Mythisches Erzählen bei Hermann Hesse und Thomas Mann: Literarische und philosophische Analysen zu Mythos und Rationalität [1 ed.] 3110657066, 9783110657067, 9783110660241, 9783110657142, 2019946368

Die Studie befasst sich mit der Verhältnisbestimmung von Mythos und Rationalität im modernen philosophischen und literar

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Mythisches Erzählen bei Hermann Hesse und Thomas Mann: Literarische und philosophische Analysen zu Mythos und Rationalität [1 ed.]
 3110657066, 9783110657067, 9783110660241, 9783110657142, 2019946368

Table of contents :
Danksagung
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis
1. „Im Anfang war der Mythos“: Mythos und Moderne
2. Der Mythosdiskurs in der modernen Philosophie
3. Mythos und Psychologie: Der Mythosbegriff bei Hermann Hesse und Thomas Mann
4. Sinceritas und Ironie: Mythisches Erzählen bei Hermann Hesse und Thomas Mann
5. Zur Normativität mythischen Erzählens bei Hermann Hesse und Thomas Mann
Literaturverzeichnis

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Eva Knöferl Mythisches Erzählen bei Hermann Hesse und Thomas Mann

Hermaea

Germanistische Forschungen Neue Folge Herausgegeben von Christine Lubkoll und Stephan Müller

Band 150

Eva Knöferl

Mythisches Erzählen bei Hermann Hesse und Thomas Mann Literarische und philosophische Analysen zu Mythos und Rationalität

Als Dissertation genehmigt von der Philosophischen Fakultät und Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg unter dem Titel ‚Mythos und Rationalität in der Moderne. Philosophischer Diskurs und mythisches Erzählen bei Hermann Hesse und Thomas Mann.‘ Tag der mündlichen Prüfung: 06.11.2018 Vorsitzende des Promotionsorgans: Prof. Dr. Heike Paul Gutachter/in: Prof. Dr. Christine Lubkoll Prof. Dr. Jens Kulenkampff

ISBN 978-3-11-065706-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-066024-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-065714-2 ISSN 0440-7164 Library of Congress Control Number: 2019946368 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

| Meinen Eltern Angela Belz-Knöferl und Günter Knöferl gewidmet

Danksagung Für die fachliche Auseinandersetzung mit meiner Arbeit, den spannenden Austausch und die konstruktive Kritik möchte ich mich ganz herzlich bei Christine Lubkoll und Jens Kulenkampff bedanken, die mich bereits seit meiner Studienzeit an der FAU als wissenschaftliche Mentoren begleiten. Auch dem Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich gilt mein besonderer Dank für die Hilfe bei der Entzifferung einiger Mannscher Hieroglyphen. Ebenso möchte ich mich bei Simone Herbst, Susanne Rade und Marcus Böhm vom De GruyterVerlag für die gute Zusammenarbeit und bei Johanna Mauer für die unermüdliche Hilfe in Formatierungsfragen bedanken. Last, but surely not least gilt mein Dank meinen Eltern und Ben, deren Geduld, Liebe und Unterstützung mir erst ermöglich haben, dieses Buch zu schreiben.

https://doi.org/10.1515/9783110660241-202

Inhalt Danksagung |  VII Abkürzungsverzeichnis | XIII 1 1.1 1.2 1.3 1.4

„Im Anfang war der Mythos“: Mythos und Moderne | 1 Mythos und Rationalität in der Moderne | 1 Stand der Forschung | 5 Methodik und Vorgehen | 13 ‚Der Mythos‘: eine definitorische Annäherung | 17

2 Der Mythosdiskurs in der modernen Philosophie | 23 2.1 Mythen als prärationaler Weltzugang | 30 2.1.1 Arthur Schopenhauer (1786–1860) | 30 2.1.1.1 Die Duplizität der Welt als Wille und Vorstellung | 31 2.1.1.2 Der Metempsychose-Mythos | 36 2.1.1.3 Fazit | 39 2.1.2 Johann Jakob Bachofen (1815–1887) | 40 2.1.2.1 Bachofens Methode und Mythosbegriff | 41 2.1.2.2 Bachofens Theorie des Mutterrechts | 43 2.1.2.3 Alfred Baeumler als Bachofen-Interpret | 48 2.1.2.4 Fazit | 54 2.1.3 Sigmund Freud (1856–1939) | 55 2.1.3.1 Freuds Kulturtheorie | 56 2.1.3.2 Der Ödipuskomplex als Grundlage von Mythos und Religion | 58 2.1.3.3 Religion und Neurose | 61 2.1.3.4 Fazit | 63 2.2 Mythen als irrationale Lebensäußerung | 66 2.2.1 Friedrich Nietzsche (1844–1900) | 66 2.2.1.1 Zum Stellenwert des Mythos bei Nietzsche | 66 2.2.1.2 Das Zusammenspiel von apollinischem und dionysischem Prinzip im antiken Mythos | 70 2.2.1.3 Die Wiederkehr des Mythos in der Moderne | 75 2.2.1.4 Fazit | 79 2.2.2 Ludwig Klages (1872–1956) | 81 2.2.2.1 Kosmik und Lebensphilosophie | 81

X | Inhalt

2.2.2.2 2.2.2.3 2.2.2.4 2.2.2.5 2.2.3 2.2.3.1 2.2.3.2 2.2.3.3 2.2.3.4 2.3 2.3.1 2.3.1.1 2.3.1.2 2.3.1.3 2.3.1.4 2.3.1.5 2.3.1.6 2.3.2 2.3.2.1 2.3.2.2 2.3.2.3 2.3.2.4 3

Symbolisches Denken: Die Lehre von der ‚Wirklichkeit der Bilder‘ | 82 Kosmogonischer Eros und Pelasgertum | 86 Exkurs: Klages Verhältnis zum Nationalsozialismus | 91 Fazit | 93 Alfred Rosenberg (1893–1946) | 95 Rosenberg als ‚Chefideologe‘ des Nationalsozialismus | 95 Rosenbergs Mythosbegriff | 98 Die politischen Implikationen von Rosenbergs Mythosbegriff | 105 Fazit | 109 Mythen als transrationales Medium der Erkenntnis | 111 Carl Gustav Jung (1875–1961) | 111 Freud, Jung und der Mythos | 111 Jungs Mythosbegriff | 115 Die Funktion des mythischen Symbols | 122 Mythos und Moderne | 129 Exkurs: Jungs Verhältnis zum Nationalsozialismus | 133 Fazit | 136 Karl Kerényi (1897–1973) | 138 Humanismus und Psychologie | 138 Mythos und Mythologie | 140 Mythenforschung als humanistische Wissenschaft | 144 Fazit | 149

Mythos und Psychologie: Der Mythosbegriff bei Hermann Hesse und Thomas Mann | 151 3.1 Hermann Hesses Auseinandersetzung mit dem Mythos | 151 3.1.1 Hesses Mythosbegriff | 153 3.1.2 Hesses Rezeption des modernen Mythosdiskurses | 161 3.1.3 Fazit: Asiatische Philosophie und Psychoanalyse | 179 3.2 Thomas Manns Auseinandersetzung mit dem Mythos | 182 3.2.1 Thomas Manns Mythosbegriff | 184 3.2.2 Thomas Manns Rezeption des modernen Mythosdiskurses | 189 3.2.2.1 Die Irrationalisten | 191 3.2.2.2 Die Aufklärer | 201 3.2.3 Fazit: Die Formel ‚Mythos plus Psychologie‘ | 216

Inhalt | XI

4

Sinceritas und Ironie: Mythisches Erzählen bei Hermann Hesse und Thomas Mann | 222 4.1 Mythisches Erzählen als Abbild der Psyche bei Hermann Hesse | 227 4.1.1 Inhaltliche Aspekte: Mythos und Individuation | 228 4.1.1.1 Welche Mythen werden erzählt? | 228 4.1.1.1.1 Biblische und gnostische Mythen | 229 4.1.1.1.2 Östliche Mythen | 244 4.1.1.1.3 Antike griechische Mythen | 263 4.1.1.2 Die mythische Heldenreise | 270 4.1.2 Formale Aspekte: Mythisches Erzählen als Ausdruck des Einheitsgedankens | 282 4.1.2.1 Verdichtung und Beziehung durch Leitmotivik | 282 4.1.2.2 Typisierung und Aufspaltung der Totalität in eine Vielzahl | 295 4.1.2.3 Zeit und Raum | 300 4.1.2.4 Sinceritas: Sprache der Aufrichtigkeit | 306 4.1.3 Funktionale Aspekte: Mythos als Ausdruck psychischer Prozesse | 313 4.1.3.1 Die Heldenreise als Individuationsprozess | 314 4.1.3.2 Die ‚mythische Person‘ | 322 4.1.3.3 Mythos und Psychoanalyse in der Erzählung | 327 4.2 Entlarvungspsychologie und ironisches Spiel: Mythisches Erzählen bei Thomas Mann | 330 4.2.1 Inhaltliche Aspekte: Mythos zwischen ‚Heimsuchung‘ und Identitätsbildung | 334 4.2.1.1 Welche Mythen werden erzählt? | 334 4.2.1.1.1 Der Tod in Venedig | 334 4.2.1.1.2 Joseph und seine Brüder | 341 4.2.1.2 Die dionysische Versuchung | 357 4.2.1.2.1 Der Tod in Venedig | 359 4.2.1.2.2 Joseph und seine Brüder | 364 4.2.2 Formale Aspekte: Die ‚Umfunktionierung‘ mythischen Erzählens | 367 4.2.2.1 Leitmotivik zwischen Geschlossenheit und ironischer Brechung | 367 4.2.2.2 Typisierung und Individualität | 378

XII | Inhalt

4.2.2.3 4.2.2.4 4.2.3 4.2.3.1 4.2.3.2 4.2.3.3 5 5.1 5.2 5.3

Zeit und Raum | 385 Ironie und Humor zwischen Entlarvungspsychologie und Mittlertum | 392 Funktionale Aspekte: Die Humanisierung des Mythos | 410 Fortschritt | 411 Ironisierung und Humor | 415 Mittlertum und Humanismus | 417 Zur Normativität mythischen Erzählens bei Hermann Hesse und Thomas Mann | 424 Humanismus und ‚Drittes Reich‘ | 424 ‚Mythos als Psychologie‘ vs. ‚Mythos plus Psychologie‘ | 429 Romantisches Erbe und Modernität | 434

Literaturverzeichnis | 441

Abkürzungsverzeichnis BJ:

Jung, Carl Gustav: Briefe in drei Bänden. Hg. von Aniela Jaffé. Freiburg i.Br. 1972.

Briefe I–III:

Mann, Thomas: Briefe I-III. In: Werke – Briefe – Tagebücher. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Hg. von Heinrich Detering, Eckhard Heftrich, Hermann Kurzke, Terence J. Reed, Thomas Sprecher, Hans R. Vaget, Ruprecht Wimmer in Zusammenarbeit mit dem Thomas-MannArchiv der ETH Zürich. Bd. 21-23.1. Frankfurt a. M. 2002ff.

BWFJ:

Freud, Sigmund/Jung, Carl Gustav: Briefwechsel. Hg. von William

BWHM:

Hesse, Hermann/Mann, Thomas: Briefwechsel. Ungekürzte Ausg. Hg. v.

BWKM:

Kerényi, Karl/Mann, Thomas: Gespräch in Briefen. Zürich 1960.

McGuire/Wolfgang Sauerländer. Frankfurt a. M. 1974. Anni Carlsson und Volker Michels. Frankfurt a. M. 2003. FSA:

Freud, Sigmund: Studienausgabe. Hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. 2. korr. Aufl. Frankfurt a. M. 1972ff.

GB I–III:

Hesse, Hermann: Gesammelte Briefe. Bd. 1-3. Hg. von Ursula und Volker Michels. 6. Aufl. Frankfurt a. M. 1978-1982.

GKFA:

Mann, Thomas: Werke – Briefe – Tagebücher. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Hg. von Heinrich Detering, Eckhard Heftrich, Hermann Kurzke, Terence J. Reed, Thomas Sprecher, Hans R. Vaget, Ruprecht Wimmer in Zusammenarbeit mit dem Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich. Frankfurt a. M. 2002ff.

GW:

Mann, Thomas: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. 2., durchges. Aufl. Frankfurt a. M. 1974.

GWJ:

Jung, Carl Gustav: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Hg. von Marianne Niehus- Jung u.a. Freiburg i.Br. 1959-1995.

KSA:

Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2. Aufl. Berlin/New York 1988.

SW:

Hesse, Hermann: Sämtliche Werke. Hg. von Volker Michels. Frankfurt a. M. 2001ff

https://doi.org/10.1515/9783110660421-204

1 „Im Anfang war der Mythos“: Mythos und Moderne 1.1 Mythos und Rationalität in der Moderne In Zeiten wie der heutigen zeigt sich sowohl den überkommenen religiösen Bekenntnissen wie auch der Gelehrten-Philosophie gegenüber eine allgemeine Ungeduld und Enttäuschung; die Nachfrage nach neuen Formulierungen, neuer Sinngebung, neuen Symbolen, neuen Begründungen ist unendlich groß. In diesem Zeichen steht das Geistesleben unserer Zeit: Schwächung der überkommenen Systeme, wildes Suchen nach neuen Deutungen des Menschenlebens, Aufblühen zahlloser gutbesuchter Sekten, Propheten, Gemeinschaftsgründer, feistes Gedeihen des tollsten Aberglaubens.“1 Hermann Hesse Unsere höhere Literatur kommt mir vor wie ein hastiges Resümieren und parodierendes Rekapitulieren des abendländischen Mythos, rasch noch vor Einbruch der Nacht.2 Man muss dem intellektuellen Faszismus den Mythos wegnehmen und ihn ins Humane umfunktionieren. Ich tue längst nichts anderes mehr.3 Thomas Mann

In Bezug auf die Rolle des Mythos in der Moderne legen die beiden hier zitierten Aussagen Hermann Hesses und Thomas Manns zweierlei nahe: Erstens charakterisieren sie die Moderne als Epoche, in der eine irrationale ‚Mythos-Mode‘ in all ihren geistigen, gesellschaftlichen und politischen Ausformungen Hochkonjunktur hat. Zweitens grenzen sich beide von dieser Zeitströmung ab, ohne deshalb jedoch das Erzählen von Mythen aus ihrem literarischen Schaffen zu verbannen. Im Gegenteil: Beide Autoren setzten mythisches Erzählen auf ganz unterschiedliche Art und Weise als humanistische ‚Gegenwehr‘ ein, die sich gegen die politische Instrumentalisierung von Mythen und eine geistesgeschichtliche Strömung des Irrationalismus wendet. Die Tendenz zur „Remythologisierung“4 kann für die literarische Moderne allgemein als konstitutiv betrachtet werden: Im Sinne der ‚Dialektik der Aufklä-

|| 1 Hermann Hesse: Moderne Versuche zu neuen Sinngebungen. In: Sämtliche Werke. Hg. von Volker Michels. Bd. 13. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2002. [=SW] S. 479–484. Hier: S. 481. 2 Brief Manns an Theodor W. Adorno vom 30.10.1952. In: Ders: Briefe 1948–1955. Hg. von Erika Mann. Frankfurt a. M. 1965. S. 276. 3 Brief Manns an Karl Kerényi vom 7.09.1941. In: Mann, Thomas/Kerényi, Karl: Gespräch in Briefen. Zürich 1960. [=BWKM] S. 100. https://doi.org/10.1515/9783110660241-001

2 | „Im Anfang war der Mythos“: Mythos und Moderne

rung‘ gewinnt mythisches Erzählen in der Moderne trotz – oder gerade wegen – der aufklärerisch-rationalistischen Abkehr vom Mythos eine neue Aktualität. Das Spiel mit Formen des mythischen Erzählens erscheint zu Beginn des 20. Jahrhunderts geradezu als Modeerscheinung in Literatur und Philosophie, die im Kontrast zu der von Max Weber postulierten ‚Entzauberung der Welt‘ zu stehen scheint. Das belegt nicht nur die Fülle literarischer Neubearbeitungen mythischer Stoffe und Topoi (beispielsweise bei Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke, Alfred Döblin, James Joyce oder André Gide), sondern auch die Beschäftigung einer Vielzahl von Disziplinen mit dem Phänomen Mythos im 20. Jahrhundert – angefangen von der Philosophie und der Psychoanalyse über die klassische Philologie bis hin zur Ethnologie und Anthropologie. Nicht zuletzt ist auch die politische „parareligiöse fiebrige Aktualität“ des Mythischen „mit ihren faschistischen Obertönen“5 zu Beginn des Jahrhunderts ein Produkt der modernen ‚Mythos-Mode‘. Die Relevanz des Mythos als Bewältigungsform existentieller Unsicherheit wird angesichts der sich rasant steigernden Komplexität der Wirklichkeit gerade in der Moderne besonders virulent.6 Der exponentielle technische Fortschritt in Verbindung mit politischen Umwälzungen und der fortschreitenden Säkularisierung lässt eine Verunsicherung entstehen, die sich aus dem Rückgriff auf den Mythos eine ‚neue Sinngebung‘ verspricht, wie Hermann Hesse es formuliert. In einem Brief von 1927 beklagt er, dass die moderne Lebenswelt „unendlich rasch häßlich geworden“ sei und er glaube, dass „noch nicht oft innerhalb von 30 bis 40 Jahren das ganze Gesicht der Erde und Menschheit sich so verändert“7 habe.

|| 4 Simonis, Anette: Einleitung. Mythen als kulturelle Repräsentationen in den verschiedenen Künsten und Medien. In: Dies./Simonis, Linda (Hg.): Mythen in Kunst und Literatur. Tradition und kulturelle Repräsentation. Köln u. a. 2004. S. 1–26. Hier: S. 8. 5 Bohrer, Karl-Heinz (Hg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Frankfurt a. M. 1983. S. 7. 6 Zum Zusammenhang von Mythos und Moderne vgl. Assmann, Aleida/Assmann, Jan: Art. Mythos. In: Cancik, Hubert u. a. (Hg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Bd. 4. Stuttgart 1998. S. 179–200; Bohrer, Karl-Heinz (Hg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Frankfurt a. M. 1983; Jamme, Christoph: ‚Gott an hat ein Gewand‘. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart. Frankfurt a. M. 1991; Schmitz-Emans, Monika: Zur Einleitung. Theoretisches und literarische Arbeiten am Mythos. In: Dies./Lindemann, Uwe (Hg.): Komparatistik als Arbeit am Mythos. Heidelberg 2004. S. 9–38; Vietta, Silvio: Mythos in der Moderne. Möglichkeiten und Grenzen. In: Ders. (Hg.): Moderne und Mythos. München 2006. S. 11–24. 7 Brief Hesses an Julie Schürle vom 11.08.1927. In: Hesse, Hermann: Gesammelte Briefe. Bd. 2. 1922–1935. Hg. von Ursula und Volker Michels. Frankfurt a. M. 1979. [= GB II]. S. 184.

Mythos und Rationalität in der Moderne | 3

Die neuerliche Auseinandersetzung mit Mythen in der Moderne lässt sich aber nicht nur auf den Versuch reduzieren, auf Altvertrautes zur Absicherung gegen eine immer komplexer werdende Welt zurückzugreifen, sondern sie ist vor allem auch eine Auseinandersetzung mit den Grenzen der neuzeitlichen Rationalität. Im modernen Diskurs über den Mythos ist ein Überdruss am Vernunftbegriff der Aufklärung spürbar, dessen Wahrheitsanspruch nun zu absolut erscheint. Das Interesse am Mythos als „Gegenpol des Intellektualismus“8 dominiert die Literatur, Philosophie und Politik zu Beginn des 20. Jahrhunderts: seien es die Lebensphilosophie in der Nachfolge Nietzsches, die euphorische Bachofen-Rezeption der zwanziger Jahre, die Dämonisierung des städtischen Lebens mithilfe von mythischer Metaphorik in der expressionistischen Lyrik oder die Atlantis-Spekulationen eines Alfred Rosenberg. Mythen und mythisches Erzählen kommen immer dann zum Einsatz, wenn rationales Denken an seine Grenzen stößt oder seine Erklärungshoheit eingebüßt hat. Während die wissenschaftliche Erforschung des Phänomens Mythos noch im 19. Jahrhundert vor allem an der Rolle von Mythen als einer Art historisch überholtem „primitive[m] Gegenstück zur Wissenschaft“9 interessiert scheint, rückt im 20. Jahrhundert die Andersartigkeit des ‚mythischen Denkens‘ im Vergleich mit rationaler Erkenntnis in den Vordergrund. Der Mythos erscheint als „Gegenmodell“, das dazu dienen kann, „nach den Defiziten [der] eigenen Rationalität“10 zu fragen. Gleichzeitig lädt die Beschäftigung mit ‚mythischem Denken‘ aber auch dazu ein, „Kritik und Verstand für minderwertig zu halten und abzulehnen, und dafür das Herz und die Begeisterung zu preisen“11, wie Hermann Hesse diagnostiziert. Sowohl im philosophischen wie im politischen Bereich macht sich in der Moderne eine irrationalistische Strömung bemerkbar, die mythische Versatzstücke heranzieht, um das durch die Säkularisierung neu entstandene metaphysische Bedürfnis zu stillen. So werden beispielsweise die Nationalidee oder die nationalsozialistische Rassen-Ideologie „mit religiösen, heilsversprechenden Attributen versehen“ und germanische Mythen werden dazu herangezogen,

|| 8 Brief Hesses an J. B. Lang vom 19.12.1917. In: Hesse, Hermann/ Lang, Josef Bernhard: ‚Die dunkle und wilde Seite der Seele‘. Briefwechsel mit seinem Psychoanalytiker Josef Bernhard Lang. 1916–1944. Hg. von Thomas Feitknecht. Frankfurt a. M. 2006. S. 62. 9 Segal, Robert: Mythos. Eine kleine Einführung. Übers. v. Tanja Handels. Stuttgart 2007. S. 183. 10 Jamme, Christoph: Gott an hat ein Gewand. S. 11. 11 Brief Hesses an Heinrich Kiefer 1945. In: Hesse, Hermann: Gesammelte Briefe. Bd. 3. 1936– 1948. Hg. von Ursula und Volker Michels. Frankfurt a. M. 1982. [= GB III]. S. 282.

4 | „Im Anfang war der Mythos“: Mythos und Moderne

die „kulturelle und rassische Überlegenheit“12 eines Volkes zu behaupten. Diese politische Instrumentalisierung von Mythen und der hohe Stellenwert, den ‚mythisches Denken‘ als Sehnsuchtsmotiv einer gegen die neuzeitliche Rationalität gerichteten Philosophie einnimmt, veranlasst Thomas Mann dazu, die Moderne als Epoche zu charakterisieren, die von einer „Reformation des Mythos und des erneuten Kultus des Unteren“13 geprägt sei. Die Aktualität des Mythos in der Moderne, die in den beiden eingangs zitierten Aussagen Hermann Hesses und Thomas Manns in ihrer ganzen Spannweite anklingt – von den Auswüchsen des ‚tollsten Aberglaubens‘ bis hin zur vielzitierten ‚Humanisierung‘ des Mythos als Gegengift zu seiner faschistischen Vereinnahmung –, bildet den Ausgangspunkt der vorliegenden Studie. Dabei soll in einem Dialog zwischen dem philosophischen und dem literarischen Mythosdiskurs zum einen gezeigt werden, dass die Beschäftigung mit dem Mythos in der Moderne dazu dient, sich mit den Grenzen der Rationalität auseinanderzusetzen. Zum anderen soll nachgewiesen werden, dass die Bewertung des Verhältnisses von Mythos und Rationalität maßgeblich dazu beiträgt, eine Verschiebung in der Funktionalisierung mythischen Erzählens zu bewirken. Während in der Literatur um die Jahrhundertwende die Behandlung mythischer Stoffe im Zeichen ihrer „Ästhetisierung“14 steht, gewinnt mythisches Erzählen bei Hermann Hesse und Thomas Mann im Lichte der politischen Instrumentalisierung des Mythos einen normativen Charakter. In ihrer Auseinandersetzung mit philosophischen Mythostheorien entwickeln beide Autoren ein jeweils eigenes Konzept zum Verhältnis zwischen mythischem Erzählen und rationaler Erkenntnis, was sich auch in ihrem literarischen Schaffen niederschlägt. Ausgehend von einer Analyse des philosophischen Mythosdiskurses in der Moderne lässt sich die Genese dieser Mythos-Konzepte rekonstruieren und ihre Relevanz für die Funktion mythischen Erzählens in den Romanen und Erzählungen Hesses und Manns nachzeichnen.

|| 12 Ley, Michael: Mythos und Moderne. Über das Verhältnis von Nationalismus und politischen Religionen. Wien u.a. 2005. S 7f. 13 Mann, Thomas: Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte. In: Essays 3. S. 122–154. Hier: S. 138. Da Thomas Manns Essays zum Zeitpunkt der Abfassung des Manuskriptes noch nicht vollständig in der Fassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe erschienen sind, werden die Essays im Folgenden ergänzend nach der von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski herausgegeben Ausgabe zitiert (Frankfurt a. M. 1993–1997). 14 Assmann, Aleida/Assmann, Jan: Art. Mythos. In: Cancik, Hubert u. a. (Hg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Bd. 4. Stuttgart 1998. S. 179–200. Hier: S. 195.

Stand der Forschung | 5

1.2

Stand der Forschung

Die Forschungslage zum Verhältnis von Mythos und Rationalität in der Moderne ist ambivalent: Zwar befassen sich einerseits zahlreiche Studien im Allgemeinen mit der Stellung mythischen Erzählens in der modernen Literatur, allerdings gibt es andererseits kaum Arbeiten, die sich auf das Verhältnis von mythischem Erzählen und rationaler Erkenntnis im Speziellen beziehen. So finden sich neben den Bemühungen, eine interdisziplinär gültige Definition ‚des Mythos’ zu liefern15, eine Vielzahl von literaturwissenschaftlichen Untersuchungen, die die Stellung mythischen Erzählens in der modernen Literatur allgemein verorten16. Der Einbezug des philosophischen Diskurses ermöglicht im Vergleich zu rein literaturwissenschaftlich angelegten Untersuchungen dagegen einen tieferen Blick in den geistesgeschichtlichen Hintergrund der Mythos-Debatte. Die Kategorisierung der philosophischen Ansätze hinsichtlich ihrer Bewertung des Verhältnisses von Mythos und Rationalität stellt für die literaturwissenschaftliche Untersuchung ein Instrumentarium bereit, mit dessen Hilfe sich präzise nachvollziehen lässt, wie diese Bewertung auch den literarischen Einsatz von Mythen beeinflusst. Anhand einer Analyse der im Rahmen dieser Studie ausgewählten Romane von Thomas Mann und Hermann Hesse lassen sich zwei exemplarische Reaktionen auf den philosophischen Mythosdiskurs nachvollziehen, die für einen modernen ‚Umgang‘ mit dem Mythos charakteristisch sind. Wirft man einen Blick auf den Stand der Forschung zum Verhältnis Thomas Manns und Hermann Hesses zum Mythos, so bietet sich allerdings auch hier ein zweigeteiltes Bild: Während Thomas Manns Verhältnis zu Mythos und mythischem Erzählen in zahlreichen Einzelstudien erforscht worden ist17, beschäfti|| 15 Vgl. Kap. 1.4. 16 Vgl. Bell, Michael: Myth and the making of modernity. The problem of grounding in early twentieth-century literature. Amsterdam u. a. 1998; Bohrer, Karl-Heinz (Hg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Frankfurt a. M. 1983; Gottwald, Herwig: Spuren des Mythos in moderner deutschsprachiger Literatur. Theoretische Modelle und Fallstudien. Würzburg 2007; Rusterholz, Peter: Entmythologisierung und Remythisierung in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. In: Ders./Moser, Rupert (Hg.): Form und Funktion des Mythos in archaischen und modernen Gesellschaften. Berlin/Stuttgart/Wien 1999. S. 187–198; Schmitz-Emans, Monika/Lindemann, Uwe (Hg.): Komparatistik als Arbeit am Mythos. Heidelberg 2004; Tepe, Peter: Mythos und Literatur. Aufbau einer literaturwissenschaftlichen Mythosforschung. Würzburg 2001; Vietta, Silvio (Hg.): Moderne und Mythos. München 2006. 17 Vgl. Assmann, Jan: Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen. München 2006; Baron, Frank (Hg.): Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Wirk-

6 | „Im Anfang war der Mythos“: Mythos und Moderne

gen sich nur einige wenige Arbeiten übergreifend mit der Rolle des Mythos im Werk Hermann Hesses18. Seine Auseinandersetzung mit dem Mythos ist kaum systematisch erfasst, was gerade im Vergleich zur hochgradig ausdifferenzierten Thomas-Mann-Forschung besonders deutlich wird. Dieser Befund kann kaum überraschen – ist doch die Thomas-Mann-Forschung im Allgemeinen weitaus breiter aufgestellt als die Hermann-Hesse-Forschung: Die Abwertung Hesses in der deutschen Germanistik setzt bereits in den fünfziger Jahren ein, als der vielzitierte Spiegel-Artikel Im Gemüsegarten19 erscheint, der ein verzerrtes Bild von Hesse als blumenaufbindendem Greis malt, der „Gegenstand [eines] Kults“20 geworden sei, indem er in seinen Werken „seine Leser unentwegt

|| lichkeit, Dichtung, Mythos. Lübeck 2003; Dierks, Manfred: Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann. An seinem Nachlaß orientierte Untersuchungen zum ‚Tod in Venedig’, zum ‚Zauberberg’ und zur ‚Joseph’-Tetralogie. Bern/München 1972; Dierks, Manfred: Art. Thomas Mann und die Mythologie. In: Koopmann, Helmut (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch. 3. akt. Aufl. Frankfurt a. M. 2005. S. 301–306; Ehrenspeck, Yvonne: „Den Mythos ins Humane umfunktionieren“. Frühe Rehabilitierung des Mythos angesichts des Faschismus bei Thomas Mann. In: Neue Sammlung 35 (1995). Heft 3. S. 129–142; Ette, Wolfram: Freiheit zum Ursprung. Mythos und Mythoskritik in Thomas Manns Josephs-Tetralogie. Würzburg 2002; Jäger, Christoph: Humanisierung des Mythos - Vergegenwärtigung der Tradition. Theologisch-hermeneutische Aspekte in den Josephsromanen von Thomas Mann. Stuttgart 1992; Palencia-Roth, Michael: Myth and the modern novel. Garcia Márquez, Mann, and Joyce. New York u. a. 1987; Rechberger, Friedrich: Vorformen des Mythischen im Frühwerk von Thomas Mann. Salzburg 1994; Schönebeck, Uwe: Erzählfunktionen des Mythos bei Thomas Mann. Kiel 1964; Stromberg, Eberhard: Thomas Mann. Mythos und Religion in seinem Leben und Werk. Würzburg 2015; Vogelmann, Katharina: Konstellationen von Mythos und Erzählen in Thomas Manns ‚Josephs’Romanen unter besonderer Berücksichtigung der Figur des Jaakob. Hamburg 2005; Wysling, Hans: Mythos und Psychologie bei Thomas Mann. Zürich 1969. 18 Vgl. Huber, Peter: Alte Mythen, neuer Sinn. Zur Codierung der Moderne und Modernisierung im Werk Hermann Hesses. In: Solbach, Andreas (Hg.): Hermann Hesse und die literarische Moderne. Kulturwissenschaftliche Facetten einer literarischen Konstante im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2004. S. 175–201; Kaminski-Knorr, Katharina: Zur Problematik der psychoanalytischen Symbol- und Mythentheorie. Eine Auseinandersetzung mit dem NarzißMythos. Berlin 1990; Moritz, Julia: Narkissos und Chrysostomos. Oder „dahin, wo es weniger weh tut“. Metamorphosen des Mythos in Hermann Hesses Roman ‚Narziß und Goldmund’. In: Mirtschev, Bogdan u. a. (Hg.): Mythos und Krise in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Dresden 2004. S. 217–236; Scott, Rickard B: The mythological structure of Hermann Hesse's novels ‚Demian’, ‚Siddhartha’, and ‚Der Steppenwolf’. Ann Arbor 1982; Ziolkowski, Theodore: Hesse. Myth and reason. Methodological Prolegomena. In: Wetzels, Walter D. (Hg.): Myth and reason. Austin 1973. S. 127–155. 19 Der Spiegel 28 (1958). S. 42–48. 20 Ebd., S. 42.

Stand der Forschung | 7

gleichsam die Pubertätszeit repetieren“21 lasse. Bis heute halten sich Vorurteile dieser Art – von wenigen Ausnahmen abgesehen – bis in den Wissenschaftsdiskurs hinein.22 Einen Beitrag zur ernsthaften Auseinandersetzung mit der Stellung von Hesses Werk in der Moderne zu leisten, ist vor diesem Hintergrund auch ein Anliegen dieser Arbeit. Die Funktion des mythischen Erzählens in Hermann Hesses Romanen zu erforschen, hat Theodore Ziolkowski in seiner kurzen Abhandlung zu Mythos und Logos bei Hesse und seinen Kritikern bereits 1979 als „ergiebige Aufgabe“23 bezeichnet, der die Forschung allerdings bis heute nicht nachgegangen ist. Eine der wenigen werkübergreifenden Studien zur Rolle des Mythos in Hesses Romanen bietet Rickard Scott, der John Campbells Schema der Heldenreise auf Demian, Siddhartha und den Steppenwolf überträgt.24 Für Scotts Studie spielt allerdings Hermann Hesses Rezeption des philosophischen Mythosdiskurses oder sein eigener Mythosbegriff keine Rolle. Stattdessen steht das Handlungsschema der drei Romane im Vordergrund, das anhand einer triadischen Struktur erläutert wird. Diese bezieht Scott sowohl auf Campbells dreiteiligen Aufbau der Heldenreise als auch auf Hesses eigene Ausführungen in Ein Stückchen Theologie. Hesses intertextuelles Schreibverfahren und die zahlreichen Bezüge zur Mythologie, die sich in den drei Romanen finden lassen, werden hier allerdings nicht thematisiert. Neben Scotts Studie beschäftigen sich auch einige religionswissenschaftlich ausgerichtete Untersuchungen am Rande mit dem Einsatz von Mythen in Hermann Hesses Erzählwerk.25 Ähnlich wie Scott geht

|| 21 Ebd., S. 43. 22 Vgl. dazu: Beutin, Wolfgang (u.a.): Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 6. akt. Aufl. Stuttgart/Weimar 2001. S. 412; Michels, Volker: ‚Teils ausgelacht, teils angespuckt, teils den sentimentalen Leserkreisen überlassen.‘ Zur Hermann-HesseRezeption in Deutschland. In: Solbach, Andreas (Hg.): Hermann Hesse und die literarische Moderne. Kulturwissenschaftliche Facetten einer literarischen Konstante im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2004. S. 28–55. 23 Ziolkowski, Theodore: Mythos und Logos bei Hesse und seinen Kritikern. In: Ders.: Der Schriftsteller Hermann Hesse. Wertung und Neubewertung. Frankfurt a. M. 1979. S. 236–260. Hier: S. 258. 24 Scott, Rickard B: The mythological structure of Hermann Hesse's novels ‚Demian’, ‚Siddhartha’, and ‚Der Steppenwolf’. Ann Arbor 1982. 25 Vgl. Baumann, Günter: Der archetypische Heilsweg. Hermann Hesse, C. G. Jung und die Weltreligionen. Rheinfelden 1990; Cheong, Kyung Yang: Mystische Religiosität als Synthese zwischen West und Ost bei Hermann Hesse. In: Böhme, Wolfgang (Hg.): Hermann Hesse und die Religion. Stuttgart 1978. S. 117–131; Gellner, Christoph: Wie der Buddha in den Westen kam. Hermann Hesse, Luise Rinser und Adolf Muschg. In: Ponzi, Mauro (Hg.). Hermann-HesseJahrbuch. Bd. 3. Tübingen 2006. S. 47–70; Hsia, Adrian: Hermann Hesse und China. Darstel-

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z.B. auch Günter Baumann in seiner Monographie Der archetypische Heilsweg auf die triadische Struktur ein, die Hesses Romanhandlungen dominiert, und parallelisiert dazu C. G. Jungs Konzept des Individuationsprozesses mit der Heilsvorstellung der „maßgeblichen Weltreligionen“26. Adrian Hsia, Kyung Yang Cheong, Christoph Gellner und Hussain Kassim widmen sich dagegen dem spezifischen Einfluss, den östliche Religionen und Philosophie auf Hesses Denken und Schreiben ausgeübt haben. Auch Hesses Verhältnis zur Psychoanalyse wird immer wieder thematisiert, wobei insbesondere die Beziehung zu C. G. Jung im Vordergrund steht.27 Dabei werden zwar vereinzelt auch die mythischen Bezüge in Hesses Werk gestreift, wie beispielsweise die Transformation des Narziß-Mythos in Katharina Kaminski-Knorrs Monographie Zur Problematik der psychoanalytischen Symbol- und Mythentheorie, aber auch in diesem Fall stehen die Funktion und die Strategien des mythischen Erzählens bei Hermann Hesse nicht im Vordergrund. Selbst Andreas Solbach geht in seiner ausführlichen Studie zu Hesses Poetologie nicht auf die Rolle des Mythos für Hesses Erzählweise ein.28 Zwar finden sich einige Abhandlungen zur Funktion mythischer Topoi oder Figuren in einzelnen Romanen Hesses29, eine eingehende Bestim-

|| lung, Materialien und Interpretation. Erw. Neuausgabe. Frankfurt a. M. 2002; Kassim, Hussain: Toward a Mahayana Buddhist Interpretation of Hermann Hesse’s Siddhartha. In: Literature East and West 18 (1974). S. 233–243. 26 Baumann, Günter: Der archetypische Heilsweg. S. 3. 27 Vgl. Dahrendorf, Malte: Hermann Hesses Demian und C. G. Jung. In: Michels, Volker (Hg.): Materialien zu Hermann Hesses Demian. Zweiter Band. Die Wirkungsgeschichte in Rezensionen und Aufsätzen. Frankfurt a. M. 1997. S. 129–149; Erdmann-Pandžić, Elisabeth von: Hermann Hesses ‚Demian’ und Analytische Psychologie. In: Canadian review of comparative literature 17 (1990). S. 120–139; Golden, Kenneth Lacoy: The problem of opposites in five fictional narratives. Jungian psychology and comparative mythology in modern language. Univ. of Southern Mississippi 1978; Kaminski-Knorr, Katharina: Zur Problematik der psychoanalytischen Symbol- und Mythentheorie. Eine Auseinandersetzung mit dem Narziß-Mythos. Berlin 1990; Wehdeking, Volker: Hermann Hesse, Carl Gustav Jung und Thomas Mann. Die intertextuellen Bezüge in der Erzählprosa des späteren Werks. In: Ponzi, Mauro (Hg.): Hermann-HesseJahrbuch. Bd. 2. Tübingen 2005. S. 121–148. 28 Vgl. Solbach, Andreas: Hermann Hesse. Die poetologische Dimension seines Erzählens. Heidelberg 2012. 29 Vgl. Gohar, Soheir: Der Archetyp der Großen Mutter in Hermann Hesses ‚Demian’ und Gerhart Hauptmanns ‚Insel der Großen Mutter’. Frankfurt a. M. 1987; Hughes, Kenneth: Hesse’s Use of Gilgamesh-Motifs in the humanization of Siddhartha and Harry Haller. In Seminar V/2 (1969). S. 129–140; Jahnke, Walter: Hesses Frau Eva und die Maria der Geheimen Offenbarung. In: Michels, Volker (Hg.): Materialien zu Hermann Hesses Demian. Zweiter Band. Die Wirkungsgeschichte in Rezensionen und Aufsätzen. Frankfurt a. M. 1997. S. 252–259; Knapp, Bettina L.: Abraxas. Lichte und dunkle Seiten der Gottheit in Hermann Hesses ‚Demian’. In:

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mung von Hesses Mythos-Begriff und eine werkübergreifende Analyse, die sich mit der Funktion mythischen Erzählens in den Romanen Hesses befasst, kann allerdings noch immer als Desiderat der Forschung bezeichnet werden. Die Thomas-Mann-Forschung hat sich dagegen bereits ausführlich mit der Stellung des Mythos in seinem Erzählwerk befasst. So bieten einige Arbeiten einen Überblick über verschiedene Aspekte mythischen Erzählens im Gesamtwerk Thomas Manns.30 Manfred Dierks Studie zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann ist die erste grundlegende Monographie, die sich – auch unter Einbezug des Nachlassmaterials – übergreifend mit der Relevanz und Funktion mythischen Erzählens in Thomas Manns Romanen und Erzählungen auseinandersetzt. Unter dem Stichwort ‚Mythos und Psychologie‘, das Thomas Mann selbst geprägt hat, untersucht Dierks dessen Quellenstudien zum Tod in Venedig, Zauberberg und zur Joseph-Tetralogie und vollzieht die Genese seines Mythosbegriffs nach, wobei er besonders den Einfluss Nietzsches und Schopenhauers hervorhebt. Dabei spielen andere Einflüsse auf Thomas Manns Mythosbegriff wie beispielsweise Freud oder Bachofen, die Dierks ebenfalls analysiert, jedoch eine untergeordnete Rolle. Auch Michael Palencia-Roth versucht sich an einer Rekonstruktion des Mannschen Mythosbegriffs und ordnet sein Schaffen in die europäische Moderne ein. Eberhard Stromberg fokussiert sich im Gegensatz dazu eher auf den religiösen Einfluss und die Relevanz der „Gottesfrage“31 für Thomas Manns Leben und Werk, die auch in den Untersuchungen Jan Assmanns und Friedhelm Marx‘ zum Thema gemacht werden. Das

|| Bauschinger, Sigrid/Reh, Albert (Hg.): Hermann Hesse. Politische und wirkungsgeschichtliche Aspekte. Bern 1986. S. 167–185; Moritz, Julia: Narkissos und Chrysostomos. Oder „dahin, wo es weniger weh tut“. Metamorphosen des Mythos in Hermann Hesses Roman ‚Narziß und Goldmund’. In: Mirtschev, Bogdan u. a. (Hg.): Mythos und Krise in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Dresden 2004. S. 217–236. 30 Vgl. Assmann, Jan: Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen. München 2006; Dierks, Manfred: Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann. An seinem Nachlaß orientierte Untersuchungen zum ‚Tod in Venedig’, zum ‚Zauberberg’ und zur ‚Joseph’-Tetralogie. Bern/München 1972; Dierks, Manfred: Art. Thomas Mann und die Mythologie. In: Koopmann, Helmut (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch. 3. akt. Aufl. Frankfurt a. M. 2005. S. 301–306; Hofmann, Peter: Thomas Mann. Ritualisierter Mythos und humanistische Kritik. In: Ders. (Hg.): Richard Wagners politische Theologie. Kunst zwischen Revolution und Religion. Paderborn 2003. S. 56–66; Marx, Friedhelm: ‚Ich aber sage Ihnen…‘. Christusfigurationen im Werk Thomas Manns. Frankfurt a. M. 2002; Palencia-Roth, Michael: Myth and the modern novel. Garcia Márquez, Mann, and Joyce. New York u. a. 1987; Schönebeck, Uwe: Erzählfunktionen des Mythos bei Thomas Mann. Kiel 1964; Stromberg, Eberhard: Thomas Mann. Mythos und Religion in seinem Leben und Werk. Würzburg 2015. 31 Stromberg, Eberhard: Thomas Mann. Mythos und Religion. S. 26.

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Stichwort ‚Mythos und Psychologie‘ wird dagegen auch immer wieder für die Analyse einzelner Aspekte in Thomas Manns Mythos-Rezeption herangezogen: sowohl seine Faschismus-Deutung, der sich Lothar Pikulik und Yvonne Ehrenspeck widmen32, als auch die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse, die beispielsweise bei Bishop, Sprecher und Dierks thematisiert wird33, stehen unter diesem Motto. Hinzu kommen einige Untersuchungen, die sich mit Thomas Manns Beziehung zu einzelnen Denkern und Mythostheoretikern beschäftigen. So liefert Elisabeth Galvan eine ausführliche Analyse zu Manns BachofenRezeption34, Markus Edler untersucht die Beziehung zwischen Mann und Karl Kerényi35, Stefan Breuer und Paul Bishop widmen sich den Bezügen zu Ludwig Klages und C. G. Jung36 und Hubert Brunträger dokumentiert gemeinsam mit Hermann Kurzke das Verhältnis zu Alfred Baeumler37. Zahlreiche Untersuchungen widmen sich darüber hinaus der Funktion mythischer Stoffe und Motive in den einzelnen Erzähltexten Thomas Manns,etwa im von Nietzsche und Wagner geprägten Frühwerk38, im Zauberberg39 oder im Doktor Faustus40. Besonders das

|| 32 Vgl. Ehrenspeck, Yvonne: „Den Mythos ins Humane umfunktionieren“. Frühe Rehabilitierung des Mythos angesichts des Faschismus bei Thomas Mann. In: Neue Sammlung 35 (1995). Heft 3. S. 129–142; Pikulik, Lothar: Thomas Mann und der Faschismus. Wahrnehmung - Erkenntnisinteresse – Widerstand. Hildesheim 2013. 33 Vgl. Bishop, Paul: Literarische Beziehungen haben nie bestanden. Thomas Mann and C. G. Jung. In: Oxford German Studies 23 (1994). S. 124–172; Dierks, Manfred: Art. Thomas Mann und die Tiefenpsychologie. In: Koopmann, Helmut (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch. 3. akt. Aufl. Frankfurt a. M. 2005. S. 284–300; Sprecher, Thomas (Hg.): Das Unbewusste in Zürich. Literatur und Tiefenpsychologie um 1900. Sigmund Freud, Thomas Mann und C. G. Jung. Zürich 2000. 34 Vgl. Galvan, Elisabeth: Zur Bachofen-Rezeption in Thomas Manns Joseph-Roman. Frankfurt a. M. 1996. 35 Vgl. Edler, Markus: Thomas Mann und Karl Kerényi. In: Schlesier, Renate/ Sanchino, Martínez, Roberto (Hg.): Karl Kerényi im Kontext des 20. Jahrhunderts. Locarno 2006. S. 43–54. 36 Vgl. Bishop, Paul: Literarische Beziehungen haben nie bestanden. Thomas Mann and C. G. Jung. In: Oxford German Studies 23 (1994). S. 124–172; Breuer, Stefan: Das Unbewusste in Kilchberg. Thomas Mann und Ludwig Klages. Mit einem Anhang über Klages und C. G. Jung. In: Sprecher, Thomas (Hg.): Das Unbewusste in Zürich. Literatur und Tiefenpsychologie um 1900. Sigmund Freud, Thomas Mann und C. G. Jung. Zürich 2000. S. 53–93. 37 Vgl. Baeumler, Marianne/ Brunträger, Hubert/ Kurzke, Hermann (Hg.): Thomas Mann und Alfred Baeumler. Eine Dokumentation. Würzburg 1989. 38 Vgl. Bade, James: Die Wagner–Mythen im Frühwerk Thomas Manns. Bouvier 1975; Baron, Frank (Hg.): Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Wirklichkeit, Dichtung, Mythos. Lübeck 2003; Koopmann, Helmut: Hanno Buddenbrook, Tonio Kröger und Tadzio. Anfang und Begründung des Mythos im Werk Thomas Manns. In: Wiecker, Rolf: Gedenkschrift für Thomas Mann 1875– 1975. Kopenhagen 1975. S. 53–65; Rechberger, Friedrich: Vorformen des Mythischen im Frühwerk von Thomas Mann. Salzburg 1994.

Stand der Forschung | 11

rezeptionsleitende Stichwort Manns zur ‚Umfunktionierung des Mythos ins Humane’ wurde dankbar von der Forschung auf Joseph und seine Brüder übertragen: die meisten Veröffentlichungen zur Funktion mythischen Erzählens bei Thomas Mann beschäftigen sich mit der Tetralogie.41 Besonders hervorzuheben sind hierbei das von Bernd-Jürgen Fischer verfasste Handbuch zu Thomas Manns Josephsromanen, das einen umfassenden Überblick über die Entstehung, Motivik, Sprache und Struktur der Romantetralogie bietet, sowie Hermann Kurzkes knappe und übersichtliche Einführung Mondwanderungen – Wegweiser durch Thomas Manns Joseph-Roman.

|| 39 Vgl. z. B. Haesler, Ludwig: Der Mythos des Orpheus und seine literarische Gestaltung im ‚Tod in Venedig’ und im ‚Zauberberg’. In: Jahrbuch der Psychoanalyse 44 (2002). S. 281–322; Marx, Friedhelm: Mynheer Peeperkorns mythologisches Rollenspiel. Zur Integration des Mythos in Thomas Manns ‚Zauberberg'. In: Wirkendes Wort 42 (1992). H. 1. S. 67–75; Robles, Ingeborg: Unbewältigte Wirklichkeit. Familie, Sprache, Zeit als mythische Strukturen im Frühwerk Thomas Manns. Bielefeld 2003; Sandt, Lotti: Mythos und Symbolik im ‚Zauberberg‘ von Thomas Mann. Bern 1979. 40 Vgl. Grimm, Simone. Verschenkter Mythos? Nietzsches Künstlermythos in Thomas Manns Doktor Faustus. In: Simonis, Anette/Simonis, Linda (Hg.): Mythen in Kunst und Literatur. Tradition und kulturelle Repräsentation. Köln u. a. 2004. S. 160–182; Pikulik, Lothar: Thomas Mann und der Faschismus. Wahrnehmung - Erkenntnisinteresse – Widerstand. Hildesheim 2013. 41 Um nur eine kleine Auswahl zu nennen: Assmann, Jan: Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen. München 2006; Assmann, Jan: Mythos und Psychologie in Thomas Manns Josephromanen. In: Gutjahr, Ortrud (Hg.): Thomas Mann. Würzburg 2012. S. 213–230; Berger, Willy: Die mythologischen Motive in Thomas Manns Roman ‚Joseph und seine Brüder‘. Köln u. a. 1971; Ette, Wolfram: Freiheit zum Ursprung. Mythos und Mythoskritik in Thomas Manns Josephs-Tetralogie. Würzburg 2002; Fischer, Bernd-Jürgen: Handbuch zu Thomas Manns Josephsromanen. Tübingen/Basel 2002; Heftrich, Eckhard: Art. ‚Joseph und seine Brüder‘. In: Koopmann, Helmut (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch. 3. akt. Aufl. Frankfurt a. M. 2005. S. 447–474; Jäger, Christoph: Humanisierung des Mythos - Vergegenwärtigung der Tradition. Theologisch-hermeneutische Aspekte in den Josephsromanen von Thomas Mann. Stuttgart 1992; Kurzke, Hermann: Mondwanderungen. Wegweiser durch Thomas Manns Joseph-Roman. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2008; Lehnert, Herbert: Ägypten im Bedeutungssystem des Josephromans. In: Thomas-Mann-Jahrbuch 6 (1993). S. 93–111; Mieth, Dietmar: Epik und Ethik. Eine theologisch-ethische Interpretation der Josephsromane Thomas Manns. Tübingen 1976; Vogelmann, Katharina: Konstellationen von Mythos und Erzählen in Thomas Manns ‚Josephs’-Romanen unter besonderer Berücksichtigung der Figur des Jaakob. Hamburg 2005. Der 2018 von Jan Assmann, Dieter Borchmeyer und Stephan Stachorski herausgebene Kommentarband zu den Josephromanen im Rahmen der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe konnte für diese Studie nicht mehr berücksichtigt werden (Assmann, Jan/ Borchmeyer, Dieter/ Stachorski, Stephan. Kommentar zu Joseph und seine Brüder I/II. GKFA 7.2/8.2. Frankfurt a. M. 2018).

12 | „Im Anfang war der Mythos“: Mythos und Moderne

Auch wenn die Materialfülle zum Thema ‚Thomas Mann und der Mythos‘ geradezu erdrückend erscheint, fällt dennoch auf, dass es bisher keine Studie gibt, die sich ausführlich mit dem Einfluss des philosophischen Mythosdiskurses auf Thomas Manns Konzeption seines Mythosbegriffs und dessen Umsetzung in seinem literarischen Werk befasst. Gerade in der Auseinandersetzung mit Theoretikern wie Bachofen oder Baeumler werden in der Forschung oftmals nur Thomas Manns eigene Bewertungen stichwortartig übernommen, ohne sie auf ihre Stichhaltigkeit zu prüfen. Auch eine Analyse der funktionalen Aspekte des mythischen Erzählens unter Einbezug sowohl der inhaltlichen Bezüge zum Mythos als auch der Untersuchung formaler Strategien mythischen Erzählens ist bisher nicht erbracht worden. Die Innovation der Arbeit liegt angesichts des bisher Gesagten vor allem in drei Aspekten: Erstens wird eine Analyse des Verhältnisses von Mythos und Rationalität in der klassischen Moderne angestrebt – ein Zusammenhang, der trotz des beträchtlichen Umfangs der literarischen Mythenforschung bisher kaum gezielt untersucht worden ist. Mithilfe eines systematischen Exkurses zur philosophischen Mythostheorie soll eine Kategorisierung des Diskurses erarbeitet werden, die nicht nur einen Überblick über die philosophische und gesellschaftliche Mythosdebatte in der Moderne bietet, sondern sich darüber hinaus auch als Instrumentarium für die Einordnung literarischen Mythenerzählens anbietet. Zweitens bietet die Studie erstmalig eine umfassende Untersuchung zur Rolle des Mythos in Hermann Hesses theoretischem und literarischen Schreiben, die bislang in der Forschung nahezu gänzlich vernachlässigt worden ist. Der exemplarische Werkvergleich zwischen Thomas Mann und Hermann Hesse hinsichtlich der Rolle des Mythos in ihren Romanen bietet drittens auch neue Perspektiven auf das Werk Thomas Manns: Gerade im Vergleich mit Hermann Hesse lässt sich präzise herausarbeiten, wie Thomas Manns Positionierung zum modernen Mythosdiskurs einzuordnen ist. Eine solche vergleichende Untersuchung gibt es bisher nicht, was wiederum wenig verwunderlich ist, wenn man die im Allgemeinen recht spärliche Forschung zur Beziehung der beiden Autoren überblickt.42 || 42 Vgl. Knöferl, Eva: ‚Dies Glasperlenspiel mit schwarzen Perlen‘. Musik und Moralität bei Hermann Hesse und Thomas Mann. Würzburg 2012; Michels, Volker: Vorwort. In: Hesse, Hermann/Mann, Thomas: Briefwechsel. Ungekürzte Ausg. Hg. von Anni Carlsson und Volker Michels. Frankfurt a. M. 2003. S. 7–41; Miltenberger, Anja: Verborgene Strukturen in erzählenden Texten von 1900–1950. München 2000; Schmid, Karl: Hermann Hesse und Thomas Mann. Olten 1950; Ziolkowski, Theodore: Hesse und Thomas Mann. Eine literarische Brieffreundschaft. In: Ders.: Der Schriftsteller Hermann Hesse. Wertung und Neubewertung. Frankfurt a. M. 1979. S. 169–185.

Methodik und Vorgehen | 13

1.3

Methodik und Vorgehen

Die Romane und Erzählungen Hermann Hesses und Thomas Manns bieten sich aus mehreren Gründen für eine exemplarische Analyse an. Zum einen umspannt ihr Schaffen die gesamte Epoche der klassischen Moderne und zum anderen vollziehen beide Schriftsteller, in einem Wort Thomas Manns, in diesem Zeitraum den „Schritt vom Bürgerlich-Individuellen zum MythischTypischen“43. Unabhängig voneinander beginnen sowohl Hermann Hesse als auch Thomas Mann in ihrem Werk ab dem Ersten Weltkrieg mythische Topoi einzusetzen und übertragen darüber hinaus auch beide die Techniken mythischen Erzählens in jeweils ganz eigene literarische Erzählstrategien. Ihre Romane – die beide gerne als „Bruderwerke“44 bezeichnen – zeichnen sich trotz ihrer gänzlich verschiedenen literarischen Stile oftmals durch eine thematische Nähe aus, die einen systematischen Vergleich besonders fruchtbar erscheinen lässt. Die bereits erwähnte Diskrepanz zwischen der enorm breit ausdifferenzierten Thomas-Mann-Forschung und der Vernachlässigung von Hesses Werk in der deutschen Germanistik ist nicht zuletzt auch ein Grund dafür, die beiden „großen Einzelgänger“45, als die sie in der Literaturgeschichte gerne bezeichnet werden, miteinander zu vergleichen. Die Debatte darüber, inwieweit Hesse und Mann in einem strikten Sinne als ‚moderne‘ Autoren bezeichnet werden können, wird im Folgenden nicht explizit zum Thema gemacht.46 Angesichts ihrer Beschäftigung mit mythischem Erzählen fällt jedoch auf, dass Manns und Hesses Romane zwar einerseits kaum formal modern genannt werden können, sich aber andererseits auf der Inhaltsebene zentralen mentalitätsgeschichtlichen Problemen der Moderne widmen.47 Sie reagieren beispielsweise auf die Indivi-

|| 43 Mann, Thomas: Freud und die Zukunft. In: GW IX. S. 478–501. Hier: S. 493. 44 Brief Manns an Robert Faesi vom 19.04.1948. In: Unseld, Siegfried: Hermann Hesse. Eine Werkgeschichte. Frankfurt a. M. 1973. S. 189. 45 Blomberger, Günter: Art. Moderne. In: Fricke, Harald (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. II. Berlin/ New York 2007. S. 620–624. Hier: S. 620. 46 Zur Modernität Hesses und Manns vgl. Ewen, Jens: Erzählter Pluralismus. Thomas Manns Ironie als Sprache der Moderne. Frankfurt a. M. 2017; Palencia-Roth, Michael: Myth and the modern novel. Garcia Márquez, Mann, and Joyce. New York u. a. 1987; Reed, Terence J.: Art. Thomas Mann und die literarische Tradition. In: Koopmann, Helmut (Hg.): Thomas-MannHandbuch. 3. akt. Aufl. Frankfurt a. M. 2005. S. 95–136; Solbach, Andreas (Hg.): Hermann Hesse und die literarische Moderne. Kulturwissenschaftliche Facetten einer literarischen Konstante im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2004. 47 Zum Begriff der Moderne vgl. Beutin, Wolfgang (u.a.): Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 6. akt. Aufl. Stuttgart/Weimar 2001. S. 335ff.; Blomberger, Günter: Art. Moderne. In: Fricke, Harald (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissen-

14 | „Im Anfang war der Mythos“: Mythos und Moderne

dualisierung und Fragmentarisierung der modernen Lebenswelt (Der Steppenwolf) ebenso wie auf die Sprachkrise (Narziß und Goldmund), die Effekte der Säkularisierung (Joseph und seine Brüder) und die Entfremdung des Künstlers vom bürgerlichen Milieu (Tod in Venedig). Der Einsatz mythischen Erzählens als kritische Reflexion der modernen Rationalität, der meines Erachtens einen beträchtlichen Teil ihres Beitrags zur Moderne ausmacht, steht darüber hinaus im Zentrum der Untersuchung.48 Die vergleichende Analyse der Werke Manns und Hesses kann jedoch nicht isoliert erfolgen, sondern sie ist eingebettet in den geistesgeschichtlichen Kontext. Um den Mythosbegriff der beiden Autoren und ihre Auseinandersetzung mit dem philosophischen Nachdenken über den Mythos nachvollziehen zu können, ist es notwendig, ein komplexes Bild des Mythosdiskurses in der Moderne zu entwerfen. Dazu erfolgt die Argumentation in drei Schritten: Zunächst wird der philosophische Mythosdiskurs in der Moderne in den Blick genommen und hinsichtlich der Bewertung des Verhältnisses von Mythos und Rationalität strukturiert (Kap. 2). Die Auswahl der analysierten Mythostheorien orientiert sich dabei zwar einerseits an der Rezeption Hesses und Manns, geht aber weit über den Anspruch einer reinen Einflussforschung hinaus. So dient die Auswahl andererseits auch dazu, das Spektrum der möglichen Verhältnisbestimmungen von Mythos und Rationalität ausgewogen darzustellen und einen Einblick in die philosophische und gesellschaftliche Mythosdebatte in der Moderne zu geben. In einem zweiten Schritt wird die Reaktion Hesses und Manns auf diesen philosophischen Diskurs untersucht und die Genese ihres jeweiligen Mythosbegriffs anhand von Äußerungen in Essays, Briefen und Notizen rekonstruiert (Kap. 3). Anschließend folgt die Analyse des literarischen Mythenerzählens bei den beiden Autoren, die sich jeweils mit den inhaltlichen und formalen Elementen mythischen Erzählens befasst, um die Funktion herauszuarbeiten, die mythisches Erzählen dort erfüllt (Kap. 4). Die Ergebnisse aus den drei Analyseteilen werden abschießend zusammengeführt und in einem Ausblick in den Kontext der literarischen Moderne eingeordnet (Kap. 5).

|| schaft. Bd. II. Berlin/New York 2007. S. 620–624; Lubkoll, Christine: Anfänge. Zum Begriff der Moderne als Kategorie der Literaturgeschichtsschreibung. In: Aufschnaiter, Babara/Brötz, Dunja (Hg.): Russische Moderne interkulturell. Von der blauen Blume zum schwarzen Quadrat. Innsbruck 2004. S. 148–166; Müller, Klaus Peter: Art. Moderne. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 3. Aufl. Stuttgart/Weimar 2004. S. 467–469; Willems, Gottfried: Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 5. Moderne. Wien u.a. 2015. 48 Vgl. dazu auch Kap. 5.3.

