bewirtschaftung von urbanen Wasserkreisläufen zu gelangen. Dabei ergeben sich Synergieeffekte mit den im Handlungsfeld Bodenschutz genannten Maßnahmen zur Reduzierung des Anteils versiegelter urbaner Flächen. Darüber hinaus gebotene Maßnahmen betreffen: • die Aufbereitung, Wiedernutzung, Versickerung und verzögerte Ableitung des Niederschlagswassers (integriertes Regenwassermanagement) • die Schaffung von Räumen zur Ableitung und Speicherung von Niederschlagswasser für extreme Regenereignisse und Hochwasserresilienzmaßnahmen (integriertes Hochwasserrisikomanagement) • die Reduzierung des Trinkwasserbedarfs, Reduzierung des Abwasseranfalls und die Wiederverwertung von gereinigtem Abwasser (integriertes Abwassermanagement) • die Renaturierung bzw. den gewässerstrukturellen Umbau urbaner Fließgewässer (integrierte Gewässerentwicklung) Die Umsetzung und Konkretisierung der jeweiligen Einzelmaßnahmen wird im folgenden Ab schnitt auf der Maßstabsebene des Quartiers näher erläutert. Wichtig ist jedoch, dass diese auf regionaler bzw. gesamtstädtischer Ebene integriert konzipiert werden. Ziel muss es sein, Möglichkeiten zur Reduzierung der Überflutungswahrscheinlichkeit (z. B. Entsiegelungsmaßnahmen und integriertes Regenwassermanagement) mit Mitteln zur Verbesserung der ökologischen Gewässerstruktur (Renaturierung, mehr Raum für Auen und Hochwasserrückhalt) und Schutzmechanismen vor Hochwasser (Speicherräume, an Überflutungen angepasste Bauweisen) synergetisch zu verbinden. So kann ein System aus gebäude-,

grundstücks-, quartiers- und stadtteilbezogenen sowie gesamtstädtischen bzw. regionalen Maßnahmen entstehen: Gründächer, Pflanzenkläranlagen, Versickerungsmulden entlang von Straßen, übergeordnete Grünkorridore und Gewässerauen lassen sich zu einem integrierten, wassersensiblen Gesamtsystem der Stadtentwicklung verbinden. Gleichzeitig werden die technischen, gestalterischen, sozialen und ökonomischen Potenziale von unterschiedlichen wasserbezogenen Bewirtschaftungsmöglichkeiten genutzt, um urbane Räume attraktiv und erlebbar zu machen.

Maßstabsebene Quartier Das Handlungsfeld des integrierten Wasserressourcenmanagements und der wassersensitiven Stadtentwicklung bietet vielfältige Möglichkeiten, die nachfolgend beschriebenen Aspekte als Ausgangspunkte für die Entwicklung integrierter, interdisziplinärer Konzepte auf Quartiersebene zu nutzen.

Integriertes Regenwassermanagement Traditionell ist die Gestaltung des öffentlichen urbanen Raums darauf ausgelegt, trockene und damit jederzeit begeh- und nutzbare Oberflächen z. B. in Form von Straßen, Plätzen oder Rasenflächen zu schaffen. Das Regenwasser wird durch ein engmaschiges System von Einläufen mit einer maximalen Abflussleistung so schnell wie möglich von den versiegelten Flächen in die unterirdische

Abb. 3 Qualitätsverlust des Bodens im Quartier Langenäcker-Wiesert, Stuttgart (Berechnung mithilfe der Software »Verlust von Bodenressource« auf Grundlage der Bodenqualitätskarte und des Bodenschutzkonzepts) a Bodenwerte momentaner Zustand b Bodenwerte mit neuem Bebauungsplan Abb. 4 Komponenten, Aufgaben und Akteure einer wassersensiblen Stadtentwicklung

140

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Verdunstung

Drosselung

Nutzung

Versickerung Abb. 5

Abb. 5 Komponenten des integrierten Regenwassermanagements Abb. 6 prinzipielle Einzelstrategien hochwasserangepasster Bauweisen

Regen- oder Mischwasserkanalisation geleitet und direkt über die entsprechenden Einleitungsstellen oder indirekt über die Klärwerke den Gewässern zugeführt. Doch schon seit Jahren hat ein Paradigmenwechsel hin zu einer dezentralen Regenwasserbewirtschaftung eingesetzt, bedingt durch wasserwirtschaftliche Erwägungen in Bezug auf Strategien zur Vermeidung von Hochwasser, hydraulischen Belastungen der Fließgewässer, Grundwasserabsenkungen sowie zur Kostensenkung beim Bau und der Unterhaltung der technischen Systeme. Das Konzept der naturnahen Regenwasserbewirtschaftung besteht im Allgemeinen aus einer Verknüpfung von vier grundsätzlichen Prinzipien: dem Auffangen und damit der direkten Nutzung von Regenwasser, der Verdunstung, der Versickerung und der Drosselung (Abb. 5). Die Nutzung von Regenwasser verringert die jährliche Abflussmenge von Niederschlägen und kann je nach Volumen des Wasserspeichers auch zu einer Kappung der Abflussspitzen beitragen. Zusätzlich liegt darin ein großes Potenzial zur Einsparung von Trinkwasser. Durch Verdunstung und Versickerung des Niederschlags reduziert sich die abzuleitende Wassermenge. Die Verdunstung von Wasser befördert ein gutes Mikroklima, die Versickerung sorgt für die Grundwasserneubildung. Diese kann bei gut durchlässigen Böden in flachen Mulden oder Gräben erfolgen. Bei Böden mit undurchlässigerem Untergrund helfen beispielsweise Rigolensysteme, das abgeleitete Wasser durch unterirdische Kieskörper in zur Zwischenspeicherung geeignete Schichten zu befördern. Das Prinzip der Drosselung sorgt für eine Reduzierung der oberflächigen Spitzenabflüsse. Dafür muss ein entsprechendes Rückhaltevolumen zur Verfügung stehen, in dem das Wasser eine gewisse Zeit zwischengespeichert werden kann. Durch eine dosierte, zeitlich verzögerte Regenwasser-

ableitung lassen sich die lokalen Hochwasserspitzen von Gewässern abmindern. Aus planerischer Sicht müssen Ansätze entwickelt werden, die das Regenwasserableitungs-, Sammel- und Reinigungssystem zu einem erlebbaren und attraktiven Teil der räumlichen Gestaltung machen. Das bedeutet auch, dass Wasserwirtschaftler und Stadt- bzw. Freiraumplaner bereits von Anfang an in der Entwurfs- und Planungsphase zusammenarbeiten müssen. Dabei bilden die topografischen Rahmenbedingungen, die Fließwege des Wassers und die technischen Komponenten seiner Reinigung, Nutzung, Speicherung und Ableitung die Ausgangspunkte für die Gestaltung urbaner Stadt- und Freiräume.

Integriertes Hochwasserrisikomanagement In der Vergangenheit war die Flucht vor dem Wasser und damit die Umsiedelung oftmals die letzte Möglichkeit der Anrainer, der Gefahr durch Überflutungen und Hochwasser zu entgehen. Heute ist es in vielen Fällen nicht möglich oder auch nicht gewollt, auf sichere Gebiete auszuweichen. Die wirtschaftliche Entwicklung und der Siedlungsdruck, aber auch die Attraktivität der Lage am Wasser haben dazu geführt, dass tiefliegende Gebiete und Flussauen häufig als Siedlungsfläche ausgewiesen und genutzt werden. Hochwassergefährdete Gebiete sind oft landwirtschaftlich und wirtschaftlich interessantes Bauland und beherbergen inzwischen viele Menschen und hohe Sachwerte. Für die bauliche Entwicklung am Wasser gibt das Wasserhaushaltsgesetz (WHG) Bedingungen für festgesetzte Überschwemmungsgebiete vor. Grundsätzlich ist dort die Ausweisung von neuen Baugebieten sowie die Errichtung oder Erweiterung baulicher Anlagen untersagt (WHG § 78 Abs. 1). Ausnahmen sind

4.4 — Ökologie

Abschirmen stationär

mobil

• Objektschutz am Gebäude (vor Hochwasser, ansteigendem Grundwasser, Rückstau Kanalisation) • Gestaltung von Schutzbauwerken als Freiraum

• Objektschutz am Gebäude durch mobile Elemente • externer Schutz durch mobile Elemente, Wasserbezug erhalten

141

Dulden

Erhöhen

Mitbewegen

Rückzug

• historische Lage als Zwang • Erhalt des Retentionsraums • neuer Retentionsraum als nutzbarer Freiraum

• Rückzugsort • Auständern • Damm und Auständern

• amphibische Häuser, Sommer-Infrastruktur • Freizeitnutzung • schwimmende Häuser, Freizeitnutzung • Hausboot, kein Gebäude • Dauernutzung See

• • • • •

Abb. 6

nur möglich, wenn sämtliche im WHG aufgeführten Auflagen eingehalten werden: In Bezug auf das Gewässer dürfen vor allem der Hochwasserschutz, der Hochwasserabfluss und die Höhe des Wasserstands nicht negativ beeinflusst werden, sodass keine nachteiligen Auswirkungen für den Wasserhaushalt entstehen. Neu errichtete Gebäude in Überschwemmungsgebieten müssen so ausgeführt werden, dass keine Gefährdungen von Leben oder erhebliche Gesundheits- oder Sachschäden zu erwarten sind (WHG § 78, Abs. 2 Nr. 3). Die Nutzung attraktiver Lagen am Wasser erfordert Maßnahmen der Informationsvorsorge, des Objektschutzes und der baulichen Vorsorge durch angepasste Bauweisen und Materialien, die über Informationsportale und Planungshilfen verbreitet werden sollen.6 Aufgrund der im Zuge des Klimawandels zunehmenden extremen Wetterereignisse ist damit zu rechnen, dass die städtische Kanalisation das Wasser nicht mehr unterirdisch ableiten kann und es zunehmend auch zu innerstädtischen Überschwemmungen kommt. Charakteristisch für solche Ereignisse sind kurze Reaktionszeiten und ein möglicher Rückstau in der Kanalisation. So entsteht auch in städtischen Gebieten sehr schnell Hochwasser-Situationen, obwohl kein Gewässer sichtbar ist. Hochwasserangepasste Bauweisen tragen insofern zu einer Verringerung des Risikos bei, als sie die Gefahr von Schäden reduzieren. Basierend auf dem Drei-Säulen-Modell des Hochwasserschutzes sind folgende Maßnahmen möglich, um Schäden durch Hochwasser sowie die Schadensanfälligkeit von Bauwerken zu mindern:7 • Vermeidung: Reduzierung der negativen Auswirkung von Hochwasser durch Rückhalt in der Fläche, Einbeziehung von Verkehrs- und Freiflächen zum Rückhalt kapazitätsüberschreitender Abflüsse und Verminderung der Abflussgeschwindigkeit

• Schutz: Maßnahmen des technischen Hochwasserschutzes wie Schutzmauern, Deiche, Dämme, Flutmulden und Retentionsräume sowie des dezentralen Objektschutzes gefährdeter Gebäude und baulicher Anlagen • Vorsorge: Flächenvorsorge zur Reduzierung der baulichen Nutzung gefährdeter Gebiete, Bauvorsorge durch angepasste Bauweisen und Nutzungen, Verhaltensvorsorge durch Warnund Evakuierungssysteme und Risikovorsorge durch Versicherungsmodelle Integrierte räumliche Strategien sollten jedoch nicht allein technische, organisatorische und rechtliche Maßnahmen umfassen, sondern in stadt- und freiraumplanerische Entwicklungen mit dem Ziel einbezogen werden, durch die Kombination unterschiedlicher Maßnahmen Synergien und räumliche Qualitäten zu erzeugen (Abb. 6).

Integrierte Gewässerentwicklung und Flussraumgestaltung Der den Wasserschwankungen zwischen Niedrigund Hochwasser ausgesetzte Bereich urbaner Fließgewässer wurde seit der Industrialisierung zunehmend unter funktionellen Gesichtspunkten gestaltet. Die verschiedenen technischen Ausbauformen zeichnen sich durch gleichmäßige, möglichst glatte, d. h. auf maximale Abflussleistung ausgelegte Gerinnequerschnitte aus. Im Extremfall wurden dabei sterile, mit senkrechten Wänden begrenzte Betongerinne geschaffen, die nicht selten auch noch einen Betondeckel erhielten, um zusätzliche Verkehrsflächen zu gewinnen. Eine derartige Gewässergestaltung ist zugeschnitten auf die Funktion des Gewässers als Vorfluter, optimiert im Hinblick auf Hochwasserschutz und

6 BMVBS 2010 7 LAWA 1995

Flucht vor dem Wasser Umsiedlung Verwilderung neue Lagequalität Fluchtweg

142

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Ufermauern und Promenade

Deiche und Flutwände

Überflutungsflächen

Flussbette und Fließräume

dynamisierte Flusslandschaften

Raum linear erweitern

Widerstand differenzieren

Raum erweitern

Strömungen lenken

Laufentwicklung ermöglichen

Raum punktuell erweitern

vertikal widerstehen

darüberstellen

Gewässerlauf modellieren

Laufentwicklung initiieren

temporär widerstehen

Widerstand verstärken

tolerieren

Gewässerbett differenzieren

neuen Gewässerlauf gestalten

darüberstellen

Widerstand integrieren

ausweichen

Ufersicherung differenzieren

Laufentwicklung begrenzen

tolerieren

temporär widerstehen

mitgehen

Sohlsicherung differenzieren

mitgehen

Wasserdynamik wahrnehmbar machen

Abb. 7

8 Prominski et al. 2012

Gewässerunterhaltung. Unzählige Kommunen in Deutschland und Europa stehen durch die aktuelle EU-Wasserrahmenrichtlinie nun vor der Herausforderung, ihre Fließgewässer wieder in Richtung größerer Naturnähe rückzugestalten. Bei der Umsetzung der Richtlinie stehen Aspekte der Gewässermorphologie und -ökologie im Vordergrund. Das Hauptziel eines Gewässerentwicklungskonzepts besteht in der Umsetzung von Maßnahmen, die dazu beitragen, einen möglichst naturnahen Zustand des Gewässers zu erreichen. Dieses Ziel darf jedoch nicht isoliert betrachtet werden, denn die Flüsse und ihre Uferbereiche haben bedeutende Funktionen als urbane Freiräume und sind für die Lebensqualität der sich immer weiter verstädternden Gesellschaften von hohem Wert. Je mehr Platz für ein Gewässer zur Verfügung gestellt wird, desto größer sind die Gestaltungsmöglichkeiten im Hinblick auf seine eigendynamische Entwicklung. Dazu bedarf es der Ausarbeitung innovativer interdisziplinäre Ansätze, in denen die an das Gewässer angrenzenden Landschaftselemente und -nutzungen in den unterschiedlich häufig überschwemmten Bereichen in angepasster Weise gestaltet werden.8

In den zuerst überschwemmten Uferräumen ist es z. B. möglich, eine natürliche Auenvegetation zu entwickeln, die punktuell mit terrassierten Ebenen, Rampen, Treppen und Aussichtsplattformen kombiniert wird, um einen direkten Zugang zum Wasser zu schaffen. Wege auf unterschiedlichen Niveaus erlauben verschiedene Nutzungen des Parks sowohl bei Niedrig- als auch bei Hochwasser. Dafür müssen Pflanzenauswahl, Nutzungsbereiche und Möblierung an die jeweiligen Überschwemmungshäufigkeiten und -tiefen angepasst werden. Je nach Fließdynamik und zur Verfügung stehendem Raum sollten auch morphodynamische Prozesse der Laufveränderung, Anlandung und Inselbildung im Gewässerbett gefördert werden, die ein naturnahes und abwechslungsreiches Erscheinungsbild zur Folge haben. Auch bei der Integration von Hochwasserschutzsystemen in ufernahen Freiräumen bieten sich durch die Kombination von festen und mobilen Elementen vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten: Mauern und Deiche lassen sich mit verschließbaren Schutztoren aus Stahl, Klappen sowie mobilen Dammbalken aus Aluminium kombinieren. Diese Elemente ermöglichen eine Durchlässigkeit des Raums, da sie nur im Notfall die Freiflächen

4.4 — Ökologie

143

Wiederherstellung der Bodenfruchtbarkeit

Regenwasser sammeln Nahrungsmittel

landwirtschaftliche Nutzung

Behandlung / Desinfektion / energetische Nutzung

Fäkalien Urin

Grauwasser

Wiederverwendung kein Abwasser in Gewässer einleiten

Abb. 8

abschließen. Um nicht als Barrieren zu wirken, sollten Mauern und Deiche als attraktive, multifunktionale, begehbare und somit erlebbare Landschaftselemente gestaltet werden. Auf diese Weise trägt die Ufergestaltung zur bewussten Wahrnehmung der dynamischen Gewässerprozesse bei und dient diesen als Bühne (Abb. 7).

Integriertes Abwassermanagement und dezentrale Abwasserbewirtschaftung Das kostenintensive und technisch aufwendige, zentral organisierte System der Wasserver- und entsorgung wurde in den wasserreichen Industrieländern entwickelt. Bei der aktuellen und zukünftig zunehmenden weltweiten Wasserknappheit rücken nun Konzepte in den Fokus, die den Wasserverbrauch reduzieren. Damit steht auch das traditionelle Prinzip der Spültoiletten und Schwemmkanalisation, das die Entwicklung einer enorm kostenintensiven Wasserinfrastruktur erfordert und in vielen Ländern einen hohen Trinkwasserverbrauch und die weitestgehend ungereinigte Ableitung in die Gewässer nach sich zieht, auf dem Prüfstand. Vor diesem Hintergrund ist der Bedarf an flexiblen, dezentralen, kostengünstigen und ressourcensparenden Systemen groß.9 Schon heute stehen in den Bereichen Sanitär und Abwasser eine Vielzahl von neuen Technologien und Methoden zur Verfügung, die für eine Abkehr von der vorherrschenden Abwasserbeseitigung und -reinigung in Betracht gezogen werden können. Dezentrale Konzepte der Abwasserentsorgung und -aufbereitung, wie sie etwa die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) unter der Bezeichnung »Ökologische Sanitärversorgung (ecosan)« verfolgt, sehen vor, den Rohstoff Fäkalie nicht mit Trinkwasser zu ver-

mengen und wegzuspülen, sondern zu Dünger oder Biogas weiterzuverarbeiten und in der Landwirtschaft wiederzuverwerten (Abb. 8). Dafür kommen je nach Kontext unterschiedliche Lowoder Hightech-Lösungen infrage: Komposttoiletten, Pflanzenkläranlagen, Abwasserteiche und Biogasanlagen galten lange als rückständige Übergangstechniken für Gebiete, in denen der Anschluss an eine zentrale Ver- und Entsorgung vorerst nicht finanzierbar war und zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden sollte. Angesichts der beschriebenen Herausforderungen in Bezug auf die hohen Kosten zentraler Systeme rücken diese Technologien jedoch zunehmend in den Fokus. Der Vorteil dieser Techniken besteht darin, dass die dafür notwendigen Strukturen teilweise von den Nutzern in Eigenleistung erstellt werden können und damit vergleichsweise kostengünstig sind. Gleichzeitig stehen in den entwickelten Ländern jedoch auch Hightech-Lösungen wie Separationstoiletten mit Vakuumkanalisation, anaerobe Behandlungsverfahren und Membrantechnologien zur Verfügung. Da hier die Fäkalien in der Regel nicht bzw. in sehr reduzierter Form mit Trinkwasser vermischt und weggespült werden, lassen sich im Vergleich zu herkömmlichen Systemen zwischen 20 und 40 % des Trinkwassers einsparen. Eine dezentrale Neuorganisation der Wasserinfrastruktursysteme geht mit einer Zunahme von sichtbaren, oberirdischen, in den Stadtraum zu integrierenden Abwasseranlagen einher. Die urbanen Freiräume müssen verstärkt kombinierte Ableitungs- und Rückhalteelemente sowie Reinigungsanlagen aufnehmen. Dies hat spürbare Auswirkungen auf den Charakter von Siedlungsräumen. Hier sind innovative Entwürfe gefragt, die diese Wasserinfrastruktur in die Freiräume integrieren und als attraktive und nutzbare Freiraumelemente gestalten.

Abb. 7 Übersicht Entwurfsstrategien für die Gestaltung unterschiedlicher Flussräume Abb. 8 Wasserkreislauf basierend auf dem EcosanPrinzip

9 Lange/Otterpohl 2000

Weitere Informationen • Hoyer, Jacqueline et al.: Water Sensitive Urban Design. Principles and Inspiration for Sustainable Stormwater Management in the City of the Future. Berlin 2011 • Stokman, Antje; Dieterle, Jan: Hochwasserangepasstes Bauen als Strategie der integrierten Stadtquartiersentwicklung am Wasser. In: BMVBS (Hrsg.): Integrierte Stadtquartiersentwicklung am Wasser. Schriftenreihe Werkstatt: Praxis, Heft 77, Berlin 2011, S. 44–47 • UNEP; Europäische Umweltagentur: Auf dem Boden der Tatsachen. Bodendegradation und nachhaltige Entwicklung in Europa. Umweltthemen-Serie, Heft 16, Kopenhagen 2002

144

Kapitel 4 — Handlungsfelder

4.4.3

Stoffströme Ju l i a Bö ttge, Jo h a n n e s G a n t n e r, Th o m a s Ha u n, Christina Sager, Bastian Wittstock

S

toffströme sind im urbanen Raum omnipräsent. Sichtbare Zeichen sind beispielsweise der (Schwerlast-)Verkehr auf den Straßen und der regelmäßige Dienst der Müllautos. Auch für alle Produkte und Materialien (z. B. Wasser, Baustoffe, Nahrungsmittel), die in der Stadt eingesetzt werden, fallen stets Stoffströme an. In einer idealen Welt schließen sich Stoffströme zu vollständigen Kreisläufen aus ineinandergreifenden technischen und natürlichen Zyklen. Tatsächlich ist der Weg dahin noch weit und muss schrittweise begangen werden. Dieses Kapitel zeigt beispielhaft diesbezügliche Lösungsansätze auf den verschiedenen Planungsebenen auf.

1 Rebernig 2007

Stoffströme können und müssen durch bewusste Planung auf allen Ebenen kontrolliert, in gewünschte Bahnen gelenkt und vorzugsweise reduziert werden. Dies betrifft den Materialeinsatz in der Quartiersentwicklung und Gebäudeerrichtung ebenso wie die Energieversorgung urbaner Räume. Aber auch die Ver- und Entsorgungssysteme der Städte sollten im Fokus einer ganzheitlichen Planung liegen. Hierfür sind einige Voraussetzungen und grundsätzliche Erkenntnisse erforderlich: Das Auftreten von Stoffströmen, ihr Verbleib und die mit ihnen einhergehenden Herausforderungen müssen bekannt sein. Außerdem gilt es sich bewusst zu machen, dass eine ganzheitliche Sichtweise auf Stoffströme im urbanen Raum erst dann möglich ist, wenn grundsätzlich der gesamte Lebenszyklus eines Quartiers und all seiner Komponenten berücksichtigt wird (siehe Lebenszyklusbetrachtung, S. 87). Für die Analyse der auftretenden Stoffströme dient z. B. die Methode der Materialflussanalyse (MFA), für die weiterführende Betrachtung öko-

logischer Konsequenzen ist die Methode der Ökobilanz geeignet (siehe Materialflussanalyse und Ökobilanz, S. 224). Stoffströme haben unterschiedliche Bezüge zu Planungshorizonten und Zeiträumen. So muss in ihrer Behandlung zwischen langfristigen Stoffströmen, z. B. bei Baustoffen, die verbaut und am Lebensende eines Gebäudes oder eines Infrastrukturbauwerks wieder verfügbar sind, und kurzfristigen Stoffströmen wie z. B. Abfallströme, Lebensmittelversorgung oder Versorgung mit Energieträgern unterschieden werden. Besondere Aufmerksamkeit verdient der langfristigere Verbleib von Materialien im Stofffluss. So stehen z. B. Baustoffe, die einem Bauwerk an dessen Lebensende wieder entnommen und recycelt werden können, auch zukünftig zur Verfügung. Dazu zählen beispielsweise Beton- und Mauerwerksabbruchmaterial, das sich im Anschluss an die Aufbereitung wieder in der Bauindustrie zur Herstellung von Baustoffen verwenden lässt. Demgegenüber gibt es sogenannte dissipative Stoffströme,1 bei denen die Materialien durch ihre Verarbeitung sehr fein verteilt werden und nur mit großen Anstrengungen für eine spätere Nutzung wieder zur Verfügung stehen. Die Behandlung von Stoffströmen kann auf den ersten Blick unterschiedlichen und auch widersprüchlichen Zielen dienen: Auf der einen Seite geht es um die Reduktion des Rohstoffeinsatzes und die Verringerung von Transportaufwendungen, demgegenüber steht der Schutz der Umwelt durch Reduktion von Emissionen aus Prozessen, die mit Stoffströmen zusammenhängen. Beispielsweise kann vor dem Hintergrund der Seltenheit einzelner Rohstoffe der Einsatz eines Massenguts vorteilhaft sein, was gleichzeitig aber eventuell zu höheren umweltrelevanten Transportaufwendungen führen kann. Hier gilt es, im Bewusstsein der verschiedenen Anforderungen abzuwägen.

145

Emissionen

4.4 — Ökologie

Export

Wasser /Luft Energie Lebensmittel Konsum- und Investitionsgüter andere Rohstoffe/Halbzeuge etc.

Wasser Energie Lebensmittel Konsum- und Investitionsgüter Halbzeuge etc.

Abwasser Abfälle

Import

Abb. 1

Maßstabsebene Region Auf regionaler Ebene treten unterschiedliche Stoffströme auf (Abb. 1), die für die planerische Perspektive zu unterscheiden sind. Dabei handelt es sich um die Stoffströme, die sowohl für die Versorgung (Import) als auch für die Entsorgung (Export) erforderlich sind. Ebenso entstehen während des Verbrauchs, der Verwertung oder der Weiterverarbeitung weitere Stoffströme, die es zu berücksichtigen gilt. In einer zeitlichen Differenzierung muss zwischen Stoffströmen unterschieden werden, die langfristige Rohstofflager bilden oder die durch die Mobilisierung langfristiger Lager auftreten, und solchen, die nur kurzfristige Lager bilden bzw. einen kontinuierlichen Stofffluss erzeugen. Zu den langfristigen Lagern zählen insbesondere Gebäude und Bauwerke, in denen Baustoffe (und damit bestimmte Rohstoffe) über längere Zeit verbaut sind, und an deren Lebensende umfassende Mengen dieser Rohstoffe mobilisiert werden. Darüber hinaus stellen auch bestehende Haus- und Gewerbemülldeponien langfristige Lager dar, deren Aufarbeitung eine Mobilisierung von Sekundärressourcen bedeutet. Zu den kurzfristige Lager bildenden, stetigen Stoffströmen zählen mehrere Kategorien, insbesondere aber die Versorgung mit Energieträgern, Lebensmitteln und Konsumgütern. In Bezug auf eine räumliche Optimierung gilt es vor allem, mögliche Rohstofflieferanten und -abnehmer so zu vernetzen, dass ein regionaler Materialeinsatz mit kurzen Transportwegen überall dort stattfinden kann, wo dies aus ökologischer Sicht sinnvoll ist. Das betrifft einerseits regionale Lager von Primärrohstoffen wie Steinbrüche, Kiesgruben etc., andererseits den Rückbau von

Quartieren und Gebäuden als mögliche Quelle für Sekundärrohstoffe. Recyclingverfahren für Baureststoffe kommen zunehmend zum Einsatz und sind derzeit z. B. Gegenstand einer Projektreihe der Arbeitsgemeinschaft industrieller Forschungsvereinigungen (AiF). Diese erforscht zum einen den verbesserten Einsatz von Recyclingbaustoffen,2 zum anderen eine Nachhaltigkeitsbewertung für Recyclingverfahren von Abbruchmaterial aus Mauerwerk.3 Im Bereich von Stoffströmen ohne langfristigen Verbleib in der gebauten Umwelt bestehen auf regionaler Ebene zum Teil umfassende Steuermöglichkeiten. Hierzu zählen insbesondere die bereits häufig praktizierte, regional organisierte Wasserver- und -entsorgung durch kommunale Zweckverbände oder ein regionales Abfallmanagement, dessen Wirkradius über die Grenzen von Landkreisen hinausgeht.4 Insbesondere im Bereich der Energieversorgung ist auf regionaler Ebene das Potenzial für solche Steuerungsmöglichkeiten noch nicht ausgeschöpft. JBÖ, JG, BW

Exergetische Bewertung von Städten und Quartieren Der Energiebedarf von Gebäuden für die Beheizung und Kühlung wird heute üblicherweise aus fossilen Quellen gedeckt. Um die Nachhaltigkeitsziele der Bundesregierung zu erreichen, sind zum einen eine deutliche Reduktion des Gesamtenergieverbrauchs, zum anderen eine stärkere Nutzung erneuerbarer Energien erforderlich. Die Energieeinsparverordnung (EnEV) von 2009 macht hierzu Vorgaben und fördert die ganzheitliche Betrachtung von Energieeinsparung und effizienter Anlagentechnik im Gebäudebereich. Die Perspektive, zukünftig im Neubaubereich nur noch Niedrigstenergiegebäude zuzulassen, stellt

Abb. 1 exemplarische Stoffströme in der Stadt

2 Goetz 2009 3 Herbst 2012 4 Janda 2012

146

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Exergie-Ansatz Durch den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik (Entropiesatz) werden die Grenzen der Wandelbarkeit von Wärme in andere Energieformen beschrieben. Praktisch bedeutet dies, dass sich beispielsweise 1 l Heizöl fast vollständig in Wärme umwandeln lässt, diese Wärme aber nicht wieder zu der gleichen Menge Öl werden kann. Die thermodynamische Größe der Exergie quantifiziert diese energetische Qualität, nämlich die Wandlungsfähigkeit und Nutzbarkeit eines Energiestroms bezogen auf die zu leistende Aufgabe (Rant 1956). Der Exergie-Ansatz für Gebäude nutzt niedrigexergetische Wärmequellen (z. B. Abwärme, Solarenergie, Geothermie) entsprechend dem vorhandenen Wärmebedarf und schont so wertvolle hochexergetische Energieträger wie Erdgas und -öl oder Holzpellets.

Abb. 2

5 Fraunhofer IBP 2011 6 Torío 2012 7 Sciubba /Bastianoni / Tiezzi 2008; Sciubba 2011; Stremke et al. 2011 8 deENet 2010 9 Schenkel 2003

die Weichen für eine langfristige Reduktion der energetischen Stoffströme während der Nutzungsphase von Gebäuden. Einen weiteren Aspekt stellt die exergetische Betrachtung der Energienutzung in Gebäuden dar. So ist es aus thermodynamischer Sicht z. B. erheblich, ob die genutzte Energie aus einem Energieträger gewonnen wird oder ob es sich um elektrischen Strom oder Wärme handelt. Im Gebäudebereich entfallen die größten Energiemengen auf niedrigexergetischen Bedarf zum Heizen und Kühlen von Räumen. Hier wird in aller Regel lauwarmes Wasser benötigt, wohingegen für die Beleuchtung und Antriebe wie Pumpen und Ventilatoren hochexergetischer Strom unverzichtbar ist. Die Verbrennung hochexergetischer Brennstoffe wie Erdgas und Heizöl, aber auch regenerativer Holzbrennstoffe zur Erzeugung von warmem Wasser stellt aus exergetischer Sicht eine Verschwendung von Potenzial dar. Die exergetische Analyse von Versorgungsstrukturen erlaubt es, hier zu deutlich optimierten Lösungen zu kommen.5 Auf der Ebene städtischer Quartiere, Siedlungen oder Stadtteile lassen sich durch die Erschließung von vorhandenen Abwärmequellen, beispielsweise aus Industrieprozessen, große Teile der benötigten Niedertemperaturwärme decken.6 Die Priorität der auf Kraft-Wärme-Kopplungsprozessen basierenden Nah- und Fernwärmesysteme liegt auf der Erzeugung hochexergetischen Stroms, gleichzeitig machen sie die anfallende niedrigexergetische Wärme dort nutzbar, wo sie benötigt wird. Die Betrachtung auf einer größeren Maßstabsebene erlaubt die Umverteilung und Kaskadennutzung bestehender Wärme- und Kältepotenziale.7 Beispielhaft ist hier die Nutzung eines vorhandenen Fernwärmerücklaufs für die Versorgung einer energieeffizienten Neubebauung zu nennen. Regenerative Umweltenergie sowie solare und geothermale Wärme können in Verbindung mit Speicherkonzepten und Wärmepumpen sinnvolle Beiträge im Gesamtversorgungssystem leisten. Das Exergiekonzept verfolgt in seinen Optimierungsansätzen das Ziel, das exergetische Niveau auf der Bedarfsseite möglichst gut mit dem Angebot in Einklang zu bringen. Auf diese Weise werden die hochqualitativen Energieträger geschont und die Einbindung von Umweltenergien in das Energiesystem gefördert. Ein Beispiel für eine Low-Exergie-Versorgung ist die geplante ökologische Siedlung in Kassel-Oberzwehren (Abb. 2). Im Rahmen des Forschungsprogramms »EnEff:Stadt« des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie (BMWi)

hat das Fraunhofer-Institut für Bauphysik (IBP) 2009/2010 eine Vorstudie zur Abschätzung von Potenzialen, Hemmnissen und Strategien einer CO2-neutralen Ökosiedlung in Oberzwehren erstellt.8 Diese beschreibt mögliche Ansätze, um die geplanten Wohnhäuser niedrigexergetisch und kostengünstig zu beheizen. Hierfür soll der Rücklauf des vorhandenen Fernwärmenetzes als Energiequelle dienen. Durch die niedrigeren Systemtemperaturen reduzieren sich die Wärmeverluste im Unterverteilnetz, die Anforderungen an das Leitungsmaterial verringern sich und die Gesamteffizienz steigt. Die vorhandenen Temperaturen von mindestens 50 °C im Fernwärmerücklauf erlauben eine ausreichende Wärmeversorgung von Gebäuden ab einem Dämmstandard auf EnEV-2009-Niveau. Aufgrund des höheren Dämmstandards der geplanten Gebäude – Niedrigenergiehäuser mit einem Energiebedarf von ca. 38 kWh/m2a – wäre selbst eine Temperatur von 30 °C in Verbindung mit einer Fußbodenheizung (Vor-/Rücklauf 27 bzw. 23 °C) noch ausreichend. Bei städtebaulichen Nachverdichtungen sollten darum immer die Möglichkeiten einer Fernwärmerücklaufnutzung geprüft werden. Alternativ können auch industrielle Abwärme, Solarwärme, Abwasserwärme oder Geothermie niedrigexergetische Quellen darstellen, die sich in ein lokales Mikronetz einspeisen lassen. CS

Abfallwirtschaft Seit jeher spielt die Beseitigung von Abfällen in der Zivilisationsgeschichte eine große Rolle. Überall dort, wo große Siedlungen und Städte entstehen, ist die Trennung von Wohnen und Abfallentsorgung vor allem für die Gesundheit einer Stadt und ihrer Bevölkerung von entscheidender Bedeutung.9 In den letzten 70 Jahren hat sich aufgrund des rasant steigenden Abfallaufkommens und der Knappheit von natürlichen Ressourcen die Wahrnehmung von »Abfällen« gewandelt. Stand anfangs noch die reine Beseitigung im Zentrum, rückten nach und nach Themen wie Kreislaufwirtschaften und hierarchische Abfallentsorgung (Vermeidung, Verwertung, Behandlung, Ablagerung) in den Vordergrund (europäische Gesetzgebung – Richtlinie 2006/12/EG). Grundsätzlich sollte das Ziel sein, das Abfallaufkommen so gering wie möglich zu halten und Abfälle zu vermeiden. Ist eine Abfallvermeidung nicht möglich, kommt der Verwertung von Abfällen und damit der Re-

4.4 — Ökologie

duktion von Stoffströmen durch Recycling eine entscheidende Bedeutung zu. Hierbei spielen Wertstoffsammelsysteme (z. B. Altglas) eine wesentliche Rolle. Grundsätzlich finden verschiedene Konzepte Anwendung: Ein Ansatz besteht darin, Abfälle gemäß ihrer Materialität und, wenn möglich, sortenrein zu erfassen (spezielle Kunststoffe, Glas etc.), alternativ gibt es die Möglichkeit, eine Vielzahl von Stoffen zusammenzufassen.10 Die Vorteile eines getrennten Sammelsystems sind der verringerte Sortieraufwand und die hochwertige Entsorgung, die Nachteile liegen in den höheren Kosten, dem größeren Aufwand und dem erhöhten Transportbedarf. Welche Vorteile die Sammelsystem im Einzelnen gegenüber anderen aufweisen, muss detailliert unter Einbeziehen lokaler Gegebenheiten ermittelt werden. Ist ein Recycling der Materialien wirtschaftlich oder ökologisch nicht sinnvoll, sind eine thermische Verwertung, eine mechanischbiologische Abfallbehandlung oder letztliche eine Deponierung denkbar.

Maßstabsebene Stadt und Quartier Da die Komplexität von Stoffströmen aufgrund ihrer steigenden Anzahl und in Abhängigkeit von der Größe des Stadtgebiets stark zunimmt, ist es sinnvoll, Potenziale von Stoffströmen zunächst in kleineren Einheiten wie Stadtquartieren zu betrachten. Der Grad der Unterteilung ist dabei sinnvoll auf die Gegebenheiten abzustimmen. Grundsätzlich bietet sich bei größeren Städten eine Untergliederung in Wohnblock, Stadtteil und Gesamtstadt an (Abb. 3).

Stadt- und quartiersinterne Kreislaufführung Im Hinblick auf effiziente Rohstoffversorgung und optimierte Stoffströme kommt der stadtinternen Kreislaufführung eine wichtige Rolle zu. Auf der Maßstabsebene des Quartiers wird z. B. der Stofffluss elektrische Energie dezentral, u. a. durch Photovoltaik oder Blockheizkraftwerke (BHKW), erzeugt. Um eine möglichst hohe Eigennutzung des Stroms zu gewährleisten, bieten sich Systeme mit Verbrauchersteuerung (»Energiebutler«11) an. Hierbei werden je nach lokaler

Stromproduktion regelbare elektrische Verbraucher an- bzw. abgeschaltet (Elektroautos, Kühlschränke, Waschmaschinen etc.), um Spannungsspitzen abzumildern und Stromproduktion und -bedarf weitestgehend aufeinander abzustimmen. Ist eine direkte Nutzung nicht möglich, können die Überschüsse entweder zwischengespeichert oder in andere Quartiere, Stadtteile oder Gebiete exportiert werden.12 Bei der Nutzung lokaler thermischer Energiequellen (Abwärme aus industriellen Prozessen, BHKW etc.) ergeben sich ebenfalls solche Synergieeffekt. Durch den Zusammenschluss mehrerer Gebäude über ein Nahwärmenetz ist es zudem möglich, die haustechnischen Anlagen größer und damit effizienter zu dimensionieren. Das quartiersinterne Wassermanagement kann abhängig von den lokalen Gegebenheiten ebenfalls eine Möglichkeit zur Optimierung der Stoffströme bieten. Durch Regenwassergewinnung und -speicherung vor Ort lässt sich ein Teil des benötigten Trinkwassers für Toilettenspülung, Waschen etc. einsparen. Grundsätzlich bietet eine Kaskadennutzung von Wasser (Regenwasser, Grauwasser, Schwarzwasser) großes Einsparpotenzial.13 Die lokale Produktion von Lebensmitteln stellt eine weitere Möglichkeit dar, Stoffströme zu minimieren, da bei der Lebensmittelproduktion in der Stadt (z. B. Urban Farming, Vertical Farming) lange Transportwege entfallen.14 Aufgrund der hohen innerstädtischen Dichte und anderer Gegebenheiten lassen sich diese Potenziale unter Umständen nicht oder nur teilweise nutzen. Beispielsweise beschränkt sich in der Stadt die Nutzung von Photovoltaik wegen der Ausrichtung und der Verschattung durch benachbarte Gebäude auf eine geringe Anzahl geeigneter Dachflächen. Andererseits bietet die hohe Dichte in Städten andere Möglichkeiten wie z. B. Fernwärme und lokales Strommanagement. JBÖ, JG, BW

Reduzierung von Stoffströmen in Außenräumen Das Themengebiet Stoffströme schlägt sich gleichermaßen in den verschiedenen Disziplinen am Bau nieder. Insbesondere im Zusammenhang mit nachhaltigen Stadtquartieren bedarf es daher auch ihrer Betrachtung im Bereich der Außenräume und Außenanlagen. Zu den ökologischen Zielen des nachhaltigen Bauens gehört neben der Schonung der natürlichen Ressourcen wie Boden, Wasser und Rohstoffe

147

Wohnblock

Stadtteil

Abb. 3

Abb. 2 städtebauliche Lage des Quartiers KasselOberzwehren (D) Abb. 3 Untergliederung einer Stadt

10 Vogt 2010 11 Modellstadt Mannheim 2012 12 BDA 2012 13 Umweltbundesamt 2005 14 Hendrickson 2012

Stoffströme

Stadt

148

Kapitel 4 — Handlungsfelder

auch die Bewahrung der fossilen Energiequellen. Wie bereits erläutert, ist neben der Senkung des Gesamtprimärenergiebedarfs bei einer nachhaltigen Entwicklung der Anteil erneuerbarer Energien am Gesamtenergiebedarf zu erhöhen. Dies lässt sich im Außenraum u. a. durch eine effiziente Außenraumbeleuchtung oder eine nutzungsorientierte und tageslichtabhängige Lichtsteuerung erreichen. Ein weiteres Ziel ist die Reduzierung des Trinkwasserverbrauchs und des Abwasseraufkommens. In Bezug auf den Außenraum sind hierfür ein hoher Anteil an versickerungsfähigen Flächen wie z. B. Grünflächen und teilversiegelte Flächen sowie die Nutzung von Niederschlagswasser oder aufbereitetem Grauwasser für die Grünflächenbewässerung anzustreben, zudem die Umsetzung von wassertechnischen Anlagen wie Mulden, Rigolen, Zisternen etc. Im Hinblick auf die Reduzierung von Stoffströmen lässt sich folgender Maßnahmenkatalog erstellen: • Nutzung der zur Verfügung stehenden (regionalen) oberirdischen und unterirdischen Naturgüter, Rohstoffe und Gegebenheiten (Holz, Gesteine, Bäume, Gewässer etc.), um zu importierende bzw. zu exportierende Stoffströme gering zu halten • sparsame und optimale Nutzung der zur Verfügung stehenden Flächen (z. B. Brachflächenrecycling) und damit verbunden Verringerung des Abraumaufkommens • Abfallvermeidung geht vor Inverkehrbringen und Kreislaufwirtschaft • Vermeidung städtebaulicher Barrierebildung durch eine gute äußere Erschließung (Stadt der kurzen Wege, Aktivierung und Intensivierung des Fußgänger- und Radverkehrs sowie des ÖPNV) • Minimierung befestigter Flächen mittels einer durchdachten inneren Erschließung (Stellplatzinfrastruktur, Nutzung vorhandener Synergien) • aktiver Bodenschutz durch geringe Flächenund Unterflurversiegelungen, Vermeidung von Verdichtungen, Gefügestörungen und Einträge in den Boden • Erstellen von Biodiversitätskonzepten, Erhalten vorhandener Vegetationsstrukturen • dezentrale Regen- und/oder Abwasserbehandlung und Nutzung lokaler Wasserquellen

Stoffströme von Materialien 15 BMVBS 2012, S. 24f., 27ff.

Die bei der Herstellung, dem Transport und der Bearbeitung von Baustoffen freigesetzten Stoffe

und Emissionen können lokal und global schädigende Wirkungen haben wie die Begünstigung des Treibhauseffekts, den Ozonschichtabbau, die Versauerung und Überdüngung des Bodens, bodennahe Ozonbildung etc. Diese Einflüsse lassen sich für den Baubereich u. a. über Ökobilanzierungen nachweisen. Witterungs- und verfahrensbedingte Abträge von schädlichen Stoffen z. B. aus Holz- oder Korrosionsschutzmitteln, Farben und Klebern stellen ein weiteres Risiko für Gewässer, Böden und Luft dar. Eine Vermeidung bzw. Substitution solcher Stoffe, Gemische und Erzeugnisse ist anzustreben und zieht gleichzeitig eine Verringerung von Stoffströmen nach sich. Einen wichtigen Beitrag zum Ausgleich der schädigenden Einflüsse können Grünflächen, Fassaden- und Dachbegrünungen leisten. Von Bedeutung ist hierbei die Bindung des Treibhausgases CO2. In der Folge wird durch die Vegetation eine höhere Verdunstungskühlung erreicht, das Mikroklima verbessert und notwendige Stoffströme aufgrund eines erhöhten Kühlbedarfs in Gebäuden vermieden. Zudem führt die Verwendung von Materialien mit geringer solarer Absorption zur Verringerung des sogenannten Heat-IslandEffekts. Helle Oberflächen mit hohem Rückstrahlvermögen (Albedo, siehe S. 132) sollten den Vorzug erhalten vor dunklen Flächen, die sich stark aufheizen und diese Wärme speichern. Maßnahmen zum Schutz der Biodiversität wie die Beachtung von Schutzgebieten und der Erhalt von Bestandsvegetationen sind ebenso anzustreben wie die Bereitstellung neuer Vegetationszonen im Zuge einer nachhaltigen Außenanlagenplanung. Ziel ist der Erhalt, der Schutz und die Weiterentwicklung der Vegetation zur Minimierung des Eingriffs in das Ökosystem und, damit verbunden, eine Reduzierung von Stoffströmen. Um Transporte und hiermit einhergehende negative Umweltwirkungen zu vermeiden, sollten möglichst regionale Materialien verwendet werden. Insbesondere bei Naturstein und Natursteinprodukten werden oft weite Transportwege zugunsten niedriger Preise in Kauf genommen. Ebenfalls zu bevorzugen sind Hölzer und Holzprodukten aus regionaler Forstwirtschaft, wobei grundsätzlich auch nur solche zum Einsatz kommen sollten, für die der Lieferanten durch Vorlage eines Zertifikats (FSC, PEFC oder vergleichbar) die geregelte, nachhaltige Bewirtschaftung des Herkunftsforsts nachweisen kann. Die regionale Holznutzung verringert den Transport und die Lagerung dieser Rohstoffe und minimiert somit direkt diesen Stoffstrom.15

4.4 — Ökologie

Zur Reduzierung von Stoffströmen trägt auch eine einfache Wartung relevanter Teile der Außenanlagen, d.h. ohne technische Hilfsmittel, bei. Materialien sollten leicht ersetzbar oder austauschbar und die Anlage einfach zu bewirtschaften sein. Eine optimale Instandhaltung sorgt dafür, dass Bauteile und Materialien ihre maximal mögliche Lebensdauer erreichen und führt damit zu geringeren Lebenszykluskosten und Umwelteinwirkungen. Bereits in der Planung sollte die Demontage und der Rückbau von Anlagen nach ihrer Nutzung Berücksichtigung finden. Somit empfiehlt es sich, möglichst Materialien mit hohem Wiederverwendungs- und Recyclingpotenzial sowie abfallarme Konstruktionen, die sich sortenrein zurückbauen lassen, vorzusehen. Für die Wiederverwendung eignen sich vor allem Bodenbeläge wie Pflastersteine und Platten in ungebundener Bauweise, die sich durch Ausbau und Einbau an anderer Stelle direkt wieder einsetzen lassen (direkte Wiederverwendung). Indirekt, d. h. durch Aufbereitung (Recycling, Upcycling, Downcycling) wiederverwertbar, sind z. B. Beton, Ziegel und Asphalt. Recycelte Baustoffe finden als Kiese oder Schotter vor allem im Oberbau von Platz- und Wegeflächen oder als Gesteinskörnung bei der Herstellung von Betonprodukten Anwendung. Ziegelrecyclingbaustoffe werden beispielsweise als Pflanzsubstrat bei Dachbegrünungen eingesetzt. Bei der Verwendung von Recyclingbaustoffen ist die Umweltverträglichkeit und Zulässigkeit für die jeweilige Nutzung im Einzelfall zu prüfen. Auch weisen wiederverwertete Baustoffe unter Umständen aufgrund des Recyclingprozesses höhere Emissionen auf als Material aus der Primärherstellung.16 Die aufgeführten Maßnahmen führen direkt oder indirekt zu einer Reduzierung von Stoffströmen, indem sie Ressourcen schonen und Installationen sowie Bau- oder frühzeitige Änderungsmaßnahmen unnötig machen oder deren Lebenszyklus verlängern. Natürliche (Roh-)Stoffe können meist unproblematisch in Stoffkreisläufe zurückgeführt werden. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass der Dauerhaftigkeit von Materialien und Konstruktionen eine besondere Bedeutung zukommt. Langlebige Materialien müssen seltener erneuert werden, dadurch verursachen sie weniger Kosten, Energieverbrauch und Abfall und schonen gleichzeitig die Ressourcen für Neumaterialien – zudem sind langlebige Materialien zumeist pflegeleichter. Vorliegende Ökobilanzierungen können diese Aspekte belegen. TH

149

Maßstabsebene Gebäude und Infrastruktur Während des gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes oder einer Infrastruktureinrichtung werden eine Vielzahl unterschiedlicher Materialien und letztendlich Ressourcen benötigt. Für das Ziel, die über den gesamten Lebenszyklus – von der Herstellung über die Nutzung und Instandhaltung bis hin zum Lebensende und Rückbau – notwendigen natürlichen Ressourcen so gering wie möglich zu halten, muss zuerst der Ressourcenbegriff näher definiert und ein geeignetes Maß für die Quantifizierung einer Ressourceneffizienz gefunden werden. Ressourcen bzw. der Ressourceneinsatz lassen sich in diesem Zusammenhang in Kosten als ökonomisches Maß sowie in natürliche Ressourcen unterteilen. Natürliche Ressourcen umfassen abiotische und biotische Primärrohstoffe, Energieressourcen, Wasser, Flächen und Boden, Biodiversität sowie Ökosysteme als Senken.17 Für den Begriff Ressourceneffizienz gibt es derzeit keine allgemeingültige Definition, daher wird hier die Definition des Bundesumweltamts zugrunde gelegt: »Ressourceneffizienz ist das Verhältnis eines bestimmten Nutzens oder Ergebnisses zum dafür notwendigen Ressourceneinsatz.«18 Die Methoden der Ökobilanzierung (Life Cycle Assessment – LCA) und der Lebenszykluskostenrechnung (Life Cycle Costing – LCC) bieten die Möglichkeit, eine Vielzahl der genannten Aspekte zu berücksichtigen. Hierbei können sowohl die Emissionen und Auswirkungen auf die Umwelt als auch die jeweiligen Kosten über den gesamten Lebenszyklus dargestellt werden. Aufgrund der vielschichtigen Betrachtungsweise im Hinblick auf Ressourceneffizienz ist es schwierig, allgemeine Aussagen zu treffen. Dennoch sollen im Anschluss einige Möglichkeiten aufgezeigt werden, für deren Gliederung das Konzept der Nachhaltigkeit nach Huber19 auf die Ressourceneffizienz übertragen wurde: • Materialeinsparung (Suffizienz): Grundsätzlich ist es sinnvoll, den Materialeinsatz am Gebäude und den Energieverbrauch während der Nutzung so gering wie möglich zu halten. Dadurch ist es möglich, sowohl natürliche Ressourcen als auch Kosten einzusparen. Zu bedenken ist allerdings, dass sich bei einem verringerten Materialeinsatz oder durch Ver-

16 BMVBS 2012, S. 38f. 17 Müller 2012 18 UBA 2012, Glossar zum Ressourcenschutz 19 Huber 1995

150

Kapitel 4 — Handlungsfelder

20 Fraunhofer ISI 2010 21 BMBF 2013 22 FOSTA 2013

Weitere Informationen • Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF): Richtlinien zur Fördermaßnahme »r³ – Innovative Technologien für Ressourceneffizienz. Strategische Metalle und Mineralien«; www.bmbf.de/foerderungen/15444.php • Fraunhofer-Institut für Chemische Technologie (ICT): Übermorgen-Projekt »Molecular Sorting«. Perfekt getrennt – ressourcenschonend produziert; www.fraunhofer.de/de/fraunhoferforschungsthemen/produktion/energie-undrohstoffsparende-produktion/molecular-sorting. html • Karlsruher Institut für Technologie: Ganzheitliche Bewertung von Stahl- und Verbundbrücken nach Kriterien der Nachhaltigkeit (NaBrü); http://stahl.vaka.kit.edu/713.php • Rebernig, Gerd: Methode zur Analyse und Bewertung der Stoffflüssen von Oberflächen einer Stadt. Wien 2007 • Torio, Herena; Schmidt, Dietrich (Hrsg.): Report ECBCS Annex 49. Low Exergy Systems for HighPerformance Buildings and Communities. 2011 • Sciubba, Enrico: A Revised Calculation of the Econometric Factors α and β for the Extended Exergy Accounting Method. In: Ecological Modelling, Bd. 222, 2011, S. 1060–1066 • Sciubba, Enrico; Bastianoni, Simone; Tiezzi, Enzo: Exergy and Extended Exergy Accounting of Very Large Complex Systems with an Application to the Province of Siena, Italy. In: Journal of Environmental Management, Bd. 86, 2008, S. 372–382

wendung alternativer Materialien die Ressourceneffizienz auch verschlechtern kann. Der Gesamtressourcenverbrauch kann z. B. bei der Anwendung von Leichtbaumaterialien aufgrund der energieintensiveren Vorkette und der erhöhten Kosten steigen. Hier gilt es, nach eingehender Betrachtung abzuwägen. • Steigerung der Effektivität von Anlagen oder des Gesamtsystems Gebäude (Effizienz): Wichtig ist, den Ressourceneinsatz über den gesamten Lebenszyklus des Gebäudes zu betrachten, um teilweise gegenläufige Tendenzen von Maßnahmen ganzheitlich bewerten zu können. Beispielsweise steigt bei zusätzlicher Dämmung der Außenwand zwar der Materialeinsatz und damit der Ressourcenverbrauch während der Herstellung des Gebäudes, dieser wird aber bis zu einem gewissen Punkt durch die Einsparungen während der Nutzungsphase kompensiert. • Kreislaufwirtschaft und Ersatz nicht regenerativer durch regenerative Ressourcen (Konsistenz): Der Ersatz von nicht erneuerbaren durch erneuerbare Ressourcen kann zu einer erhöhten Ressourceneffizienz führen, erreicht diese aber nicht zwingend. Beispielsweise sinkt die Effizienz bestehender Heizsysteme durch die Umstellung auf erneuerbare Energien oft und muss durch einen erhöhten Bedarf wieder gesteigert werden. Außerdem kann sich auch auf der Kostenseite der Einsatz von erneuerbaren Energien negativ auf die Ressourceneffektivität auswirken. Daher ist es nötig, diese Zusammenhänge von Fall zu Fall detailliert zu betrachten und abzuwägen. Entscheidend bei der Betrachtung von Stoffströmen und Ressourceneffizienz ist, dass nicht nur ein Bereich der Nachhaltigkeit optimiert, sondern ein ganzheitlicher Verbesserungsansatz angestrebt wird. Insgesamt sollte Ressourceneffizienz immer Teil einer Nachhaltigkeitsstrategie sein. Entsprechend dem Ressourcenbegriff sind eine Vielzahl von Einzelfaktoren relevant, die in einen größeren Zusammenhang einzuordnen sind, um ganzheitlich bewertet und interpretiert werden zu können. Ähnlich wie bei Gebäuden sind bezüglich ressourceneffizienter Infrastrukturen eine Vielzahl von Teilaspekten zu betrachten, um zu einer ganzheitlichen Gesamtaussage zu gelangen. Derzeit wird in einigen Forschungsprojekten der Gesamtzusammenhang von Ressourceneffizienz näher erforscht. Vor allem die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten

Forschungsprojekte »r2«20 und »r3«21 beschäftigen sich intensiv mit diesem Thema. Beispielsweise wird in dem Projekt »r3« der Aspekt untersucht, wie Infrastrukturen zu planen und zu bauen sind, um in Hinblick auf »Urban Mining« beim Rückbau dieser Infrastrukturen möglichst viele der eingesetzten Ressourcen (z. B. Kupfer) wiedergewinnen zu können. Weiterhin werden aktuell einige Forschungsvorhaben zu speziellen Teilbereichen der Infrastruktur gefördert wie z. B. »NaBrü« und »NaBrüEis«,22 die die ganzheitliche Bewertung von Stahl- und Verbundbrücken sowie Eisenbahnbrücken nach Kriterien der Nachhaltigkeit untersuchen. Dadurch sollen Erkenntnisse über die Stoffströme und damit den Ressourcenverbrauch von Brücken gewonnen werden und in die zukünftige Planung von Brücken einfließen. Daran lässt sich erkennen, dass auch in Bezug auf Infrastruktureinrichtungen die Thematik der Stoffströme immer mehr an Bedeutung gewinnt. Wichtige Aspekte sind hierbei die verwendeten Baumaterialien sowie deren Recyclingfähigkeit.

Ausblick Zukünftig wird der Betrachtung von Stoffströmen mehr Bedeutung zukommen, da hier ein sehr großes Optimierungspotenzial im Kontext Stadt vorhanden ist. Insbesondere in Anbetracht der Kostensteigerungen und der sinkenden Verfügbarkeit von Rohstoffen, der Rohstoffsicherheit und der Auswirkungen auf die Umwelt spielen Maßnahmen und Technologien eine immer größere Rolle, die den Materialbedarf reduzieren oder die Rückgewinnung von Rohstoffen aus Produkten ermöglichen. Besonders der Versuch, lokale Stoffstromquellen und -senken miteinander in Einklang zu bringen, wird zunehmend im Fokus von Stadt- bzw. Quartiersplanern stehen. Nur so können unnötige Verluste vermieden und der Ressourcenverbrauch reduziert werden. Für die Planung eines Stadtquartiers oder Gebäudes wird es demnach immer wichtiger, frühzeitig ein integrales Planungsteam zusammenzustellen, da Aspekte wie die richtige Materialauswahl oder die Abstimmung der verschiedenen Gewerke zunehmend an Bedeutung gewinnen. Denn gerade in der Planungsphase sind die Stoffströme, die in der Herstellungs- und Nutzungsphase anfallen, am besten zu beeinflussen, später ist eine Einflussnahme schwierig bis gar nicht mehr möglich. JBÖ, JG, BW

4.4 — Ökologie

151

4.4.4

Mobilität Jü r gen Laukemp er, Antonella Sgobba

D

ie Mobilität von den Ölreserven unabhängig zu machen, gilt als eines der Ziele einer Zukunftsvorstellung, die in diesem Sinn als postfossil definiert wird. Bestrebungen in diese Richtung zeichnen sich bereits ab. Gleichzeitig ist im Zeitalter der Informationstechnologie und der Globalisierung aber noch ein weiteres Ziel maßgeblich: Vernetzt zu sein, getreu dem Motto »Ich nehme teil, also bin ich«, ist zu einem »Grundbedürfnis« geworden. Dieses wird nicht nur durch die immateriellen Netze des Internets befriedigt, sondern auch durch ein immer effizienteres Infrastrukturnetzwerk, in dem Fern- und Nahverkehr eng miteinander verbunden sind. Und so gilt diese Verknüpfung heute als Standortvorteil für Städte, die im Wettbewerb bestehen sowie global und lokal präsent sein möchten. »Die Stadt ist kein Baum«,1 wie etwa in der Moderne propagiert wurde, sondern ein enges Geflecht von Wegen, Straßen, Achsen, Plätzen – und nun auch von digitalen Infrastrukturen. Die Welt steht heute aufgrund zahlreicher Herausforderungen vor einem epochalen Paradigmenwechsel, der eine fachübergreifende Diskussion auf allen Ebenen (sozial, politisch, technologisch und ökologisch) und die Mitwirkung aller Teilhaber am Prozess für die Gestaltung einer nachhaltigen Mobilität fordert – von Verwaltungen und Politikern über Infrastrukturdienstleister, Energieanbieter, Finanzinstitute und Automobilhersteller bis hin zu den Stadtbewohnern. Wie die Mobilität der Post-Oil-City aussehen wird, bleibt offen. Die Zukunft der urbanen Mobilität liegt jedoch sicher in der Vernetzung, der Integration vielfältiger Angebote, der Entwicklung emissionsarmer und energiesparender Lösungen sowie in einer anpassungsfähigen und flexiblen Verkehrsinfrastruktur.