Methodik und Vorgehen | 15

Methodisch ist die Studie als deskriptive Interdiskursanalyse zwischen Philosophie und Literatur angelegt: das Erkenntnisinteresse liegt darin, ideengeschichtlich zu differenzieren, wie Mythos und Rationalität in zwei einander beeinflussenden Diskursen ins Verhältnis gesetzt werden.49 Der Terminus ‚Diskurs‘ wird dabei jedoch ohne ideologischen Überbau verwendet und bezeichnet im Rahmen dieser Arbeit schlicht „eine strukturierte Menge von (überwiegend sprachlichen) Äußerungen“50, die sich auf einen eingegrenzten Themenbereich beziehen. Die Fokussierung auf gesellschaftliche Machtverhältnisse und Ausschließungssysteme, die in der klassischen Diskursanalyse nach Foucault im Vordergrund steht, spielt jedoch für die Argumentation im Rahmen dieser Studie keine Rolle.51 Jürgen Links Ansatz der Interdiskursanalyse widmet sich dagegen der Untersuchung von Themenfeldern wie beispielsweise dem Mythos, „die nicht diskursspezifisch, sondern mehreren Diskursen gemeinsam sind“52. Literatur versteht Link als Medium des Interdiskurses, das verschiedene andere Äußerungssysteme (wie beispielsweise Philosophie, Religion oder Politik) integriert und kommentiert. Im Rahmen dieser Arbeit ist es speziell der philosophische Diskurs (der allerdings wiederum auch psychologische, politische und anthropologische Ansätze enthält), der in seiner Beziehung zu den literarischen Texten Hesses und Manns untersucht wird. Die Analyse der einzelnen Positionen erfolgt deskriptiv und wird dazu hinsichtlich der Bewertung des Verhältnisses von Mythos und Rationalität in drei Gruppen eingeteilt. Diese dienen wiederum in der Untersuchung des Mythosbegriffs der beiden Autoren als Orientierungspunkte, anhand derer sich die unterschiedlichen Perspektiven Hesses und Manns herauskristallisieren lassen. In Bezug auf die Literaturanalysen muss anschließend methodisch zwischen Mythisches erzählen im Sinne von ‚einen Mythos wieder- oder neuerzählen’ und mythischem Erzählen im Sinne einer Erzählweise, die sich an die Struktur von Mythen anlehnt, unterschieden werden. Diese Differenzierung macht auf der einen Seite eine thematologische Untersuchung der behandelten

|| 49 Zum Begriff der Interdiskursanalyse vgl. Link, Jürgen: Elementare Literatur und generative Diskursanalyse. München 1983. 50 Baaser, Rainer/Zens, Maria: Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Berlin 2005. S. 137. 51 Einen Überblick über die verschiedenen Formen der Diskursanalyse bieten Fohrmann, Jürgen: Art. Diskurstheorie(n). In: Weimar, Klaus (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. I. Berlin/New York 2007. S. 372–374; Gerhard, Ute: Art. Diskurs und Diskurstheorien. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 3. Aufl. Stuttgart/Weimar 2004. S. 117f. 52 Link, Jürgen: Elementare Literatur und generative Diskursanalyse. S. 69.

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Texte notwendig, die sich auf die diachrone Rezeptionsgeschichte der verwendeten mythischen Stoffe und Motive bezieht und intertextuelle Bezüge aufzeigt. Auf der anderen Seite muss aber auch eine narratologische Analyse Teil dieser ‚Arbeit am Mythos’ sein, die Strukturprinzipien des mythischen Erzählens beleuchtet.53 In einem ersten Schritt geht es darum, die inhaltlichen Bezüge zu Mythen zu klären, die sich in den ausgewählten Romanen finden lassen. Dabei wird sowohl eine thematologische Perspektive in die Analyse einbezogen als auch die intertextuellen Schreibweisen der beiden Autoren: die mythischen Stoffe und Motive werden jeweils identifiziert und kurz erläutert, aber auch ihre Modifikation bei der Einmontage in den literarischen Text wird thematisiert. Schon bei dieser inhaltlichen Analyse lassen sich unterschiedliche Erzählstrategien feststellen: wie wird ein Mythos oder ein mythisches Motiv übernommen, wird es entfremdet oder ironisiert? Dieser erste Befund wird anschließend weiter vertieft, indem die formalen Strategien mythischen Erzählens in den Fokus rücken. Anhand von vier ausgewählten Merkmalen wird das Verhältnis von literarischem Text und mythischem Prätext näher bestimmt. Der Einsatz von Leitmotivik, Typisierung und die Schilderung von Zeit und Raum im literarischen Text werden dabei ebenso untersucht wie der Sprachduktus, in dem das Erzählte präsentiert wird. Aus den Ergebnissen, die sich aus der inhaltlichen und der formalen Analyse ergeben, wird abschließend die Funktion abgeleitet, die mythisches Erzählen im jeweiligen Romankontext erfüllt.

|| 53 Zu Intertextualität vgl. Broich, Ulrich: Art. Intertextualität. In: Fricke, Harald u. a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. II. Berlin/New York 2007. S. 175-179; Aczel, Richard: Art. Intertextualität und Intertextualitätstheorien. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 3. Aufl. Stuttgart/Weimar 2004. S. 299–301. Zur Thematologie bzw. zur Stoff- und Motivgeschichte vgl. Frenzel, Elisabeth: Stoff- und Motivgeschichte. 2. Aufl. Berlin 1974; Lubkoll. Christine: Art. Stoff- und Motivgeschichte/Thematologie. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 3. Aufl. Stuttgart/Weimar 2004. S. 631–633.

‚Der Mythos‘: eine definitorische Annäherung | 17

1.4 ‚Der Mythos‘: eine definitorische Annäherung Vor dem Beginn der Analyse ist noch ein kurzer Exkurs zum Begriff ‚Mythos‘ vonnöten – denn die Rede von ‚dem Mythos‘ ist mit einigen Schwierigkeiten verbunden: in der Geschichte der wissenschaftlichen Erforschung des Phänomens lässt sich eine wahre Flut an unterschiedlichen Mythosbegriffen, Definitionsversuchen und Definitionsverweigerungen finden.54 So unterscheiden Jan und Aleida Assmann beispielsweise sieben verschiedene Mythosbegriffe, deren Spektrum von einem Alltags-Verständnis von Mythos als unwahre Geschichte einerseits und der These von einem „überwundene[n] Stadium“55 des menschheitsgeschichtlichen Denkens andererseits über einen historisch-kritischen und funktionalistischen Begriff bis hin zu einer narrativen und literarischen Bestimmung reicht und darüber hinaus auch noch den ideologischen Mythosbegriff als politisch instrumentalisierbare „Große Erzählung“56 mit einbezieht. Christoph Jamme dagegen gliedert die unterschiedlichen Auffassungen davon, was einen Mythos ausmacht, anhand der Disziplinen, die sich mit seiner Erforschung befassen: so unterscheidet er zwischen einem anthropologischethnologischen, einem religionswissenschaftlich-theologischen, einem psychologischen und einem literatur- und diskurstheoretischen Mythosbegriff.57 Gleichzeitig bekennt Jamme jedoch, dass es „keine allgemein verbindliche De-

|| 54 Zu Definition des Begriffs ‚Mythos‘ vgl. Assmann, Aleida/Assmann, Jan: Art. Mythos. In: Cancik, Hubert u. a. (Hg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Bd. 4. Stuttgart 1998. S. 179–200; Barner, Wilfried u. a. (Hg.): Texte zur modernen Mythentheorie. Stuttgart 2007; Brisson, Luc: Einführung in die Philosophie des Mythos. Antike, Mittelalter und Renaissance. Übers. v. Achim Russer. Darmstadt 1996; Burkert, Walter/Horstmann, Axel: Art. Mythos, Mythologie. In: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 6. Basel/Darmstadt 1984. S. 281–318; Graevenitz, Gerhart von: Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit. Stuttgart 1987; Heidmann Vischer, Ute: Art. Mythos. In: Fricke, Harald u. a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. II. Berlin 2000. S. 664–668; Jamme, Christoph: Einführung in die Philosophie des Mythos. Neuzeit und Gegenwart. Darmstadt 1991b; Schmitz-Emans, Monika: Zur Einleitung. Theoretisches und literarische Arbeiten am Mythos. In: Dies./Lindemann, Uwe (Hg.): Komparatistik als Arbeit am Mythos. Heidelberg 2004. S. 9–38. Simonis, Annette: Art. Mythos. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 1998. S. 390; Vietta, Silvio: Mythos in der Moderne. Möglichkeiten und Grenzen. In: Ders. (Hg.): Moderne und Mythos. München 2006. S. 11–24. 55 Assmann, Aleida/Assmann, Jan: Art. Mythos. S. 179. 56 Ebd. S. 180. 57 Vgl. Jamme, Christoph: Gott an hat ein Gewand. S. 15.

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finition“58 des Mythos gebe. Silivio Vietta und Monika Schmitz-Emans folgern aus diesem Befund, dass ein Definitionsversuch von vorneherein zum Scheitern verurteilt sei: da der Mythosbegriff zu vielgestaltig sei, begnügen sie sich anstelle einer Begriffsbestimmung mit der „Diagnose seiner Aktualität“59. Für die vorliegende Arbeit erweisen sich weder der Verzicht auf eine Definition noch eine zu weite Ausdehnung des Mythosbegriffs als sinnvoll. Ohne den Anspruch, eine allgemein verbindliche Definition vorlegen zu wollen, wird im Folgenden ein engerer Mythosbegriff verwendet, der sich auf Inhalt, Form und Funktion von mythischen Erzählungen begrenzt und dabei moderne Phänomene wie beispielsweise den alltagssprachlichen Gebrauch von Mythos als ‚unwahre Geschichte‘ oder kulturelles Leitbild ausklammert. Einige Elemente aus philosophischen Ansätzen, die sich primär auf den Inhalt von Mythen fokussieren (wie beispielsweise bei Karl Kerényi60) fließen ebenso in die Definition mit ein wie rein formale Ansätze (Ernst Cassirer und Claude Lévi-Strauss61) und funktionalistische Erklärungsmodelle (z.B. Hans Blumenberg62). Da die Reduktion des Phänomens ‚Mythos‘ auf einen der drei Bereiche jedoch als zu kurz gegriffen erscheint, gliedert sich die folgende Begriffsanalyse in eine inhaltliche, formale und funktionale Bestimmung. Der griechische Begriff mythos bedeutet ursprünglich ‚Wort‘, ‚Gedanke‘ und hat sich früh auf die generellere Bedeutung ‚Geschichte‘ oder ‚Bericht‘ ausgeweitet.63 In einem ersten Schritt kann Mythos daher inhaltlich als mündlich und/oder schriftlich überlieferte Erzählung bestimmt werden, die von Göttern, Helden und Menschen handelt, und darüber hinaus „kollektiv bedeutsame Figuren und Orte“64 für die jeweilige Gesellschaft, in der er entstanden ist, beschreibt. Karl Kerényi verortet den Schauplatz mythischen Erzählens in einem „zeitlosen Ursprungsbereich, an den das menschliche Dasein zu jeder Zeit an-

|| 58 Ebd. S. 21. 59 Schmitz-Emans, Monika: Theoretisches und literarische Arbeiten am Mythos. S. 11. Vgl. auch Vietta, Silvio: Mythos in der Moderne. S. 11. 60 Vgl. Kerényi, Karl: Umgang mit Göttlichem. Über Mythologie und Religionsgeschichte. Göttingen 1955. 61 Vgl. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil. Das mythische Denken. Hg. von Claus Rosenkranz. Hamburg 2010; Lévi-Strauss, Claude: Die Struktur der Mythen. In: Ders.: Strukturale Anthropologie I. Übers. v. Hans Naumann. Frankfurt a. M. 1977. S. 226–254. 62 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. 6. Aufl. Frankfurt a. M. 2001. 63 Assmann, Aleida/Assmann, Jan: Art. Mythos. S. 181. 64 Heidmann Vischer, Ute: Art. Mythos. S. 664.

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grenzt“65. Mythen sind Ursprungsgeschichten, die in einem zeitlos-typischen Bereich ‚vor der Zeit‘ spielen und existentielle menschliche Grundfragen zum Thema haben. Sie umkreisen die „Knotenpunkte der menschlichen Existenz“66 erzählerisch, ohne diese jedoch abschließend auflösen zu können. In einem Wort Blumenbergs: „Mythen antworten nicht auf Fragen, sie machen unbefragbar.“67 In immer wiederkehrenden Handlungsschemata wie beispielsweise der klassischen Heldenreise, die bei Joseph Campbell ausführlich beschrieben wird68, wird dabei oftmals von Protagonisten erzählt, von deren Handeln das Wohl der Gemeinschaft abhängt oder die einen Teilaspekt der jeweiligen kulturellen Praxis durch ihr Handeln erst begründen. Das erste formale Kriterium, das den Mythos bestimmt, ist daher auch seine narrative Struktur. Mythen sind „prinzipiell Erzählungen“69, die sich allerdings in ganz unterschiedlichen Kontexten und literarischen Gattungen finden können. Bestimmte Erzähltechniken sind charakteristisch für mythisches Erzählen: so etwa die zyklische Wiederholung, der Einsatz von wiederkehrenden Motiven, die über Äquivalenzbeziehungen eine Verdichtung des Erzählten erzeugen, die Typisierung von Figuren und Orten und die ebenfalls typisierte Darstellung von Zeit und Raum.70 Zu ihrer narrativen Struktur, die zwar eine „notwendige“, aber keine „hinreichende Bedingung“71 für die Bestimmung des Mythosbegriffs ist, kommt die Bildhaftigkeit als Charakteristikum der mythischen Erzählung hinzu. Mythische Geschichten sind „in einem besonderen Sinn bildhaft“72, was man laut Kerényi schon der Tatsache entnehmen könne, dass zahlreiche Mythen in der Form von Vasenmalereien überliefert sind. Mythisches Erzählen ist meist sehr plastisch und reich an Symbolik, die auch über zahlreiche Variationen derselben Geschichte hinweg konstant bleibt. Blumenberg hat dieses Phänomen als „ikonische Konstanz“73 bezeichnet: Der Kernbestand eines Mythos, der sich bildhaft kondensieren lässt, bleibt über die Überlieferungsgeschichte hinweg gleich. Gleichzeitig weisen Mythen aber trotz dieser Konstanz

|| 65 Kerényi, Karl: Umgang mit Göttlichem. S. 29. 66 Jamme, Christoph: Gott an hat ein Gewand. S. 21. 67 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. S. 142. 68 Vgl. Campbell, Joseph: The hero with a thousand faces. In: Collected Works of Joseph Campbell. Bd. XVII. 3. Aufl. Novato 2008. 69 Weinrich, Harald: Erzählstrukturen des Mythos. In: Ders. (Hg.): Literatur für Leser. Essays und Aufsätze zur Literaturwissenschaft. Stuttgart u. a. 1971. S. 137–149. Hier: S. 139. 70 Vgl. dazu ausführlich: Kap. 4. 71 Assmann, Aleida/Assmann, Jan: Art. Mythos. S. 188. 72 Kerényi, Karl: Umgang mit Göttlichem. S. 39. 73 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. S. 165.

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auch ein „erhebliche[s] Variationsspektrum“74 auf und lassen sich in immer neuen Varianten erzählen. Nicht nur Blumenberg benutzt zur Beschreibung dieses Zusammenhangs das Schlagwort „Thema mit Variationen“75, das aus der Musik entlehnt ist, sondern auch Lévi-Strauss und Kerényi verwenden diesen Ausdruck.76 Er beschreibt anschaulich, dass ein gleichbleibendes inhaltliches Element (das ‚Thema‘ des Mythos) zugleich konstant wiederkehren und variabel sein kann. Die Konstanz und Variabilität von Mythen kann mit ihrer Einbettung in einen rituellen Kontext in Zusammenhang gebracht werden: auch wenn es durchaus umstritten ist, in Mythen nur den „kognitive[n] Teil zur kultischen Praxis“77 zu sehen, so ist die enge Bindung von mythischen Erzählungen an den Ritus doch zumindest eine ihrer primären Funktionen. Als erzählerischer ‚Kommentar‘ zu rituellen Handlungen (wie etwa zu Initiationsriten) erfüllen sie eine religiöse, psychologische und soziale Funktion. Die Assmanns unterscheiden zusätzlich dazu zwischen „legitimierenden“ und „deutenden“78 Mythen: während die legitimierenden Mythen dazu dienen, die Werte einer Gemeinschaft auf einen Gründer oder eine urzeitliche Ordnung zurückzuführen, bieten die deutenden Mythen eine Erklärung für die Entstehung der Welt, für Naturphänomene oder eine bestimmte kulturelle Praxis an. Legitimierende Mythen haben eine ethische Komponente, da sie die Autorität bestimmter Normen unterstreichen, indem sie ihre Entstehung in eben jenen ‚zeitlosen Ursprungsbereich‘ verlegen, der für mythische Erzählungen so charakteristisch ist. Deutende Mythen dagegen fallen in den Bereich, der seit der Aufklärung als „vorwissenschaftliche Erklärung“79 bezeichnet worden ist. Gegen die These vom Mythos als „Form eines vorrationalen Weltverständnisses“80 wenden sich in der Moderne zahlreiche Denker, die im Mythos selbst eine Form der Rationalität sehen: so beispielsweise Claude Lévi-Strauss, der in seiner strukturalistischen Analyse die Logik des Mythos als Vermittlung zwischen binären Oppositionen beschreibt und somit davon ausgeht, dass das mythische Denken „die Rolle des begriffli-

|| 74 Assmann, Aleida/Assmann, Jan: Art. Mythos. S. 189. 75 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. S 40. 76 Vgl. Kerényi, Karl: Umgang mit Göttlichem. S. 41; Lévi-Strauss, Claude: Mythos und Bedeutung. Vorträge. Übers. von Brigitte Luchesi. Frankfurt a. M. 1995. S. 71. 77 Jamme, Christoph: Gott an hat ein Gewand. S. 21. 78 Assmann, Aleida/Assmann, Jan: Art. Mythos. S. 185. 79 Simonis, Annette: Art. Mythos. S. 390. 80 Heidmann Vischer, Ute: Art. Mythos. S. 664.

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chen Denkens zu übernehmen vermag“81. Auch Ernst Cassirer sieht in Mythen „symbolische Formen“82, die dem rationalen Denken darin verwandt sind, die ungegliederte Wahrnehmung der Realität ordnend zu strukturieren. Die emotionale Funktion von Mythen unterstreichen dagegen Vico, Hume und Blumenberg, die in mythischen Erzählungen ein „System der Absicherung gegen die Lebensangst“83 sehen. Gemeinsam ist den diversen Funktionen, die Mythen auf individueller oder gesellschaftlicher Ebene erfüllen können, jedoch, dass sie keine rein ästhetischen Erzählungen sind, die allein der Unterhaltung dienen. Der Mythos als das „autoritative Wort“84 tritt mit einem gewissen Wahrheitsanspruch auf und berührt die existentiellen Fragen des menschlichen Lebens. Als „umgreifende symbolische Ordnung“85 bietet er ein geschlossenes Weltbild an und stiftet so kulturelle Identität. Damit unterscheidet sich der Mythos von verwandten Formen wie beispielsweise dem Märchen, die weniger verbindlich und im Gegensatz zu mythischem Erzählen nur „schwach ritualisiert“86 sind. In Bezug auf die verwandten Begriffe ‚Mythologie‘ und ‚mythologisch‘, die sowohl die Gesamtheit mythischer Vorstellungen als auch die wissenschaftliche Erforschung des Mythos bezeichnen können, bietet es sich im Kontext dieser Arbeit an, sie im Sinne von philosophischem oder wissenschaftlichem Nachdenken über den Mythos zu gebrauchen.87 In der nun folgenden Analyse rückt speziell das Verhältnis des Mythos zur Rationalität in den Fokus des Interesses, das den Mythosbegriff schon seit Beginn des reflexiven Nachdenkens über mythos und logos in der Antike prägt.88 Rationalität als menschliche Erkenntnisform, die als „reine Verstandestätigkeit“ nur „aufgrund logischer Formmomente […] als allgemein gültig und notwendig ausgewiesen ist“89, scheint zunächst im Gegensatz zur oft paradoxen Struktur || 81 Lévi-Strauss, Claude: Mythos und Bedeutung. S. 36. Vgl. auch Lévi-Strauss, Claude: Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte. Übers. von Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M. 1976. S. 191. 82 Cassirer, Ernst: Das mythische Denken. S. 26. 83 Jamme, Christoph: Gott an hat ein Gewand. S. 89. 84 Kerényi, Karl: Umgang mit Göttlichem. S. 36. 85 Assmann, Aleida/Assmann, Jan: Art. Mythos. S. 194. 86 Ebd. S. 188. 87 Vgl. auch Jamme, Christoph: Gott an hat ein Gewand. S. 24. 88 Zum Begriff ‚Rationalität‘ vgl. Hoffmann, Thomas Sören: Art. Rationalität/Rationalisierung. In: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 6. Darmstadt 1992. S. 52–66; Schnädelbach, Herbert: Art. Rationalität. In: Prechtl, Peter/Burkard, Franz Peter: Metzler Philosophie Lexikon. Begriffe und Definitionen. Stuttgart 1996. S. 488– 490; Zwenger, Thomas: Art. Rationalität. In: Rehfus, Wolff (Hg.): Handwörterbuch Philosophie. Göttingen 2003. S. 579f. 89 Zwenger, Thomas: Art. Rationalität. S. 579.

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und der symbolisch-bildlichen Ausdrucksweise mythischen Erzählens zu stehen. Gerade in der Moderne wird ‚mythisches Denken‘ daher als Gegenpol zu logisch operierendem Denken zur Projektionsfläche, anhand derer die Grenzen des neuzeitlichen Rationalitätsbegriffs ausgehandelt werden können.

2 Der Mythosdiskurs in der modernen Philosophie Der moderne Mythosdiskurs ruht auf einer Tradition der kritisch-reflexiven Auseinandersetzung mit Mythen, die fast 2500 Jahre in die Vergangenheit zurückreicht.1 Die Verhältnisbestimmung von mythischer Weltsicht und Rationalität fungiert dabei bereits in der antiken Philosophie als Kriterium für die normative Auf- oder Abwertung von Mythen als Medium der Erkenntnis. Sie durchzieht den Diskurs in seiner gesamten Breite und macht so jede Beschäftigung mit dem Mythos auch zu einem Prüfinstrument für unsere Vorstellung von rationalem Denken und den Grenzen der menschlichen Vernunft.2 Nimmt man die Entgegensetzung von Mythos und Rationalität genauer in den Blick, so lassen sich drei grundlegende Denkfiguren herauskristallisieren, die dieses Verhältnis näher bestimmen: Das Erzählen von Mythen kann 1) als prärationale Form der Welterkenntnis, 2) als irrationales Denken oder 3) als Verweis auf transrationale Erfahrung gedeutet werden. Position 1) geht davon aus, dass Mythen Erklärungsmodelle darstellen, die historisch vor der Erschließung der Realität mit den Mitteln des rationalen Denkens liegen. Diese Ansicht ist charakteristisch für alle Aufklärungsbewegungen – sei es in der griechischen Antike oder im 17. Jahrhundert –, die die Errungenschaften des rationalen Denkens als einzigen legitimen Zugangsweg zur Erkenntnis postulieren und damit alle mythischen Erklärungsmodelle für obsolet erklären. Während diese Position den Mythos also als geschichtlich überwundenes Phänomen betrachtet, gehen die Vertreter der zweiten Denkfigur von einer ahistorischen Perspektive aus. Für sie ist mythisches Denken als irrationales Verstehen der Welt immer dem Zugriff des rationalen Denkens entgegengesetzt und wird daher auch nicht von diesem abgelöst.3 Position 3) hebt sich insofern von den beiden anderen

|| 1 Die hier verhandelten Ansätze des modernen Mythosdiskurses erstrecken sich zeitlich vom Beginn des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Damit reichen sie über den engen literaturwissenschaftlichen Begriff der ‚klassischen Moderne‘ hinaus und fallen in einen weiten Moderne-Begriff, wie ihn beispielsweise Jens Ewen vertritt: er versteht die Moderne als „Langzeitzusammenhang der europäischen Geschichte“, der – beginnend mit dem Ende des 18. Jahrhunderts – von umfassenden „Transformationsprozesse[n]“ geprägt ist (Ewen, Jens: Erzählter Pluralismus. Thomas Manns Ironie als Sprache der Moderne. Frankfurt a. M. 2017. S. 19. 2 Vgl. auch Assmann, Aleida/Assmann, Jan: Art. Mythos. S. 185; Jamme, Christoph: Gott an hat ein Gewand. S. 15. 3 Dieser Position müssen aufgrund ihrer ahistorischen Ausrichtung auch diejenigen philosophischen Ansätze beigeordnet werden, die im Mythos selbst eine Form des rationalen Denkens https://doi.org/10.1515/9783110660421-002

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Ansätzen ab, als sie in mythischem Erzählen eine Bestrebung vermutet, etwas auszudrücken, was das Fassungsvermögen der Rationalität übersteigt, aber dennoch einschließt. In dieser Konzeption wird in der Bildlichkeit des ‚mythischen Denkens‘ als Erkenntnismedium eine Potenz erkannt, rationale Einsicht in sich aufzunehmen und zugleich zu überschreiten, so dass beide eine höhere ‚transrationale‘ Synthese eingehen. Alle drei Positionen haben gemeinsam, dass sie mythisches Denken als nicht-rationale Erkenntnisform betrachten, was ihre Abgrenzung voneinander erschweren kann.4 Sie korrekt zu unterscheiden eröffnet dagegen einen Zugang zu den jeweils unterschiedlichen normativen Bewertungen, die Mythen hinsichtlich ihrer Relevanz im modernen Diskurs erfahren. Die drei vorgestellten Ansätze bestimmen allerdings nicht nur den modernen Diskurs, sondern sie manifestieren sich bereits seit dem Beginn des kritischen Reflektierens über den Mythos in der Philosophie der griechischen Antike. Da es den Rahmen dieser Arbeit bei weitem übersteigen würde, die philosophischen Positionen in ihrer ganzen historischen Breite darzustellen, beschränke ich mich im Folgenden darauf, einige wenige Standpunkte schlaglichtartig zu beleuchten, die eine besondere Wirksamkeit für den modernen literarischen Mythosdiskurs entfaltet haben. Die Differenzierung der beiden Begriffe mythos und logos, die ursprünglich nahezu bedeutungsgleich verwendet werden konnten, setzt bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. mit Xenophanes‘ Kritik an den homerischen Mythen ein.5 Zu Platons Zeit kann bereits ein Begriffsverständnis vorausgesetzt werden, das dem logos als ‚wahrer Rede‘ bzw. argumentativem Diskurs, den mythos als ‚unwahr‘ oder als Märchen gegenüberstellt. Platons eigener Umgang mit Mythen ist jedoch durchaus ambivalent. Zwar finden sich in seinen Dialogen immer wieder Stellen, in denen Mythen als ‚unwahre Erzählungen‘ tituliert werden, aber andererseits verwendet er selbst an wichtigen Punkten mythische Erzählungen: nämlich zumeist am Ende des philosophischen Gesprächs. An Platons Mythenkritik in der Politeia lässt sich die Bedeutungsverschiebung der beiden Begriffe mythos und logos gut veranschaulichen. Im Rahmen des dort propagierten Er|| sehen (wie etwa Hans Blumenberg). Diese Theorien werden im Rahmen dieser Arbeit nicht im Einzelnen besprochen, da sie ihre Wirkmächtigkeit erst im postmodernen Diskurs entfalten. 4 Die Verwechslung prärationaler mit trans- oder postrationalen Denkfiguren bezeichnet Ken Wilber im Rahmen seiner „Integral Philosophy“ als sogenannte „Pre/Post-Fallacy“, die daraus resultiert, dass beide Denkformen nicht-rational sind. Vgl. hierzu ausführlich: Wilber, Ken: The Integral Vision. A very short introduction to the Revolutionary Integral Approach to Life, God, the Universe and Everything. Boston/London 2007. S. 213f. 5 Vgl. Burkert, Walter/Horstmann, Axel: Art. Mythos, Mythologie. S. 281.

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ziehungsideals werden die traditionellen Mythen als „unwahre Erzählungen“6 verworfen, da sie einen negativen Einfluss auf die kindliche Entwicklung haben könnten. Zugelassen werden in Platons idealem Staat nur noch „Gesänge an die Götter und Loblieder auf treffliche Männer“7. Auch im Vorspann zu den von Platon selbst verfassten mythischen Erzählungen, die als Schlussmythen den sokratischen elenchos abrunden, lässt sich die zunehmende Differenzierung der Begriffe logos und mythos ablesen. So schließt der platonische Sokrates seine Darlegungen über die wohlgeordnete Seele am Ende des Gorgias mit der Erzählung eines Unterweltmythos ab, den – so Sokrates – sein Gesprächspartner Kallikles „für ein Märchen“ (mythos) halten werde, er selbst jedoch für die „Wahrheit“ (logos).8 Hier wird also dem in den argumentativen Diskurs eingebetteten Mythos zugetraut, beim Adressaten der Erzählung einen Erkenntnisgewinn zu bewirken – einerseits durch seine narrative Struktur, die einen anderen Zugang zur im elenchos besprochenen Thematik ermöglicht, und andererseits durch die Verschiebung der Bezugsebene in ein jenseitiges Belohnungs- und Bestrafungsmodell. Sieht man von Platons eigener ambivalenter Haltung dem Mythos gegenüber einmal ab, so kann man immerhin an seiner Verwendung der Begriffe mythos und logos die kritische Differenzierung von mythischem und rationalem Denken als einander entgegengesetzten Modellen beobachten, die in der Antike in Gang gesetzt wird.9 Auch die allegorische Mythenauslegung, die in vollem Umfang zuerst von der Stoa praktiziert wird, geht von dieser Differenz aus und versucht, die bildliche Unmittelbarkeit der mythischen Erzählungen in die Sprache des logos zu übersetzen (und so beispielsweise die griechischen Götter als Symbole für Naturkräfte zu deuten). Die allegorische Lesart, die besonders im Mittelalter vorherrschend wird, bietet die Möglichkeit, Mythen als physiologische, psychologische oder ethische Analogien zu verstehen. Ebenso wie die euhemerische Zurückführung mythischer Figuren auf historische Charaktere erlaubt dieser Zugang zum Mythos die ‚Entschlüsselung‘ des Unzugänglichen und die Über-

|| 6 Platon: Politeia. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 3. Hg. von Ernesto Grassi. Übers. von Friedrich Schleiermacher. Hamburg 1957ff, 604b. 7 Ebd. 607a. 8 Platon: Gorgias. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1. Hg. von Ernesto Grassi. Übers. von Friedrich Schleiermacher. Hamburg 1957ff. 523a. 9 Weiterführende Darstellungen zu Platons Verhältnis zum Mythos finden sich etwa bei Cürsgen, Dirk: Die Rationalität des Mythischen. Der philosophische Mythos bei Platon und seine Exegese im Neuplatonismus. Berlin/New York 2002, oder bei Janka, Markus/Schäfer, Christian: Platon als Mythologe. Neue Interpretationen zu den Mythen in Platons Dialogen. Darmstadt 2002.

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führung des bildlich-symbolisch ausgestalteten prärationalen Wissens in einen rationalen Diskurs.10 Die Vorstellung, dass der Gehalt mythischer Erzählungen in die Sprache moderner Wissenschaften übersetzt werden kann, hält sich bis in die Aufklärung. So geht auch Francis Bacon in seiner Sapientia veterum (1609) davon aus, dass Mythen primitives Wissen in verkleideter Form enthalten: […] these fables contain certain hidden and involved meanings […], by which they sought to teach and lay open, not to hide and conceal knowledge.11

Im Rahmen seiner Mythenanalysen deutet er beispielsweise die Figur des Orpheus als Allegorie auf die frühe Philosophie12 und handelt seine Affektlehre am Beispiel des Dionysos-Mythos ab13. Diesem affirmativen aufklärerischen Zugang, der in den überlieferten Mythen zumindest eine prärationale Verkleidung sinnvollen Wissens vermutet, steht die Religionskritik der Aufklärung gegenüber, die in Mythen und Ritualen Instrumente zur autoritären Machtsicherung in religiösen Systemen sieht. Ein Beispiel für diesen Strang der Aufklärung wäre etwa Diderots populäre These vom ‚Priesterbetrug‘.14 Obwohl sich das aufklärerische Interesse am Mythos und die gleichzeitig einsetzende Religionskritik gegensätzlich gegenüberzustehen scheinen, ist ihnen doch gemeinsam, dass sie im Mythos eine prärationale und defizitäre Form des Denkens sehen, die dem rationalen Denken vorausgeht und als obsolet zu betrachten ist, wenn sie nicht in die Sprache des rationalen Diskurses überführt werden kann. Gegen diese Verhältnisbestimmung von mythischem und rationalem Denken wenden sich die Romantik und der Deutsche Idealismus mit einem neu entfachten Interesse am Mythos.15 Es ist nun im Gegenzug der aufklärerische

|| 10 Zur Geschichte der allegorischen und euhemerischen Lesart vgl. Brisson, Luc: Einführung in die Philosophie des Mythos. Antike, Mittelalter und Renaissance. Übers. v. Achim Russer. Darmstadt 1996. S. 43ff. 11 Bacon, Francis: The Wisdom of the Ancients. In: Ders.: The Works of Francis Bacon, Lord Chancellor of England. Hg. von Basil Montagu. London 1859. S. 286. 12 Ebd. S. 295 13 Ebd. S. 303. 14 Vgl. hierzu Jamme, Christoph: Einführung in die Philosophie des Mythos. Neuzeit und Gegenwart. Darmstadt 1991. S. 18. 15 Zur Mythosauffassung im Deutschen Idealismus und der deutschen Romantik vgl. Frank, Manfred: Der kommende Gott. Vorlesungen über die neue Mythologie. Frankfurt a. M. 1982; Gockel, Heinz: Mythos und Poesie. Zum Mythosbegriff in Aufklärung und Frühromantik. Frankfurt a. M. 1981; Jamme, Christoph: Einführung in die Philosophie des Mythos. Neuzeit und Gegenwart. Darmstadt 1991; Jamme, Christoph: Mythos als Aufklärung. Dichten und Denken um 1800. München 2013.

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Begriff von Vernunft, der als defizitär betrachtet wird und auf dem Prüfstand steht: da Rationalität notwendig mit Differenzierung und Grenzziehung einhergeht, entspringt aus ihr auch immer zugleich der Wunsch nach einer Wiederkehr des verloren geglaubten Einheitszustandes. Diese Einheit vermuten die Romantiker im mythischen Denken, das sich dadurch auszeichnet, dass alle Dinge durch „Beziehung und Verwandlung“16 miteinander verbunden sind, wie Friedrich Schlegel in seiner Rede über die Mythologie (1800) darlegt. Im Gegensatz zur Ästhetisierung der überlieferten Mythen im Programm der deutschen Klassik, fordern die Vertreter von Romantik und Deutschem Idealismus daher eine „neue Mythologie“17. Im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus (1797)18, dessen Verfasser bis heute nicht eindeutig bestimmt werden konnte19, wird diese Forderung zum ersten Mal artikuliert: Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die, soviel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist – wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden. […] So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden und das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns.20

Hier klingt bereits die Kernforderung an eine ‚neue Mythologie‘ an. Sie soll keineswegs einen Rückschritt hinter die aufgeklärte Vernunft bedeuten – im Gegenteil: Vernunft und Phantasie sollen in diesem Projekt synthetisiert und transzendiert werden. Philosophie und Mythos werden zu Symbolen einander entgegengesetzter Formen der menschlichen Erkenntnismöglichkeit stilisiert. Auf der einen Seite steht der sinnliche Zugriff des Mythos, auf der anderen der Anspruch der Philosophie auf vernünftige Welterklärung – die gewünschte ‚Einheit‘ bzw. das Ideal einer ganzheitlichen Erkenntnis kann aber nur in einer

|| 16 Schlegel, Friedrich: Gespräche über Poesie. In: Ders.: Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe. Hg v. Ernst Behler. 1. Abt. Bd. 2. München u.a. 1967. S. 311–329. Hier: S. 317. 17 Ebd. S. 312. 18 Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. In: Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Werke. Hg v. E. Moldenhauer und K. M. Michel. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1979. S. 234–237. 19 Als Verfasser kommen Schelling, Hegel oder Hölderlin in Frage. Der Text fand sich bei Hegels Manuskripten und wurde 1917 von Franz Rosenzweig erstmals veröffentlicht. Zur Debatte um die Verfasserschaft vgl. Frank, Manfred: Der kommende Gott; Gockel, Heinz: Mythos und Poesie; Jamme, Christoph: Mythos als Aufklärung. 20 Ältestes Systemprogramm. S. 237.

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Synthese der beiden Vermögen erreicht werden, die mit dem Schlagwort ‚neue Mythologie‘ bezeichnet ist. In seiner Rede über die Mythologie schließt sich Schlegel explizit diesem Programm an, dessen Überlegungen er als Anzeichen dafür deutet, dass „die Menschheit aus allen Kräften ringt, ihr Zentrum zu finden“21. Dieser geistige Mittelpunkt fehle in der Zeit nach der Aufklärung, da der Mythos seine identitätsstiftende Rolle eingebüßt habe.22 Aus diesem Befund schließt aber auch Schlegel keinesfalls, dass es einer Rückkehr zu alten Glaubensformen und Mythen bedürfe, sondern er grenzt die alte Form des Mythos deutlich von dem nun entwickelten Konzept der ‚neuen Mythologie‘ ab. Während die überlieferten Mythen der „jugendlichen Fantasie“ der Völker entsprungen seien, solle die neuen „aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden“23. Die ‚neue Mythologie‘ schließt also auch hier die Vernunft ein, übersteigt jedoch zugleich deren Erkenntniskapazität: Einen großen Vorzug hat die Mythologie. Was sonst das Bewußtsein ewig flieht, ist hier dennoch sinnlich geistig zu schauen […].24

Sowohl die Romantik als auch der Deutsche Idealismus entwerfen also die Idee einer Synthese der rationalen Vernunft mit der als ‚sinnlich‘ beschriebenen Erkenntnisqualität, die aus dem intuitiven Verstehen eines Mythos entspringt. Dieses Bestreben, die beiden Erkenntnisformen in einer höheren Einheit zu verbinden, entspricht der oben erläuterten Position 3), deren Vertreter Mythen als Verweis auf transrationale Erfahrung begreifen. Im Anschluss an diesen schlaglichtartigen Überblick über den historischen Mythosdiskurs sollen nun die drei erwähnten Positionen der Verhältnisbestimmung zwischen ‚mythischem‘ und ‚rationalem‘ Denken ausführlicher in der modernen Philosophie verfolgt werden.25 Dazu werden zunächst die Positionen Arthur Schopenhauers, Johann Jakob Bachofens und Sigmund Freuds als exemplarisch für das Verständnis von Mythen als prärationaler Einkleidung rational erfassbarer Zusammenhänge behandelt, bevor in einem zweiten Schritt mit Friedrich Nietzsche, Ludwig Klages und Alfred Rosenberg die Vertreter der

|| 21 Schlegel, Friedrich: Rede über die Mythologie. S. 313. 22 Ebd. S. 311. 23 Ebd. 24 Ebd. S. 317. 25 Der Begriff ‚Philosophie‘ bzw. ‚philosophischer Diskurs‘ wird hier in einem weiten Sinne verstanden und umfasst neben den Theorien von klassischerweise der Philosophie zugeordneten Denkern wie Schopenhauer und Nietzsche auch Ansätze, die von Psychoanalytikern wie Freud und Jung oder klassischen Philologen wie Karl Kerényi stammen.

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Irrationalismus-These zur Sprache kommen. Abschließend werden die Positionen Carl Gustav Jungs und Karl Kerényis beleuchtet, die in mythischen Erzählungen den Versuch sehen, einen transrationalen Erkenntniszusammenhang zu eröffnen.

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2.1 Mythen als prärationaler Weltzugang Moderne Ansätze, bei denen Mythen als prärationaler Weltzugang bestimmt werden, finden sich bei Schopenhauer, Bachofen und Freud. Sie gehen alle davon aus, dass mythische Symbolsprache im Zuge der Aufklärung und der Entwicklung neuzeitlicher Wissenschaft als Modell der Welterklärung obsolet geworden ist, weil alles, was in Mythen zum Ausdruck kommt, nun in die Sprache rationaler Begrifflichkeit überführt werden kann.

2.1.1 Arthur Schopenhauer (1786–1860) Arthur Schopenhauers Überlegungen zum Mythos bilden ein Bindeglied zwischen den Positionen der Aufklärung und der Romantik auf der einen und dem modernen Mythosdiskurs auf der anderen Seite.26 Zwar knüpft seine Philosophie an Kant und Fichte an, sie weist aber zugleich auch über sie hinaus auf die Rationalitätskritik der Moderne hin.27 Auch Schopenhauers Mythos-Auffassung im Speziellen nimmt eine solche Zwischenstellung zwischen Aufklärung und Moderne ein. Einerseits folgt er der aufklärerischen Religionskritik insofern, als er mythische Erzählungen für menschliche Projektionen hält, die einem Bedürfnis nach hierarchischer Einordnung des menschlichen Lebens unter eine imaginäre Autorität entspringen.28 Andererseits schließt er sich aber auch an die eher affirmative aufklärerische Sichtweise an, die im Mythos ein prärationales Erkenntnismedium vermutet: in diesem Zusammenhang spricht er von Mythen als „Wahrheit im

|| 26 Zum Mythosverständnis Arthur Schopenhauers vgl. Birnbacher, Dieter: Schopenhauer als Ideologiekritiker. In: Ders. (Hg.): Schopenhauer in der Philosophie der Gegenwart. Würzburg 1996. S. 45–58; Janaway, Christopher: Art. Arthur Schopenhauer. In: Craig, Edward (Hg.): Routledge Encyclopedia of Philosophy. London/New York 1998. S. 545–554; Schubbe, Daniel/Koßler, Mathias (Hg.): Schopenhauer Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2014. 27 Vgl. hierzu Schmidt, Alfred: Schopenhauer als Aufklärer. In: Birnbacher, Dieter (Hg.): Schopenhauer in der Philosophie der Gegenwart. Würzburg 1996. S. 18–44. 28 Vgl. Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. Band 1. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen. Frankfurt a. M. 1986. Hier: § 58. S. 443. Zitiert wird aus der Ausgabe des ersten Bandes, die 1844 als zweite ‚durchgängig verbesserte und sehr vermehrte‘ Ausgabe gemeinsam mit dem zweiten Band erschienen ist. Die Änderungen im Verhältnis zur Erstausgabe von 1819 sind dem textkritischen Nachwort zu entnehmen: Vgl. ebd. S. 719–731.

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Gewand der Lüge“29. Es sind allerdings nur bestimmte Mythen – nämlich die hinduistischen und buddhistischen –, die laut Schopenhauer eine Wahrheit transportieren, die es wert erscheint, in die Sprache der Philosophie übersetzt zu werden.30 Diese scheinbar widersprüchlichen Positionen verhandelt Schopenhauer in seinem Essay Über Religion im Rahmen eines Dialogs zwischen dem ‚Volksfreund‘ Demopheles und dem ‚Wahrheitsfreund‘ Philalethes.31 Während Demopheles religiöse Mythen für die „allegorische Einkleidung der Wahrheit“ und die „Metaphysik des Volkes“32 hält, wendet Philalethes ein, dass mythologische ‚Einkleidung‘ der philosophischen Wahrheitssuche grundsätzlich im Weg stehe.33 Für ihn sind Mythen ein Produkt der prärationalen ‚Kindheitsphase‘ der Menschheit34, die im Zeitalter der Vernunft obsolet geworden sind und im Rahmen der institutionalisierten Religion nur noch dazu dienen, „Mißbrauch“ mit dem „starke[n] metaphysische[n] Bedürfnis des Menschen“35 zu treiben. Der Dialog führt die beiden Positionen zu keiner Synthese. Das Gespräch endet lediglich mit einem Kompromiss, indem beide Gesprächspartner einwilligen, zwei Seiten derselben Medaille beleuchtet zu haben. Demopheles und Philalethes kommen überein, dass religiöse Mythen „wie der Janus“ zwei Gesichter haben, von denen die beiden „jeder ein anderes ins Auge gefaßt“36 haben. 2.1.1.1 Die Duplizität der Welt als Wille und Vorstellung An dieser Stelle lohnt es sich – mit Demopheles – zu fragen, worin denn für Schopenhauer die ‚Wahrheit‘ besteht, die der Mythos im ‚Gewand der Lüge‘ transportiert. Sein Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) bietet auf diese Frage eine zweiteilige Antwort: Zum einen ist im hinduistischen und buddhistischen Mythos die metaphysische Annahme einer ‚Welt als Wille und Vor-

|| 29 Schopenhauer, Arthur: Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schiften. Bd. 2. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen. Darmstadt 1965. S. 393. 30 Vgl. Schopenhauer, Arthur: Welt als Wille und Vorstellung I. § 68. S. 520f. 31 Schopenhauer, Arthur: Über Religion. In: Parerga und Paralipomena. Bd. 2. S. 382–466. Die Schrift ‚Über Religion‘ erschien 1851 im zweiten Band der ‚Parerga und Paralipomena‘ und wurde erst nach dem Hauptwerk ‚Die Welt als Wille und Vorstellung‘ verfasst. Sie wird hier dennoch zuerst behandelt, da sich einige Aspekte von Schopenhauers Mythosbegriff anhand dieser Schrift sinnvoll verdeutlichen lassen. 32 Ebd. S. 383. 33 Vgl. ebd. S. 384. 34 Vgl. ebd. S. 385. 35 Ebd. S. 424. 36 Ebd. S. 425.

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stellung‘ präfiguriert und zum anderen ist dort auch das Vorbild für die Schopenhauersche Mitleidsethik angelegt, die als Konsequenz dieser metaphysischen Annahme zu verstehen ist. Beide Komponenten kommen im Metempsychose-Mythos zum Ausdruck, der – so Schopenhauer – als „non plus ultra mythischer Darstellung“37 allen Religionen außer den monotheistischen eigen sei. Um Schopenhauers Positionierung zur Relevanz von Mythen adäquat nachvollziehen zu können, ist also ein genauerer Blick auf seine Philosophie und seine geistesgeschichtlichen Hintergründe vonnöten.38 Eine der Grundlagen für die Entwicklung von Schopenhauers Willensphilosophie liegt in seiner Beschäftigung mit den asiatischen Philosophien und Religionen, die im 19. Jahrhundert durch zahlreiche Übersetzungen einer größeren Öffentlichkeit bekannt werden. Bereits zu Beginn seiner Arbeit an seinem Hauptwerk leiht sich Schopenhauer das Asiatische Magazin aus, das einige buddhistische Sutras und die Bhagavad-Gita in Übersetzungen bringt. 1814 folgt das von Schopenhauer vielfach zitierte Oupnek´hat, eine lateinische Übersetzung von 50 Upanishaden, die allerdings auf einen persischen Urtext zurückgeht und so den vedischen Text mit Elementen der Sufi-Mystik in Verbindung bringt.39 Im Laufe seiner Arbeit an der Welt als Wille und Vorstellung liest Schopenhauer darüber hinaus zahlreiche weitere Übersetzungen von buddhistischen und hinduistischen Schriften, darunter die neun Bände der Asiatick Reasearches, aus denen er zahlreiche Begriffe exzerpiert und sich eine „indische Methode“40 ableitet. Diese geht von der subjektiven Wahrnehmung aus, um die Konstruktion der menschlichen Vorstellungen zu entlarven, anstatt sich mit den Verhältnissen von Objekten untereinander zu beschäftigen.41 Prägend für Schopenhauers eigene Philosophie ist vor allem der asiatischen Philosophien und Religionen gemeinsame Gedanke der Einheit alles Seienden (sat), die || 37 Schopenhauer, Arthur: Welt als Wille und Vorstellung I. § 63. S. 487. 38 Eine zusammenfassende Einführung zum Einfluss der asiatischen Religionen und Philosophien auf Schopenhauers Philosophie findet sich bei App, Urs: Art. Asiatische Philosophien und Religionen. In: Schubbe, Daniel/Koßler, Mathias (Hg.): Schopenhauer Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2014. S. 187–192; eine kritische Bewertung von Schopenhauers Rezeption des Buddhismus bei Wenchao, Li: ‚Der Wille ist meine Vorstellung‘. Kritische Bemerkungen zu Schopenhauers Philosophie und der Lehre Buddhas. In: Birnbacher, Dieter (Hg.): Schopenhauer in der Philosophie der Gegenwart. Würzburg 1996. S. 119–124. 39 App weist darauf hin, dass Schopenhauer aus dieser Mischung zweier Philosophien den Gedanken der Selbstoffenbarung des Willens abgeleitet haben könnte, der eher islamischen Ursprungs sei. Vgl. App: Art. Asiatische Philosophien und Religionen. S. 188. 40 Ebd. S. 189. 41 Vgl. hierzu Schopenhauer, Arthur: Der handschriftliche Nachlass in 5 Bänden. Bd. 1. Hg. von Arthur Hübscher. München 1985. S. 107

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durch die Täuschung der menschlichen Vorstellungen verdeckt wird (bei Schopenhauer als Schleier der Maja bezeichnet), und der daraus resultierenden ethischen Konsequenz (tat tvam asi), auf die noch näher einzugehen sein wird. Diese Erkenntnisse verbindet er mit Immanuel Kants transzendentalem Idealismus, der ebenfalls davon ausgeht, dass das Subjekt im Erkennen der Welt einer ‚Täuschung‘ unterliegt: die Objekte unserer Anschauung sind uns nicht direkt gegeben (als ‚Ding an sich‘), sondern nur ideell in der Konstruktion unseres Erkenntnisapparates. In seiner Kritik der Kantischen Philosophie42 bezeichnet Schopenhauer dementsprechend „die Unterscheidung der Erscheinung vom Dinge an sich“ als „Kants größtes Verdienst“43. Anders als Kant führt Schopenhauer diese Unterscheidung jedoch auf die physiologischen „Gehirnfunktionen“44 zurück und geht davon aus, dass die wesentlichen und daher allgemeinen Formen alles Objekts, welche Zeit, Raum und Kausalität sind, auch ohne die Erkenntnis des Objekts selbst, vom Subjekt ausgehend, gefunden und vollständig erkannt werden können, d.h. in Kants Sprache, a priori in unserem Bewußtsein liegen.45

Ausgehend von diesem gemeinsamen Befund schlägt Schopenhauer jedoch eine gänzlich andere Richtung ein als Kant. Während dieser das Ende der Metaphysik aus der Unmöglichkeit eines Wissens über das ‚Ding an sich‘ ableitet, schließt Schopenhauer demgegenüber daraus, dass der Begriff der Metaphysik selbst mangelhaft sei und diese „aus dem Verständnis der Welt selbst“46 erwachsen müsse. Und genau dazu dient die ‚indische Methode‘, mithilfe derer der Philosoph ausgehend von der Wahrnehmung des Subjektes selbst „den Willen als das An-sich unserer eigenen Erscheinung“47 zu erkennen vermag. Hierin liegt der Ausgangspunkt für Schopenhauers Konzept der Duplizität der Welt als Wille und Vorstellung. Die Welt ist insofern unsere ‚Vorstellung‘, als das Subjekt weder sich selbst als solches48 noch die Objekte der materialen Realität ‚an sich‘ erkennen kann,

|| 42 Diese befindet sich im Anhang der Welt als Wille und Vorstellung I: Kritik der Kantischen Philosophie. S. 561–715. 43 Ebd. S. 564. 44 Ebd. S. 578. 45 Schopenhauer, Arthur: Welt als Wille und Vorstellung I. § 2. S. 34. 46 Schopenhauer, Arthur: Kritik der Kantischen Philosophie. S. 578. 47 Ebd. S. 588. 48 „Dasjenige, was alles erkennt und von keinem erkannt wird, ist das Subjekt.“ Schopenhauer, Arthur: Welt als Wille und Vorstellung I. § 2. S. 33.

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sondern immer nur als unsere dem „Satz vom Grunde“49 (also Raum, Zeit und Kausalität) unterworfenen Vorstellungsinhalte: Keine Wahrheit ist also gewisser, von allen anderen unabhängiger und eines Beweises weniger bedürftig als diese, daß alles, was für die Erkenntnis da ist, also diese ganze Welt, nur Objekt in Beziehung auf das Subjekt ist, Anschauung des Anschauenden, mit einem Wort: Vorstellung.50

Die ‚Welt als Wille‘ wird demgegenüber als die von den drei genannten Wahrnehmungskategorien unabhängige Realität gedacht, die Schopenhauer im Begriff des „Dinges an sich“ fasst.51 Den Willen als Ding an sich, der als zielloser Drang „in jeder blindwirkenden Naturkraft“52 erscheint, erkennt das Subjekt über die Vermittlung der eigenen Körperlichkeit, da diese zugleich aus der Perspektive der Vorstellung und als Objektivation des Willens betrachtet werden kann.53 An die Bestimmung des Willens als ‚Ding an sich‘, das nicht durch Raum, Zeit und Kausalität bedingt ist, knüpft sich eine wichtige Voraussetzung der Schopenhauerschen Ethik. Denn wenn die an-sich-seiende Realität im Begriff des Willens gefasst wird, so folgt daraus auch, dass die Vielfalt der Erscheinungen eine Illusion unserer Vorstellung ist: Wie eine Zauberlaterne viele mannigfache Bilder zeigt, es aber nur eine und dieselbe Flamme ist, welche ihnen allen die Sichtbarkeit erteilt; so ist in allen mannigfachen Erscheinungen […] doch nur der eine Wille das Erscheinende, dessen Sichtbarkeit, Objektivität das alles ist und der unbewegt bleibt in jenem Wechsel […].54

Mit der Erkenntnis des Willens als ‚Ding an sich‘ ist somit das principium individuationis55 als Täuschung entlarvt. Alle Dinge der uns erscheinenden materialen

|| 49 Ebd. § 2. S. 34. 50 Ebd. § 1. S. 31. 51 Ebd. § 21. S. 170.; Vgl. auch Ebd. § 24. S. 182f. Zur Terminologie Schopenhauers ist in diesem Zusammenhang hinzuzufügen, dass er zwar Kants Konzept des ‚Dinges an sich‘ als ‚Wille‘ bestimmt, sich damit aber nicht auf Kants Willensbegriff bezieht, sondern auf seinen eigenen spezifischen Begriff von ‚Willen‘, wie er im Folgenden erläutert wird. 52 Ebd. § 21. S. 170. 53 „Die Aktion des Leibes ist nichts anderes als der objektivierte, d.h. in die Anschauung getretene Akt des Willens.“ Schopenhauer, Arthur: Welt als Wille und Vorstellung I. § 18. S. 158. 54 Ebd. § 28. S. 226. 55 Den Begriff des principium individuationis definiert Schopenhauer als „Zeit und Raum“, verstanden als „Existenzgrund der Einzelwesen“ – also als dasjenige Prinzip, mithilfe dessen

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Realität sind in Wahrheit Objektivationen desselben Willens, derselben ungeteilten Realität. Allein die Kategorien Zeit und Raum sind es, aufgrund derer „das dem Wesen und dem Begriff nach Gleiche“ uns als „Vielheit“56 erscheint. Mit dieser Argumentation ist die Grundlage für Schopenhauers Mitleidsethik gelegt. Im vierten Buch der Welt als Wille und Vorstellung erläutert Schopenhauer beispielhaft die Tugend der Gerechtigkeit, um zu zeigen, dass moralisches Handeln nicht aus einer abstrakten Erkenntnis motiviert sei, sondern aus der intuitiven Einsicht in die Täuschung des principium individuationis. Das Gebot der Gerechtigkeit gegenüber allen Individuen ergebe sich so aus der Identifikation des eigenen Willens zum Leben mit dem eines Anderen.57 Der tugendhafte Mensch zeichne sich dadurch aus, dass er keinen „Unterschied macht zwischen sich und anderen“58 und fremdes Leiden wie sein eigenes empfinde. In diesem ‚Mit-Leiden‘ liegt der Kern der schopenhauerschen Ethik begründet: Denn jenem, der die Werke der Liebe übt, ist der Schleier Maja durchsichtig geworden, und die Täuschung des principii individuationis hat ihn verlassen.59

Jedes moralische Handeln fußt also auf der Identifikation der eignen Existenz mit der aller anderen Wesen, was Schopenhauer an zahlreichen Stellen mit dem brahmanistischen Leitsatz tat tvam asi („Das bist du.“) zusammenfasst.60 Diese essentielle Formel findet sich neunmal wiederholt im sechsten Kapitel des Chandogya-Upanishad, in dem ein Lehrgespräch zwischen Uddalaka und seinem Sohn Swetaketu berichtet wird. Swetaketu lernt, dass die wahre Natur jeder Einzelseele in der Einheit mit der ungeteilten Realität liegt – dass sie also nicht getrennt von allen anderen Wesen existiert, sondern mit ihnen eins ist. 61

|| ein Individuum über Zeit und Raum hinweg als dasselbe identifiziert werden kann. Ebd. § 23. S. 173. 56 Ebd. 57 Vgl. ebd. § 66. S. 504. 58 Ebd. § 66. S. 506. 59 Ebd. §66. S. 507f. 60 Um nur einige Stellen zu nennen: Schopenhauer, Arthur: Welt als Wille und Vorstellung I. § 34. S. 260; § 63. S. 485; § 66. S. 509; Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung. Band 2. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen. Frankfurt a. M. 1960. Hier: Kap. 47. S. 770; Schopenhauer, Arthur: Über die Grundlage der Moral. Hg. von Peter Welsen. Hamburg 2007. S. 170. 61 Der Vater erklärt Swetaketu: “That particle which is the Soul of all this is Truth; it is the Universal Soul. O Swetaketu, thou art that.” Chandogya Upanishad of the Sama Veda. Hg. von

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Schopenhauer verweist in Bezug auf die ethische Implikation dieser Erkenntnis aber nicht nur auf die theologischen Darlegungen in den Upanishaden, sondern er bezieht sich auch immer wieder auf die mythischen Erzählungen der Bhagavad-Gita62, dem sechsten Buch des hinduistischen Mahabharata Epos (entstanden im 3. Jahrhundert v. Chr.). Hier erscheint Krishna dem Krieger Arjuna, nachdem dieser geklagt hatte, er wolle in einer Schlacht nicht gegen seine eigenen Verwandten kämpfen. Krishna beschwichtigt ihn mit eben jenem Argument, das Schopenhauer philosophisch ausdeutet: Wer in den Lebewesen all denselben höchsten Herrn erblickt, Der nicht vergeht, wenn sie vergehn, - wer das erkennt, hat recht erkannt. Denn wer denselben Herrn erkennt als den, der Allen innewohnt, Verletzt das Selbst nicht durch das Selbst und wandelt so die höchste Bahn.63

Eben diese Verse zitiert Schopenhauer in der lateinischen Übersetzung von August Wilhelm Schlegel am Ende seiner Grundlage der Moral.64 Indem Schopenhauer für den Begriff des brahman seinen Willensbegriff einsetzt, hat er keine Schwierigkeiten, die Offenbarung Krishnas in der Bhagavad-Gita als mythische Präfiguration seiner Willensphilosophie zu nutzen. 2.1.1.2 Der Metempsychose-Mythos Darüber hinaus bezieht sich Schopenhauer an zahlreichen Stellen seines Werks auf den Metempsychose-Mythos65, da dieser ebenfalls die beiden besprochenen Elemente seiner Willensphilosophie enthält: zum einen bietet er eine bildliche Einkleidung des Gedankens vom allgegenwärtigen Willen und zum anderen gibt es auch hier eine ethische Implikation, die aus dieser Voraussetzung folgt. In §54 der Welt als Wille und Vorstellung setzt sich Schopenhauer mit dem Phänomen der Todesfurcht auseinander und sucht diese philosophisch zu entkräften. Er sieht im Mythos von der Seelenwanderung eine anthropologische Kon-

|| Asiatic Society of Bengal. Übers. v. Rájendralála Mitra. Osnabrück 1980. Chapter 6, Section VIII. S. 111. 62 So beispielsweise in Schopenhauer, Arthur: Welt als Wille und Vorstellung I. § 54. S. 392 oder in Schopenhauer, Arthur: Grundlage der Moral. S. 173. 63 Bhagavadgita. Des Erhabenen Sang. Übers. von Leopold von Schroeder. Jena 1922. 13. Gesang, V. 27ff. S. 63f. 64 Vgl. Schopenhauer, Arthur: Grundlage der Moral. S. 173. 65 So in Schopenhauer, Arthur: Welt als Wille und Vorstellung I. § 62. S. 478; Über Religion. S. 430; Zur Lehre von der Unzerstörbarkeit unsers wahren Wesens durch den Tod. In: Parerga und Paralipomena. S. 316–333. Hier: S. 326.

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stante und einen Ausdruck der Angst vor dem Tod, vor der die Vorstellung eines Fortbestands der Seele nach dem Tod eine Ausflucht bietet.66 Während aber der Mythos das Fortleben des Individuums bildlich ausgestaltet, gibt Schopenhauer eine philosophische Deutung desselben: Nicht das Individuum widersteht dem Tod, sondern der Wille als Ding an sich ist der Vergänglichkeit entzogen.67 Der Wille erscheint in der Form des Lebens als ausdehnungslose Gegenwart, als das nunc stans der Scholastiker: Wir können die Zeit einem endlos drehenden Kreise vergleichen: die stets sinkende Hälfte wäre die Vergangenheit, die stets steigende die Zukunft; oben aber der unteilbare Punkt, der die Tangente berührt, wäre die ausdehnungslose Gegenwart: wie die Tangente nicht mit fortrollt, so auch nicht die Gegenwart […].68

Diese philosophische Einsicht ist auch im Metempsychose-Mythos enthalten, insofern dieser die Idee der zeitlosen Gegenwart in eine bildlich darstellbare Sukzession der ‚Seelenwanderung‘ oder der ‚ewigen Wiederkunft‘ verpackt: In Wahrheit aber ist das beständige Entstehn neuer Wesen und Zunichtewerden der vorhandenen anzusehn als eine Illusion, hervorgebracht durch den Apparat zweier geschliffener Gläser (Gehirnfunktionen), durch die allein wir etwas sehen können: sie heißen Raum und Zeit und in ihrer Wechseldurchdringung Kausalität. […]69 [Die] Lehre von der Metempsychose entfernt sich bloß dadurch von der Wahrheit, daß sie in die Zukunft verlegt, was schon jetzt ist.70

Die Illusion einer Sukzession ist also nur dem menschlichen Erkenntnisapparat mit seinen ‚Gehirnfunktionen‘ Raum und Zeit geschuldet. Der MetempsychoseMythos trägt diese philosophische Erkenntnis in sich, verdeckt sie aber auch zugleich durch seine bildliche Darstellungsweise, indem er innerhalb der Zeit zeigen will, was eigentlich außerhalb der Zeit liegt. Die Vorstellung der Seelenwanderung deutet das nunc stans als in die Zukunft verlegte Sukzession aus und transportiert so im Bild der Seelenwanderung Schopenhauers metaphysische Grundannahme von der Allgegenwart des Willens.

|| 66 Vgl. Schopenhauer, Arthur: Welt als Wille und Vorstellung I. § 54. S. 386. 67 Vgl. ebd. § 54. S. 380. Deshalb unterscheidet Schopenhauer den Begriff der Metempsychose auch von der „Palingenesie“, die als Begriff besser zu seinem Konzept der Fortdauer des Willens passt. Vgl. Schopenhauer, Arthur: Lehre von der Unzerstörbarkeit unseres wahren Wesens. S. 326. 68 Schopenhauer, Arthur: Welt als Wille und Vorstellung I. § 54. S. 386. 69 Schopenhauer, Arthur: Lehre von der Unzerstörbarkeit unseres wahren Wesens. S. 319. 70 Schopenhauer, Arthur: Welt als Wille und Vorstellung II. Kap. 47. S. 770.

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Daran anschließend bietet der Mythos aber auch die Komponente der ethischen Konsequenz aus dieser Einsicht: Hinter dem Prinzip des karma verbirgt sich ebenfalls der Gedanke der Einheit alles Seienden, der dem tat tvam asi zugrunde liegt. Im zweiten Band der Welt als Wille und Vorstellung verbindet Schopenhauer explizit die epistemologische mit der ethischen Implikation des Metempsychose-Mythos: Sagen, daß Zeit und Raum bloße Formen der Erkenntnis, nicht Bestimmungen der Dinge an sich sind, ist dasselbe wie sagen, daß die Metempsychose-Lehre identisch ist mit der oft erwähnten Brahmanenformel ‚tat twam asi‘ – dies bist du.71

Die Einsicht in die Einheit alles Seienden und in die Trughaftigkeit des principium individuationis (oder des ‚Schleiers der Maja‘) ist damit erneut als Quelle alles echten moralischen Gefühls benannt. Diese Denkfigur leitet Schopenhauer, wie bereits gezeigt, zunächst aus den Veden ab72, fügt aber zugleich hinzu, dass diese begrifflich formulierte Erkenntnis dem Volk nur „mythisch“73 übersetzt weitergegeben wurde: Dem Volke aber wurde jene große Wahrheit […] in die Erkenntnisweise, welche dem Satz vom Grund folgt, übersetzt, [das] in der Form des Mythos ein Surrogat derselben empfing, welches als Regulativ für das Handeln hinreichend war, indem es die ethische Bedeutung desselben […] doch durch bildliche Darstellung faßlich macht.74

Hier bezieht sich Schopenhauer auf die Vorstellung, dass jedes Handeln in diesem wie im nächsten Leben Folgen hat, die subjektiv als Bestrafung oder Belohnung wahrgenommen werden – also auf das Grundprinzip des karma.75 Hinter dieser mythischen Projektion stecke jedoch genau das gleiche Prinzip wie schon bei der epistemologischen Ausdeutung der Allgegenwart des Willens: was außerhalb der Zeit liegt, wird vom Mythos ins Zeitliche ausgebreitet. Anstatt die vedische Weisheit von der Identität alles Seienden direkt auszusprechen, operiert der Mythos wiederum mit einer Sukzession: wer einem anderen Wesen Unrecht tut, wird in der Zukunft bestraft – nach Schopenhauers an die Veden angelehnter philosophischer Interpretation erleidet man in Wirklichkeit jedoch jedes Unrecht, das man einem anderen tut, sofort an sich selbst, sobald man das principium individuationis als Trug durchschaut hat. Da diese Einsicht

|| 71 Ebd. 72 Vgl. auch Schopenhauer, Arthur: Welt als Wille und Vorstellung I. S. § 34. 260; § 63. S. 485. 73 Ebd. § 63. S. 485. 74 Ebd. 75 Vgl. auch Ebd. § 63. S. 486

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laut Schopenhauer mystischer Natur ist und dementsprechend vom ‚Volk‘ nicht eingesehen werden kann, dient der Mythos der Vermittlung philosophischer Erkenntnis in einer dem „rohen Menschensinn“76 angemessenen Art und Weise. 2.1.1.3 Fazit Wirft man noch einmal einen Blick zurück auf den Dialog zwischen Demopheles und Philalethes im Essay Über Religion, so wird nun deutlich, dass Schopenhauer für beide Positionen Argumente vorbringt. Zwar wendet er sich einerseits wie Philalethes an zahlreichen Stellen gegen die institutionalisierte Religion, die dem Mythos ein Wahrheitspostulat überstülpt und so Unverständnis und Intoleranz fördert77, andererseits spricht sein eigener Gebrauch mythischer Versatzstücke für die Untermauerung seiner philosophischen Theorie auch für die Position des Demopheles. Der Metempsychose-Mythos transportiert klar eine ‚Wahrheit‘ – aber er tut dies ‚im Gewand der Lüge‘, indem er die Realität, die außerhalb von Zeit und Raum liegt, mit den Mitteln der zeitlichen Darstellung als Sukzession verpackt. Insofern bewegt sich Schopenhauer im Rahmen der aufklärerischen Mythenkritik, geht aber in einigen Punkten auch über sie hinaus. Zwar bestimmt er den Mythos einerseits als prärationales Erkenntnismedium78, aber andererseits sieht er in ihm auch ein adäquates Ausdrucksmittel. Schopenhauer wird nicht müde, die asiatischen Philosophien und Mythen als Ausgangspunkt seiner eigenen Philosophie zu benennen: die Veden sind für ihn „die Frucht der höchsten menschlichen Erkenntnis“79. Die moderne Philosophie führe nur „auf anderem Wege“80 zum selben Ziel: beide Ansätze zeigen, dass der menschliche Intellekt „nicht das wahre, letzte Wesen der Dinge, sondern bloß die Erscheinung derselben“81 erfasst. In diesem Zusammenhang weist Schopenhauers Philosophie auch auf die Rationalitätskritik der Moderne voraus, indem die Relevanz des aufklärerischen Vernunftbegriffes radikal eingeschränkt wird. Die Kategorien, innerhalb derer sich die vernünftige menschliche Erkenntnis bewegt, wer-

|| 76 Ebd. 77 Vgl. Schopenhauer, Arthur: Über Religion. S. 423. 78 In seinen ‚Mythologischen Betrachtungen‘ geht er davon aus, dass die alten Völker „gar nicht ihre Gedanken anders als in Bildern und Gleichnissen auszudrücken“ in der Lage waren. Vgl. Schopenhauer, Arthur: Einige mythologische Betrachtungen. In: Parerga und Paralipomena. S. 482–489. Hier: S. 483. 79 Schopenhauer, Arthur: Welt als Wille und Vorstellung I. § 63. S. 485. 80 Schopenhauer, Arthur: Welt als Wille und Vorstellung II. Kap. 41. S. 607. 81 Ebd.

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den als Illusion entlarvt, der Intellekt ist nur mehr ein „Werkzeug“82 des Willens. Dennoch knüpft Schopenhauer an keiner Stelle an die romantischidealistische Vision einer ‚neuen Mythologie‘ an. Er ist im Gegenteil davon überzeugt, dass die Einsichten, die aus den alten Mythen gewonnen werden können, philosophisch ausdeutbar sind. Im vierten Buch der Welt als Wille und Vorstellung betont er die Relevanz der abstrakten gegenüber der intuitiven Erkenntnis für die Philosophie und zeigt sich zuversichtlich, dass der Kern der mythischen Überlieferung in seiner Willensphilosophie „zum ersten Mal abstrakt und rein von allem Mythischen“83 zur Sprache komme. Hier schließt sich Schopenhauer also der aufklärerischen Auffassung an, dass alles, was im Medium des Mythos gesagt werden kann, sich in die rationale Sprache der Philosophie übersetzen lässt.

2.1.2 Johann Jakob Bachofen (1815–1887) Ähnlich wie das Werk Arthur Schopenhauers erfahren auch Johann Jakob Bachofens Schriften erst nach seinem Tod eine breite geistesgeschichtliche Rezeption. Seine Ausführungen zu den Mythen des ‚Mutterrechts‘ werden um die Jahrhundertwende und erneut in den 1920er Jahren zum Ausgangspunkt einer grundlegenden Debatte um das Verhältnis von Mythos und Moderne.84 Im Zuge der ganz unterschiedlichen Rezeptionsperspektiven von Marxismus und Feminismus bis hin zum Münchner Kosmiker-Kreis und Alfred Baeumler wird Bachofens altertumswissenschaftliche Problemstellung zunehmend politisiert. Die Auseinandersetzung mit vorgeschichtlichen Mythen wird so zum Schauplatz moderner Rationalismuskritik und politischer Grabenkämpfe.85 Bachofen selbst liegt eine solche Politisierung seines Werks fern: seine Mythenforschung ist einem historischen und philologischen Interesse geschuldet.

|| 82 Schopenhauer, Arthur: Welt als Wille und Vorstellung I. § 55. S. 403. 83 Ebd. § 68. S. 520. 84 Zur Rezeption Bachofens im deutschen Kulturraum vgl. Davies, Peter: Myth, matriarchy and modernity. Johann Jakob Bachofen in German culture 1860–1945. Berlin/New York 2010; Gossmann, Lionel: Orpheus Philologus. Bachofen versus Mommsen on the study of Antiquity. In: Transactions of the American Philosophical Society 73.5 (1983). S. 1–89; Heftrich, Eckard: Johann Jakob Bachofen und seine Bedeutung für die Literatur. In: Koopmann, Helmut (Hg.): Mythos und Mythologie in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1979. S. 235–250; Stagl, Justin: Johann Jakob Bachofen, ‚Das Mutterrecht‘ und die Folgen. In: Anthropos 25 (1990). S. 11–37. 85 Vgl. hierzu Kap. 2.2.2 zu Ludwig Klages.

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Nach seinem Studium in Basel, Berlin, Paris und Cambridge hatte er ab 1841 in Basel den Lehrstuhl für römisches Recht inne und beginnt sich erst nach einer Italienreise 1842 für antike Mythen und insbesondere die antike Gräbersymbolik zu interessieren. In seiner Selbstbiografie, die er in Briefform an seinen Lehrer Friedrich Carl von Savigny richtet, inszeniert Bachofen diese erste Italienreise dem klassischen Topos gemäß als Wendepunkt seines Gelehrtendaseins.86 Im Gegensatz zu den abstrakten Studien des römischen Rechts, die er bisher betrieben habe, sei die Erforschung der symbolischen Darstellungen auf den alten Grabstätten „unter der wärmenden Sonne“87 Italiens eine direkte und anschauliche Art der historischen Forschung, die dem deutschen Gelehrtendasein in „verrauchten Studierstuben“88 komplemenär entgegengesetzt sei. Bachofen tritt 1844 von seiner Professur zurück und legt im Folgejahr zudem sein Amt im Großen Rat Basels nieder. Spätestens nach seiner zweiten Italienreise 1848 widmet er sich ganz seinen historischen Studien: 1859 erscheint sein Versuch über die Gräbersymbolik der Alten, zwei Jahre später die umfangreiche Schrift zum Mutterrecht 89. Während beide Schriften zu Lebzeiten Bachofens kaum oder nur spöttisch rezipiert werden, gelangt die Vorrede zum Mutterrecht vierzig Jahre später zu Ruhm und bietet den Stoff für die hitzigen Auseinandersetzungen um das Werk, die im 20. Jahrhundert einsetzen. Da hier nicht nur Bachofens System eines Fortschritts vom Mutterrecht zum Vaterrecht dargestellt wird, sondern auch seine historische Methode und sein Mythosbegriff verhandelt werden, bietet sich die Vorrede als Ausgangspunkt für die Analyse von Bachofens Mythen-Verständnis an. 2.1.2.1 Bachofens Methode und Mythosbegriff Sowohl in der Vorrede zum Mutterrecht als auch in dem bereits erwähnten autobiografischen Brief an Savigny positioniert sich Bachofen zu den vorherrschenden Methoden der Altertumswissenschaft. Im positivistischen Wissenschaftsverständnis der Historischen Schule (der Savigny angehört) sei die Beschäftigung mit Mythen und Symbolen als historischen Quellen abgewertet worden – als Geschichtszeugen gelten nur noch ‚harte Fakten‘. Theodor Mo-

|| 86 Vgl. Bachofen, Johann Jakob: Selbstbiographie und Antrittsrede über das Naturrecht. Hg. von Alfred Baeumler. Halle/Saale 1927. 87 Ebd. S. 29. 88 Ebd. 89 Bachofen, Johann Jakob: Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur. Hg. von Hans-Jürgen Heinrichs. Frankfurt a. M. 1975.

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mmsens Ansatz in der Römischen Geschichte stehe Bachofens ganzheitlichem Verständnis der Antike gegenüber.90 Für ihn sind Mythen die „erste Form der Überlieferung“91, die den historischen Forscher dazu befähigen, die Differenz zwischen seiner Zeit und der Vorgeschichte in einem intuitiven Verstehensprozess zu überbrücken: Die mythische Überlieferung […] erscheint als der getreue Ausdruck des Lebensgesetzes jener Zeiten, in welchen die geschichtliche Entwicklung der alten Welt ihre Grundlagen hat, als die Manifestation der ursprünglichen Denkweise, als unmittelbare historische Offenbarung, folglich als wahre, durch hohe Zuverlässigkeit ausgezeichnete Geschichtsquelle.92

Bachofen wendet sich also gegen eine Trennung von Mythos und Geschichte. Mythen repräsentieren in seiner euhemerischen Deutung geschichtliche Realitäten, die sich im Laufe der Menschheitsentwicklung immer wieder abgespielt haben und so ihren Niederschlag in mythischen Erzählungen finden konnten. Diese versteht Bachofen als „Produkt einer Kulturperiode, in welcher das Völkerleben noch nicht aus der Harmonie der Natur gewichen ist“93, also auch als Ausdruck einer Lebenswirklichkeit und Denkweise, die sich von derjenigen der Moderne unterscheidet und deshalb auch nicht mit deren Kategorien interpretiert werden sollte. Anstelle von rationaler Differenzierungsleistung bilden Mythen ein Denken ab, das von der „Einheitlichkeit eines herrschenden Gedankens“ geprägt sei: sie bieten „überall System, überall Zusammenhang“94. Das Verstehen dieser als prärational gekennzeichneten Denkweise bedarf laut Bachofen daher auch eines anderen hermeneutischen Zugangs als die Arbeit mit faktischen Geschichtsquellen. Im Brief an Savigny skizziert Bachofen seine Vorstellung von einem intuitiven, unmittelbaren Verstehen, das der rationalen Analyse methodisch entgegengesetzt ist: Es gibt zwei Wege zu jeder Erkenntnis, den weitern, langsameren, mühsameren verständiger Kombination, und den kürzern, der mit der Kraft und Schnelligkeit der Elektrizität durchschritten wird, der Weg der Phantasie, welche von dem Anblick und der unmittelba-

|| 90 Zu Bachofens Auseinandersetzung mit Theodor Mommsen vgl. Gossmann, Lionel: Orpheus Philologus. S. 21ff. 91 Bachofen, Johann Jakob: Mutterrecht. S. 4. 92 Ebd. S. 5. 93 Ebd. S. 9. 94 Ebd.

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ren Berührung der alten Reste angeregt, ohne Mittelglieder das Wahre wie mit einem Schlage erfaßt.95

Bachofens ‚Arbeit am Mythos‘ besteht also in einer Art platonischer Schau, einer Hingabe an das Objekt der Anschauung anstelle seiner rationalen Zergliederung.96 Methodisch geht Bachofen induktiv vor: Es soll keine moderne Theorie auf die Vorgeschichte übertragen werden, um diese zu erklären, sondern aus dem gesammelten Material soll ein spontanes Verstehen der antiken Geisteshaltung entspringen. Bachofen wird daher nicht müde zu betonen: „Der Stoff ist mein Lehrmeister“97. Aus zahlreichen Einzelbefunden leite er so nach und nach eine „übergeordnete Idee“ ab, die sich letztlich zur „Einheitlichkeit eines obersten Gedankens“98 verdichten soll. Die Ähnlichkeit dieser Wortwahl zur Beschreibung seiner historischen Methode einerseits und seiner Charakterisierung des Mythos andererseits – ‚überall System, überall Zusammenhang‘ – lässt klar erkennen, dass auch hier die Trennung von Mythos und Geschichtsforschung aufgehoben wird. Mit Peter Davies kann man sagen: „his approach to history is mythological and his approach to myth historical”99. 2.1.2.2 Bachofens Theorie des Mutterrechts In seiner Vorrede zu der 1861 erschienenen Studie über das Mutterrecht legt Bachofen nicht nur seine Methodik dar, sondern er gibt auch einen zusammenfassenden Überblick über sein System und das Ziel seiner Forschung. Ausgehend von der modernen patriarchalen Gesellschaftsstruktur konstruiert er eine universell gültige Abfolge der Menschheitsentwicklung, die von einem als ‚Hetärismus‘ bezeichneten Naturzustand über die Entwicklung der sogenannten ‚Gynaikokratie‘ (dem ‚Mutterrecht‘) bis hin zum ‚Vaterrecht‘ führt. Fokus und Ziel seiner Studie bestehen darin,

|| 95 Bachofen, Johann Jakob: Selbstbiographie. S. 31. 96 Vgl. hierzu auch Gossmann, Lionel: Orpheus Philologus. S. 54. 97 Bachofen, Johann Jakob: Selbstbiographie. S. 44. 98 Bachofen, Johann Jakob: Mutterrecht. S. 59. 99 Davies, Peter: Myth and Maternalism in the work of Johann Jakob Bachofen. In: German Studies Review 28,3 (2005). S. 501–518. Hier: S. 509.

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[…] das bewegende Prinzip des gynaikokratischen Weltalters darzulegen und ihm sein richtiges Verhältnis einerseits zu tiefern Lebensstufen, andererseits zu einer entwickeltern Kultur anzuweisen.100

In den ausführlichen nachfolgenden Kapiteln, die jeweils einzelnen Völkern gewidmet sind, versucht Bachofen anhand von mythischer Überlieferung die Existenz matriarchal organisierter Kulturen in Griechenland, Ägypten und dem Vorderen Orient nachzuweisen. Er geht jedoch nicht davon aus, dass die von ihm untersuchten Kulturen eine menschheitsgeschichtliche Ausnahme darstellen, sondern er nimmt das ‚Mutterrecht‘ als universal gültige Phase der Menschheitsentwicklung an. Bachofen kommt also zu dem Schluss, dass „das Mutterrecht keinem bestimmten Volke, sondern einer Kulturstufe angehört“101. Innerhalb seines Systems gibt es drei solcher Kulturstufen, die durch zwei Übergangsphasen voneinander getrennt sind: Wie auf die Periode des Mutterrechts die Herrschaft der Paternität folgt, so geht jener eine Zeit des regellosen Hetärismus voran. Die demetrisch geordnete Gynaikokratie erhält dadurch jene Mittelstellung, in welcher sie als Durchgangspunkt der Menschheit aus der tiefsten Stufe des Daseins zu der höchsten sich darstellt.102

Die Phase des aphroditischen Hetärismus denkt sich Bachofen als ungezügelten Naturzustand, in dem Polygamie herrscht und die matrilineare Vererbung nur dadurch zustande kommt, dass die Kinder keinem Vater, sondern nur der Mutter zweifelsfrei zugeordnet werden können. Er vergleicht diesen Zustand mit einem Bienenstaat, in dem den männlichen Vertretern der Spezies nur die Rolle des anonymen Erzeugers zukommt.103 Aus dem Widerstand der Frauen gegen die polygame Praxis entstehe daraufhin als erste Phase des Übergangs die Einrichtung der monogamen Ehe, die den Beginn der demetrischen Gynaikokratie einläutet.104 Diese sei geprägt von der religiösen und familiären Vorherrschaft der Frau, der matrilinearen Vererbung und einer friedlichen Geisteshaltung, die auf die Gleichheit der mütterlichen Abstammung zurückgeht: „Ein Zug milder

|| 100 Bachofen, Johann Jakob: Der Mythus von Orient und Occident. Eine Metaphysik der alten Welt. Hg. von Manfred Schröter. München 1926. S. 1. Zur Darstellung von Bachofens Geschichtsphilosophie wird im Folgenden aus dem Auswahlband Manfred Schröters zitiert, da dieser Band die Kontroverse zwischen Thomas Mann und Alfred Baeumler ausgelöst hat, die in Kapitel 3.2.2 behandelt wird. 101 Ebd. S. 3. 102 Ebd. S. 30. 103 Vgl. ebd. S. 245f. 104 Vgl. ebd. S. 248.

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Humanität […] durchdringt die Gesittung der gynaikokratischen Welt.“105 Diese Gesellschaftsordnung verfällt jedoch in einem zweiten Übergang, den Bachofen als ‚Amazonentum‘ bezeichnet. Die Übersteigerung der weiblichen Macht werde letztlich vom apollinischen Vaterrecht abgelöst, in dem die Frau nun dem Mann untergeordnet ist und auch die Vererbung vom Vater auf den Sohn erfolgt.106 Zur Begründung dieser Entwicklungsgeschichte zieht Bachofen seine Mythenanalysen heran: zunächst geht er von der Verehrung der Himmelskörper aus und wendet sich danach den personalen Mythenfiguren zu. So sei das hetärische Zeitalter mit einer Verehrung der Erde verbunden gewesen, der Sumpf und seine Bewohner werden zum Symbol des „Urchaos, aus welchem alles Leben hervorgeht“107. Diesem tellurischen Kult folgt dann in der Phase des Mutterrechts die Verehrung des Mondes, der als mütterliches Gestirn letztlich die Sonne als Verkörperung des Sohnes und der männlichen Herrschaft hervorbringt.108 Die Anbetung der kosmischen Gestirne deutet Bachofen als Entwicklung, die mit der Ablösung der aufeinanderfolgenden Kulturstufen jeweils einhergeht. In den Hauptkapiteln, die den einzelnen Volksgruppen gewidmet sind, analysiert er im Anschluss daran auch die Beziehungen mythischer Figuren untereinander – ausgehend von der Annahme, dass sich auch in mythischen Geschichten die Schichten der Kulturentwicklung sichtbar machen lassen. Mythen sind für Bachofen schließlich „keine Dichtung, sondern ein wirkliches, wahrscheinlich unter ähnlichen Verhältnissen mehr als einmal durchgemachtes Erlebnis des Menschengeschlechts“109. Zeugnisse für mutterrechtlich organisierte Gesellschaften findet Bachofen in Geschichten um die Verbindung göttlicher Frauen mit sterblichen Männern, wie etwa bei Demeter und Iason.110 Auch der ägyptische Mythos um Isis und Osiris sei ein Beispiel für eine solche Verbindung, die die Macht der Frauen symbolisch darstellt: Unsterblich auch ist Isis, sterblich ihr Gemahl, wie die irdische Schöpfung, in der er sich offenbart. Darum steht die Mutter an der Spitze der Dinge.111

Später entstandene Mythen zeigen dagegen die Konflikte des Übergangs vom Mutter- zum Vaterrecht auf. So wird beispielsweise Orests Muttermord zum

|| 105 Ebd. S. 16. 106 Vgl. ebd. S. 254. 107 Ebd. S. 175. 108 Vgl. ebd. S. 255f. 109 Ebd. S. 214. 110 Vgl. ebd. S. 126f. 111 Ebd. S. 224.

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Prüfstein für die Legitimität der beiden Systeme. Auf der Seite des Mutterrechts stehen die Erinnyen, die Orest angesichts seines Mordes an Klytaimnestra mit Wahnsinn strafen, während der Mord an der Mutter von Apoll als Sühne für deren Ehebruch und Gattenmord befürwortet wird. Auch die mutterlose Athene steht auf der Seite des Vaterrechts, wenn sie bei der Gerichtsverhandlung für Orest votiert.112 Besondere Aufmerksamkeit schenkt Bachofen darüber hinaus, wie nach ihm auch Friedrich Nietzsche, dem Gott Dionysos. Für Bachofen „erscheint [er] an der Spitze der großen Bekämpfer des Mutterrechts, insbesondere der amazonischen Steigerung desselben“113. Dionysos wird mit Natürlichkeit und Kreatürlichkeit assoziiert und es werden ihm zahlreiche erdgebundene Attribute zugewiesen: so beispielsweise der Stierfuß, die Verbindung mit vulkanischem Feuer, die in der Dionysos-Verehrung mit Fackelläufen zum Ausdruck kommt, und nicht zuletzt die folgenschwere Zuschreibung einer asiatischen Herkunft des Gottes aus „tropische[r] Naturüppigkeit“114, die auch Nietzsche in seiner Geburt der Tragödie wieder aufgreifen wird.115 Die naturgebundene, sinnliche Wesensart des Dionysos mache ihn zwar per se zu einem Gott der Frauen, aber seine Verehrung berge die Gefahr des Verfalls der matriarchalen Gesittung in dionysischem „Sinnenrausch“116 und dekadenter Verfeinerung. In der Orphik steht Dionysos als Herrscher über die tellurische Sphäre dementsprechend dem Apoll als himmlischem Lichtgott gegenüber.117 In Bachofens System sind die Geschichten um Dionysos daher als die symbolische Einkleidung für Übersteigerung und Verfall des Mutterrechts zu interpretieren: Der dionysische Kult hat dem Altertum die höchste Ausbildung einer durch und durch aphroditischen Zivilisation gebracht […]. Er hat alle Fesseln gelöst, alle Unterschiede aufgehoben [und] das Leben selbst wieder zu den Gesetzen des Stoffes zurückgeführt. Dieser Fortschritt der Versinnlichung des Daseins fällt überall mit der Auflösung der politischen Organisation und dem Verfall des staatlichen Lebens zusammen.118

|| 112 Vgl. ebd. S. 146f. 113 Ebd. S. 38. 114 Ebd. S. 389. 115 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. In: Ders.: Kritische Studienausgabe (KSA). Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1. Berlin/New York 1988. Hier: S. 29. 116 Bachofen, Johann Jakob: Mythus von Orient und Occident. S. 378. 117 Vgl. ebd. S. 397. 118 Ebd. S. 40.

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Hier spricht Bachofen den Dionysos-Mythen zusätzlich eine politische Komponente zu, die vor allem in der späteren Rezeption seines Werkes im 20. Jahrhundert relevant wird. Die bisher angeführten Beispiele zeigen zwei Tendenzen auf, die Bachofens Mythenanalyse zu Grunde liegen: zum einen das Denken in Polaritäten und zum anderen die Konstruktion einer teleologisch ausgerichteten Menschheitsentwicklung. Der alles bestimmenden Polarität zwischen männlich und weiblich werden zahllose Attribute zugeordnet: so werden der Frau z.B. die Nacht, der Mond und die linke Seite als Verkörperungen ihrer „stofflichen Gebundenheit“ zugeschrieben, während der Mann mit dem Tag, der Sonne und der rechten Seite assoziiert wird, um die ihm eigene Qualität der „geistigen Entwicklung“119 herauszustellen. Die aufgestellte Polarität wird dann zur Beschreibung einer fortschrittlichen Entwicklung vom Mutter- zum Vaterrecht genutzt. Denn obwohl Bachofen seine Studie und sein Hauptaugenmerk den Mythen und Symbolen des Mutterrechts widmet, ist doch eine Legitimation des Patriarchats als die dem Menschen angemessene Gesellschaftsform das Ziel seiner Untersuchung: [I]n der Hervorhebung der Paternität liegt die Losmachung des Geistes von den Erscheinungen der Natur, in ihrer siegreichen Durchführung eine Erhebung des menschlichen Daseins über die Gesetze des stofflichen Lebens.120

Der Fortschritt vom Mutter- zum Vaterrecht ist ein Fortschritt der Menschheit von sinnlicher Naturgebundenheit zu höherer Vergeistigung: „Das Todeslos des sinnlichen Daseins vertritt die Frau, die geistige Überwindung desselben der Mann“121. Dieser Menschheitsfortschritt vollzieht sich in Bachofens System jedoch nicht allein auf individueller Ebene, sondern er findet auch in religiösen und politischen Kontexten seinen Ausdruck: nämlich im Kampf zwischen ‚Orient‘ und ‚Okzident‘. Im Zuge dieser Geschichtsteleologie fällt dem Abendland die Aufgabe zu, die väterliche Vergeistigung der Menschheit voranzutreiben, während der Orient an einer mütterlichen Naturverhaftung festhalte. Es sei die Errungenschaft der abendländischen Völker, „die Menschheit aus den Fesseln des tiefsten Tellurismus [zu befreien], in dem sie die Zauberkraft der orientalischen Natur festhielt“122. Innerhalb dieses Schemas interpretiert Bachofen im Folgenden auch historische Ereignisse wie die Zerstörung Karthagos und Jeru-

|| 119 Ebd. S. 49. 120 Ebd. S. 48. 121 Ebd. S. 328. 122 Bachofen, Johann Jakob: Mutterrecht. S. 36.

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salems durch das römische Imperium als Triumph des abendländischen Geistes über die morgenländische Sinnlichkeit: Was hat [sic!] die Kulturen des Orients jener tiefen Stufe des Sensualismus überliefert, die in der Vergötterung des buhlerischen Weibes sich ausspricht? Was hinwieder Rom zu der Überwindung desselben befähigt und mit jener Superiorität ausgerüstet, die sein kolossales Zerstörungswerk als eine berechtigte Tat darstellt? […] [Roms] Sieg über die alte Welt [ist] die Einleitung zu jenem großen Kampfe der Freiheit gegenüber Naturnotwendigkeit, welcher die geschichtliche Richtung des Christentums bildet.123

Bachofen schließt seine Ausführungen in der Vorrede zum Mutterrecht denn auch folgerichtig mit einem Blick auf seine eigene Zeit ab, indem er die demokratischen Bestrebungen der Moderne als zyklische Rückkehr der Geschichte in ihre mutterrechtlichen Anfänge deutet.124 Die beschriebene Polarität von Orient und Okzident wird namensgebend für eine Auswahl von Bachofens Schriften, die Manfred Schröter 1926 gemeinsam mit einem ausführlichen Vorwort von Alfred Baeumler herausbringt. Da diese Ausgabe – Bachofens Schriften in Kombination mit ihrer Interpretation durch Baeumler – die Kontroverse um Bachofens Mythenverständnis und dessen politische Implikationen in den 1920er Jahren auslöst, soll hier auch Baeumlers Einleitung kurz besprochen werden. 2.1.2.3 Alfred Baeumler als Bachofen-Interpret Nachdem Bachofens Werke von seinen Zeitgenossen kaum rezipiert wurden, setzt zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine wahre Bachofen-Mode ein, die zahlreiche Diskurse der Moderne prägt.125 In den 1920er Jahren erscheinen zahlreiche Neuauflagen von Bachofens Schriften, unter anderem auch die bereits erwähnte Auswahl Manfred Schröters, die 1926 unter dem Titel Der Mythus von Orient und Occident erscheint. Die fast 300 Seiten umfassende Einleitung Alfred Baeumlers, die dem Band vorangestellt ist, löst die bekannte Kontroverse Baeumlers mit Thomas Mann aus und verhilft so auch Bachofens historischen Schriften zu ungeahnter politischer Relevanz.126

|| 123 Bachofen, Johann Jakob: Mythus von Orient und Occident. S. 571f. 124 Bachofen, Johann Jakob: Mutterrecht. S. 41. 125 Vgl. ausführlicher zur Bachofen-Rezeption in der Moderne: Davies: Myth, matriarchy and modernity. S. 164ff.; Gossmann: Orpheus Philologus. S. 2; Stagl: ‚Das Mutterrecht‘ und die Folgen. S. 26ff.; zum Kosmiker-Kreis vgl. Kapitel 2.2.2. 126 Vgl. hierzu ausführlicher Kap. 3.2.2; Zu Baeumlers Philosophie vgl. Pan, David: Revising the Dialectic of Enlightenment: Alfred Baeumler and and the Nazi Appropriation of Myth. In:

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Der Philosoph hatte sich im Anschluss an seine Studien zu Kant, Hegel und Nietzsche dem Werk Bachofens zugewandt und interpretiert diesen – dem Titel seiner Einleitung gemäß – als Mythologe der Romantik. Seine Ausführungen beeinflussen den jungen Alfred Rosenberg, der ihn schon 1928 zur Mitarbeit bei der ‚nationalsozialistischen Bewegung‘ auffordert.127 Baeumler lehnt zunächst ab, tritt aber nach seiner persönlichen Bekanntschaft mit Rosenberg und Hitler 1933 doch in die NSDAP ein. 1934 wird der zum Amtsleiter des Amtes Wissenschaft ernannt und arbeitet fortan nahe mit Rosenberg zusammen. Seine führende Rolle bei der Entwicklung einer ‚nationalsozialistischen Pädagogik‘ im Rahmen seiner Professur für Philosophie und Politische Pädagogik in Berlin trägt ihm ab 1942 die Stelle als Leiter des Aufbauamtes der nationalsozialistischen ‚Hohen Schule‘ ein. Neben seinen philosophiegeschichtlichen Werken zu Nietzsche und der Herausgabe eines Philosophie-Handbuchs verfasst er zahlreiche Propagandaschriften, darunter Männerbund und Wissenschaft (1934), Politik und Erziehung (1942) und Weltdemokratie und Nationalsozialismus (1943). Seine 1926 erschienene Bachofen-Einleitung erscheint jedoch zunächst ohne auf den ersten Blick erkennbaren politischen Impetus verfasst. Die umfangreiche Abhandlung über Bachofen als Mythologe der Romantik gliedert sich in drei Hauptteile: zunächst wendet Baeumler sich der antiken griechischen Kunst und Religion zu, um aufzuzeigen, dass die hellenistische Kultur mit ihren olympischen Göttern auf einer älteren, ‚chthonischen‘ Religionsstufe ruht. Die Gegensätze dieser beiden Kulturstufen werden im nächsten Schritt universalisiert und auf die Epochen der deutschen Klassik und Romantik übertragen. Im zweiten Teil nimmt Baeumler dann eine Unterscheidung zwischen Jenaer Frühromanik und Heidelberger Spätromantik vor und ordnet erstere geistig dem 18. Jahrhundert, letztere dagegen dem 19. Jahrhundert als weltanschauliches Vorbild zu. Im dritten und letzten Teil verhandelt Baeumler die Stellung Bachofens zur Romantik und nimmt den Gedanken der Überwindung des Orients durch den Okzident wieder auf. Dieser Schlussgedanke ist es auch, der Baeumlers Essay ‚von hinten gelesen‘ strukturiert. So disparat die in den drei Teilen verhandelten Themen erscheinen mögen, so lassen sie sich doch mithilfe von Bachofens Denksystem sinnvoll gruppieren. Die Polarität zwischen

|| New German Critique 84 (2001). S. 37–52; Teichfischer, Philipp: Die Masken des Philosophen. Alfred Baeumler in der Weimarer Republik. Eine intellektuelle Biografie. Marburg 2009. 127 Vgl. dazu Alfred Baeumler: Meine politische Entwicklung. In: Baeumler, Marianne/Brunträger, Hubert/Kurzke, Hermann (Hg.): Thomas Mann und Alfred Baeumler. Eine Dokumentation. Würzburg 1989. S. 193–201.

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mütterlich-väterlich, chthonisch-olympisch und romantisch-klassisch wird bei Baeumler – analog zum bereits beschriebenen Vorgehen Bachofens – zunächst postuliert und dann im Gedanken des Fortschritts hierarchisiert. Der Titel der von Schröter herausgegebenen Ausgabe legt ja bereits nahe, dass das Hauptaugenmerk des Bandes auf der geschichtsphilosophischen Idee Bachofens beruht. So läuft auch Baeumlers Essay auf die Feststellung hinaus: Ein stoffliches und ein unstoffliches Prinzip ringen in der Geschichte gegeneinander. Jenes hat seinen historischen Ausdruck im Orient, dieses im Okzident.128

Baeumlers Text verfolgt diese beiden ‚Prinzipien‘ und ihr ‚Ringen‘ miteinander in verschiedenen Kontexten. Im ersten Teil der Abhandlung kritisiert er die vorherrschende Vorstellung von der Antike in der Nachfolge Winckelmanns und Voß´. Die antike Kunst sei weder ein „rein ästhetisches Erzeugnis“129, noch sei die den homerischen Epen eigene „Heiterkeit“130 das Signum der Epoche. Erst die Romantiker hätten in ihrer Interpretation der Antike entdeckt, dass „das Altertum unter dem Zeichen des Todes“131 stehe und die homerische Mythologie auf einer tieferen Religionsschicht ruhe, die den chthonischen Göttern unter den „Vorstellungen Erde-Mutter-Tod“132 gewidmet sei. Es gebe innerhalb der griechischen Kultur die Schicht der neuen olympischen und der älteren chthonischen Gottheiten. Die Wende des religiösen Bewußtseins […] ist durch eine Depotenzierung der Tiefe charakterisiert, die eins ist mit der Abstraktion vom Tode […].133

Innerhalb der olympischen Götterwelt, die von Zeus als männlichaufklärerischem Prinzip regiert wird, verweisen z.B. die Moiren als Schicksalsgöttinnen auf diese vorgängige „unpersönliche, dunkle, gänzlich unolympische Macht“134, die der Sphäre des Mutterrechts zugeschrieben wird. Hier zeigen sich die Spuren des ‚Ringens‘ zwischen den beiden Prinzipien als „Gegensatz einer männlich-persönlichen und einer weiblich-unpersönlichen Macht“135. Schon an

|| 128 Baeumler, Alfred: Bachofen. Der Mythologe der Romantik. In: Mythus von Orient und Occident. S. CCLXVII. 129 Ebd. S. XXVI. 130 Ebd. S. XXX. 131 Ebd. S. XXXI. 132 Ebd. S. CCXVII. 133 Ebd. S. XXXV. 134 Ebd. S. XLI. 135 Ebd. S. XLIV.

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dieser Stelle äußert Baeumler die Vermutung, dass nicht nur die griechische Kultur, sondern alle Kulturen von solchen gegensätzlichen Kräften geprägt sind und damit immer auch „Ausdruck eines Kräfteverhältnisses“136 zwischen den Polaritäten sind. Das in der griechischen Kultur vorgefundene Phänomen überträgt Baeumler im Anschluss auf die Epochen der deutschen Klassik und Romantik, die sich in ihrem jeweiligen Bild von der Antike auf jeweils einen Aspekt der beschriebenen Polarität fokussieren: „Todesfurcht und Todessehnsucht, Ahnenkult und Schicksalsunterworfenheit“137 seien nicht nur der chthonischen Religionsstufe eigen, sondern auch der Romantik. Die Negation des Todes im homerischen Epos und die ästhetische Ausgestaltung der Mythen korrespondieren für Baeumler mit der Insistenz der Klassik auf die ‚Heiterkeit‘ als Wesensmerkmal der antiken Ästhetik.138 Aber auch innerhalb der Romantik nimmt Baeumler eine weitere Differenzierung vor. Er unterscheidet die Jenaer Frühromantik von der Heidelberger Spätromantik, welche er geistig dem 19. Jahrhundert als „Zeitalter der Erde und der Nationalität“ zuordnet, das stets „in Beziehung auf die ewige Mutter“139 zu verstehen sei. Spätromantische Denker wie Joseph Görres, K.O. Müller oder Jakob Grimm beschreibt er als „rückwärts gekehrte Propheten“140, deren Interesse dem bereits erwähnten Zusammenhang von ‚Erde-Mutter-Tod‘ gilt, die die asiatischen Religionen entdecken und eine „Philosophie des Unbewußten“141 begründen, die nichts mit den Bestrebungen der modernen Psychoanalyse gemein habe. Ihre Geschichtsphilosophie laufe zusammen im gemeinsamen Begriff des ‚Volkes‘: In der Verehrung des Volkstums, aus dessen ‚dunklem Schoß‘ Sprache, Sitte, Recht, Poesie und alles höhere Leben hervorgehen, findet die ehrfürchtige Haltung der Romantiker gegenüber dem unbewußt-empfangenden, weiblich-gebärenden Natürlichen ihr konkretes Symbol.142

In der Fokussierung der Spätromantiker auf das Volkstümliche liege demzufolge der Schlüssel für ihre geistesgeschichtliche Einordnung in die Sphäre des stofflichen Mutterprinzips. Auch Bachofen selbst wird im dritten Teil der Abhandlung zunächst dieser Tradition zugeordnet: auch seine „innere Haltung“

|| 136 Ebd. S. LIV. 137 Ebd. S. LXVIII. 138 Vgl. ebd. S. CXCV. 139 Ebd. S. CLXXXV. 140 Ebd. S. CXVI. 141 Ebd. S. CXIX. 142 Ebd.

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sei „ganz und gar eine Bewegung zurück“143. Dennoch streicht Baeumler heraus, dass es Bachofen keinesfalls um eine Glorifizierung des mütterlichchthonischen Prinzips gehe, sondern dass das Fortschreiten der Menschheit zum apollinischen Vaterrecht als positiv zu bewerten sei. Das vaterrechtlichapollinische Zeitalter, das vom Christentum geprägt ist, sei die höchste und erstrebenswerte Entwicklungsstufe in der menschlichen Geschichte.144 Baeumler nennt Bachofen auch deshalb einen „Vollender der Romantik“145, weil er davon überzeugt ist, dass auch „in Bachofens Innern […] Apollo zuletzt den Sieg davongetragen“146 habe. Daher übt Baeumler scharfe Kritik an den Bachofen-Interpreten des 20. Jahrhunderts, die Bachofen auf seine Darstellung der mutterrechtlichen Sphäre reduzieren und dabei seine positive Wertung des Fortschritts zum apollinischen Vaterrecht ignorieren.147 Thomas Manns Vorwurf des „Obskurantismus“148 in der Pariser Rechenschaft setzt Baeumler selbst eben dieser Kritik aus. Es erscheint merkwürdig, dass Thomas Mann seine Vorwürfe an Baeumler daran festmacht, dass dieser eine Rückkehr zur chthonisch-mütterlichen Sphäre propagiere – denn dies tut Baeumler an keiner Stelle seines Textes. Ein Element, das dagegen tatsächlich auf Baeumlers spätere politische Ausrichtung vorausweist, bleibt von Thomas Mann unerwähnt: seine Thesen zur Überwindung des Orients durch den Okzident tragen schon 1926 faschistische Obertöne. Baeumler wiederholt ausführlich Bachofens Übertragung einer mythologischen Entgegensetzung auf die politische Ebene. Auch er zeigt sich überzeugt, dass die „Vernichtung der asiatischen Elemente der alten Welt […] Roms Aufgabe“149 sei. Auf der Ebene der Mythologie symbolisieren wiederum die Erzählungen um Dionysos den Sieg des römischen Imperiums mit seiner patriarchalisch-hierarchischen Regierungsstruktur über die amazonische Form des Mutterrechts, deren Gesellschaftsform die Demokratie sei: Der sinnlich-weiche Gott führt in neuer Form die ursprüngliche ‚Demokratie‘ wieder herauf, die in der Zerstörung aller staatlichen Gliederung in der ‚Aufhebung der Unterschie-

|| 143 Ebd. S. CLXXXVI. 144 Vgl. ebd. S. CCXV. 145 Ebd. S. CXCVI. 146 Ebd. S. CCLXXIV. 147 Vgl. ebd. S. CCVII. 148 Mann, Thomas: Pariser Rechenschaft. In: GKFA 15,1. S. 1115–1214. Hier: S. 1159. 149 Baeumler, Alfred: Bachofen. S. CCLXIX.

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de‘, in Freiheit und Gleichheit auf natürlicher Grundlage ihren Ausdruck findet. Die Masse ist die Trägerin der dionysischen Religion.150

Dass die Staatsform der Demokratie mit dem Mutterrecht in Verbindung steht, erklärt sich bei Bachofen daraus, dass alle Menschen gleichermaßen aus dem Mutterschoß hervorgehen und daher nicht durch hierarchische Ordnungen voneinander getrennt seien.151 Die Demokratie als Herrschaft der „ununterschiedenen Masse“ assoziiert Bachofen jedoch mit einem „Verfall des staatlichen Lebens“152. Was im Fortschritt von Mutterrecht zu Vaterrecht also auf politischer Ebene impliziert wird, ist die Überwindung demokratischer Gesellschaftsformen zugunsten einer patriarchal organisierten Hierarchie. Dieser Zug wird von Baeumler besonders betont, der Bachofen seinerseits als „Aristokrat“ und Anti-Demokrat charakterisiert.153 Baeumlers politische Intentionen werden überdies deutlich, wenn er seine Zeit – also die Zeit der Weimarer Republik – als Rückfall in eine mutterrechtlich bestimmte Epoche ausdeutet. Er geht davon aus, dass […] die Gegenwart in der Tat alle Züge einer ‚mutterrechtlichen‘ Epoche an sich trägt. Innerhalb einer späten, verfallenden Zivilisation erheben sich wieder die Tempel der Isis und der Astarte, jener asiatischen Muttergottheiten, denen man in Orgiasmus und Zuchtlosigkeit, mit dem Gefühl hoffnungsloser Verlorenheit inmitten sinnlicher Schwelgerei dient.154

Die chthonisch-mutterrechtliche Sphäre ist also für Baeumler keine historisch überwundene Epoche, sondern ein ‚Prinzip‘ im eingangs erläuterten Sinne, das „immer wieder von neuem überwunden werden“155 muss. Ganz im Gegensatz zu Thomas Manns Auslegung besteht das präfaschistische Potential von Baeumlers Einleitung also nicht darin, dass dieser eine ‚Rückkehr zu den Müttern‘ propagiert. Es liegt darin, dass Baeumler die Überwindung eben jenes Prinzips durch eine hierarchische Regierungsform fordert, weil er es mit der Staatsform der Demokratie identifiziert.

|| 150 Ebd. S. CCXVI. 151 Vgl. Bachofen, Johann Jakob: Mythus von Orient und Occident. S. 15. 152 Ebd. S. 40. 153 Baeumler, Alfred: Bachofen. S. CCV. 154 Ebd. S. CCXCI. 155 Ebd. S. CCXCIII.

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2.1.2.4 Fazit Mit seiner teleologischen Geschichtsphilosophie bietet Bachofens Mutterrecht viel Raum zur Interpretation. Seine Methode, mythische Geschichten zu Kronzeugen der Menschheitsentwicklung vom Mutter- zum Vaterrecht zu erheben, lässt sein Geschichtssystem selbst mythische Züge tragen. Die mythisierende Geschichtsdeutung mithilfe einander gegenüberstehender Polaritäten erfährt durch Bachofens Interpreten im 20. Jahrhundert eine politische Ausdeutung, die freilich auch bei Bachofen selbst bereits angelegt ist. So werden mythische Figuren, wie beispielsweise Dionysos, dazu herangezogen, politische Systeme zu charakterisieren und zu diskreditieren, um letztlich die Vorherrschaft des ‚Okzidents‘ über den ‚Orient‘ zu begründen. Mythen gelten Bachofen als prärationale, bildlich ausgestaltete „Manifestation[en] der ursprünglichen Denkweise“156 der alten Völker. Gleichzeitig dient die Beschäftigung mit Mythen Bachofen und Baeumler jedoch auch dazu, Aussagen über die Moderne zu treffen. Aus der Analyse ‚mutterrechtlicher‘ und ‚vaterrechtlicher‘ Mythen leitet Bachofen zwei Prinzipien ab, deren Interaktion das Weltgeschehen bestimmt: auf der einen Seite stehen der „Naturalismus“157 und die stoffliche Gebundenheit des mütterlichen Prinzips, auf der anderen die „Losmachung des Geistes von den Erscheinungen der Natur“158 im Vaterrecht. Das ‚Ringen‘ des sinnlich-natürlichen mit dem geistig-abstrakten Prinzip interpretiert Baeumler dann als universalen Vorgang, der nicht nur in vorgeschichtlichen Mythen zum Ausdruck kommt, sondern auch die moderne Welt prägt. Er geht davon aus, dass „die väterliche Gewalt, die Herrschaft des Mannes heute gebrochen ist“159 und die demokratische Regierungsform der Weimarer Republik von der Dominanz des weiblichen Prinzips zeugt, von „Ausschweifung“ und „sinnliche[r] Verfeinerung“160. Diese Charakterisierung der Moderne trägt implizit den Wunsch nach einer Überwindung dieses Zustandes durch ein hierarchisches, ‚väterliches‘ Prinzip in sich, das im faschistischen Staat realisiert wird. Das weiblich-sinnliche Prinzip müsse „immer wieder von neuem überwunden werden“161. Obwohl sowohl Bachofen als auch sein Interpret Alfred Baeumler also darauf beharren, dass Mythen eine Ausdrucksform aus der „Kindheit der Mensch-

|| 156 Bachofen, Johann Jakob: Mythus von Orient und Occident. S. 7. 157 Ebd., S. 29. 158 Ebd., S. 48. 159 Baeumler, Alfred: Bachofen. S. CCXCII. 160 Ebd. S. CCXCIII. 161 Ebd.

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heit“162 seien, scheinen die Erzählungen aus der Vorzeit dennoch einen Erkenntniswert für die Moderne zu beinhalten, da sie jegliches historisches Geschehen als Kräfteverhältnis universaler Prinzipien beschreibbar machen. Dass dieses Vorgehen die Auseinandersetzung mit Mythen hochgradig politisch instrumentalisierbar macht, zeigt sich beispielhaft an der Kontroverse zwischen Alfred Baeumler und Thomas Mann, auf die noch zurückzukommen sein wird.163

2.1.3 Sigmund Freud (1856 – 1939) Sigmund Freud ist nicht der erste Psychoanalytiker, der sich mit dem Phänomen des Mythos auseinandersetzt. Otto Rank hatte sich bereits 1908 mit dem Mythos von der Geburt des Helden beschäftigt und die Analogie von Traum und Mythos eingeführt, die Freuds Schüler Karl Abraham und Carl Gustav Jung dann für ihre eigene Auseinandersetzung mit mythischen Symbolen zum Ausgangspunkt nehmen.164 Zwar bemerkt Freud schon 1897 in einem Brief an Wilhelm Fließ, dass Mythen nach außen projizierte psychologische Vorgänge sein könnten165, aber bis zum Beginn seiner Arbeit an Totem und Tabu vergehen noch 13 Jahre.166 Auch Freud kommt zunächst über die psychoanalytische Traumarbeit zur Beschäftigung mit Mythen: Bereits in der Traumdeutung (1900) beschreibt er die mythische Erzählung um König Ödipus als typischen Trauminhalt167 und in seinen 1909 an der Clark University gehaltenen Vorlesungen Über Psychoanaly-

|| 162 Ebd. S. CCLI. 163 Vgl. Kap. 3.2.2.1. 164 Vgl. Kapitel II.3.2. 165 Vgl. Brief Freuds an Wilhelm Fließ vom 12.12.1897. In: Freud, Sigmund: Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fließ, Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887– 1902. Frankfurt a. M. 1950. S. 204f. 166 Zusammenfassende Darstellung zu Freuds Mythos-Auffassung finden sich u.a. bei Armstrong, Richard H.: Myth, Religion, Illusion. How Freud got his fire back. In: Zajko, Vanda/O´Gorman, Ellen (Hg.): Classical Myth and Psychoanalysis. Oxford 2013. S. 59–74; Berkel, Irene: Sigmund Freud. Paderborn 2008. S. 106–119; Lehnert, Gertrud: Freud und der Mythos. In: Schmitz-Emans, Monika/Lindemann, Uwe (Hg.): Komparatistik als Arbeit am Mythos. Heidelberg 2004. S. 291–304; Vogt, Rolf: Art. Antike und Mythos. In: Lohmann, HansMartin/Pfeiffer, Joachim (Hg.): Freud Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2006. S. 246–252. 167 Vgl. Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. In: Ders.: Studienausgabe. Bd. II Hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. 2. korr. Aufl. Frankfurt a. M. 1972ff. (=FSA). Hier: S. 265f.

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se geht er sogar so weit, bestimmte Traumsymbole als „typisch festgelegt“168 zu bezeichnen. In Träumen kommen Freuds Theorie zufolge kollektiv wirksame Symbole zum Ausdruck, die er auch „hinter unseren Mythen und Märchen vermute[t]“169. Als C. G. Jung im selben Jahr von seiner intensiven Beschäftigung mit Mythen berichtet, reagiert Freud zunächst positiv auf seinen Vorstoß zur ‚Eroberung‘ der Mythologie für die Psychoanalyse170 und gibt zugleich seiner Hoffnung Ausdruck, dass auch Jung im Laufe seiner Arbeit finden werde, dass „der Kernkomplex der Mythologie derselbe ist wie der der Neurosen“171. Das Thema Mythos wird jedoch schnell zum Streitpunkt zwischen Freud und Jung und bleibt letztlich auch nicht unbeteiligt am Bruch der Beziehung zwischen beiden bleibt.172 Freuds Mythentheorie bleibt fest im übergeordneten Gedankengebäude seiner Psychoanalyse verhaftet, was im Folgenden zu zeigen sein wird. 2.1.3.1 Freuds Kulturtheorie Freuds Mythentheorie ist zunächst als Teilstück seines übergreifenden Projektes einer psychoanalytisch fundierten Kulturtheorie zu sehen: sie wendet die Ergebnisse der Tiefenpsychologie auf die Menschheitsgeschichte an, um dann im Gegenzug aus diesen Einsichten auch Rückschlüsse auf die Individualpsychologie ziehen zu können.173 Unter ‚Kultur‘ versteht Freud alles das, worin sich das menschliche Leben über seine animalischen Bedingungen erhoben hat und es sich vom Leben der Tiere unterscheidet.174

Die Kultur dient vornehmlich zwei Zwecken: zum einen der Naturbeherrschung und zum anderen der Regelung der zwischenmenschlichen Beziehungen.175 Sie ist in Freuds Theorie jedoch nicht nur eine Ermächtigung des Menschen gegenüber dem Naturzustand, sondern sie beruht auch immer auf einem Opfer. Es ist || 168 Freud, Sigmund: Über Psychoanalyse. Fünf Vorlesungen. In: Ders.: Darstellungen der Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 1969. S. 50–101. Hier: S. 80. 169 Ebd. 170 Vgl. Brief Freuds an C. G. Jung vom 17.10.1909. Freud, Sigmund/Jung, Carl Gustav: Briefwechsel. Hg. von William McGuire/Wolfgang Sauerländer. Frankfurt a. M. 1974 (=BWFJ). S. 280. 171 Brief Freuds an C. G. Jung vom 11.11.1909. In: BWFJ. S. 286. 172 Vgl. hierzu ausführlicher Kapitel II.3.1.1. 173 Zu Freuds Kulturtheorie vgl. Berkel, Irene: Sigmund Freud. Paderborn 2008. S. 81–94; List, Eveline: Psychoanalytische Kulturwissenschaften. Wien 2013. Kapitel 10. S. 156–166; Gutjahr, Ortrud: Art. Kulturbegriff. In: Lohmann/Pfeiffer: Freud Handbuch. S. 239–245. 174 Freud, Sigmund: Die Zukunft einer Illusion. In: FSA. Bd. IX. S. 135–190. Hier: S. 139f. 175 Vgl. ebd. S. 140.