Verkehrsminimierung Ein Umdenken hat in vielen Städten und in den Fachkreisen bereits begonnen. Man nimmt Ab schied von der autogerechten Stadt und setzt sich die umweltgerechte Stadt und die umweltgerechte Mobilität als Ziel. Hat bisher der Verkehr das Bild der Stadt geprägt, so wird heute eine Planung der Stadt und der Mobilität im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung gefordert (Abb. 1, S. 152).

Planerische und gestalterische Maßnahmen Städte bemühen sich, durch planerische und gestalterische Maßnahmen die negativen Effekte des Verkehrs zu minimieren oder zu vermeiden und gleichzeitig die Mobilität aller Bewohner zu gewährleisten und zu verbessern sowie die Versorgung der Stadt zu sichern. Dabei kommen unterschiedliche Lösungsansätze zum Einsatz, die sich auf neue Leitbilder stützen: die kompakte Stadt, die Stadt der kurzen Wege, die gemischte Stadt. In seinem Manifest für die nachhaltige Stadtplanung bezeichnet etwa Albert Speer Funktionsmischung und Dichte als wichtige Säulen der umweltgerechten Stadtentwicklung.2 Der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft ermöglicht es, Funktionen, die in der Moderne getrennt waren, erneut zu bündeln. Zwischen Wohnen und Arbeiten könnten kurze Wege geschaffen und somit die negativen Effekte der Pendlergesellschaft vermieden werden. In der Stadt zu arbeiten und auf dem Land zu leben, gilt in weiten Teilen der Bevölkerung immer noch als Wunschvorstellung, nicht zuletzt, weil es in den wichtigen Zentren immer schwieriger

1 Alexander 1967 2 Speer 2011

152

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Verkehrserzeugung

Verkehrsverteilung

Verkehrsmittelwahl

Verkehrsumlegung

Verkehrsmittel?

Route?

A B C

Aktivitätsbedürfnis

Ziel?

Modelle Daten

Raumstruktur

ungerichtete Verkehrsnachfrage

gerichtete Verkehrsnachfrage

Verkehr vermeiden

Modal Split

Verkehr verlagern

Verkehrsstärken Verkehr verträglich gestalten

Abb. 1 3 4 5 6 7 8

SRU 2012 Difu 03/2011 Stockburger 2012 Stadt Freiburg 2008 Breitinger 2012 Frey 2011; www.vauban. de/info/verkehrsprojekt/ k1.html 9 Fraunholz 2002, S. 62

[%]

nicht motorisierter Individualverkehr (Fußgänger, Radfahrer)

ÖPNV motorisierter Individualverkehr

100 90

34%

37%

32%

33%

6%

5%

62%

62%

80 70 60

9% 15%

50 40 30

57%

48%

20 10 0 gesamt

Kern- verdichtete ländliche städte Kreise Kreise

[%]

Abb. 2 100 90 80

51%

45%

34%

70

27%

13%

60 22%

50 26%

40 30

23%

20 10

26%

29%

44%

60%

Innenstadt

Innenstadtrand

Stadtrand

Eingemeindung

0

Abb. 3

wird, erschwinglichen Wohnraum zu finden. Dies erzeugt jedoch noch mehr Verkehr. Eine Verdichtung der Stadt als Gegenentwurf zur Suburbanisierung kann den Pendelverkehr hingegen deutlich senken. Der Modal Split des Personenverkehrs, also die Verteilung des Verkehrsaufkommens auf verschiedene Verkehrsmittel, zeigt, dass der Anteil des motorisierten Individualverkehrs (MIV) in Kernstädten niedriger ist als in verdichteten oder ländlichen Kreisen (Abb. 2).3 Hinzu kommt, dass der MIV-Anteil vom Stadtzentrum zum Stadtrand zunimmt (Abb. 3).4 Auch der Motorisierungsgrad hängt von der Einwohnerdichte ab. In Städten mit mehr als 1 Million Einwohner liegt die Pkw-Dichte bei 322 Pkws/ 1000 Einwohner, während Städte mit weniger als 500 000 Einwohnern einen Motorisierungsgrad von 498 Pkws/1000 Einwohner aufweisen.5 Den Anteil des MIV im Modal Split zu senken, ist eine der Aufgaben, die sich viele Städte für die Zukunft gestellt haben. Die umwelt- und fahrradfreundliche Stadt Freiburg möchte bis 2020 in der Innenstadt eine Senkung des MIV-Anteils auf bis zu 28 % zugunsten des Umweltverbunds (Fuß-/ Radverkehr und ÖPNV) erreichen. Dafür wurden im Verkehrsentwicklungsplan (VEP) 2020 konkrete Maßnahmen formuliert, die vom Ausbau des ÖPNV und der Radwege über Verkehrsberuhigung und Bündelung des Verkehrs bis hin zu Parkraumbewirtschaftung reichen.6 Für Radfahrer wurden in Freiburg 500 km Radwege gebaut sowie eine Fahrradstation am Hauptbahnhof mit Stellplätzen für rund 1000 Fahrräder, Fahrradverleih und Reparaturwerkstatt eingerichtet. Des Weiteren hat die Stadt bereits 1991 eine Umweltschutzkarte eingeführt, heute RegioKarte genannt, die alle ÖPNV-Verkehrsmittel in einem Tarif vereint. Sind Geschwindigkeitsbeschränkungen für Wohngebiete weitgehend akzeptiert und angenommen, so wird der Vorschlag, Tempo-30-Zonen in der Stadt flächendeckend umzusetzen, aktuell kont-

rovers diskutiert. Befürworter heben Sicherheitsargumente sowie die Senkung der Lärmemissionen hervor, Gegner betonen indess, dass die Verlangsamung des städtischen Verkehrs zu Engpässen und Staus führen und Ausweichverkehr erzeugen würde.7 Fällt die Priorisierung im Verkehrsnetz weg, indem z. B. überall gleiche Geschwindigkeiten erlaubt sind, ist fast zwangsläufig wieder mit einer vermehrten Belastung der Wohngebiete zu rechnen, da vorwiegend der schnellste Weg gewählt wird. Auch ein Verbot des Pkw-Verkehrs würde nur in Wohn- und Mischgebieten und auf Quartiersebene funktionieren. Als Beispiel gilt das Vauban-Viertel in Freiburg, in dem das Konzept des weitgehend autofreien Wohnens als flexibles und gemischtes Modell aus stellplatzfreiem und autofreiem Wohnen umgesetzt wurde. Die Haushalte, die sich per Vertrag verpflichten, ohne Auto zu leben, können inzwischen auf alternative Mobilitätsangebote (ÖPNV und Carsharing) zurückgreifen. Für die stellplatzfreien Haushalte entstanden Sammelgaragen am Rand des Quartiers. Das Viertel ist nicht komplett verkehrsfrei, sondern zum großen Teil verkehrsberuhigt. Durch dieses Verkehrskonzept und das Leitbild der Stadt der kurzen Wege ließ sich die Aufenthalts- und Umweltqualität erheblich verbessern. Aktuell gilt das Vauban-Viertel als einer der kinderreichsten Bezirke Freiburgs, aber auch dort werden die Menschen älter und somit oftmals auf ein Auto angewiesen sein. Inwiefern das Konzept des Vauban-Viertels flexibel genug ist, um sich an den demografischen Wandel anzupassen, wird sich zeigen.8 Eine umweltgerechte Orientierung in der Verkehrsplanung ist auch in den deutschen Regelwerken, die sich mit der Gestaltung des Straßenraums befassen, festzustellen. Waren die ersten, 1905 in Deutschland aufgestellten Stoppschilder Gebote für Fußgänger, die sie bei der Straßenüberquerung vor den Motorwagen warnten,9 so

4.4 — Ökologie

werden in den »Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen« (RASt06) von 2006 die Ansprüche des Fußgänger- und Radverkehrs sowie des ÖPNV bei der Gestaltung der Straßen in gleichem Maße beachtet. Besonders plädiert dieses Regelwerk für »eine ausgewogene Berücksichtigung aller Nutzungsansprüche an den Straßenraum« unter Rücksichtnahme auf städtebauliche und verkehrstechnische Merkmale sowie gestalterische und ökologische Belange. Die Aufenthaltsqualität des Straßenraums spielt dabei eine wesentliche Rolle. Der Straßenquerschnitt wird nicht nur durch die Verkehrsmenge bestimmt, Ziel ist ein ausgeglichenes Verhältnis des Verkehrsraums und des Raums für Fußgänger, Radfahrer sowie für die Erdgeschossnutzungen der flankierenden Gebäude. So soll die Fahrbahnbreite 40 % und die Seitenraumbreite jeweils 30 % des Raums in Anspruch nehmen.10 Die Verkehrsdichte und den Parkraumbedarf in der Innenstadt zu reduzieren, ist ein weiteres erstrebenswertes Ziel, das sich z. B. mit der Einrichtung von Park-and-Ride-Flächen (P+R) am Stadtrand erreichen lässt. Die strategische Positionierung dieser Parkflächen entlang der wichtigsten Zufahrtsstraßen und an den Schnittstellen mit ÖPNV-Haltestellen könnte zusammen mit weiteren Maßnahmen wie einem alternativen Mobilitätsangebot, teureren Parkgebühren für Dauerparken in der Stadt oder einer Citymaut den Parkraumbedarf in der Stadt um 80 % senken.11 Ein reines Verbot von Autoverkehr im Innenstadtbereich würde zumindest zum Teil auch zu einer Verschiebung von Wohnen, Arbeiten und Einkaufen in andere Bereiche führen – Besorgungen im Einkaufszentrum auf der »grünen Wiese«, Verlagerung von Betrieben und Dienstleistern, die oft auf ein Auto angewiesen sind. Ein stadtübergreifendes Parkplatzmanagement hingegen könnte die Auslastung von Parkplätzen optimieren und sie abends als Dauerparkplätze für Einwohner anbieten, während sie tagsüber von den Beschäftigten genutzt werden. Auch Quartiersgaragen weisen einen hohen Nutzungsgrad auf, da sie die unterschiedlichen Schwankungen während des Tages, der Woche und des Jahres berücksichtigen können. Die Minimierung des städtischen Autoverkehrs hat weitere positive Auswirkungen, wie z. B. die Senkung der CO2- und Lärmemissionen und des Ressourcenverbrauchs sowie eine Verbesserung der Lebensqualität, was wiederum die Attraktivität der Städte erhöht. Viele Städte haben diese positiven Rückkopplungseffekte erkannt und darauf aufbauend eigene Strategien entwickelt.

Der Rückbau des Verkehrs und die Wiedereroberung des öffentlichen Raums sind Maßnahmen, die bereits in vielen europäischen Städten umgesetzt wurden. Der dänische Architekt Jan Gehl plädiert dafür, die Stadt von Autos zu befreien und dadurch die öffentlichen Räume als Orte des sozialen Lebens zurückzuerobern. Kopenhagen ist ein gutes Beispiel dafür. In der dänischen Hauptstadt wurden in den letzten 50 Jahren viele Straßen und Plätze des Stadtzentrums zu Fußgängerzonen umgestaltet, außerdem stieg zwischen 1962 und 2000 die Fläche der verkehrsberuhigten Bereiche und Fußgängerzonen von 15 800 m2 auf fast 100 000 m2.12 Darüber hinaus ist Kopenhagen eine der fahrradfreundlichsten Städte überhaupt. Im Jahr 2011 fuhren 35 % der Pendler mit dem Fahrrad, bis 2015 soll dieser Anteil auf 50 % gesteigert werden.13 Weitere Städte haben ähnliche Wege eingeschlagen. Unter dem Motto der »mobilité durable« verfolgt Straßburg seit den 1990er-Jahren eine Strategie, die auf nachhaltige Mobilität und Aufwertung des öffentlichen Raums gleichzeitig setzt. Die Stadt hat 1994 in der Innenstadt eine Straßenbahn wieder eingeführt (Abb. 4) und eine ehemalige Hauptverkehrsstraße im Stadtzentrum zurückgebaut. Bei den Haltestellen und der Integration der Tramlinie in den öffentlichen Raum wurde sehr viel Wert auf die Qualität von Materialien und Design gelegt (Abb. 5). Die sechs Tramlinien auf aktuell 55,5 km oberirdischen Trassen und die 560 km Radwege sowie seit 2010 das Bikesharing »Velhop« mit 4400 Fahrrädern sind nur einige der Maßnahmen. Unter dem Motto »Strasbourg, une ville en marche« strebt die Stadt bis 2020 eine weitere Förderung der Mobilität zu Fuß für Strecken unter 1 km an. Um dieses Ziel zu erreichen, wird die Gestaltung des Straßenraums weiterhin ein wichtiger Aspekt bleiben, um die zu Fuß zurückzulegenden Wege sicherer und attraktiver zu machen.14

Verkehrsmischung »Shared Spaces« ist inzwischen zum feststehenden Begriff geworden, der eine Begegnungszone in innerstädtischen Bereichen beschreibt, für die besondere Regeln gelten. Diese unterscheiden sich etwas von den in der deutschen Straßenverkehrsverordnung (StVO) verankerten Bestimmungen für Fußgängerzonen oder verkehrsberuhigte Bereiche. In Begegnungszonen gilt die Gleichberechtigung aller Verkehrsarten. Der Verkehr soll sich selbst regulieren, ohne Verkehrsschilder und

153

Abb. 4

Abb. 5 Abb. 1 Prinzipien nachhaltiger Mobilität: vermeiden, verlagern und verträgliches Gestalten von Verkehr. Dargestellt anhand des sogenannten Vier-Stufen-Algorithmus der Verkehrsprognose. Abb. 2 Modal Split des Personenverkehrsaufkommens nach Kreistypen Abb. 3 Modal Split in Abhängigkeit von der innerstädtischen Lage (SrV 2008) Abb. 4 Einführung einer Tramlinie in den bestehenden Straßenraum, Straßburg (F) Abb. 5 Place de l’Homme de Fer, wichtige Schnittstelle und Tram-Haltestelle, Straßburg (F) 1994, Guy Clapot

10 RASt06-Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen 11 Meyer 2013, S. 129 12 Gehl/Gemzøe 2006 13 City of Copenhagen 2012 14 Ville de Strasbourg 2011

154

Kapitel 4 — Handlungsfelder

scheint, es richtet sich am Bewegungsmuster der Fußgänger aus und behandelt den Straßenraum als großen Innenraum (Abb. 6).15 AS

Flexiblere Nutzung des Verkehrsraums Abb. 6

15 Schabel 2012

Abb. 6 Shared Space, Exhibition Road, London (GB) Abb. 7 sinkender Energieverbrauch des Verkehrs durch Einsatz von Elektrofahrzeugen. Diese brauchen, wenn sie mit regenerativ erzeugtem Strom betrieben werden, nur ca. ein Viertel der Energie von Benzin- und Dieselfahrzeugen.

Differenzierung der Fahrspuren, die Geschwindigkeit für Fahrzeuge wird beschränkt. Einzig ein Blindenleitsystem gibt Wege für diese Gruppe von Verkehrsteilnehmern vor. Obwohl die Aufwertung der Aufenthaltsfunktion im Vordergrund steht, werden einige Aspekte kritisch gesehen. Die Lösungsansätze eignen sich nur für ein niedriges Verkehrsaufkommen in kleinen Gemeinden oder in überschaubaren innerstädtischen Bereichen. Außerdem ist in Deutschland die rechtliche Verantwortung bei Unfällen noch nicht geregelt. Positiv zu sehen ist hier die flexiblere Nutzung und Teilung eines Straßenraums. Die Urbanisierung fordert eine höhere Gebrauchsfähigkeit des öffentlichen Raums, da immer mehr Menschen diesen Raum zukünftig in Anspruch nehmen werden. Das Konzept des Shared Space ist nicht neu, insbesondere wenn man an die historische Stadt denkt, erlangt aber heute in nordeuropäischen Ländern neue Aktualität, in Deutschland ist es hingegen weniger populär. In London deklarierte die Stadt im Zuge der Olympischen Spiele 2012 die innerstädtische Achse der Museumsmeile, die Exhibition Road, zum Shared Space. Der Straßenraum wurde neu gestaltet und den Fußgängern und Touristen, denen zuvor nur ein Drittel der Straße zur Verfügung stand, eine größere Wichtigkeit zugesprochen. Der Architekt Dixon Jones entwarf ein Karomuster für den Bodenbelag, das der Längsrichtung der Straße zu widersprechen

Ein wesentlicher Faktor für Nachhaltigkeit ist die Minimierung der Verkehrsfläche und damit der Versiegelung sowie die optimale Nutzung der verbleibenden Verkehrsfläche. Ein phasenweiser weiterer Ausbau von Verkehrsflächen sollte nicht nur auf die Straßenlänge, z. B. in neuen Erschließungsgebieten, ausgerichtet sein, sondern aufgrund unterschiedlicher Fahrspuren ebenso auf die Straßenbreiten. Es empfielt sich, diese in einem ersten Schritt nur auf die kurz- bis mittelfristigen Bedürfnisse auszulegen, damit sie sich bei Bedarf später sowohl für den Individualverkehr als auch für den öffentlichen Verkehr problemlos erweitern lassen. Auch stadträumliche Gestaltungsanforderungen machen häufig zusätzliche Flächen notwendig. Daher sollte es stets möglich sein, auch zu einem späteren Zeitpunkt ohne große bauliche Änderung den Verkehrsraum bedarfsgerecht zwischen den einzelnen Verkehrsträgern umzunutzen. Ebenso lässt sich im Bereich des ruhenden Verkehrs der Bedarf an Verkehrsflächen reduzieren. Hier ist ein Umdenken von der individuellen Zuweisung von Parkraum zu einer gemeinschaftlichen Nutzung erforderlich. Viele Garagen werden heute nicht mehr in ihrem ursprünglichen Sinn genutzt, sondern dienen als zusätzlicher Lagerraum, die Fahrzeuge stehen dann oft im öffentlichen Raum. Eine Reduzierung des Flächenbedarfs kann durch gemeinschaftliche Nutzung von Parkflächen erfolgen, z. B. in größeren Wohneinheiten, wobei die gleichzeitige Anwesenheit der Bewohner zu berücksichtigen ist. Eine

4.4 — Ökologie

Elektromobile

Energieverbrauch

45 40 100 35 30

80

Energieverbrauch [%]

Anzahl Fahrzeuge [Mio.]

Benzin- und Dieselfahrzeuge

155

25 60 20 15

40

10 20 5 0

0 2005

2010

2015

2020

2025

2030

2035

2040

2045

2050

2055

Abb. 7

weitere Reduzierung lässt sich durch gemeinsame Nutzung von Parkplätzen für Anwohner und Dienstleistungen bzw. Büros erreichen. Während beim Wohnraum ein Parkraumbedarf hauptsächlich nachts und am Wochenende besteht, ist dies für Büros tagsüber an Werktagen der Fall. Bei solchen Modellen ist sicherzustellen, dass immer ein Mindestmaß an Parkraum für die Bewohner reserviert bleibt, sodass ihnen jederzeit Parkplätze zur Verfügung stehen. JL

Technische Innovationen und Lösungsansätze Technische Innovationen können zur Reduzierung der negativen Effekte des Verkehrs beitragen. Vor allem die Verschmutzung der Umwelt durch Abgase, der Verkehrslärm und die Gefahr von Sach- und Personenschäden durch Unfälle lassen sich hierdurch verringern. Parallel beeinflussen und beschleunigen die technische Entwicklung und die Informationstechnologie zusammen mit den gegenwärtigen Veränderungen in der Gesellschaft die Entstehung neuer Mobilitätskonzepte. Innovative Lösungsansätze für die urbane Mobilität gibt es bereits, deren Einfluss auf die Stadt und das Quartier ist allerdings noch nicht vollständig erforscht.

Entwicklung der Fahrzeugtechnik Der Kraftstoffverbrauch und der Ausstoß von Schadstoffen ist aufgrund der Entwicklung der

Fahrzeugtechnik derzeit der am besten greifbare Aspekt. Gesetzliche Steuerungsmaßnahmen in diesem Bereich (siehe auch Steuerliche und rechtliche Mittel, S. 160f.) haben mitunter auch unerwünschte Nebeneffekte. So führen Verschärfungen der Abgasnormen bei bestehenden Fahrzeugen, die Erlaubnis zur Einfahrt in Städte nur noch mit grüner Plakette oder Abwrackprämien auch dazu, dass Altfahrzeuge in weniger entwickelte Länder exportiert werden, wo sie voraussichtlich noch lange genutzt und anschließend nicht sachgerecht wiederverwertet werden. Dies gilt nicht nur für Pkws und Lkws, sondern auch für Straßenbahnen und Züge. Dennoch überwiegen hier durch eine gesamtheitliche Reduzierung der Emissionen die positiven Effekte. Verschärfte Vorschriften beschleunigen oft eine bereits vorhandene Entwicklung. Beispiele hierfür sind die Lärmreduzierung von Fahrzeugen durch leisere Motoren, Kapselungen sowie leisere Reifen. Eine noch stärkere Senkung lässt sich bei niedrigen Geschwindigkeiten durch andere Antriebstechniken wie beispielsweise Elektromotoren erreichen. Die Geräuschemissionen können bei einer Geschwindigkeit von bis zu 40 km/h so stark abnehmen, dass dies teilweise bereits als Gefahr z. B. für Fußgänger empfunden wird. Das ist jedoch nur solange der Fall, bis sich der Gesamtlärmpegel reduziert bzw. sich die Bevölkerung auf die leiseren Fahrzeuge eingestellt hat. Derzeit wird besonders die Entwicklung der Elektromobilität vorangetrieben. Bei der Verwendung von erneuerbarer Energie lassen sich dadurch die Emission beim Fahren auf null reduzieren. Wesentlicher Nachteil ist heute jedoch die eingeschränkte Verfügbarkeit der Fahrzeuge, einerseits durch die erforderlichen langen Aufladezeiten (»Betanken«), andererseits durch die geringe Reichweite. Diese beiden Faktoren lassen sich technisch nicht beliebig optimieren, sodass in absehbarer Zukunft der angepasste Einsatz ent-

156

Kapitel 4 — Handlungsfelder

16 BMVBS 2012

scheidend für die Verbreitung von Elektrofahrzeugen sein wird. Gut einsatzfähig sind sie heute bereits im Stadtverkehr, da die dort zurückgelegten Entfernungen meist kurz sind und somit die Reichweite für den täglichen Einsatz ausreicht. Der Handlungsspielraum lässt sich mithilfe von Auftankstationen im Straßen- und Parkierungsraum oder Batteriewechselsystemen erweitern. Räumlich gesehen ist jedoch die Integration der Infrastruktur zum Aufladen der Fahrzeuge in die Stadt noch nicht gelöst. Aktuell werden von Energieanbietern Ladesäulen am Rand des Straßenraums und von Stellplätzen aufgestellt. Die Ladung erfolgt dann per Kabel, das die Autofahrer anschließen müssen. Jedoch steckt auch in der Ladeinfrastruktur Entwicklungspotenzial, z. B. könnte die Säule auch andere Funktionen wie Beleuchtung, Verkehrsinfos, Zahlung der Parkgebühren etc. übernehmen. Sind die Ladestellen an nutzungsintensiven Punkten in der Stadt angeordnet, kann der Autobesitzer die Ladezeit für andere Erledigungen nutzen. Ladesäulen ließen sich künftig durch im Straßenraum eingelassene Induktionsschleifen ersetzen, die durch elektromagnetische Induktion die Fahrzeuge aufladen. Das würde den visuellen Einfluss minimieren und Probleme wie Vandalismus lösen. Technisch leicht erreichen lässt sich die Induktion absehbar auch im Bereich von Kreuzungen. Planerisch bedeutet das jedoch, dass im Straßenraum die Flächen für zukünftige Induktionen freizuhalten sind. Eine Trennung zwischen Induktion und Nachrichtentechnik (Nachrichtenkabel) ist sinnvoll, um Störungen zu vermeiden. Damit steigen jedoch die Anforderungen an die Planung der Ver- und Entsorgungsleitungen im Straßenraum. Die Elektromobilität macht die Zusammenhänge zwischen Energie, Mobilität und Stadt bzw. Architektur noch deutlicher. Bei Neubauten ist es heute üblich, Versorgungsstationen in den Parkflächen zumindest vorzusehen. Mit Pilotprojekten wie dem Effizienzhaus Plus in Berlin wird aktuell die Möglichkeit untersucht, Elektroautos in ein Gesamtenergiekonzept zu integrieren, bei dem Haus und Auto durch Solarstrom versorgt werden.16 Eine wesentliche Beschleunigung des Ausbaus von Elektromobilität ließe sich durch eine flexiblere Nutzung der Fahrzeuge erreichen (z. B. durch Carsharing). Aufgrund der Nachteile von Elektrofahrzeugen beschäftigt sich die Industrie seit Jahrzehnten ebenfalls mit anderen Antriebsmitteln wie z. B. Wasserstoff. Auch hier ist – abhängig von der Produktionsweise des Wasserstoffs – eine Nullemission möglich. Vorteil wäre die wesentlich größere

Reichweite der Fahrzeuge, nachteilig sind derzeit noch die Kosten. In der Übergangszeit finden sich oft Mischungen der Antriebssysteme (z. B. Plug-ins). Die Entwicklungen zeigen, dass sich die Zahl der unterschiedlichen verfügbaren Antriebstechniken zukünftig erhöhen wird. Hierauf ist auch städtebaulich zu reagieren. So ist das Versorgungsnetz insgesamt flexibler zu gestalten. Die heutige Struktur der Versorgung der Fahrzeuge über ein Tankstellennetz, das sich aus wirtschaftlichen Gründen immer weiter ausdünnt, wird in Zukunft durch wesentlich anpassungsfähigere und vielfältigere Versorgungsstrukturen ersetzt werden müssen. Es wird erforderlich sein, dass Tankstellen unterschiedliche Stoffe lagern, was das Gefahrenpotenzial jedoch erhöht. Außerdem wird es neben einzelnen Tankstellen weitere Versorgungssysteme – entweder in den Haushalten oder auf öffentlichen Flächen – geben. Im Bereich der technischen Möglichkeiten zur Kollisionsvermeidung im Straßenverkehr wirken sich die Innovationen sehr positiv aus, was zu völlig neuen Möglichkeiten im Verkehrsraum führt. Die Vermischung von sehr unterschiedlichen Verkehren wäre dann leichter realisierbar. Bereits heute gibt es verschiedene Erkennungssysteme, die Gefahrenpunkte feststellen können, z. B. Nachtsichtgeräte oder Abstandswarnsysteme in Pkws. Optische Systeme könnten beispielsweise die Verhaltensmuster anderer Verkehrsteilnehmer erkennen und entweder rechtzeitig warnen oder automatisch eine Kollision vermeiden, indem sie in das System eingreifen.

Verkehrssteuerungen und Informationstechnologien Durch Verkehrssteuerungen lassen sich bereits heute Kapazitätserhöhungen für Straßen von ca. 10 bis 15 % erwirken, die entweder der Verflüssigung des Verkehrs und damit der Reduzierung der Abgase oder der intensiveren Auslastung eines gleich großen Straßenraums dienen. Die Steuerungen durch Verkehrstechnik beschränken sich jedoch meist auf übergeordnete Straßen. Einen wesentlichen Fortschritt kann hier die Entwicklung der Informationstechnik bringen. Mithilfe der Ortung von Mobiltelefonen lässt sich der Verkehrsfluss in Echtzeit erfassen. Bei weiterer Verbesserung der Rechenleistungen von Datenservern und der Entwicklung von Berechnungsmodellen wird es möglich, Bewegungsmuster in Echtzeit abzubilden, wodurch sich Verkehrs-

4.4 — Ökologie

Carsharingzentrale

Videokonferenz Home

Social Media Pannenhilfe

Freunde

Augmented Reality

Bilder

Stauwarnung

Wartung Büro

Wetter

Adressbuch

Reservierung

Nachrichten

Musik

Notruf Kalender

Verkehrsdaten

157

Navigation

Filme

E-Mails Landkarten Online-Shopping

Download

Abb. 8

ströme entweder durch Leittechnik im Straßenbereich oder durch mobile Informationsgeräte so lenken lassen, dass es zu einer gleichmäßigen Auslastung des Straßenraums kommt. Solche Systeme sollten jedoch nicht dazu führen, dass Wohnbereiche künftig stärker belastet werden. Darauf ist städtebaulich zu reagieren, beispielsweise durch Straßen mit gestuften Geschwindigkeiten, Engstellen, Einbahnstraßensysteme oder verkehrsberuhigte Zonen. Auch datenschutzrechtliche Bedenken, z. B. bezüglich des Abspeicherns von Bewegungsmustern, sind bei diesen Entwicklungen zu berücksichtigen. Systeme zur Lenkung des Verkehrs sollten sich nicht nur auf den Individualverkehr beziehen. Durch die steigende Verbreitung der Informationstechnologie ist auch eine bessere Verknüpfung zwischen Individualverkehr und öffentlichem Verkehr möglich. Beispielsweise kann sich der Nutzer optimierte Fahrwege anzeigen lassen – auch mit möglichen Umsteigepunkten zwischen Individual- und öffentlichem Verkehr. Ein Parkraummanagement informiert ihn, ob an der Umsteigestation überhaupt Parkraum zur Verfügung steht, der sich dann ebenfalls online reservieren lässt; auch die Abrechnung erfolgt online. Technisch erfordert dies die Installation einer entsprechenden Infrastruktur im Straßenraum für Detektoren zur Anzeige freier Parkplätze. Um Nachhaltigkeit zu ermöglichen, müssen bei Neubauten oder Erneuerungen bereits heute die notwendigen Leerrohrtrassen für die Installation der erforderlichen technischen Einrichtungen vorgesehen werden. Unterstützt durch IT-Technologien wäre es möglich, die Verkehrsdaten zusammen mit anderen Informationen, z. B. zum Energieverbrauch oder Informationen zu Veranstaltungen sowie Kommunikationsmöglichkeiten wie Videokonferenzen etc. im Auto zur Verfügung zu stellen (Abb. 8).

Mikromobilität Auch bei der Mobilität im Nahbereich wirken sich Innovationen wie die elektrobetriebenen Zweisitzer verschiedener Automobilhersteller (Abb. 9) sehr positiv auf das Verkehrsverhalten aus. Die technische Entwicklung von Elektrofahrrädern hat zu einem regelrechten Boom geführt. Sie machen es älteren Menschen wieder möglich, längere Strecken mit dem Fahrrad zurückzulegen oder der Arbeitsplatz ist trotz Steigungen ohne große Anstrengung erreichbar. Durch den Einsatz beispielsweise von Segways lassen sich größere Entfernungen in der Innenstadt bequem, platzsparend und umweltfreundlich zurücklegen. Städtebaulich bedeutet dies jedoch, dass drei Verkehrsströme mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten zu berücksichtigen sind: erstens Fußgänger und Segways, zweitens Radfahrer, Elektrofahrräder, Pedelecs und gedrosselte Roller sowie drittens stärker motorisierter Verkehr. Für viel befahrene Hauptstrecken sind daher getrennte Fahrbahnen notwendig.

Carsharing

Abb. 8 Auto als mobile Kommunikationszentrale Abb. 9 Elektroroller mit Kabine Abb. 10 Elektroauto des Carsharing-Anbieters Car2Go

Abb. 9

Für die Nachhaltigkeit von Carsharing-Modellen ist ihre gesellschaftliche Akzeptanz bzw. ihre Entwicklung ausschlaggebend. Im Bereich der Mobilität ist in den letzten Jahren eine Veränderung in der Gesellschaft wahrnehmbar. Das Auto wird heute nicht mehr ausschließlich als Statussymbol bzw. als ein Symbol der (Bewegungs-)Freiheit gesehen, sondern überwiegend als Transport- und Fortbewegungsmittel. Dies führt auch zu einem anderen Verhalten bezüglich seines Einsatzes. Fahrzeuge werden nicht mehr permanent persönlich vorgehalten, sollten jedoch bei Bedarf kurzfristig zur Verfügung stehen (Abb. 11, S. 158). Abb. 10

Kapitel 4 — Handlungsfelder

300 000

8000

7000 250 000 6000

Carsharing-Fahrzeuge

Fahrberechtigte

158

200 000 5000

150 000

4000

3000 100 000 2000 50 000 1000

0

0 1997 98

99

00

01

02

03

04

05

06

07

08

09

10

11

12 2013

Fahrberechtigte der stationsbasierten Angebote Fahrberechtigte der frei im Straßenraum verfügbaren Angebote Carsharing-Fahrzeuge stationsbasiert Carsharing-Fahrzeuge frei im Straßenraum verfügbar

Abb. 11

Dieser gesellschaftliche Wandel hat dazu beigetragen, dass es heute neben dem eigenen Fahrzeug auch andere, flexiblere Modelle der Fahrzeugnutzung wie z. B. verschiedene Carsharing-Modelle gibt. Aktuell bieten sowohl private und öffentliche Anbieter als auch Automobilhersteller solche Konzepte an. Je nach Bedarf kann sich der einzelne Teilnehmer dabei ein an seine Bedürfnisse angepasstes Fahrzeug buchen. In Ballungszentren ist es somit einfacher möglich, für kurze Strecken z. B. auf Elektrofahrzeuge umzusteigen (Abb. 10, S. 157), für längere Strecken oder Urlaubsfahrten dagegen ein größeres Fahrzeug mit Wasserstoff- oder Verbrennungsmotor zu mieten. Nachteilig ist hier jedoch meist, dass die Fahrzeuge in der Regel wieder an den Ausgangspunkt zurückgebracht werden müssen. Bevorzugt sind deshalb Carsharing-Modelle, die mehr Flexibilität anbieten. Über eine mobile Funkverbindung kann der Nutzer dann das nächste in der Umgebung befindliche Fahrzeug orten und reservieren, abgestellt werden darf es am Ende der Fahrt überall innerhalb des Geschäftsgebiets. Die Bezahlung erfolgt ebenfalls per Smartphone, Kosten fallen nur für den Zeitraum an, in dem das Fahrzeug genutzt wird bzw. bei kurzen Besorgungen gesperrt ist. Alle Kosten inklusive Parkgebühren sind im Grundpreis enthalten. Ein weiterer Fortschritt ließe sich hier erreichen, wenn die Carsharing-Anbieter sich miteinander vernetzen und auch Fahrzeuge gegenseitig austauschen würden. Ähnliches gilt auch für Fahrräder und Elektrofahrräder bei Bikesharing-Angeboten. Alle diese Modelle haben den Vorteil, dass der Nutzer mit hoher Wahrscheinlichkeit ein für seine momentanen Bedürfnisse passendes Fahrzeug erhält. Die Nutzung dieser Fahrzeuge ist wesentlich intensiver, sodass durch die höheren Einsatz-

zeiten insgesamt weniger Fahrzeuge benötigt werden. Somit sinkt auch der Bedarf an Flächen zum Parken. Zudem ist durch die stärkere Nutzung die Lebensdauer der Fahrzeuge kürzer, der Innovationsfortschritt lässt sich schneller nutzen und somit können sich auch die Emissionen gesamtheitlich reduzieren. Auf die Stadt und die Quartiere wirken sich diese Konzepte positiv aus, wenn die Auslastung der Fahrzeuge optimiert wird und sich dadurch die Anzahl der benötigten Parkplätze reduziert. Dabei müssen bereits bei der städtebaulichen Entwicklung für Carsharing bzw. Carpooling entsprechende Parkflächen – zusammenhängend und nur für diese Nutzung vorgesehen – an den Knotenpunkten der einzelnen Verkehrsträger mit eingeplant werden, damit beim Umstieg die leichte Erreichbarkeit der Fahrzeuge gewährleistet ist. Die rechtlichen Rahmenbedingungen für bevorzugte Parkplätze im öffentlichen Raum sind zu schaffen. An den meisten größeren Bahnhöfen bzw. S-BahnStationen stehen Fahrradständer für Leihfahrräder zur Verfügung, vergleichbare Möglichkeiten müssten dann ebenfalls für das Carsharing vorgesehen werden. Auch das Bezahlsystem innerhalb dieser Konzepte muss sehr nutzerfreundlich gestaltet sein. Sinnvoll wäre eine einfache Abrechnung mit einer Karte, die für die Nutzung aller unterschiedlichen Verkehrsmittel (Bahn, Nahverkehrsmittel, Leihfahrrad, Carsharing etc.) gültig ist, bzw. über einen Provider. Dadurch würde die kombinierte Nutzung der unterschiedlichen Verkehrsmittel wesentlich vereinfacht und damit attraktiver.

Innovative Verkehrsmittel Innovative Verkehrsmittel entstehen vor allem für den innerstädtischen ÖPNV. Auf der Basis von

4.4 — Ökologie

159

Abb. 12

Standseilbahnen entwickeln verschiedene Firmen Nahverkehrsmittel, die fahrerlos und mit sehr geringem Energieaufwand verschiedene Punkte im Stadtraum verbinden können. Dies erfolgt durch einzelne Wagen, die – vergleichbar den Gondeln einer Seilbahn – je nach Anforderung in ein zwischen bzw. unter den Schienen verlaufendes Zugseil eingeklinkt werden (Abb. 12). Bei anderen, ähnlichen Entwicklungen können sich die einzelnen Kabinen, die auch zu Zügen koppelbar sind, teilweise auch ohne Schienen über Elektroantrieb fortbewegen. Solange diese Lösungen eigene Fahrbereiche im Stadtraum benötigen, ist hierfür der entsprechende Platz bei der Verkehrsraumplanung vorzusehen.

Citylogistik Vor allem in den Innenstädten verursacht der Zulieferverkehr für die Versorgung einen wesentlichen Teil des Verkehrsaufkommens. Dies betrifft sowohl die Belieferung von Geschäften als auch von einzelnen Haushalten. Die Möglichkeiten, im Internet zu bestellen, haben das Verkehrsaufkommen nicht reduziert, sondern erhöht, da die Einzellieferungen täglich durch unterschiedliche Logistikunternehmen zu den Haushalten gelangen müssen. Verbesserungspotenzial im Sinne einer nachhaltigeren Mobilität besteht durch die Einführung einer Citylogistik, die den Warenlieferverkehr in Innenstädten regelt. Dabei stellen unterirdische Zulieferbereiche in dichten urbanen Gebieten eine realisierbare technische Lösung dar. Eine Möglichkeit ist beispielsweise ein unterirdisches Wegesystem, wie es z. B. in Berlin am Potsdamer Platz umgesetzt wurde (siehe S. 248ff.). Die Anlieferung der Waren erfolgt an einem zentralen Punkt, die Verteilung mithilfe eines unterir-

dischen Wegesystems z. B. mit Elektrofahrzeugen, sodass die Verkehrswege an der Oberfläche nicht durch Fahrzeuge belastet werden. Nachgedacht wird ebenfalls über ein rohrartiges System. Auch dabei werden an einem zentralen Punkt die Waren angeliefert, in Transportfahrzeuge für das Rohrsystem umgeladen und an die einzelnen Verbraucher, meist Verkaufseinrichtungen, verteilt. Solche Systemen müssen jedoch bereits zu Beginn der Baumaßnahmen vorgesehen sein, da eine Nachrüstung in bestehenden Gebieten nur sehr schwer möglich bzw. mit sehr hohem Aufwand verbunden ist. Eine andere Art, um den oberirdischen Verkehr wesentlich zu reduzieren, kann die Organisation einer gesamtheitlichen Citylogistik sein, bei der z. B. alle Waren in einer zentralen Einheit (Umschlaghalle) angeliefert, auf die einzelnen Kunden umsortiert, in Spezialfahrzeuge, z. B. kleine Liefertransporter auf Elektrobasis, umgeladen und an die jeweiligen Kunden verteilt werden (Abb. 13, S. 160). Problematisch hierbei sind die rechtlichen Randbedingungen. Alle Bewohner oder Geschäfte eines bestimmten Gebiets müssten sich dann zwangsweise dieser Logistik anschließen. Pilotprojekte, beispielsweise von Paketlieferdiensten, wurden nach einer Probezeit wieder beendet. Das RegLog-Citylogistik-Konzept in Regensburg galt als Versuch, eine Optimierung der Warenlieferung in innenstädtischen, verkehrsberuhigten Gebieten zu ermöglichen und Leerfahrten zu reduzieren. Das Projekt, das auf einer Kooperation zwischen mehreren Speditionsfirmen basierte, wurde jedoch nach 14 Jahren aus wirtschaftlichen Gründen eingestellt.17 Die Deutsche Post DHL hat mit ihren in der Stadt verteilten Servicepunkten, den sogenannten Packstationen, auf die steigende Nachfrage nach einer stets verfügbaren Selbstabholung von Paket-

Abb. 11 Entwicklung des Carsharings in Deutschland Abb. 12 Cabletren Bolivariano de Petare, Caracas (YV) 2013

17 www.reglog.de

160

Kapitel 4 — Handlungsfelder

zentrale Umschlaghalle Spedition 1

Spedition 1

Spedition 2

Spedition 2 Spedition 3

Spedition 3

a

b

Abb. 13

18 Deutsche Post AG 2010

Abb. 13 Prinzip der City Logistik a ohne zentrale Umschlaghalle b mit zentraler Umschlaghalle Abb. 14 Vision für die Region Boston/Washington im Jahr 2030, Höweler + Yoon Architecture (1. Preis Audi Future Award 2012)

bestellungen reagiert und gleichzeitig Tausende von Kilometern bei der Zustellung von Paketen eingespart, was auch eine Vermeidung von mehreren Tonnen von CO2 bedeutet.18 Regelungen mit festgeschriebenen Lieferzeiten können zu erheblichen Entlastungen zu den übrigen Zeiten führen. So würden beispielsweise Fußgängerzonen in den hochfrequentierten Tageszeiten frei von Fahrzeugen bleiben. Nachteilig ist bei solchen Regelungen jedoch, dass sich der Verkehr meistens auf die sehr frühen Morgenstunden konzentriert, was bei vorhandener Wohnbebauung wiederum störende Lärmauswirkungen haben kann. Einer Studie der Deutschen Post zufolge könnte die Nachtlieferung mit leiseren Elektrofahrzeugen das Problem der Staus und der unerwünschten Lkw-Anlieferung in innenstädtischen Quartieren lösen. Dabei wären allerdings die sozialen Auswirkungen der Nachtarbeit zu berücksichtigen.

Steuerliche und rechtliche Mittel Es gibt verschiedene steuerliche, rechtliche oder finanzielle Regelungen, mit denen sich Einfluss auf das Verhalten der Verkehrsteilnehmer nehmen lässt. Bei einzelnen Verkehrsmittel kann das durch steuerliche Anreize (Bonussysteme), Mehrkosten (Malussysteme) etc. geschehen. Eine Verteuerung der Pkw-Nutzung beispielsweise durch eine erhöhte Mineralölsteuer kann sowohl dazu führen, dass sich die gefahrenen Strecken reduzieren, als auch dazu, dass der Umstieg auf Elektromobilität leichter fällt. Auf der anderen Seite bewirken z. B. Subventionierungen des öffentlichen Nahverkehrs

eine erhöhte Nachfrage. Die Differenzen müssen jedoch für die Betroffenen deutlich spürbar sein. Zudem lassen sich durch die Einführung z. B. einer Citymaut – je nach Modell – einzelne Verkehrsteilnehmer von der Fahrt in die Innenstadt mit dem Pkw abhalten bzw. sich die Fahrten bei gestaffelten Modellen zeitlich verschieben. Solche Maßnahmen beziehen sich jedoch sehr oft auf den Gesamtverkehr bzw. einen gesamten Stadtbereich, nicht auf einzelne Quartiere. Zu berücksichtigen ist bei derartigen Maßnahmen, dass sie auch soziale Auswirkungen haben können. Eine starke Verteuerung z. B. des Pkw-Verkehrs führt dazu, dass die Nutzung der unterschiedlichen Verkehrsmittel stark vom sozialen Stand abhängt. Hier überschneiden sich stadtplanerische mit sozialpolitischen Fragestellungen. Gleiches gilt auch für die künstliche Verteuerung von Parkraum. Eine Maßnahme, die weniger soziale Auswirkungen hat, ist die direkte Einflussnahme auf die Fahrt mit dem Fahrzeug. Die Wahl des Verkehrsmittels hängt von Kriterien wie der Bequemlichkeit, aber auch von der Fahrdauer ab. Stadtplanerisch bereits umgesetzt wurden Beschleunigungsspuren für den Busverkehr bzw. auch völlig separate, abgetrennte Busspuren. Weitere Möglichkeiten sind die Bevorrechtigung des Linienverkehrs im Bereich von Signalanlagen, eine Reduzierung der erlaubten Höchstgeschwindigkeiten sowie die Einführung von Pförtnerampeln, die den Zufluss in Gebiete regeln. Geschwindigkeitsbegrenzungen auf den Hauptverkehrsstraßen führen jedoch häufig dazu, dass auf Wege durch Wohngebiete ausgewichen wird, da diese dann zeitlich kürzer sind. Starke Beschränkungen können aber auch den Ausschluss ganzer Zweige oder Berufsgruppen aus den Städten zur Folge haben, die auf Fahrzeuge angewiesen sind. Eine wesentliche Optimierung des Mobilitätsauf-

4.4 — Ökologie

161

Abb. 14

kommens lässt sich durch eine hohe Vernetzung der einzelnen Verkehrsmittel erreichen. Mithilfe von Apps für Smartphones ist es inzwischen möglich, die schnellsten und besten Routen sowohl auf Grundlage der Kosten als auch der Reisezeit zu ermitteln. Gleichzeitig kann bei einigen Anbietern der anfallende Fahrpreis für die Nutzung kostenpflichtiger Angebote gesamtheitlich abgebucht werden, es sind keine unterschiedlichen Zahlungssysteme mehr notwendig. Das macht ein bequemes Umsteigen von einem Verkehrsmittel auf das andere möglich. In diese Kette müssen alle Verkehrsmittel einbezogen werden – vom Parkplatz für das eigene Fahrzeug über öffentliche Nahverkehrsmittel bis hin zu Leihfahrzeugen etc. Die Wahl des Verkehrsmittels erfolgt dann nur noch nach den derzeitigen individuellen Bedürfnissen. Ansätze hierzu gibt es bereits. So entstanden beispielsweise in Kooperation mit Automobilherstellern erste Apps für Smartphones, mit dem Ziel, die Suche nach der besten Mobilitätslösung zu ermöglichen und gleichzeitig allgemeine Informationen über die Stadt bereitzustellen.19 JL

Visionen für die Stadt der Zukunft Trotz zahlreicher Lösungsansätze ist die Zukunft der Mobilität noch offen. Verschiedene Forschungsinstitute arbeiten intensiv daran, mögliche Szenarien für die Entwicklung der Mobilität zu definieren. Die Zukunft der Mobilität zu gestalten, ist ein Thema, das Automobilhersteller und Stadtplaner gleichermaßen betrifft. Um eine Diskussion über die Mobilität und die Stadt der Zukunft anzuregen,

entstehen Kooperationen wie die 2010 von der Audi AG ins Leben gerufene »Audi Urban Future Initiative«. Im Rahmen des Projekts werden Wettbewerbe, Workshops sowie weitere Initiativen veranstaltet, zu denen Architekten, Stadtplaner und Soziologen eingeladen sind. Zudem wird der »Audi Urban Future Award« vergeben.20 Die im Rahmen dieser Initiative entwickelten Visionen lassen neue Formen der Interaktion zwischen Auto und Stadt entstehen, bei denen die digitale Technologie eine erhebliche und wachsende Rolle einnimmt (Abb. 14). Ähnliche Ziele verfolgt das BMW Guggenheim Lab. Innerhalb von sechs Jahren möchte der Automobilhersteller einige Megacities weltweit untersuchen und in kontinuierlichen Dialog mit der Bevölkerung treten. Interdisziplinäre Teams beschäftigen sich im Rahmen der Initiative mit aktuellen Themen des urbanen Lebens, um neue Ideen zu erforschen und innovative Denkansätze zu fördern.21 Ist die moderne Mobilität mit Attributen wie schneller, öfter, weiter, mehr, bequemer, billiger und sicherer zu beschreiben,22 so wird die urbane Mobilität der Zukunft vernetzer, multimodaler, intelligenter, sauberer, leiser, raumsparender, sicherer und sozialer sein. Bei all den unterschiedlichen Visionen wird jedoch deutlich, dass nicht zuletzt aufgrund der sich immer schneller ändernden Anforderungen eine Anpassung der Verkehrsinfrastruktur erforderlich ist. Dies bedarf auch einer flexibleren Infrastrukturplanung, die Strukturen schafft, die nicht für die Ewigkeit »asphaltiert« sind, sondern sich mit vertretbaren Kosten an aktuelle Bedürfnisse und Anforderungen anpassen lassen. Dabei muss die Entwicklung von effizienteren und attraktiveren Mobilitätsschnittstellen (Mobility Hubs) gefördert werden, um die erfolgreiche Vernetzung unterschiedlicher Mobilitätslösungen zu gewährleisten. AS

19 www.moovel.de; www.mycityway.com 20 www.audi-urban-futureinitiative.com 21 www.bmwguggenheimlab.org 22 Merki 2008, S. 76

Weitere Informationen • Albers, Markus: »Eines für alle«. In: Brand Eins 03/2011 • Adler, Michael: Generation Mietwagen. Die neue Lust an einer anderen Mobilität. München 2011 • Brake, Matthias: Mobilität im regenerativen Zeitalter. Was bewegt uns nach dem Öl? Hannover 2009 • Canzler, Weert; Knie, Andreas: Einfach aufladen. Mit Elektromobilität in eine saubere Zukunft. München 2011 • Schindler, Jörg; Held, Martin; Würdemann, Gerd: Postfossile Mobilität. Wegweiser für die Zeit nach dem Peak Oil. Bad Homburg 2009 • Schneider, Manuel: Post-Oil City. Die Stadt von morgen. politische ökologie H. 124. München 2011 • Sperling, Daniel, Gordon, Deborah: Two Billion Cars: Driving Toward Sustainability. Oxford 2010 • Yay, Mehmet: Elektromobilität. Theoretische Grundlagen, Herausforderungen sowie Chancen und Risiken der Elektromobilität, diskutiert an den Umsetzungsmöglichkeiten in die Praxis. Frankfurt/M. 2012 • Zierer, Maria Heide; Zierer, Klaus: Zur Zukunft der Mobilität. Eine multiperspektivische Analyse des Verkehrs zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Wiesbaden 2010

162

Kapitel 4 — Handlungsfelder

4 . 4 .5

Energie Gre go r C . Gra s s l, Ol a f Hi l d e b ra n d t, Pe te r Mö s l e, Christopher Vagn Philipsen

1 BMU 2010 2 Sachs 1993

Basisszenario 2010 A Im Jahr 2009 beauftragte das Bundesumweltministerium (BMU) eine Studie zu »Langfristszenarien und Strategien für den Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland bei Berücksichtigung der Entwicklung in Europa und global«. Ein erster Bericht wurde 2009 veröffentlicht (»Leitszenario 2009«), ein weiterer Zwischenbericht 2011 (»Leitstudie 2010«). Ziel des Forschungsprojekts sind Szenarien, die aufzeigen, wie die im Energiekonzept der deutschen Bundesregierung beschlossenen energie- und klimapolitischen Ziele durch eine deutliche Effizienzsteigerung und einen kontinuierlichen Ausbau der erneuerbaren Energien (EE)erreicht bzw. übertroffen werden können. In der »Leitstudie 2010« wurden unter der Annahme gleicher Anstrengungen zur Effizienzsteigerung drei Basisszenarien erstellt: • Basisszenario 2010 A: keine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke, die bisherigen Restlaufzeiten werden eingehalten. Der Anteil der Elektromobilität an der Verkehrsleistung des Individualverkehrs steigt bis 2050 auf 33 %. • Basisszenario 2010 B: Annahmen zu den Restlaufzeiten wie in Szenario A. Der Anteil der Elektromobilität an der Verkehrsleistung des Individualverkehrs steigt bis 2050 auf 66 %, Deckung des höheren Strombedarfs durch EE-Strom. • Basisszenario 2010 C: Laufzeitverlängerung der Kernenergie gemäß des Beschlusses der Bundesregierung vom 28.9.2010 von durchschnittlich 12 Jahren. Alle anderen Annahmen, insbesondere der EE-Zubau, entsprechen den Werten des Basisszenarios 2010 A.

E

nergieeffizienz ist die zentrale Klimaschutzstrategie: Ziel muss es sein, mit deutlich weniger Energieeinsatz die Lebensqualität zu verbessern. Die energetische Effizienzstrategie baut auf drei Säulen, den drei »E« auf: • Energieeinsparung, um den Nutzenergiebedarf bei gleicher (oder sogar höherer) Dienstleistung zu reduzieren • Effizienzverbesserung, um die Umwandlungsverluste zwischen End- und Nutzenergie zu reduzieren • erneuerbare Energien, die als wesentliche Primärenergieträger eingesetzt werden

Für das Erreichen der Klimaschutzziele ist das Zusammenwirken aller drei Säulen entscheidend. Im Zeitraum 2010–2050 könnte eine Minderung der CO2-Emissionen in Deutschland von insgesamt 596 Millionen t CO2 pro Jahr (Basisszenario 2010 A) erreicht werden. Zwei Strategien ragen dabei in ihrer Bedeutung heraus: zum einen der Ausbau der erneuerbaren Energien in der Stromversorgung, zum anderen die Energieeinsparung und Steigerung der Energieeffizienz im Wärmebereich. Ein weiteres wichtiges Segment stellt die Effizienzsteigerung im Stromsektor dar (Abb. 1). Damit wären bereits 75 % der Gesamtminderung erbracht.1 Bei allen Bemühungen um die Effizienz sind zwei Aspekte für einen nachhaltigen Lösungsansatz zu beachten: die Resilienz von Systemen sowie die Suffizienz. Unter Resilienz versteht man die Fähigkeit eines Ökosystems, angesichts von Störungen wieder in den ursprünglichen Zustand zurückzukehren. In die Bewertung der Nachhaltigkeit muss also die langfristige, ökologisch verträgliche Nutzung von natürlichen Ressourcen einfließen. Das bedeutet, dass auch die Begrenztheit der

Ressource Biomasse als Energiepotenzial anerkannt wird. Bei der Nutzung von Biomasse geht es auch um die maßvolle Einbindung in die Landund Forstwirtschaft, denn der Nahrungsmittelanbau hat Vorrang vor dem Energiepflanzenanbau. Zum anderen sollten ebenfalls Lebens- und Konsumgewohnheiten sowie Wachstumszwänge infrage gestellt werden. Suffizienz wird in der Nachhaltigkeitsdiskussion im Sinne einer Entschleunigung, eines Konsumverzichts und einer Lebensstiländerung verstanden. Das dafür nötige Umdenken ist in der Regel schwieriger als die Adaptionen neuer Technologien, aber, »die ›Effizienzrevolution‹ bleibt richtungsblind, wenn sie nicht von einer ›Suffizienzrevolution‹ begleitet wird«.2 Ein aktuelles Beispiel in der Architektur und Stadtplanung ist das zunehmend zu beobachtende Festhalten an tradierten Mustern der Entwurfs- und Planungskultur und der teilweise daraus resultierende Widerstand gegen wirksame Effizienzstrategien wie Dämmung und Lüftungsanlagen. Dabei liegt gerade in der Verknüpfung der Themen Energieeffizienz und Architektur bzw. Baukultur eine gemeinsame Planungs- und Gestaltungsaufgabe. Und so ist auch die Umsetzung der Energiewende nicht nur eine technische und ordnungsrechtliche Angelegenheit, sondern muss unbedingt mit den Menschen vor Ort, vor allem auf kommunaler und regionaler Ebene angegangen und umgesetzt werden. Ziel der energetischen Effizienzstrategie ist es, dass für den gleichen Nutzen weniger Energie eingesetzt wird. Das Bevölkerungswachstum, verbunden mit den steigenden Lebensstandards führt dazu, dass unsere linear ausgerichteten Wirtschaftssysteme – Herstellung, Nutzung, Abfall – im Hinblick auf die Materialversorgung an ihre Grenzen stoßen. Somit wird nicht die Energieversorgung mittel- bis langfristig die Menschheit vor Probleme stellen, sondern die Folgen einer zunehmenden Rohstoffverknappung. Die

4.4 — Ökologie

163

Ausbau der Erneuerbare Energien (EE) in der Stromversorgung Steigerung der Energieeffizienz (EEF) im Wärmebereich Effizienzsteigerung im Stromsektor weitere Effizienzsteigerungen im Verkehrssektor Ausbau der Erneuerbaren Energien im Wärmesektor Ausbau der Erneuerbaren Energien im Verkehrssektor 0

50

100

150

200 250 300 CO2-Minderungspotenziale 2010 – 2050 [Mio. t/a]

0

50

100

150

200 250 300 verbleibende CO2-Emissionen [Mio. t/a]

Stromerzeugung Verkehr Wärmeerzeugung

Abb. 1

einzige nachhaltige Lösung hierfür ist die Wieder- und Umnutzbarkeit der Materialien in biologischen und technischen Kreisläufen,3 was jedoch bedeutet, dass unser Wirtschaftssystem komplett verändert und neu ausgerichtet werden muss – weg vom linearen, hin zu einem zirkularen System. In diesem gibt es keinen Abfall mehr, sondern nur noch Wertstoffe, die wiederum als Grundlage für die Herstellung des gleichen oder eines anderen Produkts dienen. Im zirkularen Wirtschaftssystem, angetrieben von erneuerbaren Energien, lässt sich für weit mehr Menschen auf unserem Planeten ein ausreichender Lebensstandard erreichen, als dies heute überhaupt vorstellbar ist. OH, GCG, PM

Energiegewinnung Der Planet Erde besitzt nur eine begrenzte Biokapazität zum Abbau von Schadstoffen und zur Regenerierung von Ressourcen.4 Seit den 1990erJahren übersteigen die globalen Verbräuche die verfügbare Biokapazität. Um die Erde wieder in ein ökologisches Gleichgewicht zu bringen, muss der ökologische Fußabdruck (siehe Herausforderung Mensch und Soziokultur, S. 52) global gesenkt werden. Entscheidend hierfür ist der Ausbau der erneuerbaren Energieressourcen. Kohle, Öl und Gas waren die bestimmenden Rohstoffe für die Energieerzeugung der Vergangenheit und sind es auch noch in der Gegenwart. Die Turbulenzen auf dem Energiemarkt in den letzten Jahren sowie die zu erwartende Verknappung dieser Ressourcen zeigen, dass auch aufgrund wirtschaftlicher Aspekte eine größere Unabhängigkeit von den traditionellen Energieträgern für

heutige Städte und Industrieprozesse erforderlich ist. Regenerative Energieressourcen teilen sich in zwei Bereiche auf: natürliche Energiequellen und nachwachsende Rohstoffe. Natürliche Energiequellen sind überall vorhanden und unterscheiden sich in ihrer Leistungsfähigkeit und Menge je nach Region: Sonne, Wind, Erdwärme, Wasser, Außenluft. Nachwachsende Rohstoffe sind Biomasse, also pflanzliche und tierische Stoffe, die während ihres Wachstums genauso viel treibhausgefährdendes CO2 der Atmosphäre entziehen, wie sie später bei der Verbrennung und Energieerzeugung emittieren. Die Atmosphäre wird durch diese Form der energetischen Nutzung nicht weiter mit CO2 angereichert, sodass keine Verstärkung des Treibhauseffekts entsteht. Lediglich die Energie, die zur Herstellung und zum Transport der Stoffe zur Verbrennungsanlage benötigt wird, geht als nicht nachwachsender Primärenergieanteil in die Gesamtenergiebilanz ein. Die nachwachsenden Ressourcen sind meist lokal vorhandene Stoffe wie Holz (Holzhackschnitzel, Pellets), Energiepflanzen (Getreidepflanzen, Futtergräser) und Biogas, sodass der energieintensive Transport gering gehalten wird und sich die Abhängigkeit von den Importrohstoffen Öl und Gas verringern lässt. Den Vorteilen der regenerativen Energieressourcen – keine bis geringe Belastung der Umwelt sowie meist geringere Energiekosten (Abb. 3, S. 165) – stehen jedoch auch Nachteile gegenüber. Geringere und schwankende Leistungen erfordern meist große Flächen für die Energiegewinnung und -speicherung und führen damit zu höheren Investitionskosten. Nur wenige nachwachsende Energieträger können bei der Leistungsfähigkeit pro Einheit mit den fossilen Energieträgern mithalten. Um dennoch eine effiziente und wirtschaftliche Nutzung von regenerativen Energiequellen zu gewährleisten, ist es erforderlich, das Gebäudekonzept darauf

Abb. 1 Beitrag einzelner Segmente der Energieversorgung in Deutschland zur CO2-Minderung zwischen 2010 und 2050 (Basisszenario 2010 A) und damit verbleibende Restemissionen im Jahr 2050 nach Sektoren

3 Braungart/McDonough 2002 4 WWF 2008

164

System

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Wärme

Kälte Strom Beschreibung

übliche Leistungsklassen

Einsatzort: Gebäude/ Quartier/Stadt

fossile Energieträger Erdöl-Heizkessel

x

Wärmeerzeugung durch Verbrennungsprozess

10 kW – 5 MW

G/-/-

Erdgas-Heizkessel

x

Wärmeerzeugung durch Verbrennungsprozess

2 kW –10 MW

G/Q/S

Erdgas-BHKW/Motor

x

x

Strom-/Wärmeerzeugung durch Verbrennungsprozess

2 kW – 2 MW

zentral /dezentral

Gasturbine

x

x

Strom-/Wärmeerzeugung durch Verbrennungsprozess

500 kW –100 MW

-/Q/S

GuD-Kraftwerk

x

x

Strom-/Wärmeerzeugung durch Verbrennungsprozess

50 MW – 600 MW

-/-/S

(x)

Absorptionskältemaschine

x

Kälteerzeugung durch Wärmeeinsatz

50 kW –1,5 MW

-/Q/S

Kompressionskältemaschine

x

Kälteerzeugung durch Stromeinsatz

20 kW – 5 MW

-/Q/S

> 5 MW

-/Q/S

2 kW – 500 kW

G/-/-

Nutzung der Abwärme des Abwassers für Wärmepumpenprozess

10 kW – 500 kW

G/Q/-

fossile/erneuerbare Energieträger Fernwärme

x

(x)

Luft /Luft-Wärmepumpen

x

x

Abwasserwärmepumpen

x

(x)

Nutzung von Wärme aus Kraft-Wärme-Kopplung Wärmenutzung der Außenluft über Wärmepumpenprozess

regenerative Energien Biomasse Holzhackschnitzel

x

Energieerzeugung durch Verbrennung von Holz in zentralen und dezentralen Verbrennungsöfen

100 kW – 2 MW

-/Q/S

Holzpellets

x

Energieerzeugung durch Verbrennung von Holz in zentralen und dezentralen Verbrennungsöfen

10 kW –1 MW

G/Q/-

Holzvergasung

x

x

Holzgas wird mittels Erhitzen aus Brennholz gewonnen und durch Verbrennung in einem BHKW zur Strom- und Wärmeerzeugung genutzt.