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eine der Grundannahmen Freuds, dass „sich jede Kultur auf Zwang und Triebverzicht aufbauen muß“176. Das ‚Unbehagen‘, das demzufolge jeder Kultur anhaften muss, beruht darauf, dass sie starke menschliche Triebwünsche um des friedlichen Zusammenlebens willen in Schach hält. In seiner 1930 veröffentlichten Schrift Das Unbehagen in der Kultur erläutert er Sublimierung und Verdrängung als grundlegende Kulturtechniken: für die Sicherheit einer zivilisierten Gemeinschaft sei das Individuum nach Freud dazu bereit, das unbeschränkte Ausleben sexueller und aggressiver Triebe auf sozialverträgliche Art und Weise entweder zu verdrängen oder zu ‚sublimieren‘, d.h. ihre Energie auf höhere psychische Tätigkeiten (z.B. wissenschaftliche oder künstlerische) zu verschieben.177 In Totem und Tabu wendet sich Freud explizit dem historischen Ursprung der Kulturentwicklung zu, den er in totemistischen Gesellschaften vermutet, in denen seiner Theorie zufolge die grundlegenden Vorschriften und Verbote der menschlichen Kultur installiert werden.178 Im Zentrum seiner Überlegung stehen dabei das Inzest- und das Tötungsverbot, die Freud bereits im Rahmen der Entwicklungspsychologie als erwünschte Ergebnisse des kindlichen Ödipuskomplexes beschrieben hatte.179 In einer Gleichsetzung von Phylogenese und Ontogenese identifiziert er den konflikthaften kindlichen Abgrenzungsprozess von den Eltern mit der historischen Menschheitsentwicklung, indem er die Einschränkung von Sexual- und Aggressionstrieb als zentrale Integrationsleistung betrachtet. Nicht nur das männliche Kind muss sich seines inzestuösen Begehrens der Mutter gegenüber und der daraus erwachsenden Aggression gegenüber dem Vater erwehren, um sich sinnvoll in die menschliche Gemeinschaft integrieren zu können, sondern auch im Rahmen der Menschheitsgeschichte musste dieser Entwicklungsprozess institutionalisiert werden, um Kultur überhaupt erst zu ermöglichen.180

|| 176 Ebd. S. 141. 177 Vgl. Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. In: FSA. Bd. IX. S. 191–270. Hier: S. 227. 178 Vgl. Freud, Sigmund: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. In: FSA. Bd. IX. S. 287–444. Hier: S. 296f. 179 Vgl. ebd. S. 416. 180 Zur Rolle des Ödipus-Komplex in Freuds Kulturtheorie vgl. auch List: Psychoanalytische Kulturwissenschaften. S. 163f.; Vogt, Rolf: Art. Antike und Mythos. S. 246.

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2.1.3.2 Der Ödipuskomplex als Grundlage von Mythos und Religion Inspiriert von den Arbeiten Jungs und Wilhelm Wundts beginnt Freud 1910 mit der Arbeit an Totem und Tabu, indem er sich zunächst der Frage nach dem Ursprung von Mythos und Kultur im Allgemeinen widmet. Der kulturgeschichtliche Ansatz soll aber, wie bereits erwähnt, nicht nur Klarheit über die Entstehungsgrundlagen menschlicher Zivilisation bringen, sondern vor allem auch Rückschlüsse auf die Individualpsyche zulassen: so ist Freuds Beschäftigung mit Mythen nicht zuletzt auch dem Ziel geschuldet, „ethnologische Belege für den Ödipuskomplex zu sammeln“181. Der berühmte Fall des ‚kleinen Hans‘, den Freud 1909 in seiner Studie über die Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben detailliert beschreibt, sollte den klinischen Nachweis für die Theorie des Ödipuskomplexes erbringen.182 Freuds Ansatz, die Pferdephobie des kleinen Hans auf verdrängte inzestuöse Triebwünsche der Mutter gegenüber zurückzuführen, stößt allerdings schon zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Falls auf starke Kritik. Die Beschäftigung mit totemistischen Tabus ist in diesem Zusammenhang auch als Versuch Freuds zu sehen, die Kritiker seiner Theorie vom Ödipuskonflikt zu widerlegen. Freud wählt auch deshalb den Totemismus als Ausgangspunkt seiner Überlegungen, weil in dieser kulturübergreifenden Phase der Menschheitsentwicklung seiner Meinung nach zum ersten Mal soziale Tabus aufgestellt worden seien.183 Im ersten Essay des Bandes definiert Freud daher zunächst den Begriff des Totems und erläutert seinen Zusammenhang mit den urzeitlichen Tabuvorschriften: Das Totem ist [i]n der Regel ein Tier, ein eßbares, harmloses oder gefährliches, gefürchtetes, seltener eine Pflanze oder eine Naturkraft (Regen, Wasser), welches in einem besonderen Verhältnis zu der ganzen Sippe steht. Der Totem ist erstens der Stammvater der Sippe, dann aber auch ihr Schutzgeist und Helfer […]. Die Totemgenossen stehen dafür unter der heiligen, sich selbstwirkend strafenden Verpflichtung, ihren Totem nicht zu töten […]. Fast überall, wo der Totem gilt, besteht auch das Gesetz, daß Mitglieder desselben Totem nicht in geschlechtliche Beziehungen zueinander treten, also einander nicht heiraten dürfen.184

|| 181 Homburger, Andreas: Art. Totem und Tabu. In: Lohmann/Pfeiffer: Freud Handbuch. S. 168–171. Hier: S. 168. 182 Freud, Sigmund: Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben. In: FSA. Bd. VIII. S. 9–27. 183 Sein Wissen über Ethnologie entnimmt Freud vornehmlich den Werken J.G. Frazers, Spencers, E.B. Tylors und Wilhelm Wundts. Aus der Sicht der heutigen Forschung sind Freuds Annahmen nicht belegbar. Vgl. hierzu Homburger, Andreas: Art. Totem und Tabu. S. 169. 184 Freud, Sigmund: Totem und Tabu, S. 296f.

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Die beiden grundlegenden Tabuvorschriften des Totemismus sind also das Tötungs- und das Inzestverbot. Die Psychoanalyse habe laut Freud aber gezeigt, dass starke Verbote nur dort notwendig seien, wo eine starke unbewusste Neigung zu ihrer Übertretung vorhanden sei. Demzufolge sei jedes Tabu als „Resultat einer Gefühlsambivalenz“185 zu verstehen: einerseits geht von ihm die unbedingte Forderung nach Einhaltung der Vorschrift aus, andererseits liegt ihm aber ein starker Wunsch nach dem Gegenteil zugrunde. Das Tabu wird damit als das erste kulturelle ‚Opfer‘ der Menschheitsgeschichte bestimmt: das Mitglied einer Totemgemeinschaft versagt sich das Ausleben seiner sexuellen und aggressiven Triebe zugunsten des friedlichen gemeinsamen Lebens. Hierin sieht Freud den ersten Akt der Kulturbegründung, die auch das der Gefühlsambivalenz geschuldete ‚Unbehagen‘ hervorruft. Gleichzeitig bestimmt er aber auch die Projektion von Heiligkeit und gesetzgebender Gewalt auf ein Totem als erste Vorstufe religiösen Glaubens, die darauf beruhe, dass „der primitive Mensch Strukturverhältnisse seiner eigenen Psyche in die Außenwelt verlegt“186. In der vierten Abhandlung des Bandes zieht Freud dann die Parallele zwischen Phylogenese und Ontogenese, indem er die Ergebnisse der Kinderpsychologie mit denen seiner ethnologischen Analyse abgleicht.187 Bei der Untersuchung des Ödipuskomplexes habe sich gezeigt, dass auch das Kind in dieser Phase mit einem „Ambivalenzkonflikt“188 konfrontiert sei, der dem des Totemismus ähnlich sei. Der Fall des kleinen Hans und weitere Analysen kindlicher Tierphobien, die laut Freud „gewisse Züge des Totemismus zeigen“189, hätten ergeben, dass die aggressiven und zärtlichen Gefühle für den Vater auf ein Tier übertragen werden können, das gefürchtet und gemieden wird, aber dennoch Objekt des stärksten kindlichen Interesses sei.190 Freud kommt daraufhin zu dem Schluss, dass sich aus der Kinderpsychologie wertvolle Übereinstimmungen mit dem Totemismus [ergeben]: die volle Identifizierung mit dem Totemtier und die ambivalente Gefühlseinstellung gegen dasselbe. Wir halten uns nach diesen Beobachtungen für berechtigt, in die Formel des Totemismus – für den Mann – den Vater an die Stelle des Totemtiers einzusetzen.191

|| 185 Ebd. S. 357. 186 Ebd. S. 379. 187 Vgl. Freud, Sigmund: Totem und Tabu. S. 409. 188 Ebd. S. 414. 189 Ebd. S. 415. 190 Vgl. ebd. 191 Ebd. S. 416.

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Setzt man den Vater an die Stelle des Totemtiers, so stellen sich die beiden Totemtabus des Inzest- und Tötungsverbots als „exakt die beiden Verbrechen des Ödipus“192 heraus. Daraus schließt Freud, dass die Mechanismen des Ödipuskomplexes auch der Formierung des Totemismus zugrunde liegen müssten.193 Im Anschluss an diese These formuliert er ein Narrativ, das diesen Zusammenhang erklären soll194: Er fingiert eine patriarchalisch organisierte ‚Urhorde‘, in der der Stammvater für die Einhaltung der beiden genannten Tabus sorgt, indem er über alle Frauen der Gemeinschaft gebietet und die Söhne aus der Horde vertreibt. „Eines Tages“195 rotten sich die Ausgetriebenen zusammen und töten den Vater, den sie im Anschluss auch verzehren, um sich seine Kräfte einzuverleiben. Der aus dem aggressiven Trieb geborenen Tat folgt – nach den Regeln der ‚Gefühlsambivalenz‘ – jedoch sogleich die Reue über das begangene Verbrechen. Aus dem überwältigenden „Schuldbewußtsein“ der Brüder erwächst ein „nachträgliche[r] Gehorsam“196 dem Vater gegenüber: Die Brüder setzen das Totemtier als Vaterersatz ein, verbieten seine Tötung und leiten aus der Totemzugehörigkeit das Inzestverbot ab. So schufen sie aus dem Schuldbewußtsein des Sohnes die beiden fundamentalen Tabu [sic!] des Totemismus, die eben darum mit den beiden verdrängten Wünschen des ÖdipusKomplexes übereinstimmen mußten.197

Dieses Schuldbewusstsein ist es, das Freud als Ursprung und zentrale Triebkraft religiöser Mythen identifiziert. Folge man seiner Darstellung, so müsse man zugeben, dass „der Vateranteil an der Gottesidee ein sehr gewichtiger sein“198 müsse. Das archaische Opferfest, bei dem das geweihte Totemtier ausnahmsweise als Zeichen eines Gottesbundes getötet und verzehrt werden darf, sei in der nachfolgenden Religionsentwicklung die symbolische Erinnerung an den Vatermord.199 Aus dem Opfergedanken entwickeln sich laut Freud die zahlreichen Sohnesmythen, die sich in allen Kulturen finden lassen. Die Geschichten um Dionysos, Adonis und Tammuz deutet Freud als Präfiguration des ChristusMythos aus: selbst die Totemmahlzeit sei in der christlichen Kommunion sym|| 192 Ebd. S. 417. 193 Vgl. ebd. 194 Vgl. ebd. S. 425ff. 195 Ebd. S. 426. Freud erläutert diesen Ausdruck in Anm. 1 auf der gleichen Seite, indem er ausführt, dass zeitliche Exaktheit bei urgeschichtlichen Ereignissen nicht möglich sei. 196 Ebd. S. 427. 197 Ebd. 198 Ebd. S. 431. 199 Vgl. ebd. S. 423.

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bolisch erhalten geblieben. Die Selbstopferung des Sohnes bildet in Freuds System den Endpunkt mythischer Symbolisierungen des Vatermordes: im Opfer des Sohnes wird der Mord am Vater gesühnt und die Brüderschar von der Erbsünde erlöst. 200 So bekennt sich denn in der christlichen Lehre die Menschheit am unverhülltesten zu der schuldvollen Tat der Urzeit, weil sie nun im Opfertod des eigenen Sohnes die ausgiebigste Sühne für sie gefunden hat.201

Am Ende seiner Abhandlung kommt Freud zu dem Schluss, dass der Ödipuskomplex nicht nur in der kindlichen Entwicklung eine essentielle integrative Funktion einnimmt, sondern darüber hinaus auch „die Anfänge von Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft und Kunst“202 begründet. Allen Mythen liege demzufolge eine „historische Wahrheit“203 zugrunde, die ihre andauernde Wirkmächtigkeit in der Geschichte der Menschheit begründe. 2.1.3.3 Religion und Neurose Das aus der Gefühlsambivalenz dem Vater gegenüber erwachsende Schuldgefühl ist für Freud der Motor der kulturellen Entwicklung und liegt als fundamentales Erklärungsmodell den abendländischen Mythen zugrunde. So wiederholt Freud das Vatermord-Narrativ auch an zahlreichen Stellen seines späteren Werks: in seiner der jüdischen Religion gewidmeten Spätschrift Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939) wird analog zu den Ausführungen in Totem und Tabu der Mord an einer Vaterfigur zur Triebkraft des Judentums erklärt. Freud entwickelt die These, dass Moses von seiner Gefolgschaft aufgrund der zu strikten religiösen Bestimmungen, die er in der Nachfolge der ägyptischen Aton-Religion eingeführt habe, ermordet worden sei.204 Erst in der Zusammenführung seiner ehemaligen Anhänger mit dem Jahwe-Kult sei die Moses-Figur ‚wiedererweckt‘ und zum religiösen Vorbild ernannt worden – im heiligen Text werden nachträglich die Spuren des Vatermordes verwischt.205 Die Motivation der Religionsentwicklung wird in Der Mann Moses

|| 200 Vgl. ebd. S. 435f. 201 Ebd. S. 437. 202 Ebd. S. 439. 203 Freud, Sigmund: Zukunft einer Illusion. S. 176. 204 Vgl. Freud, Sigmund: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Drei Abhandlungen. In: FSA. Bd. IX. S. 455–584, vgl. Kapitel II. 205 Vgl. ebd. S. 494

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aber nicht allein aus dem bekannten Schema des Ödipuskomplexes hergeleitet, sondern zudem strukturell mit der Entstehung von Neurosen verglichen. In der dritten Abhandlung, die nicht wie die anderen beiden Teile der Schrift schon 1937 in der Zeitschrift Imago veröffentlich wurde, sondern erst nach Freuds Emigration 1939 im Verband mit den ersten beiden Abhandlungen erscheinen konnte, schlägt Freud eine strukturelle Analogie zwischen dem Gang der Religionsgeschichte und individueller Neurosenbildung vor. Beide seien geprägt von fünf einander ablösenden Stadien: Frühes Trauma – Abwehr – Latenz – Ausbruch der neurotischen Erkrankung – teilweise Wiederkehr des Verdrängten, so lautet die Formel, die wir für die Entwicklung der Neurose aufgestellt haben.206

Dieses Schema der Individualpsychologie überträgt Freud im Folgenden auf die Entstehung von Religionen. Setze man den Vatermord als Trauma ein, so folge nach der ersten Verdrängung der Tat und einer gewissen Latenzzeit die Wiederkehr des Verdrängten in symbolisch verwandelter Form.207 Die „religiösen Phänomene“ seien dann als die „symptomähnlichen Folgen“208 des Verdrängungsprozesses zu verstehen. Hier wird ersichtlich, was genau Freud meint, wenn er von Mythen als nach außen projizierten psychologischen Vorgängen spricht: Mythische Geschichten sind für Freud symbolisch eingekleidete Produkte der Triebabwehr und der Verarbeitung historisch begründeter Traumata, die sich in der individuellen psychischen Entwicklung wiederholen. Die Analogie zwischen religiösen Phänomenen und psychischen Krankheiten findet sich aber nicht nur in Freuds Spätwerk: Auch in Totem und Tabu werden die historischen Totemtabus bereits mit den selbstgeschaffenen Vorschriften Zwangskranker in Beziehung gesetzt.209 In seiner 1927 erschienen religionskritischen Schrift Die Zukunft einer Illusion zieht Freud darüber hinaus die Schlüsse aus seinen psychologischen Analysen und stellt einen Bezug zur Rolle der Religion in der Moderne her, indem er sie mit einer kollektiven Zwangsneurose gleichsetzt: Die Religion wäre die allgemeine menschliche Zwangsneurose, wie die des Kindes stammt sie aus dem Ödipuskomplex, der Vaterbeziehung. Nach dieser Auffassung wäre vorauszusehen, daß sich die Abwendung von der Religion mit der schicksalsmäßigen Unerbittlich-

|| 206 Ebd. S. 528. 207 Vgl. ebd. S. 529. 208 Ebd. 209 Vgl. Freud, Sigmund: Totem und Tabu. S. 318.

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keit eines Wachstumsvorganges vollziehen muß und daß wir uns gerade jetzt in dieser Entwicklungsphase befinden.210

Hier kommt die normative Wertung deutlich zur Sprache, die Freud in den vorausgehenden Analysen nur impliziert hatte. Die Erklärung religiöser Phänomene und mythischer Erzählungen mit den Mitteln der Entwicklungspsychologie und der Neurosentheorie rekurriert auf den altbekannten Topos der Aufklärung, der Mythen als Ausdruck einer ‚Kindheitsphase‘ der Menschheit begreift. Diese Metapher schließt die Konsequenz der Ablösung mythischer Welterklärung durch die Rationalität schon mit ein: so wie das Kind seine mythisch-magischen Vorstellungen überwindet, wenn es erwachsen wird, so löst das rationale Denksystem in der Menschheitsgeschichte den mythischen Zugang zur Realität zwangsläufig ab. So schließt auch Freud seine Ausführungen über Religion mit einem aufklärerischen Plädoyer für die Rationalität und die neuzeitliche Wissenschaft ab. Der Mensch könne „nicht ewig Kind bleiben“211 und müsse einsehen, dass die Rationalität die einzige Quelle der Wahrheitserkenntnis sei. Eine religiöse Erziehung führe dagegen zur „Denkschwäche des durchschnittlichen Erwachsenen“212. Abgesehen von ihrer ‚historischen Wahrheit‘ und den Rückschlüssen, die sie auf die Individualpsychologie zulassen, sind Mythen also weder als moralische Orientierungssysteme noch für moderne Ansätze zur Welterklärung relevant.213 2.1.3.4 Fazit Freuds Ausführungen zu Mythos und Religion sind Teil seiner übergeordneten Kulturtheorie, die auf einer Übertragung psychologischer Erkenntnisse auf die Menschheitsgeschichte beruht. Der Ödipuskomplex als zentraler Integrationskonflikt steht dabei im Zentrum seiner Theorie. Er soll erklären, wie das ‚Opfer‘, das jeder Einzelne für die Kultur erbringt, historisch begründbar sein könnte. Die ‚Gefühlsambivalenz‘, die durch den – im historischen Vatermord vorgeprägten – Ödipuskomplex ausgelöst wird, projiziert Freuds Urzeitmensch auf das Totem, das zur ersten religiös-moralischen Instanz erhoben wird. Aus ihm entwickeln sich zunächst die polytheistischen Götterfiguren und letzten Endes auch die monotheistischen Religionen mit ihren Vatergöttern, denen Freuds besonderes Interesse gilt. Der verdrängte Mord am Vater kehrt hier nach den

|| 210 Freud, Sigmund: Zukunft einer Illusion. S. 177. 211 Ebd. S. 182. 212 Ebd. S. 180. 213 Vgl. ebd. S. 172.

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Regeln der Neurosenbildung wieder: im Christentum ist der Endpunkt dieser Entwicklung erreicht, indem der Vatermord im Mythos durch den Opfertod des Sohnes symbolisch gesühnt wird. Bemerkenswert an Freuds psychologischer Ausdeutung von Mythos und Religion ist, dass seine Texte nicht nur „mythenverarbeitende“, sondern auch „mythenschaffende“214 sind. Seine gesamte Mythentheorie ruht auf einem Narrativ: die Geschichte vom Vatermord der Urhorde dient nicht nur zur Erklärung von Mythen, sondern sie ist auch selbst ein Mythos. In seiner Spätschrift Der Mann Moses gesteht Freud ein, die Vatermord-Geschichte so erzählt zu haben, als ob sich „ein einziges Mal zugetragen hätte, was sich in Wirklichkeit über Jahrtausende erstreckt hat“215. Er verdichtet also eine ethnologische Annahme über die historische Entwicklung totemistischer Gesellschaften nicht nur zu einem typischen Muster, sondern auch zu einer einzigen Erzählung, die zum Gründungsmythos der menschlichen Kultur stilisiert wird. Dieses Vorgehen erscheint besonders bemerkenswert, wenn man bedenkt, wie wenig Relevanz Freud ‚mythischem Denken‘ in der Moderne einräumt. In seiner Streitschrift zur Zukunft einer Illusion plädiert Freud für eine rein rationale Begründung von Kulturvorschriften, also „für ihre Zurückführung auf soziale Notwendigkeit“216 anstelle religiös motivierter Begründungsstrategien. Mythen als psychischen Projektionen kommt lediglich „historische Wahrheit“217 zu, was sich an der Virulenz phylogenetischer Ereignisse für die ontogenetische psychische Entwicklung ablesen lässt. Abgesehen von dieser ‚historischen Wahrheit‘ sind Mythen als Medium der Erkenntnis in der Moderne jedoch obsolet geworden, da die Menschheit inzwischen vom Denksystem des Animismus ausgehend über die Phase religiös-mythischer Weltanschauung bis zum wissenschaftlichen Zeitalter fortgeschritten ist: Die wissenschaftliche Arbeit ist aber für uns der einzige Weg, der zur Kenntnis der Realität außer uns führen kann. Es ist wiederum nur Illusion, wenn man von der Intuition und der Selbstversenkung etwas erwartet […].218 Es gibt keine Instanz über der Vernunft.219

|| 214 Lehnert, Gertrud: Freud und der Mythos. S. 291. 215 Freud, Sigmund: Mann Moses. S. 529. 216 Freud, Sigmund: Zukunft einer Illusion. S. 175. 217 Ebd. S. 176. 218 Ebd. S. 165f. 219 Ebd. S. 162.

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Mythen sind in Freuds Theorie klar als prärationale Form der menschlichen Weltaneignung gekennzeichnet, die in die ‚Kindheitsphase‘ der Menschheit gehören. Im Gegensatz zu Schopenhauer schließt Freud daher auch kategorisch aus, dass Mythen als symbolische Einkleidung philosophischer Wahrheiten fungieren könnten, weil die breite Masse sie so wenig durchschauen könne wie ein Kind die Aussage, dass der Storch die Kinder bringe.220 Auch Jungs produktiven Mythosbegriff, der symbolische Darstellung als Anleitung zur psychischen Transformation interpretiert, lehnt Freud ab, da Mythen in seinem System als pathologisches Symptom verstanden werden. Freud stellt sich als Aufklärer dar, der die ‚Illusionen‘ religiöser Weltanschauung mithilfe des wissenschaftlichen Blicks zu entkräften sucht. Als Psychoanalytiker beschäftigt er sich mit den unbewussten Grundlagen der Kulturentwicklung, um die Menschheit von ihrer ‚Neurose‘ zu heilen: [E]s ist wahrscheinlich an der Zeit, wie in der analytischen Behandlung des Neurotikers die Erfolge der Verdrängung durch die Ergebnisse der rationellen Geistesarbeit zu ersetzen.221

Dass Freud zu diesem Zweck selbst zu den Mitteln des mythischen Erzählens greift und seine gesamte Kulturtheorie letztlich auf einem selbstgeschaffenen Mythos beruht, bleibt als Paradox seiner Bemühungen bestehen.

|| 220 Ebd. S. 178. 221 Ebd.

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2.2 Mythen als irrationale Lebensäußerung Im Gegensatz zu den drei bisher vorgestellten Ansätzen gehen Nietzsche, Klages und Rosenberg davon aus, dass mythisches Erzählen etwas grundsätzlich Irrationales zum Ausdruck bringt, das sich nicht in rationale Begriffssprache übersetzen lässt. Dabei kommen sie allerdings zu ganz unterschiedlichen Befunden zum Stellenwert des Mythos in der Moderne, die im Folgenden dargestellt werden sollen.

2.2.1 Friedrich Nietzsche (1844–1900) 2.2.1.1 Zum Stellenwert des Mythos bei Nietzsche Friedrich Nietzsche setzt sich in seinem Werk nirgends systematisch mit dem Thema ‚Mythos‘ auseinander. Er definiert den Begriff ‚Mythos‘ nicht, nimmt aber an zahlreichen Stellen – besonders im Frühwerk – Bezug auf Mythen.222 In der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872)223, die auch seinen Bruch mit der klassischen Philologie markiert, dienen ihm die antiken griechischen Mythen zur Entfaltung seiner Kunstphilosophie: die beiden Götterfiguren Apollo und Dionysos abstrahiert er zu metaphysischen Kunstprinzipien, die bis in die Gegenwart hineinwirken. Diese Konzeption entfaltet eine enorme Breitenwirkung für die Literatur der Moderne und beeinflusst zahlreiche Autoren von Thomas Mann und Hermann Hesse bis hin zu Franz Kafka und Robert Musil.224 Während die Rolle von Mythos und Kunst in Nietzsches Werken der mittleren Phase – von Menschliches, Allzumenschliches (1878)225 bis zur Fröhlichen

|| 222 Allgemeines zum Stellenwert des Mythos bei Nietzsche findet sich bei Jamme, Christoph: Einführung in die Philosophie des Mythos. Neuzeit und Gegenwart. Darmstadt 1991. S. 86ff.; Lange, Wolfgang: Tod ist bei den Göttern immer nur ein Vorurteil. Zum Komplex des Mythos bei Nietzsche. In: Bohrer, Karl Heinz (Hg.): Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Frankfurt a. M. 1982. S. 111–137; Pütz, Peter: Der Mythos bei Nietzsche. In: Koopmann, Helmut (Hg.): Mythos und Mythologie in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1979. S. 251–262; Voßenkühler, Friedrich: Kunst als Mythos der Moderne. Kulturphilosophische Vorlesungen zur Ästhetik von Kant, Schiller und Hegel über Schopenhauer, Wagner, Nietzsche und Marx bis zu Cassirer, Gramsci, Benjamin, Adorno und Cacciari. Würzburg 2004. 223 Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. In: Ders.: Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2. Aufl. Berlin/New York 1988. [=KSA I]. 224 Vgl. hierzu ausführlicher: Valk, Thorsten: Friedrich Nietzsche und die Literatur der klassischen Moderne. Berlin/New York 2009. 225 Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. In: KSA II. S. 9–704.

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Wissenschaft (1882)226 – eher an Bedeutung verliert und hinter seinen positiven Wissenschaftsbegriff zurücktritt, setzt er sich im Spätwerk wieder mit Fragen des Mythos auseinander: mit Also sprach Zarathustra (1883–85)227 wird Nietzsche sogar selbst zum Mythopoeten.228 Sucht man Aufschluss über Nietzsches Mythosbegriff, muss man also auf verschiedene vereinzelte Stellen zurückgreifen, die über sein Werk verteilt sind. In Menschliches, Allzumenschliches befasst sich Nietzsche im ersten Hauptstück u.a. mit der Entstehung von Religionen und setzt dabei bereits Jahrzehnte vor Freuds und Jungs psychoanalytischen Analysen die Entstehungsprozesse von Träumen und Mythen in Parallele. Er geht davon aus, dass sich der menschliche Geist im Traum an die Frühstadien der Menschheitsgeschichte annähert, indem er die Gegenstände seiner Wahrnehmung „auf Grund der flüchtigsten Ähnlichkeiten“229 miteinander in Beziehung setzt und sie untereinander vertauscht. Mythen werden hier außerdem – ganz im Gegensatz zu Nietzsches Position im Frühwerk – als eine Art ‚prärationale Wissenschaft‘ verstanden, die Phänomene durch magische Ursachen erklären sollen: Ich meine: wie jetzt noch der Mensch im Traume schliesst, so schloss die Menschheit auch im Wachen viele Jahrtausende hindurch: die erste causa, die dem Geiste einfiel um irgend Etwas, das der Erklärung bedurfte, zu erklären, genügte ihm und galt ihm als die Wahrheit.230

Im Rahmen seines positiven Wissenschaftsverständnisses in der mittleren Phase seines Schaffens übt er in diesem Kontext Kritik an Schopenhauers Mythenkonzept als ‚Wahrheit im Gewand der Lüge‘: Schopenhauer habe sich grundlegend geirrt, denn Mythen und Wissenschaft „leben auf verschiedenen Sternen“231. Vollkommen anders geartet ist Nietzsches Bezug zum Mythos dagegen in Also sprach Zarathustra. Hier kreiert er selbst einen neuen Mythos und trägt in biblischer Sprache vermittelt durch die Figur des Religionsstifters Zarathustra seine Lehren vom Übermenschen232 und der Ewigen Wiederkunft233

|| 226 Nietzsche, Friedrich: Die Fröhliche Wissenschaft. In: KSA III. S. 343–652. 227 Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. In: KSA IV. 228 Zu den beiden Interpretationslinien von Nietzsche als „Mythenschöpfer“ oder „Mythenzerstörer“ vgl. Zittel, Claus: Art. Mythos/Mythologie. In: Ottmann, Henning (Hg.): NietzscheHandbuch. Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2000. S. 288f. Hier: S. 288. 229 Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. S. 31. 230 Ebd. S. 33. 231 Ebd. S. 111. 232 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Zarathustra. S. 14ff. 233 Vgl. ebd. S. 199ff.

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vor. Die Reden rahmt er durch die Lebenserzählung Zarathustras, die dem klassischen Heldenmythos angeglichen ist.234 Sie zeigt den Auszug Zarathustras in die Welt, seine Taten und die Reden an seine Jünger sowie seine Konfrontation mit dem Tod und die letzte spirituelle Transformation. Die Identifikation mit dem klassischen Heldenmythos folgt also nicht nur dem vorgegebenen Bogen von Auszug, Konfrontation und Transformation, sondern wird auch auf der sprachlichen Ebene angezeigt durch die antikisierende Redeweise des Helden und auf der Bildebene, beispielsweise durch seine Gleichsetzung mit der Sonne.235 Obwohl sich Nietzsche also an einem klassischen mythischen Erzählschema orientiert, findet im Zarathustra keine Reflexion über den Begriff des Mythos statt. Einige als annähernd ‚definitorisch‘ zu bezeichnende Aussagen zum Mythos finden sich jedoch in der Frühschrift Geburt der Tragödie. Hier fällt zunächst auf, dass Nietzsche keine klare Unterscheidung zwischen Mythos und Kunst trifft. Er ist davon überzeugt, dass „[d]erselbe Trieb, der die Kunst ins Leben ruft“ auch für die Entstehung der „olympische[n] Welt“236 verantwortlich zeichne. Jedoch unterscheidet Nietzsche durchaus zwischen Mythos und Religion, da er der Religion im Gegensatz zum Mythos zuschreibt, in ihren Erzählungen einen „Anspruch […] auf historische Grundlagen“237 zu erheben. Da Mythen Gegenstand der in dieser Schrift behandelten attischen Tragödie sind, werden sie von Nietzsche der Sphäre der Kunst zugerechnet und nicht in erster Linie als religiöses Phänomen interpretiert. Dass Mythen für Nietzsche jedoch ein zentrales Element jeglicher menschlichen Kultur darstellen, wird im 23. Abschnitt der Geburt der Tragödie deutlich. Hier bezeichnet er den Mythos als das „zusammengezogene Weltbild“, als eine „Abbreviatur der Erscheinung“238. In Mythen drücke sich in kondensierter Form die Weltanschauung eines Volkes aus, so dass eine mythenlose Kultur im Vergleich dazu als orientierungslos erscheint: Ohne Mythus aber geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab.239

|| 234 Vgl. zum klassischen Heldenmythos: Campbell, Joseph: The Hero. 235 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Zarathustra. S. 11; S. 249. 236 Nietzsche, Friedrich: Geburt der Tragödie. S. 36. 237 Ebd. S. 74. 238 Ebd. S. 145. 239 Ebd.

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Dieses Phänomen zeigt Nietzsche anhand seiner Analyse der antiken griechischen Weltanschauung und der ihr korrespondierenden Kunstauffassung auf, indem er sie zunächst zu griechischen Mythen in Bezug setzt und dann in Kontrast zur Gegenwart stellt. Die Moderne erscheint in diesem Kontext als eine mythenlose Gesellschaft, die permanent nach neuen Bindungen sucht. Dennoch ist in der Geburt der Tragödie auch die Rede von einer „Wiedergeburt des deutschen Mythus“240, wie in den folgenden zwei Kapiteln zu zeigen sein wird. Dass Nietzsches in einem altphilologischen Kontext erschienene Abhandlung über die Geburt der Tragödie von seinen Fachkollegen bestenfalls ignoriert und im schlechtesten Fall rundeheraus abgelehnt wurde241, lässt sich möglicherweise darauf zurückführen, dass Nietzsche seine Überlegungen zur attischen Tragödie als eine Art Maske nutzt, um sich mit der Philosophie Schopenhauers und der Musik Wagners auseinanderzusetzen. Die Begegnungen mit Wagner und den Schriften Schopenhauers sind Grundpfeiler der frühen philosophischen Entwicklung Nietzsches. Bereits während seines Studiums der Klassischen Philologie stößt er 1865 auf das Werk Schopenhauers und erkennt in ihm das Vorbild des ‚unzeitgemäßen Philosophen‘. Schopenhauer wird ihm zum „Erzieher“242, wie das Dritte Stück der Unzeitgemäßen Betrachtungen (1874) nahelegt. Der Gedanke der Duplizität der Welt als Wille und Vorstellung prägt Nietzsches Frühwerk maßgeblich, auch wenn er sich schon früh von Schopenhauers Konsequenz der Mitleidsethik verabschiedet. Die erste Begegnung mit Wagner – nur drei Jahre nach der Schopenhauer-Lektüre – ist das zweite epochemachende Ereignis in Nietzsches jungen Jahren. Ab 1869 ermöglicht Nietzsche seine Anstellung als Professor in Basel zahlreiche Besuche bei Richard Wagner und seiner Frau Cosima in Tribschen. Bis zur Abkühlung ihres freundschaftlichen Verhältnisses in der Nachfolge der ersten Bayreuther Festspiele verbindet die beiden eine enge Freundschaft und ein reger Austausch. Nicht umsonst ist die Geburt der Tragödie Richard Wagner gewidmet.243 Hier entwirft Nietzsche eine Kunstphilosophie, die auf Schopenhauers Annahme der Welt als Wille und Vorstellung beruht und angesichts von Wagners Musikdramen die Rückkehr des antiken Mythos beschwört. Um den Zusammenhang dieser beiden Elemente mit dem Mythos in Nietzsches ästhetischer Philosophie besser verste-

|| 240 Ebd. S. 147. 241 Vgl. Reschke, Renate: Art. Friedrich Nietzsche. In: Metzler Philosophen Lexikon. Hg. von Bernd Lutz. 3. aktaktual. Aufl.. Aufl. Stuttgart 2003. S. 506–511. 242 Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher. In: KSA I. S. 335–428. Hier: S. 341. 243 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Geburt der Tragödie. S. 23f.

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hen zu können, werden sie in den beiden folgenden Kapiteln voneinander getrennt behandelt. In einem ersten Schritt geht es daher um das von Schopenhauer inspirierte Zusammenspiel von apollinischem und dionysischem Prinzip, das für Nietzsche den antiken Mythos konstituiert. In einem zweiten Schritt folgt dann die historische Perspektivierung von Nietzsches Kunstphilosophie und die Rolle der deutschen Musik bei der Wiederkehr des Mythos in der Moderne. 2.2.1.2 Das Zusammenspiel von apollinischem und dionysischem Prinzip im antiken Mythos Der 1886 veröffentlichten Neuausgabe der Geburt der Tragödie fügt Nietzsche seinen Versuch einer Selbstkritik als neues Vorwort hinzu. Die Frage nach der Bedeutung des „tragische[n] Mythos“244 für die griechische Zivilisation stellt er hier als Grundfrage des Werkes heraus und bezeichnet seine Methodik zur Lösung dieser Problemstellung als „Artisten-Metaphysik“245. Damit ist das Verhältnis zu Schopenhauers Philosophie, das in der Frühschrift zum Ausdruck kommt, treffend bezeichnet: denn Nietzsche übernimmt einige der metaphysischen Voraussetzungen Schopenhauers – aber er interpretiert sie im Kontext seiner Kunstphilosophie und kommt letztlich auch zu anderen Schlüssen als Schopenhauer. Nietzsche beginnt seine Ausführungen in der Geburt der Tragödie mit der Unterscheidung zweier Kunstprinzipien, die in ihrem Zusammenspiel die attische Tragödie charakterisieren sollen. Es sei die „Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen“246, die die antike Kunst präge – wobei der Lichtgott Apollo für das Prinzip des künstlerischen Traumes stehen soll, während Dionysos die Kunst des Rausches zugeordnet wird.247 Diese grundlegende Charakterisierung der beiden Kunstprinzipien kleidet Nietzsche im Folgenden weiter aus, indem er das ‚apollinische Prinzip‘ als einen bildnerischen Kunsttrieb beschreibt, dem die „Weihe des schönen Scheins“248 innewohne und der auf „maasvolle Begrenzung“249 angelegt sei. Ganz anders das musische ‚dionysische Prinzip‘: hier geht es um „Rausch“, „Grausen“, „Verzückung“250 bis hin zu „völ-

|| 244 Ebd. S. 12. 245 Ebd. S. 13. 246 Ebd. S. 25. 247 Vgl. ebd. S. 26. 248 Ebd. S. 28. 249 Ebd. 250 Ebd.

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liger Selbstvergessenheit“251 – Dionysos steht für ein Kunstprinzip, das eine „mystische Einheitsempfindung“252 hervorzubringen vermag. Jedoch bezeichnet Nietzsche mit dem apollinischen und dem dionysischen Prinzip nicht allein verschiedene Modi der Kunst, sondern er verweist damit auf metaphysische Begriffe, die „aus der Natur selbst, ohne Vermittlung des menschlichen Künstlers hervorbrechen“253. Die Analogie zu Schopenhauers Begrifflichkeit der ‚Duplizität der Welt als Wille und Vorstellung‘ liegt nahe: Der „schöne Schein der Traumwelt“254, der das apollinische Prinzip kennzeichnet, entspricht Schopenhauers Konzeption der Welt als Vorstellung, während das dionysische Prinzip für die Perspektive der Welt als Wille steht. So vergleicht Nietzsche die apollinische Traumwirklichkeit mit Schopenhauers Interpretation des „Schleier[s] der Maja“255, der als Vorstellung auf die Realität des Daseins projiziert wird: Bei dem höchsten Leben dieser Traumwirklichkeit haben wir doch die durchschimmernde Empfindung ihres Scheins […]. Der philosophische Mensch hat sogar das Vorgefühl, dass auch unter dieser Wirklichkeit, in der wir leben und sind, eine zweite ganz andre verborgen liege, dass also auch sie ein Schein sei; und Schopenhauer bezeichnet geradezu die Gabe, dass Einem zu Zeiten die Menschen und alle Dinge als blosse Phantome oder Traumbilder vorkommen, als Kennzeichen philosophischer Befähigung.256

Weit davon entfernt, nur ein Kunstprinzip zu erläutern, gestaltet Nietzsche also sein apollinisches Prinzip analog zu Schopenhauers Konzeption der Welt als Vorstellung. Schopenhauers Terminologie noch weiter folgend, bezeichnet er Apollo letztlich als „das herrliche Götterbild des principii individuationis“257 – eben jenes Individuationsprinzips, dem Schopenhauer nur Gültigkeit aus der Perspektive der Welt als Vorstellung zuspricht.258 Aus der Perspektive auf die Welt als Wille heraus gesehen, sind alle Erscheinungen Objektivationen desselben Willens – das principium individuationis ist als Trug entlarvt. Es ist demnach nur folgerichtig, wenn Nietzsche das dionysische Prinzip in Analogie zur Schopenhauers Welt als Willen ausgestaltet. Er erläutert, dass die Zerstückelung des Dionysos „den Zustand der Individuation als den Quell und Urgrund alles Lei-

|| 251 Ebd. S. 29. 252 Ebd. S. 30. 253 Ebd. 254 Ebd. S. 26. 255 Ebd. S. 28. 256 Ebd. S. 26f. 257 Ebd. S. 28. 258 Vgl. Schopenhauer, Arthur: Welt als Wille und Vorstellung I. § 23. S. 173.

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dens“259 versinnbildliche.260 Das dionysische Prinzip deckt die Individuation als trughafte Vorstellung auf und löst damit sowohl ein grenzenloses Einheitsgefühl als auch maßlosen Schrecken angesichts des Verlustes aller Abgrenzungen aus. Nietzsche bezieht sich bei der Beschreibung dieses Zusammenhangs explizit auf Schopenhauer. Dieser habe anschaulich das ungeheure Grausen geschildert, welches den Menschen ergreift, wenn er plötzlich an den Erscheinungen irre wird, indem der Satz vom Grunde, in irgend einer seiner Gestaltungen, eine Ausnahme zu erleiden scheint. Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung hinzunehmen, die demselben Zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so thun wir einen Blick ins Wesen des Dionysischen […].261

Das ‚Wesen des Dionysischen‘ ist also in Anlehnung an Schopenhauers Konzeption des Willens zu verstehen, während die darübergelegte Vorstellung der ‚Traumwirklichkeit‘ des Apollinischen entspricht. Dieses Konstrukt überträgt Nietzsche im Folgenden auf den antiken Mythos. Seine Überlegungen sind dabei zunächst an der Frage nach der vielbeschworenen ‚griechischen Heiterkeit‘ ausgerichtet, von der die griechische Mythologie geprägt sei. Er kontrastiert den „phantastischen Ueberschwang“262 der griechischen Kultur mit der parallel überlieferten „griechischen Volksweisheit“263, die alles andere als heiter erscheint. Charakteristisch für diese Volksweisheit sei der Spruch des weisen Silen, der weissagt, dass es das „Allerbeste“ sei, „nicht geboren zu sein“, das „Zweitbeste“ aber, „bald zu sterben“264. Nietzsche interpretiert diesen offenkundigen Widerspruch als einen geheimen Zusammenhang: Er geht davon aus, dass die gesamte olympische Götterwelt von den Griechen ersonnen wurde, um ihre Einsicht in die wahre – dionysische – Realität des Daseins erträglich zu machen. Die tragische Weltanschauung der Griechen beruhe auf dem dionysischen Erlebnis – und dieses sei so schwer zu ertragen, dass die apollinische Kunst als eine Art Kompensation dazu entstanden sei:

|| 259 Nietzsche, Friedrich: Geburt der Tragödie. S. 72. 260 Zum Dionysos-Mythos vgl. Kap. 4.2.1. 261 Ebd. S. 28. 262 Ebd. S. 35. 263 Ebd. 264 Ebd.

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Jetzt öffnet sich uns gleichsam der olympische Zauberberg und zeigt uns seine Wurzeln. Der Grieche kannte und empfand die Schrecken des Daseins. Um überhaupt leben zu können, musste er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen.265

Nietzsche nutzt hier das von Schopenhauer vorgegebene Schema einer Doppelperspektive auf die Realität des Daseins. Absolute Realität ist die Welt als Wille, welche bei Nietzsche im dionysischen Rausch erlebt wird; relative Realität ist die Welt als Vorstellung, welche sich in Nietzsches Konzeption als apollinische Traumwelt des ‚schönen Scheins‘ über die Grenzen sprengende Wahrheit des Dionysischen legt. Über diese Entlehnung von Schopenhauer kommt Nietzsche schließlich zu seiner Erläuterung der grundlegenden Funktion von Mythen: [D]ringen wir vielmehr in den Mythus ein […], so erleben wir plötzlich ein Phänomen, das ein umgekehrtes Verhältniss zu einem bekannten optischen hat. Wenn wir bei einem kräftigen Versuch, die Sonne in´s Auge zu fassen, uns geblendet abwenden, so haben wir dunkle farbige Flecken gleichsam als Heilmittel vor den Augen: umgekehrt sind jene Lichtbilderscheinungen des sophokleischen Helden, kurz das Apollinische der Maske, nothwendige Erzeugungen eines Blickes in´s Innere und Schreckliche der Natur, gleichsam leuchtende Flecken zur Heilung des von grausiger Nacht versehrten Blickes. Nur in diesem Sinne dürfen wir glauben, den ernsthaften und bedeutenden Begriff der ‚griechischen Heiterkeit‘ richtig zu fassen […].266

Mythen entstehen aus einer existentiellen Not: sie sind ein ‚Heilmittel‘ gegen die Erfahrung der dionysischen Realität. Auf Schopenhauers Philosophie bezogen wären die griechischen Mythen also eine Reaktion auf das Schauen des Willens als bestimmendes Daseinsprinzip. Die antiken Griechen besaßen – so Nietzsche – diese Weisheit und erdachten sich ihre Mythen als Vorstellungen, um diese Weisheit ertragbar zu machen. Um dieses Funktionsmodell noch weiter zu veranschaulichen, interpretiert Nietzsche im Anschluss an diese Erläuterung den Mythos des Ödipus, der ein ebensolches „Lichtbild“ sei, „welches uns, nach einem Blick in den Abgrund, die heilende Natur vorhält“267. Ödipus, der das Rätsel der Sphinx gelöst und damit die Natur besiegt habe, begehe im Folgenden die größtmöglichen Naturwidrigkeiten: er tötet seinen Vater und heiratet seine Mutter. Dieses deutet Nietzsche so, dass im Handeln des Ödipus „das starre Gesetz der Individuation gebrochen ist“268. Dementsprechend sind seine naturwidrigen Handlungen nur die Konsequenz seiner Einsicht in die wahre

|| 265 Ebd. 266 Ebd. S. 65. 267 Ebd. S. 66. 268 Ebd. S. 66f.

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Natur der Dinge, seiner „dionysische[n] Weisheit“269. Das Schreckliche, das dem Mythos zugrunde liegt, wird jedoch durch die Heiterkeit seiner Darstellung in der Tragödie abgemildert: […] der hellenische Dichter aber berührt wie ein Sonnenstrahl die erhabene und furchtbare Memnossäule des Mythos, so dass er plötzlich zu tönen beginnt – in sophokleischen Melodien!270

Die ‚griechische Heiterkeit‘ und die Traumgeburten des Mythos ruhen für Nietzsche also auf der tragischen Weisheit, die er als ‚dionysisch‘ bezeichnet und damit – wie eben gezeigt – Schopenhauers Perspektive auf die Welt als Wille impliziert. Es ist diese „schreckliche Tiefe der Weltbetrachtung“, die erst die „kräftige[n] Wahnvorspiegelungen“ und „lustvolle[n] Illusionen“ mythischer Geschichten hervorbringt, ja sie zu allererst notwendig macht. Auch wenn Nietzsche in der Geburt der Tragödie Schopenhauers epistemologische und metaphysische Annahmen übernimmt, so leitet er aus ihnen jedoch eine Philosophie der Kunst ab, die sich weit von Schopenhauers Philosophie entfernt. Zwar zieht auch Schopenhauer auf der Grundlage seiner Überlegungen über die Welt als Wille und Vorstellung die Kunst als temporäre Erlösung von der Realität des Willens in Betracht, aber letztlich bietet nur die Abkehr vom Willen in der Mitleidsethik eine wirkliche Lösung. Nietzsche dagegen verortet die Erlösung von der tragischen Weltsicht in der Kunst selbst: „nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“271. Diese These komplettiert Nietzsches an Schopenhauer angelehnte ‚ArtistenMetaphysik‘. Für ihn mündet die Einsicht in die Welt als Wille keinesfalls in Pessimismus und der Notwendigkeit der Verneinung eines an den Willen gebundenen Lebens. Kunst und Mythos erhalten anstelle der Ethik die Funktion des Erlösers – es ist „das Gleichnisbild des Mythos“, das „uns vor dem unmittelbaren Anschauen der höchsten Weltidee“272 rettet. Von moralischen Ansprüchen ist in der Geburt der Tragödie dagegen nirgends die Rede – im Gegenteil. Die Kunst müsse sich von allem Moralisieren fernhalten und „vor Allem Reinheit in ihrem Bereiche verlangen“273. Hier also weicht Nietzsche in seinem Scho-

|| 269 Ebd. S. 67. 270 Ebd. 271 Ebd. S. 47. Damit grenzt sich Nietzsche nicht nur von Schopenhauer ab, sondern auch von einem der christlichen Moral verpflichteten Kunstverständnis (z.B. der reformatorischen Deutung der Rechtfertigungslehre). 272 Ebd. S. 137. 273 Ebd. S. 152.

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penhauer ansonsten so sehr verpflichteten Frühwerk von dessen Philosophie ab: an die Stelle einer von Nietzsche als lebensverneinend empfundenen Mitleidsethik setzt er Kunst und Mythos als lebensbejahende Kräfte, die philosophische Einsicht in ‚Traumbilder‘ verpackt und so ertragbar macht. Damit habe man, so Nietzsche, die Mysterienlehre der Tragödie zusammen: die Grunderkenntnis von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als Urgrund des Uebels, die Kunst als die freudige Hoffnung, dass der Bann der Individuation zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit.274

Wenn Nietzsche hier von ‚Kunst‘ spricht, so muss man – wie bereits erwähnt – auch den Mythos dazu rechnen. Die Rolle der Kunst, wie sie in der Geburt der Tragödie dargestellt wird, prägt auch die späteren Werke Nietzsches. In Menschliches, Allzumenschliches formuliert er es als „Lehre der Kunst, Lust am Dasein zu haben“275, im Nachlass wird die sie als „das große Stimulans des Lebens, zum Leben“276 bezeichnet. Insofern also weicht seine ‚Artisten-Metaphysik‘ von der Metaphysik Schopenhauers ab, die Nietzsche im Nachlass als „romantische[n] Pessimismus“277 kennzeichnet, der – ebenso wie Buddhismus und Brahmanismus – zwangsläufig in Nihilismus münden müsse. Mythos und Kunst dagegen dienen dem Leben als „Vehikel dionysischer Weisheit“278 bzw. als „Verbildlichung dionysischer Weisheit durch apollinische Kunstmittel“279. 2.2.1.3 Die Wiederkehr des Mythos in der Moderne Nach seiner Analyse der Funktionsweise des antiken Mythos im ersten Teil wendet sich Nietzsche im zweiten Teil der Geburt der Tragödie dem Verschwinden des Mythos in der Antike und dessen Folgen für die Gegenwart zu. Mit der neueren attischen Tragödie des Euripides endet für Nietzsche die Blütezeit des antiken Mythos, der in der klassischen attischen Tragödie und unter dem Einfluss der „dionysischen Musik“280 noch einmal aufgeblüht sei. Durch Euripides

|| 274 Ebd. S. 73. 275 Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. S. 185. 276 Nietzsche, Friedrich. Nachlass 1887–1889. In: KSA XIII. 14 [26]. S. 230. 277 Ebd. 14 [25]. S. 229. 278 Nietzsche, Friedrich: Geburt der Tragödie. S. 73. 279 Ebd. S. 141. 280 Ebd. S. 74. Nietzsche geht davon aus, dass die attische Tragödie ursprünglich nur die Leiden des Dionysos zum Inhalt gehabt habe und aus dem Satyrchor entsprungen sei. Insofern könne man „die griechische Tragödie als den dionysischen Chor verstehen, der sich immer von

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Einführung des Alltagshelden habe „bürgerliche Mittelmäßigkeit“281 in die Tragödie Einzug gehalten und man könne bestenfalls noch von einem „nachgemachten, maskierten Mythos“282 sprechen. Jedoch interpretiert Nietzsche die neue Form der Tragödie nach Euripides nur als Symptom eines grundlegenden weltanschaulichen Wandels: mit ihm bricht das Zeitalter des ‚theoretischen Menschen‘ an, das die alte Weltsicht der Griechen ablöst, die den Mythos hervorgebracht habe. Auch Euripides war in gewissem Sinne nur Maske: die Gottheit, die aus ihm redete, war nicht Dionysus, auch nicht Apollo, sondern ein ganz neugeborner Dämon, genannt Sokrates.283

Sokrates wird in Nietzsches Ausdeutung zum Prototyp eines neuen Bewusstseins erklärt, das an die Stelle der ‚tragischen Weltsicht‘ der alten Griechen tritt und damit auch den Mythos obsolet macht. Sokrates stellt der tragischen Weltanschauung einen neuen Optimismus des Wissens entgegen: sein „Cyklopenauge“284 richtet sich auf alle Lebensbereiche, um diese skeptisch zu hinterfragen und logisch zu ergründen. Das Streben des Sokrates nach Offenlegung ist dem des Mystikers nach Verhüllung diametral entgegengesetzt. Während der Mystiker die Verhüllung der Wahrheit im mythischen Bild gutheißt, will der sokratische Mensch seine Erkenntnisgegenstände direkt und unmittelbar erfassen. Sokrates ist für Nietzsche das Gegenbild des Mystikers, ja „der specifische Nicht-Mystiker“, in dem „die logische Natur durch eine Superfötation ebenso excessiv entwickelt ist wie im Mystiker jene instinktive Weisheit“285. Sokrates als „Typus des theoretischen Menschen“286 leite einen Epochenwandel ein, der bis in die Gegenwart andauere: die Suche nach Wahrheit löse darin die Suche nach Weisheit ab. Alles soll mit den Mitteln der Rationalität zu erfassen und zu ergründen sein. Diese Epoche des ‚theoretischen Menschen‘ stößt jedoch spätestens in der Moderne an ihre Grenzen, denn – so Nietzsche – sie fuße letztlich auf einer

|| neuem wieder in einer apollinischen Bilderwelt entladet“. (Ebd. S. 62). Diese Annahmen sind jedoch nicht historisch belegbar. Vgl. hierzu: Colli, Giogrio: Nachwort. In. KSA I. S. 901–919. Hier: S. 901f. 281 Ebd. S. 77. 282 Ebd. S. 75. 283 Ebd. S. 83. 284 Ebd. S. 92. 285 Ebd. S. 90. 286 Ebd. S. 98.

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tiefsinnige[n] Wahnvorstellung, welche zuerst in der Person des Sokrates zur Welt kam, jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigieren im Stande sei. Dieser erhabene metaphysische Wahn ist als Instinct der Wissenschaft beigegeben und führt sie immer und immer wieder zu ihren Grenzen, an denen sie in Kunst umschlagen muss […].287

Der sokratische Wissenschaftsoptimismus könne nicht endlos fortschreiten, da er früher oder später an die Grenze dessen stoße, was mit den Mitteln der Logik noch zu ergründen sei. Den Wendepunkt in diesem sokratisch-optimistischen Weltbild bringen in Nietzsches Konzeption die Einsichten Kants und Schopenhauers über die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit.288 Ihre Philosophien leiten für Nietzsche ein neues ‚tragisches Zeitalter‘ ein, das wiederum „an die Stelle der Wissenschaft als höchstes Ziel die Weisheit“289 stellt. So sei der moderne Mensch an dem Punkt angekommen, wo er in das Unaufhellbare starrt. Wenn er hier zu seinem Schrecken sieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beißt – da bricht die neue Form der Erkenntnis durch, die tragische Erkenntnis, die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht.290

Analog zur ‚dionysischen Weisheit‘ der Antike bedürfe auch das neue ‚tragische Zeitalter‘ wieder Kunst und Mythos als Heilmittel gegen die Erkenntnis. Die neue Generation, die sich die Einsichten Kants und Schopenhauers zu eigen gemacht hat, verlange dementsprechend nach einer neuen Art von Kunst: einer „Kunst des metaphysischen Trostes“291. Metaphorisch für diesen Kulturzustand in der Moderne steht das Bild des „musiktreibenden Sokrates“292. Obwohl Sokrates der tragischen Kunst ablehnend gegenübergestanden sei und die Epoche des theoretischen Menschen eingeleitet habe, sei auch bei Sokrates selbst eine gegenläufige Tendenz zu beobachten. In Bezugnahme auf das Rahmengespräch in Platons Phaidon, in dem vom letzten Tag des Sokrates berichtet wird, erwähnt Nietzsche die Aussage des Sokrates, dass ihn eine wiederkehrende innere Stimme gedrängt habe, künstlerisch tätig zu werden.293 Die Stimme habe ihn || 287 Ebd. S. 99. 288 Vgl. ebd. S. 118. 289 Ebd. 290 Ebd. S. 101. 291 Ebd. S. 119. 292 Ebd. S. 102. 293 Vgl. Platon: Phaidon. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Ernesto Grassi. Übers. von Friedrich Schleiermacher. Hamburg 1957ff. 60c–61c.

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nach seiner Verurteilung immer wieder heimgesucht und gefordert: „mach und treibe Musik“294. Kebes berichtet im Rahmengespräch, dass Sokrates, seiner Traumstimme Folge leistend, „die Fabeln des Aisopos in Verse gebracht“295 habe. Nietzsche nimmt dieses Bild auf und erhebt es zur Metapher des neuen tragischen Zeitalters: wo die Logik an ihr Ende komme, kehre die Kunst als Heilmittel zurück. Nicht zufällig ist hier von Musik die Rede (auch wenn im platonischen Dialog allgemein von künstlerischer Tätigkeit gesprochen wird): Nietzsche übernimmt Schopenhauers Bewertung der Musik als höchste aller Künste, die allein ein direktes Abbild des Willens sei.296 Es ist daher für Nietzsche nur folgerichtig, dass es die Musik sein muss, die im neuen tragischen Zeitalter zur Trägerin des neu entstehenden Mythos wird: [D]ie Musik reizt zum gleichnisartigen Anschauen der dionysischen Allgemeinheit […]. [Daraus] erschließe ich die Befähigung der Musik, den Mythus, d.h. das bedeutsamste Exempel zu gebären und gerade den tragischen Mythus, der von der dionysischen Erkenntnis in Gleichnissen redet.297

Neben der deutschen Philosophie als Verkünderin „dionysische[r] Weisheit“298 bedarf es also auch der deutschen Musik, um deren Erkenntnisse in gleichnishafter Form auszusprechen und ästhetisch zugänglich zu machen. Es ist – wie das Vorwort schon nahelegt – die Musik Richard Wagners, auf der Nietzsches Hoffnungen für die „Wiedergeburt des deutschen Mythus“299 ruhen. Seine Musikdramen zeichnen sich, analog zur attischen Tragödie, durch das Zusammenspiel dionysischer und apollinischer Elemente aus und sollen der deutschen Kultur ihre „mythische Heimat“300 wieder nahe bringen. Musik und Mythos seien in gleicher Weise Ausdruck der „dionysischen Befähigung eines Volkes“301 und so erfülle Wagner die „höchste Aufgabe“ der Kunst als „metaphysische Tätigkeit“302, indem er Mythos und Musik aufs Neue verschränke. Diese sogenannte ‚metaphysische Tätigkeit‘ beruht für Nietzsche auf eben jenem Schema, das bereits anhand seiner Funktionsbestimmung für den antiken Mythos ge|| 294 Ebd. 60e. 295 Ebd. 59d. 296 Vgl. Schopenhauer, Arthur: Welt als Wille und Vorstellung I. § 39. S. 293. 297 Nietzsche, Friedrich: Geburt der Tragödie. S. 107. 298 Ebd. S. 128. 299 Ebd. S. 147. 300 Ebd. S. 149. 301 Ebd. S. 145. 302 Ebd. S. 24.

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zeigt wurde: die Kunst – insbesondere Mythos und Musik – hüllen die erschaute dionysische Weisheit in den schönen Schein apollinischer Kunst und verwandeln so existentiellen Schrecken in ästhetische Lust. Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schließlich die Sprache des Dionysus; womit das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt erreicht ist.303

Eine solche Kunst des ‚metaphysischen Trostes‘ ist aber nur möglich und auch nur dann vonnöten, wenn ihr die tragische Einsicht in die wahre Realität des Daseins – in die ‚Welt als Wille‘ in Schopenhauers Terminologie – vorausgeht. 2.2.1.4 Fazit Nietzsches philosophische Überlegungen zum Thema ‚Mythos‘ sind schwer dingfest zu machen: sie oszillieren zwischen unterschiedlichen Perspektiven und widersprechen sich teilweise auch – ein Umstand, der übrigens die gesamte Struktur seiner Philosophie betrifft.304 Dennoch lassen sich einige Aspekte von Nietzsches Behandlung des Mythos herausstellen, die den Diskurs der Moderne maßgeblich beeinflusst haben. 1. Zum einen unterscheidet Nietzsche klar zwischen Religion und Mythos und versteht Mythen als Teil der Kunst. Während mythische Erzählungen bereits in der Geburt der Tragödie der Sphäre der Kunst zugeordnet werden, deren „metaphysische Tätigkeit“305 darin besteht, die dionysische Weisheit im Gewand des schönen Scheins zu präsentieren, erfährt die Religion bereits im Frühwerk starke Kritik. Von der Verurteilung institutionalisierter Dogmen in Menschliches, Allzumenschliches306 über die Dekonstruktion des christlichen Wertesystems in Jenseits von Gut und Böse307 bis hin zur grundlegenden Hinterfragung religiöser Moral in der Genealogie der Moral308 bleibt die kritische Haltung zur Religion – insbesondere zum Christentum – eine Konstante in Nietzsches Werk. Dass der Mythos sich im Gegensatz dazu als Teil der Kunst von moralischer Wertung freihalten soll, ebnet den Weg für ein ästhetisierendes Verständnis von Mythen, das gerade den literarischen Diskurs der Moderne grundlegend bestimmt.

|| 303 Ebd. S. 140. 304 Vgl. hierzu Pütz, Peter: Der Mythos bei Nietzsche. S. 259ff. 305 Nietzsche, Friedrich: Geburt der Tragödie. S. 24. 306 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. S. 108. 307 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. In: KSA V. S. 9–244. Hier: S. 66ff. 308 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. In: KSA V. S. 245–412. Hier: S. 332ff.

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2. Nietzsches Kunstphilosophie, die das Zusammenspiel von apollinischem und dionysischem Prinzip zum Strukturmodell für Kunst und Mythos erhebt, setzt zudem die ästhetische Rechtfertigung des Daseins in einen starken Gegensatz zu den Leistungen der Wissenschaft und des rationalen Denkens. Sokrates als Typus des theoretischen Menschen steht den Kunstgottheiten Apollo und Dionysos als Gegenmodell eines völlig anders gearteten Weltzugangs gegenüber. Insofern begründet Nietzsche eine Lesart von Mythen als irrationale Lebensäußerung: Kunst und Mythos sagen als „Vehikel dionysischer Weisheit“309 etwas aus, das nicht in die Sprache der Rationalität übersetzt werden kann bzw. im Medium der Rationalität als Paradoxie erscheint. Damit grenzt er sich von der aufklärerischen Tendenz ab, in Mythen eine Form der prärationalen Erkenntnis zu sehen, die von der Rationalität abgelöst und obsolet gemacht wird. Mythen sind in Nietzsches Philosophie keine historisch überwundene Weltanschauung, sondern Träger philosophischer Weisheit jenseits der Grenzen der Logik. Die Entscheidung, in Also sprach Zarathustra zwei seiner Hauptgedanken in Form eines Mythos zu präsentieren, kann als Beleg dafür gesehen werden, dass diese Haltung nicht nur in Nietzsches Frühwerk von Bedeutung ist. 3. Mit der in der Geburt der Tragödie geäußerten Hoffnung auf eine „Wiedergeburt des deutschen Mythus“310 in der deutschen Musik eröffnet Nietzsche zudem den Topos des ‚modernen Mythenhungers‘. Seine emphatische Aufforderung an die „heranwachsende Generation“ von „Drachentödtern“311, sich mit „Epheu“ zu bekränzen und „den Thyrusstab zur Hand“312 zu nehmen, werden nicht nur zum Anlass zahlreicher literarischer Mythenbearbeitungen, sondern entfalten auch im politischen Bereich ihre Wirkung. Nietzsches Darstellung des Mythos als lebensdienliche Kunstform, die in ihrer paradoxen Irrationalität in starkem Kontrast zu modernem Bildungswesen und moderner Wissenschaft steht, ist Bestandteil seiner Lebensphilosophie.313 In diesem Rahmen räumt er der nicht-normativen, rein ästhetisch zu verstehenden Kunst den Vorrang vor der rationalen Erkenntnis ein: „das Leben ist die höhere, die herrschende Gewalt“314 – Kunst und Mythos aber dienen als „Stimulans des Lebens“315

|| 309 Nietzsche, Friedrich: Geburt der Tragödie. S. 73. 310 Ebd. S. 147. 311 Ebd. S. 119. 312 Ebd. S. 132. 313 Vgl. hierzu auch Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: KSA I. S. 243–334. Hier: S. 274f. 314 Ebd. S. 330. 315 Nietzsche, Friedrich: Nachlass 1887–1889. 14 [26]. S. 230.

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2.2.2 Ludwig Klages (1872–1956) 2.2.2.1 Kosmik und Lebensphilosophie Als Vertreter der Lebensphilosophie knüpft Ludwig Klages sowohl an die Rationalitätskritik Nietzsches als auch an Bachofens Studien über die vorhellenischen Völker an. Die von Bachofen und Nietzsche formulierten Befunde über die verschiedenen Stufen antiker Religionen nimmt Klages zum Anlass, eine scharfe Kritik am Intellektualismus der Moderne zu formulieren, die sich um die Entgegensetzung von ‚Geist‘ und ‚Seele‘ dreht. In seinem Hauptwerk Der Geist als Widersacher der Seele (1929–32)316 und den beiden vorbereitenden Schriften Vom Wesen des Bewußtseins (1921)317 und Vom kosmogonischen Eros (1922)318 legt er seinen Hauptgedanken dar: Klages analysiert die Funktion des ‚Geistes‘ und der von ihm hervorgebrachten Phänomene in der Moderne (wie etwa die fortschreitende Technisierung und Verwissenschaftlichung) und setzt dieser einen utopischen Bewusstseinszustand entgegen, der die ‚Seele‘ ins Zentrum des Daseins rückt. Der als zersetzend empfundenen Herrschaft der reinen Vernunft steht in Klages Vision des ‚Pelasgertums‘ ein ganzheitlich-symbolisches Denken gegenüber, das unmittelbares ‚Erleben‘ zum Ausdruck bringen kann. Mit seiner Emphase für das Erleben und eine intuitive Form der Erkenntnis steht Klages in der Tradition der Lebensphilosophie, die sich im Gegensatz zur theoretischen Philosophie nicht allein auf den rationalen Weltbezug stützen will.319 || 316 Klages, Ludwig: Der Geist als Widersacher der Seele. In: Ders. Sämtliche Werke. Hg. von Ernst Frauchinger u.a. Bd. 1 und 2. Philosophische Schriften I und II. Bonn 1966/69. 317 Klages, Ludwig: Vom Wesen des Bewußtseins. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Ernst Frauchinger u.a. Bd. 3. Philosophische Schriften III. Bonn 1974. S. 239–251. 318 Klages, Ludwig: Vom kosmogonischen Eros. München 1922. Zitiert wird im Fall des ‚Kosmogonischen Eros‘ aus der Originalausgabe, um den Nachweis der Rezeption Manns und Hesses im weiteren Verlauf zu erleichtern. 319 Zur Lebensphilosophie vgl.: Ach, Johann: Art. Lebensphilosophie. In: Prechtl, Peter/Burkard, Franz-Peter (Hg.): Metzler Philosophie Lexikon. Begriffe und Definitionen. 2. erw. Aufl. Stuttgart/Weimar 1999. S. 319f. Neben seinem Hauptwerk veröffentlicht Klages mit seiner Schrift ‚Mensch und Erde‘ (1913) auch ein frühes Manifest der Umweltbewegung, das die verheerenden Folgen des technischen Fortschritts für die Natur zum Produkt einer einseitig rationalistischen Wissenschaft erklärt, die ihre Gegenstände verdinglicht, um die Herrschaft des Menschen über die Natur zu legitimieren. (Vgl. hierzu: Falter, Reinhard: Ludwig Klages. Lebensphilosophie und Zivilisationskritik. München 2003). Er ist zudem Mitbegründer der ‚Deutschen Graphologischen Gesellschaft‘ und des ‚Psychodiagnostischen Seminars‘ in München, das sich der Charakterologie und Ausdruckswissenschaft (in Abgrenzung von Freuds Psychoanalyse) widmet (Vgl. Tenigl, Franz: Art. Klages, Ludwig. In: Lutz, Bernd (Hg.): Metzler Philosophen Lexikon. Von den Vorsokratikern bis zu den Neuen Philosophen. Stuttgart/Weimar 2003. S. 367–370).

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In künstlerischen und philosophischen Kreisen wird Klages um die Jahrhundertwende durch seine Mitgliedschaft bei der sogenannten ‚Kosmischen Runde‘ bekannt, die in der Münchner Bohème bald unter dem kurzen Begriff ‚Kosmiker‘ gefasst wird. Klages verbindet seit 1893 eine enge Freundschaft mit dem Mystiker und ‚Neuheiden‘ Alfred Schuler; in den Jahren zwischen 1899 und 1904 bilden sie gemeinsam mit Karl Wolfskehl den Kern der Kosmische Runde, die sich auf der Suche nach einer „ursprüngliche[n] Lebenseinheit“ mit dem kosmischen „All-Leben“320 befindet. Auch Stefan George ist zeitweilig mit den Kosmikern assoziiert, trennt sich allerdings später von der Gruppe, ebenso wie Wolfskehl, dessen Besinnung auf sein Judentum mit Klages‘ und Schulers „Antijudaismus“321 nicht mehr vereinbar ist. Die Kosmische Runde beklagt den Verlust einer ursprünglichen Einheit des Menschen mit dem ihn umgebenden Kosmos, die sie in heidnischen Urreligionen verwirklicht glauben. Durch sogenannte „Urerlebnisse“ könne aber auch der moderne Mensch „die oberflächliche Firnis der Bildung durchstoßen“322 und zu dieser ursprünglichen Lebenseinheit durchdringen. Als ein solches ‚Urerlebnis‘ beschreibt Ludwig Klages die Lektüre Bachofens, auf dessen Werk ihn Wolfskehl aufmerksam gemacht hatte. Klages verfällt in einen fünfwöchigen Leserausch und bezeichnet die Auseinandersetzung mit Bachofen auch noch rund 20 Jahre später als sein „größtes literarisches Erlebnis“323. Es spricht für sich, dass das bildreich beschworene ‚Urerlebnis‘ für Klages ein literarisch vermitteltes ist. Durch Bachofen angeregt entwickelt Klages in den folgenden Jahren seine Theorie des ‚Pelasgertums‘ als einer Volksgruppe, die sich durch einen der Moderne diametral entgegengesetzten mythischen Bewusstseinszustand auszeichne, den Klages mit dem Begriff ‚Wirklichkeit der Bilder‘ umschreibt. Sein Hauptwerk widmet Klages der Darstellung dieses Bewusstseinszustandes, indem er ihn mit dem vom Geist geprägten Bewusstsein der Moderne kontrastiert. 2.2.2.2 Symbolisches Denken: Die Lehre von der ‚Wirklichkeit der Bilder‘ In seiner Abhandlung Vom Wesen des Bewusstseins, der eine Privatvorlesung aus dem Jahr 1918 zugrunde liegt, erläutert Klages den Unterschied zwischen dem modernen rationalen Bewusstsein und der ‚Wirklichkeit der Bilder‘. Sei-

|| 320 Dörr, Georg: Muttermythos und Herrschaftsmythos. Zur Dialektik der Aufklärung um die Jahrhundertwende bei den Kosmikern, Stefan George und in der Frankfurter Schule. Würzburg 2007. S. 243. 321 Falter, Reinhard: Ludwig Klages. S. 24. 322 Ebd. S. 240. 323 Klages, Ludwig: Kosmogonischer Eros. S. 180.

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nem Hauptwerk vorgreifend versucht Klages, auf Anregung Erwin Ackerknechts hin, den Kern seiner Lebensphilosophie in knapper Form zu skizzieren. Im Kapitel ‚Die Welt als Bildseele‘ erläutert er: Nicht Dinge, sondern Bilder sind beseelt: das ist der Schlüssel zur ganzen Lebenslehre. […] In einer Welt der Dinge, Ursachen und Kräfte haben Seelen keinen Raum; ihre Heimat ist die Wirklichkeit der Bilder.324

Während der moderne Geist die erlebte Welt durch Differenzierung und Objektivierung zu erkennen sucht, sie unter den Gesetzen der Kausalität fasst und auf einen Begriff bringen will, ist der Bewusstseinszustand der ‚Wirklichkeit der Bilder‘ durch beseeltes Schauen, intuitive Erkenntnis und die Einheit von Erleben und Ausdruck gekennzeichnet – statt des verdinglichenden Begriffes ist hier das allumfassende Symbol Medium der Welterkenntnis. Im Gegensatz zum starren Begriff sei das Symbol dynamisch und fließend und somit viel eher dazu geeignet, die Natur des ‚Lebens‘ einzufangen: Die Wirklichkeit der Bilder […] ist ewiges Kommen und Gehen, Wachsen und Welken, Aufleuchten und wieder Verlöschen. Im Gegensatz zur zeitentzogenen Starrheit des gegenständlichen Seins wird sie nicht durch Begriffe, sondern durch Symbole gedacht. […] Empfänger des Bildes ist eine eigenlebendige Seele, deren entgeistete Schauung sich völlig genau so nie wiederholt.325

Die ‚entgeistete Schauung‘ des Erlebten im Symbol ist für Klages die Voraussetzung für die Entstehung des Mythos. Er nimmt eine Art Dreischritt an: vom unmittelbaren Erleben über den Ausdruck im Symbol bis hin zur komplexen Einbettung des Symbols in das Gewebe des Mythos.326 Dabei sind „echte Symbole“ für Klages „niemals Metaphern“327, denn sie verweisen nicht abstrakt auf das Bezeichnete, sondern das echte Symbol „bedeutet, [was es] zugleich auch ist“328. Es entsteht aufgrund einer elementaren Ähnlichkeitsbeziehung zur Wirklichkeit und kann weder vom Verstand konstruiert, noch mit den Mitteln des begrifflichen Denkens dechiffriert werden.329 Dies verdeutlicht Klages in seinem Hauptwerk Der Geist als Widersacher der Seele anhand der „Doppelpoligkeit der

|| 324 Klages, Ludwig: Vom Wesen des Bewußtseins. S. 275. 325 Klages, Ludwig: Kosmogonischer Eros. S. 152f. 326 Vgl. ebd. S. 75. 327 Ebd. S. 135. 328 Klages, Ludwig: Geist als Widersacher. S. 1274. 329 Vgl. ebd. S. 1393.

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Elementarsymbole“330. Ebenso wie das menschliche Erleben der Wirklichkeit durch ein „Polaritätsverhältnis“331 zweier Glieder zueinander gekennzeichnet sei, seien auch alle elementaren Symbole von Widerstreit und Ergänzung zweier untrennbar miteinander verbundenen Gegensätze geprägt. So habe jedes Symbol „inbezug auf jede Bedeutung, die sich von ihm aussagen läßt, zugleich die konträre Gegenbedeutung“ und drücke so den „bipolaren Charakter der Wirklichkeit“332 aus. Als klassisches Beispiel für die Doppelpoligkeit eines Symbols analysiert Klages das Bild der Magna Mater, der großen Erdmutter, die zugleich das Leben und den Tod repräsentiert.333 In der Analyse der sogenannten ‚Elementarsymbole‘ Mond, Wasser und Baum versucht Klages darüber hinaus dieses Changieren zwischen gegensätzlichen Polen aufzuzeigen und einen Einblick in die Form des mythischen Denkens zu geben, das die Einzelsymbole zu einem ganzheitlichen Ausdruckssystem verbindet.334 Anders als begriffliches Denken, das auf größtmögliche Differenzierung aus sei, ist mythisches Denken für Klages gerade durch seine Synthetisierungsleistung charakterisiert. Er kommt zu dem Schluss, dass die zu fordernde Gleichsinnigkeit aller Polaritäten, wie immer sie möge bezeichnet werden, jedes Sinnbild mit jedem beliebigen andern doppelverknüpft und dergestalt die Ähnlichkeitsreihen symbolischen Denkens eröffnet, dessen labyrinthische Analogieverschlingung der Zerlegung durch ein schulgerechtes Urteilsvermögen […] spottet […].335

Wenn mythisches Denken für Klages also von einer unauflösbaren Irrationalität geprägt ist, die nicht in die Sprache der Begriffe übersetzt werden kann, stellt sich die Frage, wie der moderne Mensch überhaupt Zugang zu einem solchen Bewusstseinszustand der ‚Wirklichkeit der Bilder‘ erlangen soll. In seinem Nachwort über Wissenschaft und Metaphysik erläutert Klages am Ende der Abhandlung über das Wesen des Bewußtseins sein Selbstverständnis als Metaphysiker in Abgrenzung zur modernen Wissenschaft. Diese frage nach den Ursachen der Dinge und strebe danach, „Erkenntnisse“ über die Wirklichkeit zu erwerben, um „die ganze irdische Welt in Besitz zu nehmen“336. In einer Art Vorwegnahme der 25 Jahre später erschienenen Dialektik der Aufklärung

|| 330 Ebd. S. 1315. 331 Ebd. 332 Ebd. S. 1298. 333 Vgl. ebd. S. 1331. 334 Vgl. ebd. S. 1301ff. 335 Ebd. S. 1316. 336 Klages, Ludwig: Vom Wesen des Bewußtseins. S. 331.

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formuliert Klages hier also bereits die Herrschaftsansprüche einer instrumentellen Vernunft, die die Welt nicht nur erkennen, sondern auch unterwerfen wolle. Zudem müsse der Aufklärungsanspruch der Wissenschaften in letzter Konsequenz ins Leere laufen, denn: „wie weit wir auch die Ursachenkette zurückverfolgen, wir fänden niemals die letzte Ursache“337. Die Metaphysik frage im Gegensatz zur wissenschaftlichen ‚Tatsachenlehre‘ nicht nach Ursachen, sondern nach „dem Wesen“338 der Dinge. Zwar bewege sie sich ebenso wie die Wissenschaft „auf dem Boden des Denkens“, allerdings sei es keinesfalls ihr Anliegen, so wie diese „Rätsel zu lösen“339. Stattdessen soll es der Anspruch der Metaphysik sein, „alles Tatsächliche, soweit es Zeichenwert beanspruchen darf, gedanklich zu knüpfen ans Weltgeheimnis“. Damit gehöre „Unentscheidbarkeit“ zum Wesen der Metaphysik, das sie anstelle einer „Lösung“340 anzubieten habe. Um diesen Zusammenhang bildlich zu illustrieren, fügt Klages seiner ein Jahr später erscheinenden Studie Vom kosmogonischen Eros ein Nachwort an, das sich der Frage widmet, warum es Verderben bringe, den Schleier der Isis zu heben. Das Heben des Schleiers steht für Klages sinnbildlich für die wissenschaftliche Neugier auf das „Weltgeheimnis“341: so wie Schillers Jüngling, der aus „Forschertrieb und Neugier“342 nachts den Schleier der Gottheit hebt, um die Wahrheit zu schauen, wolle sich die moderne Wissenschaft des Weltgeheimnisses „bemächtigen“ und „entzaubert“343 es damit. Der Metaphysiker gleiche dagegen dem Mystiker des Altertums, der von der Gottheit in das Geheimnis eingeweiht wird – er ist der passiv „Schauende“344, der die Wirklichkeit nicht durch einen aktiven Zugriff verdinglicht: Statt ‚entzaubern‘ können wir auch positiv sagen ‚verdinglichen‘. Was aber verdinglicht ist, das läßt sich in die Nähe deutlicher Sehweite bringen, das kann betastet, umfaßt, ergriffen werden; daher ‚begreifen‘ und ‚erfassen‘ für die Verstandesfunktion, daher aus frömmeren Zeiten das Freveln als ‚Antasten‘ der geheiligten Bilder!345

Das Problematische an dieser Haltung ist offenkundig: Wie soll etwas mit rationalen Begrifflichkeiten dargestellt werden, das sich genau diesem Zugriff we|| 337 Ebd. S. 329. 338 Ebd. S. 332. 339 Ebd. S. 331. 340 Ebd. 341 Klages, Ludwig: Kosmogonischer Eros. S. 165. 342 Ebd. S. 167. 343 Ebd. 344 Ebd. S. 166. 345 Ebd. S. 170.

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sensmäßig entziehen soll? Klages hat sich an zahlreichen Stellen seines Werkes zu diesem Problem geäußert und seine Methode erläutert.346 Um zur Bewusstseinsform der ‚Wirklichkeit der Bilder‘ durchzudringen, bedarf es eines Erlebnisses, das „auf dem Vorgang des Schauens“347 beruht. Diesem passiven Schauen steht jedoch beim modernen Menschen „die Schranke des Tatsachenglaubens“348 im Wege, die zuerst durchbrochen werden muss, um einzusehen, dass „alles die Seele Ergreifende […] Bilder und nichts als Bilder sind“349. Dass diese dann wiederum nur in defizitärer Art und Weise in der Sprache der rationalen Begriffe dargestellt werden können, gesteht Klages ein.350 Deshalb kommt er zu der Forderung, dass „die Lebenslehre selber“ sich letztlich „nur in einer Wissenschaft von den Symbolen bieten“351 ließe. 2.2.2.3 Kosmogonischer Eros und Pelasgertum Das mythenerzeugende Bewusstsein, das Klages im Begriff der ‚Wirklichkeit der Bilder‘ fasst, ist für ihn nicht nur eine epistemologische Kategorie, die einen alternativen Zugang zur Wirklichkeit beschreiben will, sondern es sei auch als prägende Denkart einer Menschheitsepoche konkret historisch belegbar. Im sogenannten ‚Pelasgertum‘ sei das symbolische Denken verwirklicht gewesen, in dessen Zentrum nicht der Geist sondern die Seele steht. Dabei meint Klages mit dem Begriff ‚Pelasgertum‘ im Grunde drei Gruppen von Menschen, die „Träger eines noch pathischen Bewußtseins sind, das in Symbolen denkt“352: zum einen die Völker, die das antike Griechenland vor dem Zeitalter des Hellenismus bewohnt haben, zum anderen sogenannte ‚außergeschichtliche Naturvölker‘, die abseits der modernen Zivilisation leben, und drittens die „Dichter aller Völker und Zeiten“353. Der Hauptfokus liegt für Klages jedoch auf der erstgenannten Gruppe, da die anderen beiden Gruppen sich bereits durch zunehmende Vergeistigung auszeichnen. Mit dem ‚Weltbild des Pelasgertums‘ – gemeint sind hier die urzeitlichen Bewohner Griechenlands – setzt sich Klages in Anlehnung an Bachofens Stu-

|| 346 Vgl. etwa: Klages, Ludwig: Vom Wesen des Bewußtseins. S. 332.; Klages, Ludwig: Der Geist als Widersacher. S. 1253 und S. 1393. 347 Klages, Ludwig: Geist als Widersacher. S. 1253. 348 Ebd. 349 Ebd. S. 1254. 350 Vgl. ebd. S. 1393. 351 Klages, Ludwig: Vom Wesen des Bewußtseins. S. 332. 352 Klages, Ludwig: Geist als Widersacher. S. 1258. 353 Ebd.

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dien zum Mutterrecht ausführlich im fünften Buch seines Hauptwerks auseinander. Vorab veröffentlicht er jedoch bereits 1922 die Einzelstudie Vom kosmogonischen Eros, die den Widerstreit zwischen Geist und Seele als Hauptgedanken seines Werks in knapper Form vorausnehmen soll. Im Vorwort erklärt Klages zwar, dass die Veröffentlichung „nicht hätte zu erfolgen brauchen, wäre es uns gelungen, das größere Werk bereits zu vollenden“354, aber die kurze Studie wird letztlich weitaus populärer als das fünfbändige Hauptwerk. Der Kosmogonische Eros zählt zu den meistgelesenen philosophischen Werken der zwanziger Jahre und wird schon ein Jahr nach seinem Erscheinen mit dem ‚Ehrenpreis der Stiftung Nietzsche-Archiv‘ ausgezeichnet.355 Anhand von Überlegungen zum Wesen des Eros und einer Analyse der Ekstase als Wirklichkeitszugang bringt Klages seinen Hauptgedanken ins Spiel: Er geht davon aus, dass die Seele sich vom zerstörerischen Geist befreien müsse, um zur ‚Wirklichkeit der Bilder‘ durchzudringen. Dies geschehe im Zustand der Ekstase, in dem „das Leben auf Befreiung vom Geiste“356 ziele. Die ersten beiden Kapitel setzen sich zunächst mit dem Eros-Begriff auseinander. Klages führt sein Konzept eines ‚kosmogonischen Eros‘ auf Hesiod und die antike Orphik zurück, der zufolge der androgyne Eros zu Beginn der Schöpfung aus dem Weltenei entspringt und die „Keime sämtlicher Götter“357 in sich trägt. Im dritten Kapitel wird dieser kosmogonische Eros dann zur Chiffre für einen menschlichen Bewusstseinszustand der unumschränkten Lebenseinheit erklärt, der sich im Zustand der Ekstase bzw. des „Außersichseins“358 ausdrückt: Der Eros heißt elementar oder kosmisch, sofern das von ihm ergriffene Einzelwesen sich erlebt als durchpulst und durchflutet von einem gleichsam magnetischen Strom, der ähnlich dem dinglichen Magnetismus unbekümmert um ihre Schranken einander fernste Seelen im verbindenden Zug sich gegenseitig erspüren läßt […] und dergestalt unbeschadet ihrer Verschiedenheit zusammenknüpft die Pole der Welt.359

Dem Wesen dieser Form der Ekstase sind die Kapitel IV und V gewidmet, die den Kern der Studie bilden. Hier beschreibt Klages die Ekstase als Zustand, in dem die „Seele“ des Menschen sich vom „Geiste“360 befreie. Der Geist wird im || 354 Klages, Ludwig. Kosmogonischer Eros. S. V. 355 Vgl. Eggert Schröder, Hans: Kommentar. In: Klages, Ludwig: Sämtliche Werke. Hg. von Ernst Frauchinger u.a. Bd. 3. Philosophische Schriften III. Bonn 1974. S. 745–817. Hier: S. 759. 356 Klages, Ludwig. Kosmogonischer Eros. S. 153. 357 Ebd. S. 22. 358 Ebd. S. 36. 359 Ebd. S. 40. 360 Ebd. S. 43.

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Folgenden näher definiert als eine lebensfeindliche „außerraumzeitliche Macht“, die die „Pole entzweien“ und „die Seele entleiben“361 will. Historisch sei dieser Geist in eine Art idyllischen Naturzustand eingebrochen, der zuvor vom Zustand der ungetrennten Lebenseinheit geprägt gewesen sei. Da der Geist „Träger des Ichbewußtseins“ sei, habe er den einzelnen Menschen vom „kosmischen Leben […] abgetrennt“362, so dass dieser nur noch im Zustand der Ekstase zur ursprünglichen Einheit mit dem Leben zurückfinden könne. Die Ekstase wird daher vornehmlich als Verlust dieses Ichbewusstseins beschrieben – als „Außersichsein“363 im wahrsten Sinne des Wortes, das Klages in Anknüpfung an die antiken Mysterienkulte als Vermählung mit dem Gott, „Hierosgamos“364, beschreibt. In diesem Zustand hat die passiv schauende Seele Zugang zur ‚Wirklichkeit der Bilder‘: Wer die Personenhaftigkeit in der Ekstase zersprengt, für den geht im selben Augenblick die Welt der Tatsachen unter und es aufersteht ihm mit alles verdrängender Wirklichkeitsmacht die Welt der Bilder. Die schauende Seele ist deren innerlicher, die geschaute Wirklichkeit ihr äußerlicher Pol […]. Aus der polaren Berührung von Innen und Außen gebärt sich unablässig das selber beseelte Bild.365

Das im Zustand der Ekstase Erschaute findet schließlich in den Symbolen seinen Ausdruck, welche als „Glyphen ekstatisch erschauter Bilder“366 wiederum die Grundlage des Mythos bilden. Die Wandelbarkeit der geschauten Bilder, die in ihrer fließenden Dynamik nicht mit der Starrheit von Verstandesbegriffen zu vergleichen seien, resultiere im „Prinzip der Verwandlung“367 als Motor aller mythischen Geschichten. Dieses ‚mythische Denken‘ ist für Klages jedoch mit der Vorherrschaft des Geistes beendet, der die ‚Wirklichkeit der Bilder‘ durch ‚Tatsachenwissenschaft‘ ersetzt. Daher beschließt Klages seine Ausführungen mit der utopischen Hoffnung auf eine Gemeinschaft, die sympathetisch schauend im „Geheimnis des Eros“ aufgeht, so dass die „Fluchmacht des Geistes gebrochen“368 werden könne. Im fünften Teil seines Hauptwerks Der Geist als Widersacher der Seele führt Klages den eben beschriebenen Zusammenhang am Beispiel des ‚Pelasgertums‘ || 361 Ebd. S. 44. 362 Ebd. S. 45. 363 Ebd. S. 46. 364 Ebd. S. 76. 365 Ebd. S. 79. 366 Ebd. S. 95. 367 Ebd. S. 125. 368 Ebd. S. 156.

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aus. Das Kapitel ‚Das Weltbild des Pelasgertums‘ soll direkt an Bachofens Forschungen zur vorhellenischen Religion anknüpfen und will das von ihm beigebrachte Material als „Belegstoff“369 nutzen, um die Lehre von der ‚Wirklichkeit der Bilder‘ am historischen Beispiel „in den Bereich der Anschaulichkeit zu rücken“370. Dennoch weicht Klages in zwei grundsätzlichen Punkten von Bachofens Interpretation des antiken Materials ab: Einerseits will Klages – anders als Bachofen – mit Hilfe einer Analyse von Mythen und Symbolen aus der vorhellenischen Zeit keine urtümliche Gesellschaftsform ableiten, sondern es geht ihm um den Bewusstseinszustand dieser Völker. Andererseits verwehrt sich Klages gegen Bachofens positive Wertung des Fortschritts von der Mutter- zur Vaterreligion, da er erstere mit der Seele, letztere aber mit dem kritisierten Geist assoziiert. So kritisiert er zunächst an Bachofen, dass diesem die „bewußtseinswissenschaftliche Einsicht in die grundsätzliche Verschiedenheit des symbolischen vom begrifflichen Denken“371 gefehlt habe: daher habe Bachofen aus dem Muttersymbol auf eine soziale Ordnung geschlossen und daraus seine These der historischen Gynaikokratie abgeleitet. Klages hingegen deutet das Material anders: als Beleg für einen alternativen Bewusstseinszustand, für mythisches Denken. Brieflich gibt er zu Protokoll: „Eine Wissenschaft vom Bilde hatte B[achofen] gerade n i c h t und hatte – ich wiederhole es – außer mir bis heute überhaupt niemand.“372 Dieser Unterschied lässt sich deutlich anhand von Klages‘ Ausdeutung des Muttersymbols belegen. Während die zentrale Stellung mütterlicher Symbole in der vorhellenischen antiken Religion für Bachofen die Existenz einer gynaikokratischen Gesellschaftsordnung nahelegt, erklärt Klages dieses Phänomen zum symbolischen Ausdruck einer spirituellen Erfahrung, die „die religiöse Haltung der Vorzeit bestimmte“373. Diesem Prinzip wird nun die Vaterreligion kontrastierend gegenübergestellt – als Fortschrittsprinzip und „Zukunftsvaterschaft“374, die vom Geist geprägt ist. Hieran schließt sich die zweite Kritik an, die Klages gegenüber Bachofen vorbringt. Schon im Nachwort des Kosmogonischen Eros hatte er Bachofen vorgeworfen, in seiner positiven Bewertung des Fortschritts vom Mutter- zum Vater-

|| 369 Klages, Ludwig: Geist als Widersacher. S. 1252. 370 Ebd. S. 1251. 371 Ebd. S. 1378. 372 Brief vom 12.01.1923. In: Eggert Schröder, Hans: Ludwig Klages. Die Geschichte seines Lebens. Bonn 1966. S. 1070. 373 Klages, Ludwig: Geist als Widersacher. S. 1378. 374 Ebd. S. 1351.

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recht seine „Herzgedanken“ mit den „Kopfgedanken“375 vermischt zu haben. Eigentlich habe Bachofens Vorliebe der mutterrechtlichen Religionsstufe gegolten und der postulierte Fortschritt zur apollinischen Vaterreligion sei nur seiner christlichen Sozialisierung geschuldet. Dementsprechend plädiert Klages im Schlussteil seiner eigenen Ausführungen zum Muttersymbol dafür, den Fortschritt zur vergeistigten Vaterreligion als Verfallserscheinung zu deuten. Für ihn muss „die Nacht den Vorrang vor dem Tage erhalten, das Dunkel vor der Helle, das Unten vor dem Oben“376. Mit dieser Bachofenschen Terminologie polarer Oppositionen bezeichnet Klages das symbolische Denken der Vorzeit als die Sphäre der Mutterreligion (Nacht, Dunkel, Unten) und stellt ihr das vom Geist geprägte Denken als Gegenmodell der Vaterreligion (Tag, Hell, Oben) gegenüber. Anders als Bachofen deutet Klages jedoch ersteren Zustand als den erstrebenswerten, weil er frei von der zerstörerischen Wirkung des Geistes sei. Rationales Denken vereine im Gegensatz zu symbolischem Denken nicht die Gegensätze zu einer ruhenden Ordnung, sondern dränge grundsätzlich auf Differenzierung und Fortschritt. Es sei geprägt von einer „Überbewertung des Gedankendinges Zukunft“ anstelle eines zyklischen Zeitverständnisses und resultiere daher in einer „Flucht vor der Gegenwart und dergestalt [in] völlige[r] Glücklosigkeit“377. Darin besteht für Klages die „Lebensgefährlichkeit des Geistes für die Seele“378. Während Bachofen also symbolisch-mythisches Denken als ein historisch überwundenes prärationales Phänomen begreift, das – in einer positiv bewerteten Fortschrittsbewegung – von der geistgeprägten Entwicklungsstufe der apollinischen Vaterreligion abgelöst wird, steht für Klages die irrationale ‚Wirklichkeit der Bilder‘ dem rationalen Bewusstsein grundsätzlich gegenüber. Zwar konstatiert auch er einen historischen Verlust dieses symbolischen Denkens im Untergang des ‚Pelasgertums‘, aber durch seine Neubewertung der beiden Prinzipien als Bewusstseinsformen stehen sich im symbolischen Denken der Vorzeit und dem rationalen Denken der Gegenwart zwei grundsätzliche Wege der menschlichen Welterkenntnis gegenüber, die epistemologischer Natur und daher ahistorisch sind. Daher schließt Klages auch keinesfalls aus, dass eine – zumindest partielle – Rückkehr zu symbolischem Denken für den modernen Menschen möglich ist. Im beschriebenen Phänomen der Ekstase könne eine solche ‚Entgeistung‘ erreicht werden, ebenso annäherungsweise in der Enthal-

|| 375 Klages, Ludwig: Kosmogonischer Eros. S. 181f. 376 Klages, Ludwig: Geist als Widersacher. S. 1374. 377 Ebd. S. 1422. 378 Ebd. S. 1421.

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tung von Zukunftsgedanken in „Stunden der Muße“379 und der Fokussierung auf den gegenwärtigen Augenblick. Der Umstand, dass Klages dem Geist im Gegensatz zur Seele ablehnend gegenübersteht, ist jedoch von seiner Zeit nicht als ahistorisch-epistemologische Aussage gewertet worden, sondern sie ist mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus zunehmend politisch instrumentalisiert und ausgedeutet worden. Daher soll hier ein kurzer Exkurs folgen, der sich mit Klages’ Verhältnis zum Nationalsozialismus auseinandersetzt. 2.2.2.4 Exkurs: Klages Verhältnis zum Nationalsozialismus Ludwig Klages’ Verhältnis zum Nationalsozialismus ist kein eindeutiges. Obwohl – oder gerade weil – er sich nicht dezidiert positioniert, wird er sowohl von links als auch von rechts angegriffen: Georg Lukács und Thomas Mann werfen ihm Irrationalismus und präfaschistische Ideologiebildung vor, Baeumler und Rosenberg dagegen grenzen die offizielle ‚Philosophie des Nationalsozialismus‘ scharf von Klages’ Werk ab.380 Obwohl Klages schon 1915 in die Schweiz auswandert, wird sein Werk in Deutschland breit rezipiert – im Gegensatz zu Baeumlers Schriften werden seine Texte viel gelesen. Schneider bezeichnet Klages gar als den „populärste[n] Philosophen in den Jahren des Dritten Reichs“381, nicht zuletzt auch aufgrund der antisemitischen und demokratiefeindlichen Äußerungen, die über sein Werk verteilt sind. Eine Gastvorlesung, die er 1933 in Berlin hält, findet so großen Andrang, dass einige Studierende eine Petition starten, um Klages als Professor zu gewinnen (was jedoch von Baeumler verhindert wird).382 Auch zahlreiche erfolgreiche Vortragsreisen nach Deutschland und Veröffentlichungen in nationalsozialistischen Publikationsorganen dokumentieren das zunächst gute Verhältnis des Philosophen zum Regime. Bereits in seinem 1929–32 veröffentlichten Hauptwerk wendet sich Klages jedoch offen gegen Baeumlers populäre Nietzsche-Interpretation, die ihren Fokus auf den Gedanken des ‚Willens zur Macht‘

|| 379 Ebd. S. 1424. 380 Zu Klages Verhältnis zum Nationalsozialismus vgl. Dörr, Georg: Muttermythos und Herrschaftsmythos. Zur Dialektik der Aufklärung um die Jahrhundertwende bei den Kosmikern, Stefan George und in der Frankfurter Schule. Würzburg 2007.; Falter, Reinhard: Ludwig Klages. Lebensphilosophie und Zivilisationskritik. München 2003; Schneider, Tobias: Ideologische Grabenkämpfe. Der Philosoph Ludwig Klages und der Nationalsozialismus 1933–1938. In: Vierteljahresschrift für Zeitgeschichte 49, 2 (2001). S. 275–294. 381 Schneider, Tobias: Ideologische Grabenkämpfe. S. 275. 382 Vgl. ebd. S. 279.

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legt. Klages stellt dieses Prinzip als widernatürliches dar und geht davon aus, dass das Naturrecht „jeden ‚Willen zur Macht‘ […] verwirft und ahndet“383. Brieflich äußert sich Klages durchaus kritisch über die Nationalsozialisten, will seinen intellektuellen ‚Antijudaismus‘, der sich gegen monotheistische Religionen im Allgemeinen richtet, nicht mit Antisemitismus verwechselt wissen und sieht die Machtergreifung Hitlers als Ausdruck eben jenes ‚Willens zur Macht‘ an, dem sich seine Philosophie gerade entgegenstellen will.384 Obwohl er diese Bedenken nicht öffentlich äußert, kommt es in den Jahren nach 1936 zu einem offenen Konflikt zwischen den ‚Reichsphilosophen‘ Baeumler und Rosenberg auf der einen und Ludwig Klages und seinen Schülern, die sich im sogenannten ‚Arbeitskreis für biozentrische Forschung im Reichsbund Volkstum und Heimat‘ (AKBF) organisiert hatten, auf der anderen Seite. Als für die Nationalsozialistischen Monatshefte ein Artikel bei Ferdinand Weinhandl in Auftrag gegeben wird, der Klages Inkompatibilität mit den Ansichten der ‚nationalsozialistischen Philosophie‘ aufzeigen soll385, reagiert der AKBF mit einer Gegenanzeige in der Zeitschrift Rhythmus, der bald auch die Hitlerjugend mit einem positiven Bekenntnis zu Klages in Wille und Macht folgt, für die sich Klages überschwänglich bedankt.386 Nun schaltet sich Alfred Rosenberg mit einem Vortrag zu Gestalt und Leben (1938) persönlich in die Debatte ein, in dessen Rahmen er versucht, „die nationalsozialistische Bewegung in die deutsche Geistesgeschichte einzureihen“387 und somit auch die ‚offizielle Philosophie‘ von anderen philosophischen Schulen abzugrenzen. Einen Hauptteil seiner Rede nimmt die Auseinandersetzung mit Klages ein, dem er zunächst zwei Verdienste zugesteht: er habe zu Recht die „entartete Technik früherer Jahrzehnte“ als zerstörerisch für die Umwelt kritisiert und habe zudem dazu beigetragen, die „Kraft der Phantasie gegenüber dem abstrakten Denken [zu] schärfen“388. Auf diese minimalen Zugeständnisse folgt jedoch Rosenbergs Kritik an der Philosophie von Klages. Er verteidigt Bachofens Konzept des Fortschritts der Völker durch ihre Hinwendung zu einem patriarchalen ‚apollinischen Prinzip‘, das sich gerade durch seine Vergeistigung auszeichne und wendet sich ausdrücklich gegen Klages‘ ‚Geistfeindschaft‘:

|| 383 Klages, Ludwig: Geist als Widersacher. S. 1355. 384 Vgl. hierzu Falter, Reinhard: Ludwig Klages. S. 111f. 385 Vgl. Weinhandl, Ferdinand: Ludwig Klages. In: Nationalsozialistische Monatshefte 9,1 (1938). 386 Vgl. Schneider, Tobias: Ideologische Grabenkämpfe. S. 287f. 387 Rosenberg, Alfred: Gestalt und Leben. Halle/Saale 1938. S. 5. 388 Ebd. S. 9.

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Der Geist ist eben nicht, wie Klages sagt, als außer-raum-zeitliche kosmische Macht in ein paradiesisches Idyll hereingebrochen, sondern ist ein entscheidender Bestandteil unseres, ich betone unseres Gesamtlebens.389

Daran anschließend hebt er hervor, dass Klages’ Verurteilung der modernen Naturwissenschaften keinesfalls zum „Wesen des germanischen Forschertums“390 passe und seine ‚Völkerpsychologie‘ zudem als „unbiologisch“391 abzulehnen sei, da sie keine Rassenunterschiede kenne. Schon im Kosmogonischen Eros hatte Klages das „Rassenbewußtsein“ als mit dem „Entartungsmerkmal des Hanges zum Abstrakten“392 behaftet beschrieben. Es ist für ihn ein Produkt des abzulehnenden Geistes. Rosenberg ist zwar „weit davon entfernt, […] Klages irgendwie verletzen zu wollen“, kommt aber zu dem Schluss, dass Klages’ Philosophie „nicht der Verteidigung des deutschen Lebens“393 dient und daher letztlich abzulehnen sei. Obwohl Klages dem Regime also anscheinend keinesfalls wohlgesonnen war, ließ er sich doch bei seinen zahlreichen Besuchen in Deutschland und in Bezug auf seine dortigen Publikationsmöglichkeiten von den nationalsozialistischen Machthabern dulden und wurde von ihnen – trotz aller Kritik – geduldet. Doch auch von links wird Klages häufig angegriffen: Thomas Mann rechnet ihn zu den Philosophen des Nationalsozialismus und nennt ihn gar mit seinem Kontrahenten Baeumler im gleichen Atemzug.394 Georg Lukács nennt Klages einen „unmittelbaren Vorläufer der ‚nationalsozialistischen Weltanschauung‘“395. Dessen Auslegung von Lebensphilosophie sei in ihrer Geistfeindschaft ein „offenes Bekämpfen von Vernunft und Kultur“396 und damit ein Rückfall in mythische Denkstrukturen, die der politischen Instrumentalisierung des Mythos durch den Nationalsozialismus Vorschub leiste. 2.2.2.5 Fazit Wie so viele Mythentheoretiker der Moderne handelt Ludwig Klages anhand seiner Analyse des ‚mythischen Denkens‘ eine Kritik an der neuzeitlichen Rati-

|| 389 Ebd. S. 25. 390 Ebd. 391 Ebd. S. 14. 392 Klages, Ludwig. Kosmogonischer Eros. S. 155. 393 Rosenberg, Alfred: Gestalt und Leben. S. 28. 394 Vgl. hierzu ausführlich: Kap. 3.2.2.1. 395 Lukács, Georg: Von Nietzsche zu Hitler. Der Irrationalismus und die deutsche Politik. Frankfurt a. M. 1966. S. 205. 396 Ebd. S. 202.

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onalität ab. In seiner Entgegensetzung von Geist und Seele beschreibt er zwei exemplarische Zugänge zur Wirklichkeit: das symbolische Denken und das Denken in Begriffen. Für ihn gehen diese beiden Erkenntniswege auch mit diametral entgegengesetzten Bewusstseinsformen einher. Während die ‚Wirklichkeit der Bilder‘ als eine Art idealer Naturzustand des geist- und selbstfreien Schauens von Urbildern konstruiert ist, wird das rationale Denken als glückloser Geisteszustand beschrieben, der sich – unter dem Einfluss einer herrschaftsförmigen instrumentellen Vernunft – von der Wirklichkeit des Lebens und Erlebens weit entfernt hat. Den Konflikt zwischen diesen beiden epistemologischen Zugängen zur Wirklichkeit projiziert Klages in Anlehnung an Bachofen zudem auf die Menschheitsgeschichte: Repräsentanten des symbolisch-bildlichen Weltzugangs sind die ‚Pelasger‘, deren Kultur durch den Einfall des Geistes im sogenannten ‚herakleischen Zeitalter‘ zerstört wird.397 Die rücksichtslose Industrialisierung und Technisierung aller Lebensbereiche in der Moderne deutet Klages als Produkt eines „wollenden Ich“398, eines vom Geist geprägten Bewusstseins, das sich der Dinge bemächtigen will, anstatt sie in passiver Schauung aufzunehmen. Klages’ historische Wertung der beiden Bewusstseinszustände entspricht also einer Umkehrung von Bachofens Hierarchisierung: Der Fortschritt von der mutterrechtlichen zur apollinisch-geistigen Sphäre ist für Klages zum einen kein religiös-sozialer, sondern ein Wandel des Bewusstseinszustandes. Zum anderen ist dieser Wandel kein Fortschritt – wie bei Bachofen – sondern eine Verfallserscheinung. Im Abschlusskapitel seines Hauptwerks setzt sich Klages mit seinen Kritikern auseinander, die seiner Philosophie den Vorwurf des Irrationalismus machen.399 Hier gesteht er ein, dass er eine solche Philosophie vertritt, insofern man darunter eine Verteidigung des „Leben[s] gegen den Geist“400 verstehe: Man hört heute viel von sog. Irrationalismus […]. Versteht man unter Rationalismus Verstandeskult oder Vernunftkult, so lehnt unser Werk den Rationalismus ab und würde also, wenn es beliebt, einen Irrationalismus vertreten […].401

Diese Positionierung macht Klages’ Philosophie anfällig für politische Instrumentalisierung, die – wie bereits gezeigt wurde – sowohl von links als auch von

|| 397 Vgl. Klages, Ludwig: Geist als Widersacher. S. 1420. 398 Ebd. 519. 399 Vgl. Klages, Ludwig: Geist als Widersacher. S. 1416ff. 400 Ebd. S. 1419. 401 Ebd.

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rechts erfolgte. Klages’ Anliegen ist jedoch ein anderes: er strebt nach einer Philosophie, in deren Rahmen der „Geist dem Leben dienstbar werden“402 kann und die „aus dem Leben heraus dem Leben dient“403. Das mythische Denken ist für Klages keine prärationale Erkenntnisform, die von einer höheren Stufe abgelöst und überwunden wird. Es ist grundsätzlich irrational und zudem weit eher dazu befähigt, das menschliche Erleben in symbolischer Sprache zum Ausdruck zu bringen als das rationale Operieren mit Begriffen. Der moderne Metaphysiker soll daher in der Nachfolge des antiken Mystikers stehen, dessen Durchbruch zur ‚Wirklichkeit der Bilder‘ ihn zur „Inempfangnahme lebensbestimmender Offenbarungen“404 befähigt. Dass diese ‚Offenbarungen‘ aber wiederum im Medium rationaler Begrifflichkeit ausgedrückt werden müssen, ist eine Grundaporie des Klagesschen Werkes. Die Metaphysik Klages’ sucht daher letztlich „an der Wissenschaft vorbei das Feld einer ‚anderen Wahrheit‘ zu sichern“405, die sich des Zugriffs rationalen Denkens entzieht.

2.2.3 Alfred Rosenberg (1893–1946) 2.2.3.1 Rosenberg als ‚Chefideologe‘ des Nationalsozialismus Alfred Rosenbergs Auslassungen zum Thema Mythos im Rahmen des modernen Diskurses zu besprechen, ist problematisch. „Hitlers Chefideologe“406 versucht mit seinem über 700 Seiten umfassenden Werk Der Mythus des 20. Jahrhunderts407 die nationalsozialistische Weltanschauung philosophisch zu begründen. Seine Argumentation ruht auf rassistischen, antisemitischen und sexistischen Grundlagen; sie ist zudem hochgradig assoziativ und in den meisten Fällen historisch inkorrekt. Dennoch kann sein Beitrag zum modernen Diskurs nicht ohne weiteres ausgeklammert werden: mit einer Auflage von über einer Million ist der Mythus das meistverkaufte nationalsozialistische Buch nach Hitlers Mein Kampf 408 Auch wenn man nicht annehmen kann, dass das komplizierte Werk dementsprechend häufig gelesen wurde, so fand Rosenbergs Gedan-

|| 402 Ebd. S. 1425. 403 Ebd. S. 1429. 404 Klages, Ludwig: Kosmogonischer Eros. S. 74. 405 Posen, Michael: Pelasgertum und Pessimismus. S. 34. 406 So der Titel der Monografie von Ernst Piper. Piper, Ernst: Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe. München 2005. 407 Rosenberg, Alfred: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Grabenkämpfe unserer Zeit. München 1930. 408 Vgl. Piper, Ernst: Alfred Rosenberg. S. 184.

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kengut doch Eingang in die nationalsozialistische Programmatik sowie in Schulbücher und Parteischulungen.409 Seine Theorien entfalteten direkte politische Wirksamkeit und gewähren einen Einblick in die politische Instrumentalisierung von Mythen, gegen die sich zahlreiche Exilschriftsteller mit ihren eigenen Mythos-Bearbeitungen in Stellung bringen. Die Relevanz Rosenbergs im nationalsozialistischen Machtgefüge ist durchaus umstritten.410 Zwar gehört er zu den Parteimitgliedern der ersten Stunde und hält sich bis zum Ende des Krieges im engsten Kreis um Hitler, allerdings wird ihm von den meisten Historikern ein faktischer „Mangel an Macht und politischem Einfluss“411 attestiert. Unbestreitbar ist jedoch sein Einfluss auf die Ideologiebildung des Nationalsozialismus: er ist nicht nur an der Herausgabe fast aller wichtigen nationalsozialistischen Zeitschriften beteiligt – z.B. am Völkischen Beobachter und den Nationalsozialistischen Monatsheften –, sondern veröffentlicht auch eine nahezu unüberschaubare Menge an Publikationen, die die nationalsozialistische Weltanschauung philosophisch fundieren und vernetzen sollen.412 Er ist der einzige „auf hoher staatlicher Ebene agierende Entscheidungsträger, der sich um eine konsequente Bündelung des nationalsozialistischen Ideenguts in seiner Gesamtheit bemühte“413. Der 1893 in Reval (Estland) geborene Sohn einer deutschbaltischen Kaufmannsfamilie entdeckt bereits früh sein politisches Talent: nachdem er ab 1915 für vier Semester in Moskau studiert hatte und dort die Novemberrevolution miterlebte, kehrt er 1918 wieder in seine Heimatstadt zurück und hält seinen ersten Vortrag über Marxismus und Judentum.414 Die Ereignisse in Russland haben ihn zu der Überzeugung gebracht, dass Judentum und Bolschewismus untrennbar zusammenhängen. Diesem Thema bleibt Rosenberg treu, als er im selben Jahr seinen Wohnsitz nach München verlegt: in den Jahren 1920–23 veröffentlicht er eine Vielzahl von Artikeln, die sich alle um den ‚jüdischen Beitrag‘ zur Weltpolitik drehen. So wird er bereits in den zwanziger Jahren zum „wich-

|| 409 Vgl. ebd. S. 12. 410 Vgl. hierzu: Bärsch, Claus-Ekkehard: Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiösen Dimensionen der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler. München 2002; Kroll, Frank-Lothar: Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich. München (u.a.) 1998; Piper, Ernst: Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe. München 2005. 411 Kroll, Frank-Lothar: Utopie als Ideologie. S. 102. 412 Vgl. Piper, Ernst: Alfred Rosenberg. S. 11–17. 413 Kroll, Frank-Lothar: Utopie als Ideologie. S. 101. 414 Vgl. Piper, Ernst: Alfred Rosenberg. S. 29.

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tigsten Autor antijüdischer-rassistischer Mythologien“415 im Umfeld der neu entstehenden nationalsozialistischen Partei. In München tritt er 1919 in die Deutsche Arbeiterpartei ein, die Vorläuferpartei der NSDAP. Er ist außerdem Mitglied der berüchtigten ‚Thule-Gesellschaft‘, wo er Adolf Hitler vermutlich zum ersten Mal begegnet.416 Als Hitler im Februar 1920 im Münchner HofbräuFestsaal das Programm der NSDAP vorstellt, ist Rosenberg anwesend und wird bald darauf Mitglied der Sektion Schwabing. Er wird zudem zum wichtigsten Mitarbeiter Dietrich Eckarts beim Völkischen Beobachter, zu dessen Hauptschriftleiter er 1923 aufsteigt; er behält dieses Amt bis 1937.417 Am 9. November 1923 ist er beim Münchner Putschversuch dabei und wird sogar von Hitler zum Leiter der nun verbotenen Partei bestimmt, während deren Führungsriege ihre Haftstrafe absitzt.418 Als Hitler im Dezember 1924 aus der Haft entlassen wird, widmet sich Rosenberg wieder vornehmlich seiner publizistischen Tätigkeit und beginnt mit der Abfassung des Mythus des 20. Jahrhunderts. Obwohl die Arbeit daran bereits Mitte der zwanziger Jahre abgeschlossen ist, findet sich bis 1930 kein Verleger für das Werk. Bis 1933 wird es – abgesehen von einer ‚Selbstanzeige‘ Rosenbergs in den Monatsheften419- zudem kaum rezipiert, erst danach nehmen die Absatzzahlen zu. Selbst Hitler soll jedoch geäußert haben, „das Buch nur zum geringsten Teil gelesen“ zu haben, da es „zu schwer verständlich geschrieben“420 sei. Dennoch festigt der Erfolg des Mythus Rosenbergs selbstgewählte Rolle als ‚Vordenker der Bewegung‘: neben seiner Stellung als Leiter des außenpolitischen Amtes der NSDAP ab 1933 wird ihm 1934 das ‚Amt zur Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP‘ direkt von Hitler übertragen.421 Darüber hinaus wird Rosenberg 1940 mit der Gründung der nationalsozialistischen ‚Hohen Schule‘ betraut: der ‚Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg‘ begeht im Zuge der Materialbeschaffung für dieses Projekt Kunstraube und Bibliotheksplünderungen im gesamten besetzten Gebiet.422 Ab 1941 wird Rosenberg zudem zum ‚Reichsminister für die besetzen Ostgebiete‘ ernannt und ist damit rechtlich mitverantwortlich für die dort begangenen Gräueltaten der Wehrmacht und den Massenmord an den Juden. Im Zuge der Nürnberger Prozesse wird er 1946 in allen vier Anklagepunk|| 415 Ebd. S. 75. 416 Vgl. Bärsch, Claus-Ekkehard: Die politische Religion des Nationalsozialismus. S. 198. 417 Vgl. ebd. S. 199f. 418 Vgl. Piper, Ernst: Alfred Rosenberg. S. 97. 419 Vgl. ebd. S. 180. 420 Ebd. S. 186. 421 Vgl. Bärsch, Claus-Ekkehard: Die politische Religion des Nationalsozialismus. S. 199f. 422 Vgl. ebd.

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ten für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Am 16. Oktober 1946 wird er in Nürnberg hingerichtet. Anregungen für seine Weltanschauung findet Rosenberg bereits als Gymnasiast in den Werken des antisemitischen Vordenkers Houston Stewart Chamberlain, dessen Grundlagen des 19. Jahrhunderts bis in die Titelgestaltung hinein Vorbild für Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts ist. Chamberlain, der mit Eva Wagner verheiratet war, stellt ebenso wie Rosenberg die Germanen als „Kulturschöpfer“ den Juden als „Kulturzerstörern“423 gegenüber. Auch Richard Wagner zählt zu Rosenbergs Idolen, ebenso Paul de Lagarde, der davon ausgeht, dass ein neuer Nationalstaat auch einen eigenen neuen ‚Mythos‘ brauche, eine neue ‚Religion‘.424 Außerdem setzt sich Rosenberg ausführlich mit dem modernen Mythosdiskurs auseinander: neben Schopenhauer, Nietzsche und Bachofen finden auch Lebensphilosophen wie Ludwig Klages kritische Erwähnung in seinem Werk. Welche Rolle dem ‚Mythos‘ innerhalb von Rosenbergs weltanschaulichem Konglomerat zukommt, soll im Folgende gezeigt werden, bevor in einem zweiten Schritt ein Ausblick auf die politischen Implikationen seines Mythosbegriffs erfolgt. 2.2.3.2 Rosenbergs Mythosbegriff Der Begriff ‚Mythos‘ wird an keiner Stelle des Mythus des 20. Jahrhunderts exakt definiert. So bleibt es dem Leser überlassen, zu rekonstruieren, was Rosenberg eigentlich meint, wenn er von ‚Mythus‘ spricht. Fast am Ende seiner Abhandlung wird zumindest deutlich, dass Rosenberg unter Mythos kein historisch überwundenes Denken oder Geschichten aus der Vorzeit versteht. Für ihn sind Mythen „zeitlos“425 und essentiell relevant für die Gestaltung der Zukunft des ‚kommenden Reiches‘ (so der Titel des 3. Buches): Mythus ist für Hunderttausende von Seelen nicht etwas, was man mit gelehrter Überheblichkeit als Kuriosität in Katalogen vermerkt, sondern das Neuerwachen des zellenbildenden seelischen Zentrums. […] Der neue Mythus und die neue typenschaffende Kraft, die heute bei uns nach Ausdruck ringen, können überhaupt nicht widerlegt werden. Sie werden sich Bahn brechen und Tatsachen schaffen.426

Hieraus lassen sich bereits drei Hauptelemente des Rosenbergschen Mythosbegriffs ersehen: zum einen steht er mit dem Begriff der ‚Rasseseele‘ in engster || 423 Vgl. Piper, Ernst: Alfred Rosenberg. S. 188f. 424 Vgl. ebd. S. 190. 425 Rosenberg, Alfred: Mythus. S. 645. 426 Ebd. S. 657.