> 1 MW

-/Q/S

Pflanzenöl-BHKW

x

x

Energieerzeugung durch die Verbrennung von Pflanzenöl

50 kW – 2 MW

-/Q/-

Biogas-BHKW

x

x

Strom-/Wärmeerzeugung durch Biogaskraftwerk (u. a. aus Bioabfall, Gülle)

50 kW – 2 MW

-/Q/-

Brennstoffzelle

x

x

Strom-/Wärmeerzeugung, meist angetrieben durch Wasserstoff oder Methangas

50 kW – 2 MW

-/Q/-

x

Stromerzeugung durch Solarstrahlung

> 0,1 kW

G/Q/S

Wärmeerzeugung für Brauchwassererwärmung und Heizungsunterstützung durch Solarstrahlung

> 1 kW

G/Q/-

x

Kombination aus Photovoltaik (1. Ebene) und Solarthermie (2. Ebene)

> 1 kW

G/Q/-

große Turbinen

x

Stromerzeugung durch Generatoren, die von einem Windrad angetrieben werden

> 1 MW

-/Q/S

Kleinwindkraftanlage

x

Stromerzeugung durch gebäudeintegrierte Windturbinen (Drehachse horizontal oder vertikal)

0,5 kW –10 kW

G/Q/S

20 W/m2

G/-/ -

Solarenergie Photovoltaik Solarthermie

x

(x)

Hybridmodul Photovoltaik /Solarthermie

x

(x)

Windenergie

Geothermie Erdkollektoren

(x)

x

horizontal verlegte Wärmetauschersystemen in einer Tiefe von ca. 1 m

Erdsonden / Energiepfähle

(x)

x

geschlossene, Wasser führende Wärmetauscher, vertikal verlegt in Tiefen von 20 bis 100 m

> 2 kW/Bohrung

G/-/-

Grundwassernutzung

(x)

x

Wasserbrunnen mit Wärmetauscher zur Erschließung des Grundwassers

> 5 kW/Brunnen

G/Q/-

x

(x)

Erdwärmenutzung aus größeren Tiefen (> 1000 m) zur Wärmenutzung und ggf. Stromerzeugung über Turbinen

500 kW –10 MW

-/Q/S

Tiefenbohrung

Abb. 2

(x)

Kosten [ct /kWh]

4.4 — Ökologie

165

22 20 18 16 14 12 10 8 6 4 2

abzustimmen. Die heute verwendeten Systeme zur Energieerzeugung sind in Abb. 2 nach ihrem Leistungsvermögen und Einsatzzweck aufgeführt. PM

Energieverteilung Grundlage der in Deutschland beispielhaft hohen Versorgungssicherheit im Bereich der Energie (Strom, Gas, Fernwärme) war und ist die entsprechende Netzinfrastruktur. Im Bereich der Stromversorgung unterscheidet man dabei je nach Funktion und Spannungsebene Übertragungsnetze (Höchstspannung) und Verteilnetze (Hoch-, Mittel- und Niederspannung). Aufgabe der Übertragungsnetze ist es, den Strom von den Erzeugungszentren (beispielsweise den Standorten großer Kraftwerke) möglichst verlustfrei in die Verbrauchszentren (Ballungszentren, Industriestandorte etc.) zu transportieren. Die Verteilnetze dagegen sind für die regionale und lokale Verteilung und letztlich den Anschluss der Endverbraucher zuständig. Derzeit unterhalten in Deutschland mehr als 820 Netzbetreiber (davon vier Übertragungsnetzbetreiber – ÜNB) über 840 Stromnetze mit einer Gesamtlänge von mehr als 1,7 Millionen km, der Kabelanteil beträgt dabei rund 75 %. Die in Deutschland nach der Atomkatastrophe von Fukushima eingeleitete Energiewende mit der sukzessiven Stilllegung der Kernkraftwerke und dem parallel verlaufenden Ausbau der erneuerbaren Energien macht in den kommenden Jahren einen umfangreichen Umbau der Netzinfrastruktur erforderlich. Dabei sind neue leistungsfähige Verbindungen im Übertragungsnetzbereich ebenso vonnöten wie die Ausstattung der Mittel-

und Niederspannungsnetze mit Intelligenz (Smart Grids). Diese intelligenten Netzwerke sollen es ermöglichen, die hohe Volatilität der Stromerzeugung erneuerbarer Energien (insbesondere aus Sonne und Wind) beispielsweise durch die Steuerung der Nachfrageseite (Demand Side Management) auszugleichen. Ähnlich wie bei den Stromleitungen wird auch im Gasbereich je nach Funktion und Druckniveau zwischen dem Transportnetz mit Ferngasleitungen (Überdruck bis zu 200 bar) und dem Verteilnetz, bestehend aus regionalen Mitteldruckleitungen (bis ca. 1 bar) und lokalen Niederdruckleitungen (bis ca. 0,1 bar), unterschieden. Aktuell hat das Hochdruck-Erdgasnetz in Deutschland eine Länge von etwa 112 000 km, das Verteilnetz mit Mittelund Niederdruckleitungen eine Länge von ca. 363 000 km. Daneben stehen etwa 47 Erdgasspeicher mit einer Speicherkapazität von 23,5 Milliarden m3 zum Ausgleich tages- und jahreszeitlicher Verbrauchsspitzen zur Verfügung. Dem Gasnetz wird im Hinblick auf die Energiewende insbesondere aufgrund seines erheblichen Speichervolumens eine besondere Bedeutung beigemessen. Entsprechend den Vorstellungen soll mit dem in Solar- und Windkraftanlagen volatil erzeugten Strom zunächst Wasserstoff (mittels Elektrolyse) und anschließend Methan (über die Methanisierung von CO2) erzeugt werden. Das Methan lässt sich im Gasnetz speichern und bei Bedarf  in entsprechenden Gaskraftwerken wieder zur Wärme- und/oder Stromerzeugung nutzen. Dieses als »Power to Gas« bezeichnete Verfahren befindet sich allerdings noch in der Entwicklung und ist derzeit aufgrund der relativ niedrigen Wirkungsgrade der einzelnen Prozesse noch nicht wirtschaftlich. Fernwärmenetze versorgen vorwiegend einzelne Quartiere, Stadtteile oder auch Einzelverbraucher (Gewerbe, Wohnen, Krankenhäuser) mit Wärme-

Abb. 2 Energieträger und ihre Einsatzorte Abb. 3 spezifischen Energiekosten in ct/kWh für verschiedene Energieträger (inklusive Mehrwertsteuer und Transportkosten; bei den Strom- und Stadtgaskosten gegebenenfalls Berücksichtigung eines Leistungspreises; bei den leitungsgebundenen Brennstoffen Korrelation von Preis und Abnahmemenge; Berücksichtigung von Lagerkosten)

Fernwärme

Pellets

Rapsöl

Hackschnitzel

Abb. 3

Öl

Flüssiggas

Stadtgas

Nachtstrom

Strom

0

166

Kapitel 4 — Handlungsfelder

CO2-Emissionen [t]

Kohle

Strom Heizöl

Fernwärme Erdgas

600000

500000

400000

300000

200000

100000

0 private Haushalte

Gewerbe + Sonstiges

Industrie

städtische Stellen

Verkehr

Abb. 4

Abb. 4 CO2-Bilanz für Esslingen am Neckar im Jahr 2007 nach Sektoren und Energieträgern Abb. 5 Endenergiebedarf für Heizung und Warmwasserbereitung bei unterschiedlichen Energiestandards in Deutschland

energie in Form von Warmwasser oder Dampf. Diese Wärmeenergie wird in der Regel durch die Verbrennung fossiler bzw. regenerativer Energieträger (Erdgas, Kohle, Holzhackschnitzel oder -pellets, Biogas etc.) oder die thermische Verwertung von Abfällen bereitgestellt. In besonders geeigneten Regionen können auch alternative Technologien (z. B. die Tiefengeothermie) zum Einsatz kommen. CVP

Energieanforderung Die energie- und klimapolitischen Ziele lassen sich dann erreichen, wenn die erheblichen Potenziale zur Energieeinsparung und zum Klimaschutz auf lokaler Ebene ausgeschöpft werden.

Kommunale Herausforderung

5 Ifeu 2010

Der bekannte Slogan »Global denken, lokal handeln« bekommt inzwischen wieder eine große Bedeutung, denn Kommunen und deren Verwaltungen spielen beim Klimaschutz eine besondere Rolle. Neben der Reduktion des Energieverbrauchs in den eigenen Liegenschaften können Kommunen als neutraler Akteur lokale Prozesse initiieren und moderieren. Sie sind Planungs- und Genehmigungsinstanz, manchmal Teilhaber an

regionalen Energieversorgern oder Wohnungsbaugesellschaften und wichtiges Vorbild für ihre Bürger. Während auf globaler, europäischer oder nationaler Ebene die Anpassungskosten im Vordergrund stehen, haben Kommunen hier einen entscheidenden Vorteil: Sie profitieren von der regionalen Wertschöpfung. Werden erneuerbare Energiesysteme auf den Dächern, auf kommunalen Flächen oder in Kellern installiert oder wird der Gebäudebestand saniert, profitiert hier zu großen Teilen das lokale Handwerk als Auftragnehmer. Zudem fließen durch die Nutzung selbst erzeugter Energien und eine Senkung des Energieverbrauchs weniger Gelder aus der Region ab. Klimaschutzpolitik ist folglich zugleich nachhaltige Wirtschaftsförderung, mit der die lokalen Akteure vor Ort wirtschaftsfähig für die Zukunft gemacht werden. Rund 75 % aller Menschen in Deutschland leben in Städten und verbrauchen in Haushalten, Arbeitsstätten und durch ihre Mobilität mehr oder weniger viel Energie und tragen damit zu den CO2-Emissionen bei. Die Höhe und Aufteilung des Verbrauchs ist von Faktoren wie der energetischen Qualität der Gebäude, Anwendungen und Produktionsprozesse, der Nutzung und Lage der Quartiere, der Struktur und Verfügbarkeit der Versorgungssysteme und Energieträger, dem Verkehrsnetz, aber auch der baulichen Dichte der Stadt oder einzelnen Stadtquartieren abhängig. Abb. 4 zeigt eine typische Aufteilung der CO2Emissionen in einer industriell geprägten Stadt nach Sektoren und Energieträger am Beispiel der Stadt Esslingen am Neckar.5 In ländlicher gepräg-

4.4 — Ökologie

Endenergiebedarf [kWh/m2a]

1

bis Mitte 2010

2

167

3

ab 2010

ab 2021

300 275 250 225 200 175 150 125 aktuelle Förderstandards der KfW 100 75 50 25 EU-Gebäuderichtlinie3

Passivhaus

KfW-Effiziemzhaus-402

KfW-Effiziemzhaus-552

KfW-Effiziemzhaus-70

KfW-Effiziemzhaus-851

KfW Effiziemzhaus-100 (nur Bestand)

EnEV 2009

EnEV 2002 – 2007

WSVO95

WSVO84

Bestand

0

Abb. 5

ten Bereichen sind die Anteile der CO2-Emissionen aus den privaten Haushalten und dem Verkehr dramatisch höher. Will man in der Stadt die Klimaschutzziele erreichen, müssen z. B. in der Stadtentwicklungsplanung in diesen Bereichen Potenziale zur Energieeinsparung und Effizienzsteigerung sowie zur Nutzung erneuerbarer Energieträger ermittelt werden. In allen Bereichen, aber vor allem in den Sektoren Industrie und Gewerbe, Handel sowie Dienstleistungen sind diese unter Einbindung der Akteure teilweise individuell zu erfassen. Dies macht bereits in der Analyse- und Konzeptphase gute Kenntnisse und Kontakte vor Ort notwendig.

Effizienzstrategie Energieeinsparung Heute ist bekannt, dass sich CO2-Emissionen vor allem durch das konsequente Ausschöpfen von Energieeinsparmöglichkeiten und von Potenzialen zu rationeller Energienutzung im Energie- und Verkehrsbereich sowie durch den zunehmenden Einsatz von erneuerbaren Energiequellen nachhaltig senken lassen. In diesem Zusammenhang spielen die großen Einsparpotenziale im Gebäudebereich und beim Stromverbrauch eine herausragende Rolle. Die heutigen technisch und wirtschaftlich sinnvollen Effizienzhäuser und optimal gedämmten Altbauten benötigen bei erhöhtem thermischem Komfort nur einen Bruchteil der Heizwärme. Passivhäuser mit weniger als einem Viertel des Heiz-

wärmebedarfs des aktuell geforderten gesetzlichen Standards haben sich heute bereits bewährt und stehen an der Schwelle zur breiten Markteinführung. In Zukunft wird die »Europäische Richtlinie über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden« (Energy Performance of Buildings Directive – EPBD) in nationales Recht umgesetzt. Alle nach dem 31. Dezember 2020 zu errichtenden Neubauten müssen als »Fast-Nullenergiegebäude« umgesetzt werden (Abb. 5). Ein zentrales Handlungsfeld zum Klimaschutz ist die Erschließung der großen Einsparpotenziale im Altbaubestand. Über drei Viertel des Gebäudebestands in Deutschland wurden vor 1978 erstellt und unterlagen keinerlei Anforderungen an den Wärmeschutz. Beim Warmwasserbedarf liegt neben einigen technischen Maßnahmen das große Sparpotenzial auf der Nutzungsseite. Auch der Strombedarf wird im Wesentlichen durch den Nutzer bestimmt und lässt sich nur in begrenztem Umfang durch bauliche Vorgaben z. B. hinsichtlich der Tageslichtnutzung in Büros und Wohngebäuden oder durch Effizienzanforderung an Haustechnikstrom (Pumpen, Ventilatoren etc.) senken. Entscheidend ist die Effizienz der elektrischen Geräte und Betriebsmittel und damit die Kaufentscheidung oder ein an Effizienzanforderungen gebundenes Beschaffungswesen. Ziel wäre der konsequente Einsatz von marktbesten Elektrogeräten, ein effizientes Lichtkonzept, ein stromeffizientes Lüftungskonzept und die Substitution der elektrischen Wassererwärmung durch energiesparende Systeme.

168

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Faktoren

Beeinflussbarkeit

• Nutzerverhalten

gar nicht

• • • • • •

Wasser- und Strombedarf Gebäudedichtheit Lüftungsstrategie Wärmebrücken Kompaktheit der Baukörper energetische Standards

in der Planungsphase

• • • • •

Verschattung durch Pflanzen Windschutz städtebauliche Dichte /Kompaktheit gegenseitige Verschattung Stellung der Gebäude

gut

• Energieversorgung

sehr gut

Abb. 6

Maßstabsebene Quartier

Abb. 6 Möglichkeiten der Einflussnahme auf den Energieverbrauch und die Emissionen einer Stadt bzw. Siedlung durch die Stadtplanung Abb. 7 Veränderung des Jahresheizwärmebedarfs einer Zeilenbebauung in Abhängigkeit vom energetischen Standard und der Ausrichtung des Gebäudes (Südausrichtung als Vergleichswert 100 %)

Die Überschrift »Klimaschutz prägt Stadtentwicklung« der Badischen Zeitung zum Quartierskonzept Hauptbahnhof Ost der Stadt Lörrach (26.03.2013) ist als konsequente Integration des Themas in die Aufgaben der Stadtplanung, als Planungsziel und Planungsprinzip des Städtebaus und der Stadtentwicklung zu verstehen. Dieser Ansatz ist nicht unbedingt neu, erfährt aber derzeit nur unter anderen Vorzeichen eine neue Aktualität. Solarer und klimagerechter Städtebau ist zeitlos und reicht bis in die Antike zurück, klimagerechtes Bauen prägte die traditionellen Bauweisen z. B. in ariden Regionen, im Bergland, aber auch in den windstarken nördlichen Ländern. In der klassischen Moderne wurde das solare Bauen unter dem Motto »Licht – Luft – Sonne« zum Leitbild und zentralen Thema eines gesunden Wohnund Lebensstils. Die Kritik an den unhygienischen Wohnbedingungen der Quartiere aus der Zeit der Industrialisierung führte zu neuen Gestaltungsvorstellungen von Städten, Quartieren und Gebäuden und einem damit verbundenen neuen Lebensgefühl. Für den städtische Entwicklungsraum bieten sich im Rahmen der Stadtplanung und -erneuerung eine große Zahl von Gestaltungs-, Einfluss- und Steuerungsmöglichkeiten für eine klimagerechte Entwicklung. Abb. 6 z. B. zeigt die Möglichkeiten, im Prozess der Stadt- und Bauleitplanung auf den Energieverbrauch und damit auf die Emissionen eines Baugebiets Einfluss zu nehmen. Dabei geht es um Planungsprinzipien und deren Integration in den Gesamtprozess zum richtigen Zeitpunkt. Folgende Faktoren haben in der Reihenfolge ihrer Nennung Einfluss auf den Energieverbrauch:

• städtebauliche Kompaktheit, Dichte der Bebauung und Kompaktheit der einzelnen Baukörper. Am gebräuchlichsten ist die Ermittlung des Verhältnises von wärmeübertragender Hüllfläche zum umschlossenen Volumen (A/V). Dieses ist jedoch nicht immer aussagekräftig, insbesondere wenn die Gebäude über hohe Innenräume (z. B. Hallen) verfügen oder Lufträume aufweisen. Entscheidender ist vielmehr das Verhältnis A/NGF, das die nutzbare Netto-Grundfläche als Bezugsgröße verwendet. • Stellung der Baukörper bzw. Orientierung der Hauptfassaden- und Fensterflächen zur Sonne. Günstig sind hier südorientierte Ausrichtungen. • Anordnung der Baukörper im städtebaulichen Kontext und damit einhergehend die gegenseitige Verschattung der Gebäude • Vermeidung oder Minimierung der Verschattung durch Bepflanzung. Insbesondere Südfassaden sollten weitgehend unverschattet bleiben, laubwerfende Gehölze sind hier günstiger als ganzjährig dicht belaubte. Eine hohe städtebauliche Dichte führt zu günstigen Voraussetzungen für niedrigen Energieverbrauch, aber auch zu starker Verschattung, was sich wiederum ungünstig auf den Verbrauch auswirkt. Die besten städtebaulichen Bedingungen für niedrigen Energieverbrauch können daher nur in einem konkreten Optimierungsprozess unter maßgeblicher Einbeziehung aller sonstigen städtebaulichen Anforderungen gefunden werden. Auch Versorgungseinrichtungen haben Einfluss auf den Städtebau. Zu nennen sind hier: • Bereitstellung geeigneter Dachflächen (Ausrichtung, Neigung, Höhenentwicklung) für die Aufstellung von solarthermischen Anlagen und Photovoltaik

4.4 — Ökologie

Heizwärmebedarf bezogen auf Südausrichtung [%]

Niedrigenergiehaus

Passivhaus

169

EnEV

160 150

140

130

120

110

100 90 N

NO

O

SO

S

SW

W

NW N Orientierung

Abb. 7

• Integration zentraler Versorgungseinrichtungen (z. B. Holzhackschnitzelanlage, solare Nahwärme) und Logistik, beispielsweise durch Ausweisen von hierfür geeigneter Flächen • Versorgungsverbote oder -gebote, beispielsweise Nah- oder Fernwärmeversorgung oder Verbrennungsverbote für bestimmte Brennstoffe wie Holz oder Holzprodukte Eine energetisch optimierte städtebauliche Struktur bildet die Voraussetzung, bauliche und versorgungstechnische Strategien zur Schadstoffminderung in der Folge effektiv und kostengünstig einsetzen zu können. Die zentralen Planungsprinzipien solarer Städtebau und kompakter Städtebau werden im Folgenden ausführlicher dargestellt.

Planungsprinzip solarer Städtebau Bei der Bilanzierung des Heizwärmebedarfs wird ein Teil der Wärmeverluste durch Transmission über die Gebäudehülle von den Wärmegewinnen über die Solareinstrahlung in die Fenster kompensiert. Die Einstrahlungsgewinne hängen im Wesentlichen von der Ausrichtung des Gebäudes, der Verschattungssituation und der Fensterquantität und -qualität ab. Da bei der passiven Solarenergienutzung die Wärmegewinne direkt am Ort der Gewinnung genutzt und gespeichert werden, lässt sich nur ein begrenztes solares Wärmeangebot verwerten, ein Überangebot muss folglich weggelüftet werden oder führt zu Überwärmung. Der Glasflächenanteil lässt sich deshalb nicht ohne Folgen unbegrenzt erhöhen, da auch der Heizwärmebedarf ab einem bestimmten Verglasungsanteil wieder ansteigt. Das Verhältnis zwischen dem Solargewinn zur Substitution von

Heizwärme und der insgesamt in den Raum eingestrahlten Solarenergie wird durch den solaren Nutzungsgrad angegeben (Grad der solaren Ausnutzung). Diesen gilt es zu optimieren und städtebauliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die Gewinne gut nutzen zu können. Im solar orientierten Städtebau herrscht eine klare Präferenz für südorientierte Gebäude, um möglichst allen Wohnungen eine gute Besonnung und die optimale Nutzung der passiven Solargewinne zu ermöglichen. Dabei gilt: je höher der energetische Standard eines Gebäude, umso größer der Einfluss der Orientierung. Fast unverzichtbar ist die optimale Südorientierung für Passivhäuser. Die Abweichungen des Heizwärmebedarfs gegenüber einer optimalen Orientierung sind bei einer reinen Ost- oder Westausrichtung mit 50 % erheblich, bei einer Drehung in Südwest- bzw. Südostrichtung fallen sie mit knapp 20 % hingegen noch recht moderat aus (Abb. 7). Eine Zeilenbebauung reagiert besonders empfindlich auf Drehungen aus der optimalen Südrichtung. Städtebauliche Strukturen wie eine komplette Blockrandbebauung weisen bei einer reinen Ostoder Westausrichtung gerade einmal eine Ab weichung von 10 % auf, bei einem Baufeld mit Punkthäusern oder Einzelhäusern beläuft sich die Abweichung auf ca. 20 %. Besonders bei der Blockstruktur können einzelne Gebäude jedoch stark davon abweichen, z. B. in nordorientierten Ecksituationen. Insgesamt lässt sich sagen, dass die Südorientierung heizenergetische Vorteile hat und zu einer längeren Besonnungsdauer in den Wintermonaten führt. Im Sommer sind Südorientierungen ebenfalls günstiger, denn eine Ost-West-Ausrichtung bedeutet besonders in den Nachmittagsstunden ein hohes Überwärmungsrisiko. Im solaren Städtebau ist auch eine Minimierung der Verschattung sinnvoll. Große Gebäude-

170

Kapitel 4 — Handlungsfelder

2] m [1/ 1 1,2 V nE 1 ,1 h E 0,9 ,0 c a is n 0,8 ältn erh 0,7 V en lum 0,6 Vo

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Abb. 8

Abb. 8 Zusammenhang von Heizwärmebedarf und Kompaktheit bei verschiedenen Bebauungsformen Abb. 9 Wärmeabgabe des Menschen in Abhängigkeit von der umgebenden Lufttemperatur Abb. 10 Einflussfaktoren auf das Behaglichkeitsempfinden in Räumen

abstände sind dabei kaum zu realisieren und stehen auch im Widerspruch zum flächensparenden, verdichteten Bauen. Ziel ist es daher, gute Kompromisse zu finden: Die Lage von eigenen Bauteilen (wie Balkone, Erker, Loggien), Bepflanzungen, Nebengebäude, angrenzende Gebäude, aber auch die örtliche Topografie müssen in ihrer Wirkung auf Besonnung und Belichtung planerisch Berücksichtigung finden. Eine vollständige Verschattungsfreiheit entspricht nicht der gebauten Wirklichkeit und ist auch nicht wünschenswert, denn erstens haben Schattenplätze auch eine hohe Wahrnehmungs- und Aufenthaltsqualität und raumbildene Strukturen wie beispielsweise eine Blockrandbebauung weisen zwangläufig immer Verschattungspunkte an den Gebäudeecken auf. Insgesamt spielt bei der Bewertung der solaren Gewinne die Wechselwirkung von Wärmeverlusten und -gewinnen eine Rolle. Dies sollte sowohl für das Baugebiet als auch am konkreten Gebäude über die Aufstellung von Energiebilanzen planungsbegleitend untersucht werden.

Planungsprinzip kompakter Städtebau Die städtebauliche Kompaktheit, d. h. die Vorgabe kompakter Baukörper, stellt einen der größten direkten Einflussfaktoren auf den späteren Heizwärmebedarf der Gebäude dar. Kompaktheit ist damit das städtebauliche Steuerungsinstrument zur Senkung der Wärmeverluste von Gebäuden. Je kleiner die Hüllfläche (A) im Verhältnis zum Gebäudevolumen (V) oder zur Netto-Grundfläche (NGF), desto weniger Wärme verliert ein Gebäude bei gleichem Dämmstandard. Der Heizwärme-

bedarf sinkt mit geringerem A/V- bzw. A/NGFVerhältnis des Baukörpers. Je größer das Gesamtvolumen, desto kleiner und damit günstiger ist das erreichbare A/V- bzw. A/NGF-Verhältnis. Für den Wohnungsbau zeigt Abb. 8 die Abhängigkeiten zwischen der Kompaktheit und dem Heizwärmebedarf. Für jede Bauform dieses Nutzungstyps ergibt sich innerhalb der vom jeweiligen Baukörpervolumen bestimmten Spannbreite ein typisches A/V-Verhältnis. Dieses schwankt um einen Faktor von ca. 3 bis 4 zwischen extrem wenig kompakten Bebauungen (z. B. frei stehende Bungalows) und sehr kompakten (z. B. Blockrandbebauungen oder großvolumige Zeilen- und Punktbebauungen), der entsprechende Heizwärmebedarf bei gleichbleibender wärmetechnischer Ausstattung dieser Gebäudetypen um einen Faktor von ca. 2. Eigenheimbebauung ist z. B. energetisch günstig, wenn sie mindestens zweigeschossig in gebundener Bauweise realisiert werden kann. Dies reduziert den Heizwärmebedarf um ca. 20–25 % bei gleicher Bautechnik, zudem korreliert sie mit den Zielen des flächensparenden kostengünstigen Bauens. Die Veränderung der Geometrie eines Baukörpers hat ab bestimmten Werten nur noch einen geringen energetischen Einfluss: • Länge der Baukörper: In einem Bereich ab ca. 25–30 m wirkt sich eine Verlängerung nicht mehr stark auf die Kompaktheit aus. • Tiefe der Baukörper: Bautiefen von bis zu 12–14 m sind günstig einzuschätzen. Tiefere Baukörper gestalten sich von der Tagesbelichtung der Mittelzonen her problematisch und die notwenigen Zusatzmaßnahmen (Dachfenster, künstliche Beleuchtung) müssen mit bewertet werden. • Höhe der Baukörper: Bei ein- bis dreigeschossigen Baukörpern führt eine Erhöhung des Gebäudes zu einer überproportionalen Verbesserung, beim vierten Geschoss sinkt der Einfluss und ab dem fünften ist nur noch eine geringe Verbesserung festzustellen. • Vorsprünge und Versätze der Baukörper verschlechtern nicht nur die Kompaktheit, es ist zudem mit einer erhöhten gegenseitigen Verschattung zu rechnen. • Dachformen haben auf die Kompaktheit keinen entscheidenden Einfluss, sehr wohl aber auf die Lage und Höhe der Verschattungskante, die ein Nachbargebäude verschatten könnte. Die beschriebenen Planungsprinzipien einer kompakten Bauweise sind grundsätzlich zwar für alle

4.4 — Ökologie

171

Wärmeabgabe [W]

Strahlung

Gebäudenutzungen, insbesondere aber für den Wohnungsbau bzw. für Nichtwohngebäude mit einem dominierenden Heizwärmebedarf (z. B. Bürogebäude oder Schulen) gültig und sinnvoll. Bei Gebäudenutzungen, bei denen die Verbrauchsschwerpunkte nicht im Bereich Wärme, sondern beim Strom oder der Kühlung liegen, wie z. B. im gewerblichen Bereich häufig der Fall, spielt die Kompaktheit als energetisches Kriterium eine eher untergeordnete Rolle. In diesen Fällen dominieren andere, nutzungsspezifisch angepasste Energieeffizienzstrategien und müssen entsprechend optimiert werden.

Konvektion

Verdunstung

180 160 140 120 100 80 60 40 20 0 10 12

14

16

18

20

22

24

26

28

30

32 34 36 38 Lufttemperatur [ºC]

Abb. 9

Zusammenführung der beiden Planungsprinzipien Die Kompaktheit eines Gebäudes wirkt sich stärker auf den Heizwärmebedarf aus als die optimale Solarnutzung, d. h. eine gute Solarnutzung kompensiert nicht eine ungünstige Kompaktheit. Wenig kompakte Gebäude erfordern zur Realisierung von hohen Effizienzstandards einen ausgesprochen hohen Aufwand, das Solarangebot muss sehr konsequent genutzt werden, was den Einsatz hochwertiger Bautechnik notwendig macht und damit entsprechende Kosten erzeugt. Bei Gebäuden mittlerer Kompaktheit lassen sich Nachteile mit noch vertretbarem Aufwand ausgleichen. Energetisch kompakte Strukturen wirken sich positiv auf die Errichtungskosten von Passivhäusern aus, zudem erlauben sie die planerische Freiheit, diese auch in solar ungünstigeren Situationen effizient zu realisieren. Es gibt also großen städtebaulichen Spielraum für das Passivhaus.

Wärmedichte für Nah- bzw. Fernwärmeversorgung Eine gebietsweise zentrale Wärmeversorgung ist dann sinnvoll, wenn sich dadurch Kostenoder Umweltvorteile gegenüber der dezentralen (gebäudeweisen) Versorgung erreichen lassen. Für eine Bewertung entscheidend sind die Indikatoren Wärme-, Anschluss- und Trassendichte. Die Wärmedichte ist einerseits von der baulichen Dichte und zum anderen von der energetischen Dichte, d. h. vom Energiestandard der Gebäude, abhängig. In der Literatur wird allgemein ein flächenbezogener Indikator von 250 MWh/ha als untere Grenze für eine wirtschaftliche Versorgung mit Fernwärme angesetzt.6 Energetisch bewusst geplante städtebauliche

Strukturen reduzieren zwar nicht per se den Energiebedarf bzw. die Schadstoffemissionen, schaffen aber gute Voraussetzungen, bauliche und versorgungstechnische Strategien zur Schadstoffminderung effektiv und kostengünstig einsetzen zu können. Das größte Einsparpotenzial und damit eine zentrale Aufgabe im Bereich der Schadstoffminderung kommt dem energetischen Standard und dessen städtebaulicher und prozessualer Absicherung zu. Um nachhaltigen Klimaschutz betreiben zu können, ist es sinnvoll, das gesamte Spektrum an Einsparmöglichkeiten im Rahmen des städtebaulichen Entwicklungsprozesses optimal auszuschöpfen.

6 Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg 2007 7 nachfolgender Text aus: Bauer/Mösle/Schwarz 2013

Faktoren

Maßstabsebene Gebäude Ziel eines energetisch optimierten Städtebaus ist es, Maßnahmen zur Energieeffizienz und zum Einsatz erneuerbarer Energien auf Gebäudeebene anzustoßen. Da Städtebau und Gebäude eng miteinander verknüpft sind, soll im Folgenden auf die energetischen und raumklimatischen Aspekte von Gebäuden eingegangen werden.

Wohlbefinden und gesundes Raumklima 7

Gebäude sind als »dritte Haut« des Menschen ein wesentlicher Faktor für Lebensqualität und Gesundheit. Nur durch ein hohes Maß an Wohlbefinden kann eine gute Arbeitsqualität erzielt

umschließende Flächentemperatur Lufttemperatur relative Feuchte Luftbewegung Luftdruck Luftzusammensetzung elektromagnetische Verträglichkeit akustische Einflüsse optische Einflüsse Bedingungen Kleidung Tätigkeitsgrad individuelle Eingriffsmöglichkeiten Adaption und Aklimatisation Tages- und Jahresrhytmus Raumbesetzung psychosoziale Faktoren Nahrungsaufnahme ethnische Einflüsse Alter Geschlecht körperliche Verfassung Konstruktion des Gebäudes Abb. 10

172

Kapitel 4 — Handlungsfelder

gut

komfortabel Strahlungstemperatur [°C]

Strahlungstemperatur [°C]

akzeptabel 28 26

24

22

24

22

20

18

18 16 16

18

20

22

24 26 28 Lufttemperatur [°C]

16

18

20

22

24 26 28 Lufttemperatur [°C]

a

b

werden, ist eine hohe Leistungsfähigkeit möglich, können kreative Ideen und Prozesse entstehen oder kann der Körper regenerieren und heilen. Natürlich sind die Einflussgrößen auf das menschliche Wohlbefinden und seinen Biorhythmus sehr vielfältig. Bei einigen Kriterien handelt es sich um physikalisch messbare Größen, wie z. B. bei Lufttemperatur und dem Innenlärmpegel, andere sind biologischer Natur, wie Gesundheit und Alter, oder sind kulturell bedingt, z. B. die ethnisch unterschiedliche Erziehung (Abb. 10, S. 171). Für die thermische Behaglichkeit spielt u. a. eine Rolle, welche Kleidung bei welcher Tätigkeit getragen wird. Zu den intermediären Wohlfühlkriterien gehört z. B., ob der Kollege im Zwei-PersonenBüro sympathisch ist. Zudem existieren Einflüsse, deren Auswirkungen auf den Menschen erst dann spürbar werden, wenn er ihnen über einen längeren Zeitraum ausgesetzt ist, beispielsweise hochemittierende Materialien (z. B. Klebstoffe) und elektromagnetische Strahlen, die zunehmend an Bedeutung gewinnen . Das thermische Behaglichkeitsempfinden des Menschen wird durch die Wärmeflüsse seines Körpers bestimmt. Die im Organismus gebildete Wärme muss vollständig an die Umgebung abgegeben werden, um das thermische Gleichgewicht zu erhalten (Abb. 9, S. 171). Der menschliche Organismus besitzt die Fähigkeit, seine innere Kerntemperatur unabhängig von den Umgebungsbedingungen und bei unterschiedlichen körperlichen Aktivitäten innerhalb einer geringen Schwankungsbreite relativ konstant zu halten. Unter extremen Klimabedingungen kann der menschliche Regelkreis bei der Anpassung der Körpertemperatur jedoch überfordert sein, sodass diese sinkt oder ansteigt. Daher sollte entweder die Umgebungstemperatur oder die Kleidung der Situation angepasst werden, um den gewünsch-

ten Komfort zu gewährleisten. Unangenehmes Schwitzen (hohe Verdunstungsrate) lässt sich weitestgehend vermeiden, wenn eine Oberflächentemperatur der Haut von etwa 34 °C nicht überschritten wird und die Umgebungstemperaturen sich gleichzeitig unterhalb von ca. 26 °C befinden (Abb. 11). Die höchsten Oberflächentemperaturen des Menschen finden sich im Kopfbereich, die geringsten am entferntesten Punkt zum Herz – dem Fußbereich. Daraus lässt sich schließen, dass thermische Behaglichkeit nur dann gegeben sein kann, wenn die Oberflächentemperaturen der Raumhüllfläche den menschlichen Bedürfnissen angepasst werden.

Abb. 11

7 nachfolgender Text aus: Bauer/Mösle/Schwarz 2013 8 Spath/Bauer/Rief 2010

26

20

16

Abb. 11 behagliche Raumtemperaturen bei angepasster Bekleidung a im Winter (leichter Pullover): Höhere Strahlungstemperaturen der Oberflächen gleichen niedrige Lufttemperaturen aus. b im Sommer (kurzes Hemd): Niedrige Strahlungstemperaturen der Oberflächen gleichen höhere Lufttemperaturen aus. Abb. 12 Grenztemperaturen von Oberflächen im Winter und Sommer für die thermische Behaglichkeit

28

Energie- und ressourcenschonendes Gebäudedesign

7

Maßgebliches Ziel beim Bau von nachhaltigen Gebäuden ist es, möglichst über natürliche Ressourcen die Anforderungen an die Nutzung zu erfüllen. Die Möglichkeiten hierzu sind stark von den klimatischen Randbedingungen und eben diesen Nutzungsanforderungen abhängig. Als Anleitung für ein energie- und ressourcenschonendes Design sind folgende sieben Regeln zu beachten:8 Regel 1: Je höher die Anforderungen an den thermischen Komfort, desto höhere Ansprüche sind an den winterlichen und sommerlichen Wärmeschutz zu stellen. Die Anforderungen an den thermischen Komfort werden in aller Regel als minimale Raumtemperaturen im Winter und als maximale Raumtemperaturen im Sommer formuliert. So gelten in Aufenthaltsräumen mit längerer Verweildauer 20–22 °C als minimale Raumtemperaturen im

4.4 — Ökologie

Winter und ca. 25–27 °C als maximale Raumtemperaturen im Sommer. Die Raumtemperatur wird hierbei in aller Regel als eine Kombination aus Oberflächentemperaturen der Innenwände und der Lufttemperatur verstanden. Damit werden indirekt auch im Winter hohe Oberflächentemperaturen gefordert (Abb. 12 oben), die nur mit einem sehr guten Wärmeschutz erreichbar sind. Analog gilt für den Sommer, dass mit der Forderung nach komfortablen Raumtemperaturen indirekt auch minimale Oberflächentemperaturen verlangt werden (Abb. 12 unten), die sich nur mit einem effizienten Sonnenschutz erreichen lassen. Regel 2: Solaroptimierte Orientierung und Zo nierung Die einfachste Art, den Heizwärmebedarf durch die Bauweise weiter zu verringern, ist die Nutzung der solaren Wärmegewinne. Dies lässt sich am effektivsten in Wohngebäuden realisieren, da es in jeder Wohnung warme Bereiche (Wohnzimmer) und kühle Bereiche (Schlafzimmer) gibt. Bei richtiger Zonierung und Ausrichtung des Gebäudes kann über die südlich orientierten Verglasungen sehr viel Sonnenenergie einfangen werden. Eine massive Bauweise begünstigt die Einspeicherung dieser Wärme, sodass das Gebäude auch an bewölkten Tagen noch davon zehren kann. Bei anderen Nutzungsarten lässt sich die passive Solarenergienutzung ebenfalls realisieren. So sind Hotels, Krankenhäuser und Pflegeheime hinsichtlich des Wärmebedarfs den Wohngebäuden sehr ähnlich. In Büro- und Lehrgebäuden verhindert meist die Bildschirmarbeit eine umfangreiche Nutzung der solaren Gewinne, diese Gebäuden werden in der Regel über das Wochenende mit Sonne »betankt«. Häufig wird versucht, die so laren Gewinne nicht in den Aufenthaltsräumen direkt wirksam werden zu lassen, sondern in angrenzenden Pufferräumen wie Atrien oder verschließbaren doppelschaligen Fassaden. Voraussetzung für gute passive Solargewinne ist zudem die richtige Wahl und Anordnung der Gebäudekubatur. Je nach Bauform und Orientierung ergeben sich unterschiedliche Energiegewinne durch solare Einstrahlung auf die Fassade bei gleicher Nutzfläche. So sind z. B. bei einer Blockrandbebauung geschlossene Baukörper die energetisch schlechteste Lösung, da das Potenzial der passiven Solarenergienutzung durch die starke Verschattung der Fassaden am geringsten ist, während eine Öffnung der Bebauung nach Süden die günstigste Form darstellt. Die Folge stärkerer Verschattung ist zudem ein erhöhter Strombedarf für die künstliche Beleuchtung, was nicht nur zu

höheren Stromkosten und einem steigenden Energiebedarf führt, sondern auch zu geringerem psychischem Wohlbefinden. Neben den Nachteilen bei der Solarenergieversorgung der Räume ist auch der schlechtere Luftaustausch im Innenhof zu berücksichtigen, der wiederum von der Höhe des Hofs abhängt. Dies führt gegebenenfalls zu einer längeren Nutzungszeit von Lüftungsanlagen. Unabhängig vom Gebäudekonzept lassen sich durch eine optimierte Anordnung der Baukörper 10–20 % des Energiebedarfs für Anlagen zur Raumkonditionierung einsparen. Regel 3: Ausnutzung der natürlichen Lüftungspotenziale Die natürlichen Potenziale der Außenluft in Mitteleuropa zum Lüften und Kühlen von Gebäuden sind enorm. Werden diese richtig genutzt, kann über 70 % des Jahres auf den Einsatz von Lüftungsanlagen verzichtet werden, ohne den Komfort einzuschränken. Je nach Konzeption, Nutzerverhalten und Komfortlevel ist es sogar möglich, das ganze Jahr über natürlich zu lüften. Die häufig niedrigen Außentemperaturen während der Nacht im Sommer besitzen ein großes Potenzial, den Kühlenergiebedarf stark zu reduzieren. Schwierig wird es hinsichtlich der Kühlung jedoch während der sehr heißen Sommerperioden, in denen die Temperaturen auch nachts in Mitteleuropa nicht wesentlich unter 22–24 °C fallen. Um die natürlichen Gegebenheiten nutzbar zu machen, müssen die Konzepte auf die wechselnden Verhältnisse der Außenluft im Hinblick auf Temperatur, Windgeschwindigkeit und Windrichtung adaptierbar sein. In modernen Gebäuden wird dies entweder durch die motorische Steuerung von Lüftungselementen gelöst, deren Öffnungsweiten sich je nach Außenbedingungen regulieren lassen, oder durch manuelles Bedienen unterschiedlicher, dosierbarer Lüftungsöffnungen in der Fassade.

173

Sommer

Oberflächentemperatur max. 45 ˚C (Belegung 100 %) max. 65 ˚C (Belegung 50 %)

Oberflächentemperatur max. 28 ˚C (Belegung 100 %) max. 35 ˚C (Belegung 50 %)

Oberflächentemperatur max. 29 ˚C

Winter

Oberflächentemperatur min. 15 ˚C

Regel 4: Nutzung der Gebäudestruktur und seiner Massen als thermischer Speicher Die thermische Speicherfähigkeit eines Gebäudes bestimmt zu einem beträchtlichen Teil das Raumklima und den erforderlichen Energiebedarf. Extrembeispiele sind Containerbauten aus leichten Materialien bzw. alte Burgen und Schlösser mit dickem Gemäuer. Während bei leichten Gebäuden die Innenraumtemperaturen nahezu parallel das Außenklima abbilden, sind die thermischen Auswirkungen durch das Außenklima in massiven Gebäuden erst sehr viel später festzustellen oder die Außentemperaturen haben gar

Oberflächentemperatur min. 14 ˚C

Oberflächentemperatur min. 21 ˚C

Abb. 12

174

Weitere Informationen • Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen e. V.: Energieverbrauch in Deutschland im Jahr 2011. Berlin/Köln 2011 • Bauer, Michael; Mösle, Peter; Schwarz, Michael: Green Building. Leitfaden für nachhaltiges Bauen. Berlin 2013 • Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Hrsg.): Handlungsleitfaden zur Energetischen Stadterneuerung. Berlin 2011 • Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (Hrsg.): Energie in Deutschland. Trends und Hintergründe zur Energieversorgung. Berlin 2013 • Diefenbach, Nikolaus: Bewertung der Wärmeerzeugung in KWK-Anlagen und Biomasse-Heizsystemen. Darmstadt 2002 • Ecofys (Hrsg.): Energieeffizienz und Solarenergienutzung in der Bauleitplanung. Rechts- und Fachgutachten unter besonderer Berücksichtigung der Baugesetzbuch-Novelle 2004. Nürnberg 2006 • Hausladen, Gerhard; Liedl, Petra; de Saldanha, Mike: Klimagerecht Bauen. Ein Handbuch. Basel 2012 • Hildebrandt, Olaf (Hrsg.): Stadtplanung im Klimawandel. Seminar im Masterstudiengang Stadtplanung an der Hochschule für Technik Stuttgart zur energetischen Stadtplanung im WS 2012/2013 • Innenministerium des Landes Schleswig-Holstein (Hrsg.): Klimaschutz und Anpassung in der integrierten Innenministeriums des Landes Schleswig-Holstein Stadtentwicklung. Wuppertal/ Aachen 2011 • Nissler, Diana; Wachsmann, Ulrike: Statusbericht zur Umsetzung des Integrierten Energie- und Klimaschutzprogramms der Bundesregierung. Hrsg. vom Umweltbundesamt. Dessau-Roßlau 2011. • Oberste Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Innern (Hrsg.): Energie und Ortsplanung. Arbeitsblätter für die Bauleitplanung Nr. 17. München 2010 • Stadt Würzburg (Hrsg.): Hubland auf dem Weg zum CO2-freien Stadtteil. 2011–2013 • Umweltbundesamt (Hrsg.): Energieeffizienzdaten für den Klimaschutz. Dessau-Roßlau 2012

Kapitel 4 — Handlungsfelder

keinen Einfluss. Massive Gebäude besitzen den Vorteil, die Raumtemperaturen glätten zu können, indem Wärme aus dem Raum nicht nur die Raumluft, sondern eben auch die Baumasse erwärmt. Damit steigen die Raumlufttemperaturen weniger schnell an als bei leichten Gebäuden. Dieser Effekt birgt jedoch auch Nachteile: Wenn z. B. zur Beheizung eines Raums Energie zugeführt werden muss, dauert es bei massiven Gebäuden wesentlich länger, bis die erwünschten Raumtemperaturen erreicht sind, da auch die Gebäudemasse erwärmt werden muss. Im Klima Nord- und Mitteleuropas lässt sich die Speicherfähigkeit eines Gebäudes sehr gut zur passiven Raumkühlung oder zur Verringerung des Kühlenergiebedarfs einsetzen. Die Temperaturen der Nachtluft sind auch im Sommer meist so niedrig, dass dieses natürliche Energiepotenzial genutzt werden kann, um die tagsüber in die Gebäudemasse geflossene Wärme nach außen abzuführen. Dadurch ist am nächsten warmen Tag wieder eine kühle Masse vorhanden, die die neue Raumwärme aufnehmen kann. Um einen spürbaren Effekt zu erzielen, muss das Gebäude massive Bauteile besitzen. In der Regel wird hier die Speicherfähigkeit der Decke genutzt, wenn im Raum eine nennenswerte Trägheit der Temperaturschwankungen beibehalten werden soll. Zudem ist zu beachten, dass die massiven Bauteile nur bis zu einer Tiefe von 10 cm speicherfähig sein müssen, da in der Regel im Tagesverlauf keine größere thermische Masse aktivierbar ist. Regel 5: Optimierung der Gebäudehülle Fenstersysteme und Elementfassaden bestehen aus den Verglasungen, die von Rahmenprofilen gehalten werden. Nicht nur die Verglasung, auch die Pfosten- und Rahmenkonstruktionen sowie die nicht transparenten Fassadenbereiche müssen hochdämmende Eigenschaften besitzen, da sonst der erwünschte Effekt einer hohen Oberflächentemperatur im Inneren und die bauliche Vermeidung von Kaltluftabfall an der Fassade nicht gegeben ist. Neben der Optimierung der Einzelbauteile sollten bei der Planung und Ausführung Wärmebrücken weitestgehend vermieden werden. Sie beeinträchtigen nicht nur den Raumkomfort, sondern führen auch zu einem erhöhten Energieaufwand. Die Verbesserung der Gebäudedichtigkeit ist in allen Klimazonen ein wichtiges Kriterium. Während in Nord- und Mitteleuropa undichte Gebäude den Heizenergiebedarf erhöhen, muss in südlichen Ländern der zusätzliche Wärmeeintrag weggekühlt werden. In feuchten Klimazonen ist

ein Feuchteeintrag zu vermeiden, um den Energiebedarf zur Entfeuchtung gering zu halten. Ein guter Sonnenschutz gehört zu den wesentlichen Bestandteilen eines nachhaltigen Gebäudes. Ziel ist es, dem Gebäude einen ausreichenden Schutz vor zu hoher Sonneneinstrahlung zu bieten, um sowohl den Kühlenergiebedarf (kWh) als auch die benötigte Kühlleistung (kW) gering zu halten. Der Sonnenschutz richtet sich nach Art und Größe der Verglasung und lässt sich durch ein zusätzliches Element, das starr oder beweglich angeordnet sein kann, regulieren. Neben dem Verlauf der Sonnenbahn für den lokalen Standort muss bei beweglichen außen liegenden Sonnenschutzeinrichtungen auch die Windstabilität beachtet werden. Da sich mit dem Verglasungsanteil und dem Sonnenschutz auch die Höhe des Tageslichteinfalls in die Räume reguliert, besteht eine direkte Wechselwirkung zwischen Energiebedarf für Raumkühlung und künstlicher Beleuchtung. Die Anforderungen an die Verschattungsqualität des Sonnenschutzes sind nahezu standort- und nutzungsunabhängig. Natürlich gibt es für unterschiedliche Klimaregionen und Gestaltungswünsche sehr differenzierte Lösungen, die jedoch alle den Anforderungen an eine effektive Verschattung genügen müssen. Regel 6: Integration aktiver erneuerbarer Energiesysteme Eine Integration von erneuerbaren Energiesystemen ist nur in Verbindung mit entsprechenden geeigneten Raumklimasystemen sowie in Abhängigkeit von der Gebäudeform möglich. Ziel sind sogenannte Low-Exergie-Lösungen mit Niedrigtemperaturheiz- und Hochtemperaturkühlsystemen (siehe Handlungsfeld Stoffströme, S. 146). Diese lassen sich aufgrund ihres Temperaturniveaus mit Energiequellen wie Geo- und Solarthermie sowie passiven Systemen wie Nachtkühle wirtschaftlich betreiben. Auch Kraft-WärmeKälte-Kopplungssysteme sind möglich, da es bei vielen Nutzungen erforderlich ist, den Strombedarf für die EDV-Ausstattung und Beleuchtung größtenteils in Kombination mit Wärme- und Kältebedarf für die Raumklimakonditionen bereitzustellen. Gängige Kraft-Wärme-Kälte-Kopplungssysteme sind Blockheizkraftwerke (BHKW) mit Absorptionskältemaschinen. Zukünftig könnten auch Brennstoffzellen oder Stirlingmotoren diese Aufgaben übernehmen. Um einen hohen Deckungsanteil der erneuerbaren Energie aus dem Gebäudegrundstück selbst zu erzielen, sind zudem bestimmte Verhältnisse aus Geschossflächenzahl (GFZ) und Gebäude-

4.4 — Ökologie

175

Gebäude 1: GFZ 1,0; GRZ 0,3 Gebäude 2: GFZ 5,0; GRZ 1,0 Gebäude 3: GFZ 10,0; GRZ 0,5

Gebäude 1 Potenzial 100%

Gebäude 2 Potenzial 50%

Gebäude 3 Potenzial 25%

Gebäude 1 Potenzial 100%

Gebäude 2 Potenzial 100%

Gebäude 3 Potenzial 40%

Geothermie (a)

Solarthermie (b)

kubatur einzuhalten. Die GFZ beschreibt das Verhältnis zwischen Geschossfläche und Grundstücksfläche und ist somit ein Maß für die Verdichtung und die zur Verfügung stehenden Dachund Bodenflächen. Aus diesen Größen lässt sich ableiten, inwieweit es möglich ist, den Energieaufwand aus natürlichen Energiequellen wie Sonne und Erdreich zu decken. Dabei gelten folgende Faustregeln: • Die Einbindung von oberflächennahen geothermischen Anlagen bis zu einer Tiefe von 200 m ist nur dann effektiv, wenn ausreichend Grundstücksfläche zur Platzierung der Erdreichwärmetauscher unterschiedlichster Art vorhanden ist. Dabei sollte die GFZ im Wohnungsbau im Bereich von 3 bis maximal 5 liegen. Für Bürogebäude werden Werte von 3 bis maximal 6 angestrebt. Damit lässt sich für energieeffiziente Gebäude in Nord- und Mitteleuropa ein Großteil der Heiz- und Kühlenergie über das Erdreich decken (Abb. 13 a). • Für die Nutzung von Solarenergie für die Wärmeerzeugung muss ausreichend Dachfläche zur Platzierung der Sonnenkollektoren zur Verfügung stehen. Die Fassade eignet sich nur eingeschränkt zu einer solchen Nutzung, da in den meisten Räumen Tageslicht benötigt wird und das Potenzial der Einstrahlung auf die Fassadenebene nur maximal 70 % des optimalen Ertrags beträgt. Um für energieeffiziente Wohngebäude einen großen Anteil der Trinkwassererwärmung über Solarenergie zu decken, empfiehlt sich eine Geschossanzahl von zehn bis maximal zwanzig (Abb. 13 b, c). • Bei Nutzung von Solarenergie zur Stromerzeugung sollte die Anzahl der Geschosse für den Wohnungsbau drei bis maximal fünf und für den Bürobau zwei bis maximal vier betragen, wenn ein großer Teil des Strombedarfs

für die Anlagen zur Raumkonditionierung und für Haushalts- oder EDV-Geräte über Photovoltaiksysteme gedeckt werden soll. Diese Faustregel gilt für Gebäude in Nord- und Mitteleuropa, für die keinerlei Möglichkeiten bestehen, auf dem Grundstück Photovoltaikanlagen zu platzieren. In Südeuropa ist zwar die solare Einstrahlung größer, der Bedarf an solarer Stromerzeugung oder solarer Kühlung ist jedoch ebenfalls höher als in Mitteleuropa. Da Geothermie in Südeuropa nur eingeschränkt zur Kälteversorgung verwendet werden kann, gilt für die Stromversorgung durch Photovoltaikanlagen dieselbe Faustregel wie in Mitteleuropa.

Gebäude 1 Potenzial Wohngeb. 100% Bürogeb. 60%

Gebäude 2 Potenzial Wohngeb. 50% Bürogeb. 40%

Photovoltaik (c)

Abb. 13

Regel 7: Luftqualität, Schadstofffreiheit und Trennbarkeit Für den Menschen ist Luft lebensnotwendig. So bestimmt die Luftqualität nicht nur sein Wohlbefinden, sondern auch seine Gesundheit. Ausschlaggebend für die Anforderungen an die Luftqualität in Gebäuden sind im Wesentlichen Nutzung und Aufenthaltsdauer. Bei sehr dichten Gebäuden ist die erforderliche Luftwechselrate nicht nur abhängig von der Personendichte, sondern auch von der vorhandenen Außenluftqualität, dem gewählten Lüftungssystem und den verwendeten Ausbaumaterialien im Gebäude. Neben der Schadstofffreiheit in der Luftversorgung und in den verwendeten Baumaterialien spielt die vorausschauende Planung bezüglich der Trennbarkeit und Austauschbarkeit von allen eingesetzten Systemen und Konstruktionen eine immer größere Rolle. Die zukünftige Wirtschaftsform wird sich in immer wiederkehrenden Kreisläufen organisieren, sodass für alle Güter und Produkte ein hohes Maß an Recyclingfähigkeit von höchster Bedeutung sein wird.9 PM

Gebäude 3 Potenzial Wohngeb. 15% Bürogeb. 10%

Abb. 13 Potenziale der Nutzung von Geothermie, Solarthermie und Photovoltaik für unterschiedliche Verhältnisse von Grundstücksfläche und Gebäudekubatur für Wohnund Bürogebäude a möglicher Deckungsanteil der Geothermie am Energiebedarf für Heizen und Kühlen b möglicher Deckungsanteil der Solarenergie am Energiebedarf für die Trinkwassererwärmung c möglicher Deckungsanteil der Solarenergie am Strombedarf

9 Braungart/McDonough 2002

176

Kapitel 4 — Handlungsfelder

4 . 4 .6

Emissionen Jürgen Baumüller, Sigr id Bus ch, Diet r ich Henck el, Antonella Sgobba

A

llgemein ist es das Ziel, Schadstoffeinträge in die Umwelt zu vermeiden und deren negative Effekte mithilfe gezielter Maßnahmen zu minimieren. Hierbei gilt es, die Ursachen der Emissionen zu betrachten und Wechselwirkungen zu berücksichtigen. Verkehrsplanerische Maßnahmen, die ein effizienteres und umweltfreundlicheres Mobilitätsverhalten ermöglichen, können beispielsweise sowohl Lärm- als auch Luftschadstoffemissionen senken. Zusätzlich zu den planerischen Maßnahmen stehen ordnungsrechtliche Instrumente zum Schutz vor Schadstoffeinwirkung zur Verfügung. Im Folgenden wird zwischen Emissionen und Immissionen unterschieden: Sind Emissionen Schadstoffeinträge, die sich aus einer Quelle in die Umgebung ausbreiten, so beschreiben Immissionen deren Einwirkung auf einen bestimmten Ort oder auf den Menschen (Abb. 1).

Immissionsschutz Gegenstand des Immissionsschutzes ist die Verringerung der Einwirkung von Schadstoffen auf die Umwelt. Dafür wurden verschiedene ordnungsrechtliche und planerische Instrumente entwickelt.

Ordnungsrechtlicher Rahmen Die Staatengemeinschaft der Europäischen Union hat 1996 mit der Verabschiedung der EU-Richtlinie 96/61/EG einheitliche Regelungen für die »integrierte Vermeidung und Verminderung von Umweltverschmutzung« definiert. Ebenfalls 1996

wurde die Richtlinie 96/62/EG über die Beurteilung und die Kontrolle der Luftqualität beschlossen. Im Bereich des Lärmschutzes folgte 2002 die Richtlinie 2002/49/EG (Umgebungslärmrichtlinie) zur einheitlichen Ermittlung von Umgebungslärm. Die Bestimmungen dieser EU-Richtlinien wurden in Deutschland in das seit 1974 bestehende Bundes-Immissionsschutzgesetzes (BImschG) integriert und damit in nationales Recht umgewandelt. Das BImschG und die auf ihm beruhenden Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften definieren Grenzwerte für den Eintrag von Lärm und Luftschadstoffen in die Umwelt und regeln darüber hinaus die Bereiche Gewässer- und Bodenschutz sowie Kreislauf- und Abfallwirtschaft (siehe Herausforderung Wasser und Bodenschutz, S.62ff.; Herausforderung Stoffströme, S. 65f.). Für den Lärmschutz kommt bei Genehmigungsverfahren die Verwaltungsvorschrift »Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm« (TA Lärm 1968, 1998) zur Anwendung, für den Bereich der Luftschadstoffe ist die Verwaltungsvorschrift »Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft« (TA Luft 1964, 2002) zu berücksichtigen. Zur Limitierung des Eintrags von Wärme und Licht in die Umwelt existieren in Deutschland derzeit lediglich Richtwerte und Empfehlungen.