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Verbindung, deren ‚Neuerwachen‘ der Mythos auslösen soll. Zum anderen deutet Rosenberg hier an, wie er zum Wahrheitsgehalt von Mythen steht, wenn er sie als nicht widerlegbar bezeichnet. Nicht zuletzt spricht Rosenberg Mythen auch eine hochgradige politische Wirksamkeit zu: sie werden ‚Tatsachen schaffen‘. Diese drei Elemente des Mythosbegriffs sollen im Folgenden genauer analysiert werden. Das Zentrum von Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts bildet eine „metaphysische Rassekonzeption“427: in seinem Werk will er einen „neuen LebensMythus“428 für das deutsche Volk begründen; genauer genommen für die ‚arische Rasse‘. Dabei versucht Rosenberg nicht – wie etwa Hans Günther –, einen biologischen Begriff von ‚Rasse‘ einzuführen, sondern er verankert seine Theorie im Begriff der ‚Rasseseele‘: „Seele aber bedeutet Rasse von innen gesehen. Und umgekehrt ist die Rasse die Außenseite der Seele.“429 Die Rassenzugehörigkeit gründet für Rosenberg also nicht allein auf biologischen Merkmalen – auch wenn der ‚Arier‘ natürlich „helle Haut, blonde Haare und blaue Augen“430 hat –, sondern auf inneren Wesensmerkmalen. Entscheidend für Rosenbergs Theorie ist die Vorstellung, dass jede ‚Rasse‘ eine seelische Gemeinsamkeit habe und sich um einen ‚höchsten Wert‘ gruppiere, der die unterschiedlichen ‚Rassen‘ voneinander unterscheidbar mache: Jede Rasse hat ihre Seele, jede Seele ihre Rasse, ihre eigene innere und äußere Architektonik, ihre charakterliche Erscheinungsform […]. Jede Rasse züchtet letzten Endes nur ein höchstes Ideal.431

Gemeint ist hier natürlich kein individuelles Konzept von ‚Seele‘, sondern eine Art kollektive ‚Volksseele‘, die sich aus den „Atome[n]“432 der Einzelseelen zusammensetzt. Man könnte also von der ‚Rasseseele‘ als einer Art „SuperSubjekt“433 sprechen. Jede ‚Rasseseele‘ gruppiert sich, Rosenberg zufolge, um ein normatives Zentrum, das auch deren Mythen prägt. Für die ‚nordische Rasse‘ bestimmt Rosenberg als höchsten Wert die „Idee der geistig-seelischen Ehre“434, für das jüdische Volk hingegen das „Schmarotzertum“, das sich aus dem

|| 427 Kroll, Frank-Lothar: Utopie als Ideologie. S. 105. 428 Rosenberg, Alfred: Mythus. S. 22. 429 Ebd. 430 Ebd. S. 32. 431 Ebd. S. 114. 432 Ebd. S. 425. 433 Bärsch, Claus-Ekkehard: Die politische Religion des Nationalsozialismus. S. 257. 434 Rosenberg, Alfred: Mythus. S. 140.

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„Mythus der Auserwähltheit“435 herleite. Dass sich im ersten Fall die Mythen eines Volkes aus dessen normativem Zentrum ergeben sollen, im zweiten Fall dagegen umgekehrt der höchste Wert aus dem Mythos, ist beispielhaft für die zahlreichen Ungereimtheiten in Rosenbergs Werk. Seine Konzeption eines wertgebundenen Rassebegriffs stellt er der Moderne als „wertelos gewordene[r] Epoche“436 gegenüber, die als Resultat der „Verchristlichung der Welt“ und der „Humanisierung der Menschheit“437 zu betrachten sei. Daher ist Rosenbergs Entwurf der ‚Rasseseele‘ als Plädoyer dafür zu verstehen, dass das „nordische Europa“ zu seinem normativen Zentrum, der Idee der Ehre, zurückkehren solle: der ‚nordische Mensch‘ solle sich von den eben erwähnten „leeren Nebelgebilden“ abwenden und den „verschütteten Sprudel seines ureigenen Lebenssaftes und seiner Werte“438 wieder freilegen. Um dies zu ermöglichen, fragt Rosenberg nach dem Ursprung dieser ‚nordischen Rasse‘ und ihrer Mythen. Dafür greift er nicht etwa auf historische Quellen zurück, sondern bezeichnenderweise wiederum auf einen Mythos. Seine pseudo-historischen Ausführungen über den ‚nordischen Menschen‘ setzen an beim „uralten Mythus über die Atlantis“, wo eine „schöpferische Rasse eine große, weitausgreifende Kultur“439 hervorgebracht habe. Atlantis verlegt Rosenberg kurzerhand in den hohen Norden und erklärt, dass von dort aus einst „Kriegerschwärme strahlenförmig ausgewandert“ seien, um zu „erobern“ und Kultur zu „gestalten“440: die Arier. So hätten die Arier im Laufe der Geschichte nach und nach alle Teile der Welt erobert und den „Sinn der Weltgeschichte“441 zu allen Völkern gebracht. Mit dieser Konstruktion bietet Rosenberg zugleich eine Erklärung an für die Ähnlichkeiten von Mythen rund um den Globus – die Arier hatten auf ihren Eroberungszügen eben auch ihre Mythen im Gepäck: Schon lange haben wir es aufgeben müssen, an eine gleichartige Entstehung von Mythen, Kunst- und Religionsformen bei allen Völkern zu glauben. Der streng begründete Nachweis vieler Sagenwanderungen von Volk zu Volk und ihre Festsetzung bei verschiedenen Völkergruppen hat, im Gegenteil, gezeigt, daß die meisten Grund-Mythen einen ganz bestimmten Ausstrahlungspunkt, ihren Ort der Schöpfung haben […]. So ist der solare (Sonnen) Mythus nebst seiner Begleiterscheinungen nicht als ‚allgemeine Entwicklungsstufe‘ überall selbstständig entstanden, sondern dort geboren worden, wo das Erscheinen der

|| 435 Ebd. S. 437. 436 Ebd. S. 21. 437 Ebd. S. 27. 438 Ebd. S. 29. 439 Ebd. S. 30. 440 Ebd. S. 31. 441 Ebd. S. 34.

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Sonne ein kosmisches Erlebnis von größter Eindringlichkeit gewesen sein muß: im hohen Norden.442

Diesem Muster entsprechend bietet Rosenberg im Folgenden einen Durchgang durch die wichtigsten historischen Hochkulturen (und ihrer Mythen) und erklärt sie samt und sonders zu Errungenschaften der Arier. In Indien hätten sie das Kastenwesen eingeführt, um das ‚arische Blut‘ reinzuhalten443, in Persien sei der Lichtgott Mazda als Abkömmling der nordischen Sonnenverehrung zum „Schützer des Ariertums“444 erklärt worden und die griechischen Gottheiten Apollon, Zeus und Pallas Athene seien als Lichtgestalten ebenfalls arischen Ursprungs445. Selbstverständlich sei auch das alte Rom arisch geprägt gewesen: dementsprechend ist die Zerstörung Karthagos als „rassegeschichtlich ungeheuer wichtige Tat“446 zu werten, da auch sie der ‚Reinhaltung der arischen Rasse‘ geschuldet sei. Am Untergang all dieser Hochkulturen sei dementsprechend der Verlust dieser Reinheit durch die „rassische Mischehe“447 schuld – denn mit der ‚Reinheit der Rasse‘ geht für Rosenberg auch die normative Orientierung einer Volksgemeinschaft einher. Die Germanen als letzte Hochkultur seien mit ihrem „Ehrbegriff“ und ihren „schöpferische[n] Werten“ schließlich prägend für „die gesamte Kultur des Abendlandes“448 gewesen, die nun vom Verfall bedroht sei. Die Moderne sei bestimmt von Christianisierung, Humanismus, Demokratisierung und Kapitalismus – für Rosenberg allesamt „geistige Entartung[en]“449. Dies habe dazu geführt, dass die Menschen aller ‚Rassen‘ in diesen Systemen gleichgestellt seien, was Rosenberg innerhalb seiner geschichtsphilosophischen Logik als Zeichen des Verfalls bewertet. Aus diesem Grund fordert er eine Rückbesinnung auf den ‚arischen Mythos‘, der mit der Idee der ‚Rassereinhaltung‘ untrennbar verknüpft sei: Heute erwacht aber ein neuer Glaube: der Mythus des Blutes, der Glaube, mit dem Blute auch das göttliche Wesen des Menschen überhaupt zu verteidigen. Der mit hellstem Wissen verkörperte Glaube, daß das nordische Blut jenes Mysterium darstellt, welches die alten Sakramente ersetzt und überwunden hat. […] Und das germanische Europa beschenk-

|| 442 Ebd. S. 30. 443 Vgl. ebd. S. 34. 444 Ebd. S. 38. 445 Vgl. ebd. S. 41. 446 Ebd. S. 60. 447 Ebd. S. 61. 448 Ebd. S. 80. 449 Ebd. S. 28.

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te die Welt mit dem leuchtendsten Ideal des Menschentums: mit der Lehre von dem Charakterwert als Grundlage aller Gesittung […], die Idee der Gewissensfreiheit und der Ehre.450

Der germanische ‚Mythus des Blutes‘ umfasst also zweierlei: einerseits sei es der ‚arischen Rasse‘ eigen, die Ehre als höchsten Charakterwert anzusehen, und andererseits kann dieser nur bewahrt werden, wenn die ‚Rasse reingehalten‘ werde. Schon hier wird klar, wie hochgradig normativ aufgeladen und politisch instrumentalisierbar Rosenbergs Mythosbegriff ist. Im zweiten Schritt ist nun zu fragen, was Rosenberg in diesem Zusammenhang zum Wahrheitsgehalt des Mythos zu sagen hat. Im Eingangszitat hatte er ja den oben beschriebenen ‚Mythus des Blutes‘ als unwiderlegbar dargestellt. Grundsätzlich hegt Rosenberg Zweifel an erkenntnistheoretischem Optimismus: er glaubt nicht daran, dass der Mensch „die sogenannte ‚absolute Wahrheit‘“451 erfassen könne. Aus diesem Grund stellt er die „logische, anschauliche, willenhafte Wahrheit“452 einem alternativen Wahrheitskonzept gegenüber, das er „organische Wahrheit“453 nennt. Das einzige Kriterium dieser Form der Wahrheit sei „an der Zweckmäßigkeit der Lebensgestalt abzulesen“454, so Rosenberg in Anlehnung an Houston Stewart Chamberlain. Damit ist jedoch auch schon eine ganz andere Auffassung von der ‚Wahrheit‘ angedeutet: daß für uns Wahrheit kein logisches Richtig oder Falsch bedeutet, sondern daß eine organische Antwort gefordert wird auf die Frage: fruchtbar oder unfruchtbar, eigengesetzlich oder unfrei?

Wahr ist demnach das, was ‚lebensdienlich‘ ist. Innerhalb dieses Bewertungsschemas kommt dem Mythos für Rosenberg sowohl „Wahrheitsgehalt“ als auch „ewiger Deutungswert“455 zu. Der Mythos ist lebensdienlich, insofern er Ausdruck der ‚Rasseseele‘ ist und deren obersten Wert transportiert. Da sich dieser im Laufe der Zeit nicht ändert, sind Mythen oder mythisches Denken für Rosenberg nicht als historisch überwundene Phänomene anzusehen. Im Unterschied zu den Vertretern der These, dass Mythen prärationale Welterklärungen seien, geht er nicht davon aus, dass der menschliche Verstand eine Fortentwicklung von mythischem zu rationalem Denken vollzogen habe. Er zeigt sich überzeugt,

|| 450 Ebd. S. 111f. 451 Ebd. S. 639. 452 Ebd. S. 640. 453 Ebd. S. 641. 454 Ebd. 455 Ebd. S. 645.

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dass die „erste große mythische Höchstleistung“ der Arier nicht mehr weiterentwickelt werde – sie nehme nur „andere Formen an“456: [Mythen] können jederzeit in eine andere Form unserer Weltdeutung umgegossen werden: in die begriffliche. Diese bedeutet keine Entwicklung im Sinne eines Fortschritts, sondern nur eine stets nach den Formen der Zeitepoche tastenden Auswirkung des bereits gegebenen mythischen Gehalts in die Darstellungsweise der betreffenden Zeit.457

Dies verdeutlicht Rosenberg am Beispiel der germanischen Göttersagen: auch wenn der Gott Odin als Verkörperung von „Natursymbolik“458 in der Moderne nicht mehr relevant sei, so habe er als Symbol für den germanischen Ehrbegriff seine Bedeutung behalten. Als „das ewige Spiegelbild der seelischen Urkräfte des nordischen Menschen“ sei er heute so aktuell „wie vor 5000 Jahren“459. Als ein weiteres Beispiel für die Unvergänglichkeit mythischer Symbole führt Rosenberg das Hakenkreuz an, das schon von den ursprünglichen AtlantisBewohnern als Sonnensymbol verehrt worden sei. In der Moderne gewinne es erneut an Relevanz als Zeichen „des fruchtbaren, aufsteigenden Lebens“460. Wie die Auswahl der Beispiele zeigt, erfüllen Mythen in Rosenbergs System eine stets produktive Funktion: sie bieten normative Orientierung und transportieren eine ‚lebensdienliche Form von Wahrheit‘, deren Gehalt sich als historisch konstant erweist. Die Betonung der Lebensdienlichkeit als Kriterium einer ‚organischen Wahrheit‘ macht Rosenbergs Nähe zur Lebensphilosophie durchaus spürbar – man denke beispielsweise auch an die Bedeutung des Hakenkreuzes bei Schuler.461 Obwohl Rosenberg beflissen ist, sich von dieser philosophischen Richtung – insbesondere von Ludwig Klages – abzugrenzen, nimmt er zahlreiche Topoi aus dieser Strömung auf. Auch Nietzsche wird positiv rezipiert, besonders die Lehre vom ‚Übermenschen‘, die Rosenberg hauptsächlich in der Vermittlung durch Baeumler wahrnimmt. Die Idee vom ‚Übermenschen‘ enthalte den Gedanken der „rassische[n] Hochzucht“462 und sei daher gutzuheißen. Von Klages ‚Geistfeindschaft‘ distanziert sich Rosenberg dagegen vehement463 und auch die romantische Sichtweise auf den Mythos lehnt er ab: besonders || 456 Ebd. S. 636. 457 Ebd. S. 645. 458 Ebd. S. 636. 459 Ebd. 460 Ebd. S. 160. 461 Auch bei Schuler fungiert die Swastika als Symbol des „offenen Leben[s]“. Vgl. hierzu ausführlich: Dörr, Georg: Muttermythos und Herrschaftsmythos. S. 195. 462 Rosenberg, Alfred: Mythus. S. 500. 463 Vgl. ebd. S. 135.

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Bachofens Entwurf des Mutterrechts wird ausführlich kritisiert, da sein Ansatz ausschließlich das „Triebhafte, Gestaltlose, Dämonische“464 an Mythen betone und ihre produktive Funktion außer Acht lasse. Auch Schopenhauers Auseinandersetzung mit hinduistischen und buddhistischen Mythen wird als nutzlos verworfen465, auch wenn dessen Willensphilosophie an späterer Stelle einer ausführlichen Analyse unterzogen wird.466 Aus Rosenbergs Bewertungen der verschiedenen modernen Ansätze zur Mythosphilosophie wird noch einmal deutlich, dass er kein Anhänger der ‚Prärationalitäts-These‘ ist. Für ihn sind Mythen Träger überzeitlicher Werte, die ebenso ‚Wahrheit‘ transportieren wie begriffliches Denken: nur in einer anderen, ‚irrationalen‘ Form. Mythen und mythische Symbole sind mit normativem Gehalt aufgeladen und vermitteln den jeweiligen ‚Höchstwert‘ einer ‚Rasse‘. Da diese Werte unveränderlich sind, bleibt auch der Wahrheitsgehalt der Mythen stets aktuell. Im zweiten Kapitel des ersten Buches setzt Rosenberg sich mit zwei ‚Höchstwerten‘ genauer auseinander, die aus seiner Sicht um die Vorherrschaft in der Moderne ringen. Er stellt die „Liebe“ als Zentrum der christlichen Weltanschauung der „Ehre“ als Höchstwert des ‚nordischen Menschen‘ gegenüber.467 Es scheint ihn wiederum nicht zu kümmern, dass hier eine Religionsgemeinschaft mit einer ‚Rasse‘ in Rosenbergs Sinne verglichen wird – zumindest geht er mit keinem Wort auf die Asymmetrie dieses Vergleichs ein. Er fährt stattdessen fort, die Ehre als zentralen Inhalt des „Charakter[s] unserer Rasse“468 zu beschreiben und diesen mit den Idealen des Christentums zu vergleichen. Für Christen seien „Liebe und Mitleid“469 die obersten Werte, denen alles andere unterzuordnen sei. Diese christliche Werthierarchie habe in der abendländischen Geschichte zu „heuchlerische[r] Wertzersetzung“470 geführt, da sie die Gleichbehandlung aller Menschen impliziere. In der „gewaltsamen Einheitsverschmelzung“ des christlichen Weltbildes sei kein Platz für „Gedanken des Rassen- und Volkstums“ 471. Demgegenüber sei in den germanischen Sagen wie Edda und Beowulf die Idee der Ehre das zentrale Motiv und dieses wirke bis in die Moderne hinein: sei es der „nordische Wiking“, der „germanische Ritter“, der „preußische Offizier“ oder der „deutsche Soldat“ – in all jenen Charakteren || 464 Ebd. S. 43. 465 Vgl. ebd. S. 143. 466 Vgl. ebd. S. 305ff. 467 Vgl. ebd. 141f. 468 Ebd. S. 143. 469 Ebd. 470 Ebd. S. 149. 471 Ebd. S. 151.

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habe sich der „lebenserhaltende Ehrbegriff“ 472 als Zentrum ihres Wesens manifestiert und erhalten. Als Aufgabe des 20. Jahrhunderts sieht es Rosenberg nun an, diesen Ehrbegriff wieder ins Zentrum zu rücken und als alleinigen Höchstwert zu installieren – und dazu dient der Mythos. Gleich zu Beginn seiner Schrift legt Rosenberg fest, dass es die „Aufgabe unseres Jahrhunderts“ sei, „aus einem neuen Lebens-Mythus einen neuen Menschentypus [zu] schaffen“473. Dieser moderne Mythos, der ‚Mythus des Blutes‘, sei grundsätzlich derselbe, den schon die atlantischen Arier gepredigt hätten: der Mythos von der ‚Ehre des nordischen Menschen‘, getragen durch die ‚Reinhaltung der arischen Rasse‘. Die politischen Implikationen dieses Mythosbegriffs sollen im Folgenden knapp erörtert werden. 2.2.3.3 Die politischen Implikationen von Rosenbergs Mythosbegriff Im Mythus des 20. Jahrhunderts entwirft Rosenberg nicht nur seine ‚metaphysische Rassekonzeption‘ und begründet den Begriff des ‚arischen Mythus‘, sondern er leitet auch konkrete politische Ziele aus diesen Überlegungen ab. Daher sollen im Folgenden einige Aspekte seiner Staatstheorie exemplarisch analysiert werden. Gleich zu Beginn seines Werkes formuliert Rosenberg eine Art Kampfansage: wie in zahlreichen seiner Schriften, inszeniert er hier den Ersten Weltkrieg als „Beginn einer Weltrevolution“474, als epochemachenden Wendepunkt der deutschen Geschichte. Der Krieg und die nachfolgende demokratische Ordnung der Weimarer Republik markieren für Rosenberg das Ende einer „wertelos gewordenen Epoche“475, die ein Umdenken ausgelöst habe. An die Stelle der christlichen Weltanschauung und des demokratischen Pluralismus soll in Rosenbergs Entwurf eine Art normative Monokultur in Deutschland errichtet werden. Der neue Staat, den Rosenberg sich ausmalt, beruht auf der […] Auseinandersetzung zwischen Blut und Blut, Rasse und Rasse, Volk und Volk. Und das bedeutet: Ringen von Seelenwert gegen Seelenwert.476

Ziel dieser Auseinandersetzung soll die Errichtung eines „völkische[n] Staat[es]“477 nach römischem Vorbild sein, in dem die „Hochzucht des uralten

|| 472 Ebd. S. 205. 473 Ebd. S. 22. 474 Ebd. S. 21. Vgl. auch Rosenberg, Alfred: Gestalt und Leben. S. 5. 475 Rosenberg, Alfred: Mythus. S. 21. 476 Ebd. S. 22.

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Blutes“478 der Arier durch strikte ‚Rassenreinhaltung‘ ermöglicht werden soll. Ergebnis dieser Maßnahmen ist eine „weltanschaulich gebundene Gesinnungsgemeinschaft“479, in der das gesamte Volk sich am gemeinsamen Höchstwert der Ehre ausrichten kann. Der wirkliche Kampf von heute geht also nicht so sehr um äußere Machtverschiebungen bei innerem Kompromiß wie bisher, sondern umgekehrt, um den Neuaufbau der seelischen Zellen der nordisch bestimmten Völker, um die Wiedereinsetzung jener Ideen und Werte in ihre Herrenrechte, denen alles entstammt, was für uns Kultur bedeutet, und um die Erhaltung der rassischen Substanz selbst.480

Hieraus wird nochmals deutlich, dass Rosenberg ein primär weltanschaulicher und ideologischer Denker ist. Die politischen Konsequenzen seines Entwurfs werden zwar angedeutet, aber sie ergeben sich erst aus den Prämissen seines Gedankengebäudes. So geht es ihm nicht in erster Linie darum, eine Verschiebung des ‚äußeren Machtgefüges‘ zu rechtfertigen, sondern diese ergibt sich als notwendige Konsequenz aus seinen ideologischen Voraussetzungen. Ein Beispiel für dieses Vorgehen Rosenbergs ist die Vorwegnahme der nationalsozialistischen ‚Blut und Boden‘-Ideologie im Mythus des 20. Jahrhunderts: bereits hier werden die Ansprüche der ‚arischen Rasse‘ auf mehr ‚Lebensraum‘ mit der Ehre als Höchstwert begründet. Da das Ideal der Ehre mit der „Idee der Freiheit unzertrennlich“481 sei, sieht Rosenberg es als notwendig an, „genügend Lebensraum“482 für die ‚arische Rasse‘ zu schaffen, so dass diese sich frei entfalten könne. Zur Umsetzung dieses Ziels wird in Kauf genommen, dass andere Völker aus dem benötigten ‚Lebensraum‘ verdrängt werden: Deshalb ist der Ruf nach eigenem Raum, nach eigenem Brot auch die Voraussetzung für die Durchsetzung seelischer Werte, der Formung des deutschen Charakters. [Die] wertelosen und anmaßenden Polen, Tschechen usw. […] müssen nach Osten abgedrängt werden.483

Dies ist ein deutlicher Beleg dafür, wie eng verbunden Rosenbergs Überlegungen zu Mythos und ‚Höchstwert‘ mit den politischen Ambitionen des Nationalsozialismus sind. Dabei ist die ‚Blut und Boden‘-Ideologie bei weitem nicht das || 477 Ebd. S. 60. 478 Ebd. S. 81. 479 Ebd. S. 38. 480 Ebd. S. 116. 481 Ebd. S. 502. 482 Ebd. S. 503. 483 Ebd. S. 635.

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einzige Beispiel, das nach diesem Schema funktioniert. Auch bei der Begründung des Führerprinzips oder der Konzeption des nationalsozialistischen Staates als ‚Männerbund‘ greift Rosenberg auf Versatzstücke seiner Mythentheorie zurück. Da es bereits in den alten germanischen Mythen die Aufgabe des ‚nordischen Mannes‘ gewesen sei, sein Leben im Zweifel der Idee der Ehre zu opfern, wird der neu zu gründende Staat als ein „auf Ehre und Pflicht aufgebaut[er] Männerbund“484 charakterisiert.485 Dieser Männerbund wird von einem ‚Führer‘ gegründet und geleitet: Aufgabe dieses neuen Staatsgründers ist, einen Männerbund, sagen wir einen Deutschen Orden, zu gestalten, der sich aus Persönlichkeiten zusammensetzt, die führend an der Erneuerung des deutschen Volkes teilgenommen haben.486

Auch die hier erwähnte ‚Erneuerung des deutschen Volkes‘ impliziert einen mythischen Kontext. Es geht Rosenberg keineswegs darum, einen gesellschaftlichen Rahmen für die Entwicklung selbstbestimmter Individuen zu schaffen, sondern der neue Staat hat zum Ziel, dass ein „neuer deutscher Menschentyp, geradwinklig an Leib und Seele“487 entsteht. Dieser Menschentypus verkörpert die ‚Reinheit der Rasse‘ und den Höchstwert der Ehre – die beiden Bestandteile des ‚Mythus des Blutes‘. Staatliche Gewalt, die Einsetzung eines ‚Führers‘ und militärische Aggression gegen andere Völker lassen sich so problemlos mit Rosenbergs Verknüpfung von Rasseidee und mythisch begründetem normativen Anspruch begründen. Eine vielleicht noch wichtigere Rolle spielt die Religion in Rosenbergs Staatskonzeption. Auch hier dient wiederum der Begriff der Ehre als Leitfaden für die Ausrichtung des Staates gegenüber der Religion. Wie bereits erwähnt, kontrastiert Rosenberg schon im ersten Buch ‚Das Ringen der Werte‘ den Höchstwert des Christentums – die Liebe – mit dem der nordischen Sagen, die um die Ehre kreisen.488 Da es für Rosenberg nur einen Höchstwert geben kann, der die Homogenität einer kulturellen Gemeinschaft gewährleistet, bringt er sich im Mythus gegen das Christentum in Stellung. Er bemerkt, dass sich sein || 484 Ebd. S. 465. 485 Im Kapitel ‚Der Staat und die Geschlechter‘ geht Rosenberg in diesem Zusammenhang auch auf die Rolle der Frau im neu zu gründenden Staat ein. Während der Mann für „Erfindung und Gestaltung“ des Staates verantwortlich sei, falle der Frau die Aufgabe zu, für die „Blutserhaltung und Rassevermehrung“ zu sorgen. (Ebd. S. 456) Jeglicher staatliche Einfluss von Frauen sei demnach als Zeichen des „offenkundigen Verfalls“ zu deuten. (Ebd. S. 467). 486 Ebd. S. 515. 487 Ebd. S. 501. 488 Vgl. ebd. S. 141f.

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Werk an alle jene richte, die „bereits mit dem Kirchenglauben gebrochen, aber noch zu keinem anderen Mythus hingefunden haben“489. Obwohl Rosenberg einschiebt, dass man gläubige Christen nicht dazu zwingen sollte, sich von ihren Kirchen zu lösen490, so bezeichnet er es doch als Ziel des ‚kommenden Reiches‘, eine „deutsche Volkskirche“491 zu schaffen. Diese Volkskirche werde unter anderem erklären müssen, dass „das Ideal der Nächstenliebe der Idee der Nationalehre unbedingt zu unterstellen ist“492. Diese und ähnliche Stellen des Mythus rufen bald nach seiner Veröffentlichung den starken Protest von Kirchenvertretern in Deutschland und sogar im Vatikan hervor.493 Rosenbergs Vorstellung zufolge soll auf die Christianisierung der Germanen, in deren Zuge der nordische Ehrbegriff durch das Ideal der christlichen Nächstenliebe verdrängt worden sei, die Rückkehr zum ‚arischen Mythos‘ bzw. zum „Mythus des Blutes“494 erfolgen. Die Rede vom ‚Dritten Reich‘ in der nationalsozialistischen Propaganda impliziert darüber hinaus das heilsgeschichtliche Versprechen, dass die Politik als eine Art „Religionsersatz“495 anzubieten hat. Das ganze Volk wird so zum „Subjekt einer säkularen Heilsgeschichte“496 erklärt und auf die Gefolgschaft unter dem – ebenfalls quasi religiös verehrten – ‚Führer‘ eingeschworen, der das religiöse Heilsversprechen auf politischer Ebene einlösen soll. Darüber hinaus ist in Rosenbergs Konzeption des neuen Staates aber auch der systematische Ersatz religiöser Feste durch staatlich gesetzte Feiertage und Rituale angelegt, der nach 1933 politische Realität wird. Bereits im Mythus erklärt Rosenberg, dass ein Übergang zur ‚Deutschen Volkskirche‘ natürlich auch mit einer „entsprechende[n] Änderung des äußeren Gebrauchtums“497 einhergehen müsse. Die Inszenierung der Reichsparteitage als zentralem quasi-religiösem Festakt des Nationalsozialismus ist eine konsequente Umsetzung dieses Gedankens: von der Inszenierung des ‚Führers‘ als Heilsbringer über die ‚Pilgerreisen‘ der Hitler-

|| 489 Vgl. ebd. S. 564. 490 Vgl. ebd. S. 562. 491 Ebd. 492 Ebd. S. 570. 493 Vgl. hierzu Piper, Ernst: Alfred Rosenberg. S. 180f.; S. 212ff. und Kroll, Frank-Lothar: Utopie als Ideologie. S. 142f. 494 Rosenberg, Alfred: Mythus. S. 205. 495 Piper, Ernst: Alfred Rosenberg. S. 226. 496 Ley, Michael: Mythos und Moderne. S. 85. 497 Rosenberg, Alfred: Mythus. S. 577.

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Jugend nach Nürnberg bis hin zum Ritual der „Blutfahnenweihe“498 ist die gesamte Veranstaltung von religiöser Symbolik durchdrungen. Darüber hinaus werden religiöse Feiertage von staatlichen Feiertagen verdrängt, man denke beispielsweise an den ‚Tag der Arbeit‘ oder die Totengedenkfeiern am 9. November. Diese Beispiele aus der politischen Praxis des Nationalsozialismus machen deutlich, wie stark Rosenbergs Interpretation von Mythos und ‚deutscher Religion und Kunst‘ die gesellschaftliche Realität nach 1933 mit beeinflusst hat. Ebenso wie die Erziehung bereits die Jugend auf nationalsozialistisches Gedankengut einschwören und die Kunst als gesellschaftliches Bindeglied fungieren soll, dient auch die religiöse Aufladung politischer Personen und Prozesse der Vision eines totalitären Staates, der eine ‚rassisch‘ und kulturell homogene ‚Volksgemeinschaft‘ beheimaten soll. Auch wenn der Begriff der „politischen Religion“ inzwischen in der Forschung umstritten ist499, so wird doch klar, wie weit die politische Instrumentalisierung von Mythos, Religion und Kunst in Rosenbergs Theorie und in der politischen Praxis nach 1933 reicht: der „treue Nationalsozialist“, so Rosenberg, solle sich „in seiner Partei aufgehoben fühlen wie in einer Kirche“500. 2.2.3.4 Fazit Dieser Einblick in die politische Wirksamkeit der Rosenbergschen MythosKonzeption macht deutlich, wie hochgradig politisch instrumentalisierbar die Rede vom ‚Mythos‘ gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist. In einer Epoche, die von Krieg, rasant fortschreitender Industrialisierung und gesellschaftlichen Umwälzungen geprägt ist, kann selbst eine so absurde Konstruktion wie der ‚Arier-Mythos‘ zum neuen Sinnstifter werden. In Anlehnung an die Lebensphilosophie interpretiert Rosenberg den Mythos als eine Quelle der Wahrheit, die im Gegensatz zur rationalistischen Welt-

|| 498 Die ‚Blutfahnenweihe‘ war einer der Höhepunkte der Reichsparteitage am Sonntag. Vor dem Kriegerdenkmal des Nürnberger Luitpolthains fungierte Hitler hier als eine Art Priester. Gemeinsam mit Vertretern der SS und der SA schritt Hitler über die ‚Straße des Führers‘ auf das Denkmal zu und weihte mit der sogenannten ‚Blutfahne‘ die neue SS-Fahnen. Zur Inszenierung der Reichsparteitage vgl. Behrenbeck, Sabine: Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 1923 bis 1945. Greifswald 1996. Zum ‚politischen Mythos‘ und der Rolle des Staatsführers als ‚homo magus‘ vgl. Cassirer, Ernst: The myth oft he state. New Haven 1946. 499 Vgl. Piper, Ernst: Alfred Rosenberg. S. 212ff. 500 Ebd. S. 226.

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deutung eine ‚organische‘ Qualität habe: der Mythos diene dem Leben, indem er den ‚seelischen Höchstwert einer Rasse‘ transportiert und ins Typische steigert. Auf dieser Basis inszeniert Rosenberg ein Zusammengehörigkeitsgefühl der ‚Volksgemeinschaft‘, das auf seiner metaphysischen Rassekonzeption beruht und dem demokratischen Pluralismus eine normative Monokultur entgegenstellt. Neue Orientierung bietet der ‚Mythus des Blutes‘, der den ‚Höchstwert der Ehre‘ in Kombination mit der ‚Reinhaltung der Rasse‘ beinhaltet. So entwirft er nicht nur den nationalsozialistischen Mythos von der Superiorität des ‚nordischen Menschen‘, sondern sein Werk zeigt auch Jahre vor der sogenannten ‚Machtergreifung‘ bereits auf, welche politischen Folgen dieser Mythos haben würde. Der ‚Mythus des Blutes‘ stiftet Identität nach innen und bietet Abgrenzung nach außen: alle ‚Arier‘ sollen in einem völkischen Staat zusammenleben, in dem Erziehung, Kunst und Religion sowie die gesamte staatliche Einrichtung darauf ausgelegt sein soll, die ‚Reinhaltung des Blutes‘ zu gewährleisen und somit die Idee der Ehre als gesellschaftliches Zentrum zu installieren. Nach außen hin rechtfertigt der Mythos jegliche Form von staatlicher Gewalt: sei es die Verdrängung ganzer Völkergruppen zur Schaffung von ‚Lebensraum‘ oder die systematische Ermordung von Juden zur ‚Rassenreinhaltung‘. Für den Denker Rosenberg ist es kein weiter Schritt von der Abfassung solcher Gedanken bis zu den tatsächlich vollzogenen Gräueltaten im Namen des Nationalsozialismus, die er nicht nur durch geistige Brandstiftung als ‚Hitlers Chefideologe‘, sondern auch als ‚Reichsminister für die besetzten Ostgebiete‘ mit zu verantworten hatte.

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2.3 Mythen als transrationales Medium der Erkenntnis Nach dem Überblick über die Vertreter der Prärationalitäts- und der Irrationalitäts-These sollen abschließend noch zwei Denker vorgestellt werden, die im Mythos ein transrationales Erkenntnismedium sehen. Jung und Kerényi gehen beide davon aus, dass in mythischem Erzählen Erfahrungen ausgedrückt werden, die das rational operierende Bewusstsein sowohl einschließen als auch überschreiten.

2.3.1 Carl Gustav Jung (1875–1961) 2.3.1.1 Freud, Jung und der Mythos Carl Gustav Jung interessiert sich, ebenso wie Freud, für den Mythos aus einer psychologischen Perspektive. Seine Forschungen schlagen jedoch bald eine gänzlich andere Richtung ein. Wie bereits erwähnt, hat die Auseinandersetzung über die Rolle des Mythos für die Psychoanalyse einen nicht unerheblichen Anteil am Bruch zwischen Freud und seinem ‚Kronprinzen‘ Jung. Der Beginn der Freundschaft zwischen Freud und Jung lässt sich auf das Jahr 1906 zurückdatieren.501 Bereits 1900 liest Jung, der gerade bei Eugen Bleuler in der Burghölzli-Klinik in Zürich als Assistenzarzt angefangen hatte, Freuds Traumdeutung. Bei der erneuten Lektüre 1903 bemerkt Jung „den Zusammenhang“ der Freudschen Theorien „mit [s]einen eigenen Ideen“502. Besonders Freuds Verdrängungsthese scheint mit den Ergebnissen von Jungs Wort-Assoziationstests übereinzustimmen, was Jung dazu veranlasst, seine Schrift über Diagnostische Assoziationsstudien (1906) an Freud zu schicken, womit der sieben Jahre andauernde Briefwechsel zwischen beiden einsetzt.503 Im Vorwort zu seiner Monographie Über die Psychologie der Dementia praecox (1906)504 verteidigt Jung Freud explizit gegen seine akademischen Kritiker, woraufhin Freud Jung im darauffolgenden Jahr zu sich nach Wien einlädt. Im Februar 1907 treffen sie sich

|| 501 Zur Beziehung zwischen Freud und Jung vgl.: Bishop, Paul (Hg.): Jung in contexts. A reader. London/New York 1999; McGuire, William: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Freud, Sigmund/Jung, Carl Gustav: Briefwechsel. Frankfurt a. M. 1974; McLynn, Frank: Carl Gustav Jung. A biography. London 1997. 502 Jung, Carl Gustav: Erinnerungen, Träume, Gedanken. Hg. von Anelia Jaffé. Zürich/Stuttgart 1963. S. 151. 503 Vgl. Brief Freuds an C. G. Jung vom 11.04.1906. In: BWFJ. S. 3. 504 Vgl. Jung, Carl Gustav: Über die Psychologie der Dementia praecox. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 3. Psychogenese der Geisteskrankheiten. Freiburg i.Br. 1968. (= GWJ 3). S. 1–170.

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in der Berggasse 19 und sprechen nach Erinnerung Jungs „dreizehn Stunden lang […] sozusagen pausenlos“505 miteinander. Ab 1909 beginnt Jung sich intensiv mit dem Mythos zu beschäftigen, was unter anderem aus dem Briefwechsel mit Freud zu ersehen ist. Hier kündigt Jung an, er wolle demnächst „einen weiten Wurf tun […], die Mythengeschichte hat mich nämlich sehr gefaßt“506 – ein Umstand, der von Freud zunächst wohlwollend quittiert wird.507 Freud hofft, der Jüngere werde „bald [s]eine Erwartung teilen, daß der Kernkomplex der Mythologie derselbe ist wie der der Neurosen“508. Hier deutet Freud bereits seine Annahme aus Totem und Tabu an, welche das implizite Zentrum des Mythos im Ödipuskomplex verortet.509 Jungs intensives Quellenstudium zum Thema Mythos – von Herodot über Creuzers Symbolik und Mythologie der alten Völker bis hin zu Rohdes Psyche – bringt ihn jedoch bald zu gänzlich anderen Thesen. Es sind vor allem drei Hauptstreitpunkte im Zusammenhang mit ihrer Mythenforschung, die zunächst zu Meinungsverschiedenheiten und letztlich auch zum Bruch zwischen Freud und Jung führen: zum einen die unterschiedliche Bewertung des Inzesttabus, zum anderen der Streit über eine Definition des Libidobegriffs und zuletzt ihre unvereinbaren Vorstellungen von der Haltung der Psychoanalyse zum Mythos. Schon zu Beginn seiner Beschäftigung mit dem Mythos im November 1909 zeigt Jung ein gesteigertes Interesse an der Idee des „sterbenden und wiedererwachenden Gottes“510, also an den Orpheus-Mysterien und den mythischen Erzählungen um Tammuz, Adonis, Osiris und Dionysos. Anstatt jedoch wie Freud einen ödipalen Inzestwunsch als Ausgangspunkt dieser Mythenkomplexe anzunehmen, wird Jung in seiner 1911/12 erscheinenden Abhandlung über Wandlungen und Symbole der Libido zu dem Schluss kommen, dass hinter dem Bild des sterbenden, zur Mutter zurückkehrenden Helden der Wunsch nach spiritueller Erneuerung und geistiger Wiedergeburt steht.511 Jung lehnt damit Freuds Argument für die Zurückführung mythischer Geschichten auf den Ödi-

|| 505 Vgl. Jung, Carl Gustav: Erinnerungen. S. 153. 506 Brief Jungs an Sigmund Freud vom 14.10.1909. In: BWFJ. S. 277. 507 Vgl. Brief Freuds an C. G. Jung vom 17.10.1909. In: BWFJ. S. 280. 508 Brief Freuds an C. G. Jung vom 11.11.1909. In: BWFJ. S. 286. 509 Jung selbst erfuhr erst zwei Jahre später, im September 1911, von Freuds Plänen zu Totem und Tabu. Vgl. dazu Brief Freuds an C. G. Jung vom 01.09.1911. In: BWFJ. S. 487. 510 Brief Jungs an Sigmund Freud vom 15.11.1909. In: BWFJ. S. 289f. 511 Vgl. hierzu Jung, Carl Gustav: Wandlungen und Symbole der Libido. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des Denkens. Leipzig/Wien 1912. Hier: Kapitel V–VII. Da die Ausgabe der Gesammelten Werke nur Jungs später stark überarbeitete Fassung dieser Monographie enthält (Symbole der Wandlung, 1952), muss hier auf die Originalausgabe zurückgegriffen werden.

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puskomplex ab und plädiert stattdessen für eine rein symbolische Deutung von Inzestvorstellungen. Des Weiteren hinterfragt Jung im Zuge seiner Arbeit am mythologischen Quellenmaterial Freuds Libido-Konzept, das in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) festgeschrieben worden war. Jung kommt im Laufe seiner Arbeit an Wandlungen und Symbole der Libido zu dem Ergebnis, dass eine rein sexuelle Bestimmung des Libidobegriffs zu einseitig sei und schlägt stattdessen ein weiter gefasstes Verständnis von Libido vor, der diese allgemein als „psychische Energie“512 beschreibt. Freuds Beharren auf dem Dogma der Sexualtheorie und Jungs Ablehnung einer ausschließlich sexuellen Definition der Libido führen 1912 zu dem Konflikt, der das Ende der persönlichen Beziehung zwischen beiden im folgenden Jahr einläutet.513 Zu Jungs Abwendung von den Thesen der Drei Abhandlungen kommt jedoch noch ein dritter Grund für die fachlichen Differenzen zwischen beiden Psychoanalytikern hinzu: sie sind sich uneins über die Haltung, die die Psychoanalyse zu den Erzeugnissen des Mythos einnehmen sollte. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Diskussion um den Eintritt in den 1910 neu gegründeten ‚Internationalen Orden für Ethik und Kultur‘. Auf die Einladung des Apothekers Alfred Knapp, die sowohl Freud als auch Jung gilt, reagiert Jung zunächst skeptisch. Er fürchtet die Künstlichkeit eines ‚ethischen Ordens‘, der sich nicht in tradierte religiöse Systeme einordnen wolle, und fragt rhetorisch: „Was für einen neuen Mythus gibt er uns, um darin zu leben?“514 Schon in dieser Frage klingt die Bedeutung an, die Jung dem Mythos auch für das moderne Leben beimisst. Im gleichen Brief führt er jedoch noch expliziter aus, welche Stellung die Psychoanalyse in seinen Augen zum tradierten Mythos einnehmen sollte: Ich denke, man müsse der ψα515 noch Zeit lassen, von vielen Zentren aus die Völker zu infiltrieren, beim Intellektuellen den Sinn fürs Symbolische und Mythische wiederzubeleben, den Christum sachte in den weissagenden Gott der Rebe, der er war, zurückzuverwandeln, und so jene ekstatischen Triebkräfte des Christentums aufzusaugen, alles zu dem einen Ende, den Kultus und den heiligen Mythus zu dem zu machen, was sie waren,

|| 512 Jung, Carl Gustav: Wandlungen und Symbole. S. 125. 513 Vgl. hierzu Jungs Brief an Freud vom 11.11.1912, in dem er bekennt, anlässlich einer Vorlesung in New York einen von Freuds Auffassung verschiedenen Libidobegriff vertreten zu haben (BWFJ. S. 571) und Freuds enttäuschte Antwort vom 14.11.1912, in der mit Unverständnis auf Jungs Änderungen an seiner psychoanalytischen Theorie reagiert (BWFJ. S. 574). 514 Brief Jungs an Sigmund Freud vom 11.02.1910. In: BWFJ. S. 323. 515 Freuds und Jungs Kürzel für ‚Psychoanalyse‘.

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nämlich zum trunkenen Freudenfeste, wo der Mensch in Ethos und Heiligkeit Tier sein darf.516

Hier bringt Jung eindeutig zur Sprache, dass die Psychoanalyse sich intensiv mit ‚Mythen, in denen man leben kann‘, auseinandersetzen solle.517 Schon an dieser Stelle kündigt sich seine spätere Ambition an, die Psychoanalyse zu einer Instanz der Symbolerzeugung und -deutung zu machen, die an die Stelle der verlorenen Deutungskompetenz der westlichen Religionen treten kann. Zwar klingt in Jungs schwärmerischem Konzept der Rückführung des Christentums in die antiken Dionysos-Mysterien nur von Ferne seine zukünftige Symboltheorie an, die das mythische Symbol zum Mediator zwischen Bewusstsein und Unbewusstem erhebt. Jedoch deutet Jung auch in dieser Briefstelle bereits an, dass er den Mythos in einer produktiven Zwischenstellung zwischen Geist und Natur verortet – es geht schließlich um die Vereinigung von ‚Ethos‘ und ‚Heiligkeit‘ mit der tierischen Natur des Menschen. Schon diese Andeutung von Jungs zukünftiger Denkrichtung genügt, um den krassen Gegensatz zu veranschaulichen, in dem die Ergebnisse seiner Mythenforschung zu Freuds rein analytischer Deutung des Mythos als Auskunftsquelle über menschheitsgeschichtliche Projektionen und Verdrängungsprozesse stehen. Auf Jungs forschen Vorstoß zur Indienstnahme der Psychoanalyse als Verkünderin eines ‚neuen Mythos‘ reagiert Freud in seinem Brief vom 13. Februar 1910 denkbar knapp: Mich aber sollten Sie für keinen Religionsstifter halten, meine Absichten reichen nicht so weit. […] An Ersatz für die Religion denke ich nicht; dieses Bedürfnis muß sublimiert werden.518

Freud ist zeitlebens darum bemüht, den Vorwurf des Okkultismus und Irrationalismus von der Psychoanalyse fernzuhalten, um deren Daseinsberechtigung als wissenschaftliche Theorie nicht zu gefährden.519 Jung dagegen zeigt schon früh ein Interesse an Parapsychologie und widmet einen Großteil seines Lebenswerkes der psychologischen Untersuchung von Mythologie, Gnosis und Alchemie. Jung ist keinesfalls der Ansicht, dass das religiöse Bedürfnis ‚sublimiert‘ werden müsse, wie Freud es hier fordert. Er versucht im Laufe seines Werkes im Gegenteil, den religiösen Impuls und die Fähigkeit des Menschen zur

|| 516 Brief Jungs an Sigmund Freud vom 11.02.1910. In: BWFJ. S. 324. 517 Vgl. hierzu auch Bishop, Paul: Introduction. In: Ders. (Hg.): Jung in contexts. A reader. London/New York 1999. S. 1–30. Hier: S. 4f. 518 Brief Freuds an C. G. Jung vom 13.02.1910. In: BWFJ. S. 325f. 519 Vgl. dazu Jung, Carl Gustav: Erinnerungen. S. 159f.

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Erschaffung von Symbolen als Motor der Individuation, d.h. der Selbstwerdung, produktiv in seine analytische Psychologie einzubinden. Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass Jungs 1909 einsetzendes Interesse für den Mythos auch den Beginn der theoretischen Differenzen mit Freud markiert. Wenngleich es zahlreiche weitere persönliche und fachliche Gründe für den in der „Kreuzlinger Geste“520 kulminierenden Bruch zwischen den beiden Psychoanalytikern gibt, so bilden doch die drei genannten Streitpunkte, die sich aus Jungs frühen Mythosforschungen ergeben, einen großen Anteil an der Auseinandersetzung.521 Im Folgenden soll nun die weitere Entwicklung von Jungs Beschäftigung mit dem Mythos nach dem Bruch mit Freud in drei Schritten dargestellt werden: zunächst geht es um eine Definition des Mythosbegriffs nach Jung unter Einbezug seiner Theorie des kollektiven Unbewussten und seiner Archetypenlehre; im zweiten Schritt wird Jungs Konzept des vermittelnden Symbols und dessen produktive Einbindung in den Individuationsprozess untersucht, bevor abschließend das Verhältnis von Mythos und Moderne aus der Perspektive Jungs beschrieben wird. 2.3.1.2 Jungs Mythosbegriff Jungs seit 1909 betriebenen mythologischen Studien resultieren in seiner in zwei Teilen 1911/12 erscheinenden Monographie Wandlungen und Symbole der Libido522, in der er die Phantasien und Träume der jungen Amerikanerin Miss Miller unter Zuhilfenahme unzähliger mythischer Analogien analysiert. Jung kannte Miss Miller nicht persönlich, sondern konnte nur auf ihre von Théodore Flournoy in den Archives de Psychologie veröffentlichten Phantasien zurückgreifen, welche – so Jung im Rückblick – „wie ein Katalysator auf die in [ihm] aufgestauten, noch ungeordneten Gedanken“523 gewirkt hatten. Anhand der Träume und Phantasievisionen der jungen Frau kommt Jung zu der Einsicht, dass auch die individuelle Psyche anscheinend Bilder und Symbole hervorbringt, die eine erstaunliche Ähnlichkeit zu tradierten mythischen Erzählungen aufweisen – und zwar auch dann, wenn die betreffende Person diese Überlieferung gar

|| 520 Vgl. Brief Jungs an Sigmund Freud vom 11.11.1912. In: BWFJ. S. 572; McLynn: Carl Gustav Jung. S. 194. 521 Vgl. hierzu auch: McLynn: Carl Gustav Jung. S. 156ff.; Bishop, Paul: Introduction. S. 4ff.; Pietikäinen, Petter: C. G. Jung and the Psychology of Symbolic Forms. Helsinki 1999. S. 57–78. 522 Zuerst in zwei Teilen 1911 und 1912 im Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen erschienen. 523 Jung, Carl Gustav: Erinnerungen. S. 167.

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nicht kennt oder kennen kann.524 In der Einleitung zu Wandlungen und Symbole der Libido formuliert er daher unter Bezugnahme auf die Arbeiten Riklins, Maeders und Abrahams, die sich bereits mit dem Mythos aus psychoanalytischer Perspektive beschäftigt hatten, einen neuen Aufgabenbereich der Psychoanalyse: Es gehe darum, „die Analyse der Individualprobleme durch Hinzuziehung historischen Materials zu erweitern“, da dieses wiederum im Rückschluss „neues Licht über individualpsychologische Probleme verbreiten“525 könne. Die theoretische Grundlegung für die Verwendung mythischen Materials zu Zwecken der Psychoanalyse bietet Jung im zweiten Kapitel seiner Schrift. Hier geht er zunächst von der Hypothese aus, es gebe „zwei Formen des Denkens: das gerichtete Denken und das Träumen oder Phantasieren“526. Unter gerichtetem Denken versteht Jung logisch-sprachliches Denken, das als Anpassungsleistung an die Wirklichkeit beschrieben wird527 und als „offenkundige[s] Instrument der Kultur“528 für die Entwicklung der modernen Wissenschaft und Technik verantwortlich zeichnet. Das Traumdenken dagegen ist bildlichsymbolisch und zeigt nichts, „wie es wirklich ist, sondern wie man es wohl wünschen möchte“529. Diese Art des Denkens ist nicht auf die Wirklichkeit gerichtet, sondern auf subjektive Wünsche und seelische Vorgänge. Daher ist das Produkt des phantastischen Denkens der Traum, die kindliche Vorstellungskraft und der Mythos. Von dieser These ausgehend widmet sich Jung nun einer Parallelisierung dieser drei Erzeugnisse des phantastischen Denkens. Zunächst geht er von Freuds Annahme aus, der Traum sei […] eine Serie von Bildern, die anscheinend widerspruchsvoll und unsinnig sind, aber aus einem psychologischen Material abstammen, das einen klaren Sinn ergibt.530

Dieser ‚klare Sinn‘ ergibt sich freilich nur bei einer symbolischen Interpretation des irrational angeordneten Traummaterials. Einen Beleg dafür, dass Träume „psychologisch wahr“531 sind, d.h. subjektiv gültigen Sinn erzeugen, findet Jung im alten Volksglauben an weissagende und heilende Träume. Zudem fügt er Beispiele für Traumsymbole an, deren verbreitetes Vorkommen Rückschlüsse

|| 524 Vgl. hierzu Jungs Ausführungen in: Wandlungen und Symbole. S. 236ff. 525 Jung, Carl Gustav: Wandlungen und Symbole. S. 6. 526 Ebd. S. 19. 527 Ebd. S. 11. 528 Ebd. S. 17. 529 Jung, Carl Gustav: Wandlungen und Symbole. S. 19 530 Ebd. S. 8. 531 Ebd. S. 7.

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auf ihren symbolisch-typischen Gehalt erlauben.532 In Übereinstimmung mit Freud bezeichnet Jung den Traum als ein Produkt des Unbewussten533, dem eine kompensatorische, wunscherfüllende Funktion gegenüber dem vom gerichteten Denken geprägten Wachzustand zukommt. Im nächsten Schritt parallelisiert Jung nun dieses Traumdenken, in dem „das Heterogene zusammengebracht“534 wird, mit den mythischen Erzählungen der Antike. Während das Interesse der Moderne sich ganz auf die materielle Wirklichkeit richte, sei das Denken des Altertums „dem phantastischen Typus“535 des Traumdenkens verwandt: „Wir sehen den antiken Geist nicht Wissenschaft schaffen, sondern Mythologie.“536 Aus dem mangelnden Interesse der Antike an technischer Entwicklung einerseits und dem reichen Fundus an mythischer Überlieferung andererseits schließt Jung, dass die Antike im Gegensatz zum extravertierten Wissenschaftsdenken der Moderne von der Vorherrschaft des introvertierten Denkens geprägt gewesen sei537: Nicht das Wie der wirklichen Welt möglichst objektiv und exakt zu erfassen, sondern subjektive Phantasien und Erwartungen ästhetisch anzupassen, scheint das Ziel des Interesses gewesen zu sein.538

Diese geistige Einstellung, als deren Produkt Jung den Mythos begreift, findet er auch im kindlichen Denken wieder, das ebenso zu einer Beseelung aller Dinge und zur subjektiven Überformung der Wirklichkeit neige wie der antike Mythos.539 Als Beleg für den Zusammenhang von mythischem und kindlichem Denken zieht Jung die Haekelsche Rekapitulationstheorie heran und setzt eine

|| 532 Als ein Beispiel führt Jung – in einer Linie mit Freud – bestimmte phallische Traumsymbole wie Lanze, Schwert, Dolch und Gewehr an. Vgl. Jung, Carl Gustav: Wandlungen und Symbole. S. 8. 533 Vgl. ebd. S. 31. 534 Ebd. S. 23. 535 Ebd. S. 21. 536 Ebd. 537 Die Kategorien ‚extravertiert‘ und ‚introvertiert‘ entwickelt Jung erst in seiner 1920 erschienenen Monographie über Psychologische Typen. Seine Gegenüberstellung von antikem und modernem Denken entspricht jedoch genau diesen Begriffen, ohne dass Jung sie im Text explizit erwähnt. Während der extravertierte Typus so lebt, dass „das Objekt als determinierende Größe in seinem Bewußtsein die größere Rolle spielt als seine subjektive Ansicht“, ist für den introvertierten Typus „die subjektive Determinante die ausschlaggebende“. Jung, Carl Gustav: Psychologische Typen. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 6. Psychologische Typen. Zürich 1960. [=GWJ 6]. S. 361 und S. 406. 538 Jung, Carl Gustav: Wandlungen und Symbole. S. 22. 539 Vgl. ebd.

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Entsprechung von Phylogenese und Ontogenese voraus.540 Es lassen sich laut Jung in den Träumen und Phantasien von Kindern archaische Relikte und mythische Symbole nachweisen, die nicht durch Erziehung in das Bewusstsein des Kindes gelangt sein können.541 Aufgrund dieser Erfahrung aus der psychoanalytischen Praxis schließt Jung, dass wir in der Kindheit eine Epoche durchlaufen, wo die Ansätze zu […] archaischen Neigungen wieder hervortreten, und daß wir das ganze Leben hindurch neben dem neuerworbenen, gerichteten und angepaßten Denken ein phantastisches Denken besitzen, das dem Denken der Antike und der barbarischen Zeitalter entspricht.542

Der gemeinsame Nenner des introvertiert-subjektiven Phantasiedenkens erlaubt es Jung im letzten Schluss, eine Parallele zwischen dem mythischen Denken des Altertums, der kindlichen Phantasie und dem Traum des Erwachsenen zu ziehen.543 Die Rückschlüsse, die diese Parallelisierung des Mythos mit dem Traum und der kindlichen Phantasie auf Jungs Mythosbegriff erlauben, lassen sich in fünf Hauptthesen zusammenfassen: Zunächst stellt Jung fest, dass der Stoff von Träumen, Kinderphantasien und Mythen aus dem Unbewussten stammt.544 Er bestimmt daraufhin Mythen als Produkte eines phantastischen, introvertierten Denkens, das sich im Gegensatz zum gerichteten, extravertierten Denken nicht auf die materielle Welt und unsere Wahrnehmung derselben bezieht, sondern Ausdruck einer subjektiven ‚psychischen Wahrheit‘ ist. In Mythen werden ebenso wie in bestimmten Träumen typische Probleme der Menschheit verhandelt. Es werden nur solche Symbolisierungen tradiert, die „einen allgemeinen und einen immer aufs Neue sich verjüngenden Gedanken der Menschheit“545 enthalten. Der Mythos kann somit ebenso eine kompensatorische Funktion zur Realität einnehmen wie der Traum im Verhältnis zum Wachzustand und die Kinderphantasie im Verhältnis zur erfahrenen Wirklichkeit: „Man phantasiert

|| 540 Vgl. hierzu ausführlich: Pietikäinen, Petter: Symbolic Forms. S. 68. 541 Vgl. Jung, Carl Gustav: Wandlungen und Symbole. S. 26f. 542 Ebd. S. 30. 543 Ebd. S. 24. 544 Vgl. ebd. S. 32. 545 Jung, Carl Gustav: Wandlungen und Symbole. S. 33. Als Beispiel für solche typischen Symbolisierungen nennt Jung die Paarung von Held und Verräter, die sich sowohl in zahlreichen Mythen (Jesus und Judas, Thor und Loki, Siegfried und Hagen) als auch in Träumen und Wachphantasien (Abbé Oeggers Judasphantasien) wiederfindet.