Planerische Instrumente Auf den Eintrag von Lärm, Luftschadstoffen, Wärme und Licht in die Umwelt lässt sich im Rahmen sektoraler Planungen (z. B. Verkehrs-, Lärmschutz- und Lichtplanung sowie technische Ver- und Entsorgung) Einfluss nehmen. Von Bedeutung ist dabei die Zusammenführung der sektoralen Planungen zu integrierten Konzepten, die durch die rechtsverbindlichen Instrumente der Bauleitplanung (Flächennutzungsplan und Bebauungsplan) gesichert werden. SB, AS

4.4 — Ökologie

65

62,5

67,5

57,5 60

Emission

Transmission

177

Immission

55 52,5 50

Quelle

0m

50 m

100 m

Abb. 1

Maßnahmen gegen Lärm Lärm schadet der Gesundheit und beeinträchtigt das menschliche Wohlbefinden. Damit ist er auch dafür verantwortlich, dass Wohnquartiere und Städte erheblich an Attraktivität und Lebensqualität verlieren. Aus diesem Grund kommt dem Schutz vor Lärmimmission eine sehr wichtige Rolle zu. Maßnahmen zur Minderung der Lärmemissionen sind in Deutschland rechtsverbindlich, wenn sich Überschreitungen der Grenzwerte feststellen lassen. Auf der Ebene der EU schreibt darüber hinaus die EU-Umgebungslärmrichtlinie fest, dass seit 2007 jede Kommune ab 250 000 Einwohnern – und seit 2012 auch Kommunen ab 100 000 Einwohnern – im Abstand von fünf Jahren Lärmkarten anfertigen muss. Diese stellen wichtige Instrumente dar, um Probleme und Konflikte aufzuzeigen und darauf aufbauend Schutzmaßnahmen zu implementieren. Sind schädliche Effekte aufgrund eines hohen Lärmpegels zu erwarten, so müssen Konfliktkarten und Lärmschutzplanungen unter Einbeziehung der Öffentlichkeit aufgestellt werden, die ebenfalls alle fünf Jahre zu aktualisieren sind. Es liegt in der Verantwortung der Kommunen, je nach Größe des belasteten Gebiets, Anzahl der durch Lärm betroffenen Personen und Höhe der Lärmbelastung Prioritäten zu setzten und die erforderlichen Maßnahmen zu einer Verbesserung der Situation zu ergreifen. Das Umweltbundesamt empfiehlt den Gemeinden, bei gesundheitsschädlichen Überschreitungen des Gesamttag-Lärmindex L (den) ab 65 dB(A) und des Nachtlärmindex L (night) ab 55 dB(A) kurzfristig umsetzbare Lärmminderungsmaßnahmen (z. B. Lkw-Verbote, Tempo 30 nachts, Schließung von Baulücken etc.) in die Wege zu leiten. Bei Überschreitungen von L (den) ab

60 dB(A) und L (night) ab 50 dB(A) sollen Maßnahmen zur Minderung der Belästigungen ergriffen werden, die mittelfristig umsetzbar sind, wie Umgestaltungen des Straßenraums, Sanierung der Fahrbahn etc.1 In einigen Städten wie z. B. Stuttgart gelten etwas höhere Grenzwerte für die Lärmaktionsplanung. Hier erfordern erst Schallpegel ab 70 dB(A) tagsüber und 65 dB(A) nachts eine kurzfristige Lärmsanierung. Die Stadt Stuttgart, die bereits einige Maßnahmen im Rahmen der ersten Lärmaktionsplanung 2009 umsetzen konnte (z. B. Ausbau und Förderung des ÖPNV, Durchfahrtsverbot für Lkws über 3,5 t durch die Stadt, Parkraumkonzepte für Wohngebiete etc.), hat sich bis 2030 das Ziel gesetzt, in Wohngebieten einen durchschnittlichen Schallpegel unter Berücksichtigung aller Emissionsquellen von weniger als 55 dB(A) tagsüber und 45 dB(A) nachts zu erreichen (Vision Lärmschutz Stuttgart 2030).2 Diese Entscheidung ist das Ergebnis der 2012 durchgeführten Lärmkartierung, die deutlich gemacht hat, dass rund 16 000 Menschen in Stuttgart in Gebieten leben, die einen durch Straßenverkehr verursachten Lärmpegel von über 60 dB(A) in der Nacht aufweisen. Lärmschutzmaßnahmen können direkt beim Verursacher – dem Verkehr – sowie auf städtebaulicher und architektonischer Ebene durchgeführt werden. Dabei unterscheidet man zwischen aktiven und passiven Maßnahmen. Aktive Maßnahmen kommen direkt an der Lärmquelle zum Einsatz, während passive am Immissionsort erfolgen, beispielsweise durch die Ausrüstung der Gebäude mit Schallschutzfenstern. Passive Lärmschutzmaßnahmen werden dann durchgeführt und finanziert, wenn die aktiven in ihrer Wirkung nicht ausreichen. Einzelheiten hierzu finden sich in den entsprechenden Richtlinien (VDI-Richtlinie 2719 »Schalldämmung von Fenster und deren Zusatzeinrichtungen«, DIN 4109 »Schallschutz im Hochbau«).

Abb. 1 Ausbreitung von Lärm

1 UBA 2008 2 Vision Lärmschutz Stuttgart 2030

178

Kapitel 4 — Handlungsfelder

> - 99,0 dBA > 35,0 dBA > 40,0 dBA > 45,0 dBA > 50,0 dBA > 55,0 dBA > 60,0 dBA > 65,0 dBA > 70,0 dBA > 75,0 dBA > 80,0 dBA > 85,0 dBA Abb. 2

Lärmschutzmaßnahmen im Städtebau

Abb. 2 unterschiedliche Baustrukturen und ihre Auswirkung auf die Schallausbreitung (Simulation in CadnaA) Abb. 3 Lärmschutz durch Gebäuderiegel, Lärmschutzwand und entsprechende Anordnung der Räume innerhalb einer Wohnung

Lärmschutzanlagen wie Lärmschutzwälle und -wände zählen vor allem in außerörtlichen Bereichen zu den verbreitetsten Lösungen bei Straßenlärm und sind umso effizienter, je näher sie an der Lärmquelle errichtet werden (Abb. 1, S. 177). Lärmschutzwälle lassen sich bei ausreichendem Platz in die Landschaft integrieren und können auf der lärmabgewandten Seite auf Quartiersebene Funktionen wie Garagen aufnehmen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass bei der Realisierung von Lärmschutzwällen mit erheblichen Kosten zu rechnen ist. In innerstädtischen Bereichen werden Lärmemissionen maßgeblich durch Straßenverkehr verursacht. Somit spielen verkehrsplanerische Lärmschutzmaßnahmen eine erhebliche Rolle bei der Vermeidung, Minderung und Verlagerung von Kfz-Emissionen. Maßnahmen wie Verkehrsverbote und -beschränkungen, Durchfahrtsverbot für Lkws, Geschwindigkeitsbeschränkungen, grüne Welle, lärmmindernde Fahrbahnbeläge sowie Priorisierung des ÖPNV, Reduzierung des Straßenquerschnitts, Ausbau der Radwege, Car- und Bikesharing, Einsatz von Elektroantrieben und Parkraummanagement zählen zu den effektivsten Lösungsansätzen. Beispielweise kann eine Senkung der Geschwindigkeit in innenstädtischen Bereichen von 50 auf 30 km/h eine Minderung der Lärmemissionen um 3 dB(A) bewirken. Lassen sich Schallemissionen auf der Ebene der Verkehrsplanung nicht ausreichend minimieren, so ist es möglich, die Lärmbelastung innerhalb der Quartiere mithilfe zusätzlicher städtebaulicher Maßnahmen zu verbessern. Im Gebäudebestand ist dabei die Schließung von Baulücken wirkungsvoll, da sich so die Schallausbreitung und damit die Schallimmission auf umliegende Gebäude

vermindert. Bei der Planung neuer Quartiere lässt sich mittels der Anordnung der Gebäude sowie der Art der verwendeten Baustrukturen die Schallausbreitung beeinflussen (Abb. 2). So können parallel zur Lärmquelle stehende Gebäudezeilen eine gute Lärmabschirmung bewirken, und eine geschlossene Blockrandbebauung ermöglicht einen weitgehend lärmgeschützten Bereich im Innenhof. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, durch die Anordnung von Nutzungen in den Baustrukturen auf Schallimmissionen zu reagieren. In diesem Zusammenhang können weniger lärmempfindliche Nutzungen in Gebäudeteilen oder Stockwerken untergebracht werden, die näher an der Schallquelle liegen und lärmempfindliche Nutzungen in Bereichen, die weniger lärmbelastet sind. Dies lässt sich durch eine entsprechende Konzeption des Grundrisses auch auf die Gebäudeebene übertragen, indem man lärmempfindliche Bereiche wie Schlafzimmer und Wohnräume auf der ruhigen Seite anordnet, während sich Küche, Bad, Esszimmer, Abstellräume, Treppenhäuser, Wintergärten, Laubengänge, Doppelfassaden oder geschlossene Balkone als Pufferzone auf der vom Lärm betroffenen Seite befinden (Abb. 3). Hiermit ist es möglich, eine Lärmminderung von bis zu 10 dB(A) zu erreichen. Ergänzend muss erwähnt werden, dass die Schallschutzwirkung von Bepflanzungen – sieht man von psychologischen Effekten ab – sehr gering ist, da eine Wirkung erst ab einem 100 m breiten und dichten Waldstreifen wahrnehmbar ist. Um diese Lärmschutzmaßnahmen zu steuern und umzusetzen, steht den Stadtplanern das Instrument der kommunalen Bauleitplanung zur Verfügung. Nach Baugesetzbuch (BauGB) können Lärmschutzanlagen im Flächennutzungsplan als Flächen »für Vorkehrungen zum Schutz gegen schädliche Umwelteinwirkungen im Sinne des Bundes-Immissionsschutzgesetzes« vorgesehen werden (BauGB § 5 Abs. 2 Nr. 6), die durch die

4.4 — Ökologie

Durchgangsstraße

Lärmquelle

Grenzabstand

179

Gewerbe/ Garagen/ Ateliers

Innenhof

Lärmschutzriegel

Lärmquelle

Wohnungen

lärmempfindliche Räume

Lärmhindernisse

lärmempfindliche Räume

Nutzungszuordnung sowie durch die Festlegung von Abständen oder freizuhaltenden Flächen definiert sind. Weitere Festlegungen lassen sich auf Bebauungsplanebene konkretisieren und verbindlich regeln. Über die Definition der Art der baulichen Nutzung gemäß Baunutzungsverordnung (BauNVO) kann die Nutzungen sowie deren Lage innerhalb eines Gebiets festgelegt und je nach Lärmempfindlichkeit angeordnet werden. Auch die Festsetzung der Bauweise und des Maßes der baulichen Nutzung ist ein wirksames Instrument gegen Lärm: Eine geschlossene Bebauung statt einer offenen Baustruktur schirmt den Lärm besser ab, auch die Höhe einer Bebauung kann als Schutz gegen Lärm dienen. Diese Festsetzungen im Bebauungsplan lassen sich durch Anforderungen hinsichtlich passiver Maßnahmen weiter konkretisieren und ergänzen Bei der Auswahl der angemessenen Lärmschutzmaßnahmen gilt es, stadtgestalterische, soziale, funktionale, ökologische und ökonomische Aspekte abzuwägen. Über die Minderung der Lärmbelastung hinaus lassen sich wichtige Rückkopplungseffekte feststellen, die sich in einer Steigerung der Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum und in der Attraktivität der Stadt wider-

spiegeln. Konzepte wie die kompakte Stadt, die Stadt der kurzen Wege und der Nutzungsmischung, die einer nachhaltigen Stadtentwicklung entsprechen, erfordern jedoch eine höhere Lärmakzeptanz, da eine Stadt der Stille keine lebendige Stadt sein kann. SB, AS

Küche

Wohnen/ Essen

WC Zimmer Bad

Maßnahmen gegen Luftschadstoffe Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichte im Jahr 2000 für 28 Luftschadstoffe Luftqualitätsleitwerte, sogenannte Air Quality Guidelines for Europe. Sie dienen dazu, den verantwortlichen Regierungen und Behörden wissenschaftlich fundierte Hintergrundinformationen über Luftverunreinigungen zur Beurteilung von Risiken für den Menschen und die Vegetation sowie zur Festlegung von rechtsverbindlichen Luftqualitätsstandards an die Hand zu geben.

Zimmer Abb. 3

Balkon

Lärmreduktion 0 dB 2–5 dB 5 –10 dB 10 – 20 dB > 20 dB

180

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Grenzwerte [g/km]

Kohlenmonoxid (CO) 3,5

Kohlenwasserstoffe (HC) + Stickstoffoxide (NOx)

NOx

HC

3,0

2,5

2,0

1,5

1,0

0,5

0 1993 EURO-1

1997 EURO-2

2001 EURO-3

2005 EURO-4

2009 EURO-5

2014 EURO-6

Abb. 4

Weitere Informationen Lärm: • Baumüller, Jürgen: Städtebauliche Lärmfibel. Hrsg. vom Wirtschaftsministerium BadenWürttemberg. Stuttgart 1994 • Umweltbundesamt, Europäische Akademie für städtische Umwelt (Hrsg.): SilentCity. Berlin 2008 • Umweltbundesamt: Maßnahmenblätter zur Lärmminderung im Straßenverkehr. Dessau 2009 • Umweltbundesamt: PULS Praxisorientierter Umgang mit Lärm in der räumlichen Planung und im Städtebau. Dessau 2006 Lichtverschmutzung: • Freistetter, Florian: Intelligente Straßenlaternen reduzieren die Lichtverschmutzung, 2012; www.forschungs-blog.de/intelligente-strasenlaternen-reduzieren-die-lichtverschmutzung • International Dark-Sky Association (IDA): International Dark-Sky Parks; www.darksky.org/ night-sky-conservation/national-park-service • Köhler, Dennis: Künstliches Licht im öffentlichen Raum als Aufgabe der Stadtplanung. Der Weg zu einer integrierten Lichtleitplanung. In: Köhler, Dennis; Walz, Manfred; Hochstadt, Stefan (Hrsg.): LichtRegion. Positionen und Perspektiven im Ruhrgebiet. Essen 2010, S. 181–198 • Kyba, Christopher C. M. et al.: Red Is the New Black: How the Colour of Urban Skyglow Varies with Cloud Cover. In: Monthly Notices of the Royal Astronomical Society, 01/2012, S. 701–708 • TRILUX AG (Hrsg.): Beleuchtungspraxis. Außenbeleuchtung. Arnsberg 2009 • Verband der Netzbetreiber und Deutsche Lichttechnische Gesellschaft e.V. (LiTG; Hrsg.): Straßenbeleuchtung. Leitfaden für Planung, Bau und Betrieb. Frankfurt/M. et al. 2009 • Völker, Stephan: Lichtqualität und Effizienz in der Straßenbeleuchtung. Workshop »Verlust der Nacht«, Bundesministerium für Forschung und Bildung (BMBF), 23.09.2011, Berlin

Eine Aktualisierung für die Werte für Feinstaub (Particulate Matter – PM), Ozon (O3), Stickstoffdioxid (NO2) und Schwefeldioxid (SO2) erschien 2005. Im Jahr 2010 wurden auch entsprechende Guidelines für die Innenraumluft herausgegeben (www.who.int). Während sich zu Beginn Maßnahmen zur Reduktion von Schadstoffen hauptsächlich auf belastete Arbeitsplätze bezogen hatten, zeigte sich im Lauf der industriellen Entwicklung die Notwendigkeit, auch die Belastung der Außenluft zu reduzieren. Genannt sei hier die Smog-Katastrophe in London 1952, bei der zwischen 4000 und 12 000 Menschen starben. Ursache für die hohe Luftbelastung war die Verbrennung von schwefelreicher Kohle, was zu sehr hohen SO2-Konzentrationen führte. Als Folge dieser Smog-Katastrophe wurde in England im Jahr 1956 der »Clean Air Act« beschlossen. Eine wichtige Maßnahme war die Reduzierung offener Kamine zu Heizzwecken. In der Nachkriegszeit bis in die 1970er-Jahre bestand die Hauptluftbelastung aus SO2 und Schwebstaub. Man versuchte, die Luftbelastung durch die Industrie mithilfe hoher Schornsteine zu reduzieren, da technische Maßnahmen noch nicht Stand der Technik waren. Aufgrund der hohen Luftbelastung wurden in einzelnen Bundeländern Smog-Verordnungen erlassen, die es ermöglichten, bei gesundheitsschädlichen Konzentrationen die Produktion in den Fabriken zu drosseln und den Autoverkehr zu untersagen. Inzwischen wurden diese Verordnungen wieder aufgehoben. Für Industrie- und Gewerbeanlagen wurden gemäß der Gewerbeordnung (heute Bundesimmissionsschutzgesetz) Forderungen zur Luftreinhaltung formuliert. Die »Technische Anleitung zur Reinhaltung der Luft« (TA Luft) aus dem Jahr 1964 war die »Erste Allgemeine Verwaltungsvor-

schrift«. Sie wird bis heute ständig fortgeschrieben und beinhaltet stoffbezogene Emissions- und Immissionswerte. Mess- und Berechnungsverfahren sind darin ebenfalls vorgeschrieben, insbesondere das Verfahren der Ausbreitungsrechnung. Die neueste Fassung stammt aus dem Jahr 2002. Die TA Luft richtet sich an die Genehmigungsbehörden für genehmigungspflichtige industrielle und gewerbliche Neuanlagen und ist für diese bindend. Aber auch bestehende Anlagen müssen innerhalb gewisser Übergangsfristen den Stand der Technik erreichen und den Schadstoffausstoß reduzieren. Durch die Entschwefelung von Heizöl und Dieselkraftstoff sowie Entschwefelungsanlagen in Kraftwerken ist SO2 heute kein Problem mehr. Die Hauptschadstoffquelle ist nun der Autoverkehr. Mitte der 1980er-Jahre wurden die Abgasgrenzwerte (Euro-Norm) für Neuwagen so verschärft, dass der Einbau von Katalysatoren notwendig war. Die Abgasgrenzwerte werden in der Regel alle vier Jahre weiter herabgesetzt. Die nächste Stufe (Euro-6) ist für 2014 geplant (Abb. 4). Während früher die Maßnahmen zur Luftreinhaltung darauf abzielten, gesundheitsschädigende Konzentrationen zu reduzieren, bewegt man sich heute, mit Ausnahme von einigen Belastastungsschwerpunkten in Straßenräumen, auf dem Niveau der Vorsorgewerte. Bei Überschreitung von Grenzwerten sind Luftreinhaltepläne Pflicht. Auch wenn die Treibhausgase per Definition nicht als Luftschadstoffe mit direkter Wirkung auf Mensch, Tier und Pflanze anzusehen sind, zeigte sich die Notwendigkeit, die Emission dieser Gase einzuschränken (Kyoto-Protokoll 1997), um dem Klimawandel entgegenzuwirken. Eine Fortschreibung des 2012 ausgelaufenen Kyoto-Protokolls steht noch aus. Zur Reduktion der die Ozonschicht schädigenden FCKWs wurden schon 1989 im Montreal-Protokoll Regelungen getroffen. JB

4.4 — Ökologie

181

Abb. 4 Abgasgrenzwerte für Neuwagen mit Ottomotor Abb. 5 Lichtbänke aus Leuchtstoffröhren, Hofgarten, Düsseldorf (D) 2002, Stefan Sous Abb. 6 Verschiedene Straßenlaternen beleuchten den Himmel verschieden stark und erhöhen oder senken so die Lichtverschmutzung.

Abb. 5

Maßnahmen gegen Lichtverschmutzung Mit wachsendem Bewusstsein für die negativen Folgen von Lichtverschmutzung gewinnt auch die Steuerung von nächtlicher Außenbeleuchtung an Bedeutung. Die Chancen einer positiven Entwicklung wachsen mit der Verbreitung neuer energieeffizienterer Techniken, die zudem neue Möglichkeiten schaffen, die Beleuchtung gezielter einzusetzen. Vor dem Hintergrund steigender Energiepreise und kommunaler Finanznot sowie dem Verbot alter Techniken (z. B. Quecksilberdampflampen, Gaslampen) muss die Außenbeleuchtung in vielen Kommunen neu konzipiert werden. Der Fokus liegt dabei meist auf die Straßenbeleuchtung, aber immer mehr geht man auch dazu über, Lichtmasterpläne oder Beleuchtungskonzepte für wichtige Bereiche oder die ganze Stadt zu entwickeln. Damit werden unterschiedliche Ziele verfolgt. Neben der technischen Umrüstung und der Steigerung der Energieeffizienz geht es auch darum, einen Beitrag zur Stadtgestaltung, zur Illumination wichtiger Gebäude und Ensembles zu leisten, dabei aber auch Umweltbelange zu berücksichtigen und Ansätze für eine Steuerung privater, für den Außenraum relevanter Beleuchtung (z. B. Leuchtwerbung, Screens) zu finden. Solche Masterpläne sind freiwillige Aufgaben der Kommunen, die zunächst erst einmal nur die Kommune selbst binden. Kernanliegen einer Planung, die Lichtverschmutzung vermeidet, müssen sein:3 • nur das zu beleuchten, was wirklich beleuchtet werden soll, um unnötige Abstrahlung und Lichtüberschreitung zu vermeiden (Abb. 5)

• nur zu den Zeiten zu beleuchten, zu denen es notwendig ist, also nachfrage- und situationsabhängig

3 Völker 2011 4 Kyba /Ruhtz 2012 5 Verb. d. Netzbetreiber u. Dt. Lichttechnische Gesellschaft 2009

Ein wichtiger Baustein, um die Lichtverschmutzung zu reduzieren, ist die Installation von Beleuchtungen, die die Abstrahlung nach oben deutlich reduzieren (Abb. 6). Hatte früher ohne umfangreiche künstliche Beleuchtung ein bewölkter Himmel die Nacht dunkler gemacht, zeigen neuere Untersuchungen,4 dass heute durch eine starke Beleuchtung aufgrund der Reflexion durch die Wolken die Stadtnacht noch heller wird. Generell ist zu konstatieren, dass trotz einiger positiver Tendenzen die Beleuchtungsintensität bislang kontinuierlich weiter zunimmt, wobei jedoch gravierende Unterschiede zwischen verschiedenen Städten bestehen. Das ist u. a. eine Folge davon, dass Licht im Vergleich zu anderen umweltrelevanten Störfaktoren (z. B. Lärm) bislang deutlich weniger reguliert ist, auch wenn es einzelne Handreichungen für Deutschland5 und in manchen Ländern sogar entsprechende Geetze (z. B. Slowenien) gibt. Insofern sollte grundsätzlich über eine klarere Regulierung nächtlicher Außenbeleuchtung z. B. in Form einer »Technischen Anleitung zum Thema Licht« nachgedacht werden, die auch die unterschiedlichen, für die Außenbeleuchtung und die Lichtverschmutzung relevanten Quellen und Akteure systematisch einbezieht. Eine örtlich begrenzte sehr radikale und spezifische Maßnahme zur deutlichen Senkung des Beleuchtungsniveaus ist die Einrichtung besonderer Schutzzonen wie Dark Sky Parks. Dabei verpflichten sich die beteiligten Gebietskörperschaften, die nächtliche Außenbeleuchtung auf ein Mindestmaß zu reduzieren, um im Gegenzug von der International Dark-Sky Association (IDA) als Dark Sky Park zertifiziert zu werden. DH Abb. 6

K A P ITE L 4

Handlungsfelder

4 .5

Ökonomie Ma r t i n Al tmann, Gregor C. Gras s l, Guido Spars

4.5 — Ökonomie

D

er ökonomische Handlungsbedarf im Rahmen von Stadtplanungs- und Quartiersentwicklungsprojekten ist groß, nicht zuletzt stehen diese wegen der meist schlechten finanziellen Lage der Kommunen sehr unter Druck. In diesem Kapitel werden Wege aufgezeigt, wie Projekte wirtschaftlich optimiert werden können. Dabei ist es nicht unbedingt notwendig, die Herstellungskosten und damit oft auch die Qualität einer Entwicklung zu senken. Die Weichenstellung beginnt bereits vor dem eigentlichen Quartiersprojekt durch lokale, volkswirtschaftlich wichtige Entscheidungen. Der Standortwettbewerb um die besten Unternehmen und Leistungsträger kann nur mit einem attraktiven Umfeld gewonnen werden. Um überhaupt Projekte realisieren zu können, sind strategische Ansätze wie ein kommunales Flächenmanagement notwendig. Beim Thema Wirtschaftlichkeit geht es neben Finanzen vor allem um Effektivität und Effizienz, um Wertstabilität und natürlich auch Gewinn. Mit welchen Strategien und Berechnungsmethoden ein Projekt für alle Beteiligten und über den gesamten Lebenszyklus erfolgreich und gewinnbringend geplant werden kann, wird im Folgenden erläutert.

Stadt- und Regionalökonomie Städte und Regionen stehen in einem landesweiten, Metropolen sogar in einem europaweiten oder globalen Wettbewerb um die Ansiedlung von Menschen und Unternehmen. Hierbei zeichnet sich ab, dass Unternehmen ihre Standortentschei-

dung immer häufiger auch von der Attraktivität der Städte für die gesuchten hochqualifizierten Mitarbeiter abhängig machen. In Zeiten steigenden Fachkräftemangels wird diese Tendenz sicherlich noch zunehmen. Die Anforderungen an moderne Wohn- und Arbeitsorte können somit aus den Bedürfnissen dieser Fachkräfte abgeleitet werden, die sich neben dem entsprechenden Freizeit- und Erholungswert der Stadt, Kulturangeboten und der städtebaulichen Qualität auch einen ausdifferenzierten Wohnungsmarkt mit einem angemessenen Preis-Leistungs-Verhältnis sowie eine entsprechende soziale Infrastruktur, z. B. gute Kinderbetreuungsangebote und Schulen, wünschen. Nachhaltige Quartiersentwicklung kann schon aus dieser Perspektive ein guter Ansatzpunkt sein, die Wettbewerbsfähigkeit der Stadt bzw. der Region zu verbessern. Ziel ist es, zeitnah ansprechende und zukunftsfähige Quartiere zu planen und umzusetzen, die die zentralen Wünsche und Wohnbedürfnisse der Menschen aufgreifen und die Stärken der Stadt weiter ausbauen. Strategische Stadtentwicklungsplanung ermöglicht es, Ziele der städtischen Weiterentwicklung herauszuarbeiten und einen sinnvollen Umgang mit unvermeidbaren Flächenkonkurrenzen zwischen unterschiedlichen Flächennutzungsansprüchen zu finden. Die Quartiersentwicklungsplanung sollte in übergeordnete Planungen eingebunden sein. Dazu gehören integrierte Stadtentwicklungskonzepte, Handlungskonzepte für die Stadt insgesamt oder für bestimmte Stadtteile sowie wohnungswirtschaftliche Konzepte. Ein vorausschauendes kommunales Flächen- bzw. Baulandmanagement ermöglicht eine nachvollziehbare Entwicklungsstrategie und unterstützt die Ansprache des Markts mit Blick auf Investoren. Zentrale Leitgedanken der Quartiersplanung sind, welche Rolle das neue Quartier für die Gesamtstadt übernehmen soll, wie das Quartier in Konkurrenz zu anderen Standorten in der Stadt steht

183

184

Kommunales Flächenmanagement in Baden-Württemberg Die Landesanstalt für Umweltschutz BadenWürttemberg verfolgt im Rahmen der Umsetzungsstrategien zum kommunalen Flächenmanagement zum einen den »quantitativen Bodenschutz« durch Reduzierung des Flächenverbrauchs und den »qualitativen Boden- und Freiflächenschutz« zur Erhaltung und Wiederherstellung der Funktionen von Boden und Freiflächen. Dabei werden folgende Ziele formuliert: • Schließen von Baulücken und Mobilisierung von Baulandpotenzialen • Optimieren des Nutzwerts von Flächen • Wiedernutzung von Brachflächen und Umgang mit Altlasten • guter Umgang mit Bodenmaterial • Minimierung des Versiegelungsgrads • Schutz leistungsfähiger Böden • Schutz und Entwicklung von Freiflächen

Kapitel 4 — Handlungsfelder

und welche Flächen und Dichten für die Entwicklung infrage kommen. Insbesondere die Frage nach den Zielgruppen mit ihren Wünschen und finanziellen Möglichkeiten und die daraus folgende Notwendigkeit der Anpassung des Wohnungsangebots können Hinweise auf die anzustrebende Dichte des neuen Quartiers geben. Aber auch die Ansprüche gewerblicher Nutzer gilt es im Sinne der angestrebten gemischt genutzten Quartiere zu bedenken. Eine Standortentwicklung unter dem Gesichtspunkt Ressourceneffizienz und Nachhaltigkeit bietet die Chance, innovative wirtschaftliche Räume zur Verfügung zu stellen, die helfen, die lokale Wirtschaft besser zu profilieren und damit die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. An geeigneten Stellen sollten also Bewertungen aus gesamtstädtischer oder auch regionaler Perspektive einfließen. Stärken, Schwächen und Konflikte in Bezug auf die übergeordneten Planungen müssen rechtzeitig erkannt und offengelegt werden. Auch muss die Stadtpolitik über die entsprechende Handhabe verfügen, über diese Konflikte und ihre Prioritäten zu entscheiden. Hierfür ist es sinnvoll, in Alternativen und Varianten zu planen und zu denken, um eine rationale Entscheidung aus regionaler oder gesamtstädtischer Perspektive vornehmen zu können.

Ausstrahlungseffekte von Quartieren Aus volkswirtschaftlicher Sicht gibt es jedoch noch einen weiteren Aspekt, der eine nachhaltige und qualitativ hochwertige Quartiersentwicklung erschwert. Viele als schlecht und nicht nachhaltig empfundene Quartiersentwicklungen entspringen einer missverstandenen Ökonomie. Dieses Missverständnis basiert auf einem zu engen betriebswirtschaftlichen Renditebegriff in der Projektentwicklung. Immobilienprojekte, insbesondere wenn sie über die Größenordnung des Einzelgebäudes hinausgehen, wirken aufgrund ihrer räumlichen Ausstrahlungen sowohl auf das unmittelbare Umfeld als auch bisweilen auf das gesamte Quartier oder gar die ganze Stadt (wie z. B. der sogenannte Bilbao-Effekt durch das Guggenheim Museum in der gleichnamigen Stadt). Dieser Nut-

zen nachhaltiger Quartiersgestaltung wird bei der Kalkulation der Erträge in der Investitionsrechnung nur so weit berücksichtigt, als man davon ausgeht, dass die Mieter oder Käufer bereit sind, einen gewissen Mehrpreis für die Immobilie zu bezahlen. Viele Vorteile, die hochwertige Architektur oder nachhaltiger Städtebau darüber hinaus mit sich bringen, bleiben jedoch in der Kalkulation der Immobilienentwickler unberücksichtigt, weil sie quantitativ nur schwer fassbar sind. Auch der im prognostizierten Bodenpreis enthaltene Mehrwert bezieht sich meist auf diese vereinfachte Ertragssicht des jeweiligen Gebäudes (z. B. über das Ertragswertverfahren) und nicht auf Wertsteigerungen, die in benachbarten Gebäuden oder im Quartier insgesamt dadurch entstanden sind. Es kommt somit zu einem falschen, nämlich verkürzten Renditewert des Projekts. Die Nichtberücksichtigung dieser Renditepotenziale auf Quartiers- und Stadtebene führt dazu, dass diese Vorteile im Entscheidungsprozess von Investoren nicht mit einfließen und folglich weniger nachhaltige Projekte mit ihren positiven Ausstrahlungswirkungen entstehen. Wenn es nicht gelingt, die anderen Profiteure oder die Gesellschaft z. B. in Form der öffentlichen Hand an der Finanzierung zu beteiligen, wird das Ergebnis aller Voraussicht nach immer ein weniger nachhaltiges Quartier sein. Sinnvoll wäre die Entwicklung neuer Instrumente und Methoden, die auch für die über das enge Projekt hinausgehenden Effekte eine Ertragsprognose aufstellen und diese – zumindest in der Verhandlungssituation zwischen Kommunen und Investoren – transparent machen. Volkswirtschaftlich wünschenswert ist es, dass Anreize für die betriebswirtschaftlich handelnden Entwickler und Investoren auch in Richtung eines stadtökonomisch optimalen Ergebnisses zielen. GS

Kommunales Flächenmanagement Ein vorsorgendes kommunales Flächenmanagement ist ökonomisch insbesondere vor dem Hintergrund des flächensparenden Entwickelns und Bauens von erheblicher Bedeutung und stellt

4.5 — Ökonomie

einen maßgeblichen Baustein integraler Handlungskonzepte dar. Aufgrund der begrenzten Handlungsspielräume der Kommunen kann es für diese als »Daseinsvorsorge« verstanden werden. Umfassende Bestandsaufnahmen zu Umfang und Nutzung von Baulücken und Brachflächen gehören ebenso dazu wie mögliche Ankaufsstrategien, die die Kommunen in die Lage versetzen, Stadtentwicklungsziele auch aktiv selbst anzugehen. Natürlich spielen hierbei insbesondere große Konversionsareale der Bahn, des Militärs oder der Industrie eine Rolle, die die Städte vor ganz neue Herausforderungen stellen. Für Städte, die aktiv ihre Innenstädte entwickeln wollen und keine weiteren Ausweisungen in Randbereichen anstreben, ist das Potenzial an Baulücken und untergenutzten oder falsch genutzten Grundstücken und Gebäuden ein entscheidendes städtebauliches und auch soziales Handlungsfeld. Durch kommunales Flächenmanagement werden – ähnlich wie beim Portfoliomanagement im Finanzbereich – die Kommunen und die Eigentümer in die Lage versetzt, Wertschöpfungspotenziale und Entwicklungsmöglichkeiten abzuschätzen. Grundlegendes Ziel ist es dabei, im Sinne der integrierten und nachhaltigen Stadtentwicklung räumliche und inhaltliche Prioritäten zu setzen, die sowohl den privaten Akteuren als auch der Kommune Ertragspotenziale sichern können. Im Zuge der Stadtumbaustrategien spielt die Flächenaktivierung eine maßgebliche Rolle, denn auch für bestehende Quartiere müssen Aufwertungs- und Modernisierungsstrategien entwickelt werden. Damit verbundene Finanzierungsmodelle verknüpfen kleinteiliges privates und öffentliches Kapital im Sinne der Stadtentwicklung. Ein Kataster von Flächen- und Gebäudepotenzialen in Form eines Portfolios muss Informationen zu Grundstück und Vermessung, Erschließung, Denkmalschutz, Art und Maß der baulichen Nutzung sowie Umfeld und städtebauliche Aspekte berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund kann eine Immobilienbewertung nicht ausschließlich wirtschaftlich erfolgen. Auch die Ziele der Stadtentwicklung und die Interessen von Eigentümern und Nachbarn sind dabei insbesondere in Bestandsquartieren zu berücksichtigen. Brachflächen, nicht oder minder genutzte Grundstücke und Gebäude sind totes Kapital. Die Flä-

chenaktivierung ist im Sinne der Innenentwicklung der entscheidende Baustein für eine wirtschaftliche und städtebauliche Inwertsetzung. Je besser eine Stadt sich diesbezüglich aufstellt, konkrete Angebote machen kann und nachfrageorientiert am Markt agiert, desto stärker ist ihre Position im Wettbewerb. Stadtentwicklungskonzepte, die sehr detailliert durch Analyse und Konzeption aufbereitet werden, stoßen jedoch im Rahmen der Umsetzung häufig an ihre Grenzen. Eine überzeugende und sicher zum Teil wirtschaftlich begründete Aktivierungsstrategie ist hier eine Bedingung für die Handlungsfähigkeit. Ein kommunales Flächenmanagementsystem lässt sich mit EDV-Unterstützung technisch unproblematisch aufstellen. Die Kommunikation, Partizipation und Zusammenführung aller Informationen mit der klaren Bewertung, wann und in welcher Form eine Nutzung baurechtlich abgesichert möglich ist, stellt ein wertvolles Instrument der städtebaulichen Entwicklungsstrategie dar. MA

Ökonomische Quartiersplanung Auf Ebene des Quartiers ist die wirtschaftliche Beurteilung hauptsächlich von der Größe und der Laufzeit der Quartiersentwicklung und damit vom Risiko abhängig. Ein Quartier wird nur dann akzeptiert und wirtschaftlich tragfähig sein, wenn es gelingt, funktionierende Abschnitte in einem überschaubaren zeitlichen Rahmen zu realisieren und so das Entwicklungsrisiko zu reduzieren. Dies ist wiederum Gundvoraussetzung vor allem für rein privatwirtschaftliche Träger. Die Erwirtschaftung einer angemessenen Rendite bleibt für die Beteiligung von privatem Kapital das Maß aller Dinge. Gleichzeitig ist die Kommune als Träger der Planungshoheit die entscheidende Instanz, die die planungsrechtlichen Voraussetzungen für eine geordnete Entwicklung schafft. Vor dem Hintergrund, dass Kommunen meist weder die Kapazitäten noch die wirtschaftlichen Mittel haben, eine Flächenentwicklung parallel zum Tagesgeschäft abzuwickeln, sind Partner-

185

186

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Eckpunkte der Entwicklung

Fragestellungen

Entwicklungsträgerschaft

Wer führt das Projekt?

Grundstückspreis

Vereinen unterschiedlicher Wertvorstellungen

Risiken

Aufteilung von Vermarktungsrisiko, Finanzierungsrisiko

Kostenträgerschaft

Wer kommt für welche Kosten auf, insbesondere mit Blick auf unrentierliche Kosten wie Altlasten und übergeordnete Infrastrukturen sowie Folgekosten?

Mitsprache der Kommune

Sicherung der Durchgriffsmöglichkeit zur Zielerreichung (Bauleitplanung, öffentlich-rechtliche Verträge)

Generierung von Fördermitteln

frühe Kooperation zwischen Bund, Land und Kommune

Konkurrenzsituation zwischen Entwicklungsflächen

nachhaltiger (langfristiger) politischer Konsens /Fokussierung der Stadtentwicklung (z. B. sollten nicht mehrere Baugebiete gleichzeitig ausgewiesen werden, denn das kann dazu führen, dass die Preise fallen bzw. die Entwicklung sehr lange dauert)

Abwicklungsmodell für Flächen- und Gebäudeentwicklung

Arbeitsteilung zwischen den Beteiligten (Gemeinde hat Baurecht und übernimmt daher meist die Flächenentwicklung; Gebäudeerrichtung und Vermarktung meist durch private Investoren)

Einbindung von Partnern

Gesellschaftsformen, die Ein- und Ausstieg ermöglichen

Abb. 1

Organisations- und Abwicklungsmodelle Folgende Modelle sind bei der Quartiersplanung möglich, die sich insbesondere in der Risikotragung und der Absicherung der Qualitätsziele unterscheiden: • Kommunale Eigenentwicklung • Übernahme durch kommunale Entwicklungsgesellschaft (100 %) • Entwicklung durch Investor/private Objektgesellschaft auf Basis städtebaulicher Verträge • Kooperationsmodelle/public private partner-

ship (PPP) Die Entwicklung, Prüfung und Abstimmung von Organisations- und Abwicklungsmodellen ist eine der entscheidenden Phasen in der städtebaulichen Projektentwicklung. Sobald erste städtebauliche und technische Konzepte vorliegen, kann die grundsätzliche Machbarkeit geprüft werden. Die damit verbundene wirtschaftliche Bewertung hat einen großen Einfluss auf die Organisation und Abwicklung. Die Entwicklungsträgerschaft bestimmt den wirtschaftlichen Blickwinkel. Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen sind entsprechend der Organisationsform auszurichten. Dabei sollten im Sinne der Nachhaltigkeit aber interessenübergreifende Methoden wie die LCC grundsätzlich ein fester Bestandteil der wirtschaftlichen Betrachtung eines Projekts sein.

schaften mit bzw. die Abwicklung durch kommunale, private oder gemischte Entwicklungsgesellschaften geeignet, städtebauliche Entwicklungsprojekte umzusetzen und eine stringente Steuerung der wirtschaftlichen, terminlichen und qualitativen Zielerreichung zu gewährleisten. Welche wirtschaftlichen Ziele und Anforderungen gestellt werden und wie weit zur Deckung von unrentierlichen Kosten öffentliche Mittel eingesetzt werden können, bestimmt wesentlich die Organisationsform und damit das Rollenverständnis der Beteiligten im Gesamtprozess. Eine Reihe von Eckpunkten ist daher bereits frühzeitig in der Projektvorbereitung zu klären (Abb. 1). Sollen besondere Entwicklungsanstöße gegeben werden, z. B. die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen, die Förderung und Bereitstellung von sozialen und kulturellen Angeboten oder die Realisierung von Grünvernetzungen oder Verkehrsanbindungen, so wird die wirtschaftliche Ausrichtung der städtebaulichen und technischen Konzeption deutlich vorbestimmt. Dies bedeutet gleichzeitig die stärkere Einbindung von öffentlichen Mitteln und Kapazitäten, da eine Refinanzierung über Grundstückserlöse nicht vollständig möglich ist. Nachhaltige Quartiersentwicklung konzentriert sich auf Brachflächen oder bereits in Nutzung befindliche Flächen sowie auf Bestandsquartiere in integrierten Lagen. Daher kommt bereits der Bestandsaufnahme mit Blick auf die Nachhaltigkeit eine besondere Bedeutung zu. Die Nachnutzung von Bestandsgebäuden und Infrastrukturen sowie die Optimierung von städtebaulichen Konzepten sind vor dem Hintergrund von Flächenverbrauch, Flächeneffizienz und Ressourcenschonung Kernpunkte einer nachhaltigen Rahmenplanung. Eine besondere Aufgabe der wirtschaftlichen Optimierung ist die Entwicklung von räumlichen und zeitlichen Stufenkonzepten, die auf Randbedingungen und städtebauliche

Aspekte eingehen und gleichzeitig die Tragfähigkeit des Markts berücksichtigen. Jedes Projekt braucht eine Art Grundlinie (Baseline) zum Projektstart, auf die Veränderungen bezogen werden können. Eine transparente Basisplanung in zeitlicher, wirtschaftlicher und technischer Hinsicht kann zwar zu Beginn nicht in umfassender Tiefe vorliegen, definiert aber die städtebaulichen Eckpunkte und dient der ersten Risikoeinschätzung für private und kommunale Entwicklungsträger. Im Sinne einer ganzheitlichen ökonomischen Betrachtungsweise sind die nachhaltige Steuerung sowie die Dokumentation und Information Querschnittsfunktionen, die über alle Projektphasen hinweg wichtige wertbildende Faktoren darstellen sowie Verlässlichkeit und Konstanz im Projekt sichern. Ergänzt werden müssen diese rein wirtschaftlichen Aspekte in der Beurteilung durch qualitative Faktoren (z. B. Imagegewinn oder die Verbesserung der Lebensbedingungen in Quartieren). Die langfristigen Sekundär- und Tertiäreffekte können durch begleitende kommunalfiskalische Untersuchungen berechnet und eingebunden werden.

Sicherung der Standortqualität und der Wertstabilität Die in den letzten zehn Jahren angestoßenen Diskussionen und Programme zur integrierten Stadtentwicklung stellen Qualität als wertbildenden Faktor verstärkt in den Mittelpunkt. Die zukünftigen demografischen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen führen dazu, dass private Investoren wie auch Kommunen Quartiersentwicklungen als Chance sehen, zum einen bestehende Stadtquartiere nachhaltig städtebaulich, sozial und wirtschaftlich aufzuwerten und zum anderen mit neu zu entwickelnden Quartieren

4.5 — Ökonomie

187

Management Organisations- und Koordinationsmanagement

Vertragsmanagement

Kostenmanagement

Terminmanagement

Grundstücksvorbereitung

konzeptionelle Beratung

Vermarktung und Vertrieb

Vertriebsunterstützung

Grundstückserhebung

Analyse der städtebaulichen Konzepte

Marktforschung

Imagebildung Projekt

Grundstücksmanagement

Management der Bauleitplanung

Marketingplanung

Erlösprognose Positionierung Projekt

Ergebnis: Teilflächen mit Baurecht und gesicherter Erschließung Planung von Erschließung und Logistik

Investorenbetreuung

Erlösprognose Vertriebsmanagement

vertriebsunterstützende Maßnahmen

Ergebnis: parzellierte Grundstücke und konkrete Interessenten Management der Baufreimachung

Vorbereitung Einzelvorhaben

Wertschöpfung

Ergebnis: Planvorgaben (Rahmenbedingungen) und grobe Steuerung der Ansiedlung

Erlösprognose Vorbereitung Verkauf

vertriebsunterstützende Maßnahmen

Ergebnis: baureife Grundstücke

Erlösprognose

bestmögliches Ergebnis der Grundstücksverwertung

Abb. 2

nachhaltige Veränderungen anzustoßen. Umso mehr stellen die zugrundeliegende Zielsetzung und die damit verbundenen Projekte und Prozesse die Basis für eine werthaltige Entwicklung dar. Die gemeinsame, stufenweise Erarbeitung von Konzepten und Planungen bei gleichzeitiger Abschätzung der Wertschöpfungspotenziale ist Bedingung, um die Realisierbarkeit zu prüfen und Finanzierungspartner zu binden. Standortqualität und Wertstabilität bedingen einander. Nachhaltige Quartiersentwicklung bedeutet so betrachtet, die Interessen aller Partner und Disziplinen zu vereinen (Abb. 2). Standortqualität im Sinne eines Stadtquartiers ist nicht nur durch die sogenannten klassischen harten Faktoren mit unmittelbarer Auswirkung auf die Kosten geprägt. Städtebauliche und architektonische Qualität, Nutzungsmischung, soziale Mischung, Beteiligungs- und Kooperationsformen sowie das nachhaltig positive Image werden hier ebenfalls zu Kalkulationsgrößen. Eine nachhaltige Sichtweise wird zudem immer auch die Risikofaktoren berücksichtigen, die durch Veränderungen der städtebaulichen Rahmenbedingungen, der sozialen Strukturen und der politischen Verhältnisse in einem Quartier automatisch auf die Akzeptanz, das Image, die Qualität und damit die Verwertbarkeit wirken. Gerade diese kalkulatorischen Randbedingungen, die sich maßgeblich von der rein privat finanzierten und kurzfristig auf zwei bis drei Jahre angelegten Gebäudeprojektentwicklung unterscheiden, stellen die besondere Herausforderung für Grundstückseigentümer, Kommune und gegebenenfalls Investoren dar. Hinzu kommt, dass zur Sicherung der Standortqualität und Wertstabilität auch eine Beratung und Aktivierung der Kommunen, Grundstückseigentümer und Bewohner gehört, um mittel- bis langfristig angelegte Prozesse zur Initiierung, Steuerung und Überwachung anzustoßen (z. B.

Flächenmanagement, Quartiersmanagement, Energiemanagement, Bauberatung etc.). Welches sind im Rahmen von Quartiersentwicklungen die maßgeblichen Bedingungen für die erfolgreiche Realisierung? Bei privatwirtschaftlichen Projekten ist ein wichtiger Faktor die Verzinsung des eingesetzten Kapitals, d. h. der Standort muss in Bezug auf Größe, die Laufzeit und die Marktnachfrage exzellent sein oder die Lasten des Projekts wie Grundstückskaufpreis, Grundstücksaufbereitung (Altlasten, Baugrund) oder Folgekosten (z. B. für Infrastruktur) müssen zwischen Grundstückeigentümer, Kommune und Investor angemessen aufgeteilt werden. Der Investor wird nur das tatsächlich von ihm bewertbare Entwicklungsrisiko auf sich nehmen. Eine Kooperation zwischen den Beteiligten ist daher in den meisten Fällen zu erwarten. Die wirtschaftliche Bewertung von Quartiersentwicklungen aus öffentlicher Sicht ist neben der städtebaulichen Aufwertung auch an den Sekundäreffekten ablesbar. Die Schaffung von Arbeitsplätzen, Umsätze im gewerblichen Bereich, ein angemessenes Wohnraumangebot und die Bildung von sozialen Nachbarschaften und Initiativen sind die nach innen gerichteten Effekte. Die über den Planungs- und Bauprozess initiierten Investitionen, die steigende Einwohnerzahl, die Erhöhung von Steuereinnahmen und Imageeffekte durch eine aktive Kommunikation stellen die nach außen gerichteten Effekte dar, die über die Stadt hinaus in die Region wirken. Eine städtebauliche Entwicklung kann, wenn sie in Organisation, Finanzierung, Steuerung und Überwachung stringent ist, über politische Zeiträume hinaus ein Wir-Gefühl bei den Projektträgern und Beteiligten, aber auch bei Bewohnern und Unternehmen erzeugen und damit offene Prozesse und Beteiligungen in Gang setzen (Nachbarschaften, Unternehmensnetzwerke, Identität). MA

Abb. 1 Kriterien für die Entwicklung von Organisationsund Abwicklungsmodellen Abb. 2 Management der Quartiersentwicklung

Projektbeispiel Petrisberg, Trier Erfolgsfaktoren bei der Quartiersentwicklung: • Marktforschung • Zielgruppendefinition • Produktentwicklung • Wirtschaftsplan als Steuerungs- und Erfolgsinstrument • permanente Marktanpassung • Flexibilität (im Bebauungsplan) • Kommunikation mit dem Endkunden • Optimierung der Prozesssteuerung • Innovationen fördern • integrale Planung

188

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Verteilungspolitik

Gerechtigkeit

Nutzen

Ethik

Prozesskostenrechnung

Sunset-Legislation

Utilitarismus

Sensitivitätsanalyse

Zero-Base-Budgeting

Budgetierung

Nutzwertanalyse

Unternehmensplanung

KostenWirksamkeitsAnalyse

Kosten-Nutzen-Analyse

Wohlfahrtsökonomie

externer Effekt

Neue Politische Ökonomie Arbeitsmarkttheorien Produktionsfaktoren Kosten

Allokation

Marktversagen

Monetarismus

Abb. 3

Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen für Quartiere Belastbare Zahlen zur Wirtschaftlichkeit eines Quartiers erhält man erst bei der Projektrealisierung selbst, also wenn gebaut, verkauft und vermietet wird. Alle Projektbeteiligten messen die Aussagen der wirtschaftlich Verantwortlichen für eine Quartiersentwicklung an der konkret erreichten Rendite, dem Verkaufspreis oder der tatsächlichen Miethöhe. Übergeordnete Wirtschaftlichkeitsfaktoren wie ein attraktives Umfeld können zwar den Investor, Käufer oder Mieter zu gewissen Zugeständnissen in seinen wirtschaftlichen Überlegungen bewegen, unter dem Strich zählt jedoch immer die Höhe der Einnahmen. Aus diesem Grund werden Wirtschaftlichkeitsberechnungen für neue Quartiere auch rückwärts gerechnet. Das bedeutet, der Kaufpreis für ein Baugrundstück ergibt sich aus der Untersuchung, was der Markt, also mögliche Investoren, Käufer oder Mieter bereit sind, für das geplante Quartiersgrundstück zu zahlen. Die eigentlichen Kosten wie der Ausgangswert für ein Grundstück plus

alle weiteren Kosten für die Stadtplanung und die Herstellung der Erschließung, bestimmen folglich nicht den Verkaufspreis, sondern nur den Gewinn oder Verlust. Hierfür werden eine Marktund Standortanalyse sowie Stärken-SchwächenChancen-Risiken-Analysen, sogenannte SWOTAnalysen, erarbeitet (Abb. 4). Sie geben Antworten, welche Miet- und Kaufpreise erreicht werden können, welche Risiken zu erwarten sind und ob es überhaupt ein wirtschaftliches Interesse am Markt gibt. Dies wiederum bildet die Grundlage aller weiteren Berechnungen für die konkrete Quartiersentwicklung. In solchen Machbarkeitsstudien werden auch die tatsächlichen Projektentwicklungskosten berechnet und den zu erwartenden Verkaufserlösen oder Mieteinnahmen gegenübergestellt. Ist das Ergebnis negativ und es entstehen mehr Kosten als am Markt wieder durch Verkauf oder Vermietung erlöst werden können, bedeutet dies meist das Projektende. Machbarkeitsstudien können aber auch zu wesentlich differenzierteren Ergebnissen führen, wie z. B. dass in einem Projekt mehr Wohnungen und weniger Büroflächen vorzusehen sind oder dass der geplante Quartierspark etwas kleiner ausfallen muss. Auch die Empfehlung zur Qualitätssteigerung, um eine finanziell besser ausgestattete Zielgruppe zu erreichen, oder längere

4.5 — Ökonomie

Methoden der Wirtschaftlichkeitsberechnung Die Immobilienökonomie unterscheidet im Bereich der Flächenentwicklung zwischen folgenden wesentlichen Wirtschaftlichkeitsuntersuchungsmethoden: Kosten-Nutzen-Analyse Bei der Gegenüberstellung der Kosten und des Nutzens einer Maßnahme wird im einfachen Fall der Nutzen mit der Einnahme z. B. aus Mieten oder Verkauf gleichgesetzt. Im privatwirtschaftlichen Sektor spricht man hier auch von einfachen statischen Wirtschaftlichkeitsberechnungen. Der Gewinn stellt die Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben dar.

Komplexere Modelle versuchen auch indirekte Einnahmen oder Kosteneinsparungen abzubilden, die nicht direkt im Kaufpreis Niederschlag finden. Die Kosten-Nutzen-Analyse als vergleichende Bewertung von Objekten oder Handlungsalternativen beruht auf den Prinzipien der Wohlfahrtsökonomie und wird vor allem in öffentlichen Haushalten (z. B. bei Infrastrukturprojekten wie einer U-Bahn) angewendet (Abb. 3).

Discounted-Cash-Flow-Methode (DCF) DCF ist eine etablierte Methode, um langfristige Entwicklungen, meist über einen Zeitraum von 10 bis 30 Jahren, in ihrer Wirtschaftlichkeit abzubilden. Mit zwei Entwicklungskurven für Kosten und Einnahmen zeigt sie den Mittelfluss in einem Projekt. Der Schnittpunkt der beiden Kurven ist der sogenannte Break-Even-Point (BEP), also der Zeitpunkt des Return on Investment (ROI), von dem an die Entwicklung positiv ist, sprich die Einnahmen die Ausgaben übersteigen und somit Gewinne erwirtschaftet werden. Durch die Barwertmethode wird die lange zeitliche Entwicklung und der dabei entstehende Wertverlust durch Inflation berücksichtigt. Eigentliches Ergebnis ist die Kurve des Cash-Flows (Abb. 5, S. 190). Diese Methode ohne Betriebskosten als reine Einnahmen/Ausgaben-Kalkulation ist einer Lebenszykluskostenberechnung sehr fern. Als dynamische Langzeitbetrachtung kann eine DCFBewertung jedoch mit gewissem Aufwand auch zu einer umfassenden Lebenszykluskostenberechnung erweitert werden. Zudem berücksichtigt sie in der Projektentwicklung deutlich mehr Belange als die in der Immobilienbranche

Wirtschaft

Chancen

Projektentwickler-Kalkulation (PE) Diese statische Berechnung über einen festgelegten Entwicklungszeitraum von meist nicht mehr als zwei bis drei Jahren bildet alle Wirtschaftlichkeitsfaktoren aus Sicht eines Projektentwicklers inklusive Finanzierungskosten für einen bestimmten Zeitraum ab, d. h. es wird nicht berücksichtigt, wie das Geld im Projekt fließt und wann die Einnahmen aus Verkäufen und die Ausgaben für Planer und Unternehmen anfallen. Es werden vielmehr die gesamten Baunebenkosten (Grunderwerb, Steuern, Planung, Finanzierung, Vermarktung etc.), die Herstellungskosten (Gebäude, Infrastruktur etc.), die Einnahmen (im Wesentlichen aus Verkauf und Vermietung) und teilweise auch die Betriebskosten für einen be schränkten Zeitraum berechnet. Das Verhältnis des Ertrags zum eingesetzten Kapital ist die Rendite des Projekts.

Risiken

Vermarktungszeiträume können Untersuchungsergebnisse sein. Die Belange müssen auf jeden Fall frühzeitig in die Planung einfließen. Genau wie bei einer Umweltprüfung sind auch Wirtschaftlichkeitsprüfungen durchzuführen und die notwendigen Maßnahmen im Städtebau umzusetzen. Wirtschaftlichkeitsberechnungen in ihren unterschiedlichen Formen dienen darüber hinaus auch der Projektsteuerung in allen weiteren Projektphasen. Die konkreten Zahlen ermöglichen eine detaillierte Kontrolle der Kosten während der gesamten Entwicklung und verhindern somit überraschende Kostenverschiebungen oder Projektverluste. Die Methode der Lebenszyklusberechnung mit ihrer langfristigen Bewertung hat den Vorteil, dass die Interessen vieler Beteiligter (Nutzer, Kommunen, Investoren) abgebildet werden. Da der Lebenszyklus gerade im Stadtquartiersbereich oft über 100 Jahre umfassen kann, sind mit diesem weiten Zukunftsblick sehr große Unsicherheiten verbunden. Daher werden Lebenszykluskosten meist standardisiert und grob vereinfacht auf maximal 50 Jahre berechnet. Ziel der Lebenszyklusberechnung ist die wirtschaftliche Darstellung von gebauter Qualität, indem neben den Baukosten auch die Kosten für den Betrieb und den Rückbau miteinbezogen werden. Folglich ist das wirtschaftliche Handeln nicht mehr auf die reine Baukostenoptimierung beschränkt. So können sich im Quartier beispielsweise in den Herstellungskosten teure Infrastrukturmaßnahmen wie ein zentrales Regenwassermanagementsystem oder ein Nahwärmenetz über die Einsparungen im Betrieb rechnen.

189

Bildung KommunalDemo- Umwelt verbund grafie Migration

Schwächen Abb. 4

Abb. 3 Übersicht möglicher komplexer Zusammenhänge bei einer Kosten-NutzenAnalyse Abb. 4 Ergebnisse einer SWOT-Analyse am Beispiel der nachhaltigen integrierten kommunalen Entwicklungsstrategie (NIKE) für Aalen (D)

Stärken

190

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Kosten (kumuliert)

Saldo (kumuliert)

Aufwand [€]

Einnahmen (kumuliert)

0 Break-Even

0

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11 Zeit [a]

Abb. 5

üblichen Lebenszykluskostenberechnungen der Immobilienzertifikate.

1 Zehbold 1996, S. 78f.

Lebenszykluskostenberechnung (Life Cycle Costing – LCC): Die Kostenermittlungsmethode LCC betrachtet die Entwicklung eines Produkts über den gesamten Lebenszyklus. Ursprünglich in den 1930erJahren für Produkte wie landwirtschaftliche Maschinen entwickelt, findet die Methode seit den 1960er-Jahren auch im Baubereich Anwendung. Langfristig betrachtet werden hierbei der Bau, der Betrieb und der Rückbau einer Immobilie. Aufgrund der großen Bedeutung der Nutzungskosten wird die Lebenzykluskostenberechnung seit der Jahrtausendwende vermehrt im nachhaltigen Bauen angewendet. Das Thema hat mit Einführung der Gesetze zur Energieeinsparung und der rasanten Energiekostensteigerung sowie der Zertifizierungsbewegung in der Immobilienbranche an Brisanz gewonnen. LCCMethoden zur Betrachtung ganzer Quartiere sind bis heute kaum standardisiert und noch wenig verbreitet.1 Neben diesen vier wesentlichen Bewertungsmethoden für städtebauliche Projektentwicklungen sind in der Immobilienwirtschaft zahlreiche weitere Verfahren aus den Bereichen der Wert-

ermittlung, des Finanzierungssektors und der Investoren bekannt, teilweise Varianten der vier zuvor beschriebenen Berechnungsmethoden. In der Investitionsrechnung unterscheidet man zwischen statischen oder dynamischen Verfahren der Wirtschaftlichkeitsrechnung. Mit Ausnahme der Projektentwicklerkalkulation können die genannten Methoden auch als dynamische Verfahren angewendet und folglich ebenfalls zu einer Lebenszykluskostenberechnung ausgebaut werden.

Lebenszykluskostenberechnungen für Gebäude und Infrastrukturen Wichtig für eine nachhaltige Quartiersentwicklung ist die Erkenntnis, dass in der Privatwirtschaft in der Regel nicht eine möglichst große Wirtschaftlichkeit, sondern ein möglichst großer Gewinn angestrebt wird. Generell hat dies je nach Marktform weitreichende Konsequenzen für die Gesamtwirtschaft und widerspricht grundsätzlich einer nachhaltigen Entwicklung. Unter dem Begriff nachhaltiges Bauen wird nun auch daran gearbeitet, neue Wirtschaftlichkeitsberechnungen in der Immobilienbranche zu etablieren. Dies ist in Deutschland mit der Diskussion neuer Lebens-

4.5 — Ökonomie

funktionale Qualität

kurzfristige Risiken

Projektentwickler

¥



Bauherren /Erwerber von Mietobjekten

¥







Bauherren /Erwerber als Selbstnutzer











Anleger mit langfristigen Interessen









Anleger mit kurzfristigen Interessen



Interessenlage

langfristige Risiken

Akteure

Wertstabilität und Wertentwicklung

Mieteinnahmen

191





Banken /Finanzierer

¥







¥

Fondsmanager

¥









Gesellschaft / öffentliche Hand







¥

¥

Miethöhe

nicht umlagefähige Nebenkosten

umlagefähige Nebenkosten

¥



¥







¥



¥



indirektes Interesse

Lebenszykluskosten und stellen ihren Auditoren ein entsprechendes Werkzeug zur Verfügung. Das DGNB-System »Neubau Stadtquartiere« wird im Kapitel »Zertifizierungs- und Bewertungssysteme« (S. 238ff.) vorgestellt. Darin steht neben einer LCC-Berechnung für Stadtquartiere auch ein Kriterium zur Bewertung der kommunalfiskalischen Auswirkung zur Verfügung. Verschiedene Anwendungen anderer Instrumente, zu nennen sind hier beispielsweise der kommunale Folgekostenrechner oder das Projekt WISINA (Wirtschaftlichkeit der Siedlungsentwicklung als Beitrag zur Nachhaltigkeit) in BadenWürttemberg, zeigen, dass die inzwischen etablierten LCC-Tools der Immobilienbranche für städtebauliche Entwicklungen oft nicht weit genug gehen. Je nach Betrachtungswinkel gilt es, die entsprechende Methode zu finden. Abb. 6 zeigt die oft sehr unterschiedlichen Interessenlagen der Akteure in einem Projekt. Hervorzuheben ist dabei, dass die planungsbezogenen LCC-Anwendungen sich in der Zielausrichtung grundsätzlich von der FM-Bewertung und den kommunalen Folgekostenrechnern unterscheiden. Ziel der Planung entsprechend der LCC-Methode ist die Optimierung der Gesamtkosten einer Immobilie, z. B. durch die energieeffiziente Bauweise eines

¥ ‡

Abb. 6

zykluskostenwerkzeuge der Systeme BNB und DGNB sowie der Diskussion um Energiekosten und die sogenannte zweite Miete (Nebenkosten) auch weitgehend gelungen. In der vom Bestand geprägten Immobilienbranche gewinnt aktuell im Bereich der Lebenszykluskosten die meist sehr differenzierte Bewertung des Facility Managments (FM) an Bedeutung. Ziel einer solchen Bewertung ist die Budgetsicherheit und Kostenoptimierung für den Betrieb. Die Methoden und Vorgehensweisen im Produktund FM-Bereich sind weitgehend geregelt (z. B. GEFMA 200, DIN EN 60 300-3-3 »Anwendungsleitfaden – Lebenszykluskosten«, VDI 2884 »Beschaffung, Betrieb und Instandhaltung von Produktionsmitteln unter Anwendung von Life Cycle Costing«). In der Planung sind aber nach wie vor die Baukosten die entscheidende Determinante. Eine Lebenszykluskostenberechnung nach der FM-Methode wird oft erst nach Ab schluss der Planung beauftragt, obwohl diese durchaus Einfluss auf die Ergebnisse hat.2 Auch die internationalen Zertifizierungssysteme vernachlässigen dieses Thema weitgehend. Dasdeutsche Bewertungssystem Nachhaltiges Bauen für Bundesgebäude (BNB) und das Zertifizierungssystem der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) widmen sich seit ihrer Gründung in all ihren Systemvarianten den

externe Kosten





direktes Interesse

Lebenszykluskosten / Vollkosten



Mieter



Rendite

Abb. 5 Cash-Flow-Kurve eines Stadtquartiers (Brachflächenentwicklung) Abb. 6 Interessenlage ausgewählter Akteursgruppen bei der ökonomischen Bewertung baulicher Lösungen

2 Geissdoerfer 2009

192

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Lebenszykluskosten im weiteren Sinn (Whole Life Cost – WLC)

Einnahmen, Erträge (income)

externe Kosten (externalities)

dem Gebäude nicht unmittelbar zugeordnete Zusatzkosten (non-construction)

Lebenszykluskosten im engeren Sinn (Life Cycle Cost – LCC)

kommunalfiskalische Betrachtung klassische immobilienökonomische Betrachtung

Baukosten (construction)

Betriebskosten (operation)

Kosten für Reinigung, Pflege und Instandhaltung (maintenance)

Kosten für Rückbau und Entsorgung (end of life)

klassische Immobilienzykluskostenberechnung Abb. 7

Abb. 7 Unterscheidung nach Lebenszykluskosten im engeren und weiteren Sinne (auf Basis der ISO 15 686-5) Abb. 8 durchschnittliche Erschließungskosten je Wohneinheit

Gebäudes. Die eigentlichen Nutzungskosten fließen mit statistischen Kennwerten und nicht mit Projektwerten ein. Ebenso werden die gesamten Einnahmen, Nebenkosten und Rahmenbedingungen des individuellen Standorts weitgehend ignoriert. Kostenberechnungen nach DIN 276 sowie der weiteren Kostengliederungen für Straßen und Infrastrukturmaßnahmen berücksichtigen lokale Preisunterschiede. Randbedingungen wie erhöhte Steuereinnahmen für eine Kommune durch neue Arbeitsplätze oder zusätzliche Einwohner werden jedoch nicht betrachtet. Ebenso finden auch die klassischen Folgekosten für die öffentliche Hand wie z. B. für zusätzlich erforderliche Kindergartenplätze nur in kommunalfiskalischen Betrachtungen und Folgekostentools Berücksichtigung. Allerdings lässt sich mit diesen Werkzeugen auch nur ein Teil der umfassenden Lebenszykluskosten eines Stadtquartiers abbilden. Hier spiegeln sich die unterschiedlichen Interessenlagen auch in den verschiedenen Berechnungsmethoden sehr gut wider. Der räumliche Bezug der kommunalen Folgekostenrechner auf Gemeinde-, Landkreis-, Bezirks-, Landes- bzw. Bundesgrenzen führt aus Sicht einer nachhaltigen Stadt- und Raumplanung häufig zu wirtschaftlichen Verzerrungen. Die Konkurrenzsituation zwischen verschiedenen benachbarten Einheiten begünstigt oft unwirtschaftliche und wenig nachhaltige Lösungen, z. B. durch ein Überangebot an Bauland oder durch Preisdumping. Auch Fördermittel können zu Ver-

zerrungen am Markt führen, meist sind sie aber zielorientiert und volkswirtschaftlich sinnvoll eingesetzt. Für Stadtentwicklungsprojekte und größere Quartiersentwicklungen ist es daher unerlässlich, die Möglichkeiten der Generierung von Fördermitteln beispielsweise aus der Städtebauförderung zu prüfen. In der Immobilienökonomie unterscheidet man verschiedene Lebenszykluskostenberechnungen: • Lebenszykluskosten im engeren Sinne (Life Cycle Cost – LCC) • Lebenszykluskosten im weiteren Sinne (Whole Life Cost – WLC) Diese können sich aus unterschiedlichen Bausteinen zu individuellen Methoden zusammensetzen (Abb. 7). Eine wirkliche Whole-Life-Cost-Betrachtung ist in der Immobilienbranche bisher kaum bekannt. Die weiteren Bereiche sind meist nur in separaten Studien ausgewertet, wurden bislang aber kaum umfassend auf ein Projekt angewendet. Wichtig ist, dass in der Lebenszykluskostenberechnung eines Stadtquartiers keine vereinfachte Betrachtung nur auf Gebäudeebene durchgeführt wird. Solche Betrachtungen greifen deutlich zu kurz. So sind zwar beispielsweise die Erschließungskosten in Relation zu den Hochbaukosten eines Quartiers gering, die Kostenspanne ist im Bereich der Erschließung jedoch deutlich höher. Während bei den Baukosten für den Hochbau planungs-

4.5 — Ökonomie

20000 € pro Wohneinheit

10000 € pro Wohneinheit

100 %

193

Einfamilienhaus

Geschosswohnungsbau Mehrfamilienhaus

50 %

Abb. 8

bedingte Preisdifferenzen von meist nicht mehr als maximal 50 % Abweichung entstehen, können die Differenzen im Bereich der Erschließung eines Quartiers oft zehnmal höher sein. So ergab eine Untersuchung des Landes Bayern, dass 2008 die Erschließungskosten pro Wohneinheit im Einfamilienhaus mit durchschnittlich 20 000 Euro rund 100 % höher lagen als im Mehrfamilienhaus mit durchschnittlich 10 000 Euro je Wohneinheit (Abb. 8). Noch deutlicher zeigt sich der Unterschied in den Mobilitätskosten. Während eine Person im Neubaugebiet am Dorfrand im ländlichen Raum bezogen auf ihre Lebenszeit ca. 700 000 Euro als reine Fahrtkosten aufwendet, betragen die durchschnittlichen Kosten eines Großstadtvorortbewohners weniger als 200 000 Euro. Die geringsten Ausgaben für Fahrtkosten entstehen den Bewohnern eines Kleinstadtzentrums mit durchschnittlich nur 20 000 Euro.3

Empfehlungen für wirtschaftliche Quartiersentwicklungen Die meisten Themenbereiche des nachhaltigen Bauens wie Energie, Städtebau oder soziale Aspekte sind entscheidend für die Qualität und Akzeptanz eines Stadtquartiers. Die Ökonomie greift hier nur indirekt ein. Gleichwohl ist sie das entscheidende Kriterium bei der Realisierung eines innovativen Masterplans sowie bei seiner Umsetzung in ein gebautes Stadtquartier und muss in allen Phasen der Entwicklung berücksichtigt werden. Dabei ist ein stufenweises Vorgehen und eine dem Projekt und den Akteuren angepasste Methodik wichtig. Folgende Punkte sind grundsätzlich zu beachten: • Die Grundsatzentscheidung zur Sanierung, Weiter- oder Neuentwicklung eines Stadtquartiers sollte volkswirtschaftlich überprüft











werden. Die Quartiersentwicklung muss sich wirtschaftlich sinnvoll in die Entwicklung der gesamten Stadt und Region einfügen. Am Anfang jeder konkreten Entscheidung für eine Stadtquartiersentwicklung empfiehlt es sich, Markt- und Standort mit einer SWOTAnalyse zu untersuchen und die Ergebnisse in einer Machbarkeitsstudie zusammenzuführen, um so gesellschaftliche oder privatwirtschaftliche Projektanreize abzusichern. Das Projekt muss schrittweise von der ersten Planungsidee an auf seine Wirtschaftlichkeit hin geprüft werden. Dabei ist die Tiefe der Wirtschaftlichkeitsbetrachtung dem jeweiligen Entwicklungsstand der Projektierung anzupassen. Eine Wirtschaftlichkeitsbetrachtung als Discounted-Cash-Flow-Bewertung sollte immer durchgeführt und durch Lebenszykluskostenberechnungen begleitet werden. Im Optimalfall werden die beiden Methoden zu einer umfassenden Lebenszykluskostenberechnung vereint. Fördermittel und alternative Kosten-NutzenAnalysen sollten bei städtebaulichen Projekten grundsätzlich geprüft werden. Sie können auch durchaus wirtschaftlichen, nachhaltigen, aber auf den ersten nur marktwirtschaftlichen Blick nicht gewinnbringenden Projekten zum Erfolg verhelfen. Der für den Bereich Wirtschaftlichkeit zuständige Experte muss eine zentrale Stellung im Projekt erhalten und sollte erfahren im Umgang mit nachhaltigen Bewertungsmethoden sein. Reine Kostenkontrolle und Gewinnmaximierung ist zu vermeiden. Im Fokus sollten vielmehr die Qualitätssicherung und eine breite Wirtschaftlichkeitsbetrachtung stehen, die sich nicht nur an einem Hauptakteur orientiert, sondern allen Beteiligten gerecht wird. GCG

3 Grassl 2008

K A P ITE L 4

Handlungsfelder

4 .6

Integration und Synergien He l m u t Bott

4.6 — Integration und Synergien

D

ie vorangegangenen Kapitel haben die unterschiedlichen Handlungsfelder der nachhaltigen Stadtplanung zunächst jedes für sich vorgestellt. In der Praxis des städtebaulichen Planens und Entwerfens stellt sich aber die Frage, wie sich diese Faktoren zu einem integralen Gesamtkonzept zusammenführen lassen. Nachhaltige Stadtplanung reflektiert die verschiedenen Dimensionen der Gestaltung des städtischen Lebensraums sowie die technischen, ökonomischen und sozialen Voraussetzungen für integrative Konzepte einer nachhaltigen Entwicklung. Maßnahmen, die eindimensional betrachtet durchaus sinnvoll sein mögen, können negative Auswirkungen in anderen Bereichen haben, die als »Nebenwirkungen« oder »externe Effekte« häufig aus der Betrachtung fallen. So kann sich z. B. die Dämmung eines fernwärmeversorgten Gebäudes auf Passivhausstandard negativ auf die Effizienz des Gesamtsystems auswirken. Unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit geht es aber gerade darum, Maßnahmen durchzusetzen oder Systeme zu implementieren, die möglichst wenige bzw. gar keine negativen Wirkungen haben oder die in ihren Auswirkungen weitere positive Entwicklungen in anderen Bereichen nach sich ziehen können. Im Folgenden sollen anhand von Beispielen solche Wechselwirkungen dargestellt werden.

punkt, Spiel- und Aufenthaltsbereiche, Beobachtungsbereich für soziales Lernen bei spontanen Kontakten) und ökologische Aspekte (z. B. Artenvielfalt) sowie Einflüsse auf das Stadtklima (z. B. Mäßigung des Urban-Heat-Island-Effekts durch Reduktion der Temperatur und Erhöhung der Luftfeuchte, Filterung und Bindung von Staub) und die Mobilität (weniger Freizeitverkehr der Stadtbewohner »ins Grüne«, da in der Nähe Freizeitangebote verfügbar sind, dadurch Reduzierung der vom Verkehr verursachten Emissionen). Städtische Grünflächen übernehmen noch weitere Funktionen, die sich mit anderen Bereichen überlagern: In Bezug auf die Wasserwirtschaft sorgen sie für Rückhaltung, Reinigung, Versickerung und langsames Abfließen von Regenwasser durch unversiegelte, bewachsene Oberflächen, Muldenbildung (Retension) und entsprechende Geländemodellierung (Grundwasserneubildung, Vorbeugung von Hochwasser). Wasserflächen bieten weitere Potenziale für Artenvielfalt und dienen auch der Erweiterung von Bewegungsräumen und Spielbereichen. Im Bereich Energie können Grünräume die Erzeugung von Biomasse unterstützen. Die großzügige Ausweisung von Grünflächen bedeutet aber auch ein Sinken der baulichen Dichte. Größere zusammenhängende Grünflächen können gar die Unterbrechung der räumlichen Kontinuität des Stadtraums bewirken und bilden eigentlich per se eine Grenze zwischen verschiedenen Stadtteilen aus. Sie verfügen jedoch andererseits über das Potenzial, als Treffpunkte kommunikations- und integrationsfördernd zu wirken.

Grünflächen Als einfaches Beispiel werden städtische Grünflächen betrachtet. Ihre positiven Wirkungen auf die verschiedenen Dimensionen des Lebensraums Stadt betreffen sowohl soziale Aspekte (z. B. Treff-

Dichte Als zweites, bereits komplexeres Thema sollen die immer wieder angesprochenen Wirkungen

195

196

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Emissionen Reduktion von Lärm, Staub und CO2

Mobilität Bessere Erreichbarkeit von Versorgungseinrichtungen bewirkt höheren Anteil von Fußgängern und Radfahrern im Alltag.

öffentlicher Raum Aufenthaltsqualität durch vielfältiges Angebot, belebte öffentlich Räume

ÖPNV bessere Versorgung durch öffentliche Verkehrsmittel

Anschlussdichte bessere Voraussetzungen für leitungsgebundene Nahwärmenetze, z. B. über BHKW

Dichte

ÖPNV Symmetrischer Verkehr führt zu wirtschaftlicher Auslastung.

Flächenbedarf Mehrfachnutzung von Parkplätzen durch Anwohner, Kunden, Beschäftigte

Nutzungsmischung Störung der Anwohner durch Betriebe, Anlieferung und Kunden

Versorgungseinrichtungen Höhere Nachfrage auch von Beschäftigten im Quartier ermöglicht dichteren Besatz. Wasserwirtschaft Regenwasserabfluss höher, da Retensionsbereiche reduziert

Stadtklima Verstärkung des UrbanHeat-Island-Effekts

Energie stärkere Verschattung der Gebäude

Störung der Privatheit durch andere Wohnungen und sonstige Nutzungen

Abb. 1

Abb. 1 positive (blaue Pfeile) und negative (schwarze Pfeile) Wechselwirkungen von Dichte und Nutzungsmischung mit anderen Faktoren

von Kompaktheit und Dichte behandelt werden (Abb. 1). Positive Effekte einer höheren Dichte sind z. B. die besseren Versorgungsmöglichkeiten durch den ÖPNV mit kürzeren Wegen zu den Haltestellen sowie eine bessere Erreichbarkeit von Versorgungseinrichtungen durch die höhere Nachfrage pro Fläche sowie geringere durchschnittliche Entfernungen zu Kindergärten, Schulen, Ärzten und anderen Dienstleistungen. Städtebauliche Dichte erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass mehr Wege mit dem Rad oder zu Fuß zurückgelegt werden und sich dadurch die Emissionen durch den Verkehr reduzieren. Dies hat wiederum positive Auswirkungen auf die Aufenthaltsqualität im Stadtraum und sorgt für eine höhere Kontakt- und Erlebnisdichte. Zudem ermöglicht dichtere Bebauung eine wirtschaftlich und energietechnisch effizientere Leitungsführung für Nahwärmesysteme, z. B. beim Einsatz von Blockheizkraftwerken. Diese positiven Effekte sind kongruent mit dem Planungsziel der Nutzungsmischung (Wohnen, Arbeiten, Versorgung), die bestimmte positive Wirkungen der Dichte wie kurze Wege und bessere Anbindung an den ÖPNV sowie den wirtschaftlicheren Betrieb der öffentlichen Verkehrsmittel verstärkt. Geschäfte, Restaurants etc. profitieren von Anwohnern und tagsüber anwesenden Beschäftigten, was die Anzahl der Versorgungseinrichtungen erhöhen kann. Parkplatzflächen lassen sich bei Mehrfachnutzung durch Anwohner und Beschäftigte reduzieren. Dies alles kann in der Summe eine erhebliche Reduktion des Ziel- und Quellverkehrs bewirken.

Die positiven Rückwirkungen sind eine bessere Nutzbarkeit der Freiflächen in der Stadt als Bewegungs- und Aufenthaltsraum, z. B. durch die Entstehung von Straßencafés, was wiederum zu weiteren positiven urbanen Rückkoppelungen führt. Zudem reduziert sich die Dichte des PkwVerkehrs, wodurch Straßenraum attraktiver für Fußgänger und Radfahrer wird. Höhere Dichte und Nutzungsmischung sind jedoch gleichzeitig mit negativen Effekten verbunden. Dazu zählen stärkere gegenseitige Verschattung der Gebäude, höherer Versiegelungsgrad und damit schneller Regenwasserabfluss, Zunahme des Urban-Heat-Island-Effekts aufgrund geringerer Durchlüftung und somit Verstärkung der negativen Stadtklimawirkungen. Außerdem steigt die Wahrscheinlichkeit von Lärmemissionen und Beeinträchtigungen sowie von Störungen der Privatheit, insbesondere der privaten Freibereiche (Gärten, Terrassen, Balkone). Diese Nachteile lassen sich zumindest zu großen Teilen durch geeignete Maßnahmen ausgleichen. So reduzieren beispielsweise Dach- oder Fassadenbegrünungen den schnellen Abfluss von Regenwasser und bewirken eine Retention. Gleichzeitig mildern sie den Heat-Island-Effekt, erhöhen die Verdunstung und schaffen zusätzlichen Lebensraum für Pflanzen und Tiere. Retensionsmulden lassen sich bei hoher baulicher Dichte nur schwer einfügen, doch selbst unter versiegelten Flächen können Rigolen eingebaut werden. Andere negative Aspekte hoher baulicher Dichte, die mit der Nähe benachbarter Gebäude zusam-

4.6 — Integration und Synergien

menhängen, lassen sich durch Gestaltungsmaßnahmen partiell ausgleichen, z. B. durch die Art der Baukörpergliederung und den Bau von Loggien und Dachterrassen statt Balkonen. Diese knappe Darstellung möglicher positiver und negativer Wechselwirkungen zwischen Teilzielen in den unterschiedlichen Bereichen der Planung zeigt, dass die integrative Planung eine frühzeitige Berücksichtigung der verschiedenen Aspekte erfordert. Um die Vielzahl der Wechselwirkungen, der positiven und negativen Rückkoppelungen möglichst in ihrer gesamten Komplexität erfassen und bei der Planung berücksichtigen zu können, sind partizipative Planungsprozesse sowohl für die Integration aller fachlichen Aspekte wie auch der Öffentlichkeit dringend geboten.

Energieversorgung Die bisherige Entwicklung der Energiewirtschaft hat zur Bildung von Großkonzernen geführt. Dies bedeutet nicht nur, dass die Entscheidungen über die technologische Entwicklung an wenigen Orten und primär auf Großtechnologie orientiert getroffen werden, die so entstandene Marktmacht ist auch zur politischen Macht geworden, wie das Beispiel der Laufzeit von Atomkraftwerken verdeutlicht. Die aktuelle Debatte um den Transport der Windenergie zeigt wiederum die Problematik von Großtechnologie, die von ihrer Struktur her hohe Kapitalmengen und somit letztlich Konzerne als Akteure voraussetzt. Die Versuche der Bundesregierung, die Bürger an der Finanzierung der Stromtrassen für die Windenergie zu beteiligen, haben sich als wenig erfolgreich erwiesen. Dezentrale Konzepte der Energieversorgung können hingegen vielfältige positive Wirkungen vereinen, wie die folgenden Beispiele zeigen.

Blockheizkraftwerke Über Verbrennungsmotoren, die mit Biogas, Erdgas oder Öl betrieben werden, erzeugen Blockheizkraftwerke (BHKW) Strom und speisen die entstehende Abwärme in Wärmenetze ein. Der technische Vorteil liegt in den sehr kurzen Leitungslängen für Heizung und Warmwasserversorgung, was die Leitungsverluste reduziert. Neben dem positiven ökologischen Gesichtspunkt

der Einsparung von über 60 % Primärenergie – im Idealfall wird sogar der Zero-Emission-Standard durch Einsatz von Biogas aus organischen Siedlungsabfällen erreicht – kommt der Aspekt der Eigentumsbildung der Bürger an der technischen Infrastruktur und somit ein Stück ökonomische Unabhängigkeit hinzu. BHKW lassen sich in verschiedenen Größenordnungen bauen, z. B. auf Quartiersebene. Dafür ist es möglich, auch sehr kleine Kapitalmengen unterschiedlichster Größenordnung durch Crowdfunding zu sammeln, eine Strategie, die bei der Finanzierung von Start-up-Unternehmen bereits häufig eingesetzt wird.1 Im Extremfall können sogar »Quartierswerke« entstehen, die im Verbund mit anderen Quartieren Teile der Infrastruktur, des Stoffrecyclings und z. B. des sozialen Quartiersmanagements übernehmen.

197

1 Hornuf/Klöhn 2012

Stadtwerke Insbesondere für kleinere Städte und Gemeinden können die Gründung bzw. die Sicherung und der Ausbau von Stadtwerken die gleichen positiven Wechselwirkungen wie BHKW induzieren. Sie erhalten dadurch eine stärkere Unabhängigkeit von Marktschwankungen und ökonomischen Entscheidungen großer Konzerne, schaffen qualifizierte, sichere Arbeitsplätze und unterstützen die Bildung von technischem Wissen und Erfahrungen vor Ort. Damit findet die Wertschöpfung und Kapitalbildung in der Stadt bzw. der Gemeinde selbst statt. Zudem ist der Einsatz regional verfügbarer Energiequellen möglich, die sich für technisch-ökonomische Großstrukturen nicht eignen, z. B. die Kombination regenerativer Energiegewinnung aus Sonne, Wind, Wasser, Abwasser und Biomasse aus Stadtwald, landwirtschaftlichen Resten oder organischem Siedlungsabfall. Hinzu kommt der politische Grundsatz, dass jede Dezentralisierung von Macht – auch der ökonomischen – demokratische Strukturen absichert und ausbaut. Bei einer nachhaltigen Entwicklung geht es nicht nur um wirtschaftliche Aspekte wie Kosteneinsparung, Gewinnmaximierung und Effektivität, sondern eben auch um die soziale und politische Dimension der Entscheidungen. Positive Beispiel für ein solches Vorgehen sind die sehr erfolgreiche Gründung der Stadtwerke von Waldkirch im Schwarzwald sowie die Elektrizitätswerke Schönau (EWS). Beide zeigen, dass solche Unternehmen viele positive Aspekte verbinden können: Wirtschaftlichkeit, Nachhaltigkeit und Demokratisierung ökonomischer Macht.

Weitere Informationen • Bott, Helmut: Nachhaltiger Stadtumbau. Städtebau-Institut der Universität Stuttgart 2012 • Hornuf, Lars; Klöhn, Lars: Crowdinvesting in Deutschland. Markt, Rechtslage und Regulierungsperspektiven. In: Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft 04/2012 • www.ews-schoenau.de • www.stadtwerke-waldkirch.de

K A P ITE L 5

Umsetzungs strategien

5.1 — Akteure, Leitbilder und Instrumente

5.1

Akteure, Leitbilder und Instrumente Ste p han Anders, Helmut Bott, Dominic C hurch, Gre go r C . Gra s s l, Ro l f Me s s e r s ch m i d t

U

m eine nachhaltige Quartiersentwicklung zu realisieren, ist es notwendig, Strategien zu formulieren, die dazu geeignet sind, das Zusammenspiel aller beteiligten Akteure mit Blick auf das Gemeinwohl zu beeinflussen. Zur Umsetzung dieser Strategien können verschiedene Instrumente zum Einsatz kommen, um die gesetzten Nachhaltigkeitsziele von der Planung bis zur Ausführung und Nutzung einzuhalten. Dabei stellen sich den Akteuren in der Verwaltung und Politik auf kommunaler Ebene zahlreiche Herausforderungen. Beispiele wie Heidelberg und Ludwigsburg veranschaulichen Anwendungen solcher Strategien in der Praxis.

Akteure der Quartiersentwicklung Die Stadtentwicklung ist in Deutschland Aufgabe der Städte und Gemeinden, Grundlage sind die Gesetze des Bundes und der Länder. Die Städte und Gemeinden sind zwar staatlich verfasste Gebietskörperschaften, aber die Akteure in der Stadt bestehen aus vielfältigen privaten und öffentlichen Einheiten und Institutionen, aus Individuen und Interessengruppen, aus Firmen und Organisationen mit unterschiedlichsten Ausrichtungen und Gewichtungen (Abb. 1, S. 200). Die öffentliche Hand kann die Stadt nicht allein »bereitstellen« und »betreiben«, die physische Gestalt der Stadt, ihre Gebäude, technischen Infrastrukturen und Freiräume entstehen vielmehr in einem komplexen Wechselspiel privater und öffentlicher Aktionen, Reaktionen und Interventionen. Dabei

haben die demokratisch legitimierten Institutionen der Stadt die Aufgabe, die Stadtentwicklung im Sinne der komplexen Zielsetzungen der Nachhaltigkeit zu beeinflussen. Die Aufgaben der Stadtentwicklung entsprechen hierbei den Prinzipien der Spieltheorie: Sie werden beherrscht durch interdependente Entscheidungssituationen, in denen sich das Verhalten aller Beteiligter gegenseitig beeinflusst. Die Entwicklung neuer Stadtquartiere findet demnach immer in einem Spannungsfeld gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse statt. Man hat es hier also nicht mit einem rein wirtschaftlichen, technischen oder administrativen Ablauf zu tun, sondern mit einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Interessen und Belangen, die nach § 1 des Baugesetzbuchs (BauGB) zu ermitteln und gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen sind. Die Interessen und Belange der involvierten Spieler – oder Akteure – lassen sich den an der Quartiersentwicklung beteiligten und von ihr betroffenen Gruppen zuordnen. Diese können grob in drei Kategorien eingeteilt werden: • Staatliche Akteure: Innerhalb der staatlichen Akteure lassen sich zwei Untergruppen unterscheiden. Zum einen sind dies politische Entscheidungsträger, die in der Demokratie durch den Wahlvorgang legitimiert werden und die delegierte Macht des Volkes ausüben sollen. Zum anderen zählen dazu auch Vertreter der Verwaltung, deren Aufgabe es ist, die durch die politischen Entscheidungsträger vorgegebenen Strategien und Maßnahmen effektiv umzusetzen. • Zivilgesellschaftliche Akteure: Dazu gehören sowohl Einzelpersonen, beispielsweise Bürger oder Anwohner, sowie auch Zusammenschlüsse von Einzelpersonen in Interessensgruppen, z. B. Bürgerinitiativen, Vereine oder Glaubensgemeinschaften.

199

200

Kapitel 5 — Umsetzungs strategien

Top-down

Kommune

Top-down

Privatwirtschaft

Kommune

Privatwirtschaft

Organisationen Einzelpersonen

Agenda 21 Anwohner/ Bürger

staatlich

Anwohner/ Bürger

privat

staatlich

Bottom-up Abb. 1

Abb. 1 Akteure der Quartiersentwicklung Abb. 2 Akteure der Quartiersentwicklung und Beitrag der Agenda 21

1 Agenda 21 1992, S. 291

• Privatwirtschaftliche Akteure: Hier zeigt sich, dass die Übergänge zwischen den Akteuren teilweise fließend sein können, da in einer marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaftsform durchaus auch Einzelpersonen oder Interessengruppen als privatwirtschaftliche Akteure auftreten können, z. B. Eigentümer von Grund und Boden, die aufgrund dessen wirtschaftlicher Nutzung auch als privatwirtschaftliche Akteure gelten. Darüber hinaus zählen hierzu auch Unternehmen unterschiedlichster Branchen und Größenordnungen, die beispielsweise als Investoren auftreten oder durch ihre betrieblichen Vorgänge in die Nutzung von Ressourcen vor Ort eingebunden sind. Da die Quartiersentwicklung einen vergleichsweise langfristigen Vorgang darstellt, der mit dem Einsatz erheblicher Ressourcen verbunden ist (z. B. Materialien, finanzielle Mittel, menschliche Arbeitsleistung) und die Lebensqualität von vielen Menschen auf sehr lange Sicht beeinflusst, bedarf es ihrer Absicherung durch einen tragfähigen Konsens zwischen den Akteuren. In der demokratischen Gesellschaftsform muss also die staatliche Seite versuchen, das Spiel zwischen den oft gegenläufigen Interessen und Verhaltensformen der Akteure in Richtung eines möglichst optimalen Gesamtergebnisses zu beeinflussen. Voraussetzung dafür ist die Formulierung von strategischen Zielen und Leitlinien sowie die fachkundige Handhabe von Instrumenten, die die beteiligten Akteure zu Entscheidungen motivieren können, die für das Wohl aller von Vorteil sind. Die Quartiersentwicklung geht immer mit einer Änderung des Status quo einher, daher ist es im Sinne der gesellschaftlichen Gerechtigkeit, einen Zustand des Pareto-Optimums anzustreben. Dabei handelt es sich um den erstmals von dem italienischen Ingenieur, Ökonomen und Soziologen sowie Begründer der Wohlfahrtsökonomie Vilfredo Pareto (1848– 1923) beschriebenen theoretischen Zustand, bei dem es nicht mehr möglich ist, die Situation eines Akteurs zu verbessern, ohne zu-

privat

Bottom-up Abb. 2

gleich die eines anderen zu verschlechtern. Auch wenn dieser Zustand möglicherweise nie erreicht werden kann, bietet er konzeptuell eine Leitlinie für das Ziel, für möglichst viele ein möglichst gutes Resultat zu erzielen. Dieses Prinzip lässt sich allerdings nur umsetzen, wenn die einzelnen Akteure darauf verzichten, ihre individuellen Vorteile gegenüber den Interessen aller anderen durchsetzen zu wollen und die Bereitschaft zu einem guten Kompromiss mitbringen. Allerdings dauern Prozesse der Stadtentwicklung in der Regel deutlich länger als die Amtsperioden gewählter Volksvertreter, selbst einzelne Projekte können oft erst im Laufe mehrerer Amtszeiten realisiert werden. Wenn Projekte oder Strategien also langfristig den Zielen einer nachhaltigen Entwicklung entsprechen sollen, ist zu vermeiden, dass sie zu stark an einzelne Personen oder Parteien gebunden sind und damit in Gefahr geraten, bei personellen oder politischen Wechseln zu scheitern. Dieses Risiko lässt sich vermindern, indem die relevanten Akteure intensiv in die Formulierung von Strategien und Zielen eingebunden werden und sich langfristig mit diesen identifizieren und die Verwaltung die so abgesicherten Leitlinien der Stadtentwicklung politisch und operativ verstetigt.

Agenda 21 und schlanker Staat In Deutschland ist die Beteiligung der Öffentlichkeit an der Bauleitplanung seit 1960 im Bundesbaugesetz (BBauG) und seit 1987 im Baugesetzbuch (BauGB) verankert. Dabei wird in § 3 die frühzeitige Information der Bürger und das öffentliche Auslegen eventueller Stellungnahmen sowie die Abwägung durch die Planungsämter als Grundlage für den Ratsbeschluss festgelegt. Mit dem Ziel, die nachhaltige Entwicklung operativ zu verstetigen und sie gleichzeitig kontinuierlich demokratisch abzusichern, wird jedoch

5.1 — Akteure, Leitbilder und Instrumente

seit 1992 im Rahmen der Agenda 21 ein viel weitreichenderer Auftrag an die Kommunen gerichtet: »Da so viele der in der Agenda 21 angesprochenen Probleme und Lösungen ihre Wurzeln in Aktivitäten auf örtlicher Ebene haben, ist die Beteiligung und Mitwirkung der Kommunen ein entscheidender Faktor bei der Verwirklichung der Agendaziele. Als Politik- und Verwaltungsebene, die den Bürgern am nächsten ist, spielen sie eine entscheidende Rolle dabei, die Öffentlichkeit aufzuklären und zu mobilisieren und im Hinblick auf die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung auf ihre Anliegen einzugehen.«1 Damit setzt der Auftrag der Agenda 21 einen Wandel in der demokratischen Praxis fort, der darauf abzielt, die Flussrichtung der Administration umzukehren (Abb. 2): Anstatt die Bürger nur über die Planung zu informieren, bietet sie ihnen die Möglichkeit, ihre Stellungnahmen einzubringen. Die Kommunen treffen dann eine Entscheidung im Sinne des Gemeinwohls (Top-down). Zudem erhalten Politik und Verwaltung den Auftrag, die Bürger dazu zu ermächtigen, Leitbilder zu formulieren, Ziele vorzugeben und Entscheidungen mitzutragen (Bottom-up). Parallel dazu wurde in den 1990er-Jahren in den angelsächsischen Ländern die zuvor implizierte Bevollmächtigung der staatlichen Verwaltung, nach professionellem Ermessen im Sinn des Gemeinwohls zu handeln, zunehmend infrage gestellt.2 Dies ging mit dem wirtschaftlich liberalen Leitbild eines schlanken Staats einher und führte dazu, dass die staatlichen Akteure – etwa durch die Einbindung privater Investitionen in Public Private Partnerships (PPP, siehe S. 213) – in eine »enabling«, also befähigende Rolle treten und eine engere Kooperation zwischen der staatlichen Planung und individuellen, zivilgesellschaftlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren als erstrebenswert gilt. Insgesamt sorgen diese Entwicklungen dafür, dass stärker anerkannt wird, dass die ausschlaggebenden Impulse für die Quartiersentwicklung grundsätzlich von allen beteiligten Akteuren ausgehen und diese je nach Situation eine mehr oder weniger führende Rolle in der Quartiersentwicklung einnehmen können. Mit dieser differenzierteren Wahrnehmung wächst der Bedarf nach einer größeren Bandbreite an formellen und informellen Instrumenten der Stadtplanung. Zwischen formeller und informeller Planung entstehen zahlreiche Mischformen, bei denen die staatlichen Akteure der Planung nicht mehr allein im Sinne aller vorgehen, sondern ihr Vorgehen gemeinsam mit anderen Akteuren entwickeln (Abb. 3).3

201

Leitbilder »Städtebauliche Leitbilder und Konzepte enthalten immer auch Vorstellungen über die Gesellschaft und deren wünschenswerten Zustand.«4 Sowohl die Agenda 21 als auch die Hinwendung zu wirtschaftsliberaleren Leitbildern tragen dazu bei, dass die Rolle der staatlichen Akteure und deren Interaktion mit anderen Beteiligten neu definiert werden muss. Anstelle eines paternalistischen Prinzips liegt die Betonung nun mehr auf einem partnerschaftlichen Vorgehen. Dies äußert sich auch darin, dass die Herausforderungen der nachhaltigen Entwicklung immer komplexer diskutiert und in die Leitbilder der Quartiersentwicklung eingebracht werden.

Rio-Konferenz Im Anschluss an die UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro 1992 wurden von den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union eine Reihe von Grundsatzerklärungen vereinbart, die mehr oder weniger präzise die Zielsetzungen und Leitlinien für die nachhaltige Stadtentwicklung formulierten. Zu diesen Erklärungen zählen die Lissabon-Strategie (2000), die LilleAgenda (2000), die Kopenhagen-Charta (2002), der Bristol Accord (2005), das Rotterdam Urban Acquis (2005), die Leipzig-Charta (2007) und die Toledo-Erklärung (2010).

Globale Leitbilder der Quartiersentwicklung In der Europäischen Union haben sich mit den sukzessive abgeschlossenen Deklarationen und Leitbildformulierungen zur Stadtentwicklungspolitik nach der Konferenz von Rio zunehmend präzise Zielvorstellungen für eine nachhaltige Quartiersentwicklung herausgebildet. Der Rotterdam Urban Acquis, der 2004 auf einem informellen Ministertreffen unter der niederländischen Ratspräsidentschaft verabschiedet wurde, identifiziert z. B. als Schlüssel zu einer erfolgreichen Stadtentwicklung die folgenden Prioritäten:5 • Stadtentwicklungspolitik sollte den Blick zugleich auf ökologische Nachhaltigkeit, wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und soziale Kohäsion richten, um eine nachhaltige Entwicklung sicherzustellen. Oft waren Strategien nur auf eines dieser Ziele orientiert, wobei die Erfahrung gezeigt hat, dass dies nicht funktioniert. • Stadtentwicklungspolitik muss erkennen, dass neben dem wirtschaftlichen Erfolg auch die Lebensqualität (liveability) für die Wahl des Wunschwohnorts ausschlaggebend ist. • Städte und Quartiere müssen Standorte der ersten Wahl und der Verbundenheit werden und dürfen nicht Standorte der Notwendigkeit und der Ausgrenzung sein. • Städte sind eine wichtige Quelle der Identität […] und der Verbundenheit zwischen Gemeinschaften und Kulturen. Städte sind mehr als Marktplätze der Ökonomie. Sie können soziale Integration, bürgerliches Engagement und kulturelle Anerkennung fördern.

2 Healey 1997 3 Kühn et. al. 2002, S. 126 –152 4 Reutlinger 2006 5 Dutch Ministry of the Interior and Kingdom Realtions 2004 (Übersetzung durch den Autor) 6 Rat der Europäischen Union 2005

202

Kapitel 5 — Umsetzungs strategien

Top-down staatlich

privat An aly se

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Kommune

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Bottom-up Abb. 3

Abb. 3 Strategie zur Umsetzung der Projektziele in fünf Schritten. Der äußere Kreislauf symbolisiert den übergeordneten Managementzyklus auf Stadtebene, der innere Kreis stellt diesen für ein konkretes Projekt dar. Die Kommune formuliert im Dialog mit den Bürgern und Investoren die Ziele, überwacht und analysiert die Umsetzung durch den Investor und kommuniziert den Bürgern die Ergebnisse.

7 Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 2007, S. 3 8 Selle 2010

Diese Formulierungen zu den Leitbildern der nachhaltigen Quartiersentwicklung betonen zum einen die weichen Standortfaktoren (z. B. Lebensqualität), zum anderen das Ziel, das Engagement der Akteure und ihre gemeinsame Mitwirkung an der Stadtentwicklung zu fördern. Beispielsweise wurde 2006 in der erneuerten EU-Strategie für nachhaltige Entwicklung das Bestreben nach einer »stärkeren Kohärenz von Maßnahmen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene« und der »Integration unterschiedlicher Politikfelder« formuliert sowie die »Förderung einer integrierten Betrachtung wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Belange [verlangt], sodass sie miteinander im Einklang stehen und sich gegenseitig verstärken«.6 Auch in der 2007 verabschiedeten Charta von Leipzig wurden »auf Umsetzung orientierte« Planungsinstrumente gefordert, die u. a. »die unterschiedlichen teilräumlichen, sektoralen und technischen Pläne und politischen Maßnahmen aufeinander abstimmen und sicherstellen, dass die geplanten Investitionen eine ausgeglichene Entwicklung des städtischen Raums fördern« und »auf  lokaler und stadtregionaler Ebene koordiniert werden und die Bürger und andere Beteiligte einbeziehen, die maßgeblich zur Gestaltung der zukünftigen wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und ökologischen Qualität der Gebiete beitragen können«.7 Für die staatlichen Akteure, insbesondere die Vertreter der kommunalen Planung, ergibt sich aus diesen globalen Tendenzen und Leitlinien eine kontinuierlich zunehmende Herausforde-

rung: Wie lässt sich die inhaltlich komplexe und breit gefächerte Thematik der nachhaltigen Entwicklung aufarbeiten, um die für die Quartiersentwicklung relevanten Akteure stärker einzubinden und sich dadurch kontinuierlich demokratisch zu legitimieren und abzusichern, während sich gleichzeitig der gesamtgesellschaftliche Konsens bezüglich der Rolle der öffentlichen Hand stark wandelt?

Lokale Anpassung globaler Leitbilder Durch den von der Agenda 21 geforderten stärkeren Einbezug der zivilgesellschaftlichen und privatwirtschaftlichen Akteure sowie durch die Leitlinien der europäischen Stadtplanungspolitik entsteht zwangsläufig eine enge Wechselwirkung zwischen den jeweiligen Eigenschaften und Interessenlagen der Akteure vor Ort sowie den Verflechtungen zwischen ihnen, was eine sehr situationsspezifische Ausformulierung der allgemeinen Grundsätze verlangt. Eine Erfolg versprechende Strategie der Quartiersentwicklung muss demnach nicht nur gestalterisch auf den Kontext (Topografie, Morphologie der Baustruktur etc.) eingehen, sondern auch für die durch ihre soziale, ökonomische und kulturelle Situation geprägten Anforderungen der Akteure angemessen sein. Für jedes Quartiersentwicklungsprojekt ergibt sich also eine Reihe von Fragestellungen mit Bezug auf die jeweiligen Attribute der Akteure vor Ort. Hinsichtlich der staatlichen Akteure stellt sich

5.1 — Akteure, Leitbilder und Instrumente

zunächst die Frage nach der politischen Ausrichtung und den dadurch geprägten Prioritäten der politischen Entscheidungsträger sowie die Frage nach dem Selbstverständnis der Verwaltung: Sieht sich die Verwaltung beispielsweise in der Rolle eines hoheitlichen Organs oder in der eines an den Bürgern orientierten Dienstleisters? Die Positionierung der staatlichen Akteure kann mit einer Neigung zur informativen, partizipativen oder kooperativen Kommunikation einhergehen, wie sie beispielsweise der Professor für Stadtentwicklung Klaus Selle beschreibt.8 In Bezug auf die zivilgesellschaftlichen Akteure ist das demografische Profil der Bevölkerung vor Ort wichtig sowie ihre wirtschaftliche Lage, ihr Bildungsstand und die dadurch bedingten Voraussetzungen für eine Partizipation. Ein hoher Bildungsstand in Kombination mit gesicherten finanziellen Verhältnissen erleichtert die von der Agenda 21 geforderte Aufklärung und Mobilisierung der Bevölkerung, etwa im Rahmen einer Bürgerbefragung. Auch der soziale Zusammenhalt unter den Anwohnern bzw. das Ausmaß ihres Engagements in Interessens- und Glaubensgemeinschaften, Vereinen, Initiativen oder anderen soziokulturellen Netzwerken kann für die Formulierung einer geeigneten Quartiersentwicklungsstrategie ausschlaggebend sein. Bei den privatwirtschaftlichen Akteuren spielt die Struktur und Leistungskraft der Unternehmen vor Ort eine Rolle. Für die Bereitschaft, größere Ressourcen in die Quartiersentwicklung einzubringen, kann ausschlaggebend sein, ob es sich um eine kleinteilige Struktur mit vielen mittelständischen Unternehmen handelt, bei denen sich eine starke Bindung an die Lokalität und daher eine Bereitschaft zum aktiven Engagement für deren Entwicklung annehmen lässt, oder ob die Unternehmen vor Ort eher globalisierte Weltunternehmen sind, für die der Standort eine gewisse Austauschbarkeit hat. Zusätzlich sind für die Formulierung einer Erfolg versprechenden Quartiersentwicklungsstrategie noch einige weitere Rahmenbedingungen relevant. Beispielsweise spielt das (historisch entstandene) Verhältnis zwischen den Akteuren eine wichtige Rolle. Ist dieses – lokal oder gesamtgesellschaftlich – durch Harmonie und Kontinuität geprägt, kann das zu einer höheren Konsensfähigkeit führen, die die Formulierung und Umsetzung von Planungszielen erheblich erleichtert. Andererseits können konfliktbeladene oder sehr wechselhafte Verflechtungen zwischen den Akteuren eine erhebliche Herausforderung darstellen.

In Deutschland zeigen die Städte Freiburg, Heidelberg, Ludwigsburg und Tübingen einige interessante Ansätze zur Lösung der genannten Herausforderung an die Kommunen auf, wobei die Beispiele der Quartiersentwicklung in diesen Städten die unterschiedliche Ausformulierung oft ähnlicher Herangehensweisen belegt. DC

Instrumente zur Qualitätssicherung Auf dem Weg von der ersten Idee eines Projekts bis zur Umsetzung und Inbetriebnahme vergehen oft mehrere Jahrzehnte. In dieser Zeit werden die Ziele des Projekts immer wieder überarbeitet und an die sich ändernden Rahmenbedingungen angepasst. Dabei ist darauf zu achten, dass die anfangs formulierten Ziele bis zur Nutzung nicht aus dem Blick geraten. Insbesondere wenn diese Ziele erstmalig mit konkreten Maßnahmen und Kosten verbunden werden, ist dies keine einfache Aufgabe. Man möchte die potenziellen neuen Bewohner und Unternehmen nicht mit zusätzlichen Auflagen belasten. Aus diesem Grund haben viele Kommunen Vorbehalte gegenüber einer Inanspruchnahme rechtlicher Möglichkeiten zur Qualitätssicherung, die über das übliche Maß hinausgehen. Ohne überzeugte Entscheidungsträger in den Kommunen und ohne Bewohner, die diese Qualitäten einfordern, ist die Umsetzung von nachhaltigen Quartieren nur schwer möglich. Jedoch zeigen u. a. die Beispiele aus Tübingen (Loretto-Areal und Südstadt) und das VaubanViertel in Freiburg, was sich in einzelnen Quartieren erreichen lässt. Abb. 4 (S. 204/205) führt ganz unterschiedliche Ansatzfelder zur Qualitätssicherung auf, von Instrumenten des Baurechts (z. B. Bebauungsplan, städtebauliche Verträge) über privatrechtliche Vereinbarungen (z. B. notarieller Kaufvertrag, Verträgen mit Betreibergesellschaften) bis hin zu freiwilligen Leistungen (z. B. finanzielle Förderung bei Grundstückskauf ). Es sei darauf hingewiesen, dass sich diese Auflistung nicht ohne Weiteres auf jedes Projekt anwenden lässt. Jedes Vorhaben ist individuell und bedarf einer eigenen Strategie zur Qualitätssicherung, die in Zusammenarbeit mit einer rechtlichen Beratung entwickelt werden muss. SA, HB, GCG, RM

203

204

Kapitel 5 — Umsetzungs strategien

Anreizsysteme und Vermarktung

informelle Planung

privatrechtliche Vereinbarungen

öffentlich-rechtliche Vereinbarungen

Verfahren zur Konzeptfindung

Qualitätssicherungsinstrumente

Anwendungsbereiche

Instrument

Zielsetzung und Möglichkeiten

Städtebau, öffentlicher Raum

Prozesse, Mensch, Soziokultur

Freiraum, Stadtklima, Biotopschutz

Wettbewerbe

Qualitätsentwicklung durch konkurrierende und kooperative Verfahren zur Konzeptfindung – sehr gut bei klar definierten Entwurfsaufgaben, wünschenswert in Kombination mit Partizipation

Entwicklung von städtebaulichen Konzepten in Varianten

Partizipation bei der Vorbereitung von Auslobung und Entscheidung von Wettbewerben

Entwicklung von Freiraumkonzepten in Varianten

Partizipationsplanung

Qualitätsentwicklung und -sicherung durch Information, Beteiligung und Mitwirkung bei Entscheidungen – sehr gute Lösung je nach Befugnissen und Verbindlichkeit

öffentliche oder eingeladene Planungsworkshops

Beteiligungsmodelle, Quartiersinitiativen, -vereine, -genossenschaften

Pflanzenpatenschaften, Spielplatzintiativen, Urban Gardening

Festsetzungen im Bebauungsplan (meist mit Umweltbericht)

möglichst weitgehende Regelung als rechtsverbindliche Festsetzungen – gut geeignet für individuelle räumliche Lösungen, allerdings muss die gesetzlich geforderte Wahlmöglichkeit gegeben bleiben

Maß der baulichen Nutzung (GFZ, GRZ), Baulinen/Baugrenzen, Orientierung, Nutzung Freiflächen

Art der baulichen Nutzung (Mischnutzung, Gemeinbedarfsflächen), Bauweise, Typologien

Pflanzgebote, Erhalt von Pflanzen, Versiegelungsgrad, Eingriffs- /Ausgleichsbilanz, Freiflächenkorridore (z. B. für Stadtklima, Biotopvernetzung), Flächen für Urban Gardening

Hinweise im Bebauungsplan

wenn Festetzung nicht möglich, Hinweis und Empfehlung im Bebauungsplan – nur bedingt als Qualitätssicherung geeignet

Verweis auf Gestaltungsund Nachhaltigkeitshandbuch (z. B. Nebenanlagenkonzept, Beleuchtungskonzept)

Verweis auf gemeinVerweis auf Pflanzliste schaftliche Einrichtun(z. B. Verwendung von eingen wie Werkstatt-, Veran- heimischen Pflanzenarten) staltungs- und Spielhaus

städtebaulicher Vertrag

Sicherstellung der Qualitäten gegenüber der Stadt bei privatwirtschaftlichen Entwicklungen – sehr gutes Instrument für nicht kommunal getragene Entwicklungen, in der Folge Einsatz weiterer Instrumente zur Umsetzung der Festlegungen

Festlegung des Einsatzes von Gestaltungs- und Nachhaltigkeitshandbuch, Gestaltungs- und Nachhaltigkeitsbeirat

Berücksichtigung von Baugemeinschaften und sozialem Wohnungsbau, Sicherstellung ökologisch orientierter Nutzungen beim Grundstücksverkauf

kommunale Satzungen

Erhöhung der gesetzlichen Anforderungen in einzelnen Themenbereichen für die gesamte Kommune oder Teilbereiche – gut geeignet für allgemeine Anforderungen

Gestaltungssatzung

detaillierte Pflanzsatzung

notarieller Kaufvertrag

Sicherung von Qualitäten im Detail über das öffentliche Recht hinaus (z. B. mit Bezugsurkunden) – sehr gutes, tiefgehendes Sicherungsinstrument

Sicherstellung der Einhaltung von Gestaltungs- und Nachhaltigkeitshandbuch, Verbindlichkeit Beirat

Sicherstellung der Einhaltung von Gestaltungsund Nachhaltigkeitshandbuch mit Außen- und Nebenanlagenkonzept

Grundbucheintrag

langfristige Sicherstellung der Qualitäten auch bei Grundstücksweiterverkauf – nur für grundlegende wichtige Qualitätsmerkmale, da sehr unflexibel, aber stark durchgreifende Wirkung

Eintragung des städtebaulichen Farb-/ Materialkonzept

Eintragung Außen- und Nebenanlagenkonzept

Vertrag mit Betreibergesellschaft /sonstige Privatverträge

vertragliche Regelungen über den Kauf und die Entwicklung hinaus (z. B. Betrieb) – eher Sonderlösung, allerdings mit großen Regelungsmöglichkeiten

Bauwerkvertrag

Sicherstellung gestalterischer, baukonstruktiver und haustechnischer Qualität – nur in Bauherrenfunktion möglich

Sicherstellung gestalterischer, gebäudetypologischer, ökologischer Qualität

Rahmenplan / städtebaulicher Entwurf / Entwicklungskonzept

rahmengebende Merkmale und auch Vertiefungen in Einzelbereichen sinnvoll – sehr gutes Instrument mit Vorbildfunktion, wenn auch nicht rechtsverbindlich (außer wenn in anderen Verträgen entsprechend geregelt)

städtebaulicher Entwurf mit Gestaltungskonzept, Definition Gebäudetypologien, Vorgabe Bauabschnitte

Gestaltungsund Nachalitigkeitshandbuch

Beschreibung gestalterischer und ökologischer Leitlinien – gut geeignet zur Qualitätsentwicklung in Kombination mit einem Beirat (nur verbindlich, falls in anderen Verträgen entsprechend geregelt)

Leitlinien Gestaltungskonzept

Leitlinien Außen- und Nebenanlagenkonzept

Gestaltungsund Nachhaltigkeitsbeirat

Diskussion aller gestaltungs- und nachhaltigkeitsrelevanten Aspekte – aufwendig, daher vor allem für schwierige und anspruchsvolle Projekte geeignet (nur verbindlich, falls in anderen Verträgen entsprechend geregelt)

Sicherstellung der Gestal- Integration von Betungsqualität bei Planung wohnern und Nutzern und Ausführung (mit Stimmrecht)

Sicherstellung der Außenund Nebenanlagenqualität bei Planung und Ausführung

finanzielle Förderung bei Grundstückskauf

indirekte Qualitätssicherung ohne weitgehende Durchgriffsmöglichkeiten – gut geeignet zur Qualitätsförderung bei schwierigen wirtschafltichen Rahmenbedingungen am Markt

Fassadengestaltung bei Bestandsquartieren

Baugemeinschaftsprojekte, sozialer Wohnbau, Familien mit Kindern, besondere Wohnformen

Zertifizierungen und Auszeichnungen

vergleichende Bewertung von Nachhaltigkeitsqualitäten – zur Qualitätssicherung, Vermarktung und Dokumentation der Werthaltigkeit sehr gut geeignet, aufwendig

gestalterische und funktionale Qualität von Quartieren und Gebäuden

soziokulturelle Qualität von Prozessen bei Quartieren und Gebäuden

Festlegung Freiraumcharakter, Pflanzkonzept, Quartiersplätze

Unterhalt, Betrieb und Belegung von Gemeinschaftseinrichtungen, Organisation Bewohnerverein

Organisation, Pflege durch Betreibergesellschaft oder Bewohnerverein

Entwicklungskonzept Quartiersgemeinschaft

Rahmenplan Freiraum und Landschaft

Abb. 4 Übersicht möglicher Ansatzfelder zur Sicherung der Nachhaltigkeitsziele bei der Umsetzung von Quartiersentwicklungen

ökologische und funktionale Qualität von Quartieren und Gebäuden

5.1 — Akteure, Leitbilder und Instrumente

Wasser, Boden

Stoffflüsse, Baustoffe

Entwicklung von Wasserkonzepten in Varianten

205

Mobilität

Energie

Entwicklung von Erschließungs- und Mobilitätskonzepten in Varianten

Generierung von energieeffizienten Bebauungsstrukturen und Energiekonzepten in Varianten

Entwicklung von Nutzungskonzepten in Varianten

Schaffung eines Bewusstseins für die Reduktion des Energieverbrauchs (Information)

effizienter und bedürfnisorientierter Prozess

Schaffung eines Bewusstseins für die Reduktion von Wasserverbrauch und den Umgang mit Techniken (Information)

Emissionen (Lärm, Luft, Licht)

Ökonomie

Sicherstellung nachhaltiger Ver- und Entsorgung durch Festsetzungen von entsprechenden Flächen und Leitungstrassen

Festlegung von Flächen für die Abfallentsorgung

Festlegung der Anbindung (z. B. für Durchführung von Busoder Straßenbahnlinien), Festlegung von Anzahl und Ort der Stellplätze

Festlegung von Funktionsflächen (z. B. für BHKW), Beeinflussung solare Gewinne, Kompaktheit / Effizienz des Nahwärmesystems (Festlegung GFZ, Orientierung, Bauweise, Körnung)

Festlegung von Flächen Nutzungsmischung, zum Lärmschutz, NutEinschränkungen von zungszonierung, gebäuBranchen detechnische Maßnahmen

Verweis auf nachhaltiges Regenwasserund Grauwasserkonzept sowie Empfehlungen für den Umgang

Verweis auf ressourcenschonende Infrastruktur und Bauweisen von Gebäuden

Verweis auf Shared Space, Spielstraßen

Verweis auf Gebäudeenergiestandard, Hinweise auf Anschlussverpflichtung an das Nahwärmenetz

Verweis auf Schallgutatchen mit Schutzmaßnahmen

Empfehlung für kleinkörnige Nutzungsmischung (z. B. EG für Gewerbenutzung in Mischgebieten)

Festlegung Ver- und Entsorgungsinfrastruktur (z. B. Regenwassermanagement, Grauwasserreinigung, Brauchwassernetz)

Festlegung ressourcenschonender Infrastruktur (z. B. Einsatz von Recyclingmaterialien, wasserdurchlässige Beläge) und Bauweisen (z. B. Holzbau), Art der Abfallentsorgung

Angebot Carsharing, Fahrradverleih, Ladestationen E-Mobilität

Festlegung von Gebäudeenergiestandards und Versorgung (z. B. Bau und Betrieb BHKW und Nahwärmenetz)

Festsetzung von Schallschutzmaßnahmen

Kostenregelungen für Herstellung und Betrieb des Quartiers, Nutzungsmischung

Abwassersatzung

Sicherstellung des Regenwassermanagements, Anschluss Grauwassernetz

Stellplatzsatzung, Nachweis Fahrradstellplätze Sicherstellung der Einhaltung von Gestaltungsund Nachhaltigkeitshandbuch mit Baustoff- und Haustechnikkatalog

Sicherstellung von Fahrradstellplätzen, barrierefreie Erschließung

Eintragung der Zugänglichkeit und Unterhaltung der oberflächigen Regenwasserableitung

Gebührensatzungen

Sicherstellung des Sicherstellung von Anschlusses an das NahSchallschutzmaßnahmen wärmenetz, Einhaltung von an Gebäuden Gebäudeenergiestandard Eintragung der Zugänglichkeit von Nahwärmenetzen und Technikzentralen

Organisation, Pflege und Erhalt der Wassermanagementsysteme

Organisation von Carsharing, Fahrradverleih, Ladestationen E-Mobilität

Umsetzung des baubiologischen und ökologischen Materialkatalogs

Organisation von EnergieContracting mit Betrieb und Abrechnung

Sicherstellung der energetischen Gebäudequalität

Rahmenplan Wassermanagement

Verkehrs- und Mobilitätskonzept

Energienutzungsplan

Leitlinien zu Regenwasser-, baubiologischer und Grauwasser- und Brauchökologischer Materialwasserkonzepten und Haustechnikkatalog mit Leitlinien

Leitlinien Gestaltung und Anordnung von Parkplätzen, Carports und Fahrradstellplätzen

Leitlinien zu energieeffizientem Bauen, Integration von Solar- und Haustechnikanlagen

Integration von Wassermanagementsystemen in das Freiraumkonzept

Sicherstellung der baubiologischen und ökologischen Gebäudequalität bei Planung und Ausführung

Integration von Verkehrsflächen und Bauwerken in das Freiraumkonzept

Sicherstellung der energetischen Gebäudequalität bei Planung und Ausführung

Punktesystem für Umsetzung baubiologischer und ökologischer Materialien und Haustechnik

Punktesystem für Teilnahme an Carsharing

Punktesystem für Umsetzung von erhöhten Gebäudenergiestandards

ökologische und technische Qualität von Quartieren und Gebäuden

ökologische, soziokulturelle und technische Qualität von Quartieren und Gebäuden

ökologische und technische Qualität von Quartieren und Gebäuden

ökologische und technische Qualität von Quartieren und Gebäuden

Baulandpreisgestaltung, kleinkörnige Nutzungsmischung (z. B. EG für Gewerbenutzung in Mischgebieten)

soziokulturelle Qualität von Quartieren und Gebäuden

ökonomische Qualität von Quartieren und Gebäuden

206

Kapitel 5 — Umsetzungs strategien

5. 2

Kommunale Umsetzungsstrategien Dominic Church, Manal El-Shahat, Thorsten Erl

E Stakeholder Theory Der amerikanische Philosoph R. Edward Freeman befasste sich in seinem 1984 veröffentlichten Buch »Strategic Management. A Stakeholder Approach« mit ethischen und moralischen Prinzipen auf dem Gebiet der Unternehmensführung. Dabei identifizierte er – über den Kreis der Anteilseigner hinaus – verschiedene weitere Gruppen, die ein berechtigtes Interesse an der Vorgehensweise der Unternehmensführung haben, und beschrieb Herangehensweisen, wie die Unternehmensführung angemessen auf ihre Belange eingehen könnte.