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das, was einem fehlt.“546Andererseits können Mythen und Träume aber auch Komplexe ans Tageslicht bringen, die aus dem Bewusstsein verdrängt wurden, weil sie als unmoralisch bzw. als gesellschaftlich inakzeptabel empfunden werden. Hier kommen also Symbolisierungen zum Ausdruck, „gegen deren Bewußtmachung man den stärksten Widerstand empfindet“547. Im Hauptteil seiner Schrift widmet sich Jung nach der hier skizzierten theoretischen Grundlegung nun der praktischen Umsetzung dieser Erkenntnisse über die Parallelen zwischen Träumen und Mythen für die Psychoanalyse. Da Mythen und Träume eine Stellung „im Halbschatten“548 zwischen Bewusstsein und Unbewusstem einnehmen, können sie zu produktiven Vermittlern zwischen dem gerichteten Denken des Tagesbewusstseins und den „ältesten Fundamenten des menschlichen Geistes“549 werden. Diese Vermittlerfunktion kann in der Praxis der Psychoanalyse dafür genutzt werden, Trauminhalte zu interpretieren – und zwar indem sie mit der mythischen Überlieferung abgeglichen werden. In Wandlungen und Symbole der Libido zeigt Jung dieses Verfahren am Beispiel der Millerschen Phantasien auf. Unter Beibringung zahlreicher mythischer Entsprechungen werden Miss Millers Phantasien, Traumgedichte und Visionen in einen historischen Kontext eingebettet und so psychologisch gedeutet. Einen bedeutenden Teil seiner Abhandlung widmet Jung beispielsweise dem Komplex der ‚Nachtmeerfahrt‘ des Sonnenhelden550, der vom Meer bzw. von einem Seemonster verschlungen wird – wie etwa Jona vom Wal – und schließlich nach Erringen eines Schatzes siegreich zurückkehren kann wie die aufgehende Sonne. Jung gleicht diesen Topos der klassischen Mythologie mit einer der Heldenvisionen Miss Millers ab und kommt so zu dem Schluss, dass beide Symbolisierungen aus psychologischer Perspektive einen Abstieg ins Unbewusste (Meer/Seemonster) veranschaulichen, an dessen Ende im besten Fall die Geburt eines neuen Bewusstseins (Sonnenaufgang) steht, das auch die Produkte des Unbewussten (Schatz) in die Persönlichkeit integriert.551 Bereits in dieser frühen Phase seiner Mythenforschung legt Jung also den Grundstein für seine produktive Interpretation des Mythos als potentiellem Vermittler zwischen Bewusstsein und Unbewusstem, der durch psychologische || 546 Ebd. S. 27. So z.B. die Idee der ‚edlen Abstammung‘, die sich in Kinderphantasien und zahlreichen Heldengeschichten findet (Moses, Romulus und Remus). 547 Ebd. S. 34. Als Beispiel dient hier der Ödipusmythos und die ödipale Traumphantasie. 548 Ebd. S. 31 549 Ebd. 550 Vgl. Jung, Carl Gustav: Wandlungen und Symbole. Kap. V–VII. 551 Zur Prominenz der Nachtmeerfahrt in Jungs Werk vgl. auch McLynn, Frank: Carl Gustav Jung. S. 175.

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Deutung fruchtbar gemacht werden kann. Diesen Aspekt fokussiert er noch stärker in der Erweiterung seines Mythosbegriffs durch die Archetypenlehre und seine Theorie des ‚kollektiven Unbewussten‘. Aus seinen Überlegungen zur Entsprechung von Phylogenese und Ontogenese in Wandlungen und Symbole der Libido schließt Jung, dass die menschliche „Seele gewissermaßen eine historische Schichtung besitzt, wobei die ältesten Schichten dem Unbewußten entsprechen würden“552. Schon 1912 geht er also von einer „Gleichförmigkeit des Unbewußten“553 aus, das bei allen Menschen und zu allen Zeiten immer wieder typische Bilder und Symbole hervorbringt. Auch wenn in dieser Annahme bereits eine Abgrenzung vom Freudschen Begriff des Unbewussten implizit enthalten ist, so führt Jung seine Theorie eines kollektiven Unbewussten in Unterscheidung von Freuds individuellem Unbewussten doch erst 1918 in seinem Aufsatz Über das Unbewußte554 aus. Hier kritisiert Jung zunächst Freuds Konzept des Unbewussten, der davon ausgeht, dass unerlaubte oder unerwünschte Gedanken und Triebe vom Bewusstsein ins Unbewusste verdrängt werden. Das Unbewusste ist nach Freud als die „Gesamtheit aller unverträglichen und verdrängten Wünsche“555 zu verstehen – oder, wie Jung es polemisch ausdrückt, als „eine Art Rumpelkammer“, die hauptsächlich „unerlaubte Sexualwünsche“556 enthält. Jung postuliert dagegen eine Dreiteilung der Psyche in Bewusstsein, persönliches Unbewusstes und kollektives Unbewusstes. Während das persönliche Unbewusste individueller Natur ist und – eher Freuds Theorie entsprechend – aus „lauter Erfahrungen des persönlichen Lebens besteht“557, ist das kollektive Unbewusste überpersönlich. Als vererbte „allgemein verbreitete Hirnstruktur“, die allen Menschen gemein ist, enthält es „angeborene Vorstellungsmöglichkeiten“558 (ab 1919 ‚Archetypen‘ genannt), die Jung mit den Platonischen Ideen und den Kantschen Kategorien vergleicht. Das kollektive Unbewusste ist a priori gegeben und enthält keinerlei

|| 552 Jung, Carl Gustav: Wandlungen und Symbole. S. 32. 553 Ebd. S. 170. 554 Jung, Carl Gustav: Über das Unbewußte. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 10. Zivilisation im Übergang. Freiburg i.Br. 1974. [=GWJ 10]. S. 15–42. 555 Jung, Carl Gustav: Über das Unbewußte. S. 18. 556 Ebd. S. 19. 557 Ebd. S. 21. 558 Ebd. S. 22.

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Inhalte, die sich zuvor bereits im Bewusstsein befunden haben559, sondern typische Formen und Bilder, die sich in Mythen und Traumsymbolen ausdrücken: [W]ie der menschliche Körper über alle Rassenunterschiede hinaus eine gemeinsame Anatomie aufweist, [so besitzt] auch die Psyche jenseits aller Kultur- und Bewußtseinsunterschiede ein gemeinsames Substrat […], das ich als das kollektive Unbewußte bezeichnet habe. Diese unbewußte Psyche, die aller Menschheit gemeinsam ist, besteht nicht etwa aus bewußtseinsfähigen Inhalten, sondern aus latenten Dispositionen zu gewissen identischen Reaktionen. […] Daraus erklärt sich die die Analogie, ja sogar Identität der Mythenmotive und der Symbole und der menschlichen Verständnismöglichkeit überhaupt.560

Mythen und Traumsymbole sind demnach archaische Bilder, die dem kollektiven Unbewussten entstammen, also dem überpersönlichen Teil der menschlichen Psyche. Die zunächst als „urtümliche Bilder“561 bezeichneten Inhalte des kollektiven Unbewussten nennt Jung ab 1919 ‚Archetypen‘. Den Begriff ‚Archetypus‘ leitet Jung aus zahlreichen Quellen – wie etwa von Philo Iudaeus, dem Corpus Hermeticum oder dem platonischen eidos – ab562 und definiert ihn als eine nicht näher bestimmte „unmittelbare seelische Gegebenheit“563 in Form einer kollektiven symbolisch-bildlichen Vorstellung, die ihren Ausdruck im Mythos oder Märchen sowie im Traumsymbol findet. Im Werkverlauf sind Jungs Definitionen des Archetypus nicht immer homogen: die Bestimmungen reichen von einer „symbolische Formel“564 über die Personifikation unbewusster Seelenanteile565 bis hin zu einem Verständnis der Archetypen als „Strukturelemente der menschlichen Seele überhaupt“566. Eine Minimaldefinition von Jungs Begriff des Archetypus könnte jedoch abseits dieser Differenzen folgendermaßen lauten: Unter einem Archetypus versteht Jung eine angeborene Disposition der menschlichen Psyche, die typische, kulturübergreifend ähnliche Bilder aus dem kollektiven Unbewussten hervorbringt, welche eine fixierte

|| 559 Vgl. auch Jung, Carl Gustav: Der Begriff des kollektiven Unbewußten. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 9,1. Die Archetypen und das kollektive Unbewußte. Freiburg i.Br. 1976. [=GWJ 9,1]. S. 55–66. Hier: S. 55. 560 Jung, Carl Gustav: Goldene Blüte. S. 20f. 561 Jung, Carl Gustav: Psychologische Typen. S. 455. 562 Vgl. Jung, Carl Gustav: Über die Archetypen des kollektiven Unbewußten. In: GWJ 9,1. S. 11–52. Hier: S. 15. 563 Ebd. 564 Jung, Carl Gustav: Psychologische Typen. S. 410. 565 Jung, Carl Gustav: Goldene Blüte. S. 50. 566 Jung, Carl Gustav: Zur Psychologie des Kindarchetypus. In: GWJ 9,1. S. 163–196. Hier: S. 169.

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Form, z.B. als mythische Figur, annehmen können.567 Archetypen haben nach Jung ein Gepräge der scheinbaren Zeitlosigkeit, da sie als Disposition zu allen Zeiten in der menschlichen Psyche vorhanden sind. Die ahistorischen Archetypen seien daher dafür verantwortlich, dass Mythen aus „einer Zeit als noch keine Zeit war“568 zu stammen scheinen. Beispiele für klassische Archetypen in Jungs Sinn sind z.B. der Magier als weiser alter Mann oder die sogenannte ‚Anima‘ als Seelenführerin569. Sie erscheinen in Träumen, bei der in der Psychoanalyse angeregten aktiven Imagination570 und eben in Mythen – hier jedoch in einer relativ fixierten Form im Gegensatz zu Träumen und Phantasien, in denen die Archetypen „individueller, unverständlicher und naiver“571 manifestiert sind als im Mythos. Jung führt die Ähnlichkeit der Mythen aus den verschiedensten Kulturkreisen also auf ihre gemeinsame Herkunft aus dem kollektiven Unbewussten zurück und nicht etwa auf die ähnlichen Naturgegebenheiten, denen alle Menschen ausgesetzt sind. Für ihn ist der Mythos keinesfalls eine Form der Naturerklärung, sondern eine „Projektion unbewußter Vorgänge“572: er geht davon aus, dass der mythenschaffende Mensch „einen unüberwindbaren Drang“ dazu habe, „alle äusseren Sinneserfahrungen an seelisches Geschehen zu assimilieren“573. Auch der moderne Mensch hat diesen Drang, der jedoch nur indirekt im phantastischen Denken des Traumes oder der Wachphantasie zum Ausdruck kommt. 2.3.1.3 Die Funktion des mythischen Symbols Angesichts der intensiven Beschäftigung Carl Gustav Jungs mit dem Mythos bleibt zu fragen, warum sich ein Psychoanalytiker über sein ganzes Lebenswerk hinweg so eingehend mit einem eigentlich fachfremden Thema befasst hat? Die Antwort liegt in der produktiven Funktion, die Jung dem mythischen Symbol || 567 Vgl. hierzu Jung, Carl Gustav: Über die Archetypen. S. 15. 568 Jung, Carl Gustav: Psychologischer Kommentar zu ‚Das tibetanische Buch der großen Befreiung‘. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 11. Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion. Zürich 1963. [=GWJ 11]. S. 511–549. Hier: S. 528. 569 Analog dazu der Animus bei der Frau. Vgl. Jung, Carl Gustav: Über den Archetypus mit besonderer Berücksichtigung des Animabegriffes. In: GWJ 9,1. S. 67–88. 570 Aktive Imagination ist eine Methode der Jungschen Psychoanalyse, die beim Patienten gezielt eine „Serie von Phantasien, die absichtliche Konzentration ins Dasein bringt“, anregt. Jung, Carl Gustav: Begriff des kollektiven Unbewußten. S. 61. 571 Jung, Carl Gustav: Über die Archetypen. S. 15. 572 Jung, Carl Gustav: Psychologische Typen. S. 125. 573 Jung, Carl Gustav: Über die Archetypen. S. 16.

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zuschreibt: wie bereits angedeutet, versteht er das Symbol als Vermittler zwischen Bewusstsein und Unbewusstem. Diese Vermittlerfunktion nimmt eine zentrale Stelle in Jungs Konzept des ‚Individuationsprozesses‘ ein. Da Jung davon ausgeht, dass die Psyche nicht nur aus dem Ego des Tagesbewusstseins besteht, unterscheidet er zwischen dem „Ich“ als Zentrum des Bewusstseins und dem „Selbst“ als Zentrum der „gesamten, also auch der unbewussten Psyche“574. Psychische Ganzheit ist nur zu erreichen, wenn auch die unbewussten Anteile der Psyche in die Persönlichkeit integriert werden können: dies geschieht im sogenannten Individuationsprozess.575 Vom Tagesbewusstsein ausgehend begegnet der Patient mit Hilfe der Psychoanalyse zunächst den Figurationen seines persönlichen Unbewussten, welche Jung als ‚Schatten‘ (verdrängte Aspekte der eigenen Persönlichkeit) und ‚Persona‘ (die soziale Maske) bezeichnet. Wenn diese ins Bewusstsein integriert werden können, folgt die Auseinandersetzung mit der untersten Stufe des Bewusstseins: dem kollektiven Unbewussten. Hier kommt das Bewusstsein vermittelt durch Träume oder Visionen in Kontakt mit den Archetypen wie beispielsweise der ‚Anima‘ oder dem ‚Animus‘, also mit Traumsymbolen und Figuren, die als Seelenführer fungieren. Der letzte Schritt des Individuationsprozesses ist die Konfrontation mit den Symbolen des Selbst, die beispielsweise die Form von Gottesbildern oder Mandalas annehmen können und psychische Ganzheit symbolisieren. Ziel des Individuationsprozesses ist die „Herstellung und Geburt [einer] oberen Persönlichkeit“576, die individuelle und kollektive Psyche in sich vereinigt: Gelingt es aber nun, das Unbewußte als mitbedingende Größe neben dem Bewußtsein anzuerkennen und so zu leben, daß bewußte und unbewußte (respektive instinktive) Forderungen nach Möglichkeit berücksichtigt werden, so ist das Gravitationszentrum der Gesamtpersönlichkeit nicht mehr das Ich, welches bloßes Bewußtseinszentrum ist, sondern ein sozusagen virtueller Punkt zwischen dem Bewußten und dem Unbewußten, welchen man als das Selbst bezeichnen könnte.577

Der Individuationsprozess ist also nicht durch rationale Überlegung zu leisten. Er bedarf der Vermittlung durch bildliche Vorstellungen und Symbole.

|| 574 Jung, Carl Gustav: Psychologische Typen. S. 471. 575 Zum Individuationsprozess vgl. Jung, Carl Gustav: Zur Empirie des Individuationsprozesses. In: GWJ 9,1. S. 309–372.; McLynn, Frank: Carl Gustav Jung. S. 302ff. 576 Jung, Carl Gustav: Goldene Blüte. S. 53. 577 Jung, Carl Gustav: Goldene Blüte. S. 53.

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Bevor die Funktion des Symbols ausführlicher beleuchtet werden kann, sollte zunächst geklärt werden, was Jung unter einem Symbol versteht. Eine erste Definition gibt er 1920 in Psychologische Typen: Hier bestimmt er das Symbol entgegen dem landläufigen Verständnis nicht etwa als Zeichen für etwas Anderes, Bekanntes, sondern als einen Ausdruck, der „die bestmögliche Bezeichnung oder Formel für einen [...] unbekannten, jedoch als vorhanden erkannten oder geforderten Tatbestand“578 darstellt. Das Symbol drückt sowohl etwas Neues, als auch etwas psychisch Notwendiges aus und kann einen unbekannten Zustand dem Verständnis eröffnen. Daher ist es auch „nur lebendig, solange es bedeutungsschwanger ist“579. In der überarbeiteten Ausgabe der Wandlungen und Symbole der Libido580 präzisiert Jung: Das Symbol ist keine Allegorie und kein Semeion (Zeichen), sondern das Bild eines zum größten Teil bewußtseins-transzendenten Inhaltes.581

So kann ein Symbol, wie z.B. das christliche Kreuz, zwar intuitiv verstanden und durch Interpretation dem Verständnis zugänglich gemacht werden, aber es entstammt keiner rationalen Zeichenkonstruktion, die eine Analogie zu einem anderen Gegenstand herstellen soll. Die Funktion des Symbols als Vermittler zwischen Bewusstsein und Unbewusstem führt Jung im Folgenden anhand des ‚Gegensatzproblems‘ aus. Darunter versteht Jung die grundsätzliche Polarität, zwischen der das menschliche Leben aufgespannt ist, und die einer Vermittlung durch etwas Drittes bedarf, um eine Ganzheit jenseits der Gegensätze zu erzeugen: Geist und Natur, Intellekt und Intuition, Introversion und Extraversion, gerichtetes und phantastisches Denken, Bewusstsein und Unbewusstes.582 In seiner 1920 erschienenen Abhandlung über Psychologische Typen skizziert Jung drei verschiedene symbolisch operierende Lösungsansätze für das Gegensatzproblem (ohne diese jedoch entsprechend zu kennzeichnen): (1) einen ästhetischen, (2) einen religiösen und (3) einen psychologischen Ansatz. (1) Als Kronzeugen für eine ästhetische Lösung des Gegensatzproblems zieht Jung Friedrich Schiller und Friedrich Nietzsche heran. Schillers Konzept der ästhetischen Erziehung des Menschen, das den Spieltrieb und letztlich die

|| 578 Jung, Carl Gustav: Psychologische Typen. S. 515. 579 Ebd. S. 516. 580 1952 unter dem Titel Symbole der Wandlung erschienen. 581 Jung, Carl Gustav: Symbole der Wandlung. Analyse des Vorspiels zu einer Schizophrenie. Zürich 1952. S. 129. 582 Vgl. Jung, Carl Gustav: Psychologische Typen. S. 93.

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Kunst zum Mediator zwischen Vernunft und Gefühl erhebt, um „die ursprüngliche Einheit des menschlichen Wesens“583 wieder herzustellen, wird von Jung letztlich aufgrund seiner mangelnden „sittlich motivierende[n] Kraft“584 verworfen. Zur Erziehung des Menschen sei der „Ästhetismus“585 nicht tauglich, da er in seinem Streben nach Schönheit als höchstem Gut eine Form des Hedonismus darstelle. Auch Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Gegensatzpaar dionysisch und apollinisch in der Geburt der Tragödie bewertet Jung als bloße Einkleidung eines religiösen Problems, das Nietzsche durch die „moderne Brille“586 des Ästhetizismus betrachte, um sich vor der wahren Virulenz des Problems durch die Einnahme eines herausgehobenen ästhetischen Standpunktes zu schützen.587 Das Ästhetische als Lösungsmodell für das Gegensatzproblem verwirft Jung mit der Behauptung, dass die Erhöhung der Kunst zum Mediator ein modernes „Surrogat für eine mangelnde Religion“588 sei. In Abgrenzung zu Schiller und Nietzsche geht Jung davon aus, dass „die Vereinigung der rationalen und der irrationalen Wahrheit weniger in der Kunst als viel mehr im Symbol“589 zustande komme. (2) Als traditionelle Instanzen der Symbolbildung und -deutung bündeln Religionen typische symbolische Vorstellungen und fixieren sie in Dogmen, die „eine irrationale Ganzheit durch ein Bild“590 ausdrücken. Da das Denken in Gegensätzen der Differenzierungsfunktion der Rationalität entspringt, muss die Auflösung der Polarität in eine Ganzheit notwendigerweise auf einem nichtrationalen, also symbolischen Weg erfolgen. So projiziert beispielsweise die christliche Lehre die Lösung des Gegensatzproblems nach außen in die Figur eines Messias, der als Vermittler die Erlösung ermöglicht. Diesen Ansatz kontrastiert Jung mit der brahmanistischen Lehre, da hier der Fortschritt zum Einheitszustand (nirvana) auf einem Akt der Selbsterlösung beruht, welcher „der höchsten sittlichen Anstrengung“591 bedürfe. Einen besonderen Fokus legt Jung in diesem Zusammenhang auf den Prozess der Symbolschöpfung, da dieser seinem eigenen psychologischen Ansatz vorgreift: In der östlichen Tradition

|| 583 Jung, Carl Gustav: Psychologische Typen. S. 89. 584 Ebd. S. 127. 585 So bezeichnet Jung Schillers Standpunkt in Abgrenzung vom modernen Ästhetizismus. Jung, Carl Gustav: Psychologische Typen. S.127. 586 Ebd. S. 149. 587 Vgl. ebd. Psychologische Typen. S. 150. 588 Ebd. Anm. 9. 589 Jung, Carl Gustav: Über das Unbewußte. S. 310f. 590 Jung, Carl Gustav: Psychologie und Religion. In: GWJ 11. S. 1–118. Hier: S. 49. 591 Jung, Carl Gustav: Psychologische Typen. S. 128.

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fungiert die Meditation als Mittel zur Befreiung von den Gegensätzen. Durch die „Zurückziehung der Libido von allen Inhalten“592 in der meditativen Versenkung tritt ein „Zustand der Stauung oder Anhäufung der Libido“593 ein, der zu einer Auflösung der Differenz zwischen Subjekt und Objekt und zu einer Identität von Innen und Außen führt. Die Leere des Bewusstseins, die in der Meditation erreicht werden soll, stellt für Jung den Schlüssel zu einer Versenkung ins Unbewusste dar, aus dem das vermittelnde Symbol aufsteigen kann: Die Andacht ist […] eine regressive Bewegung der Libido zum Ursprünglichen, ein Hinuntertauchen in die Quelle des Anfangs. Daraus erhebt sich als ein Bild der beginnenden Progressivbewegung das Symbol, welches eine zusammenfassende Resultante aller unbewußten Faktoren darstellt, […] ein Gottesbild, wie die Geschichte es zeigt.594

Jung betrachtet die Meditation also als einen Weg, sich mit dem kollektiven Unbewussten zu verbinden und so mit dessen Qualität als „geistige Matrix“595 der symbolischen Formen in Kontakt zu kommen. Auf die Regression ins Unbewusste folgt mit dem Hervortreten des vermittelnden Symbols eine Progression: die Vision der psychischen Einheit im Gottesbild. (3) Jungs psychologischer Ansatz ruht auf der Hypothese, dass die Fähigkeit und das Bedürfnis zur Hervorbringung von Symbolen potentiell in jedem Menschen angelegt sind. Der Traum und die Phantasie sind die individuelle Variante der Verbindung mit dem kollektiven Unbewussten, während der Mythos die kollektive Form der Projektion seelischer Gegebenheiten auf gemeinsame bildliche Vorstellungen ist. So wie Religionen typische Symbole hervorbringen, kann auch der einzelne Mensch in seinen Träumen und Wachphantasien archetypischen Bildern begegnen, die einen Weg zum Ziel der psychischen Ganzheit aufzeigen. Für Jung sind solche individuellen Symbole von elementarer Wichtigkeit für die weitere Entwicklung der Persönlichkeit. Sie bewirken im Individuationsprozess eine „Anlockung der Libido zu einem noch fernen Ziel“596, welches nur durch die Zusammenarbeit des Bewusstseins mit dem Unbewussten erwirkt werden kann: „eine Totalität des Lebens und damit der eigenen Psyche“597. Jung berichtet an zahlreichen Stellen seines Werks von seinen praktischen Erfahrungen mit Patienten, die von sogenannten ‚Symbolen des Selbst‘

|| 592 Ebd. S. 125. 593 Ebd. S. 216. 594 Ebd. S. 131f. 595 Jung, Carl Gustav: Große Befreiung. S. 528. 596 Jung, Carl Gustav: Psychologische Typen. S. 133. 597 Ebd. S. 61.

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träumen: von der Figur einer Quaternität, die einen Kreis einschließt598 bis hin zu komplexen Mandalas, in deren Zentrum keine Gottesfigur, sondern Blumen, Sterne, gleichschenklige Kreuze und andere ‚Selbstsymbole‘ stehen.599 Diese Symbole bezeichnet Jung als imago dei, als Visualisierungen eines „inneren Gottes“600, die nichts mehr mit den religiös tradierten Gottesbildern gemein haben müssen, sondern zum Sinnbild einer höheren Persönlichkeit, dem ‚Selbst‘ im Jungschen Sinne werden: [W]o die Gottesidee nicht länger projiziert ist als eine autonome Wesenheit, so ist dieses die Antwort der unbewußten Seele: das Unbewußte schafft die Idee eines deifizierten oder göttlichen Menschen, der eingekerkert, verborgen, geschützt, meist entpersönlicht und durch ein abstraktes Symbol dargestellt ist.601

Die Fähigkeit zum Hervorbringen dieser transformativen Symbole im fortgeschrittenen Individuationsprozesses nennt Jung die „transzendente Funktion“602 der Psyche. Der Prozess der Symbolschöpfung wird ausgelöst, wenn der Patient die grundlegende Polarität der Psyche nicht verdrängt, sondern sie in ihrer logischen Unauflösbarkeit schlicht annimmt. Eine rationale Lösung ist nicht möglich, aber der „eingetretene Stillstand ‚konstelliert‘ das Unbewußte“ 603 zu einer kompensatorischen Leistung: Das kollektive Unbewusste als Ursprung der schöpferischen Phantasie ‚produziert‘ nun eine „unbestimmte Anzahl von Motiven und Formen von archaischem Charakter“604, die oftmals in Analogie zu tradierten Mythen stehen, und macht sie zum Beispiel in Träumen zugänglich. Gelingt die transzendente Funktion, so ist ihr Ergebnis ein vermittelndes Symbol, welches die Gegensätze irrational [vereinigt], indem zwischen ihnen ein Novum entsteht, das von beiden verschieden ist und doch geeignet, ihre Energien gleichermaßen aufzunehmen als ein Ausdruck beider und keines von beiden.605

Ein solches Ganzheitssymbol, das Jung bei seinen Patienten beobachtet, ist beispielsweise die vierblättrige Blüte, die historisch nicht nur als buddhisti|| 598 Vgl. Jung, Carl Gustav: Psychologie und Religion. S. 63f.; Jung, Carl Gustav: Zur Empirie des Individuationsprozesses. S. 338ff. 599 Vgl. Jung, Carl Gustav: Psychologie und Religion. S. 105. 600 Ebd. S. 63. 601 Ebd. S. 105. 602 Jung, Carl Gustav: Große Befreiung. S. 526. 603 Ebd. S. 527. 604 Ebd. S. 528. 605 Jung, Carl Gustav: Psychologische Typen. S. 110f.

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sches Mandala oder im Symbol des Lotus vorkommt, sondern auch in ägyptischen Horusdarstellungen und im christlichen Mittelalter als Bild des Christus zwischen vier Aposteln.606 Als Symbol des Göttlichen bzw. der göttlichen Ordnung überhaupt deutet Jung dieses Quaternitätssymbol auf der psychologischen Ebene als ein imago dei – ein verinnerlichtes Gottesbild, das in seiner Symmetrie und Vollständigkeit auf psychische Ganzheit verweisen soll. Das Symbol als Mediator zwischen der unbewussten und der bewussten Psyche weist so den Weg zu einem höheren Bewusstsein, das auch das irrationale Unbewusste integriert. Das Erscheinen des Symbols im Traum oder der aktiven Imagination löst einen transformativen psychischen Prozess aus: Mit der Geburt des Symbols hört die Regression der Libido ins Unbewußte auf. Die Regression verwandelt sich in Progression, die Stauung gerät in Fluß.607

Dieser ‚Fluss‘ kann therapeutisch genutzt werden, indem das Symbol mithilfe weiterer Assoziationen oder einem Vergleich mit tradierten mythischen Symbolen in einem größeren Zusammenhang gedeutet und für die Persönlichkeitsentwicklung fruchtbar gemacht wird. Hier zeigt sich erneut die offenkundige Differenz zwischen Freuds und Jungs Symbolverständnis: Während Freud das Traumbild als Produkt eines Verdrängungsaktes begreift, das rational analysiert werden muss, interpretiert Jung das Symbol als produktive Funktion des kollektiven Unbewussten, die jenseits einer vollständigen rationalen Auflösbarkeit liegt.608 Das Verständnis des Symbols und seine Interpretation sind laut Jung kaum ohne äußere Hilfe zu bewerkstelligen; da die tradierten westlichen Religionen kaum noch Unterstützung für die „selbstbefreiende Kraft des Geistes“609 aufböten, könne an deren Stelle die analytische Psychologie bei der Deutung des unbewussten Symbols behilflich sein. Professionelle Deutungshilfe ist notwendig, weil die individuellen Symbolbilder ebenso wie die kollektiven mythischen Vorstellungen einen kompensatorischen Effekt haben. Daher begegnen sie in ihrer irrationalen, das Tagesbewusstsein konterkarierenden Gestalt zunächst dem Widerstand des logisch operierenden Bewusstseins.610 Archetypische Bilder können durchaus erschrecken oder – wenn sie nicht verstanden werden – zu neurotischer Stagnation führen. Die analytische Psychologie kann durch Symboldeutung „die ar-

|| 606 Vgl. Jung, Carl Gustav: Goldene Blüte. S. 30f. 607 Jung, Carl Gustav: Psychologische Typen. S. 282. 608 Vgl. auch McLynn, Frank: Carl Gustav Jung. S. 213. 609 Jung, Carl Gustav: Große Befreiung. S. 526. 610 Vgl. ebd. S. 526.

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chaische Sprache des Mythos“611 psychologisch entschlüsseln und sie dem modernen Verstehen zugänglich machen. Das ‚religiöse Bedürfnis‘ wird in Jungs analytischer Psychologie also keinesfalls ‚sublimiert‘, wie Freud schon 1910 gefordert hatte612, sondern es wird ganz im Gegenteil als Motor des Individuationsprozesses therapeutisch nutzbar gemacht. Das Symbol als Mediator zwischen Bewusstsein und kollektivem Unbewussten ermöglicht die Entwicklung des ‚Selbst‘: einer integrativen „oberen Persönlichkeit“613. Diesem Idealfall steht jedoch gerade in der rationalistisch ‚entzauberten‘ Moderne auch eine Gefahr gegenüber: wo das ‚religiöse Bedürfnis‘ als solches nicht erkannt oder in sinnvolle Bahnen geleitet wird, ist der Mensch anfällig für Ideologien und pseudoreligiöse Heilsversprechen. Alles, was der Mensch sollte, in positivem und negativem Sinne, und was er noch nicht kann, das lebt als mythologische Gestalt und Antizipation neben seinem Bewußtsein, entweder als religiöse Projektion, oder – was gefährlicher ist – als Inhalte des Unbewußten, die sich dann spontan auf inkongruente Gegenstände projizieren, wie zum Beispiel auf hygienische und sonstige ‚heilversprechende‘ Lehren und Verfahren. All das ist rationalistischer Mythologieersatz, welcher durch seine Unnatürlichkeit den Menschen mehr gefährdet als fördert.614

Wie wichtig eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Unbewussten – und im Zuge dessen auch mit Mythen als dessen kollektivem Ausdruck – also ist, zeigt die Moderne, die sowohl vom Verlust sinnstiftender Symbolproduktion als auch symbolischer Deutungskompetenz geprägt ist. Ein Blick auf Jungs Kritik der Aufklärung und der Moderne bildet somit den letzten Schritt, um seine intensive Beschäftigung mit dem Mythos nachvollziehen zu können. 2.3.1.4 Mythos und Moderne Sowohl im Rahmen der Individual- wie auch der ‚Völkerpsychologie‘ geht Jung davon aus, dass die menschliche Psyche angesichts eines unlösbaren – oder zumindest schwer bewältigbaren – Konfliktes auf Regression zurückgreift.615 Wenn die aktuell verfügbaren Mittel zur Problemlösung unbrauchbar erscheinen, rekurriert der Mensch auf früher erprobte Strategien: so greift der einzelne Erwachsene auf Infantilismen und das Kollektiv auf archaische Erklärungsmo-

|| 611 Jung, Carl Gustav: Kindarchetypus. S. 194. 612 Vgl. Brief Freuds an C. G. Jung vom 13.02.1910. In: BWFJ. S. 326. 613 Jung, Carl Gustav: Goldene Blüte. S. 53. 614 Jung, Carl Gustav: Kindarchetypus. S. 183. 615 Vgl. Jung, Carl Gustav: Psychologische Typen. S. 199.

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delle zurück. Aus dieser Perspektive käme die moderne Mythos-Faszination einer Regression auf überwunden geglaubte Vorstellungen gleich. In der Tat diagnostiziert Jung der Moderne trotz des Siegeszuges der Aufklärung eine Tendenz zum Irrationalismus. In seiner Einleitung zum gemeinsam mit Richard Wilhelm herausgegebenen chinesischen Text Das Geheimnis der goldenen Blüte (1929) verortet er die Wurzel dieses Trends im 19. Jahrhundert als, so konstatiert er, „der Geist anfing in Intellekt auszuarten“616. Im Gegensatz zur östlichen Tradition habe sich im Westen im Zuge der Aufklärung eine Vereinseitigung zugunsten des rationalen Denkens vollzogen, die als Gegenreaktion eine irrationalistische Strömung hervorgerufen habe. Schon an dieser Stelle nennt Jung Ludwig Klages als Vertreter dieser „Reaktion, die im Abendland gegen den Intellekt zugunsten des Eros“617 eingesetzt habe. Auch im WotanEssay618, der sieben Jahre später erscheint, wird Klages in diesem Zusammenhang genannt, die Linie wird jedoch zu Nietzsche nach hinten verlängert, der mit der Geburt der Tragödie eine Philosophie des Irrationalismus angestoßen habe, die Klages in der Nachfolge weiterentwickelte. Um die Jahrhundertwende habe sich somit die Überzeugung festgesetzt, dass der Logos (in Opposition zum Eros) lebensfeindlich sei: eine Einstellung, die laut Jung im letzten Schluss nur in einem „Kult der Ekstase, der in der Selbstauflösung des Bewußtseins gipfelt“619, enden könne. Jung ordnet sich also keinesfalls unter die Verfechter einer Philosophie des Irrationalismus ein – dennoch kritisiert er die rationalistische Vereinseitigung in der Moderne auch als psychische Gefahr. Die Wurzeln der modernen Irrationalismusströmung sieht er vor allem im abendländischen Christentum und der Aufklärung begründet. Jung, der selbst Sohn eines evangelischen Pfarrers ist, übt bereits von Beginn seiner Arbeit als Psychoanalytiker an Kritik an der Rolle der christlichen Religion für die abendländische Kultur. 1918 bringt er in seinem Aufsatz Über das Unbewußte den Teil seiner Kritik vor, der 1936 zum zentralen Ausgangspunkt des Wotan-Essays werden sollte: Das Christentum zerteilte den germanischen Barbaren in seine untere und obere Hälfte, und so gelang es ihm – nämlich durch Verdrängung der dunklen Seite – die helle Seite zu domestizieren und für die Kultur geschickt zu machen. Die untere Hälfte aber harrt der Erlösung und einer zweiten Domestikation. […] Je mehr die unbedingte Autorität der christlichen Weltanschauung sich verliert, desto vernehmlicher wird sich die ‚blonde Bestie‘ in

|| 616 Jung, Carl Gustav: Goldene Blüte. S. 19. 617 Ebd. 618 Jung, Carl Gustav: Wotan. In: GWJ 10. S. 203–218. 619 Ebd. S. 205.

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ihrem unterirdischen Gefängnis umdrehen und uns mit einem Ausbruch mit verheerenden Folgen bedrohen.620

Hier sind zwei Aspekte angesprochen: Zum einen birgt die Unterdrückung der naturhaften, triebgesteuerten Seite der Psyche in der christlichen Religion die Gefahr aller Verdrängungen – die eines unkontrollierten Ausbruchs. Das Christentum habe mit seiner Abspaltung der ‚bösen Triebe‘ vom Bereich des Göttlichen zu einer „gewaltsamen Instinktverdrängung“ geführt, die auch die „Geistigkeit hysterisch überspannt und vergiftet“621 habe. Zum anderen kommt in der Moderne verschärfend hinzu, dass im Zuge der Aufklärung eine Relativierung des religiösen Glaubens eingesetzt hat, während das religiöse Bedürfnis von einer solchen „intellektuellen Leugnung ganz unbeeinflußt bleibt“622. Wenn auch die religiösen Dogmen und Riten ihre ursprüngliche Bedeutung eingebüßt haben, so ist der Mensch durch den Abzug seiner religiösen Projektionen dennoch nicht seines religiösen Bedürfnisses entledigt. Wenn also die Autorität der christlichen Religion in der Moderne schwindet, so entsteht eine Leerstelle, die einerseits eine Freisetzung der bisher unterdrückten Aspekte der Psyche und andererseits eine Verlagerung der sinnstiftenden Instanz auf Ideologien und weltliche Heilsversprechen bewirkt. Es sei besonders die „erschreckende Symbolarmut“623 der Moderne dafür verantwortlich zu machen, dass sich das von der Religion hinterlassene Vakuum mit „absurden politischen Ideen“624 gefüllt habe. Auch die europäische Aufklärung macht Jung mitverantwortlich für die irrationalistischen Strömungen in der Moderne. Mit ihrer alleinigen Konzentration auf die menschliche Vernunftfähigkeit habe sie eine Einseitigkeit geschaffen, die keinen Raum mehr für die unbewusste, intuitive, schöpferische Seite der Psyche lasse. Dabei kritisiert Jung keinesfalls die Entwicklung zu einer bewussten Geisteshaltung, die auf Vernunfteinsicht ruht; jedoch warnt er vor einer Ausdifferenzierung der einen psychischen Qualität auf Kosten der anderen: Je kräftiger und selbstverständlicher das Bewußtsein und damit der bewußte Wille wird, desto mehr wird das Unbewußte in den Hintergrund gedrängt, und desto leichter entsteht die Möglichkeit, daß die Bewußtseinsbildung sich vom unbewußten Vorbild emanzipiert,

|| 620 Jung, Carl Gustav: Über das Unbewußte. S. 25. 621 Jung, Carl Gustav: Goldene Blüte. S. 54. 622 Jung, Carl Gustav: Psychologische Typen. S. 198. 623 Jung, Carl Gustav: Über die Archetypen. S. 23. 624 Ebd. S. 24.

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dadurch an Freiheit gewinnt, die Fesseln der bloßen Instinktmäßigkeit sprengt und schließlich in einem Zustand der Instinktlosigkeit oder -widrigkeit anlangt. […] Und schon lange vor der Katastrophe melden sich die Zeichen des Irrtums, nämlich als Instinktlosigkeit, als Nervosität, als Desorientiertheit […].625

Diese Symptome attestiert Jung der Moderne, die in einer Hybris der Rationalität ihren eigenen Verdrängungen zum Opfer zu fallen droht. Schon früh warnt er in einer Art Vorwegnahme der Dialektik der Aufklärung vor der „Gefahr des Umkippens“626 durch eine einseitige Konzentration auf die Rationalität auf Kosten der nicht-rationalen Anteile der Psyche. Die Problematik der Moderne aus der Sicht Jungs lässt sich also wie folgt knapp zusammenfassen: Die Moderne zeichnet sich aufgrund ihrer geistesgeschichtlichen Herkunft aus abendländischem Christentum und europäischer Aufklärung durch eine Überbetonung des rational operierenden Bewusstseins aus. Diese Herkunft hat zwar auf der einen Seite eine hoch ausdifferenzierte und zivilisierte Kultur hervorgebracht, andererseits aber auch zu einer kollektiven Verdrängung von Instinkten, Intuition und unbewussten Regungen geführt. Diese unbewussten Regungen, die Jung auch als „psychische Teilsysteme“627 bezeichnet, können im Rahmen einer fest verankerten Religion symbolisch nach außen projiziert werden – und zwar in einem durch Tradition verifizierten Prozess (Dogmen und Riten).628 Schwindet allerdings die Autorität der religiösen Systeme – wie dies in der Moderne geschieht – so können die psychischen Teilsysteme nicht mehr hinreichend assimiliert und damit domestiziert werden. Dies führt zu einer psychischen Gefahr: eine auf die alleinige Vorherrschaft der Vernunft gegründete Kultur bietet keine Mittel mehr, um diese unbewussten Regungen in geregelte Bahnen zu leiten. Die verdrängten Teilsysteme werden „zu einem unerklärlichen Störfaktor, den man dann schließlich irgendwo außen vermutet“ – und dies führt letztlich zu „kollektiver Wahnbildung, Kriegsursachen, Revolutionen, mit einem Wort zu destruktiven Massenpsychosen“629. Diese Diagnose, die Jung der Moderne stellt, sieht er bestätigt im aufkommenden Nationalsozialismus: von der Überhöhung eines heilsversprechenden ‚Führers‘, über den Rassen- und Naturkult bis hin zur Wiederbelebung archaischer Symbole scheint die nationalsozialistische Bewegung alle Hypothesen Jungs über die fällige Gegenbewegung zum Rationalismus zu bestätigen.

|| 625 Jung, Carl Gustav: Goldene Blüte. S. 21f. 626 Ebd. S. 22. 627 Ebd. S. 42. 628 Vgl. ebd. S. 43. 629 Jung, Carl Gustav: Goldene Blüte. S. 44.

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2.3.1.5 Exkurs: Jungs Verhältnis zum Nationalsozialismus Da Jungs eigenes Verhältnis zum Nationalsozialismus nicht immer eindeutig war, ist an dieser Stelle ein kurzer Exkurs zu diesem Thema notwendig630: Obwohl Jung nie ein Parteigänger war und Massenbewegungen grundsätzlich kritisch gegenüberstand, war er zunächst von der nationalsozialistischen ‚Bewegung‘ fasziniert; u.a. deshalb, weil sie seine Theorien über die Archetypen und das kollektive Unbewusste zu bestätigen schien. Hitler bezeichnet er in diesem Kontext als Verkörperung des Medizinmann-Archetyps, der seine Macht aus den Projektionen anderer gewinnt.631 1933 bringt ihm zudem die sogenannte ‚Zentralblattaffäre‘ den Ruf eines Sympathisanten ein: Jung hatte im Juni 1933 die Nachfolge Prof. Kretschmers als Präsident der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie übernommen und damit auch die Herausgeberschaft des Publikationsorgans Zentralblatt für Psychotherapie und ihre Grenzgebiete. Da die deutsche Landesgruppe des internationalen Vereins gleichgeschaltet und dem Psychiater Dr. Göring unterstellt wurde, regte Jung die weitergehende Internationalisierung des Vereins und die Bildung weiterer Landesgruppen an. Die aus der deutschen Landesgruppe ausgeschlossenen jüdischen Kollegen konnte er so auffordern, dem internationalen Verein anstelle der Landesgruppe beizutreten.632 Um die Psychoanalyse in Deutschland als Wissenschaft aufrecht erhalten zu können, akzeptierte Jung jedoch den gleichgeschalteten deutschen Verein als Landesgruppe und erlaubte die Drucklegung eines Deutschen Beihefts für das Zentralblatt, in dem Göring seine Solidarität mit Hitler ausdrücken konnte. Durch Nachlässigkeit oder fehlendes Einschreiten Jungs als Herausgeber kam dieses Beiheft jedoch auch in der internationalen Ausgabe des Zentralblatts heraus. Jungs Bedauern über diesen Fehler, den er nach dem Erscheinen des Blattes in einem Brief an die Neue Züricher Zeitung ausdrückte, verhallte ungehört angesichts der Tatsache, dass Jungs Name als Herausgeber über einem nationalsozialistischen Manifest stand.633 In Jungs eigenem Geleitwort zum Zentralblatt 1933634 legt er besonderen Wert darauf, dass „Psychologie als Wissenschaft mit Politik nichts zu tun“635 habe. Auch

|| 630 Zu Jungs Verhältnis zum Nationalsozialismus vgl. Grossman, Stanley: C. G. Jung and National Socialism. In: Bishop: Jung in contexts. S. 92–121; McLynn, Frank: Carl Gustav Jung. Kap. 18. S. 344–367. 631 Vgl. McLynn, Frank: Carl Gustav Jung. S. 352. 632 Vgl. Brief Jungs an Dr. James Kirsch vom 26.05.1934. In: Jung, Carl Gustav: Briefe. Bd.1. Hg. von Anelia Jaffé. Freiburg i.Br. 1972. (=BJ 1). S. 209. 633 Vgl. McLynn, Frank: Carl Gustav Jung. S. 360. 634 Jung, Carl Gustav: Verschiedenes Geleitwort. In: GWJ 10. S. 581–582. 635 Ebd. S. 581.

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wenn er hier weiterhin auf „Verschiedenheiten“ zwischen „germanischer und jüdischer Psychologie“636 beharrt – die er allerdings seit 1918 auch für alle anderen ‚Volksstämme‘ ebenso annimmt –, so solle damit doch „keine Minderbewertung der semitischen Psychologie gemeint sein“637. Jung vertrat zeitlebens die Theorie, dass es psychologische Unterschiede zwischen den Völkern gebe, die in ihrer Herkunft begründet liegen – jedoch war Jung kein Antisemit. Darauf angesprochen, dass seine Überzeugung von unterschiedlichen Volkspsychologien als Antisemitismus ausgelegt werden könnte, antwortete er knapp: „Die Leute müssen mich doch für reichlich dumm halten, wenn sie meinen, daß ich so etwas Idiotisches behaupten könne.“638 Er versuchte seine jüdischen Freunde und Kollegen nach Kräften vor Verfolgung zu beschützen und veranlasste trotz seines Bruchs mit Freud eine Geldsammlung, um ihm zur Flucht aus Österreich zu verhelfen (was dieser jedoch ablehnte).639 Nicht zu leugnen ist jedoch Jungs Faszination vom Nationalsozialismus, zu dem er sich nicht immer eindeutig äußert. Spätestens ab 1936 bezieht er jedoch auch öffentlich Stellung zu den Ereignissen in Deutschland und analysiert den Nationalsozialismus aus einer psychologischen Perspektive als Phänomen der Moderne: In einem Brief an Albert Oppenheimer beschreibt er die Stimmung in Deutschland als „das Aufflammen einer mystischen Emotionalität, welche man seit dem Mittelalter als verschollen erklärt hatte“640, also als Regression in überwunden geglaubter Verhaltensmuster. Er begreift die nationalsozialistische ‚Machtergreifung‘ nicht primär als Resultat politischer, historischer oder ökonomischer Prozesse, sondern als Ausdruck der deutschen Volkspsychologie, genauer gesagt als kollektive Geisteskrankheit.641 Ab 1936 bringt Jung den Nationalsozialismus auch öffentlich mit seiner Archetypenlehre in Verbindung und vertritt die These, dass die Deutschen vom durch das Christentum verdrängten Archetypus des Wotan besessen seien. In seinem Vortrag über Den Begriff des kollektiven Unbewußten, den er im Oktober 1936 in London hält, erläutert Jung die Zwanghaftigkeit, die archetypische Vorstellungen auch im modernen Menschen hervorrufen können, wenn sie nicht als solche erkannt und in produktive Bahnen geleitet werden:

|| 636 Ebd. 637 Ebd. S. 582. 638 Brief Jungs an Dr. James Kirsch vom 26.05.1934. In: BJ 1. S. 209. 639 Vgl. McLynn, Frank: Carl Gustav Jung. S. 416f. 640 Brief Jungs an Albert Oppenheimer vom 10.10.1933. In: BJ 1. S. 170. 641 Vgl. Jung, Carl Gustav: Nach der Katastrophe. In: GWJ 10. S. 219–244. Hier. S. 234.

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Wenn sich im Leben etwas ereignet, was einem Archetypus entspricht, wird dieser aktiviert und es tritt eine Zwanghaftigkeit auf, die, wie eine Instinktreaktion, sich wider Vernunft und Willen durchsetzt oder einen Konflikt hervorruft, der bis zum Pathologischen, das heißt zur Neurose, anwächst. […] Erleben wir nicht eben mit, wie eine ganze, große Nation ein archaisches Symbol wiederbelebt, ja sogar archaische Religionsformen – und wie diese neue Emotion den Einzelnen in einer revolutionären und umwandelnden Weise beeinflußt?642

Die nationalsozialistische swastika deutet Jung als Regressionssymbol, das mit seiner Drehung nach links das Bedürfnis zur Rückkehr in unbewusste, archaische Zustände ausdrückt.643 In seinem ebenfalls 1936 veröffentlichten Essay Wotan identifiziert er darüber hinaus den germanischen „Sturm- und Rauschgott“644 als archetypische Grundlage der nationalsozialistischen Bewegung. Die Deutschen seien als Kollektiv von dem „unruhevollen, gewalttätigen und stürmischen Charakter“645 des Wotan-Archetyps ergriffen, woraus sich die Brutalisierung des bis dahin individualisierten bürgerlichen Menschen erklären lasse, der nun in der Gemeinschaft seinen verdrängten ‚bösen Trieben‘ freien Lauf lassen könne. Auf das Bedeutungsvakuum der Moderne reagiere das Kollektiv mit einem Rückgriff auf mythische Vorstellungen, deren Entstehung lange vor dem eigentlichen Konfliktzeitpunkt liegen. So sei der Wotan-Archetypus, den Jung überdies mit dem des Dionysos parallelisiert, über ein Jahrtausend hinweg von der christlichen Religion ins Unbewusste verdrängt worden. Mit dem Autoritätsverlust des christlichen Dogmas kehre das Kollektiv jedoch zum alten Erklärungsmodell zurück, sobald es sich einer Konfliktsituation gegenübersieht, die mit den „bekannten Kriterien nicht mehr zu bewältigen“646 ist: Ein Archetypus ist etwas wie ein alter Stromlauf, in welchem die Wasser des Lebens lange flossen und sich tief eingegraben haben. Und je länger sie diese Richtung behielten, desto wahrscheinlicher ist es, daß sie früher oder später wieder dorthin zurückkehren.647

Zum Problem wird ein Archetypus in der individuellen oder der kollektiven Psyche also, wenn dieser keine Strategien zum Umgang mit einer solchen Vorstellung zur Verfügung stehen. Da die Religionen einen Großteil ihrer Kompetenz zur Symboldeutung eingebüßt haben und dem Unbewussten mit einer rein || 642 Jung, Carl Gustav: Begriff des kollektiven Unbewußten. S. 60f. 643 Vgl. Jung, Carl Gustav: Zur Empirie des Individuationsprozesses. In: GWJ 9,1. S. 309–372. Hier. S. 339. 644 Jung, Carl Gustav: Wotan. S. 204. 645 Ebd. 217. 646 Ebd. S. 214. 647 Ebd.

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rationalen Analyse nicht beizukommen ist, zeigt sich der moderne Mensch von archetypischen Bildern „viel eher besessen, als daß [er] sie besäße“648. So zeigt der Erfolg des Nationalsozialismus als „Einbruch des Unbewußten in die Räume einer scheinbar leidlich geordneten Welt“649 die Gefahren auf, die in einer rationalistischen Vereinseitigung des Bewusstseins liegen. 2.3.1.6 Fazit Dieses Beispiel zeigt abschließend noch einmal die enorme Relevanz, die Jung dem mythischen Denken auch noch in der Moderne zuweist: Es ist für Jung kein historisch überwundenes Phänomen, sondern eine in jedem Menschen vorhandene Anlage zu symbolisch-phantastischem Denken. Die Fähigkeit zur Symbolschöpfung bewertet Jung sogar als höchste geistige Synthetisierungsleistung, die eine Brücke zwischen unserem Tagesbewusstsein und dem allen Menschen gemeinsamen kollektiven Unbewussten schlagen kann. Der produktive Umgang mit symbolischem Denken ermöglicht so – als ein Akt des ‚Überschreitens‘ des rein rationalen Bewusstseins – das Vordringen zu einem höheren Bewusstsein, das auf rein rationalem Wege nicht erreicht werden kann. Gleichzeitig stellen verdrängte oder unverstandene archetypische Vorstellungen jedoch auch eine virulente psychische Gefahr dar: in einer rein auf Verstandeseinsicht ausgerichteten Kultur, die mythisches Denken und religiöse Projektion für überwundene Geisteszustände hält, fehlen die Strategien zum Umgang mit den Regungen des Unbewussten. Unbewusste psychische ‚Teilsysteme‘ können so weder in einem religiösen Kontext nach außen projiziert, noch psychologisch gedeutet und in die Persönlichkeit integriert werden, da sie sich dem rein rationalen Verständnis entziehen. In diesem Fall, der in der Moderne eintritt, können archetypische Symbole und mythische Vorstellungen zum Auslöser kollektiver Wahnvorstellungen werden. Entsprechend wichtig erscheint Jung daher ein Umdenken in der modernen westlichen Kultur, das er zum einen immer wieder im Vergleich mit der östlichen Tradition und zum anderen durch die Anstöße der Psychoanalyse zu veranschaulichen sucht. Im Gegensatz zur extravertierten westlichen Geisteshaltung, die aufgrund ihrer materialistisch-rationalistischen Denkstrukturen die „psychische Realität“650 vernachlässige, wisse die introvertierte östliche Kulturtradition um diese Realitäten und habe daher wirkungsvolle Strategien entwi|| 648 Jung, Carl Gustav: Zum psychologischen Aspekt der Korefigur. In: GWJ 9,1. S. 197–220. Hier: S. 203. 649 Jung, Carl Gustav: Nach der Katastrophe. S. 238. 650 Jung, Carl Gustav: Große Befreiung. S. 517.

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ckelt, um mit den Erzeugnissen des Unbewussten produktiv umzugehen. Der von Jung stereotypisierte „östliche Mensch“ wisse, dass „die Erlösung auf dem Werk beruht, das einer an sich selber tut“651. Jung warnt jedoch vehement vor einem „bequeme[n] Nachäffen“652 dieser östlichen Einstellung; der Westen müsse seinen eigenen Weg finden, die Konfrontation mit dem Unbewussten zu gestalten: Wenn es einem durch Introspektion und bewußte Realisierung von unbewußten Komponenten möglich wird, den psychischen Zustand umzugestalten und so die Lösung von schmerzlichen Konflikten zu erreichen, scheint man berechtigt, von ‚Selbstbefreiung‘ zu sprechen.653

Hier sieht Jung die Aufgabe der Psychoanalyse: In einem geradezu humanistischen Bekenntnis bestimmt Jung in der überarbeiteten Version der Symbole der Wandlung seine Aufgabe als Arzt darin, „die Leute wieder in den Stand zu setzten, symbolisch zu denken“654. Wenn er als „Arzt und Naturforscher die komplizierten religiösen Symbole“ dem modernen Verstehen zugänglich mache, so geschehe dies „einzig und allein zu dem Zwecke, die Werte, welche sie repräsentieren, durch das Verständnis zu erhalten“655. Das heißt nicht, dass rationales Denken dadurch ersetzt oder abgelöst werden soll – sondern es wird um eine weitere ‚transrationale‘ Dimension ergänzt, die das rationale Bewusstsein zugleich einschließt und überschreitet. So schafft die Psychoanalyse also keinen ‚neuen Mythos‘, wie Jung noch 1910 verkündet hatte, aber sie ist, Jungs Auffassung zufolge, ein modernes Instrument, das die Bedeutung mythischer Symbole für die psychische Entwicklung des Menschen erhalten kann. Mythisches Denken als Ausdruck psychischer Wahrheit bildet so einen wirksamen Kontrapunkt zum Rationalismus der Moderne, das jenseits geistesfeindlicher irrationalistischer Strömungen steht.

|| 651 Jung, Carl Gustav: Goldene Blüte. S. 61. 652 Ebd. S. 56. 653 Jung, Carl Gustav: Psychologie und Religion. S. 529. 654 Jung, Carl Gustav: Symbole der Wandlung. S. 387. 655 Jung, Carl Gustav: Symbole der Wandlung. S. 387.

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2.3.2 Karl Kerényi (1897–1973) 2.3.2.1 Humanismus und Psychologie Der ungarische Altphilologe und Religionswissenschaftler Karl Kerényi verbindet C. G. Jungs psychologische Mythendeutung mit der humanistischen Tradition der Allegorese. Sein Entwurf einer am Humanismus orientierten Mythenforschung, bei der Mythen als „seelische Realitäten“656 interpretiert werden, wird von Thomas Mann und Hermann Hesse mit besonderem Interesse aufgenommen. An beide schickt er seine Schrift Über Unsterblichkeit und Apollonreligion (1934) und eröffnet damit mit beiden Autoren Briefwechsel, die sich über zwei Jahrzahnte erstrecken.657 Die Themen, die in diesen Briefwechseln angesprochen werden, durchziehen Kerényis gesamtes Lebenswerk: Die Verbindung von Humanismus, Mythos und Psychologie kennzeichnen seinen Ansatz, mit dem er sich bereits früh von der klassischen Schulphilologie abzugrenzen beginnt. Nach seinem Studium der Altphilologie und der Promotion an der Universität Budapest war Kerényi zunächst für einige Jahre als Gymnasiallehrer angestellt, bevor er 1934 nach seiner Habilitation als Professor für Altertumskunde an die Universität Pécs berufen wurde. Als sich auch in seinem Heimatland Ungarn das politische Klima nach rechts zu verschieben begann, nahm Kerényi ein Angebot des Außenministeriums an, ein Jahr mit diplomatischem Status in der Schweiz zu leben und zu lehren. Nachdem jedoch 1944 die Deutschen in Ungarn einmarschiert waren, kehrte Kerényi – abgesehen von einer kurzen Reise nach Ungarn 1947 – nicht mehr in seine Heimat zurück. 1962 wurde er in der Schweiz eingebürgert und wohnte in unmittelbarer Nähe von Hermann Hesse, Thomas Mann und C. G. Jung.658 Mit letzterem befand sich Kerényi in regem Austausch: er war seit 1941 an den jährlich stattfindenden EranosTagungen beteiligt, war Mitgründer des C. G. Jung-Instituts in Küsnacht und veröffentlichte gemeinsame Schriften mit dem Psychologen. Die beiden Abhandlungen Das göttliche Kind und Das göttliche Mädchen wurden 1942 zusammengefasst unter dem Titel Einführung in das Wesen der Mythologie veröffentlicht.659 Kerényis Offenheit für die psychologische Mythendeutung hängt eng mit seinem Engagement für einen ‚neuen Humanismus‘ zusammen, in dessen || 656 Kerényi, Karl: Apollon. Studien über antike Religion und Humanität. Wien u.a. 1937. S. 26. 657 Vgl. Kerényi, Karl/Mann, Thomas: Gespräch in Briefen. Zürich 1960.; Kerényi, Karl/Hesse, Hermann: Briefwechsel aus der Nähe. Hg. von Magda Kerényi. München/Wien 1972. 658 Zur Biographie Kerényis vgl.: Palomé, Edgar C.: Karl Kerényi. A biographical sketch. In: Ders. (Hg.): Essays in memory of Karl Kerényi. Washington D.C. 1984. S. 7f. 659 Kerényi, Karl/Jung, Carl Gustav: Einführung in das Wesen der Mythologie. Das göttliche Kind. Das göttliche Mädchen. Zürich 1951.

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Rahmen er das Studium der antiken Quellen als produktive Auseinandersetzung mit der menschlichen Natur verstanden sehen will. Die Grundfrage, an der sich Kerényis Forschungen orientieren, lautet dementsprechend: Wie könnte die Erforschung der Antike dem besseren Wissen um den Menschen und dadurch auch einer besseren Erziehung zur Humanität dienlich sein?660

Dieser Frage gehen seine zahlreichen Schriften zur Mythologie nach, sie durchzieht sein gesamtes Lebenswerk. Neben den großen Studien zu Apollon und Dionysos veröffentlicht Kerényi auch zahlreiche kleinere Abhandlungen zu einzelnen Gottheiten und die umfassende Übersichtsdarstellung Über die Mythologie der Griechen (1951-58). Sein Bekenntnis zum Humanismus kommt am deutlichsten im programmatischen Aufsatz Bachofen und die Zukunft des Humanismus (1945) und in der Vortragssammlung Geistiger Weg Europas (1955) zum Ausdruck. Die Grundlagenschrift Umgang mit Göttlichem (1955) fasst seinen Ansatz zur Mythenforschung zusammen, der die psychologische Mythendeutung mit einem humanistischen Impetus verbindet. Um diesen Zusammenhang näher zu erläutern, soll im Folgenden zunächst Kerényis Begriffsverständnis von ‚Mythos‘ und ‚Mythologie‘ untersucht werden, bevor im zweiten Schritt sein Verständnis von Mythenforschung als humanistischer Wissenschaft nachvollzogen werden kann.661

|| 660 Kerényi, Karl: Grundbegriffe und Zukunftsmöglichkeiten des Humanismus. Ein Brief an junge Humanisten. In: Ders. (Hg.): Humanistische Seelenforschung. Werke in Einzelausgaben. Bd. 1. München/Wien 1966. S. 368–382. Hier S. 375. 661 Die Forschungslage zur Kerényis Ansatz ist relativ dürftig. Der von Renate Schlesier und Roberto Sanchino Martínez herausgegebene Band „Karl Kerényi im Kontext des 20. Jahrhunderts“ (Locarno 2006) enthält einige Beiträge zu Kerényis Methodik und Mythosverständnis, sowie zu seinem Verhältnis zu Thomas Mann und Carl Gustav Jung. Für diese Arbeit zu Rate gezogen wurden: Edler, Markus: Thomas Mann und Karl Kerényi. In: Schlesier, Renate/Sanchino, Martínez, Roberto (Hg.): Karl Kerényi im Kontext des 20. Jahrhunderts. Locarno 2006. S. 43–54; Graf, Fritz: Griechische und römische Mythologie bei Karl Kerényi. In: Ebd. S. 71–82; Jamme, Christoph: Kerényi und die deutsche Philosophie. In: Ebd. S. 33–41; Treml, Martin: ‚Wissenschaft der Realitäten der Seele‘. Religion und Psychologie im Werk von Karl Kerényi. In: Ebd. S. 125–148. Einige wenige Studien setzen sich zudem mit Kerényis humanistischen Ausrichtung auseinander, so beispielsweise: Heinrichs, Hans-Jürgen: Töchter der Sonne. Karl Kerényi und die Mythologie. In: Merkur 51 (1997). S. 734–739; Kleinstück, Johannes: Kerényis humanistic approach to ancient religion. In: Palomé, Edgar C. (Hg.): Essays in memory of Karl Kerényi. Washington D.C. 1984. S. 66–74.