1 Freeman 1984

ine besondere Herausforderung für die Bildung eines demokratisch abgesicherten und auf lange Sicht tragfähigen Konsens für die Quartiersentwicklung besteht darin, dass Quartiere in der Regel weder formal territorial definiert, noch politisch konstituiert sind. Somit muss zunächst geklärt und entsprechend begründet werden, welche Personen oder Gruppen mit der Entwicklung im Quartier in Verbindung stehen und damit eine berechtigte Erwartung haben, diese mitzugestalten. Zur Klärung dieser Frage kann es wichtig sein, über die Gruppe der Akteure (also der aktiv Mitwirkenden) hinauszugehen und all jene miteinzuschließen, die ein legitimes Interesse an der Quartiersentwicklung haben könnten – etwa im Sinn des aus dem englischen stammenden Begriffs der »Stakeholder«. Der im Jahr 1963 erstmals vom Stanford Research Institute verwendete Begriff wurde in den 1980er-Jahren durch R. Edward Freeman im Rahmen der »Stakeholder Theory« weiterentwickelt.1 Im Gegensatz zum enger gefassten Begriff des Akteurs könnte mit Stakeholder etwa auch eine Bewohnerin eines angrenzenden Stadtgebiets gemeint sein, die selbst nicht aktiv an der Entwicklung der Quartiers beteiligt ist. Weiter erschwert wird die Frage nach der tatsächlichen Repräsentativität durch die Tatsache, dass die wichtigste Interessensgruppe eines neuen Quartiers – dessen künftige Bewohner – zum Zeitpunkt der Planung meist nicht bekannt und damit nicht greifbar ist. Dies kann dazu führen, dass die Belange der zukünftigen Nutzer in der Partizipation nicht ausreichend zu Wort kommen oder dass sich z. B. die Kommune genötigt sieht, deren Interessen zu vertreten, und sich damit für eine Gruppe stark machen muss, die nicht präsent ist oder in der lokalen Wahrnehmung gar nicht existiert. Ein solches Dilemma lässt sich beispielsweise dadurch

vermeiden, dass die Ziele der Quartiersentwicklung auf gesamtstädtischer Ebene abgesichert werden, wo territorial und politisch konstituierte demokratische Einheiten sie verabschieden und legitimieren können. Die von Städten wie z. B. Heidelberg und Ludwigsburg formulierten Kriterienkataloge für die nachhaltige Stadtentwicklung sowie die regelmäßige Berichterstattung zu Fortschritten bezüglich der formulierten Zielindikatoren sind eine Antwort auf diese komplexe Herausforderung. Die thematische Bandbreite der Indikatoren erlaubt es, das Themenfeld der Nachhaltigkeit umfassend abzubilden. Darüber hinaus bietet die gemeinsam mit den Akteuren getroffene Formulierung und Vereinbarung der Indikatoren eine Möglichkeit, die Zielsetzungen weit über die Amtsperioden einzelner politischer Volksvertreter hinaus demokratisch zu legitimieren und damit eine von einem breiten Konsens getragene Handlungsgrundlage für die kommunale Planung zu schaffen. Besonders effektiv ist daher auch die Herangehensweise der Stadt Ludwigsburg, die ihre Ziele in sogenannten Zukunftskonferenzen formuliert, deren Teilnehmer das demografische Profil der Stadt abbilden. Zu den Mitteln, die staatlichen Akteuren zur Verfügung stehen, um Einfluss auf die weiteren Beteiligten der Quartiersentwicklung zu nehmen, zählt neben der Schaffung gesetzlicher Rahmenbedingungen die Möglichkeit, durch Fördermittel Anreize zu bieten. Eine Grundlage für die Förderung durch Bund und Länder bildet das 1971 verabschiedete Städtebauförderungsgesetz, das 1987 zusammen mit dem Bundesbaugesetz von 1960 zum Baugesetzbuch zusammengefasst wurde, sowie die Verwaltungsvorschrift des Landesministeriums, die Landeshaushaltsordnung und der Bewilligungsbescheid des Landes. Die Ziele der Förderung durch Bund und Länder leiten sich von den stadtentwicklungspolitischen

5.2 — Kommunale Umsetzungsstrategien

Ziel

2000

2003

2006

2010

Differenz 2006/2010

Bewertung

• fertiggestellte Wohnungen

346

321 (2004)

182

176 1)

-6

-

• Anteil geförderter Wohnungen 2) unter den fertiggestellten Projekten [in %]

19,1

10,4

1,6

40,3

+ 38,7

++

• Bestand an Wohnungen mit Sozialbindung

9766

9570

7205

5766

-1439

--

• durchschnittlicher Mietpreis pro m2 gemäß Mietspiegel [in Euro]

7,08

7,05

7,28

7,63

+ 0,35

-

• m Eigentumswohnung , die mit einem durchschnittlichen jährlich verfügbaren Einkommen 4) je Einwohner/-in in Heidelberg zu erwerben sind

8,2

9,3

9,6 (2005)

10,5 (2008)

+ 0,9

+

Wohnflächenzuwachs pro Kopf begrenzen, Flächenverbrauch senken, Flächen effektiv nutzen

• Pro-Kopf-Wohnfläche der Einwohner/-innen [in m2]

36,5

36,5

36,8

37,2

+ 0,4 5)



ökologisches Bauen fördern

• bewilligte Projekte (Förderanträge) zur rationellen Energieverwendung

93

107

192

237

45

• Bestand an geförderten Wohnungen in Niedrigenergie- und Passivhäusern 6)

29

95

97

128

31

Wohnraum für alle, 8000 –10 000 Wohnungen mehr, preiswerten Wohnraum sichern und schaffen, Konzentration auf den preisgünstigen Mietwohnungsmarkt

Indikatoren

207

2

3)

++

1)

darunter 39 Wohnungen in Studentenwohnheimen; 2) Anteil der preis- und belegungsgebundenen Wohnungen; 3) gleitender Mittelwert über drei Jahre (aktuelles Jahr, Vorgängerjahr, Nachfolgejahr), Quelle: Gutachterausschuss; 4) verfügbares Einkommen nach volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung, Quelle: Statistisches Landesamt; 5) aufgrund des vierjährigen Betrachtungszeitraums Aufwertung um eine Stufe; 6) aufsummierte Werte, bereinigt um die zurückgezogenen Förderanträge Abb. 1

Zielen des Bundes ab, die sich wiederum beispielsweise an der Charta von Leipzig und anderen Leitbildern orientieren (siehe S. 201). Seit 1990 haben verschiedene Bundesregierungen unterschiedliche Förderprogramme aufgelegt, die jeweils konkrete Problemstellungen der Quartiersentwicklung thematisieren (z. B. Stadtumbau Ost/West). Seit 2000 bietet auch die Europäische Union im Rahmen der europäischen Strukturpolitik Programme zur Förderung der Quartiersentwicklung an, die sich ebenfalls an den globalen Leitbildern und Strategien ausrichten. DC

Stadtentwicklung Heidelberg Die Stadt Heidelberg hat 1997 nach zweijähriger Diskussion mit der Bürgerschaft den »Stadtentwicklungsplan Heidelberg 2010 – Leitlinien und Ziele« (STEP) beschlossen, dessen Präambel eine sozial verantwortliche, umweltverträgliche und wirtschaftliche Entwicklung festschreibt. Er basiert in Grundzügen auf den 1974 formulierten Zielen des Heidelberger Stadtentwicklungskonzepts, setzt darüber hinaus aber auch die damals aktuelle Forderung der UN-Konferenz von 1992 in Rio de Janeiro um, das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung auf  lokaler Ebene zu verfolgen. Dafür benennt der STEP acht differenzierte Zielbereiche – städtebauliches Leitbild, regionale Kooperation, Arbeiten, Wohnen, Umwelt, Mobilität, Soziales und Kultur – und besondere Querschnittsanliegen wie z. B. Bürgerbeteiligung, Gleichstellung von Mann und Frau, Migration, kommunale Entwicklungszusammenarbeit etc. Von Beginn an wurde eine regelmäßige Berichterstattung über den Stand des Erreichten gefordert.

Unter dem Titel »Wo stehen wir, was haben wir erreicht?« erschien 2002 der erste Bericht zur Umsetzung des Stadtentwicklungsplans. Er beschreibt für einzelne Zielbereiche die jeweils ersten Umsetzungsergebnisse und unterscheidet dabei geplante, begonnene und abgeschlossene Vorhaben. Darüber hinaus benennt der Bericht weitere erforderliche bzw. neue Handlungsbedarfe und aufgetretene Zielkonflikte. Ein Verweis auf Schlüsselprojekte, der Überblick über wichtige vorhandene bzw. noch fehlende Daten und die Zusammenstellung ausgewählter Entscheidungen und Projekte bilden den Abschluss des Berichts. Drei Jahre später entstand der »Heidelberger Nachhaltigkeitsbericht 2004«, mit dem eine auf Indikatoren gestützte Erfolgskontrolle des Stadtentwicklungsplans Heidelberg 2010 eingeführt wurde. Diese Darstellung mithilfe von Indikatoren und Messgrößen gründete auf der Erkenntnis, dass das Erreichen der definierten Ziele des STEPs eine Daueraufgabe darstellt. In Konsequenz dessen sollte eine vereinfachte, wiederholbare Zwischenbilanzierung im Sinn eines Monitorings kontinuierlich alle zwei Jahre durchgeführt werden. Wohlwissend, dass sich nicht jeder Zielbereich – wie z. B. »regionale Kooperation« oder »städtebauliches Leitbild« – mit Messgrößen hinterlegen lässt, wurden von Beginn an eine mögliche Anpassung des Systems bzw. die Erweiterung der Indikatoren berücksichtigt. Gerade Themen wie die CO2-Einsparung oder die so ziale Lage sind in ihrer Komplexität nur schwer in einem Indikatorensystem darstellbar. Hierzu benötigt man ausführliche Analysen und Vertiefungen, die in eigenständigen Berichten regelmäßig bewertet und kommuniziert werden. Bei der Zusammenstellung der Indikatoren orientierte sich die Stadt an verschiedenen Systemen, die in Deutschland bereits eingeführt waren, u. a. an den Indikatoren nachhaltiger Stadtentwicklung des Forschungsfelds »Städte der Zukunft« im

Abb. 1 Beispiel für Indikatoren im Zielbereich Wohnen des Stadtentwicklungsplans für Heidelberg Abb. 2 Stadtentwicklungsprojekt Bahnstadt, Heidelberg (D) 2012

Abb. 2

208

Kapitel 5 — Umsetzungs strategien

Oberbürgermeister – Leitung der Verwaltung Referat Nachhaltige Stadtentwicklung Wirtschaftsförderung Unternehmensbetreuung, Lotsenfunktion, Vemittlung von Gewerbeflächen, offensive Innenstadt etc. integrierte Stadtentwicklung nachhaltige Stadtentwicklung, Stadtteilentwicklungspläne, Projekte im Förderprogramm »Soziale Stadt« etc. Europa und Energie Fördermittelakquise, EU-Koordination, Grundsatzfragen Energie, Projekte Energie etc.

Dezernat I Wirtschaft, Kultur, Verwaltung Oberbürgermeister Stabsstelle

Dezernat II Bildung, Sport, Soziales Erster Bürgermeister Stabsstelle

Dezernat III Bauen, Technik, Umwelt Bürgermeister Stabsstelle

Büro Oberbürgermeister

fachübergreifende Koordination

ÖPNV, Beauftragter für Umweltschutz

Abstimmung der Nachhaltigkeitsziele • • • • • •

Revision Organisation, Personal Finanzen Liegenschaften Kunst, Kultur Film, Medien, Tourismus

• bürgerschaftliches Engagement • Sicherheit, Ordnung • Bürgerdienste • Bildung, Familie, Sport

• Bürgerbüro Bauen • Stadtplanung, Vermessung • Hochbau, Gebäudewirtschaft • Tiefbau, Grünflächen • technische Dienste

Abb. 3 Abb. 3 Organisation der Verwaltung in Ludwigsburg nach der Umstrukturierung und Weiterentwicklung Abb. 4 Energiekonzept für Ludwigsburg Abb. 5 Holzheizkraftwerk in Ludwigsburg

2 Stadt Ludwigsburg/ zafh.net 2010

»Energieeffiziente Stadt Ludwigsburg« Ludwigsburg wurde von der Internationalen Energieagentur (IEA) in Paris im Rahmen des Forschungsschwerpunkts »Annex 51« als Modellprojekt für eine energieeffizienten Stadt ausgewählt. Die Stadt Ludwigsburg beauftragte das Zentrum für nachhaltige Energietechnik (zafh.net) und das Zentrum für Nachhaltige Stadtentwicklung, beide an der Hochschule für Technik Stuttgart (HfT), zusammen mit dem Referat Nachhaltige Stadtentwicklung der Stadt Ludwigsburg mit der Studie »Energieeffiziente Stadt Ludwigsburg«. Die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Fallstudie analysiert die gesamten Aktivitäten der Stadt Ludwigsburg im Bereich Energieeffizienz und zeigt Handlungsempfehlungen auf.

Rahmen des Forschungsprojekts »Experimenteller Wohnungs- und Städtebau«(ExWoSt) des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung (BBR). Insgesamt liegen dem Nachhaltigkeitsbericht 75 Indikatoren zugrunde, wovon 42 die Zielbereiche des STEPs und die besondere Situation Heidelbergs berücksichtigen (Abb. 1, S. 207). Als Datenquellen zur Bewertung der Indikatoren dienten bestehende amtliche Statistiken bzw. Erhebungen, um aufwendige neue Untersuchungen zu vermeiden. Jedem Indikator werden zwei Zeitpunkte der Bemessung zugewiesen. Aus diesen zwei Werten ergibt sich die Entwicklung bzw. die Bewertung des Entwicklungsverlaufs anhand einer fünfstufigen Skala von »deutliche Verschlechterung« bis »deutliche Verbesserung bzw. Erreichen/Einhalten des Zieles«. Im Unterschied zum »Heidelberger Nachhaltigkeitsbericht 2004« integriert der Bericht aus dem Jahr 2007 zusätzlich eine auf Indikatoren gestützte Bewertung des Zielbereichs demografischer Wandel. Drei Jahre zuvor hatte Heidelberg noch auf eine gesonderte Erhebung zu diesem Thema verwiesen. Mit der Fortschreibung »STEP 2015« im Jahr 2006 war der demografische Wandel als neues Kapitel in den Stadtentwicklungsplan aufgenommen worden. Mittlerweile hat sich mit der Veröffentlichung des »Heidelberger Nachhaltigkeitsbericht 2011« das Indikatorensystem immer mehr im Bewusstsein der Heidelberger etabliert. Neben den Nachhaltigkeitsberichten enthalten seit 2005 auch alle Informations- und Beschlussvorlagen der Verwaltung an den Gemeinderat eine Nachhaltigkeitsprüfung, die darlegt, welche Ziele des STEPs mit dem Beschluss/Projekt verfolgt werden und welche Vor- bzw. Nachteile der Vorschlag hat. Das Nachhaltigkeitsmonitoring ist zu einem wichtigen Teil der Orientierung und der Erfolgskontrolle nachhaltiger Stadtentwicklung für Verwaltung, Politik und Bürgerschaft der Stadt Heidelberg geworden. TE

Stadtentwicklung Ludwigsburg Die Stadt Ludwigsburg setzt in ihrem Konzept der nachhaltigen Stadtentwicklung die Schwerpunkte auf Methoden und Instrumente zur Unterstützung städtischer Entscheidungsträger, die für Nachhaltigkeitsentwicklungen zuständig sind, sowie auf die Implementierung effizienter mittelbis langfristiger Energiestrategien.2 Damit ist Ludwigsburg ein Paradebeispiel für die Umsetzung der Agenda 21 auf städtischer Ebene, vor allem der ökologischen Ziele, aber auch der ökonomischen und sozialen. Im Zusammenhang mit den ökologischen Zielen entstand in Ludwigsburg 2001 die Gruppe »Lokale Agenda Ludwigsburg«, die sich an den Leitzielen der globalen Agenda 21 orientierte und seit 2007 als Ludwigsburger Energieagentur e. V. (LEA) bis heute aktiv am Entwicklungsprozess der Stadt beteiligt ist. Die von der kommunalen Verwaltung entwickelte übergeordnete Stadtentwicklungsstrategie basiert auf dem Bottom-up-Prinzip der Bürgerbeteiligung. Diese Strategie ermöglicht es, das Engagement der für die Stadtentwicklung relevanten Akteure aus der Bürgerschaft, der Privatwirtschaft und der Region auf breiter und repräsentativer Basis einzubinden. Durch die integrierte Betrachtung und die Entwicklung eines gemeinsamen Zukunftsbilds gelang es, in intensiver Zusammenarbeit aller Beteiligten Nachhaltigkeitsziele zu formulieren – ein Dreiklang aus wirtschaftlicher Entwicklung, sozialem Ausgleich und gesunder Umwelt. Eine Ludwigsburger Besonderheit ist die Einrichtung eines eigenen Referats für nachhaltige Stadtentwicklung in der Verwaltung, das hauptsächlich für die Umsetzung, Steuerung und Koordination der Strategie für nachhaltige Stadtentwicklung zuständig ist und die einzelnen Innovations-

5.2 — Kommunale Umsetzungsstrategien

209

Modul Industrie-Netzwerk mit Unterstützung des AK Nachhaltigkeitsstrategie und Umweltministerium Baden-Württemberg Modul Wärme

Modul Strom

Modul Verkehr

Wärmekataster Ausgangslage Wärmeverbrauch und -erzeugung, Klima- und Umweltwirkungen, Potenziale und Nutzung erneuerbarer Energien

Strombilanz Ausgangslage Stromverbrauch und -erzeugung, Klima- und Umweltwirkungen, Potenziale und Nutzung erneuerbarer Energien

Klimabilanz/Verkehr Ausgangslage Treibstoff- und Energieverbrauch im Verkehr, Klima- und Umweltwirkungen, Potenziale, Nutzung und Produktion alternativer Treibstoffe

Ziele und Szenarien Festlegung von Zielen (z. B. Energieeffizienz, erneuerbare Energien, CO2-Minderung, andere Umwelteinwirkungen, Eigenversorgungsanteil etc.) Strategie Wärme Identifikation, Wirksamkeit, Umsetzungsschritte, Akteure, Kosten, Finanzierung von Maßnahmen im Wärmesektor

Strategie Strom Identifikation, Wirksamkeit, Umsetzungsschritte, Akteure, Kosten, Finanzierung von Maßnahmen im Stromsektor

Strategie Mobilität Identifikation, Wirksamkeit, Umsetzungsschritte, Akteure, Kosten, Finanzierung von Maßnahmen im Verkehrssektor

Modul Gesamtstrategie Energie und Klimaschutz in Ludwigsburg Potenzial, Klima- und Umweltschutzmaßnahmen, Wirtschaft, Kosten, Akteure Abb. 4

projekte betreut. Fachlich integriert und horizontal vernetzt beschäftigt sich das Referat quer durch alle Arbeitsfelder und auf verschiedenen Ebenen mit den drei Arbeitsgebieten und Nachhaltigkeitsaufgaben Wirtschaftsförderung, integrierte Stadtentwicklung sowie Europa und Energie. Ziel des 2008 neu geschaffenen Referats ist es, die Abstimmung zwischen den verschiedenen Ebenen der Politik und der Verwaltung, die Einfluss auf Fragen der Nachhaltigkeitsentwicklung haben, zu optimieren und dadurch eine bessere vertikale Vernetzung zu erreichen (Abb. 3). Für die Energiestrategie wurde vom Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung (IER) der Universität Stuttgart eine Vielzahl an Maßnahmen und Aktivitäten in den Bereichen Klima, Adaption an den Klimawandel, Energie, Verkehr, Industrie und Nutzungsplan zusammengestellt (Abb. 4).3 Das Spektrum dieser Aktivitäten zeigt die hohe Priorität, die die Stadt der Energiepolitik beimisst. Darüber hinaus konnte sich Ludwigsburg im Rahmen des internationalen Programms »Annex 51« der Internationalen Energieagentur (IEA) in Paris erfolgreich um den Status als Modellprojekt einer »Energieeffizienten Stadt« bewerben.

Stadtentwicklungskonzept Das im Jahr 2006 verabschiedete nachhaltige Stadtentwicklungskonzept (SEK) »Chancen für Ludwigsburg« ist das Ergebnis eines zweijährigen integrierten und gesamtstädtischen Prozesses, an dem die Bürger über Zukunftskonferenzen, Foren und Dialoge intensiv beteiligt waren und den eine umfassende Umstrukturierung der Stadtverwaltung begleitete. Die erste Bürgerkonferenz auf gesamtstädtischer Ebene fand 2005 statt, initiiert wurde das Projekt eines nachhaltigen Konzepts jedoch bereits im Rahmen des Programms »Soziale Stadt« auf den Stadtteilkon-

ferenzen 2000 und 2002 in Eglosheim.4 Daraus ergaben sich Impulse für die weitere integrierte Stadtentwicklung. Diese Bürger-Workshops wurden regelmäßig durchgeführt. Parallel dazu fanden 2005 auch andere Aktivitäten wie z. B. Meinungsbilder, Dialogsommer etc. statt. Seit 2004 trieb die Stadtverwaltung als Initiator und Motor die Entwicklung des SEK voran, während der Gemeinderat für die Steuerung und Kontrolle des Konzepts zuständig war. Dabei entwickelten Verwaltung und Politik zunächst schrittweise die Grundlagen des Stadtentwicklungskonzepts, um dann gemeinsam mit den Akteuren (hauptsächlich aus der Bürgerschaft und teilweise aus der Wirtschaft) durch deren Impulse und Mitwirkung das integrierte Stadtentwicklungskonzept »Chancen für Ludwigsburg« zu erarbeiten. Zudem wurde der sogenannte Wirtschaftstag ins Leben gerufen, eine Konferenz mit den lokalen Unternehmen zur Förderung einer intensiven Bindung und enge Kooperation zwischen Wirtschaft und Verwaltung, die seit 2004 stattfindet. Nach der zweiten gesamtstädtischen Zukunftskonferenz 2006 wurden Netzwerke aus Stadtverwaltung, Gemeinderat und Expertengremien gebildet,5 um die unterschiedlichen Visionen und Leitsätze der Entwicklungsstrategien umzusetzen und sich konkret mit den elf erarbeiteten Themenfeldern zu befassen. Diese sind thematisch weit gefächert und greifen inhaltlich die Leitsätze und Ziele der nachhaltigen Entwicklung auf. Dabei spiegeln sie den Anspruch wider, alle Aspekte der gelebten Realität eines jeden Stadtteils qualitativ ansprechen zu können.

3 Stadt Ludwigsburg/ zafh.net 2010 4 ebd. 5 Spec et al. 2010

Elf Themenfelder des SEK »Cancen für Ludwigsburg« • • • • • • • • • • •

attraktives Wohnen kulturelles Leben Wirtschaft und Arbeit vitale Stadtteile lebendige Innenstadt Zusammenleben von Generationen und Nationen Grün in der Stadt Mobilität Bildung und Betreuung vielfältiges Sportangebot Energieversorgung

Integriertes Energiekonzept Aspekte wie städtebauliche Konzepte, Verkehrssysteme, Nutzungen, Siedlungsdichte, Kontext und der Bedarf der Nutzer bestimmen die Energieeffizienz einer Stadt. Das SEK der Stadt Ludwigsburg Abb. 5

210

Kapitel 5 — Umsetzungs strategien

Abb. 6 Abb. 6 STEP für den Bebauungsplan Grünbühl-Sonnenberg, Ludwigsburg Abb. 7 Managementzyklus für ein Stadtentwicklungskonzept

Berichterstattung und Evaluierung (Indikatoren)

Umsetzung durch SEKMasterpläne

integriertes Nachhaltigkeitsmanagement

Beschluss der Leitsätze und Ziele in elf Themenfeldern

Prüfung der örtlichen Situation

Weiterentwicklung der strategischen Ziele

Abb. 7

trägt dieser Tatsache mit dem Themen- und Arbeitsfeld Energieversorgung Rechnung. Das Hauptziel besteht darin, einen ausgewogenen Energieverbrauch zu erreichen, entweder durch Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz und/oder durch die Nutzung erneuerbarer Energien und Ressourcen. Dazu wird eine stadtweite Energiestrategie formuliert, die einzelne Maßnahmen und Herangehensweisen im Hinblick auf eine optimale Gesamtwirkung koordiniert. Die Bereitstellung von Wärme und Strom übernimmt in Ludwigsburg ein lokales Holzheizkraftwerk – das größte seiner Art in Baden-Württemberg (Abb. 5, S. 209). Im Jahr 2010 konnten damit ca. 70 % des benötigten Wärmebedarfs der Fernwärmeversorgung in Ludwigsburg gedeckt werden.6 Aktuell erfolgt die Ermittlung der Potenziale erneuerbarer Energien für die weitere Energiestrategie der Stadt. In diesen Prozess sind alle relevanten Akteure, also die Stadtwerke, Bürger und Interessengruppen wie z. B. private Wirtschaftsunternehmer und öffentliche Institutionen, integriert.

Managementzyklus 6 Stadt Ludwigsburg/ zafh.net 2010 7 ebd.

Weitere Informationen • Bunzel, Arno; Coulmas, Diana; Schmidt-Eichstaedt, Gerd (2007): Städtebauliche Verträge. Ein Handbuch. Stadt – Forschung – Praxis, Berlin 2007 • Birk, Hans-Jörg: Städtebauliche Verträge. Inhalt und Leistungsstörungen. Stuttgart 2013 • www.ludwigsburg.de/,Lde/start/stadt_buerger/ stadtentwicklung.html • www.heidelberg.de/servlet/PB/menu/1066120_ l1/index.html

Seit 2002 dient der Stadtteil Eglosheim als Pilotprojekt, für das unter intensiver Bürgerbeteiligung die zukünftigen Entwicklungsziele formuliert wurden. Ein Managementzyklus kontrolliert seit 2003 den dortigen Nachhaltigkeitsprozess. Im September 2009 beschloss die Stadt Ludwigsburg darauf aufbauend einen Managementzyklus für die Verwaltung mit fünf Schritten, um die nachhaltige Weiterentwicklung des Stadtentwicklungskonzepts (SEK) bzw. der Stadtteilentwicklungspläne (STEP) zu sichern und zu steuern (Abb. 7). In der abschließenden Berichterstattung werden die Ergebnisse ausgewertet, um zu sehen, inwiefern sie zur Erreichung der im Indikatorenkatalog formulierten Ziele beitragen. Dabei ist auch eine

Feedbackfunktion integriert, mit der sich Maßnahmen oder Projekte im Einzelnen nachjustieren oder steuern lassen.

Stadtteilentwicklungspläne In der nachhaltigen Stadtentwicklung werden sogenannte brownfields (Brachgrundstücke bzw. Konversionsflächen) den greenfields (Entwicklungsflächen auf der »grünen Wiese«) vorgezogen. Die Stadt Ludwigsburg verfolgt diesen Ansatz nicht nur durch die Umnutzung vieler ehemaliger Kasernen, sondern auch mit der Entwicklung von innerstädtischen Wohnsiedlungen auf der Grundlage von integrierten Stadtteilentwicklungspläne. Darin werden die Leitlinien und strategischen Ziele des SEK an die einzelnen Stadtteile angepasst. Sie umfassen jeweils detaillierte Pläne für die Entwicklung im Hinblick auf die elf Themenfelder des SEK. Darüber hinaus setzt der STEP spezifische, von den SEK-Masterpläne abgeleitete Ziele fest und definiert konkrete Maßnahmen. Im Jahr 2006 begann Ludwigsburg mit der Erstellung von STEPs für vier ausgewählte Pilot-Stadtteile: Innenstadt, Eglosheim, Grünbühl-Sonnenberg (Abb. 6) und Karlshöhe. Gleichzeitig gelang es, über das Regenerationsprogramm »Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – Soziale Stadt« Fördermittel von Bund und Land zu erhalten. Den nach dem Krieg sehr schnell und kostengünstig erbauten Stadtteilen Grünbühl, Hirschberg und Schlößlesfeld ordnete die Stadt eine hohe Priorität zu und konstatierte dort einen dringenden Bedarf für eine energetische Sanierung. In der Innenstadt besteht ein besonderes Ziel in der Reduktion der CO2-Emissionen. Dafür stellte die Stadt seit 2004 Bundes- und Landesfördermittel in Höhe von 50 Millionen Euro für ca. 100 Projekte und Maßnahmen zur Verfügung.7 Derzeit werden für acht weitere Stadtteile STEPs ausgearbeitet. MES

5.3 — Projektspezifische Umsetzungsstrategien

5.3

Projektspezifische Umsetzungsstrategien D o minic Church

B

ei der Entwicklung eines Quartiers können verschiedene Strukturen und Modelle eingesetzt werden. Die Herausforderung für die staatlichen Akteure besteht darin zu prüfen, welches Vorgehen für die Erfüllung der sich stellenden Aufgaben geeignet und zielführend ist. Im Idealfall basiert die so entwickelte Herangehensweise weitestgehend auf der sachlichen Analyse der gegebenen Umstände vor Ort. Die möglichen Modelle und Strukturen bieten alle jeweils unterschiedliche Vorzüge und Nachteile, die sich losgelöst vom lokalen Zusammenhang wertneutral beschreiben lassen. Zugleich ist deren Anwendung im einzelnen Projekt meist mit einer politischen Positionierung verbunden, da jedes Modell unweigerlich gewisse Interessengruppen gegenüber anderen begünstigt. Dadurch erklärt sich der oft sehr unterschiedliche Zugang zur Projektrealisation von Verwaltung und gewählten Entscheidungsträgern.

Organisationsformen und -strukturen In Deutschland bilden Kommunen oft Zweckverbände für die interkommunale Zusammenarbeit, auf freiwilliger Basis oder infolge einer Verordnung des Landes. Solche Zweckverbände dienen in den meisten Fällen dazu, eine bestimmte infrastrukturelle Dienstleistung bereitzustellen, beispielsweise in der Wasserversorgung oder im ÖPNV. Für die Quartiersentwicklung gründen Kommunen häufig Stadtentwicklungsgesellschaften,

die als Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) konstituiert sind. Dabei bietet das Handelsgesetzbuch die Möglichkeit, einen Aufsichtsrat einzurichten. Mit dessen Hilfe kann die Kommune die Geschäftsführung der Gesellschaft überwachen bzw. sicherstellen, dass die Quartiersentwicklung entsprechend den von der Kommune festgelegten Zielen umgesetzt wird. Diese Organisationsform eignet sich auch für den Fall, dass mehrere Körperschaften des öffentlichen Rechts gemeinsam ein Quartier entwickeln möchten, beispielsweise auf einer militärischen Konversionsfläche, die kommunale Grenzen überschreitet. Der Vorteile der Gründung einer Stadtentwicklungsgesellschaft ist darin zu sehen, dass sie als privatrechtliche Firma flexibler und dynamischer agieren kann, weil Entscheidungen nicht im Detail durch kommunale Gremien behandelt und beschlossen werden müssen. Der Nachteil dieser Strategie kann sein, dass die Quartiersentwicklung sich teilweise der Kontrolle kommunaler Gremien entzieht bzw. dass sich die notwendigerweise konkret gefassten Zielsetzungen der Entwicklung von Quartieren gegenüber den allgemeinen Zielen der Stadtentwicklung verselbstständigen. Da nach wie vor meist öffentliche Gelder für die Quartiersentwicklung zum Einsatz kommen, kann sich dadurch die Frage nach der demokratischen Rechenschaft ergeben. Rechtfertigen lässt sich dieses Modell, wenn die Vorzüge der wirtschaftlichen Agilität größer sind als die Risiken, die aufgrund der geringeren demokratischen Kontrolle durch die Kommune entstehen. Ein Beispiel für eine solche Stadtentwicklungsgesellschaft ist die HafenCity Hamburg GmbH, die sich zu 100 % im Besitz der Hansestadt Hamburg befindet (Abb. 1, S. 212). Zusätzlich besteht darüber hinaus die Möglichkeit, auch private Unternehmen als Gesellschafter in die Entwicklungsgesellschaft einzubinden, etwa im Rahmen einer Public Private Partnership.

211

212

Kapitel 5 — Umsetzungs strategien

Abb. 1

Abb. 1 Magellan-Terrassen, HafenCity Hamburg (D) Abb. 2 im Rahmen einer PPP errichtete Schule, HafenCity Hamburg (D) 2009, Spengler · Wiescholek Architekten

1 CABE 2004 2 www.moeckernkiez.de/ genossenschaft

Das Modell der Projektentwicklung allein durch private Träger ist im angelsächsischen Raum weitverbreitet. Dabei stellt ein Projektentwickler neben der Bebauung meist auch die gesamte Infrastruktur bereit und vermarktet diese zusammen mit den Gebäuden. Im besten Fall eignet sich das Modell dazu, ein koordiniertes Gesamtkonzept einheitlich umzusetzen. Allerdings birgt es auch große Risiken, beispielsweise wenn ein einziger Entwickler die Gewähr für die gesamte Projektfinanzierung trägt, der dann über ein entsprechendes Durchhaltevermögen bei möglichen Konjunkturschwankungen verfügen muss. Da die Interessen und Zielsetzungen privater Unternehmen darin bestehen, ihren Eigentümern eine möglichst hohe Rendite zu sichern, kann es leicht zu Zielkonflikten mit der öffentlichen Hand kommen, deren Pflicht es ist, dem Gemeinwohl Rechnung zu tragen. Das kann sich beispielsweise darin bemerkbar machen, dass die Bereitstellung öffentlicher Einrichtungen wie Schulen, Kindergärten, Spielplätze etc. sich der Wirtschaftlichkeit des Projekts unterordnen muss und diese deshalb erst nach der Wohnbebauung enstehen oder bei deren Realisierung qualitative Abstriche gemacht werden, um die Profitabilität des gesamten Vorhabens zu wahren. Die britische Commission for Architecture and the Built Environment (CABE) hat die qualitativen Probleme in der Entwicklung neuer Quartiere durch private Projektentwickler eingehend studiert und dokumentiert.1 Eine weitere Möglichkeit besteht darin, ein Quartier durch den genossenschaftlichen Zusammenschluss von Einzelpersonen zu entwickeln. Eine Genossenschaft ähnelt von der rechtlichen Form her einem wirtschaftlichen Verein, dessen Geschäftsbetrieb daraufhin orientiert ist, die Belange seiner Mitglieder – beispielsweise Wohnraum – zu befriedigen. Wohnungsbaugenossenschaften sind in Deutschland, der Schweiz und Österreich weitverbreitet. Aber das Modell

lässt sich auch auf die Quartiersebene übertragen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Initiative Möckernkiez in Berlin, die ein 3 ha großes ehemaliges Eisenbahnareal mit insgesamt 450 Wohnungen bebauen will (siehe S. 270f.). Dabei übernimmt die Genossenschaft »die Aufgabe, das Baufeld Möckernkiez zu beplanen, zu bebauen und schließlich die Wohnungen, Gewerbeeinheiten und das Gelände zu verwalten und zu bewirtschaften. Sinn und Zweck ist laut Satzung die Förderung ihrer Mitglieder vorrangig durch eine gute, sichere und sozial verantwortbare Wohnungsversorgung. Insbesondere fördert die Genossenschaft gemeinschaftliches, ökologisches, barrierefreies, Generationen verbindendes, interkulturelles und selbst bestimmtes Wohnen in dauerhaft gesicherten Verhältnissen.«2 Zu den Vorteilen einer genossenschaftlich organisierten Quartiersentwicklung gehört, dass der Wohnungsbestand im Besitz der Genossenschaft bleibt und daher auf lange Sicht deren gemeinnützigen Zielen dienen kann. Als weiteres Modell für die Quartiersentwicklung lässt sich die Bildung von Baugruppen anführen, wie sie insbesondere in Freiburg und Tübingen – allerdings in etwas unterschiedlicher Ausprägung – praktiziert wird. In Freiburg entstand der Ansatz zur Entwicklung eines neuen Stadtteils auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne aus der Besetzung eines leerstehenden Kasernengebäudes und der Gründung des Vereins »Forum Vauban« im Jahr 1994. Dieser setzte sich für eine erweiterte Bürgerbeteiligung ein, mit der dann die Entwicklung des Quartiers nach ökologischen Gesichtspunkten als Ziel formuliert werden konnte. Ein großer Teil der Wohnungen wurde von Baugruppen entwickelt. Dazu finden sich mehrere bauwillige Parteien zusammen, um gemeinsam die Planung und den Bau eines Mehrfamilienhauses zu finanzieren, das anschließend in konventionelles Teileigentum übergeht.

5.3 — Projektspezifische Umsetzungsstrategien

In Tübingen wurde das Modell der Baugruppe von der Stadt gefördert, indem die Stadt 1991 ein ehemaliges Kasernenareal, das als Französisches Viertel bekannte Quartier, kaufte und dort durch das Stadtplanungsamt die Bildung von Baugruppen intensiv betreute. Dabei erlaubte der Bebauungsplan eine für Deutschland unübliche gestalterische Freiheit, beispielsweise bei den Traufhöhen der Gebäude, die dazu beitrug, das Viertel für Bauwillige besonders attraktiv zu machen. Die Stadt hat das dort angewendete Modell seither weiterentwickelt und im Mühlenviertel und in der Alten Weberei eingesetzt. Ziel des in Freiburg und Tübingen entwickelten Baugruppenmodells ist die stärkere Einbindung zukünftiger Anwohner in die Entwicklung des Stadtquartiers, wovon man sich auch ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl und eine bessere Identitätsstiftung im Quartier erhofft. Für die Übertragbarkeit des im Vauban-Viertel und im Französischen Viertel umgesetzten Modells auf die Stadt als Ganzes oder auf andere Städte stellt sich die Frage, inwiefern der Erfolg der Herangehensweise mit der Bevölkerungsstruktur vor Ort verbunden ist. In Tübingen wurde dieser Zusammenhang in einer Studie der Sozialwissenschaftlerin Katharina Manderscheid erörtert.3 Sie führte eine demografische Analyse der Bevölkerung des Französischen Viertels im Vergleich zur Anwohnerstruktur in der angrenzenden Stuttgarter Straße durch. Dabei stellte sie fest, dass das Französische Viertel im Vergleich zu umgebenden Wohngebieten durch einen höheren Anteil einkommensstarker Paare mit Kindern und einem relativ hohen akademischen Bildungsgrad geprägt war. Des Weiteren untersuchte sie die Integration der Anwohner in soziale Netzwerke im Quartier und in der Stadt als Ganzes sowie die Intensität der Beteiligung an Prozessen der Stadtentwicklung. Manderscheid kam zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass sich die vorwiegend akademisch gebildeten, finanziell abgesicherten Bewohner des Französischen Viertels »ihr Wohnquartier offensichtlich häufiger zu ›Räumen‹ in sozialer und materieller Hinsicht konstituieren können und damit über eine stärkere Identifikation mit diesem Quartier verfügen«.4 Damit spricht sie die Frage an, inwieweit die vom Stadtplanungsamt begleitete Quartiersentwicklung durch Baugruppen letztendlich zwar zu einem Quartier mit einer hohen Wohnqualität geführt hat, dieser Weg aber vor allem für einkommensstärkere Bürger mit hohem Bildungsstand besondere Vorteile bietet. Durchaus kontrovers zu beurteilen ist, ob sich der

planerische Aufwand des Stadtplanungsamts rechtfertigen lässt, wenn davon (wie oft auch bei konventionelleren Herangehensweisen) vor allem wirtschaftlich und sozial bessergestellte Bürger profitieren. Besonders bemerkbar macht sich dieser Effekt, wenn die Eigentümer die Wohnungen, die sie mit großer Unterstützung des kommunalen Planungsamts erwerben konnten, auf dem freien Markt gewinnbringend verkaufen und damit einen erheblichen finanziellen Vorteil eintragen. Es zeigt sich, dass das Ziel, erschwinglichen Wohnraum zu schaffen, durch die Baugruppe nur einmalig realisierbar ist und danach wiederum die Marktmechanismen zum Tragen kommen.

213

3 Manderscheid 2004 4 ebd., S. 289 5 Blanc-Brude /Goldsmith/ Valila 2007 6 Timmins 2009

Public Private Partnerships Auch unter der Abkürzung ÖPP (Öffentlich-Private Partnerschaften) bekannt, bieten Public Private Partnerships (PPP) staatlichen Auftraggebern die Möglichkeit, Maßnahmen oder Leistungen durch private Unternehmen finanzieren und bereitstellen zu lassen. Für viele Projekte gilt dabei, dass die privaten Unternehmen nicht nur den Bau finanzieren, sondern auch den Betrieb übernehmen und die staatlichen Auftraggeber das Gebäude über einen vertraglich festgelegten Zeitraum (meist 20–30 Jahre) mieten oder pachten. Für öffentliche Auftraggeber bietet dieses Modell den Reiz, zunächst auch ohne entsprechende Investitionen über eine Einrichtung verfügen zu können bzw. keine Mittel für eine konventionelle Errichtung und Finanzierung bereitstellen oder zusätzliche Schulden aufnehmen zu müssen. Das macht PPP für öffentliche Auftraggeber mit begrenzten Mitteln und/oder für Auftraggeber, die keine Kredite aufnehmen wollen oder können, besonders attraktiv. Zwischen 1992 und 2007 wurden EU-weit mehr als 1000 PPP mit einem Gesamtwert von über 2 Billionen Euro abgeschlossen.5 Dabei entstanden bis 2006 ca. 75 % aller PPP in Großbritannien, bis 2007 betrug das Gesamtvolumen der durch PPP finanzierten öffentlichen Projekte dort ca. 100 Milliarden Euro. Für Krankenhäuser, Schulen und die Erneuerung der Londoner U-Bahn verpflichtete sich der Staat damit zu künftigen Zahlungen in Höhe von ca. 318 Milliarden Euro.6 Auch in Deutschland formulierte das Bundesministerium für Finanzen (BMF) im Dezember 2007 Abb. 2

214

Kapitel 5 — Umsetzungs strategien

 7 Bundesministerium der Finanzen 2007  8 Mühlenkamp 2010  9 Konferenz der Präsidentinnen und Präsidenten der Rechnungshöfe des Bundes und der Länder am 3./4. Mai 2006 in München 10 Rechnungshöfe des Bundes und der Länder 2011 11 ebd.

für den Bereich der Verkehrsinfrastruktur das Ziel, »den PPP-Anteil an öffentlichen Investitionen von 4 % in Richtung internationaler Standardwerte von 15 % anzuheben«.7 Im Laufe der Zeit hat sich der Anwendungsbereich der PPP-Finanzierung auf weitere Projekte der öffentlichen Hand ausgeweitet, inzwischen werden auf diese Weise Kindertagesstätten, Schulen, Hochschulen und Justizvollzugsanstalten finanziert. Dabei verlaufen nicht alle PPP-Projekte gleichermaßen erfolgreich: Beispielsweise wurde die Betreibergesellschaft der Bahngleisanlagen in Großbritannien nach einer Serie von schweren Unfällen und ihrem darauf folgenden Bankrott 2002 wieder verstaatlicht. Auch die privaten Konsortien, an die die Instandsetzung der Londoner U-Bahn vergeben worden war, wurden 2010 in staatliche Hände überführt. Aufgrund dieser und anderer Erfahrungen ist die Beschaffung durch PPP nicht unumstritten. Im Zentrum der Debatte steht dabei die Frage, ob die PPPFinanzierung als Instrument zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit zu werten ist oder eher einen Weg zur Umgehung von Budgetbeschränkungen darstellt.8 Im Jahr 2006 einigten sich in Deutschland die Rechnungshöfe von Bund und Ländern darauf, dass die öffentliche Hand jene Projekte, die sie sich konventionell nicht leisten könne, auch nicht durch PPPs finanzieren dürfe, da die daraus entstehenden laufenden Zahlungsverpflichtungen an die Stelle von Zins- und Tilgungslasten träten und künftige Haushalte in gleicher oder ähnlicher Weise belasten würden. Darüber hinaus müsse die Wirtschaftlichkeit jedes PPP-Projekts einzeln und über die gesamte Laufzeit bzw. über den gesamten Lebenszyklus hinweg geprüft werden.9 In einem Erfahrungsbericht zur Wirtschaftlichkeit von PPPs, den die Rechnungshöfe von Bund und Ländern im September 2011 veröffentlichten und für den 30 Projekte mit einem Gesamtvolumen von 3,2 Milliarden Euro ausgewertet wurden,10 kamen sie allerdings zu dem Ergebnis, dass die 2006 formulierten Grundsätze nicht ausreichend Beachtung gefunden hätten. Ferner monierten die Rechnungshöfe, PPP-Projekte dürften nicht zu einer Umgehung von Neuverschuldungsverboten führen und kritisierten die Tatsache, dass Dienstleistungen durch die Bindung an einen privaten Partner über 30 Jahre dem Wettbewerb auf lange Sicht hin entzogen würden. Zusammenfassend äußerten die Rechnungshöfe von Bund und Ländern zwar die Ansicht, »dass eine Öffentlich-Private-Partnerschaft (ÖPP) eine wertneutrale Beschaffungsvariante zu konventionellen Bau-

und Finanzierungsmodellen« darstelle, forderten dabei aber den Nachweis, »dass die Vorteilhaftigkeit dieser Beschaffungsvariante gegenüber der Eigenbesorgung der öffentlichen Hand in jedem Einzelfall objektiv und transparent nachgewiesen« werden müsse.11

Quartiersentwicklung Für die Quartiersentwicklung sind grundsätzlich zwei PPP-Modelle zu unterscheiden, jene Variante, bei der private Unternehmen oder Investoren eingebunden werden, um einmalig an der Erstellung der städtischen Infrastruktur und Gebäude sowie des öffentlichen Raums mitzuwirken und eine zweite, bei der private Anbieter über mehrere Jahre hinweg beauftragt werden, öffentliche Einrichtungen zu betreiben oder Dienstleistungen bereitzustellen. Zu den Möglichkeiten, private Unternehmen oder Investoren einmalig einzubinden, zählt z. B. sie anteilig an einer Stadtentwicklungsgesellschaft und dadurch an der Quartiersentwicklung zu beteiligen. Hierbei wird ein konventionelles Instrument der Quartiersentwicklung erweitert, indem neben den öffentlichen Körperschaften auch private Unternehmer als Gesellschafter der GmbH eingebunden werden. Meist behält dabei die öffentliche Hand den größeren Anteil des Eigentums für sich, um damit weitestgehend die Kontrolle über das Projekt zu haben. Ein Beispiel für ein solches PPP-Konstrukt ist die EGP Gesellschaft für urbane Projektentwicklung GmbH in Trier, an der neben der Stadt auch private Unternehmen beteiligt sind.

Infrastruktur und Dienstleistungen Ein Beispiel für die Einbindung eines privaten Unternehmens in die Infrastruktur eines Quartiers ist die Mülltrennung für das Viertel rund um den Potsdamer Platz in Berlin (siehe S. 248ff.). Unter dem Potsdamer Platz befindet sich eine zentrale Sammelstelle für den Abfall aus sämtlichen gewerblichen Nutzungen und privaten Haushalten im Quartier. Die ausführende Firma hat dort Anlagen installiert, die die Stoffströme mengenmässig erfassen, nach Wertstoffen getrennt sortieren und für den Abtransport aufbereiten. Die Geräte für die Wertstoffaufbereitung stellt der Betreiber bereit, sie bleiben auch nach Ende der Vertragslaufzeit in dessen Besitz. Ebenso über-

5.3 — Projektspezifische Umsetzungsstrategien

215

nehmen Angestellte des privaten Unternehmers und nicht städtische Angestellte das Sammeln, Sortieren und Abtransportieren der Wertstoffe.

Business Improvement Districts Eine weitere Möglichkeit für private Akteure, sich in die Quartiersentwicklung einzubringen, ist der Business Improvement District (BID), im deutschsprachigen Raum auch als Immobilien- und Standortgemeinschaft (ISG) bezeichnet. Erstmalig entwickelt wurde dieses Konzept 1970 für das Bloor West Village im kanadischen Toronto. Dabei schließen sich Unternehmen in einem bestimmten räumlichen Bereich zusammen, um gemeinsam eine Verbesserung der Aufenthaltsqualität zu finanzieren. Diese Aufwertung soll bewirken, dass Passanten den Bereich häufiger aufsuchen und länger dort verweilen und sich dadurch eine umsatzsteigernde Wirkung entfaltet. Zur Einrichtung eines BID muss sich zunächst eine Gruppe von Grundeigentümern zusammenfinden, die die Kommune auffordert, eine Satzung zu erlassen, die alle Grundeigentümer in einem bestimmten Gebiet verpflichtet, sich finanziell an darin vorgesehenen Maßnahmen zu beteiligen. Der BID stellt also eine Mischform zwischen freiwilliger Initiative und staatlich verordneter Abgabe dar, die manchmal auch als »freiwillige Selbstbesteuerung« bezeichnet wird. In Deutschland muss die Gründung eines BID zunächst durch die Gesetzgebung auf Länderebene ermöglicht werden, wobei bis dato noch nicht in allen Bundesländern die entsprechenden Grundlagen vorliegen. Soweit vorhanden, sieht die Gesetzgebung vor, dass ein BID nur dann eingerichtet werden kann, wenn ein Mindestanteil der Grundeigentümer mit den damit verbundenen Finanzierungs- und Maßnahmenkonzepten einverstanden ist und die Kommune die Einrichtung des BID unterstützt. Ein erstes deutsches Beispiel für eine solche Initiative war der BID Neuer Wall in Hamburg (Abb. 3), der 2005 gegründet wurde und bis 2010 insgesamt 6 Millionen Euro in die Neugestaltung des öffentlichen Raums und in Marketingmaßnahmen investierte.12 Der Neue Wall ist eines der exklusivsten Einkaufsviertel Hamburgs. Deshalb ist nachvollziehbar, dass die Stadt den Einsatz von öffentlichen Mitteln zur Aufwertung des

Abb. 3

Gebiets – anstatt etwa zur Verbesserung sozial benachteiligter Wohngebiete – nur schwer rechtfertigen könnte. Die Einrichtung eines BID ermöglicht den Grundeigentümern in einem solchen Fall, das Umfeld ihrer Immobilie aufzuwerten und dadurch letztlich gemeinsam davon zu profitieren. So können sie Investitionen in ihrem direkten Umfeld tätigen, für die keine öffentlichen Mittel zur Verfügung stehen, weil diese nicht vorhanden sind oder weil die öffentliche Hand andere Prioritäten für den Einsatz ihrer Mittel setzen muss. Zu den Nachteilen des BID aus Sicht der ansässigen Unternehmen zählt, dass damit zu rechnen ist, dass Grundeigentümer die Mehrzahlung auf die Mieter umlegen und diese dadurch zusätzlich finanziell belastet werden. In Einzelfällen kann das die Existenz kleinerer und/oder wirtschaftlich schwächerer Unternehmen bedrohen und dadurch z. B. die Struktur des Einzelhandels vor Ort tiefgreifend verändern. Aus der Sicht der Kommune leisten die Mitglieder des BID zwar einen freiwilligen Zusatzbeitrag zur Quartiersentwicklung, entziehen sich aber letztlich dem demokratischen Prozess zur Implementierung quartiers- oder stadtübergreifender Prioritäten, wie er bei einer konventionellen Finanzierung durch Mittel aus öffentlichen Abgaben und Steuern stattfindet. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die kommunale Stadtplanung in der Formulierung von strategischen Ansätzen für die nachhaltige Quartiersentwicklung stets das langfristige Gemeinwohl im Fokus behalten muss, um den Einsatz öffentlicher Ressourcen zu rechtfertigen. Daher ist es notwendig, sorgfältig zwischen den Interessen der verschiedenen Akteure abzuwägen. Dabei müssen die staatlichen Akteure ihr Vorgehen kontinuierlich und intensiver als zuvor durch den Dialog mit den anderen beteiligten Akteuren rechtfertigen und demokratisch absichern.

Abb. 3 BID-Projekt Neuer Wall, Hamburg (D)

12 Binger/Büttner 2008

K A P ITE L 6

Werkzeuge

6.1 — Computerunterstützte Planungswerkzeuge

217

6.1

Computerunterstützte Planungswerkzeuge Ma r t in Al tmann, Ste p han Anders

V

on den zahlreichen zur Verfügung stehenden computerunterstützten Planungswerkzeugen sind einige in diesem Kapitel näher vorgestellt. Grundsätzlich unterscheiden sich die Werkzeuge nach ihrem Einsatzzweck, also den Funktionen und der Planungsebene, für die sie entwickelt wurden (Abb. 1, S.218). Die für Simulation, Visualisierung und Entscheidungsunterstützung notwendigen Werkzeuge sind ab S. 222 beschrieben, zunächst stehen diejenigen für die Planung und Ausführung im Fokus.

Computer-aided design (CAD) Der Begriff CAD bezeichnet das Entwerfen und Zeichnen mittels EDV.1 CAD hat sich in nahezu allen Architektur- und Planungsbüros etabliert und ist nicht mehr aus dem Arbeitsalltag wegzudenken. Für die Stadtplanung bietet CAD verschiedene fachspezifische Erweiterungsmöglichkeiten, z. B. zur Umsetzung der Planzeichenverordnung, der automatischen Legendenerstellung, der Flächenauswertung und zur Berechnung städtebaulicher Kennwerte wie GRZ, GFZ oder BMZ.2 Das traditionelle parallele Zeichnen von Grundrissen, Schnitten und Ansichten weicht mehr und mehr der dreidimensionalen Modellierung. Änderungen am 3D-Modell werden automatisch in Grundriss, Schnitt und Ansicht umgesetzt. Auch bieten heutige CAD-Programme diverse Schnittstellen, die Teamarbeit und einen Export der Zeichnungsdaten in Programme für Kosten, Termine und Tragwerksplanung ermöglichen.

Bewertung für die Quartiersplanung: Reine CAD-Programme haben einen entscheidenden Nachteil – die Zeichnungen und dazugehörige Berechnungen, Beschreibungen und Kosten sind für sich isoliert und stehen nicht in direktem Zusammenhang. Jede kleine Änderung muss somit mühsam in allen Dokumenten nachgeführt werden. Dies wiederum macht die Planung aufwendig, teuer und anfällig für Fehler.

Building Information Modelling (BIM) Building Information Modelling (BIM, deutsch: Gebäudedatenmodellierung) ist eine Ergänzung zu CAD. Beim BIM sind neben der Geometrie alle verfügbaren Informationen zu einem Gebäude wie Kosten, Emissionen, Lieferzeiten und Ausschreibungstexte für jedes Bauteil zentral in einem Modell gespeichert. Die Informationen können von allen Planungsbeteiligten zu jeder Zeit abgerufen werden und sind stets aktuell (Abb. 2, S. 218). Die Änderung eines Parameters oder eines Bauteils hat somit direkte Auswirkungen auf Mengen, Kosten und Termine. Gleichzeitig hat die BIM-Technologie das Potenzial, zukünftig parametrische 3D-Modelle hinsichtlich Kosten, Emissionen und thermischen Komforts automatisch zu optimieren. Tools/Software: Nahezu alle CAD-Anbieter haben den Vorteil der BIM-Technologie erkannt und bieten dafür passende Lösungen an. Einige BIM-Anwendungen sind so konzipiert, dass sie mit Zusatzapplika-

1 Bucerius et al. 2005, Bd. 2, S. 530 2 Pflüger 2000, S. 41

218

Kapitel 6 — Werkzeuge

Software Projektmanagement

Architektur Geoinformationssysteme (GIS)

Sozialwissenschaft

Bauingenieurwesen

3D-GIS

Bauherr

Building Information Modelling (BIM)

BIM

Energietechnik

Computer-aided Design (CAD) Facility Management Gebäude

Quartier

Lichtdesigner

Stadt/Region Bauleitung

Abb. 1

Abb. 2

Beispiele für CAD-Software • Autodesk: AutoCAD Architecture (www.autodesk.de) • Bentley: MicroStation (www.bentley.com) • Graphisoft: ArchiCAD (www.graphisoft.de) • Nemetschek: Allplan (www.nemetschek-allplan.de) • Nemetschek: Vectorworks Landschaft (www.vectorworks.net) • StadtCAD: Hippodamos (www.stadtcad.de) • Graphisoft: ArchiCAD (www.graphisoft.de)

Abb. 3

Abb. 4

3 4 5 6

Schlueter et al. 2009 Döllner 2007, S. 2ff. ESRI 2009 Heins/Kirchner 2009, S. 1

tionen verknüpft werden können. So wurde an der ETH Zürich eine Applikation mit dem Namen »Design Performance Viewer« entwickelt, die es ermöglicht, den Energie- und Materialbedarf eines Gebäudes in frühen Planungsphasen abzuschätzen.3 Auch gibt es u. a. mit AutoCAD Civil 3D eine spezielle BIM-Lösung für den Tiefbau.

Geografische Informationssysteme (GIS)

idealen Standort für ein neues Logistikzentrum finden oder Forschungseinrichtungen den Zusammenhang von Flächenzerschneidung und Artenvielfalt analysieren. In der Stadtplanung gewinnen neben der flächenhaften Darstellung (2D) von Informationen die dritte Dimension (3D-GIS, 3D-Stadtmodelle) sowie die Nutzung von Open-Source-GIS und Online-GIS (z. B. Google Earth, Bing Maps) verstärkt an Bedeutung. 3D-Stadtmodelle gelten als Schlüssel, die täglich anfallenden immensen Datenmengen in einer Stadt für unterschiedlichste Zwecke nutzbar zu machen. So arbeiten Wissenschaftler der Universität Potsdam beispielsweise daran, komplexe Geodaten aus verschiedenen Quellen zu bündeln und aufgabenorientiert zu visualisieren.4 Zukünftig gilt es, solche komplexen 3D-Stadtmodelle und die darin enthaltenen Informationen handhabbarer und für den städtebaulichen Entwurf nutzbar zu machen. Unter dem Begriff »Geodesign« sollen geografische Informationen und aktives stadtplanerisches Gestalten zusammenfließen.5 Dies eröffnet dem Planer die Möglichkeit, die Auswirkungen verschiedener Planungsvarianten während des Entwurfsprozesses zu simulieren und den Entwurf entsprechend zu optimieren.

Geografische Informationssysteme (GIS) sind computerunterstütze Werkzeuge zur Erfassung, Speicherung, Analyse und Visualisierung von raumbezogenen Daten. GIS bieten die Möglichkeit, digitale Karten wie Straßen-, Stadt- oder Wanderkarten mit verschiedenen Datensätzen wie Namen, Geometrie, Nutzung oder Bodenarten zu verbinden, zu verschneiden und zu analysieren. So können beispielsweise Kommunen Brachflächen verwalten, Unternehmen den

Einsatzfelder: Aufgrund der universellen Einsatzmöglichkeiten hat sich GIS in vielen Bereichen etabliert, zu nennen sind hier z. B.: • kommunale Verwaltung/Vermessung und Katasterwesen (Liegenschaften, Leitungs- und Transportnetzwerke, Ver- und Entsorgung, Grünflächenplanung, Baustoffe, Vermessungswesen, E-Government-Portale)6 • Stadt-, Regional-, Verkehrs-, Landschafts-

Bewertung/Nutzen für die Quartiersplanung: Die BIM-Technologie ist für den Gebäudebereich konzipiert und für die Quartiersplanung nur begrenzt einsatzfähig. Zu hoffen ist, dass zukünftig auch für die Stadtplanung spezielle Softwarelösungen entwickelt werden, die die Vorzüge von BIM im entsprechenden Maßstab mit den Inhalten geografischer Informationssysteme (GIS) kombinieren.

6.1 — Computerunterstützte Planungswerkzeuge

219

Abb. 1 computerunterstützte Werkzeuge und deren Anwendung Abb. 2 Vernetzung der Projektbeteiligten bei BIM Abb. 3 Software UrbanSim Abb. 4 Solaratlas Berlin, 3D-GIS-Anwendung Abb. 5 mit der Software Autodesk InfraWorks 2014 erstelltes 3D-Modell von San Francico (USA) Abb. 6 Software CommunityViz Abb. 7 Plug-In Grasshopper – Generative Modeling for Rhino 3D Abb. 5











• • • • •

• •

planung, Ingenieurbau (z. B. Umweltverträglichkeitsprüfung, detaillierte Geodaten, räumliche Entscheidungsunterstützungswerkzeuge, 7 Analyse räumlicher Strukturen, Planung von Großveranstaltungen, Verkehrswegebau, Optimierung von Trassenbau für Autobahnen oder Pipelines) Information, Kommunikation und Beteiligung (z. B. Präsentation von städtebaulichen Entwürfen, Solaratlas Berlin (Abb. 4), interaktive Landschaftsplanung,8 Visualisierung von Stadtentwicklung) Umwelt und Naturschutz (z. B. Naturschutzund Umweltinformationssysteme, Gefahrstoffatlas, Geoökologie) Sicherheitsmanagement, Katastrophenschutz (z. B. Evakuierungspläne, Hurrikanfrüherkennung)9 Forschung (z. B. Archäologie, Informationssysteme zur nachhaltigen Flächennutzung,10 Integration von Wissen in 3D-Stadtmodellen,11 Datenvisualisierung als emotionale Stadtkartierung, Bewegungsmuster im Stadtraum, Handykarten) Geomarketing/standortbezogene Dienste (z. B. ortsbezogene Werbung/Informationen, Ortung von Freunden mit dem Handy, mobile Arbeitszeiterfassung) Forst- und Landwirtschaft Kriminologie (z. B. Verbrechenskarten) Luft- und Raumfahrt Tourismus und Immobilienmanagement Investorenberatung, Standortplanung, raumbezogene Marktanalysen, Wirtschaftsförderung Navigation/Logistik (z. B. Optimierung der Routenplanung) Telekommunikation, Satellitenbild-Monitoring

Tools/Software: So vielfältig wie die Einsatzfelder von GIS sind auch die zur Verfügung stehenden Technologien. Beispiele hierfür sind ArcGIS von ESRI oder LandXplorer von Autodesk, die vorwiegend gewerblich genutzt werden. Im universitären Bereich, bei Behörden und dem Militär kommen oft spezifisch angepasste Lösungen wie GRASS GIS oder Quantum GIS zum Einsatz. Insbesondere private, jedoch auch immer mehr kommerzielle Anwender nutzen Online GIS oder Open Source GIS. Aufbauend auf diesen Systemen gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Erweiterungsmöglichkeiten für fachspezifische Anwendungen. Beispielsweise steht mit CommunityViz ein Werkzeug speziell für die Flächennutzungsplanung zur Verfügung, mit dem verschiedene Planungsvarianten schnell und einfach visualisiert, analysiert und bewertet werden können (Abb. 6). Insbesondere durch die kostenlose Verfügbarkeit von geografischen Informationssystemen wie Google Earth, Bing Maps oder OpenStreetMap hat die Technologie in den letzten Jahren einen breiten Anwenderkreis gefunden. Auch für die Stadt- und Regionalplanung gibt es beispielsweise mit UrbanSIM ein kostenlos verfügbares und einfach zu handhabendes Werkzeug (Abb. 3). Bewertung/Nutzen für die Quartiersplanung: Innerhalb der komplexen Thematik nachhaltiger Stadt- und Quartiersplanung sind GIS-Systeme mit ihren vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten ein wichtiges Werkzeug zur Analyse bestehender Strukturen und zur Planung neuer Quartiere. Das größte Potenzial steckt jedoch in der Weiterentwicklung von GIS hin zu einem Datenmodell auf Quartiersebene.

Abb. 6

Abb. 7

7 8 9 10 11

Herzig 2007 Oppermann 2008, S. 1 Khemlani 2005 Flacke 2004 Falquet /Métral 2005, S. 23

220

Kapitel 6 — Werkzeuge

Abb. 8 Software CityCAD Abb. 9 Kaisersrot-Projekt: automatisierte Modellierung und solare Optimierung des Gebäudes Grünhof, Zürich (CH) Abb. 8

CityCAD Die parametrische Software CityCAD ermöglicht die ganzheitliche Analyse eines städtebaulichen Entwurfs in frühen Planungsphasen. Hierfür werden jedem Baustein des Quartiers wie Gebäude, Straßen, Wege oder Bäume spezifische Werte für Kosten, Energie- oder Wasserbedarf zugeordnet und diese visualisiert (Abb. 8). Der Planer kann somit direkt die Auswirkungen seiner Handlungen auf ausgewählte Indikatoren sehen und den Entwurf dahingehend optimieren. Bewertung / Nutzen für die Quartiersplanung: Auch wenn es sich bei den Ergebnissen von CityCAD nur um eine grobe Abschätzung handelt, bei der komplexere Zusammenhänge nicht berücksichtigt werden, stellt die Software eine interessante Lösung für den städtebaulichen Entwurf dar, denn sie füllt genau die Lücke zwischen BIM für den Gebäudebereich und GIS für die Stadt- und Regionalplanung.

Kaisersrot-Projekte Potenzielle Einsatzfelder von parametrisierten Planungs- und Optimierungswerkzeugen zeigen die Projekte unter dem Begriff »Kaisersrot«, die von Ludger Hovestadt und seinem Team an der ETH Zürich durchgeführt wurden. Die Bandbreite der Projekte reicht von der Optimierung von Grundrissen im Hinblick auf natürliche Belichtung (Abb. 9) über die optimierte Anordnung von Messeständen und Tragkonstruktionen, virtuelle Baulandumlegung, Bürgerbeteiligung bis hin zur automatisierten Erzeugung erster städtebaulicher Entwürfe unter Berücksichtigung vorhandener Topografie, Nutzerwünschen und Bodenbeschaffenheit.

12 Randolph et al. 2010 13 Döllner 2007

Parametrische Planungswerkzeuge Parametrische Planungswerkzeuge haben gegenüber CAD- oder GIS-Systemen den Vorteil, dass sich das 3D-Modell nach Parametrisierung aller entwurfsrelevanten Variablen automatisch an Veränderungen anpasst. Des Weiteren bieten parametrische Planungswerkzeuge in Verbindung mit modernen Simulationswerkzeugen die Möglichkeit, bestehende 3D-Modelle z. B. im Hinblick auf die Solarenergienutzung oder angepasst an Nutzungswünsche zu optimieren (Abb. 9). Darauf aufbauend wäre – ähnlich dem BIM-Modell für Gebäude – auf Quartiersebene ein Informationsmodell vorstellbar, das u. a. auch Daten zu Verkehrs-, Grün- und Freiflächen, Verkehr und sonstigen Infrastrukturen beinhaltet. Zwar gibt es unter der Bezeichnung CIM (City Information Modelling) Forschungsansätze, die GIS-Technologie mit zusätzlichen planungsrelevanten Informationen zu ergänzen (3D-GIS, GeoDesign), jedoch sind diese ersten Ansätze von einem Planungswerkzeug, wie es BIM für den Gebäudebereich darstellt, noch weit entfernt. CIM wurde im Rahmen des Urban IT Projekts an der australischen University of New South Wales,12 sowie bei Untersuchungen des Hasso-Plattner-Instituts der Universität Potsdam zur Visualisierung komplexer 3D-Geodaten aus CAD-, BIM- und GISSystemen in einem 3D-Stadtmodell eingesetzt.13 Beispiele für Einsatzfelder von parametrisierten Entwurfswerkzeugen sind:

Abb. 9

• Erstellung städtebaulicher 3D-Modelle nach bestimmten Regeln, wie sie u. a. in der Filmindustrie schon genutzt werden • Visualisierung abstrakter städtebaulicher Gestaltungsregeln • Optimierung von städtebaulichen Modellen, z. B. hinsichtlich der gegenseitigen Verschattung von Gebäuden oder der Flächennutzung • Integration von Bürgerwünschen und deren Visualisierung Tools/Software: Neben Programmen für den städtebaulichen Entwurf gibt es auch Software zur Programmierung spezifischer Lösungsansätze. Beispiele hierfür sind: • CityCAD (www.holisticcity.co.uk) • CityZoom (www.cityzoom.net) • Modelur (www.modelur.com) • CityEngine (www.esri.com/software/ cityengine) • Rhino Grasshopper (www.grasshopper3d.com) • Processing (www.processing.org) Bewertung/Nutzen für die Quartiersplanung: Auch wenn parametrische Planungswerkzeuge derzeit hauptsächlich im Bereich der Forschung und vereinzelt bei ambitionierten Architekturprojekten verwendet werden, stellen sie insbesondere in Kombination mit modernen Simulationswerkzeugen eine vielversprechende Möglichkeit dar, städtebauliche Planungen unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten zu optimieren. Auch die Auswirkung einer Änderung baurechtlicher Regelungen wie z. B. der maximal zulässigen Geschossflächenzahl oder minimalen Abstandsflächen lässt sich in Form von 3D-Stadtmodellen einer breiten Öffentlichkeit verständlich erläutern. SA

6.1 — Computerunterstützte Planungswerkzeuge

Projektmanagement-Software Komplexe Projekte mit zahlreichen Beteiligten und differenzierten Projektstrukturen können heute kaum ohne Informationssysteme bewältigt werden. Als solche stehen ProjektmanagementTools zur Verfügung, mit denen neben der Kostenund Terminüberwachung vor allem die Koordination und Dokumentation der Entscheidungen über alle Projektphasen hinweg begleitet werden kann. Dies ist neben der Verfolgung der Planungsphasen und der Erledigung von Aufgaben für eine nachvollziehbare und vorausschauende Projektsteuerung unabdingbar. Zur Vermeidung von unklaren Verantwortungen, Kostenmehrungen und terminlichen Verzögerungen enthalten viele Anwendungen auch Module zur Prognose und Risikobewertung. Professionelle Softwareprogramme sind datenbank- und servergestützt und bieten damit klare Strukturen und Datensicherheit. Der Zugriff auf die Daten ist jederzeit möglich und kann projektbezogen mit Zugriffsrechten belegt werden. Die Softwareentwicklung geht in Richtung Vereinheitlichung und reibungsloser Konvertierung von Dateiformaten, damit Informationen zwischen den Beteiligten nicht verloren gehen. Die Systeme haben häufig eine Schnittstelle zu unternehmensbezogenen Systemen. Einsatzfelder: Die wichtigsten Einsatzfelder für Projektmanagement-Software im Bereich Stadtentwicklung und Bauen sind große, komplexe und über einen längeren Zeitraum laufende Projekte. Damit ist über alle Projektphasen hinweg, auch bei Änderung der Beteiligten, eine optimale Projektdokumentation möglich. Die Art und der Umfang der Software hängen eng mit der Projektorganisation zusammen. In folgenden Bereichen wird sie eingesetzt: • Projektkommunikation und -information • Planung, Steuerung und Überwachung von Kosten und Terminen Dem Berichtswesen und der Vernetzung der Informationen kommt gerade bei komplexen Projekten mit vielen Beteiligten eine besondere Bedeutung zu. Im Bereich Projektmanagement werden folgende Programme eingesetzt:

221

• MS-Projekt (www.microsoft.com) • PKM – Projekt-Kommunikations-Management (www.conclude.com) • Oracle-Primavera (www.oracle.com) Bewertung/Nutzen für die Quartiersplanung: Die Anforderungen von Quartiersentwicklungen und Stadtentwicklungsprojekten sind je nach Projektträger und Größe ganz unterschiedlich. Projektentwickler, die neben der Quartiersentwicklung auch den Hochbau betreuen, müssen übergreifend alle Gewerke über einen langen Zeitraum koordinieren, steuern und überwachen. Eine professionelle Software erleichtert dabei eine lückenlose Dokumentation. Neben der eigentlichen Bauaufgabe unterstützen übergeordnete Planungsabläufe die infrastrukturellen Voraussetzungen sowie die Erfüllung der städtebaulichen und baurechtlichen Anforderungen. Die Anzahl der Schnittstellen mit den einzubeziehenden Planern und Behörden verändert sich daher laufend in den einzelnen Projektphasen. In allen Fällen dienen die Software-Tools der Risikosteuerung und -minimierung im Hinblick auf wirtschaftliche, rechtliche und zeitliche Ziele. Eine umfassende Projektanalyse und eine klare Projektorganisation sind die Basis für die Auswahl der erforderlichen Instrumente. MA

Zusammenfassung Auf Ebene des Quartiers stehen dem Planer deutlich weniger Software-Lösungen zur Verfügung als im Gebäudebereich oder dem Bereich der Stadt- und Regionalplanung. Von diesen Programmen sind die einen zu detailliert und die anderen zu ungenau, als dass sie für die Planung von Quartieren eingesetzt werden könnten. Wünschenswert wäre eine Weiterentwicklung von Werkzeugen für die Handlungsebene des Quartiers. Insbesondere die BIM- und die parametrischen Werkzeuge stellen eine vielversprechende Technologie dar, die es Experten aus unterschiedlichen Bereichen ermöglicht, gleichzeitig an einem 3D-Modell integral zusammenzuarbeiten und somit zeit- und kostensparend zu durchdachten und nachhaltigen Lösungen zu gelangen. SA

Weitere Informationen • Kuhlmann, Christian; Markus, Frank; Theurer, Edgar: CAD und GIS in der Stadtplanung. Ein Leitfaden zum effizienten Einsatz. Karlsruhe 2003 • Eastman, Chuck et al.: BIM Handbook. A Guide to Building Information Modeling for Owners, Managers, Designers, Engineers and Contractors. Hoboken, N.J. 2011 • Garber, Richard (Hrsg.): Closing the Gap. Information Models in Contemporary Design Practice. Architectural Design. New York 2009 • Krygiel, Eddy, Nics Bradley: Green BIM: Successful Sustainable Design with Building Information Modelling. Chichester 2008 • Geoinformation und moderner Staat. Hrsg. vom Bundesamt für Katographie und Geodäsie. Frankfurt/M. 2004 • Eisenberg, Bernd; Brombach, Karoline (2010): Geoinformationssysteme in der Stadt- und Landschaftsplanung. In: Lehrbausteine Städtebau. Basiswissen für Entwurf und Planung. Hrsg. von Bott, Helmut; Jessen, Johann; Pesch, Franz. Städtebau-Institut Stuttgart, 2010, S. 353–366. • Höffken, Stefan: Google Earth in der Stadtplanung. Die Anwendungsmöglichkeiten von Virtual Globes in der Stadtplanung am Beispiel von Google Earth. Institut für Stadt- und Regionalplanung, TU Berlin, 2009 • Wilson, John Peter: The Handbook of Geographic Information Science. Malden, MA 2008 • Liebchen, Jens H.: Bau-Projekt-Management: Grundlagen und Vorgehensweisen. Wiesbaden 2010 • www.entwurfsforschung.de • www.kaisersrot.com

222

Kapitel 6 — Werkzeuge

6. 2

Simulation Ste p han Anders, Jürgen Baumüller, Sigrid Busch, Gre go r C . Gra s s l, Jürgen Laukemper, Antonella Sgobba, Bas t ian Witts tock

S 1. Ehorn-Kluttig et al. 2011

imulation bedeutet die modellunterstützte Nachahmung von Vorgängen unter künstlich hergestellten Bedingungen aus der Wirklichkeit. Die Qualität des Simulationsergebnisses hängt stark von dem zugrunde liegenden Modell ab (Abb. 2). Dabei gilt nicht zwangsläufig, dass komplexere Modelle bessere Ergebnisse liefern, sondern es kommt vielmehr auf die richtige Auswahl der systemrelevanten Parameter und die Kalibrierung des Systems an. Bei der Beschreibung komplexer Systeme steigt die für die Simulation benötigte Rechenleistung exponentiell, je komplexer das Modell ist. Daher beschränken sich die meisten Modelle darauf, nur einen Teilaspekt der realen Welt (Energie, Verkehr, Lärm, Stadtklima etc.) zu simulieren. Zwar gibt es für den Gebäudebereich erste Softwarelösungen, die verschiedene Aspekte parallel simulieren, jedoch sind diese für die Ebene des Quartiers nur begrenzt einsatzfähig. Für die Planung von nachhaltigen Quartieren ist je nach Fragestellung ein passendes Simulationswerkzeug auszuwählen, das schnell zu zuverlässigen Ergebnissen führt und somit effektiv im jeweiligen Planungsprozess verwendet werden kann (Abb. 1). SA

Energiesimulation Mit den ersten Untersuchungen zur Fernwärmeversorgung wie der Studie »Wechselwirkungen zwischen Siedlungsstrukturen und Wärmeversorgungssystemen« durch die ETH Zürich in Zusammenarbeit mit Stadtplanern und Energieberatern im Auftrag des damaligen Bundes-

ministeriums für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (BMBAU) gewann die energetische Stadtplanung zunehmend an Bedeutung. Heute stehen für die energetische Planung verschiedene Simulationstools zur Verfügung und so sollte bei jeder Flächenentwicklung auf Quartiersebene – sowohl im Neubau als auch bei der Sanierung – eine energetische Simulation die Basis für die weitere Planung sein. Die am Markt erhältlichen Programme zur Energiesimulation werden der Komplexität des Themas jedoch kaum vollumfänglich gerecht, denn sie gehen meist nur sehr selektiv auf einzelne energetische Belange eines Quartiers ein, z. B. auf den Wärmebedarf (Abb. 3), die Anforderungen der Energieeinsparverordnung (EnEV) die solare Optimierung des Städtebaus, oder sie konzentrieren sich rein auf das Thema Netzsimulation oder Anlagensimulation.1 In der Planung werden folglich meist verschiedene Programme kombiniert oder Expertenprogramme aus der Forschung angewendet. Folgende drei Punkte sind immer vorab zu klären: • Umfänglichkeit der betrachteten Energieströme • Grenzen des energetischen Wirkungskomplexes • Tiefe der Simulation Im ersten Schritt ist die Frage zu beantworten, welche Energieströme im Quartier betrachtet werden sollen. Im klassischen Fall wird hier zwischen Wärme-, Kälte- und Strombedarf unterschieden, die alle drei je nach Gebiet im Detail definiert werden sollten. In Industriegebieten kann es beispielsweise produktionsabhängigen Prozesskältebedarf geben. Strombedarf gewinnt zunehmend an Bedeutung, weshalb genau festzulegen ist, ob beispielsweise E-Mobilität, Infrastruktureinrichtungen oder die Straßenbeleuchtung berücksichtigt sind oder nicht.

6.2 — Simulation

223

integrale Simulation LEGEP, ECOTECT Analysis, TAS Energiesimulation TRNSYS, EnergyPlus

SolCity, GOSOL

ECORegion, MESAP PlaNet, TIMES LOKAL, PERSEUS, POLIS, deeco

Ökobilanz SimaPro, SBS, GaBi, BASIS, GEMIS, KEApolis, LEGEP

Materialflussanalyse UMBERTO, GaBi

Fußgängersimulation PTV Viswalk

Verkehrssimulation PTV VISSIM, IRPUD, MATSim, Aimsun, Corsim

Lärmsimulation EASE

SoundPlan, CadnaA

Mikroklima CFD Simulation, Fluidyn PANAIR, MISKAM

IMMI, FLULA

Stadtklima ENVImet, MetPhoMod

räumliche Zusammenhänge UCL Deothmap, depthmapX, AJAX, Confeego Gebäude

Quartier

Stadt /Region

Abb. 1

Im nächsten Schritt ist der Wirkungskomplex der Quartierssimulation, also die drei Parameter Erzeugung, Verteilung und Verbrauch bzw. Bedarf, räumlich zu fassen. Der Bedarf bezieht sich stets auf die genaue Quartiersabgrenzung, während bei der Erzeugung durchaus auch externe Anlagen, wie ein außerhalb des Quartiers errichtetes Windrad, das in direktem Zusammenhang mit dem Projekt steht, einberechnet werden. Die Netzsimulation ist eng mit dem voraussichtlichen Betreiber abzustimmen. Während ein eigenes Nahwärmenetz noch verhältnismäßig einfach zu simulieren ist, können beim Anschluss an ein großes übergeordnetes Netz zahlreiche externe Rahmenbedingungen relevant werden, die unter Umständen nur eine vereinfachte Betrachtung zulassen. Im letzten Schritt ist die Tiefe der Simulation abzustimmen. Zwingend erforderlich sind dazu einerseits ein städtebauliches Modell und andererseits zahlreiche Rahmenparameter, meist in Form von über ein Jahr hinweg stündlich erhobenen Messdaten. Das Modell sollte dabei die Kubatur der Gebäude, die Geländetopografie sowie die Straßen und die Landschaftsgestaltung beinhalten. Die Rahmenparameter müssen zumindest aus Wetterdatensätzen und den relevanten Gebäudekennwerten bestehen. Nutzerprofile zeigen die energetischen Auswirkungen der Gewohnheiten von Personengruppen (z. B. Zeiten der Anwesenheit). Ebenso aufschlussreich können Verkehrsdaten oder Produktionsprozessdaten sein. Weder die für eine gesamtenergetische Quartiersbetrachtung notwendige Tiefe der Simulation noch die Umfänglichkeit der betrachteten Energieströme werden bisher durch eine etablierte Software abgebildet. Daher sind umfangreiche energetische Simulationen einer Quartiersentwicklung aktuell meist Kombinationen aus verschiedenen Software-Tools. Wichtig ist hierzu

eine genaue Zielformulierung. Eine echte Simulation muss möglichst detailliert (stündlich gemessen) die zugrunde gelegten Rahmenparameter (z. B. Außentemperatur) mit der relevanten Geometrie (z. B. Gebäude mit Fenstern) und dem entsprechenden physikalischen Verhalten (z. B. Wärmeverluste durch die Wand und Wärmeeintrag durch solare Strahlung, Wärmespeicherung durch Bauelemente etc.) abbilden und als Datensätze oder Kurven über meist ein Jahr hinweg abbilden. Sobald einer der drei Punkte – Rahmenparameter, Geometrie oder physikalische Eigenschaft – nicht in dieser Genauigkeit berechnet wird, spricht man von einer vereinfachten Simulation (z. B. Nahwärmenetzsimulation über Länge ohne genaue Geometrie). Wird ein weiterer Wert nur über eine Kenngröße abgebildet, handelt es sich um eine stark vereinfachte Simulation. Werden alle drei Punkte nur über Kennwerte aggregiert (z. B. angenommene Netzverluste pauschal mit 5% Abschlag pro Kilometer Netzlänge), so ist darauf hinzuweisen, dass dieser Punkt (Netzverluste) in der energetischen Quartierssimulation nur über ein Kennwertverfahren ohne Simulation Berücksichtigung findet.

Abb. 1 Simulationswerkzeuge geordnet nach ihrem Einsatzfeld Abb. 2 vom realen System zum Modell als Grundlage für die Simulation und anschließende Bewertung Abb. 3 Software GOSOL zur Simulation des Heizwärmebedarfs von Siedlungen

reales System

Abstraktion

Modell

Berechnung Optimierung Analyse Bewertung Abb. 2

Eine energetische Quartierssimulation sollte frühzeitig und an der individuellen Projektanforderung orientiert durchgeführt werden. Umfang, Wirkungskomplex und Tiefe der Simulation sind vor der Durchführung genau abzustimmen, da es hier noch keine anerkannten Standards gibt. Die Simulation berücksichtigt die individuelle Projektgeometrie, die standortbezogenen Projektrahmendaten und die genaue Physik der verwendeten Bauelemente. Detaillierte Klima- und Wetterdaten sind inzwischen ebenso Standard wie computergestützte städtebauliche Modelle in 3D, sodass eine Simulation heute mit angemessenem Aufwand zu hohem Erkenntnisgewinn führen kann. GCG Abb. 3

Simulation

224

Kapitel 6 — Werkzeuge

Anforderungen

Design/Entwicklung

Abfälle/ Emissionen

Rohstoffe

Abfälle / Emissionen Recycling

Sekundärrohstoffe Herstellung

Wiederverwertung/ Recycling

Produkte Rohstoffe AltProdukte

Rohstoffe

Abfälle Sammlung

recycelte Produkte

Rohstoffe

Abfälle/ Emissionen

Abfälle / Emissionen

Rohstoffe Sammlung/Sortierung

Nutzungsphase / Bedarfsdeckung Abfälle

Abfallbehandlung

Rohstoffe Rohstoffe

Abfälle

Deponie / Entsorgung Rohstoffe

Emissionen

Abb. 4

Materialflussanalyse und Ökobilanz

2 3 4 5 6 7 8 9

Ilg/Lindner 2011 Brunner 2003 Schmidt-Bleek 1994 DIN EN 15 978 DIN EN ISO 14 040 BMVBS 2013 Ebert 2010 Herbst 2012; Bundesverband Kalksandsteinindustrie 2011; Steinhilper 1997

Erprobte methodische Analysen bilden die Basis für die Anwendung von Simulationswerkzeugen bei der Quartiersplanung. Einen methodischen Ansatz zum Aufzeigen von Stoffströmen bietet die Materialflussanalyse (Material Flow Analysis – MFA), ein Verfahren zur Untersuchung und Darstellung von Materialbewegungen innerhalb einer Wertschöpfungskette. In der Regel wird dabei ein einzelnes Material betrachtet und alle Beziehungen zwischen Anbietern, Abnehmern, verarbeitenden Stellen und Depots berücksichtigt (Abb. 4).2 Eng mit der Materialflussanalyse verwandte Methoden, mit denen die Bewegung unterschiedlicher Stoffströme untersucht und beschrieben werden können,3 sind z. B. die Stoffstromanalyse einzelner Substanzen bzw. chemischer Elemente (Substance Flow Analysis – SFA), oder die Materialintensität pro Serviceeinheit (MIPS).4 Die Methode der Ökobilanz (Life Cycle Assessment – LCA) analysiert die ökologischen Konsequenzen eines Produktlebenszyklus anhand von Stoff- und Energieströmen (siehe Handlungsfeld Stoffströme, S. 144). So führt z. B. der Einsatz von Energie aus fossilen Quellen zu Emissionen, die verschiedene ökologische Auswirkungen haben (z. B. Treibhauseffekt, Bildung von bodennahem Ozon, Versauerung von Böden, Überdüngung von Oberflächengewässern etc.). Diese Emissionen werden dabei immer auf das betrachtete Produkt bezogen.5 Die Ökobilanz dient der Entscheidungsunterstützung, indem z. B. ökologische Schwachstellen eines Produktlebenszyklus, Optimierungspotenziale einer Produktion oder beim Vergleich zweier

technisch gleichwertiger Produkte die ökologisch bevorzugte Variante aufgezeigt werden. Die Ökobilanz führt zu einer spezifisch zu beantwortenden Fragestellung, die den Untersuchungsrahmen und eine Vielzahl von Annahmen und Festlegungen beeinflusst.6 Einsatzfelder: Sowohl die Materialflussanalyse als auch die Ökobilanz werden in zahlreichen Branchen – in unterschiedlichem Umfang – eingesetzt. Die MFA dient dazu, herauszufinden, wie sich eine bestimmte Ressource beispielsweise im Stadtraum verteilt, wodurch z. B. Ressourcenknappheit und Entwicklungstendenzen aufgezeigt werden können. Die Ökobilanz hingegen stellt die Umweltwirkungen eines gesamten Prozesses dar, wodurch sich Aussagen darüber treffen lassen, welche Materialien oder Prozessschritte in welchem Umfang zu einer Umweltwirkung (z. B. Treibhauspotenzial) beitragen. Im Bauwesen ist die Ökobilanz von Bauprodukten und von Gebäuden gut eingeführte Praxis – insbesondere zur Erstellung von Umweltproduktdeklarationen für Bauprodukte (Environmental Product Declaration – EPD)7 und zur Zertifizierung nachhaltiger Gebäude.8 Hierbei rücken auch zunehmend Materialien und Produkte in den Blickpunkt, die nach der Nutzung im Gebäude einer zweiten Nutzung zugeführt werden. Diese sogenannten Cradle-to-Cradle-Betrachtungen (zyklische Ressourcenbetrachtungen) bzw. Fragestellungen, die sich mit Recycling, Downcyling oder der Wiederverwendung von Produkten und Materialien beschäftigen,9 stellen ein Einsatzfeld von kombinierten MFA- und LCA-Analysen dar. Tools/Software Materialflussanalyse (MFA): • UMBERTO (www.umberto.de) • GaBi (www.gabi-software.com) Tools/Software Ökobilanz: • GaBi • SimaPro (www.simapro.de) • SBS (www.sbs-onlinetool.com; nur für Konstruktionen, Gebäude und Quartiere) • LEGEP (www.legoe.de; nur für Gebäude) Bewertung/Nutzen für die Quartiersplanung: Aufgrund der zahlreichen Branchen, die in die Quartiersplanung involviert sind und der Vielzahl von Werkzeugen und Simulationen, die je nach Anwendungsbereich spezifische Anforderungen erfüllen müssen, besteht eine große Herausforderung darin, allgemein anwendbare Modelle zur Verfügung zu stellen. Für eine Einschätzung und

6.2 — Simulation

Bewertung von Quartieren werden zukünftig verstärkt Simulationsmodelle bzw. -werkzeuge benötigt, die valide Vorhersagen ermöglichen und planerische Unterstützung bei komplexen Themengebieten leisten. Die Ressourcenversorgung von Quartieren bzw. die Darstellung dieser Material- und Stoffströme wird zukünftig von entscheidender Bedeutung für Quartiersplanungen sein. Der Einsatz von MFA und LCA in der Stadtquartiersplanung ist heute noch keine gängige Praxis, kann jedoch maßgeblich dazu beitragen, die ökologische Qualität sowie die Situation hinsichtlich Ressourceneinsatz und -verbleib transparent darzustellen. BW

Verkehrssimulation Für die Planung und Entwicklung von größeren Quartieren ist der Einsatz von Verkehrssimulationsprogrammen unumgänglich. Diese benötigen folgende Informationen: • eine Quelle-Ziel-Matrix mit einer genauen Nutzungsbeschreibung, wobei sich das zu erwartende Verkehrsaufkommen für Wohngebiete deutlich besser abschätzen lässt als z. B. für Gewerbeflächen • die Verkehrsnetze für die einzelnen Verkehrsmittel • Lage und Größe des vorhandenen Parkraums • bei bestehenden Gebieten das aktuell bevorzugte Verkehrsmittel Die Simulationen zeigen: • die Verkehrsmittelwahl, also die Aufteilung zwischen den einzelnen Verkehrsträgern (Modal Split); Steuerung des Modal Splits erfolgt durch Parkraumdruck • die Verkehrsbelastung auf einzelnen Verkehrswegen (Routenwahl) pro Tag oder in der Spitzenstunde • die Verteilung des Verkehrs über ein bestimmtes Gebiet Ungenauigkeiten bestehen vor allem in der Prognose der Entwicklung eines neuen Gebiets. Daher muss mit Varianten gearbeitet werden, um unterschiedliche Auswirkungen ermitteln zu können oder um auf Ergebnisse im Grenzbereich einzelner Verkehrsträger zu reagieren (z. B. wenn der Ausbau von zweispurigen auf vierspurige Straßen

225

erforderlich ist oder falls die Verkehrsprognose für den ÖPNV im Grenzbereich der Wirtschaftlichkeit von Busverkehr zu schienengebundenem Verkehr liegt). Tools/Software für Verkehrssimulation: • MATSim (Multi-Agent Transport Simulation) • VISSIM (Multimodale Verkehrssimulation) • Aimsun • Corsim Aktuelle Simulationsprogramme können nur bedingt Rahmenbedingungen abbilden, z. B. die Änderung des Verkehrsverhaltens durch Verkehrsleitsysteme in Echtzeit, die den Übergang zwischen den Verkehrsmitteln erleichtern. In Zukunft sollen aber auch weitere Systeme wie Carsharing und car2go oder Leitsysteme in Echtzeit angemessen berücksichtigt werden können, auch wenn deren mengenmäßige Relevanz heute im Vergleich zu den anderen Parametern von untergeordneter Bedeutung ist. Auch verkehrsregulierende Maßnahmen, vor allem im Bereich des Individualverkehrs, lassen sich mit Verkehrssimulationsprogrammen überprüfen. Die Auswirkungen neu geplanter Ampeln, die Berücksichtigung von Verkehrsbeschränkungen z. B. Durchfahrtsverboten oder Geschwindigkeitsbeschränkungen sowie unterschiedliche Parkraumangebote können simuliert werden. Durch die Simulation zeigt sich, wie sich der Verkehr, z. B. wenn keine Kategorisierung der Straßen erfolgt, auch über andere Bereiche, die vom Durchgangsverkehr freibleiben sollten, verteilt. Maßnahmen und Auswirkungen können somit im Rahmen der Quartiersplanung sinnvoll überprüft werden. JL

Abb. 4 Stoffstromanalyse zur Darstellung der Zusammenhänge im Lebenszyklus eines Produkts Abb. 5 multimodale Verkehrssimulation mit der Software VISSIM

Abb. 5

Lärmsimulation Seit etwa Mitte der 1980er-Jahre sind verschiedene digitale Werkzeuge auf dem Markt, die es den Benutzern ermöglichen, anhand von vorhandenen Datengrundlagen die Ausbreitung, Reflexion und Absorption von Schall für bestimmte Lärmquellen zu berechnen, zu analysieren und darzustellen. Somit lassen sich Entwürfe – auch im Rahmen der Bauleitplanung – hinsichtlich Lärmemissionen und -immissionen optimieren. Die Simulationsergebnisse sind in unterschiedlichen Maßstäben von der Stadt bis hin zum Gebäude darstellbar, z. B. in Lärmkarten nach EU-Umgebungsrichtlinie.

226

Kapitel 6 — Werkzeuge

Abb. 6

Software

Anwendungsbereich Lärmsimulation

Anwendungsbereich Ausbreitung von Luftschadstoffen

SoundPlan

• • • •

Industrie- und Gewerbelärm Straßenverkehrslärm Schienenverkehrslärm Fluglärmberechnung

Softwaremodul »SoundPlan Luft«

CadnaA

• • • •

Industrie- und Gewerbelärm Straßenverkehrslärm Schienenverkehrslärm Fluglärmberechnung (über Zusatzmodul »Option FLG«)

Zusatzmodul »Option APL«

IMMI

• • • •

Industrie- und Gewerbelärm Straßenverkehrslärm Schienenverkehrslärm Fluglärmberechnung (über Zusatzmodul »IMMI-Fluglärm«)

Zusatzmodul »IMMI Luftschadstoffe«

FLULA 2

nur Fluglärmberechnung

Abb. 7

Beispiele für Lärmsimulationssoftware sind in Abb. 7 dargestellt. Einige der Softwarelösungen eignen sich zur Lärmkartierung nach EU-Direktive 2002/49/EG und bilden damit eine wichtige Grundlage zur Maßnahmenplanung im Bereich Lärmschutz. Weiterhin können die Programme im städtebaulichen Entwurfsprozess sowohl zur Optimierung von Gebäudestellungen als auch zur Verbesserung des Lärmschutzes durch aktive Lärmschutzmaßnahmen wie Lärmschutzwälle und -wände beitragen und gegebenenfalls Aussagen zu notwendigen passiven Schutzmaßnahmen treffen (siehe Handlungsfeld Emissionen, S. 176ff.). Die Lärmsimulation basiert auf einem digitalen Modell einer Stadt oder eines Stadtquartiers, das in das jeweilige Programm importiert oder direkt in dem Programm erzeugt werden kann. Den Elementen dieses Modells müssen anschließend die vorab bekannten Emissionsdaten zugewiesen sein: • Verkehrsaufkommen auf den Straßen (durchschnittlicher täglicher Verkehr – DTV)/LkwAnteil/zulässige Höchstgeschwindigkeit/ Fahrbahnoberfläche • Schienenverkehrsaufkommen (Anzahl der Züge/Zugklasse und Zuggattung)

Abb. 8

10 Helbig et al. 1999 11 VRS 2008

Weiterhin besteht die Möglichkeit, Emissionsdaten von Gewerbegebieten, Sportanlagen oder Parkplätzen einzugeben. Auf Grundlage dieser Daten lassen sich Lärmkarten generieren, die auf einer Interpolation der Schallpegel an Berechnungspunkten eines vordefinierten Rasters beruhen. Auf Gebäudeebene können zusätzlich Immissionspunkte platziert werden, die detailliert den Lärmeintrag an einem bestimmten Punkt, z. B. der Fassade, wiedergeben. Jede Veränderung der Planung oder jede Einbringung von aktiven Lärmschutzmaßnahmen kann demnach sowohl

großräumig in der Lärmkartierung als auch im Detail am Immissionspunkt hinsichtlich ihrer Wirkung visualisiert und überprüft werden (Abb. 6 und 8). AS, SB

Stadtklimasimulation Bei der Simulation des Stadtklimas ist es notwendig, das spezielle Oberflächenklima der Stadt zu modellieren.10 Dazu werden die Speichermasse, die Strahlungsbilanz, die anthropogene Wärmeproduktion und die Rauigkeit der Stadtstrukturen simuliert. Grundsätzlich unterscheidet man je nach Auflösung zwischen mikro- und mesoskaligen Modellen. Während bei mesoskaligen Modellen z. B. einzelne Häuser nicht im Detail betrachtet, sondern nur Siedlungsstrukturen mit ihren typischen Eigenschaften parametrisiert werden, sind bei mikroskaligen Modellen Details der Bebauungsstrukturen notwendig. Wichtige Grundlagen für mesoskalige Modelle sind digitale Höhenmodelle und die Bodennutzung. Die Ergebnisse werden zunehmend mit Geografischen Informationssystemen (GIS, siehe S. 218) weiterverarbeitet. Wesentliche Ergebnisse sind gesamtstädtische Karten mit einer Auflösung von ca. 50 m für die Lufttemperatur, die Windgeschwindigkeit, Kaltluftflüsse, bioklimatische Belastungen, Luftbelastung, synthetische Windrosen etc. Durch die Modellierung lassen sich auch Aussagen über zukünftige Entwicklungen treffen, was im Zeichen der Klimaanpassung der Städte an den Klimawandel eine wichtige Rolle spielt.11 Häufig werden die Ergebnisse in Klimaatlanten

6.2 — Simulation

227

Abb. 9

oder Klimaanalysenkarten zusammengefasst und Planungshinweiskarten entwickelt. Die zur Verfügung stehenden Modelle lassen sich auf unterschiedlichste städtebauliche und planerische Fragestellungen anwenden. Bei mikroskaligen Modellen mit Auflösungen im Meterbereich (Abb. 9) ist es notwendig, mit prognostischen Ansätzen zu arbeiten (im Gegensatz zu diagnostischen mesoskaligen Modellen). Hierzu müssen komplexe Bewegungsgleichungen (Navier-Stokes-Gleichungen) gelöst werden, was bei hoher Auflösung lange Rechenzeiten verursacht. Damit ist die räumliche Ausdehnung dieser Modelle zwar begrenzt, jedoch spielen sie für die Quartiersplanung eine wichtige Rolle. JB

Space-SyntaxMethode Bei Space Syntax handelt es sich um eine Methode zur Analyse räumlicher Zusammenhänge. Diese können sein: Erreichbarkeit bzw. Zentralität von Straßen, Bewegungsmuster im Stadtraum, Integration oder Separation von Stadträumen, Einsehbarkeit von Räumen, Größe von Baufeldern etc. Die Methode wurde in den 1970er-Jahren von Bill Hillier und Julienne Hanson am Bartlett University College (UCL) in London entwickelt und wird seither weltweit für räumliche Fragestellungen auf Ebene des einzelnen Gebäudes über die Stadt bis hin zur Nation verwendet. Space Syntax kann, im Vergleich zu anderen Simulationen, mit geringem Aufwand durchgeführt werden, setzt kein tiefergehendes Expertenwissen voraus, benötigt keine großen Rechenkapazitäten und ist kostenlos erhältlich. Das

macht diese Methode attraktiv für viele SoftwareAnwendungen. Einsatzfelder: Mit der Space-Syntax-Methode können urbane Plätze analysiert und Besucherströme simuliert werden, um die am stärksten frequentierten Punkte zu ermitteln und daraus Rückschlüsse für die Planung abzuleiten. Des Weiteren ist es möglich, nach Analyse des Wegenetzes einer Stadt darzustellen, welche Punkte besonders gut von anderen aus erreichbar sind (Abb. 10). So lassen sich z. B. attraktive und gut besuchte Standorte für den Einzelhandel finden. Mit Space Syntax lässt sich zudem analysieren, welche Wandflächen von anderen Standpunkten innerhalb eines Gebäudes oder Quartiers besonders gut sichtbar sind. Dies kann als Grundlage für ein Beschilderungskonzept oder Werbung dienen.

Abb. 6 Lärmkarte Straßenverkehr mit gewichtetem Tag-Abend-Nacht-Pegel über 24 Stunden für Stuttgart (D) Abb. 7 Beispiele für Lärmsimulations-Software Abb. 8 Lärmsimulation für einen studentischen Quartiersentwurf mit der Software CadnaA Abb. 9 Analyse von Erreichbarkeiten mittels Space Syntax, München (D) Abb. 10 mikroskalige Stadtklimauntersuchung mit der Software EnviMet für Frankfurt am Main (D)

Bei folgenden Programmen kommt Space Syntax zum Einsatz: • UCL Depthmap (Original) • depthmapX • AJAX • Confeego (PlugIn für MapInfo Professional GIS) Bewertung/Nutzen für die Quartiersplanung: Auch wenn die Methode in der wissenschaftlichen Diskussion aufgrund der starken Vereinfachung komplexer Zusammenhänge nicht unumstritten ist, kann sie einen wichtigen Beitrag dazu leisten, Städte und Quartiere nachhaltiger zu planen, insbesondere in frühen Planungsphasen, wenn andere Simulationswerkzeuge aufgrund unzureichender Daten nicht anwendbar oder schlicht zu aufwendig sind. Da jedoch bei der Simulation viele Faktoren vernachlässigt werden, ist es erforderlich, die Ergebnisse von Space Syntax kritisch zu prüfen und zu diskutieren. SA

Abb. 10

228

Kapitel 6 — Werkzeuge

Zu Hause

Starklast

laden [%]

Zu Hause

Arbeitsplatz

Schwachlast laden

Starklast

Schwachlast

Kfz liefert Energie ins Netz

Schwachlast

laden

laden

100 80 60 40 20 23:15

22:30

21:45

21:00

20:15

19:30

18:45

18:00

17:15

16:30

15:45

15:00

14:15

13:30

12:45

12:00

11:15

10:30

9:45

9:00

8:15

7:30

6:45

6:00

5:15

4:30

3:45

3:00

2:15

1:30

0:00 0:45

0

Abb. 11

Integrale Simulation Weitere Informationen • Beckenbach, Frank; Urban, Arnd I. (Hrsg.): Methoden der Stoffstromanalyse. Konzepte, agentenbasierte Modellierung und Ökobilanz. Marburg 2011 • Katzschner, Lutz; Campe, Sabrina; Kupski, Sebastian: Innenraumentwicklung in Frankfurt am Main unter Berücksichtigung stadtklimatischer Effekte. Maßnahmen zur Minderung der Wärmebelastung in verdichteten Räumen. Fachbereich Architektur, Stadtplanung, Landschaftsplanung, Universität Kassel, 2011 • Klöpffer, Walter; Grahl, Birgit: Ökobilanz (LCA). Ein Leitfaden für Ausbildung und Beruf. Weinheim 2009 • Schnabel, Werner; Lohse, Dieter: Grundlagen der Straßenverkehrstechnik und Verkehrsplanung. Bd. 2: Verkehrsplanung. Berlin 1997 • Steierwald, Gerd; Künne, Hans-D.; Vogt, Walter: Stadtverkehrsplanung. Grundlagen – Methoden – Ziele. Heidelberg 2005 • VDI-Richtlinie 3787, Blatt 2: Umweltmeteorologie. Methoden zur human-biometeorologischen Bewertung von Klima und Lufthygiene für die Stadt- und Regionalplanung. Teil I: Klima • www.eneff-stadt.info • www.staedtebauliche-klimafibel.de • www.citygml.org

Simulationswerkzeuge sind wichtige Entscheidungshilfen für eine nachhaltige Quartiersplanung. Wenn es gelingt, möglichst viele Themenfelder in neuen Programmen zielgerichtet zu integrieren, können sie helfen, eine Brücke zu schlagen von der ersten planerischen Vision mit durchgrünten Masterplänen und aufwendig gestalteten Renderings hin zum realisierten Stadtquartier. Die stadtplanerisch angestrebte Mischnutzung erfordert weit mehr als eine räumliche Annäherung unterschiedlicher Funktionen wie Wohnen und Arbeiten. Wechselwirkungen zwischen Gebäuden wie gegenseitige Verschattung oder Leitungsverluste im Stromnetz bei großen Entfernungen, aber auch die technische Ver- und Entsorgungsinfrastruktur müssen auf Quartiersebene neu durchdacht werden, um den Anforderungen an ein attraktives, CO2-neutrales Quartier mit einem intelligenten Stromnetz (Smart Grid) gerecht zu werden. Einseitig auf solare Optimierung hin ausgerichtete Simulationstools für Quartiere führen zu eher umstrittenen, monotonen städtebaulichen Ausprägungen wie z. B. rein südorientierten kompakten Zeilenbauten. Um die Qualität der europäischen Stadt als Smart City im Sinne einer nachhaltigen Stadtplanung abzubilden, werden neue Simulationstools benötigt. Tools/Software: 3D-Stadtmodelle und Software-Tools vermitteln den Eindruck, dass der Energieleitplanung stets verlässliche Zahlen zugrunde liegen. Jedoch werden Konzepte für die Erreichung von Klimaschutzzielen auf Quartiers- und Stadtebene oft nur sehr

überschlägig über Kennzahlen berechnet. Der Einsatz aktueller Software ermöglicht immerhin eine schnelle Ersteinschätzung zum Thema Energie auf Quartiersebene. Ein zukunftsweisendes Simulationswerkzeug sollte daher die folgenden vier Grundvoraussetzungen erfüllen: • Sustainability (Nachhaltigkeit), also ganzheitliche, integrale Themenbetrachtung in Bezug auf Energie, Wasser, Verkehr etc. • City (Stadt), d. h. räumliche Betrachtung der Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Gebäuden • Information im Detail mit konkretem Ortsbezug (z. B. Klimadatensätze, U-Werte für Bauteile, Verkehrsaufkommen etc.) • Model (Modell) in 3D mit konkreter städtebaulicher Planung Werkzeuge, die diese Anforderungen erfüllen, werden daraus abgeleitet SCIM-Tools genannt. Die Vision von SCIM ist ein integrales 3D-Stadtmodell, in dem alle relevanten Daten gespeichert und verarbeitet werden. Die Produktentwicklung steht hier noch am Anfang und ist vergleichbar mit aus dem Gebäudebereich bekannten BIMModellen. Aus der Vielfalt der Planungsaufgaben im Quartier resultiert ein entsprechender Bedarf an Funktionalitäten, wie sie SCIM abbilden soll. Durch den Umbau der Energieinfrastruktur gewinnt das Thema Strombedarf an Bedeutung und es zeigt sich, dass bisherige Energiesimulationsprogramme im Wesentlichen nur die solare, thermische Energiebilanzierung betrachten. Integrale Simulationsprogramme können dagegen mit der Betrachtung von Gebäudeenergieerzeugung und Verkehrsströmen mit E-Mobilitätskonzepten als Nutzungsmöglichkeit erneuerbarer Energien mehr leisten. Die Datenverarbeitung wird durch Geoinformationssysteme sowie die Verwendbarkeit von

6.2 — Simulation

229

Abb. 11 Elektrofahrzeug als virtuelles Kraftwerk Abb. 12 Analyse der Solarstrahlung auf die Gebäudefassaden mit der Software Autodesk ECOTECT Abb. 13 Simulationsgrafik für den solaren Eintrag in die Gebäude eines Quartiers Abb. 14 Detaillierungsgrade von CityGML-Daten Abb. 12

Abb. 13

3D-Gebäudedaten (CityGML; Abb. 14) immer einfacher. Die Kombination von Datenbanken, Datensätzen, Planungen und 3D-Modellen ermöglicht zusammen mit neuen Simulationstools eine Weiterentwicklung bisheriger Simulationsprogramme. Die Daten können für späteres Monitoring genutzt werden. Bisher arbeiten ausschließlich Experten mit eigenen Softwareentwicklungen an solch komplexen Modellen. Es ist jedoch nur eine Frage der Zeit, bis die großen Anbieter neue Werkzeuge zur Verfügung stellen werden.

erneuerbare Stromerzeugung aus Sonne und Wind zeitlich verschoben zum Bedarf liegt und es derzeit keine sinnvolle Möglichkeit zur Speicherung gibt. Gerade beim Umbau zu einer Infrastruktur für erneuerbare Energien ist es umso wichtiger, dass Simulationen die Spitzen frühzeitig erkennbar und Gegenmaßnahmen wie den Einsatz von Speichertechnologien oder die Einbindung von Elektromobilität planbar machen (Abb. 11). Über die technische Komponente der Planung hinaus sind Simulationen ein bedeutendes Instrument, um Aufenthaltsqualität zu schaffen. Windgeschwindigkeit, Temperatur, Strahlungsverhältnisse und Luftfeuchte sind wesentliche Faktoren, die die gefühlte Temperatur und damit das Wohlbefinden der Menschen im Quartier beeinflussen. Neben der Beurteilung solcher thermischer oder bioklimatischer Verhältnisse13 sind auch andere Komfortthemen wie Lärm oder Verkehrsaufkommen bereits in der Planung sehr genau zu simulieren, um Überraschungen nach Baufertigstellung und Bezug zu vermeiden. GCG

Beispiele für integrale Simulationstools: 12 • Ecotect Analysis (Autodesk) • Thermal Analysis Software – TAS (Evironmental Design Solutions Limited) • Dymola-Modelica: offene und objektorientierte Modellsprache, oft Basis für SCIM-Ansätze (Dassault Systems) • EnergyPlus: Kombination der beiden Gebäudesimulationsprogramme DOE-2 und BLAST (vom US Department of Energy gefördert) • Virtual Environment Pro (VE-Pro) mit einer Schnittstelle für einzelne Anforderungen aus der Immobilienzertifizierung nach LEED (Integrated Environmental Solutions Limited) • Transient System Simulation (TRNSYS), seit Langem auch in Deutschland auf dem Markt, Möglichkeit zur Weiterentwicklung für SCIMSimulationen (Universität von Wisconsin in Madison) Den aufgeführten Simulationstools ist gemein, dass sie der Realität deutlich näher kommen als die üblichen kenndatenbasierten Planungsansätze. Somit kann frühzeitig in der Planung auf Probleme reagiert werden. Herausragende CO2neutrale und energieautarke Quartiere sind bisher meist auf die Jahresbilanz berechnet. Tatsächlich kommen aber auch solche Quartiere nicht ohne den Anschluss an das öffentliche Netz aus, da die

LoD 1: Stadtmodelle mit Topografie und Gebäuden als Kubus. Dachform wird als Flachdach dargestellt.

LoD 2: zusätzlich mit genauer Abbildung der Dachform

LoD 3: mit Unterscheidung zwischen Fassadenöffnungen und geschlossenen Flächen (reine Fotoaufprägungen entsprechen nicht LoD 3) Abb. 14

12 Münzner 2012 13 Orientierungswerte dazu in VDI-Richtlinie 3787 Blatt 2

CityGML

Zusammenfassung Für die Anwendung von Simulationswerkzeugen in der städtebaulichen Praxis ist meist umfassendes Expertenwissen notwendig. Auch für die Quartiersplanung wären zukünftig Simulationswerkzeuge hilfreich, die integral mehrere Themengebiete berücksichtigen und ohne großen Aufwand parallel zum Entwurfsprozess verwendet werden können, denn Simulationen stellen zu einem frühen Zeitpunkt für die Planung relevante Informationen bereit und beugen damit kostenintensiven Fehlentwicklungen vor. SA

CityGML (City Geography Markup Language) ist ein normiertes Dateiformat zur Darstellung, Speicherung und zum Austausch von virtuellen 3D-Stadt- und Geländemodellen. Es bietet die Möglichkeit, Objekte wie Gelände, Gebäude, Wasser- und Verkehrsflächen, Vegetation, Stadtmöblierung und Landnutzung einheitlich zu beschreiben. CityGML kann neben der Visualisierung von 3D-Modellen für vielfältige Aufgaben wie Umweltsimulationen, Energiebedarfsermittlung, städtisches Facility Management oder Fußgänger-Navigation eingesetzt werden. 3D-Stadtmodelle werden mit unterschiedlichem Detaillierungsgrad dargestellt (Level of Detail, LoD, Abstufung 1– 3). LoD-1-Modelle (einfache Kuben) sind inzwischen fast flächendeckend vorhanden. Auch die LoD-2-Daten (Kuben mit Darstellung der Dachform) sind weitverbreitet, während man LoD-3-Daten mit einer genauen Fassadendarstellung nur für einzelne Bauten findet.

230

Kapitel 6 — Werkzeuge

6.3

Visualisierung Ste p han Anders, Rolf Mes s ers chmidt

U 1 2 3 4

Scholles 2008, S. 324 ebd., S. 330ff. Battle 2001 Gaffron 2008; Daab 1996

nter Visualisierung versteht man im vorliegenden Zusammenhang das Sichtbarmachen und die Veranschaulichung von oft abstrakten Parametern mit zwei- und dreidimensionalen Darstellungen zur Op timierung und Beurteilung von Planungen. Die Bereiche Modellierung, Simulation und Visualisierung hängen dabei eng zusammen und sind schwer voneinander abgrenzbar, denn jede Visualisierung beruht auf einer Simulation und diese wiederum auf einem Modell der Planung. Im Folgenden werden computerunterstützte Werkzeuge dargestellt, bei denen der Fokus auf der Visualisierung liegt und die das Potenzial haben, neue Maßstäbe in der Planung und Steuerung von nachhaltigen Städten und Quartieren zu setzen. SA

Grafische Überlagerungswerkzeuge

Einsatzfelder: Die Einsatzfelder von grafischen Überlagerungswerkzeugen reichen von der kartografischen Addition von Flächen derselben Wertstufe zur Darstellung der Landnutzung über die Ermittlung von »Restflächen« bis hin zur Überlagerung der derzeitigen Flächennutzungsplanung mit Lärmkarten. Mithilfe von Verschneidungen ist es auch möglich, Abweichungen von Zielen abzubilden, sofern diese Ziele als angestrebter Zustand räumlich darstellbar sind.2 Der methodisch fundierte Einsatz solcher Werkzeuge kann die Entwicklung, Optimierung und Visualisierung von städtebaulichen Planungen unterstützen. Sie können die qualifizierte Erarbeitung von sektoralen Nachhaltigkeitskonzepten der verschiedenen beteiligten Disziplinen wie Stadtklimatologie, Energieplanung und Mobilität begleiten und zur Optimierung der räumlichen Verteilung strukturbildender Elemente beitragen (z. B. die Platzierung von Quartiersgaragen, Grünzonen als Klimabahnen oder dezentrale Grauwasserreinigungsflächen). Vor allem aber kann die Integration dieser Konzepte mit klassischen Stadtplanungszielen zu einem ganzheitlichen, vielschichtigen und auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Gesamtkonzept führen, das den Aufbau eines funktionierenden »Metabolismus« im Quartier unterstützt.3

Die grafische Überlagerung verschiedener thematischer Karten zu einer spezifischen räumlichen Situation (Overlay Mapping) ist eine verbreitete Methode, um neue Erkenntnisse auf höherem Aggregationsniveau zu gewinnen (Abb. 2). Die Auswahl der Karten orientiert sich dabei am jeweiligen thematischen Schwerpunkt. Eine Fragestellung hinsichtlich Umweltplanung könnte beispielsweise sein, welche Biotypen durch eine Straßentrasse durchschnitten werden.1

Methode: Neu zu entwickelnde grafische Strukturen für einzelne Nachhaltigkeitskonzepte werden zuerst unabhängig voneinander und vom Stadtplanungskonzept auf das Planungsgebiet projiziert, danach optimiert und anschließend mithilfe von Kriterien und Leitindikatoren bewertet.4 Die Überlagerung der Strukturen generiert verschiedene Szenarien des städtebaulich nachhaltigen Gesamtkonzepts. Natürlich bestehen Ab hängigkeiten und gegenseitige Beeinflussungen

6.3 — Visualisierung

231

Abb. 1 Strukturentwicklung mittels Überlagerung verschiedener Strukturen und Szenarien am Beispiel Karlsruhe Südost (NetzWerkZeug) Abb. 2 Verschneidung zur Karteninterpretation Abb. 3 Lärmsimulation mit einem interaktiven VR-Entwurfstool für die Stadtplanung Abb. 1

zwischen den dargestellten Informationen, sodass sie (unter Erhaltung wichtiger Ausgangskriterien) durch Rückkopplungen verändert in das Ergebnis des Entwurfsprozesses eingehen. Die Darstellung kann in Form von abstrakten Strukturgrafiken für die einzelnen Konzepte oder als Masterplan erfolgen, in dem alle strukturell wichtigen Anforderungen an eine nachhaltige Entwicklung des Gebiets definiert werden.5 Das Zusammenwirken der Konzepte und die Nachhaltigkeitsqualität der Planung insgesamt können durch Informationsverdichtungsmethoden mit Aggregation verschiedener Indikatoren über Verknüpfungsregeln bewertet werden und somit den Entscheidungsfindungsprozess fördern.6 Tools/Software: Die analoge Überlagerung von räumlichen Informationen mittels Dias oder Karten an einem Leuchttisch wurde durch die Layerstrukturen der heutigen CAD- und GIS-Systeme abgelöst, wird jedoch insbesondere für partizipative Planungsworkshops durchaus noch verwendet. Der rechnergestützten Überlagerung sind unter technischen Gesichtspunkten keine Grenzen gesetzt – anders jedoch der Interpretation. So sollte die Überlagerung immer zielgerichtet eine bestimmte Fragestellung beantworten.7 Bewertung/Nutzen für die Quartiersplanung: Grafische Überlagerungswerkzeuge unterstützen den Quartiersplanungsprozess, helfen, die Vermittlung der Ergebnisse zu verbessern und gewährleisten die Berücksichtigung aller relevanten Planungsparameter in einem ganzheitlichen Quartierskonzept. Die systemimmanente Komplexität von Quartiersplanungen wird besser handhabbar, indem sie zur Entwicklung der einzelnen Konzepte zuerst reduziert und anschließend durch die Überlagerung in integrierter und transparenter Weise neu generiert wird. RM, SA

Virtuelle und erweiterte Realität

Boden B A

Unter virtueller Realität (Virtual Reality – VR) versteht man die Echtzeitdarstellung der Wirklichkeit in einer computergenerierten Umgebung. Die Technologie wurde für das Militär entwickelt und wird heute für diverse Anwendungen eingesetzt. Dazu gehören beispielsweise Flugsimulatoren, computerunterstütze Konstruktions- und Entwurfsmethoden, Produktionsplanung sowie virtuelle Welten für Computerspiele. Auch wenn es durchaus interessante Ansätze für den Einsatz von VR in der Stadt- und Quartiersplanung gibt, wie das an der Universität Stuttgart entwickelte VR-Entwurfstool zur interaktiven Simulation der Schadstoff- und Lärmausbreitung in Stadträumen zeigt (Abb. 3),8 hat sich die Technologie bis heute kaum in der planerischen Praxis durchgesetzt. Durch die komplexen Fragestellungen bei der Planung von nachhaltigen Quartieren, die Forderung nach neuen Beteiligungsmodellen sowie durch die fortschreitende Entwicklung der Technik hin zu schnelleren, einfacher anwendbaren und günstigeren VR-Systemen wird die Technologie in Zukunft verstärkt an Bedeutung gewinnen. Anders als VR setzt die erweiterte Realität (Augmented Reality – AR) auf eine Erweiterung der bestehenden Welt mit zusätzlichen Informationen. So bietet AR die Möglichkeit, ein geplantes Objekt (Gebäude, Straße, Pflanze etc.) in der realen Umgebung bzw. in einem Umgebungsmodell zu visualisieren. Der Nutzer von AR kann mit einem mobilen Endgerät (Smartphone, Tablet PC, AR-Brille etc.) das Objekt aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Planungsvarianten auszuwählen und diese miteinander zu vergleichen, ermöglicht es auch dem

Vegetation

1

2

Integration 1– B 2– B

1– A 2– A Abb. 2

Abb. 3

5 6 7 8

Messerschmidt 1999/2003 Daab 1996 Scholles 2008 Schubert 2004

232

Kapitel 6 — Werkzeuge

Abb. 4 »In the Air«, Visualisierung unsichtbarer Mikrobestandteile der Luft, Medialab-Prado Abb. 5 potenzielle Aufheizung der Stadt Singapur, abgeleitet aus dem Energiebedarf und der lokalen Windgeschwindigkeit in Echtzeit, SENSEable City Lab Abb. 6 City Cockpit, Siemens Abb. 7 Kontrollzentrum, Rio de Janeiro (BR) Abb. 4

Laien, die Wirkung eines geplanten Objekts zu erfassen und bewerten zu können. Aus diesem Grund verfügt die AR-Technologie, insbesondere in den Bereichen Information und Bürgerbeteiligung, über ein großes Potenzial. 9 10 11 12

Abb. 5

Abb. 6

Jander et al. 2010, S. 22 Spudich 2012 www.intheair.es www.valuelab.ethz.ch

Datenanalyse, Simulation und Visualisierung in Echtzeit Jede Sekunde fallen in einer Stadt gigantische Mengen unstrukturierter Daten an: statistische Daten der öffentlichen Verwaltung, Daten aus dem Verkehrs- und Infrastrukturbereich, Messdaten von Sensoren, Daten von GPS-Geräten und Mobiltelefonen, Text- und Videodaten, Daten aus Finanztransaktionen etc. Das Datenvolumen soll sich darüber hinaus in Zukunft etwa alle eineinhalb Jahre verdoppeln.9 Von der Datenanalyse, Simulation und Visualisierung in Echtzeit erhoffen sich Unternehmen und namhafte Forschungseinrichtungen, unmittelbar über wichtige Informationen verfügen zu können. Ein Beispiel hierfür erläutert Carlo Ratti, Direktor des SENSEable City Lab am Massachusetts Institute of Technology (MIT), 2012 in einem Interview: »Die Analyse der Datenmengen […][kann] bei der Steuerung gesellschaftlicher Prozesse helfen. Etwa die Verkehrsinformationen, die aus Bewegungsdaten zahlreicher Handys resultieren: So kann man u. a. erkennen, wenn große Veranstaltungen in Städten zu Ende gehen – Menschen drehen ihre Handys an und telefonieren oder

verwenden Datendienste. Das ermöglicht es, Taxis und öffentliche Verkehrsmittel verstärkt an solche Hotspots zu schicken.«10 Ratti und sein Team entwickelten außerdem ein Projekt, bei dem durch die Analyse von Echtzeitdaten aus dem Energiesektor und lokalen Windgeschwindigkeiten die potenzielle Aufheizung der Stadt Singapur abgeschätzt wird (Abb. 5). Ein weiteres Anwendungsbeispiel für die Datenanalyse in Echtzeit liefert das Projekt »In the Air« des Medialab-Prado in Madrid.11 Im Rahmen dieser Untersuchung wurden die für den Menschen unsichtbaren Mikrobestandteile der Luft (wie Gase, Partikel und Pollen) gemessen, in Echtzeit visualisiert und die auftretenden Wechselwirkungen mit anderen Parametern der Stadt analysiert (Abb. 4). Forscher der ETH Zürich initiierten das Value Lab, eine interdisziplinäre Plattform für nachhaltige Stadtplanung.12 Dabei handelt es sich um ein Labor, das u. a. mit fünf großen Touchscreens ausgestattet ist und die parallele Simulation und Visualisierung von städtebaulichen Planungsvarianten ermöglicht. Die Idee ist, dass ein interdisziplinäres Planungsteam während eines Workshops gemeinsam verschiedene Planungsvarianten erarbeiten und deren Auswirkungen auf Verkehr, Stadtklima etc. simulieren und diskutieren kann. Das Labor bietet außerdem die Möglichkeit, Videokonferenzen durchzuführen und so zeitgleich mit Experten aus der ganzen Welt zusammenzuarbeiten. Neben diesen Forschungsprojekten gibt es für die Datenanalyse und Visualisierung in Echtzeit auch heute schon erste praktische Umsetzungen. Beispiele hierfür sind zwei Technologien, die für die Steuerung einer nachhaltigen Stadtentwicklung von besonderem Interesse sind: Das erste hier zu nennende Werkzeug ist das von Siemens entwickelte City Cockpit, das derzeit in

6.3 — Visualisierung

Singapur erprobt wird (Abb. 6). Dabei handelt es sich um ein System, das Informationen aus diversen Verwaltungssystemen der Stadt bündelt, je nach Fragestellung übersichtlich visualisiert und bessere sowie schnellere Entscheidungen ermöglichen soll. Außerdem verspricht man sich von der Anwendung eine Verbesserung der Kommunikation der Bürger mit der Verwaltung. Wenn ein Bürger beispielsweise eine beschädigte Parkbank oder eine schlecht gereinigte öffentliche Toilette vorfindet und dies via Smartphone der Stadtverwaltung meldet, bekommt er innerhalb von 24 Stunden eine Rückmeldung, wie mit dem Problem umgegangen wird.13 Einen Schritt weiter geht das von IBM entwickelte Kontrollzentrum in Rio de Janeiro, das derzeit in Vorbereitung auf die FIFA Fußball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016 installiert und getestet wird (Abb. 7). In diesem Kontrollzentrum laufen neben den Daten aus der Verwaltung auch jene aus Sensoren, Überwachungskameras, Wetterdiensten und Polizeifunk zentral zusammen und werden in Echtzeit analysiert. Anhand dieser Daten erstellt das System Übersichtskarten, die die aktuellen Problemstellen (Verkehrsunfälle, überfüllte U-Bahn-Haltestellen etc.) in der Stadt zeigen und die Entscheider in die Lage versetzen, zielgerichtet zu handeln. Die Stadt Rio de Janeiro erhofft sich von der Technologie u. a. einen reibungslosen Ablauf der beiden Großveranstaltungen und eine effiziente Verteilung der Einsatzkräfte.14 Ob diese Erwartungen an die Technologie erfüllt werden, bleibt abzuwarten. Bewertung/Nutzen für die Quartiersplanung: City Cockpit in Singapur bündelt und visualisiert die ohnehin in der Stadt vorhandenen Daten. Das Beispiel aus Rio de Janeiro nutzt auch persönlich sensible Daten und ist daher datenschutzrechtlich bedenklich. Dennoch zeigen die Beispiele, dass in der Analyse und Visualisierung von urbanen Daten ein enormes Potenzial steckt, bestehende Städte und Quartiere in Echtzeit zu analysieren, die Auswirkungen potenzieller Maßnahmen zu simulieren und darauf aufbauend bessere Entscheidungen zu treffen. Eine vollständig vernetzte Stadt würde die Möglichkeit eröffnen, die Bürger u. a. via Smartphone und Internet

233

Abb. 7

stärker aktiv an Entscheidungsprozessen zu beteiligen und damit mehr in die Verantwortung zu nehmen. 13 Bartsch 2011, S. 94f. 14 Singer 2012

Zusammenfassung Von einfachen zeichnerischen Überlagerungsmethoden über solche der virtuellen und erweiterten Realität bis hin zu ersten Ansätzen, die in der Stadt anfallenden Daten in Echtzeit zu analysieren und nutzbar zu machen, stellt dieses Kapitel drei vielversprechende Visualisierungsmethoden vor, die Planung, Steuerung und Monitoring von nachhaltigen Städten und Quartieren zielführend unterstützen können. Zeichnerische Überlagerungsverfahren sind bereits fester Bestandteil in der planerischen Praxis, dagegen beschreiten die Technologien der virtuellen und erweiterten Realität noch Neuland. Ein hohes Potenzial bieten diese Technologien für die geforderte stärkere Beteiligung der Bürger. Insbesondere für bestehende Städte setzen Unternehmen und Forschungseinrichtungen große Hoffnungen in die Analyse und Visualisierung von in der Stadt anfallenden Daten in Echtzeit, mit dem Ziel, urbane Systeme effizienter zu nutzen und zu steuern. Welche der vorgestellten Methoden sich in der Praxis etablieren werden, muss sich zeigen. In der heutigen, immer stärker durch Bilder geprägten und vernetzten Welt wird der Einsatz von Visualisierungsmethoden und -technologien weiter zunehmen, denn sie bieten die Möglichkeit, selbst komplexe Zusammenhänge verständlich an alle Planungsbeteiligten zu vermitteln und fungieren damit als eine Art universell einsetzbare Sprache. SA

Weitere Informationen • Bruhnke, Karl-Heinz: Digitale, virtuelle Planung. Chancen und Herausforderungen für die Bauwirtschaft. IBBS Universität Leipzig, Tagungsband. Norderstedt 2004 • Gaffron, Philine; Huismans, Gé; Skala, Franz (Hrsg.): Ecocity Book 2. How to make it happen. Hamburg/Utrecht/Wien 2008 • Höhl, Wolfgang: Interaktive Ambiente mit OpenSource-Software. 3D-Walk-Throughs und Augmented Reality für Architekten mit Blender 2.43, DART 3.0 und ARToolKit 2.72. Wien 2009 • Lee, David; Robinson, Prudence (Hrsg.): Copenhagen 2 – SENSEable City Guide. Cambridge, MA 2011 • Messerschmidt, Rolf: NetzWerkZeug. Diplomarbeit am Städtebau-Institut der Universität Stuttgart 1999. www.netzwerkzeug.de • SENSEable City Lab: http://senseable.mit.edu • Future Cities Laboratory: www.futurecities.ethz.ch • Value Lab: www.valuelab.ethz.ch • Medialab Prado: www.medialab-prado.es

234

Kapitel 6 — Werkzeuge

6. 4

Zertifizierungs- und Bewertungssysteme Ste p han Anders

I

n Zeiten knapper öffentlicher Kassen erstreckt sich die Forderung nach einer quantifizierten Wirkungsmessung über immer mehr gesellschaftliche Bereiche und hat nun etwas verspätet auch das Bauwesen erreicht.1 So gibt es auf Ebene der Gebäude, aber auch auf gesamtstädtischer Ebene weltweit eine Vielzahl unterschiedlicher Zertifizierungssysteme mit spezifischen Schwerpunkten. Dieses Kapitel widmet sich insbesondere den aktuellen Entwicklungen rund um das Thema Zertifizierung von Stadtquartieren, für die es bisher nur wenige anwendbare Systeme gibt. 1 Pahl-Weber et al. 2009, S. 12 2 Infante-Barona 2002, S. 91 3 Fuhrich 2004 4 Economist Intelligence Unit 2011 5 Bundesgeschäftsstelle des European Energy Award 2011 6 Stulz 2010 7 CASBEE 2012 8 Bauriedl et al. 2008, S. 179

Gesamtstädtische Bewertungssysteme Für Städte und Kommunen wurden in den vergangenen Jahren von nationalen, internationalen, staatlichen und nicht staatlichen Organisationen verschiedene Indikatorensysteme zur Operationalisierung von Nachhaltigkeit entwickelt.2 Als Orientierungshilfe für die kommunale Praxis soll z. B. ein Indikatorenkatalog dienen, der im Rahmen des ExWoSt-Forschungsfelds »Städte der Zukunft« zur Erfolgskontrolle nachhaltiger Stadtentwicklung erstellt wurde (Abb. 2).3 Parallel zu diesen städtischen und kommunalen Entwicklungen wächst auch das Interesse der Industrie an nachhaltigen Städten und deren Bewertung. So wurde im Auftrag der Siemens AG der »German Green City Index« entwickelt, der an einer Auswahl deutscher Großstädte angewendet wurde.4 Allerdings geht es Unternehmen wie

Siemens, IBM oder der Telekom primär darum, sich als Marktführer im jeweiligen Technologiebereich zu etablieren und ihre Produkte und Dienstleistungen wie Verkehrsleitsysteme, Energiemanagementsysteme und Smart-Grid-Technologien (intelligente Stromnetze) an Städte und Kommunen zu verkaufen. Neben der reinen Bewertung nachhaltiger Stadtentwicklung gibt es auch Initiativen, diese zu zertifizieren, z. B. den European Energy Award,5 der an Städte oder Gemeinden vergeben wird, die besondere Anstrengungen im Bereich Energieund Klimaschutz vorweisen können. Internationale Entwicklungen wie das schweizerische Modell der 2000-Watt-Gesellschaft6 oder das in Japan entwickelte Zertifizierungssystem »CASBEE for Cities«7 zeigen die wachsende Bedeutung von Indikatoren im Wettbewerb der Städte.8 Jedoch ist allen Zertifizierungs- und Bewertungssystemen für die Gesamtstadt gemein, dass sie aufgrund der Komplexität lediglich mit sehr groben und allgemein zugänglichen Daten (z. B. von statistischen Ämtern) arbeiten und sich somit nur schwer auf die planungsrelevante Ebene des Quartiers übertragen lassen.

Bewertungssysteme für Stadtquartiere Auf Ebene des Quartiers ist die Anzahl an unterschiedlichen Zertifizierungssystemen im Vergleich zu den Gebäudesystemen derzeit noch überschaubar. Die vorhandenen Systeme wie beispielsweise die Zertifizierungen LEED for Neighborhood

6.4 — Zertifizierungs- und Bewertungssysteme

235

One Planet Communities [GB, 2008, 6] BREEAM Communities [GB, 2009+12, 7] DGNB-NSQ [D, 2011/ 2012, 20] TÜV Siedlung [D, 2007, 10]

LEED-ND [USA, CN, 2009, 122]

CASBEE-UD [JPN, 2007]

SMEO-Quartiere [CH, 2011, 18]

Estidama Community [UAE, 2010, 6] BCA Green Mark for Districts [SG, 2009] GreenStar Communities [AUS, 2012, 1]

Abb. 1

Ziele haushälterisches Bodenmanagement

Standardindikatoren

Zusatzindikatoren

1. Siedlungs- und Verkehrsfläche

13. Zuwachs von Siedlungsflächen innen:außen

2. Intensität der Flächennutzung

14. Baulandmobilisierung im Bestand

3. Schutzflächen 4. Wiedernutzung von Brachen stadtverträgliche Mobilitätssteuerung

5. gefahrene Kilometer von Bus und Bahn

15. Gesamtlänge des Fahrradwegenetzes

6. Pkw-Dichte

16. Pkw-Nutzung in der Stadt (Modal-Split) 17. ÖPNV-erschlossener Siedlungsbereich 18. Verkehrssicherheit (Verkehrsopfer)

vorsorgender Umweltschutz sozialverantwortliche Wohnungsversorgung standortsichernde Wirtschaftsförderung

7. Restmüll

19. CO2-Ausstoß

8. Trinkwasserverbrauch

20. Energieverbrauch

9. Fortzüge ins Umland

21. Grundversorgung

10. Wohngeld

22. Wohnungseinbrüche

11. Arbeitslosenquote

23. Flächenbedarf von Arbeitsplätzen

12. Pendlersumme

24. lokale Wirtschaftsstruktur

Abb. 1 Verteilung von Zertifizierungssystemen für Stadtquartiere (Blau sind Länder mit zertifizierten Quartieren. Angabe Ursprungssystem, Version, Anzahl der zertifizierten Projekte, Stand 07/2013) Abb. 2 Übersicht der Indikatoren aus dem ExWoStForschungsfeld »Städte der Zukunft«

Abb. 2

Development (LEED-ND)9, One Planet Communities oder BREEAM Communities,10 finden hauptsächlich aus dem angloamerikanischen Raum kommend Eingang in den deutschen Markt (Abb. 1)11. In Deutschland selbst gibt es das vom TÜV Rheinland für die THS Wohnen entwickelte System »Lebensqualität in Siedlungen«12 und das System der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) »Neubau Stadtquartiere«,13 das im nächsten Abschnitt näher beschrieben wird. Jedoch verfügt man auch in anderen Teilen der Welt über Zertifizierungssysteme für Stadtquartiere mit ganz unterschiedlichen Ansätzen in der Entwicklung bzw. in der Anwendung,14 auf S. 236/237 sind diese tabellarisch zusammengestellt. Gemessen an der Anzahl ausgezeichneter Quar-

tiere, ist das seit 2009 bestehende US-amerikanische Zertifizierungssystem LEED-ND mit 122 Projekten weltweit gesehen derzeit Marktführer, wobei seit der Pilotphase im Jahr 2007 nur 21 weitere Quartiere (vor-)zertifiziert wurden. An zweiter Stelle steht das erst seit 2012 als Marktversion etablierte Zertifizierungssystem der DGNB »Neubau Stadtquartiere« mit 20 Quartieren. Das 2009 eingeführte BREEAM-Communities-System aus Großbritannien belegt mit sieben (vor-)zertifizierten Quartieren den dritten Rang. Diese drei Systeme sind als einzige auch international anwendbar. Fertiggestellte und bewertete Quartiere gibt es derzeit nur beim DGNB System. Bemerkenswerterweise kann das seit 2006 und damit am längsten bestehende System CASBEE for Urban Development aus Japan bisher nur ein zertifiziertes Quartier aufweisen.

9 U.S. Green Building Council 2009 10 Desai 2010; BRE Global 2008 11 Pahl-Weber et al. 2009, S. 8 12 THS 2007 13 DGNB 2012 14 Anders 2012

ExWoSt Mit dem Forschungsprogramm »Experimenteller Wohnungs- und Städtebau« (ExWoSt) fördert der Bund innovative Planungen und Maßnahmen zu wichtigen städtebau- und wohnungspolitischen Themen.

236

Kapitel 6 — Werkzeuge

DGNB – Neubau Stadtquartiere (NSQ)

BREEAM – Communities

CASBEE – Urban Development (UD)

Organisation

U.S. Green Building Council (USGBC)

Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen e. V. (DGNB)

British Research Establishment (BRE)

Japan Green Building Council (JaGBC), Japan Sustainable Building Consortium (JSBC)

Informationen

Hauptsitz in Washington (USA) NPO, NGO gegründet 1993 www.usgbc.org

Hauptsitz in Stuttgart (D) NPO, NGO gegründet 2007 www.dgnb.de

Hauptsitz in London (GB) staatliche Organisation gegründet 1990 www.breeam.org

Hauptsitz in Tokio (J) NPO, NGO gegründet 2006 www.ibec.or.jp/CASBEE/english

Art des Systems

internationales Zertifizierungssystem Neubau Systemstart 2009

internationales Zertifizierungssystem Neubau Systemstart 2011

internationales Zertifizierungssystem Neubau Systemstart 2009

internationales Zertifizierungssystem Neubau Systemstart 2006

Abgrenzung zu anderen Systemen

Fokus auf Lage und Nutzung des Quartiers

ganzheitliche Betrachtung, Lebenszyklusbetrachtung (LCC, LCA), Zielwert orientiert, zusätzlich Systemvarianten für Gewerbequartiere und Industriestandorte

Fokus auf Lage und Nutzung des Quartiers

ganzheitliche Betrachtung

Anzahl der Quartiere / davon international

122/28

20 /7

7/1

1/0

Standorte der Quartiere

USA, Canada, China, Malaysia

Deutschland, Luxemburg, Schweiz

Großbritannien

Japan

bekannte Projekte

Dockside Green (Victoria, CN), Twinbrook Station (Rockville, Maryland, USA), Emeryville Marketplace (Kalifornien, USA)

Europa-Viertel West (Frankfurt/M., D), Belval (L), Potsdamer Platz (Berlin, D), Carlsberg (Kopenhagen, DK)

MediaCityUK (Manchester, GB)

Koshigaya City Saitama, Koshigaya Lake Town (J)

Auszeichnungsstufen

Platin, Gold, Silber, Zertifiziert

Gold, Silber, Bronze

Outstanding, Excellent, Very Good, Good, Pass

Excellent, Very Good, Good, Fairly Poor, Poor

Mindestanforderungen

1. Smart Location 2. Imperiled species a. Ecological Communities 3. Agricultural Land Conservation 4. Floodplain Avoidance 5. Walkable Streets 6. Compact Development 7. Connected a. Open Community 8. Certified Green Building 9. Minimum Building Energy 10. Water Efficiency 11. Construction Activity Pollution Prevention

1. min. 2 ha 2. öffentliche Zugänglichkeit 3. Wohnanteil 10 – 90 % 4. Einverständnis aller Eigentümer 5. weitere Grenzwerte innerhalb der Kriterien in den Bereichen Natur-, Klimaschutz, Lage, Infrastruktur, ÖPNV und Partizipation

spezifische Mindestanforderungen in den Bereichen: Klima & Energie, Gemeinschaft, Identität, Ökologie und Biodiversität, Transport, Ressourcen, Wirtschaft und Gebäude

k. A.

Phasen der Zertifizierung

1. Vorprüfung: max. 50 % Hochbau (optional) 2. Vorzertifikat: max. 75 % Hochbau 3. Zertifikat: 100 % Hochbau und Infrastruktur

1. Vorzertifikat: städtebaulicher Entwurf 2. Zertifikat Erschließung: min. 25 % Infrastruktur 3. Zertifikat Quartier: min. 75 % Hochbau und Freiflächen

1. Vorprüfung (optional) 2. Zertifikat (interim): Grobplanung, Baurecht nicht notwendig 3. Zertifikat (final): abgeschlossene Detailplanung

1. Vorzertifikat 2. Zertifikat 3. Post Occupancy Evaluation

Kosten Zertifizierung (zzgl. Steuer)

1. Gebühren Registrierung 1215 € 2. freiwillige Prüfung: 1823 € 3. Phase 2 /3: 14 580/8100 € bis zu 20 ha + 284 € für jeden weiteren Hektar, ab 320 ha indiv. Festpreis (für USGBC-Mitglieder, Umrechung 1 USD = 0,81 €)

Phase 1: 4000 – 8000 € Phase 2: 10 000 – 26 000 € Phase 3: 15 000 – 31 000 € (für DGNB Mitglieder, Kosten abhängig von Projektgröße)

1. Registrierung: 580 € 2. Gebühren: Step 1: 2900 € Step 2 und 3: 2300 €

23 800 – 35 200 € für Projekte in Japan (2,3 – 3,4 Mio. Yen)

Publikationen

LEED for Neighborhood Development Reference Guide

DGNB-Handbuch Stadtquartiere

BREEAM Communities, Technical Guidance Manual, Version 1

Technical Manual 2007 Edition (downloadbar)

Internetdokumente

www.usgbc.org/DisplayPage. aspx?CMSPageID=148

www.dgnb-system.de/de/ nutzungsprofile/alle-nutzungsprofile/quartiere.php

www.breeam.org/page. jsp?id=372

www.ibec.or.jp/CASBEE/ english/download.htm

Publikationen

Details

Anwendung

Besonderheiten

Organisation

Systembezeichnung

LEED – Neighborhood Development (ND)

Abb. 3 Systeme zur Nachhaltigkeitsbewertung von Stadtquartieren im Vergleich (Stand 07/2013)

6.4 — Zertifizierungs- und Bewertungssysteme

237

TÜV/ THS – Lebensqualität in Siedlungen

Estidama Pearl Community Rating System

GreenStar-Communities

SMEO – Quartiere

One Planet Communities

TÜV Rheinland/ THS (Nachfolgegesellschaft der THS ist die Vivawest)

Abu Dhabi Urban Planning Council

Green Building Council Australia (GBCA)

Bundesämter für Energie (BFE) und Raumentwicklung (ARE) der Schweiz

BioRegional Development Group (BDG)

Hauptsitz in Köln (D) NGO gegründet 1872 www.tuv.com

Hauptsitz in Abu Dhabi (UAE) staatliche Organisation gegründet 2007 http://upc.gov.ae

Hauptsitz in Sydney (AU) NPO, NGO gegründet 2002 www.gbca.org.au

Hauptsitz in Bern (CH) staatlich – www.smeo.ch

Hauptsitz in Wallington (GB) NPO, NGO gegründet 1992 www.oneplanetcommunities.org

nationales Zertifizierungssystem Bestand Systemstart 2007

nationales Zertifizierungssystem Neubau Systemstart 2010

nationales Zertifizierungssystem Neubau Systemstart 2012

nationales Planungswerkzeug Neubau Systemstart 2011

internationale Planungsmethode Neubau und Bestand Systemstart 2008

Zertifizierung Bestand, Fokus Wohnen, keine ökonomische Betrachtung, internes Qualitätsmanagement

zugeschnitten auf regionales Klima, Gesetze und Kultur, staatlich anerkannt, integraler Entwicklungsprozess

zugeschnitten auf regionales Klima, Gesetzte und Kultur

Planungswerkzeug (online)

Monitoring des Quartiers über 20 Jahre, inkl. Lebensstilbetrachtung, keine ökonomische Betrachtung

10/0

6 /0

0 (Pilotphase im Juni 2012 gestartet)

18 /0

6/3

Deutschland (Ruhrgebiet)

Abu Dhabi (UAE)



Schweiz (Nord, West)

Großbritannien, USA, Portugal

Innenhafen (Duisburg), Schüngelbergsiedlung (Gelsenkirchen), Siedlung Fürst Hardenberg (Dortmund)

Al Bateen Park, Al Sila’a Residential, Al Ghareba Housing, Military Officers Accommodation, Al Shahama Residence, Al Raha Gardens

The Loop (Canberra, AU, Pilotprojekt)

EUROPAN 9 – Gros Seuc (Delémont, CH)

BedZED (London, GB)

Qualitätssiegel (ja /nein)

1 – 5 Perlen

4 – 6 Sterne

keine

Action Plan (ja /nein)

1. min. 100 Wohneinheiten 2. private und öffentliche Freifläche im Wohnumfeld 3. Serviceleistungen 4. regelmäßige Mieterbefragung 5. gesundheitlich unbedenkliche Baustoffe 6. Erreichen von 50 % der möglichen Gesamtpunktzahl

1. min. 1000 und max. 30 000 Bewohner 2. integraler Entwicklungsprozess 3. natürliche Systeme 4. lebenswerte Gemeinschaften 5. sparsamer Umgang mit Wasser 6. erneuerbare Energien 7. ressourcenschonende Materialien

1. min. 4 Gebäude, kein Maximum 2. Mischnutzung

keine

keine (jedes Projekt wird einzeln beurteilt)

1. Zertifikat: bestehendes Quartier 2. Post Occupancy Evaluation (nach 1 und 3 Jahren)

1. Vorzertifikat: Rahmenplan 2. Zertifikat: Bau 3. Post Occupancy Evaluation (2 Jahre nach Fertigstellung)

k. A.



keine

ca. 5000 €

k. A.

50 300 € für Pilotphase (60 000 AUD)

keine

1. Action Plan (Erarbeitung mit Vertretern von BioRegional) 2. Jährliche Kosten für Monitoring, Werbung und Technische Beratung



Estidama Pearls Rating Systems

Submission Guideline (Shop)



One Planet Communities: A Real Life Guide to Sustainable Living



www.estidama.org/pearl-ratingsystem-v10/pearl-communityrating-system.aspx

www.greenstarcommunities. org.au

www.nachhaltigequartierebysmeo.ch

www.oneplanetcommunities.org

238

Kapitel 6 — Werkzeuge

soziale Qualität technische Qualität

[%]

Ökologie Ökonomie

Prozessqualität Sonderbereich

35

30

25

20

15

10

5

0 DGNB

LEED

BREEAM

Abb. 4

Die zehn One-PlanetPrinzipien 1. kein CO2 Ausstoß (zero carbon) 2. kein Abfall (zero waste) 3. nachhaltige Verkehrsplanung (sustainable transport) 4. nachhaltige Materialien (sustainable materials) 5. lokale und nachhaltige Nahrungsmittel (local and sustainable food) 6. nachhaltiger Wassereinsatz (sustainable water) 7. Natur- und Tierschutz (land use and wildlife) 8. Kultur- und Denkmalschutz (culture and heritage) 9. fairer Handel und lokale Wirtschaft (equity and local economy) 10. Gesundheit und Lebensqualität (health and happiness)

Besonders interessant ist der One-Planet-Communities-Ansatz. Hierbei handelt es sich eigentlich weniger um ein Zertifizierungssystem, sondern vielmehr um ein Planungswerkzeug, dessen Ziel ein stetiges Monitoring eines Quartiers über den gesamten Lebenszyklus ist. Zu Beginn der Planung wird gemeinsam mit Mitarbeitern des One-Planet-Communities-Programms ein Aktionsplan (Action Plan) erarbeitet. Ein unabhängiges Gremium überprüft diesen in jährlichen Abständen und wenn nötig werden planerische Maßnahmen eingeleitet, um Missstände zu beheben. Kosten entstehen einmalig für die Entwicklung des Aktionsplans. Hinzu kommt ein jährlicher Beitrag für die Überprüfung des Plans, technische Beratung und sonstige Aktivitäten der Organisation (u. a. für die Bekanntmachung der Projekte).

DGNB System für nachhaltige Stadtquartiere Das von der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen entwickelte System »Neubau Stadtquartiere« zeichnet sich durch die ganzheitliche Betrachtung von ökologischen, ökonomischen und sozialen Aspekten aus und ist damit das einzige System, das auch der wirtschaftlichen Dimension von Nachhaltigkeit besondere Beachtung schenkt. Bei der Betrachtung über den gesamten Lebenszyklus werden alle mit der Entwicklung des Quartiers verbundenen Emissionen und Kosten systematisch erfasst und bewertet –

6.4 — Zertifizierungs- und Bewertungssysteme

Nr.

Kriterium/Indikatoren

ENV

ökologische Qualität

ENV 1.1 ENV 1.2 ENV 1.3 ENV 1.4 ENV 1.5

ENV 2.5 ENV 2.6

Ökobilanz Gewässer- und Bodenschutz Veränderung des Stadtteilklimas Artenvielfalt und Vernetzung Berücksichtigung von möglichen Umwelteinwirkungen Flächeninanspruchnahme Gesamtprimärenergiebedarf und Anteil erneuerbarer Primärenergie energieeffiziente Bebauungsstruktur ressourcenschonende Infrastruktur, Erdmassenmanagement lokale Nahrungsmittelproduktion Wasserkreislaufsysteme

ECO

ökonomische Qualität

ECO 1.1 ECO 1.2 ECO 2.1 ECO 2.2

Lebenszykluskosten fiskalische Wirkung auf die Kommune Wertstabilität Flächeneffizienz

SOC

soziokulturelle und funktionale Qualität

SOC 1.1 SOC 1.2

soziale und funktionale Mischung soziale und erwerbswirtschaftliche Infrastruktur objektive/subjektive Sicherheit Aufenthaltsqualität in öffentlichen Räumen Lärm- und Schallschutz

ENV 2.1 ENV 2.2 ENV 2.3 ENV 2.4

SOC 2.1 SOC 2.2 SOC 2.3

Gewichtung

Anteil in % 22,5

239

Nr.

Kriterium/Indikatoren

SOC 3.1 SOC 3.2 SOC 3.3 SOC 4.1 SOC 4.2 SOC 4.3 SOC 4.4

Freiraumangebot Barrierefreiheit Nutzungsflexibilität und Bebauungsstruktur städtebauliche Einbindung städtebauliche Gestaltung Nutzung von Bestand Kunst im öffentlichen Raum

3 2 3 2 2

2,7 1,8 2,7 1,8 1,8

3 3

2,7 2,7

TEC

technische Qualität

2 2

1,8 1,8

TEC 1.1 TEC 1.2 TEC 1.3 TEC 1.4

1 2

0,9 1,8

TEC 2.1 TEC 3.1 TEC 3.2 TEC 3.3 TEC 3.4 TEC 3.5

Energietechnik effiziente Abfallwirtschaft Regenwassermanagement Informations- und Telekommunikationsinfrastruktur Instandhaltung, Pflege, Reinigung Qualität der Verkehrssysteme Qualität der MIV-Infrastruktur Qualität der ÖPNV-Infrastruktur Qualität der Radverkehr-Infrastruktur Qualität der Fußgänger-Infrastruktur

PRO

Prozessqualität

PRO 1.1 PRO 2.1 PRO 2.2 PRO 2.3 PRO 3.1 PRO 3.2 PRO 3.3 PRO 3.4

Partizipation Verfahren zur Konzeptfindung integrale Planung kommunale Mitwirkung Steuerung Baustelle, Bauprozess Vermarktung Qualitätssicherung und Monitoring

22,5 3 2 2 3

6,8 4,5 4,5 6,8 22,5

2 2

1,8 1,8

2 2

1,8 1,8

2

1,8

Gewichtung

Anteil in %

3 2 2

2,7 1,8 1,8

3 2 2 1

2,7 1,8 1,8 0,9 22,5

2 2 3 1

2,6 2,6 4,0 1,3

2 3 1 1 1 1

2,6 4,0 1,3 1,3 1,3 1,3 10,0

3 2 3 2 2 2 2 2

Abb. 5

vom Rohstoffabbau über die Herstellung und Verarbeitung bis hin zum Recycling der einzelnen Bestandteile. Die allein bei diesem System gegebene Orientierung der Bewertung an konkreten Zielen, beispielsweise der Unterschreitung der gesetzlichen Vorgaben für den Primärenergiebedarf von Gebäuden um 30 %, ermöglicht es, für das Projekt zugeschnittene individuelle Lösungen ohne systemspezifische Vorgaben zu entwickeln. Das System trägt somit dazu bei, planerische Innovationen zur fördern. Die Abgrenzung zu Gebäudesystemen formuliert die DGNB wie folgt: »Das DGNB System für Stadtquartiere ergänzt die Gebäudeprofile entsprechend der DGNB Grundsätze. Es betrachtet insbesondere den Bereich zwischen den Gebäuden, die Infrastruktur sowie den Quartiersstandort. Diese Faktoren beeinflussen maßgeblich die Qua-

lität eines Stadtquartiers und definieren den Rahmen für eine nachhaltige Entwicklung der Gebäude. Ebenso werden übergeordnete Konzepte betrachtet – beispielsweise für den Umgang mit Energie, Wasser und Abfall. Die Gebäude selbst müssen für eine Quartierszertifizierung nicht zertifiziert sein und werden nur mit Basiswerten in der Bewertung berücksichtigt. (1) Das Nutzungsprofil ›Neubau Stadtquartiere‹ (NSQ) betrifft neu errichtete und geplante Quartiere, welche jedoch Bestandselemente enthalten dürfen. (2) Das Nutzungsprofil ›Neubau Stadtquartiere‹ (NSQ) bewertet insbesondere die Infrastruktur und die öffentlichen Räume im Planungsgebiet. (3) Die Gebäude werden durch Basiswerte mit einbezogen. Ebenso wird teilweise die Umgebung in der Bewertung berücksichtigt.«15

Abb. 4 Vergleich und Schwerpunkte der Zertifizierungssysteme für Quartiere von DGNB, LEED und BREEAM nach Gewichtung der einzelnen Themenfelder (bei LEED und BREEAM sind die einzelnen Kriterien den Themenfeldern nach DGNB zugeordnet) Abb. 5 Übersicht der Kriterien des DGNB Nutzungsprofils »Neubau Stadtquartiere, Version 2012«

15 DGNB 2012

1,7 1,1 1,7 1,1 1,1 1,1 1,1 1,1

240

Kapitel 6 — Werkzeuge

ökologische Qualität 22,5 %

ökonomische Qualität 22,5 %

soziokulturelle u. funktionale Qualität 22,5 %

Vorzertifikat (Phase 1)

Zertifikat (Phase 2)

Zertifikat (Phase 3)

Entwurf

Planung / Erschließung

Quartier

städtebaul. Entwurf

technische Qualität 22,5 %

min. 25% Infrastruktur, altern.: B-Plan und städtebaul. Verträge

Prozessqualität 10 % Gültigkeit 3 Jahre Abb. 6

Gültigkeit 5 Jahre

min. 75% Hochbau sowie öffentliche Frei- und Verkehrsflächen

Gültigkeit unbegrenzt

Abb. 7

Bewertungsstufen und Gewichtung 16 Anders 2012

Abb. 6 Gewichtung der Themenfelder im DGNB System für Stadtquartiere Abb. 7 Bewertungsstufen beim DGNB System für Stadtquartiere

Weitere Informationen • Keßling, Britt; Reimoser, Cornelia: Nachhaltige Stadtentwicklung – in ein Zertifikat fassbar? In: DETAIL Green 01/2011, S. 84–89 • Koch, Andreas; Neumann, Maik W.: Leitfaden für eine nachhaltige Stadtentwicklung. Das neue DGNB-Zertifizierungsprofil »Neubau nachhaltige Stadtquartiere«. In: greenbuilding. Nachhaltig Planen, Bauen und Betreiben 10/2011, S. 2–7 • Ebert, Thilo; Eßig, Natalie; Hauser, Gerd: Zertifizierungssysteme für Gebäude. Nachhaltigkeit bewerten, internationaler Systemvergleich, Zertifizierung und Ökonomie. München 2010

Da sich die Entwicklung von Stadtquartieren über einen langen Zeitraum erstreckt, in dem oft auch die Eigentümer wechseln, wurde neben dem Vorzertifikat (Phase 1) auf Ebene des städtebaulichen Entwurfs ein weiteres Zertifikat für die Planung (Phase 2) eingeführt, für das mindestens 25 % der Infrastruktur gebaut sein müssen. Den Abschluss bildet das Zertifikat für das zumindest zu 75 % fertiggestellte Quartier (Phase 3). Das Vorzertifikat ist dabei drei Jahre, das Zertifikat für die Planung fünf Jahre und das Zertifikat für das Quartier unbegrenzt gültig (Abb. 7). Die Gewichtung der Themenfelder bei den Stadtquartieren entspricht der Systematik der DGNB Gebäudesysteme und beruht auf einem Gleichgewicht der ökologischen, ökonomischen sowie der soziokulturellen und funktionalen Qualität (Abb. 6). Einzige Besonderheit des Systems für Stadtquartiere ist, dass die bei den Gebäudesystemen separat ausgewiesene Standortqualität hier in die Kriterien integriert ist. Die Lage hat somit wesentlichen Einfluss auf die Gesamtbewertung des Stadtquartiers.

Ziele und Kriterien Die übergeordneten Ziele des DGNB Nutzungsprofils für Stadtquartiere sind es, die Umwelt und natürlichen Ressourcen zu schonen, den Komfort und das Wohlbefinden der Nutzer des Quartiers zu stärken sowie die anfallenden Kosten über den gesamten Lebenszyklus zu minimieren. Hierfür gibt es einen stadtquartiersspezifischen Kriterienkatalog, der sich an den Grundzügen der DGNB Systematik orientiert, jedoch inhaltlich komplett neu erarbeitet ist. So wird auch in diesem System den Themen Ökobilanz und Lebenszykluskosten besondere Beachtung geschenkt. Zusätzlich werden weitere Kriterien wie beispielsweise die Veränderung des Stadtteilklimas, Artenvielfalt und Vernetzung, die Quali-

tät der Verkehrssysteme oder auch das Regenwassermanagement in die Betrachtung miteinbezogen. Abb. 5 (S. 239) zeigt die Kriterien für Stadtquartiere sowie deren prozentualen Anteil am Gesamtsystem. An weiteren Systemvarianten für Gewerbequartiere und Industriestandorte wird derzeit gearbeitet.16

Zusammenfassung Auch wenn in der Fachwelt die Zertifizierung von Städten oder Quartieren teilweise noch auf Kritik stößt, bietet sie eine Möglichkeit, die Qualität eines Projekts in jeder Phase der Entwicklung nach objektiven Kriterien zu bewerten und transparent zu kommunizieren. Der Zertifizierungsprozess zwingt alle Beteiligten, zu Beginn des Projekts verbindliche, gemeinsame Ziele zu definieren, die regelmäßig evaluiert werden können. Somit kann der einer Zertifizierung zugrunde liegende Kriterienkatalog auch als Planungs- und Steuerungsinstrument dienen, um die Auswirkungen von Planungsentscheidungen auf die Nachhaltigkeit eines Projekts zu bewerten. Gleichzeitig bieten Zertifizierungssysteme die Möglichkeit, Projekte überregional und international zu vergleichen, was insbesondere für Investoren und große Konzerne von Interesse ist. Eine Zertifizierung mit ihren geringen Kosten im Vergleich zu denen der Gesamtquartiersentwicklung bringt deutliche Vorteile mit sich. Natürlich sind Energieeinsparungen oder die Verbesserung der Aufenthaltsqualität in öffentlichen Räumen nicht dem Zertifizierungsprozess direkt gutzuschreiben, jedoch kann dieser dazu führen, dass frühzeitig alle relevanten Aspekte berücksichtigt und intelligente Konzepte entwickelt werden. Des Weiteren lassen sich aus ökonomischer Sicht höhere Renditen bei zertifizierten gegenüber nicht zertifizierten Projekten erzielen.

6.5 — Werkzeuge zur Entscheidungsunterstützung

241

6.5

Werkzeuge zur Entscheidungsunterstützung Ste ph an Anders

D

ie nachhaltige Planung von Städten und Quartieren ist komplex. So hat beispielsweise die Nachverdichtung eines Stadtquartiers nicht nur Auswirkungen auf die Effizienz der Infrastruktursysteme, sondern auch auf die Durchlüftung, das Mikroklima und damit auf das Wohlbefinden der Bewohner – um nur einige von zahlreichen möglichen Wechselwirkungen zu nennen. Im Folgenden werden Werkzeuge und Methoden erläutert, die Planer bei komplexen Fragestellungen unterstützen und zu besseren und nachvollziehbareren Ergebnissen führen sollen.

Expertensysteme Expertensysteme sind Computerprogramme, die das Wissen von hochspezialisierten Experten zu einem eng begrenzten Thema bündeln und für Dritte nutzbar machen. Der besondere Reiz bei Expertensystemen liegt darin, dass ein einmal definierter Prozess zur Analyse oder zur Lösung eines Problems von einer Vielzahl an Personen schnell abrufbar ist. Auch bieten sie die Möglichkeit, das vorhandene Fachwissen zu speichern und für nachfolgende Generationen verfügbar zu machen. In der Anfangszeit von Expertensystemen in den 1960er-Jahren setzte man noch große Hoffnungen darauf, dass diese Technologie einen wesentlichen Beitrag zum Forschungsbereich der künstlichen Intelligenz liefern könnte. Wie sich relativ schnell herausstellte, waren Expertensysteme bei komplexen Fragestellungen nur begrenzt einsatzfähig, da sie sich streng an das vorprogrammierte Muster der Lösungsfindung halten. Die Bewältigung komplexer Aufgaben bedarf jedoch

der Kombination des eigentlichen Themas mit weiterem, teilweise auch fachfremdem Wissen. Ein Expertensystem kann somit nie den kreativen Prozess beim städtebaulichen oder architektonischen Entwerfen ersetzen, jedoch zur Lösung einzelner standardisierter Teilprobleme beitragen. Einsatzfelder: Expertensysteme werden heute für verschiedene Spezialaufgaben verwendet, bei denen Experten nicht eingebunden sind oder die Denkleistung eines Menschen aufgrund der vielfältigen Daten und Zusammenhänge an ihre Grenzen stößt. Im Baubereich finden Expertensysteme in unterschiedlichen Gebieten Anwendung: • Verwaltung, Baudokumentation • Analyse, Diagnose und Prognose (Ökologie, Demografie, Archäologie, typische Bauschäden, Hochwasserfrühwarnung)1 • Dateninterpretation (z. B. Gefährdungsabschätzung von Altlasten, geologische Erkundung, Messung) • Überwachung/Steuerung (z. B. Baustelle, Bauablauf, Baumaschineneinsatz, Steuerung von Maschinen und Robotern, Energiemonitoring und Steuerung)2 • Organisations- und Zeitplanung • Optimierung (z. B. Statik, Aufzüge, Energiebedarf Gebäudebestand)3 • Stadtplanung (z. B. Umweltverträglichkeitsprüfung, Planung von Häfen)4 • Gebäudeplanung (z. B. automatisierte Verlegung der Installationen,5 Bauablaufplanung)6 Bewertung für die Quartiersplanung: Auch wenn Expertensysteme bei der Planung von nachhaltigen Quartieren den Menschen nicht ersetzen können, so können sie ihn bei standardisierten Fragestellungen unterstützen und damit den personellen Aufwand sowie die damit verbundenen Kosten reduzieren.

1 2 3 4 5 6

Disse 2007 Feldmann 2008 Schmidt 2013 Bertram 2004 Hovestadt et al. 2008 Mikulakova 2010

242

Kapitel 6 — Werkzeuge

Abb. 1

Abb. 2

7 8 9 10 11 12

Herzig 2007 Jander et al. 2009, S. 13 www.refina-info.de Meadows et al. 1972 Vester/von Hesler 1980 Vester 2012

Weitere Informationen • Entscheidungsunterstützungssysteme für die nachhaltige Flussgebietsbewirtschaftung. DWAThemen 02/2011. • Fisch, Rudolf; Beck, Dieter (Hrsg.): Komplexitätsmanagement. Methoden zum Umgang mit komplexen Aufgabenstellungen in Wirtschaft, Regierung und Verwaltung. Wiesbaden 2004 • Kurbel, Karl: Entwicklung und Einsatz von Expertensystemen. Eine anwendungsorientierte Einführung in wissensbasierte Systeme. Berlin et al. 1992 • Pommer, Alexandra: Entscheidungsunterstützung in der Projektentwicklung. Weimar 2007 • Wilms, Falko E. P. (Hrsg.): Wirkungsgefüge. Einsatzmöglichkeiten und Grenzen in der Unternehmensführung. Bern 2012 • Wright, Jeff R.; Wiggins, Lyna L.; Kim, T. John (Hrsg.): Expert Systems. Applications to Urban Planning. New York 2012 • Zeiher, Marco: Ein Entscheidungsunterstützungsmodell für den Rückbau massiver Betonstrukturen in kerntechnischen Anlagen. Diss. Universität Karlsruhe. Karlsruhe 2009

Entscheidungsunterstützungssysteme (DSS) Entscheidungsunterstützungssysteme (Decision Support Systems – DSS) sind computerunterstützte Systeme, die je nach Fragestellung umfangreiche Informationen analysieren, übersichtlich visualisieren und damit Entscheidungsträger bei komplexen Fragestellungen objektiv unterstützen können. Das besondere Potenzial liegt in der Schnelligkeit und Analysefähigkeit solcher Systeme. So können im Falle einer Katastrophe alle vorhandenen Informationen analysiert, die Auswirkungen möglicher Entscheidungen simuliert und damit schnellere und bessere Entscheidungen getroffen werden. Einsatzfelder: Neben dem Katastrophenmanagement kommen solche Systeme u. a. bei der Landnutzungsplanung,7 der Flächennutzungsplanung, dem Naturschutz oder auch bei Personalentscheidungen zum Einsatz. Ein Entscheidungsunterstützungssystem zur ganzheitlichen Evaluation von Nutzungsstrategien für Brachflächen stellt die Software Eugen dar. 8 Bewertung/Nutzen für die Quartiersplanung: Das Problem heutzutage ist nicht die Menge der zur Verfügung stehenden Informationen zu einem Projekt – ausgedruckt oft mehrere Kilometer Aktenorder –, sondern vielmehr, die für eine spezifische Entscheidung relevanten Informationen mit vertretbarem Aufwand zu generieren. Hierzu können computerunterstützte Entscheidungswerkzeuge einen wertvollen Beitrag leisten. Nicht umsonst setzt man große Hoffnungen in diese Technologie.9

Qualitative Modelle Spätestens seit dem Buch »Die Grenzen des Wachstums«10 aus dem Jahr 1972, in dem die Welt als komplexes System beschrieben und so der Zusammenhang zwischen Umweltverschmutzung und Bevölkerungsentwicklung aufgezeigt wird, gibt es ein wachsendes Interesse an der Darstellung komplexer Systemen. So wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Untersuchungen in den Bereichen Systemtheorie, Kybernetik sowie quantitative Simulationsmodelle durchgeführt. Lassen sich technische oder physikalische Systeme wie Autos oder Sonnensysteme noch relativ einfach quantitativ beschreiben, so stößt man bei ökologischen oder sozialen Systemen mit der quantitativen Modellierung schnell an die Grenzen des Machbaren. Zum Beispiel handelt es sich bei der Steigerung des Wohlbefndens durch anspruchsvolle und am Nutzer orientierte Gestaltung des öffentlichen Raums um einen wichtigen Faktor, der jedoch nicht quantitativ beschrieben werden kann. Nun ist aber gerade die ganzheitliche Beschreibung eines Systems – auch wenn nur qualitativ möglich – unabdingbar bei der Untersuchung von komplexen Systemen wie einer Stadt oder einem Ökosystem. Einen Meilenstein setzten Frederic Vester und Alexander von Hesler 1980 mit dem von ihnen entwickelten Sensitivitätsmodell, das es ermöglicht, komplexe Systeme qualitativ zu beschreiben und zu analysieren.11 Darauf aufbauend verfasste Vester das Buch »Die Kunst vernetzt zu denken«, das als Grundlage für viele weitere Modellierungen und Softwarelösungen diente (Abb. 1– 3).12 Einsatzfelder: Aufgrund der Eigenschaft, schnell und einfach Zusammenhänge zu modellieren, eignen sich qualitative Modelle – neben der Untersuchung

6.5 — Werkzeuge zur Entscheidungsunterstützung

243

Abb. 3

von komplexen Systemen, deren Wechselwirkungen nicht alle quantitativ beschrieben werden können – u. a. auch für Präsentationen von Wirkungszusammenhängen sowie bei Planungs- und Ideenworkshops. Tools/Software: Beispiele für qualitative Modellierungswerkzeuge sind: • Sensitivitätsmodell Prof. Vester (www.frederic-vester.de) • Consideo Modeller (www.consideo-modeler.de) • Heraklit (www.vernetzt-denken.de) • STELLA: Software for Education (www.iseesystems.com) • Vensim Personal Learning Edition (http://vensim.com) • Dynasys (www.hupfeld-software.de, Freeware) • Powersim Studio (www.powersim.com) Bewertung für die Quartiersplanung: Auch wenn qualitative Modelle mit ihren nicht messbaren Ergebnissen in der Wissenschaft umstritten sind, bieten sie für die Modellierung komplexer Systeme viele Vorteile. Ein großes Plus liegt in der Geschwindigkeit. So müssen manche quantitativen Stadtklimasimulationen mehrere Tage rechnen, bis sie zu einem verwertbaren Ergebnis kommen. Qualitative Modelle hingegen können während eines Planungsworkshops erstellt und die Zusammenhänge vor Ort analysiert und diskutiert werden. Dies beugt Fehlentscheidungen vor, denn allzu oft verlassen sich Entscheider immer noch auf ihr Bauchgefühl, da sie den Ergebnissen der beratenden Experten nicht trauen.13 Letztendlich kann man nicht grundsätzlich sagen, dass quantitative Modelle zu bevorzugen sind. So wurde für eine Studie zur Reduktion des Krankheitsstands in einem Unternehmen ein qualitatives und ein quantitatives Modell angewendet. Beide Systeme kamen zu den gleichen Empfeh-

lungen, wobei der Aufwand für die quantitative Modellierung ein Vielfaches höher war. Einzig der wahrscheinliche Zeitpunkt und das mögliche Ausmaß einer Verbesserung der Situation konnte durch die Simulation genauer vorhergesagt werden.14 Je nach Fragestellung muss also zwischen qualitativen und quantitativen Modellen ausgewählt werden. Insbesondere bei der Planung von nachhaltigen Stadtquartieren mit vielen weichen Faktoren, die nicht quantitativ beschrieben werden können, sind qualitative Modelle eine interessante Möglichkeit, schnell zu verwertbaren Ergebnissen zu kommen.

Zusammenfassung Bei jeder Planung wird in bestehende Systeme eingegriffen. Die Beteiligten sind aufgrund der vielfältigen Wechselwirkungen zwangsläufig mit komplexen Fragestellungen konfrontiert. Mithilfe von qualitativen Modellen können diese Zusammenhänge für jedermann verständlich und transparent visualisiert und diskutiert werden. Allerdings ist die Entwicklung dieser Modelle mit einem gewissen Aufwand verbunden, denn es muss das Fachwissen unterschiedlicher Experten für jede Fragestellung neu zusammengebracht werden. Anders bei Entscheidungsunterstützungs- bzw. Expertensystemen. Diese zielen darauf ab, Expertenwissen zu häufig auftretenden Fragestellungen zu sammeln und für möglichst viele Anwender nutzbar zu machen. Jedoch lassen sich Fragestellungen zu Stadtentwicklungsprozessen nur teilweise standardisieren, und es gibt derzeit nur wenige Werkzeuge für die städtebauliche Praxis. Entscheidungsunterstützende Werkzeuge können allen Beteiligten neue Erkenntnisse für die Planung liefern.

Abb. 1 Die Einflussmatrix zeigt die Stärke der Wirkungen, die die Veränderung einer Variable auf jede andere ausübt. Abb. 2 Die Konsensmatrix nach dem Sensitivitätsmodell von Frederic Vester zeigt die ermittelte Rollenverteilung der Variablen innerhalb eines Systems aus vier Achsen: aktiv, passiv, kritisch, puffernd. Abb. 3 sogenannter Policytest zum Durchspielen verschiedener Wenn-DannReaktionen, nach dem Sensitivitätsmodell von Frederic Vester

13 Neumann 2012, S. 107 14 ebd., S. 104f.

K A P ITE L 7

Projekte

Kapitel 7 — Projekte

D

ie vorangegangenen Kapitel stellen die Herausforderungen, Prinzipien und Handlungsfelder für eine nachhaltige Stadt- und Quartiersplanung dar. Je nach Standort und spezifischen Ausgangsbedingungen gilt es, individuelle Konzepte zu entwickeln, die ökologische, ökonomische und soziale Kriterien berücksichtigen und untereinander abwägen. Dabei kann ein Quartier im ländlichen Raum im Regelfall z. B. nicht die gleiche Qualität der Verkehrsanbindung oder der Versorgung mit sozialer Infrastruktur bieten wie ein innerstädtisches Viertel in einer Großstadt. Dafür verfügt das Quartier im ländlichen Raum über andere Potenziale, wie z. B. die Bereitstellung großzügiger Grün- und Freiflächen für die Bewohner, was sich u. a. positiv auf das Mikroklima und die Artenvielfalt auswirkt. Es kann also nicht das nachhaltige Quartier schlechthin geben. Aus diesem Grund wurden für die Dokumentationen in diesem Kapitel bewusst ganz unterschiedliche Quartiere ausgewählt – solche, die nach dem Top-Down-Prinzip entstanden sind wie das Projekt Dockside Green im kanadischen Victoria und solche, die nach dem Bottom-Up-Prinzip entwickelt wurden wie die NDSM-Werft in Amsterdam; von extrem verdichteten Quartieren wie dem Potsdamer Platz in Berlin über Bauvorhaben im ländlichen Raum wie dem ecoQuartier in Pfaffenhofen bis hin zu Lowtech-Ansätzen wie bei dem Projekt New Ethiopian Sustainable Town (NEST) in Äthiopien. Insgesamt werden 14 Projekte vorgestellt, von denen jedes auf ganz unterschiedliche Art und Weise als nachhaltig einzustufen ist. Die Auswahl geht dabei auf eine umfassende Untersuchung von 140 nachhaltigen Modellquartieren zurück, die im Rahmen des Seminars »Nachhaltige Quartiersplanung – Projekte, Strategien, Handlungansätze« im Wintersemester 2012/2013 am Städtebau-Institut der Universität Stuttgart durchgeführt

wurde. Nähere Informationen zu einer Auswahl der Modellvorhaben, die im Rahmen des Seminars behandelt wurden, sind in der Zusammenstellung auf  S. 286ff. zu finden. Die betrachteten Projekte zeigen auf der einen Seite, dass bereits heute innovative und nachhaltige Quartiersentwicklungen möglich sind. Auf der anderen Seite ist klar zu erkennen, dass die meisten Vorhaben sich nur auf einen Teil der Nachhaltigkeit konzentrieren und kaum eine Entwicklung wirklich umfassend und ganzheitlich nachhaltig ist, wie es unserem Verständnis von Nachhaltigkeit entsprechen würde. Bei der Darstellung der 14 Projekte wird der Fokus folglich bewusst nur auf die Teilaspekte gelegt, die im jeweiligen Projekt gut umgesetzt wurden, wohlwissend das viele weitere Aspekte wichtig für den Erfolg des Quartiers sind. Für jedes Projekt gibt ein Netzdiagramm Überblick über die Stärken und Schwächen des jeweiligen Quartiers bietet. Dieses orientiert sich an den Themen des Kapitels »Handlungsfelder«, die für die Netzdiagramme qualitativ bewertet wurden (1 = durchschnittlich, 2 = überdurchschnittlich, 3 = Best Practice). In der nachfolgenden Tabelle (S. 247) sind die sieben wichtigsten Rahmenbedingungen einer Stadtquartiersentwicklung aufgeführt, die sich maßgeblich auf die inhaltliche Ausrichtung, die Planungs- und Entwicklungsstrategie sowie den Bauablauf auswirken. Die zu jeder Kategorie aufgeführten Aspekte sind aus der gängigen Literatur abgeleitet und wurden für einen internationalen Vergleich sinnvoll weiterentwickelt. Die hier dargestellten Quartiere sollen Anregungen geben, wie sich die umfassenden Aspekte der Nachhaltigkeit in konkreten Bauvorhaben unter den jeweiligen individuellen Rahmenbedingungen berücksichtigen lassen. Ziel der Dokumentationen soll es sein, eine ganzheitliche Herangehensweise an eine Aufgabenstellung aufzuzeigen, die Planer entsprechend in ihre Projekte einfließen lassen können.

245

246

im Projektteil (S. 248 – 285) dokumentierte Quartiere weitere Projekte (S. 286 – 289) Abb. 1 Lage der analysierten Quartiere

Petrisberg

NDSM-Werft

Barangaroo

GWL-Terrein

NEST – New Ethiopian Sustainable Town

Möckernkiez

Hammarby Sjöstad

Neckarbogen

247

Dockside Green

Bo01 – Western Harbour

ecoQuartier

Confluence

Carlsberg

Potsdamer Platz

Kapitel 7 — Projekte





Klimazone Tropen



Subtropen



gemäßigt





















Stadttyp nach Einwohnern Dorf, ländlicher Raum (