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2.3.2.2 Mythos und Mythologie In seinem umfangreichen Oeuvre beleuchtet Kerényi unterschiedliche Aspekte seines Verständnisses von ‚Mythos‘. Seine grundlegende Schrift Umgang mit Göttlichem662eignet sich gut, um mit einer Charakterisierung seines Mythosbegriffs zu beginnen, da hier die deutlichste Unterscheidung von ‚Mythos‘ und ‚Mythologie‘ getroffen wird. Ergänzt wird die Definition durch Äußerungen aus dem gemeinsam mit C. G. Jung veröffentlichten Band Einführung in das Wesen der Mythologie, seiner Apollon-Schrift und dem Band Auf den Spuren des Mythos663. Der Begriff ‚Ursprung‘ durchzieht Kerényis Schriften zum Phänomen Mythos durchweg und kann als eine Art ‚kleinster Nenner‘ seines Mythosbegriffs bezeichnet werden. Mythen, so Kerényi, widmen sich stets der „Ursprungsfrage“664. Sie zeigen die ‚Anfänge‘ typischer Lebenssituationen und -konstellationen auf und beanspruchen damit, diese auf eine typische Art und Weise darzustellen. Besonders kosmogonische Mythen oder solche vom ‚ersten Menschen‘ thematisieren das „Anfängliche – als Zustand gefaßt der glückliche Urzustand, als Stoff der Grundstoff des Lebens und des Todes“665. Mit dieser ersten Charakterisierung wird bereits eines deutlich: Kerényi hält den Inhalt von Mythen für das entscheidende Kriterium zu ihrer Definition, nicht ihre Form. So grenzt er sich auch explizit gegen formalistische Ansätze zur Mythendeutung ab, wie sie in seinen Augen Ernst Cassirer und Lucien Lévy-Bruhl vertreten.666 Kerényi beruft sich dabei auf Erkenntnisse der zeitgenössischen ethnologischen Forschung über Volksgruppen mit ‚intakter Mythologie‘ (so etwa auf Bronislaw Malinowski). Diesen Forschungen sei zu entnehmen, dass […] der Mythos bei denjenigen, bei denen er noch lebt, auf die primäre und direkte Weise eben das ausdrückt, was er erzählt, also keineswegs symbolisch gemeint wird. […] Die Mythologie ist nicht Form, sie ist Stoff.667

Kerényi setzt sich an dieser Stelle nicht weiter mit Cassirers Theorie der ‚symbolischen Formen‘ auseinander, sondern kommt lediglich zu dem Schluss, dass || 662 Kerényi, Karl: Umgang mit Göttlichem. Über Mythologie und Religionsgeschichte. Göttingen 1955. 663 Kerényi, Karl (Hg.): Auf den Spuren des Mythos. Werke in Einzelausgaben. Bd. 2. München/Wien 1967. 664 Kerényi, Karl: Umgang mit Göttlichem. S. 22. 665 Kerényi, Karl: Bachofen und die Zukunft des Humanismus. Mit einem Intermezzo zu Nietzsche und Ariadne. Zürich 1945. S. 21. 666 Vgl. Kerényi, Karl: Umgang mit Göttlichem. S. 30f. 667 Ebd. S. 31.

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Mythen „auf eine bloße ‚Denkform‘ nie vollständig reduziert werden können“668, da sie eine unmittelbare Relevanz für das Leben besäßen, die nicht in einem Akt der Reflexion aufzulösen sei. Der Mythenerzähler reduziere seine Stoffe nie auf „ein bloßes Symbol“669 im landläufigen Sinne des Wortes, sondern Mythen seien – auch ihrer etymologischen Bedeutung nach – als „Wort vom Tatsächlichen“670 zu verstehen. Im Vorwort zum Band Auf den Spuren des Mythos präzisiert Kerényi diese Charakterisierung des Mythos als autoritative Aussage: Mythos ist das Sein als Wort-Gehalt, nicht völlig außerhalb und nicht völlig im Worte, sondern in der Bearbeitung, die geschieht und nicht getan wird: ein noch nicht im Wort stehen gebliebener Gehalt, doch Gehalt, nicht für ein gewöhnliches, sondern für ein hohes, für sich ausgesprochenes, festliches Wort […].671

Der Mythos als ‚hohes Wort‘ zeichnet sich also dadurch aus, dass er von seinem Stoff – seinem ‚Gehalt‘ – bestimmt wird, der eine elementare Bedeutung für das menschliche Sein besitzt, weil er diesem direkt entspringt. Gleichzeitig ist dieser ‚Gehalt‘ jedoch nicht festgeschrieben, wie es bei einer Begriffsbedeutung der Fall wäre, sondern er befindet sich in permanenter Bearbeitung, er ist ‚noch nicht im Wort stehengeblieben‘. Die Bestimmung dieses ‚Gehalts‘ wird etwas deutlicher, wenn man Kerényis bereits 1937 erschienene Apollon-Schrift hinzuzieht, in der er diesen Gehalt als „seelische Realitäten“672 bezeichnet. Darunter versteht Kerényi intersubjektive Erfahrungen, die „von allen irgendwie real befunden“673 werden, weil sie allen Menschen gemeinsam sind. Diese Erfahrungen sind der Stoff der Mythen, die nicht als subjektive Schöpfungen eines Einzelnen zu betrachten sind. Der Inhalt von Mythen drehe sich um typische menschliche Erfahrungsgehalte, die in Form von ‚Urbildern‘ gestaltet sind. So zeigen Mythen – nach Kerényi – die wiederkehrenden Grundkonstellationen des menschlichen Lebens auf und machen sie anschaulich, indem sie in eine mythische ‚Urzeit‘ versetzt werden, die nicht etwa chronologisch vor unserer Zeit liege, sondern ‚immer da‘ sei. In der Sphäre des Typischen berichten Mythen von einem „zeitlose[n] Ursprungsbereich, an den das menschliche Dasein

|| 668 Ebd. 669 Ebd. S. 32. 670 Ebd. 671 Kerényi, Karl: Auf den Spuren des Mythos. S. 12. 672 Kerényi, Karl: Apollon. S. 26. 673 Ebd. S. 31.

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zu jeder Zeit angrenzt“674. Aus dieser Charakteristik von Mythen leitet Kerényi auch deren „sinngebende“675 Funktion ab, da sie im Medium einer zeitlosen Urzeit von Begebenheiten erzählen, die „sich durch ihr Wiedererstehen in ewigen Wiederholungen als unvergänglich“676 erweisen. Als Beispiel nennt Kerényi in diesem Zusammenhang oft kosmogonische Mythen wie den von der ‚himmlischen Hochzeit‘, der die menschliche Paarbeziehung präfiguriert677, oder die mythische Gleichsetzung des göttlichen Kindes mit dem Sonnenaufgang678. Innerhalb der Mythologie ist der Allegorien-Wert eines mythologischen Bildes wie des Urbildes all der göttlichen Kinder und der Allegorien-Wert der Naturphänomene – der aufgehenden Sonne und eines eben geborenen Kindes – gegenseitig gleich […]. ‚Allegorie‘ bedeutet, daß das eine für das andere gesagt werden kann. Auf beide Weisen – auf die Weise der aufgehenden Sonne und der menschlichen Neugeborenen und auf die Weise des mythologischen Kindes – spricht die Welt selbst über Ursprung, Geburt und Kindheit. Sie spricht die Symbolsprache: […] ‚Symbol‘ ist nicht ‚Allegorie‘, ist kein bloßes AndersSagen, sondern ein durch die Welt selbst dargebotenes Bild. […] Die mythologischen Bilder als Allegorien von Naturphänomenen auffassen: dies würde so viel bedeuten, wie die Mythologie ihres sinngebenden und belebenden Mittelpunktes berauben, berauben jenes zeitlos gültigen Weltgehalts.679

Aus diesem Abschnitt wird deutlich, dass Kerényi genau wie Jung zwischen den Begriffen ‚Allegorie‘ und ‚Symbol‘ scharf unterscheidet: Während eine Allegorie „durch bestimmte Begriffe und immer nur diese Begriffe ersetzbar“680 ist, sind Symbole „Abbreviaturen“681, die einen Sinnzusammenhang repräsentieren, der nicht gänzlich in eine rationale Begriffssprache übersetzt werden kann. Ein echtes Symbol ist daher – genau wie bei Jung – nicht einfach ‚entzifferbar‘, indem man seine Komponenten übersetzt. Wenn Kerényi davon spricht, dass die ‚Welt‘ sich in Symbolsprache ausdrücke, so wird seine Bestimmung des

|| 674 Kerényi, Karl: Umgang mit Göttlichem. S. 29. 675 Kerényi, Karl: Über Ursprung und Gründung in der Mythologie. In: Ders./Jung, Carl Gustav: Einführung in das Wesen der Mythologie. Das göttliche Kind. Das göttliche Mädchen. Zürich 1951. S. 9–38. Hier S. 13. 676 Ebd. S. 16. 677 Vgl. Kerényi, Karl: Apollon. S. 30. 678 Kerényi, Karl: Das Göttliche Kind. In: Ders./Jung, Carl Gustav: Einführung in das Wesen der Mythologie. Das göttliche Kind. Das göttliche Mädchen. Zürich 1951. S. 39–104. Hier S. 71f. 679 Ebd. 680 Kerényi, Karl: Symbolismus in der antiken Religion. In: Ders. (Hg.): Auf den Spuren des Mythos. Werke in Einzelausgaben. Bd. 2. München/Wien 1967. S. 213–220. Hier S. 219. 681 Ebd. S. 220.

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Mythos als „Qualität des Seins“682, die nicht auf ein ‚bloßes Symbol‘ im landläufigen Sinne des Wortes reduziert werden kann, noch einmal präzisiert. Der Mythos hat nach Kerényi einen ‚zeitlos gültigen Weltgehalt‘, weil er direkt dem Sein entspringt und kein System künstlich konstruierter Allegorien darstellt, die zur Erklärung von Phänomenen herangezogen werden soll. Ebenso wie C. G. Jung weist Kerényi dementsprechend eine naturalistische Deutung von Mythen zurück, die in ihnen eine Art primitive Form der Naturerklärung sehen. Er teilt mit Jung die Auffassung, dass in mythischen Erzählungen bestimmte typische ‚seelische Realitäten‘ zum Ausdruck kommen. Diese nennt Kerényi allerdings ‚Urbilder‘ und vermeidet damit Jungs Begriff der ‚Archetypen‘. Die Wahl eines abweichenden Begriffs verweist wohl darauf, dass Kerényi Jungs These vom ‚kollektiven Unbewussten‘ letztlich nicht für notwendig erachtet, um die Ähnlichkeit der mythischen Motive in verschiedenen menschlichen Kulturen zu erklären.683 Diese Übereinstimmungen beruhen nach Kerényi schlicht und einfach auf dem „Gemeinsamen, das die Menschen in sich und um sich“684 haben. So verwundert es nicht, dass Kerényi in Bezug auf den ‚Wahrheitsgehalt‘ von Mythen zu einem ähnlichen Ergebnis kommt wie Jung – auch er hält Mythen nicht für eine prärationale Form der Welterklärung: [Mythen erzählen] nicht etwas, was auch unmythologisch ebenso gut und ebenso voll ausgedrückt werden könnte. Mythologie ist keine bloße Ausdrucksweise, an deren Stelle auch eine andere, einfachere und verständlichere hätte gewählt werden können […]. Wie die Musik auch einen sinnvollen Aspekt hat, der auf dieselbe Weise befriedigt, wie eine sinnvolle Ganzheit befriedigen kann, ebenso jedes echte Mythologem. Dieser Sinn ist deshalb so schwer in die Sprache der Wissenschaften zu übersetzen, weil er völlig nur auf mythologische Weise ausgedrückt werden konnte.685

Aus dieser Überzeugung heraus weist Kerényi auch die aufklärerische Hierarchisierung von mythos und logos zurück, da beide unterschiedliche Wege zur Erkenntnis beschreiben.686 Auch wenn Kerényis Mythosbegriff nahe an dem Jungs liegt, entwickelt er darüber hinausgehend jedoch einen ganz eigenen Begriff von ‚Mythologie‘. Entgegen der landläufigen Lesart des Begriffs, die ihn als Zusammensetzung aus mythos und logos – also als Mythenlehre – versteht, leitet Kerényi den Be|| 682 Kerényi, Karl: Umgang mit Göttlichem. S. 35. 683 Zu Kerényis Auseinandersetzung mit dem Begriff ‚Archetypus‘ vgl. auch Graf, Fritz: Griechische und römische Mythologie. S. 77ff. 684 Kerényi, Karl: Umgang mit Göttlichem. S. 35. 685 Kerényi, Karl: Über Ursprung und Gründung. S. 12. 686 Kerényi, Karl: Umgang mit Göttlichem. S. 37.

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griff von mythus legein ab, also ‚Mythen lesen‘ bzw. ‚Mythen sagen‘.687 Der Mythos als zugrundeliegender Stoff wird durch die Mythologie also erst geformt und variiert: Mythologie ist für Kerényi die „Bewegung dieser Materie: etwas Festes und zugleich doch Bewegliches“688, die sich als Gattung zwischen Dichtung, Malerei und Musik bewegt und den mythischen Stoff mit seinen konstant bleibenden „Grundmotiv[en]“689 variierend bewahrt und fortschreibt. Er betont zudem an zahlreichen Stellen seines Werkes, dass Mythologie nicht mit „primitive[r] Wissenschaft“ oder „primitive[r] Philosophie“690 zu verwechseln sei. Trotzdem wird ihr ein normativer Anspruch zugeschrieben, der zunächst im Kontrast zu ihrer Variabilität zu stehen scheint: er liegt darin, dass Mythologie „begründet“691. Mythologisches Begründen ist jedoch nicht mit einer wissenschaftlichen Methodik zu vergleichen, sondern entspricht einem seelischen ‚auf den Grund gehen‘ durch ein erzählenden Hineinversetzen in „Ursprung und Urzeit“692. Durch das Erzählen solcher Ursprungsgeschichten finde zugleich eine „Art Versenkung in uns“693 statt, die zu den „Urgründen der Menschenseele“694 hinführe. Diese Funktion des ‚Begründens‘ durch das Erzählen von typisch wiederkehrenden Konstellationen macht letztlich den psychologischen Nutzen jeder Mythologie aus. Hierin besteht die große Übereinstimmung zwischen Kerényis und Jungs Konzeptionen: beide führen Göttergestalten und mythische Erzählungen auf die menschliche Seele zurück und fokussieren ihre Mythenforschung auf die Entwicklung „unserer Ganzheit“695 als Menschen. Darin liegt der Ausgangspunkt für Kerényis Indienstnahme der Mythologie für eine humanistische Wissenschaft, die im Folgenden zu erörtern sein wird. 2.3.2.3 Mythenforschung als humanistische Wissenschaft Der Bezug auf den Menschen als Fixpunkt seiner Mythenforschung steht im Zentrum von Kerényis Bemühungen, diese als Teil einer humanistischen Wissenschaft zu etablieren. Von seinem streng an der klassischen Schulphilologie || 687 Vgl. ebd. S. 38. 688 Kerényi, Karl: Über Ursprung und Gründung. S. 11. 689 Ebd. S. 12. 690 Kerényi, Karl: Umgang mit Göttlichem. S. 41. 691 Kerényi, Karl: Mythologie und Gnosis. In: Ders. (Hg.): Humanistische Seelenforschung. Werke in Einzelausgaben. Bd. 1. München/Wien 1966. S. 150–202. Hier S. 159. 692 Kerényi, Karl: Über Ursprung und Gründung. S. 17. 693 Ebd. S. 18. 694 Kerényi, Karl: Geistiger Weg Europas. Fünf Vorträge über Freud, Jung, Heidegger, Thomas Mann, Hofmannsthal, Rilke, Homer und Hölderlin. Zürich 1955. S. 15. 695 Kerényi, Karl: Über Ursprung und Gründung. S. 18.

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ausgerichteten Lehrer Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf wendet er sich schon früh in seiner akademischen Karriere mit dem Verweis auf dessen mangelnden Fokus auf das Menschliche in der Mythologie ab. Im Vorwort des Bandes Humanistische Seelenforschung legt Kerényi dies folgendermaßen dar: Was mir an der traditionellen Vertretung meiner Wissenschaft überall […] mißfiel, und mich zur Opposition anstachelte, war ein allgemeiner Leerlauf, mit dem Anspruch, der höchste Grad der Wissenschaftlichkeit zu sein – und ohne Perspektiven auf eine menschlich wichtige Entwicklung.696

Nach seiner Griechenlandreise 1929, bei der er auch Walter F. Otto zum ersten Mal begegnet, distanziert er sich von der altphilologischen Wissenschaftsauffassung, die er als dogmatisch empfindet und ihr einen „Mangel an einer umfassenderen, an der Menschheit interessierten Humanität“697 attestiert. Die Begriffe Humanismus und Humanität hängen für Kerényi untrennbar zusammen: für ihn hat eine humanistische Wissenschaft die Erziehung zum ‚ganzen Menschen‘ zum Ziel. So definiert er Humanismus allgemein als Denkweise, die sich dadurch auszeichnet, „über alles in der Welt vom Gesichtspunkte des Menschen aus zu denken“698 und mit dem Bestreben Hand in Hand geht, „die Welt, den Denkenden selbst mitinbegriffen, menschenwürdiger zu gestalten“699. Die Erforschung von Mythen soll im Dienste dieser an Humanität gekoppelten humanistischen Wissenschaft stehen. Damit verbunden sind zwei grundsätzliche Neuerungen im Umgang mit Mythologie in Kerényis Sinne: Zum einen vollzieht er in seiner Analyse mythischer Gestalten und Geschichten eine Art Säkularisierung – die im Mythos beschriebene Sphäre des Heiligen bzw. Göttlichen wird anthropologisch interpretiert. Zum anderen möchte Kerényi die altphilologische Methodik für den psychologischen Ansatz zur Mythendeutung öffnen und schlägt ein methodisches Umdenken hinsichtlich des Wissenschaftsverständnisses in seiner Disziplin vor. Bei seinen Mythenanalysen vermeidet Kerényi explizit „die theologischen und positivistischen Spielarten der Metaphysik“, indem er Götter und Heroen grundsätzlich als „Konstruktionen des Menschen“700 behandelt. Es sind die anthropologischen Implikationen der Mythologie, die ihn interessieren – mythi-

|| 696 Kerényi, Karl: Humanistische Seelenforschung. S. 10. 697 Ebd. Zu Kerényis Abkehr von der Schulphilologie vgl. auch: Graf, Fritz: Griechische und römische Mythologie. S. 72f. 698 Kerényi, Karl: Grundbegriffe und Zukunftsmöglichkeiten des Humanismus. S. 369. 699 Ebd. 700 Heinrichs: Töchter der Sonne. S. 735.

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sche Geschichten sind ihm „ein gemeinsames Werk des Menschen und seiner Welt“701. Ein Beispiel hierfür findet sich in seiner Apollon-Schrift, in der er die mit dem griechischen Gott verbundene Symbolik auf menschliche Probleme anwendet, die in der mythologischen Gestaltung zum Ausdruck kommen. So interpretiert er beispielsweise den Schwan als Begleiter des Gottes als Verbindung des Apollon-Mythos mit Symbolen der Sterblichkeit und Reinheit und erläutert daraufhin den „seelischen Wirklichkeitshintergrund“702 dieser Symbolik: Apollon ist, vom Standpunkte der Seele gesehen, ein Aspekt des individuellen Aufhörens, als einer finsteren Wirklichkeit, die jedoch auch einen ganz anderen Aspekt hat. Sie ist verbunden mit der höchsten Reinheitsaussicht: mit der Aussicht auf völlige Reduktion der Lebensmannigfaltigkeit. […] So erscheint Apollon, der Finstere und Klare, der Seele.703

Mit dem Stichwort ‚Seele‘ ist der zweite Punkt bereits angesprochen, denn Kerényis Ausrichtung auf den anthropologischen Aspekt der Mythologie geht – wie gesagt – mit einer Öffnung der altphilologischen Methode für die psychologische Mythendeutung einher. Im Vorwort zum 1966 erschienenen Band Humanistische Seelenforschung erklärt er, dass ihm durch die Begegnung mit Carl Gustav Jung „erst bewußt [wurde], wie weit meine mythologische Forschung auch ‚Seelenforschung‘“704 sei. Nach seinem ersten Kontakt mit dem Psychologen im Jahr 1939 und der engen Zusammenarbeit in den vierziger Jahren ist Kerényi bestrebt, die „Philologische Seelenforschung“ als neue „Aufgabe“705 für die Altphilologie zu etablieren. Jungs Verbindung von Traum- und Mythenanalyse hält Kerényi für eine Errungenschaft, die die Relevanz von Mythenforschung in der Moderne garantiert.706 So werden Mythen zu Wegweisern auf dem menschlichen Lebensweg stilisiert: Die Göttergestalten sind geeignet, eine Distanz zwischen uns und unseren archetypischen Möglichkeiten zu schaffen. In ihnen sind diese geistig geworden, auch zu geistigen Möglichkeiten, die man bewußt und auf seine eigene Weise verwirklichen mag.707

|| 701 Kerényi, Karl: Vorbetrachtungen. In: BWKM. S. 11–33. Hier: S. 21. 702 Kerényi, Karl: Apollon. S. 52. 703 Ebd. S. 53f. 704 Kerényi, Karl: Humanistische Seelenforschung. S. 13. 705 Ebd. S. 11. 706 Vgl. Kerényi, Karl: Geistiger Weg Europas. S. 12ff. 707 Kerényi, Karl: Umgang mit Göttlichem. S. 77.

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Als Beispiel für den Nutzen eines solchen ‚göttlichen Urbildes‘ vergleicht Kerényi beispielsweise verschiedene „Vater-Urbild[er]“708 in unterschiedlichen Mythensystemen, wobei auch kulturelle Unterschiede zu Tage treten. Während der israelitische Vatergott als „Forderer, Gebieter und Verheißer“709 auftrete, sei im griechischen Zeus das Urbild des „zeugende[n] Vater[s]“710 verwirklicht. Der römische Jupiter als staatstragender Gott verkörpere dagegen die Grundlage der patriarchalischen Gesellschaft: die Ehe.711 Alle diese Vaterbilder betonen unterschiedliche Aspekte des ‚Vater-Urbildes‘, mit dem der Einzelne sich reflektierend auseinandersetzen kann. Die mythischen Erzählungen sind – so Jung und Kerényi – Ausdruck der „Realitäten der Seele“712 in einer bildhaft-symbolischen Form, die zu einer Auseinandersetzung mit typischen Konstellationen des menschlichen Lebens einladen. Auch Kerényi stimmt übrigens nicht mit Sigmund Freuds Interpretation von Mythen als verdeckten Triebwünschen und Schuldgefühlen überein, sondern betont genau wie Jung den produktiven Aspekt mythischer Bilder für die Entwicklung des Menschen.713 An diesem Punkt – dem produktiven Nutzen der Mythenanalyse – setzt auch Kerényis Kritik am klassischen Gelehrten an, der durch seine Studien dem Leben entfremdet wird. Der kritische Gelehrte – als Beispiele für diesen Typus nennt er Wilamowitz-Moellendorf und Mommsen – sei von einem „Dämon des Forschens und Ordnens“ besessen, bei dem am Ende „der Mensch und das Menschliche […] völlig verschwindet“714. Gerade in der modernen Mythenforschung sei das zu beobachten, denn echte Mythologie sei dem modernen Menschen „völlig fremd geworden“715 und bedürfe der Vermittlung durch den interpretierenden Forscher. Dessen wissenschaftlicher Anspruch auf Objektivität, der von den Naturwissenschaften auf die Geisteswissenschaften übertragen wird, stehe aber diesem Vermittlungsauftrag im Wege: Wir sind der Unmittelbarkeit zu den großen Wirklichkeiten der geistigen Welt – und dazu gehört auch alles Echt-Mythologische – verlustig gegangen, verlustig gerade auch durch unsere allzu hilfsbereite und hilfsmittelreiche Wissenschaftlichkeit. […] Jedenfalls können wir die Freiheit von Lüge, mit der uns wahre Wissenschaftlichkeit beschenkt, nicht mehr vermissen. Was wir neben dieser Freiheit noch fordern – von der Wissenschaftlichkeit ei-

|| 708 Ebd. S. 55. 709 Ebd. 710 Ebd. S. 57. 711 Vgl. ebd. S. 56. 712 Kerényi, Karl: Apollon. S. 27. 713 Vgl. dazu Treml, Martin: ‚Wissenschaft der Realitäten der Seele‘. 714 Kerényi, Karl: Bachofen. S. 8. 715 Kerényi, Karl: Über Ursprung und Gründung. S. 4.

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gentlich zurückfordern – das ist eben die Unmittelbarkeit zu den Gegenständen der Wissenschaft.716

Die Distanzierung des naturwissenschaftlichen Forschers von seinem Gegenstand ist für Kerényi nicht der richtige Standpunkt für den geisteswissenschaftlichen Forscher. In der Nachfolge Diltheys rückt er die Rolle des Interpreten in den Geisteswissenschaften in den Vordergrund und bekennt sich – erstaunlich modern – zu dessen Subjektivität.717 Prototyp des geisteswissenschaftlichen Gelehrten, der einen unmittelbaren Bezug zu seinen Gegenständen besitzt, ist für ihn Bachofen. Ihn nennt Kerényi den „Vorbereiter einer wirklich humanen Wissenschaft“718, eben weil er seinem Stoff nicht kühl und distanziert gegenübersteht, sondern sich in die antike Welt einzufühlen versucht. Dabei habe er eine „Tiefe und Einsicht des Erlebens“719 erreicht, die grundlegend für einen humanistischen Zugang zur Wissenschaft sei. Der Interpret, der sich beim Umgang mit mythischen Geschichten und antiken Artefakten stets bewusst sein muss, dass er auf die Überlieferung angewiesen ist und sich aus diesem Wenigen ein ganzheitliches Bild zu schaffen versucht, tritt als Mittler zwischen dem antiken Stoff und dem modernen Menschen auf, der „diese Sprache nicht mehr oder nur zum Teil versteht“720. Kerényi selbst bekennt sich zur Methode der „phänomenologischen Beschreibung“721 mythischer Erzählungen, Gestalten und Symbole und zu einer hermeneutischen Interpretation derselben, die nicht umsonst den Gott Hermes im Namen trägt. Der Interpret als ‚Mittler‘ verleugnet seine subjektive Perspektive auf den Stoff nicht und versucht durch Einfühlung und Einbettung des Stoffes in die Lebenswelt eine verloren geglaubte ‚Unmittelbarkeit‘ wiederherzustellen, aus der die zeitlose Relevanz mythischer Geschichten ersichtlich werden kann. So steht die moderne Mythenforschung für Kerényi ganz im Zeichen eines ‚neuen Humanismus‘: Die Auseinandersetzung mit Mythen dient dazu, zu erkennen, welche „Probleme der Mensch seit jeher“722 mit sich herumträgt und zu lösen versucht. Insofern versteht Kerényi seine humanistische Mythenforschung auch als eine „Medizin des ganzen Menschen“723:

|| 716 Ebd. S. 10. 717 Zu Kerényis Methodik vgl. auch Jamme, Christoph: Kerényi und die deutsche Philosophie. 718 Kerényi, Karl: Bachofen. S. 25. 719 Ebd. 720 Kerényi, Karl: Umgang mit Göttlichem. S. 25. 721 Kerényi, Karl: Vorbetrachtungen. S. 14. 722 Kerényi, Karl: Grundbegriffe und Zukunftsmöglichkeiten. S. 378. 723 Ebd. S. 376.

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Die Starrheit des alten Stils der humanistischen Beschäftigungen […] muß aufgelöst und einem neuen Bedürfnis untergeordnet werden: dem Heilungsbedürfnis der Menschheit.724

An die Stelle der rein philologischen Forschung soll eine humanistische Wissenschaft von der Mythologie treten, die in ihrer Ausrichtung auf den Menschen und die psychologische Ausdeutung seiner ‚seelischen Realitäten‘ eine heilsame Wirkung entfaltet. Die Interpretation menschlicher ‚Urbilder‘, wie sie sich Kerényis Auffassung nach in der Mythologie zeigen, dient der Bewältigung des Lebens, der Identifikation und Auseinandersetzung mit typischen Konstellationen des Lebens anhand von deren symbolischer Ausgestaltung im Mythos. Der Humanist müsse daher in Zukunft – so Kerényi – auch dem göttlichen Heiler „Asklepios Verehrung darbringen“725. 2.3.2.4 Fazit Mit seiner produktiven Mythenauffassung tritt Kerényi einer Zeitströmung entgegen, in der Mythen – gerade im Nationalsozialismus – zunehmend politisch instrumentalisiert werden. Kerényi sieht klar, dass auch der moderne Mensch eine „Anfälligkeit für den Mythos“726 besitzt. Im Rahmen seiner Mythentheorie ist das ja auch nur einleuchtend: da Mythen die ‚Ursprungsfrage‘ stellen und sich mit den grundlegenden Strukturen und typischen Ereignissen des menschlichen Lebens auseinandersetzen, behalten sie zu jeder Zeit ihre Relevanz und auch ihre Anziehungskraft. Genau darin lauert aber auch die Gefahr, dass dieses menschliche Bedürfnis, das in der ‚Anfälligkeit für den Mythos‘ zum Ausdruck kommt, für unlautere politische Zwecke ausgenutzt wird. So spricht Kerényi oftmals vom „falschen Mythos“727, der in Deutschland Konjunktur habe und „zwischen den zwei Weltkriegen zu einer unbegreiflichen, zugleich lächerlichen und verhängnisvollen […] Macht wurde“728. Dabei richtet sich seine Kritik nicht nur an den ‚falschen‘, den politisch fabrizierten Mythos, sondern auch an den modernen philosophischen Mythosdiskurs, der sich zwischen rationalistischen und irrationalistischen Lesarten des Mythos bewege. Er betont, dass […] es etwas anderes ist, das Wesen wahrhaft mythischer Gestalten neu zu erfassen und wieder etwas anderes, neu ausgedachte Mythologien leichtgläubigen Irrationalisten und ebenso leichtgläubigen Rationalisten vorzutäuschen: den einen etwa die vom Geist als

|| 724 Ebd. 725 Ebd. S. 381. 726 Kerényi, Karl: Auf den Spuren des Mythos. S. 10. 727 Kerényi, Karl: Vorbetrachtungen. S. 21. 728 Ebd. S. 20.

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Widersacher der Seele, den anderen die von den beiden einander bekämpfenden Mächten Logos und Mythos. Echt mythische Gestalten gehören einer Sphäre an, die sich weder auf das Rationale noch auf das Irrationale beschränkt: Sie sind Seinsgestalten, die die Wissenschaft in den verschiedenen Aspekten der Welt zu erkennen hat, ohne die Partei dieser oder jener Weltanschauung zu ergreifen.729

Kerényi vertritt eine Position, die ganzheitlich orientiert ist: wie Jung versteht er Mythen als menschliche Ausdrucksweise, die nicht gänzlich in rationale Begrifflichkeit aufgelöst werden kann, sondern einen darüber hinausgehenden Wert hat. Mythen „transzendieren“730, sie vermitteln zwischen der den Menschen umgebenden Welt und seiner Innenwelt, den ihn prägenden ‚seelischen Realitäten‘. In diesem Zusammenhang eröffnet die Auseinandersetzung mit Mythen den Blick auf den Menschen und schafft so die Grundlage für einen Humanismus, dessen „größte Sorge“ einer „möglichst umfassenden Menschlichkeit“731 gilt. Kerényis Wissenschaftsverständnis ist dieser Sorge untergeordnet: die Aufgabe der altphilologischen Forschung sieht er nicht in einer vom Leben isolierten Gelehrsamkeit, sondern in einer ‚humanistischen Seelenforschung‘, die Mythen als ‚Medizin des ganzen Menschen‘ zu deuten weiß. So zeigt sich Kerényi überzeugt: „Wer die Augen der Menschen für die großen Lehren des menschlich-göttlichen Spiels der Mythologie öffnet, […] der reinigt und humanisiert.732

|| 729 Kerényi, Karl: Apollon. S. 9f. 730 Ebd. S. 29. 731 Kerényi, Karl: Bachofen. S. 37. 732 Kerényi, Karl: Vorbetrachtungen. S. 21f.

3 Mythos und Psychologie: Der Mythosbegriff bei Hermann Hesse und Thomas Mann Auf den im vorangegangenen Kapitel skizzierten philosophischen Mythosdiskurs reagieren Thomas Mann und Hermann Hesse in ganz unterschiedlicher Weise. Während Hermann Hesse sich an C. G. Jungs Mythosauffassung anschließt und in mythischen Erzählungen einen Ausdruck transrationaler Erfahrungen sieht, ist Thomas Manns Rezeption des Mythosdiskurses sehr viel stärker von dessen politischen Implikationen geprägt. Er spielt all jene Denker, die er einer irrationalistischen Geisteshaltung zurechnet, gegen jene aus, die aus seiner Sicht einen aufklärerischen Umgang mit dem Mythos praktizieren. Dies soll im Folgenden zusammen mit der Genese des jeweiligen Mythosbegriffs von Hesse und Mann nachgezeichnet werden.

3.1 Hermann Hesses Auseinandersetzung mit dem Mythos „Im Anfang war der Mythus.“1 – So lautet der erste Satz in Hermann Hesses früher Erzählung Peter Camenzind (1904). Während der Satz über den Mythos in dieser Erzählung noch seltsam unvermittelt zu stehen scheint und höchstens als Abwandlung der Bibelstelle „Im Anfang war das Wort.“2 zu verstehen ist, bezieht sich Hermann Hesse drei Jahre später erneut auf den Beginn dieser Erzählung. In seinem Notizbuch aus dem Jahr 1907 vermerkt er: „Zum Satz: ‚Im Anfang war der Mythus‘ vide Keyserling, ‚Unsterblichkeit‘ pag. 55.“3. Obwohl der Bezug zu Hermann Graf Keyserlings Abhandlung über Unsterblichkeit 4 kaum als Inspiration für den Peter Camenzind gedient haben kann – Keyserlings Werk erschien erst 1907 –, so scheint das Nachdenken des deutschbaltischen Philosophen über den Mythos doch in enger Verwandtschaft zu Hesses Vorstellungswelt zu stehen. Im ersten Kapitel, das sich mit dem Sinn des Unsterblichkeitsglaubens befasst, findet sich eine Parallelstelle zum Peter Camenzind. Hier heißt es: „Das Erste ist also der Mythos“5. Keyserling führt aus, dass symbolisches Denken in der menschlichen Entwicklung vor der Begriffssprache und || 1 Hesse, Hermann: Peter Camenzind. In: SW 2. S. 7. 2 Joh. 1.1 3 Hesse, Hermann: Aus einem Notizbuch von 1907–1914. In: SW 11. S. 323–328. Hier: S. 325. 4 Keyserling, Hermann: Unsterblichkeit. Eine Kritik der Beziehungen zwischen Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungswelt. München 1907. 5 Ebd. S. 55. https://doi.org/10.1515/9783110660421-003

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dem abstrakten Denken liegt, wobei er eben nicht davon ausgeht, dass dieses ‚Davor‘ auch den rationalistischen Fortschrittsgedanken miteinschließt. Im Gegenteil: in der symbolischen Sprache der Mythen seien „tiefe Gedanken“6 zum Ausdruck gekommen, die erst durch die rationale ‚Übersetzung‘ der Bilder in Begriffe zum „absurde[n] Dogma“7 werden konnten: In ihren frühesten Stadien ist die Sprache nicht nur konkret, sondern wesentlich mythenbildend; sie kann einen ‚Gedanken‘ gar nicht anders als metaphorisch oder bildlich ausdrücken; und jede Metapher bedeutet, an sich selbst betrachtet, einen Mythos. […] Wer in diesem Entwicklungsstadium eine mythische Vorstellung aussprach, sagte damit alles, was er überhaupt sagen konnte […].8

Mit der Emanzipation des abstrakten Denkens von der bildlichen Welt des Mythos sei jedoch das Bedürfnis entstanden, mythische Symbole zu deuten, sie in die begriffliche Sprache zu übersetzen. Gerade die allegorische Mythendeutung, die versucht, „das Irrationelle“, das im Mythos zum Ausdruck kommt, mit dem „Denken und Wissen irgendwie in Zusammenhang zu bringen“9, bezeichnet Keyserling jedoch als verhängnisvoll: Zu Zeiten grassierender Allegorie geht nämlich jedes Verständnis für das Symbol unrettbar verloren. Die allegorische Ausdeutung schändet den Mythos, sie vermisst sich über etwas hinauszugehen, was seinem Wesen nach nur ein Letztes sein kann. […] Allegoriker hingegen lauern hinter jedem Bilde auf den Begriff; das Sublimste verzerrt sich greulich im Spiegel der Kommentare.10

Die Bezugnahme auf Keyserlings Überlegungen im Notizbuch von 1907 ist eine der frühesten Belege für die Beschäftigung Hermann Hesses mit einer philosophischen Perspektive auf das Phänomen Mythos und nimmt gleichzeitig die wichtigsten Elemente seiner eigenen Konzeption von ‚Mythos‘ vorweg, die im Folgenden zu entwickeln sein wird. Im ersten Schritt soll dazu erläutert werden, was Hesse unter einem Mythos versteht, bevor im zweiten Schritt seine Auseinandersetzung mit dem modernen Mythosdiskurs im Zentrum steht. Abschließend folgt ein Ausblick auf Hesses Auffassung davon, welche Relevanz mythisches Erzählen in der Moderne haben kann.11 || 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Ebd. S. 57. 10 Ebd. S. 57f. 11 Die folgenden Ausführungen werden nahezu ausschließlich aus den Primärzeugnissen hergeleitet (Hesses Äußerungen zum Mythos in Briefen, Essays und Rezensionen). Es gibt

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3.1.1 Hesses Mythosbegriff Ein Blick auf Hesses Lektüre von mythischen und mythologischen Texten bietet zunächst einen guten Ausgangspunkt, um seinem Begriff davon, was ein Mythos eigentlich ist, ein Stück näher zu kommen. Mit mythischen Geschichten aus unterschiedlichen Kulturkreisen kommt Hesse bereits von frühester Kindheit an in Kontakt. Sowohl seine Eltern als auch seine Großeltern hatten als christliche Missionare viele Jahre in Indien verbracht und besonders der Großvater Hermann Gundert regte das Interesse des jungen Hermann Hesse an asiatischen Mythen und Religionen an. In einem Brief an Lisa Wenger vom Februar 1921 berichtet Hesse rückblickend: Ja, meine Beziehungen zu Indien sind alt. Der Vater meiner Mutter sprach neun oder zehn indische Sprachen, lebte Jahrzehnte in Indien, sprach mit den Brahmanen Sanskrit, meine Mutter war auch einen Teil ihres Lebens dort, sprach drei indische Sprachen, und auch mein Vater war kürzere Zeit in Indien als Missionar. Bücher über Indien, über Buddha etc. sah und las ich fast schon von den Bubenjahren an in der riesigen Bibliothek meines Großvaters, sah indische Bilder, sah zuweilen auch Hindus, und schließlich war ich ja selber einmal kurz in Indien.12

Sein Interesse beschränkt sich jedoch nicht allein auf Asiatisches – auch für seine Beschäftigung mit griechischen, ägyptischen und nordischen Mythen gibt es hinreichend Belege. So schreibt er als 18-jähriger an seine Eltern, dass er den

|| bisher kaum Literatur zu Hesses Mythosverständnis. Zu nennen sind an dieser Stelle jedoch einige Titel, die thematisch nahestehen oder das Thema zumindest aufgreifen: Baumann, Günter: Der archetypische Heilsweg. Hermann Hesse, C. G. Jung und die Weltreligionen. Rheinfelden 1990; Huber, Peter: Alte Mythen, neuer Sinn. Zur Codierung der Moderne und Modernisierung im Werk Hermann Hesses. In: Solbach, Andreas (Hg.): Hermann Hesse und die literarische Moderne. Kulturwissenschaftliche Facetten einer literarischen Konstante im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2004. S. 175–201; Hsia, Adrian: Hermann Hesse und China. Darstellung, Materialien und Interpretation. Erw. Neuausgabe. Frankfurt a. M. 2002; Michels, Volker: Hermann Hesse and Psychoanalysis. In: Cornils, Ingo (Hg.): A companion to the works of Hermann Hesse. Rochester 2009. S. 323–344; Nelson, Benjamin: Hesse and Jung. Two newly recovered letters. In: Psychoanalytic Review 50 (1963). S. 11–16; Szabó, Lázló: Der Einfluss Friedrich Nietzsches auf Hermann Hesse. Formen des Nihilismus und seiner Überwindung bei Nietzsche und Hesse. Wien 2007; Ziolkowski, Theodore: Mythos und Logos bei Hesse und seinen Kritikern. In: Ders.: Der Schriftsteller Hermann Hesse. Wertung und Neubewertung. Frankfurt a. M. 1979. S. 236–260. 12 Brief an Lisa Wenger vom 10. Februar 1921. In: Hesse, Hermann: Gesammelte Briefe. Erster Band. 1895–1921. Hg. von Ursula und Volker Michels. 6. Aufl. Frankfurt a. M. 1978. [=GB I]. S. 466.

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Plan gefasst habe, die antike Dichtung „in großen Hauptzügen“13 zu lesen, und berichtet nur einige Monate später, dass er glaube, sich „jetzt einen ordentlichen Begriff“ von der „griechischen Mythologie“14 gebildet zu haben. Als Quelle für seine Studien nennt er (neben der Lektüre der Klassiker von Homer bis Vergil) Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums15. In der Zusammenstellung Eine Bibliothek der Weltliteratur (1927)16 empfiehlt er neben indischen und griechischen Mythensammlungen aber auch das Gilgamesch-Epos und die Lieder der alten Edda zur Lektüre.17 Die überlieferten Texte der genannten mythischen Erzählungen nennt er „die ältesten und heiligsten Zeugnisse des Menschengeistes“18. Auch mythologische Abhandlungen ergänzen sein Studium der Mythen aus verschiedenen Kulturkreisen: neben Moritz‘ Götterlehre (1790) und Erwin Rohdes Psyche (1894)19 liest er beispielsweise auch Leopold Schröders Vorlesungen über Indiens Literatur und Kultur (1887)20 und Günther Roeders Urkunden zur Religion des alten Ägypten (1915)21. Von besonderer Wichtigkeit für Hesses Denken und literarisches Schaffen sind jedoch hauptsächlich die Mythen des östlichen Kulturkreises. So berichtet er in Eine Bibliothek der Weltliteratur rückblickend vom ersten Kontakt mit indischen Mythen in der großväterlichen Bibliothek: [B]ald tat ich den ersten Fund, ich las mit Herzklopfen eine Übersetzung der ‚BhagavadGita‘. Es war eine schauderhafte Übersetzung und bis heute kenne ich keine wirklich schöne, obwohl ich mehrere las, aber hier fand ich zum erstenmal ein Korn von dem Gold, das ich bei dieser Suche geahnt hatte: ich entdeckte den asiatischen Einheitsgedanken in seiner indischen Gestalt. […] Zusammen mit der Gedankenwelt Schopenhauers, die mir in jenen Jahren wichtig geworden war, haben diese altindischen Weisheiten und Denkarten einige Jahre lang mein Denken und Leben stark beeinflusst.22

|| 13 Brief an die Eltern vom 27. Februar 1896. In: GB I. S. 18. 14 Brief an die Eltern vom 02. Mai 1896. In: GB I. S. 21. 15 Hesse, Hermann: Aus meiner Schülerzeit. In: SW 12. S. 82–93. Hier: S. 84. 16 Hesse, Hermann: Eine Bibliothek der Weltliteratur. In: SW 14. S. 395–425. 17 Vgl. ebd. 18 Ebd. S. 402. 19 Beide erwähnt in einem Brief Hesses an Josef Bernhard Lang vom 08. Mai 1917. In: Hesse, Hermann/Lang, Josef Bernhard: Briefwechsel. S. 37. 20 Hesse, Hermann: Bibliothek der Weltliteratur. S. 421. 21 Rezensiert von Hesse für Der Bund am 19.12.1915. In: SW 17. S. 545–549. 22 Hesse, Hermann: Bibliothek der Weltliteratur. S. 421.

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Hesses erste Schopenhauer-Lektüre ist bis spätestens 1895 belegt.23 Es ist anzunehmen, dass Hesses Auseinandersetzung mit dem Mythos um Arjuna und Krishna in der Bhagavad-Gita, auf den sich Schopenhauer ja mehrfach direkt bezieht24, unter den Vorzeichen der Schopenhauerschen Willensmetaphysik steht. Auch Hesses erste Beschäftigung mit buddhistischen Texten und sein Studium der Veden sind noch maßgeblich von dem Philosophen beeinflusst. So bezieht er sich – ebenso wie Schopenhauer – in einem Brief aus dem Jahr 1908 gerade auf den Metempsychose-Mythos, den er bei „Buddha und den vedischen Sagen“ finde und der „das Unausdenkliche mit einer prächtigen Bildlichkeit“25 darstelle. Selbst die Übersetzung, in der er die buddhistischen Texte kennenlernt – Karl Eugen Neumanns Übertragung der Reden Buddhas (1896–1902) – ist von Schopenhauer geprägt.26 Auch Paul Deussens Sechzig Upanishads des Veda (1897) und die Buddha-Biographie von Hermann Oldenburg gehen in eine ähnliche Richtung. Es ist also nicht überraschend, wenn Hesse in seinem kurzen Aufsatz Über mein Verhältnis zum geistigen Indien und China (1922)27 bekennt, dass er in diesem frühen Stadium seiner Beschäftigung mit der indischen Sagenwelt deren Sinn als „Resignation und Askese auf[fasste], als Flucht in Wunschlosigkeit“28 oder eben – in Schopenhauers Terminologie – als Freiheit vom Willen. Dieser frühen Beschäftigung mit indischen Mythen und den religiösen Texten aus Buddhismus und Hinduismus folgt bald die Lektüre der chinesischen Klassiker, für die Hesses umfangreiche Buchrezensionen ab 1907 ein beeindruckendes Zeugnis ablegen.29 So gibt er an, „alle deutschen Ausgaben“ 30 des Tao Te King gelesen zu haben und er bespricht fast alle deutschen Neuer-

|| 23 Vgl. dazu Hsia, Adrian: Hermann Hesse und China. Darstellung, Materialien und Interpretation. Erw. Neuausgabe. Frankfurt a. M. 2002. S. 36. 24 Vgl. Kapitel II.1.1. 25 Brief an die Familie in Korntal vom 29. Februar 1908. In: Michels, Volker (Hg.): Materialien zu Hermann Hesses ‚Siddharta‘. 9. Aufl. Frankfurt a. M. 2016. S. 46f. 26 Vgl. dazu: Gellner, Christoph: Wie der Buddha in den Westen kam. Hermann Hesse, Luise Rinser und Adolf Muschg. In: Ponzi, Mauro (Hg.). Hermann-Hesse-Jahrbuch. Bd. 3. Tübingen 2006. S. 47–70. Hier: S. 47. 27 Hesse, Hermann: Über mein Verhältnis zum geistigen Indien und China. In: SW 12. S. 128– 130. 28 Ebd. S. 129. 29 Vgl. die Auswahl in Michels, Volker: Materialien zu ‚Siddharta‘. S. 44ff.; Siehe außerdem: Hsia, Adrian: Hermann Hesse und China. S. 51ff. und Weber, Jürgen: ‚Das Weiseste und Tröstlichste, was ich kenne‘. Hermann Hesse und die chinesische Philosophie. In: Hermann Hesse Jahrbuch 7 (2015). S. 9–28. 30 Hesse, Hermann: Über mein Verhältnis zum geistigen Indien und China. S. 130. Die erste Übersetzung, die Hesse las, war höchstwahrscheinlich die von Alexander Ular (1903).

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scheinungen, die sich mit diesem Themengebiet befassen. Besonders wichtig werden Hesse jedoch die Übertragungen von Richard Wilhelm, der später auch mit C. G. Jung zusammenarbeitete. Dessen Übersetzung der Gespräche des Konfuzius (1911) und die Übertragung der Verse Lao Tses nennt er als wichtigste chinesische Bücher.31 Obwohl die chinesische Philosophie für Hesse zeit seines Lebens nicht an Wichtigkeit verloren hat, wendet er sich mit dem Beginn seines Kontakts zur Psychoanalyse wieder vermehrt der Mythologie Indiens zu, die er als künstlerischer und spielerischer empfindet. So schreibt er 1921 an Lisa Wenger, er neige inzwischen wieder „viel mehr zum Indien der Götter und Tempel“32, in einem Brief an Ernst Wiechert fügt er hinzu, für ihn stehe nun „nicht mehr die strengschöne Gedanken- und Willenswelt der Philosophen und des Buddha im Vordergrund, diese ganze ethische Welt, sondern mehr die verantwortungslose der Mythen, des immer zeugenden Vishnu, des immer wieder zerstörenden Shiva“33. In der „Elastizität und Plastizität“34 der mythischen Symbolik beginnt Hesse nun einen Ausdruck seelischer Prozesse zu sehen, die sich nicht ohne weiteres in eine rationale Begrifflichkeit übersetzen lassen. Unternimmt man den Versuch, Hesses Äußerungen in Briefen, Rezensionen, Tage- und Notizbüchern zu einer Definition seines Mythos-Begriffs zusammenzuführen, so sticht zunächst die Bedeutung Schopenhauers und Jungs für Hesses Verständnis des Phänomens heraus, die im folgenden Kapitel einer näheren Untersuchung unterzogen wird. Zu Beginn seines Nachdenkens über den Mythos übernimmt er Schopenhauers Deutung der indischen Mythen unter der Perspektive der Willensmetaphysik und versteht mythische Symbolik als eine Verkleidung der ‚Wahrheit im Gewand der Lüge‘. Nach dem ersten Kontakt mit der Psychoanalyse erweitert sich Hesses Mythosbegriff dahingehend, dass er mythische Erzählungen und Symbole nun als ‚Realitäten der Seele‘ wahrnimmt, die nicht rational aufgelöst werden können. Wie bereits in Kapitel 2.1.1 dargestellt, geht Arthur Schopenhauer davon aus, dass Mythen – wie etwa die Geschichte um Arjuna und Krishna in der Bhagavad-Gita – eine Erkenntnis in bildlicher Einkleidung transportieren. Im Zentrum steht für ihn dabei der Gedanke der Einheit alles Seienden, der in der Mitleidsethik resultiert. Diese Interpretation (gerade der indischen Mythen)

|| 31 Vgl. Hesse, Hermann: Chinesisches. Zuerst erschienen in März, 17.01.1911. In: SW 17. S. 15– 16. 32 Brief an Lisa Wenger vom 10. Februar 1921. In: GB I. S. 466. 33 Brief an Ernst Wiechert vom April 1938. In: GB III. S. 86. 34 Hesse, Hermann: Tagebuch 1920/1921. In: Michels, Volker: Materialien zu ‚Siddharta‘. S. 9– 33. Hier: S. 17.

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übernimmt auch Hesse und nutzt Schopenhauers Textil-Metaphorik, um deutlich zu machen, was er für den Kern der indischen Mythen hält. In einer Buchrezension von 1914 erläutert er – ganz in Schopenhauers Sinne: „Die reinsten Gedanken der indischen Erlösungslehre kleiden sich in ernsthaft vorgetragene Göttergeschichten voll wilder und willkürlicher Symbolik“35. Noch 1948 schreibt er an Thomas Mann, dass die „Gestalten der indischen Mythologie […] das Sublimste umkleiden, was Menschen je gedacht haben“36. Das, was mythische Geschichten ‚umkleiden‘, ist also eine essentielle menschliche Erkenntnis: im Tagebuch von 1921 nennt er es „das Zurückgehen des Einzelnen zum ungeteilten Ganzen, der erlösende Schritt hinter das principium individuationis zurück, also, religiös ausgedrückt, Rückkehr der Einzelseele zur Allseele“37. Obwohl Hesse hier noch Schopenhauers Terminologie benutzt – er spricht vom ‚Schritt hinter das principium individuationis zurück‘ –, so stimmt er dennoch nicht mit dem Philosophen überein, dass diese Erkenntnis restlos in philosophische Begrifflichkeit übersetzt werden könne. Hesses Mythenverständnis wird erweitert und verändert durch seine Lektüre der Werke Jungs und seinen persönlichen Kontakt mit dem Psychoanalytiker. Die Jungsche Psychoanalyse wird ihm zum Vorbild eines „bipolaren, nicht einseitigen, synthetischen Denken[s]“38 und verändert seinen Zugang zu mythischen Erzählungen und Symbolen. Wie Jung erklärt sich Hesse nun die kulturübergreifende Ähnlichkeit von Mythen durch ihre archetypische Struktur. Er bezeichnet sie als „Denkmäler und Symbole [des] Inneren“39, als „seelischen Gemeinbesitz“40 und zeigt sich überzeugt von ihrer archetypischen Ähnlichkeit: „Griechen und Perser, Inder und Chinesen, Christen und Buddhisten, alle meinen das Selbe und hoffen, wünschen und glauben das Selbe, nur haben sie andre Namen dafür als wir.“41 Hesse ist sich sicher, dass alle Menschen die Fähigkeit haben, mythische Symbole intuitiv zu verstehen, weil sie seelische Er-

|| 35 Hesse, Hermann: Indische Märchen. Zuerst erschienen in Der Bund am 08.11.1914. In: SW 17. S. 374–377. Hier: S. 375. 36 Brief Hesses an Thomas Mann vom März 1948. In: In: Hesse, Hermann/Mann, Thomas: Briefwechsel. Ungekürzte Ausg. Hg. von Anni Carlsson und Volker Michels. Frankfurt a. M. 2003. [=BWHM]. S. 254. 37 Hesse, Hermann: Tagebuch, Februar 1921. In: SW 11. S. 639–646. Hier: S. 641. 38 Hesse, Hermann: Verhältnis zum geistigen Indien und China. S. 130. 39 Hesse, Hermann: Aufzeichnungen von der Indienreise. In: Michels, Volker: Materialien zu ‚Siddharta‘. S. 62. 40 Hesse, Hermann: Erinnerung an Asien. In: Ebd. S. 72. 41 Aus einem Brief Hesses an einen Leser vom November 1960. In: Ebd. S. 280.

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lebnisse in Bilder fassen, die allen Menschen gemeinsam sind. In seinem Essay Ein Stückchen Theologie von 1932 schreibt er: [Es] erkennt jeder die typischen Seelenerlebnisse, die er selbst gehabt hat, unfehlbar und augenblicklich wieder, wo er sie in den Berichten anderer antrifft – auch da, wo er aus fremden und unvertrauten Theologien übersetzen muß. […]. [Er] findet bei den Gläubigen anderer Religionen, nur in anderer Bildsprache, alle jene Grunderlebnisse der Seele mit allen Kennzeichen unfehlbar wieder.42

Dieses grundlegende ‚Selbe‘, auf das sich die Mythen der unterschiedlichsten Kulturen beziehen, hält Hesse für den Gedanken der All-Einheit des Seins. Das Insistieren auf den Einheitsgedanken umspannt das gesamte Schaffen Hermann Hesses: er ist für ihn eben jenes ‚Geheimnis‘, das der Mythos bildlich umhüllt. Die Quintessenz mythischer Erzähltechnik besteht für ihn darin, die Einheit hinter der Vielheit der Welt aufzuzeigen. Mythisches Erzählen zeige die „Vielgestaltigkeit der Welt, das reiche bunte Spiel des Lebens […] zurückgeführt auf das göttliche Eine, das dem Spiel zugrunde liegt.“43 Genau dieses Gestaltungsprinzip nimmt Hesse auch zum Ausgangspunkt seines eigenen literarischen Schaffens. Am Ende der autobiographischen Erzählung Kurgast (1925) legt Hesse hierzu ein poetologisches Geständnis ab: Ich möchte einen Ausdruck finden für die Zweiheit, ich möchte Kapitel und Sätze schreiben, wo beständig Melodie und Gegenmelodie gleichzeitig sichtbar wären, wo jeder Buntheit die Einheit, jedem Scherz der Ernst beständig zur Seite steht. Denn einzig darin besteht für mich das Leben, im Fluktuieren zwischen zwei Polen, im Hin und Her zwischen den beiden Grundpfeilern der Welt. Beständig möchte ich mit Entzücken auf die selige Buntheit der Welt hinweisen und ebenso beständig daran erinnern, daß dieser Buntheit eine Einheit zugrunde liegt […].44

Dies sei auch die Aufgabe der Mythen: die Darstellung der Einheit entgegengesetzter Pole, die ja „das Leben selbst“45 sei, finde sich in jeder Form mythischen Erzählens – sei es „im Tanz des Gottes Shiva, der die Welt in Scherben tanzt“46, in der christlichen Passionsgeschichte, in der Identität von atman und brahman oder „in vielen anderen Bildern“47.

|| 42 Hesse, Hermann: Ein Stückchen Theologie. In: SW 12. S. 152–164. 43 Hesse, Hermann: Geist der Romantik. In: SW 14. S. 388–394. Hier: S. 388. 44 Hesse, Hermann: Kurgast. Aufzeichnungen von einer Badener Kur. In: SW 11. S. 37–127. Hier: S. 125. 45 Ebd. S. 122. 46 Ebd. 47 Ebd.

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Ebenso wie Schopenhauers Demopheles im Dialog Über Religion erkennt Hesse an, dass der Mensch einer ‚Einkleidung der Wahrheit‘ im mythischen Gewand bedürfe, um die All-Einheit des Seins fassen zu können. So kommt er beispielsweise zu dem Schluss, dass Reformationsbewegungen, die eine Vergeistigung und ‚Entbildlichung‘ der religiösen Lehre zum Ziel haben, letztlich scheitern müssen, weil zumindest das ‚Volk‘ die bildliche Vermittlung religiöser Einsichten weiterhin brauche.48 So seien sowohl Buddhismus als auch Protestantismus im Verzicht auf die bildlich-mythische Komponente „zu Philosophie, zu Wissenschaft, zu Dialektik“ geworden und hätten jene Vieldeutigkeit eingebüßt, die der bildlichen Darstellung eigen sei. Anders als Schopenhauer ist Hesse jedoch nicht der Auffassung, dass eine so umfassende Einsicht wie die in die ‚All-Einheit des Seins‘ adäquat in philosophischer Begrifflichkeit ausdrückbar sei. Es bedarf des Spiels mit der vielgestaltigen mythischen Bildlichkeit, um dieser Erkenntnis näher zu kommen. Zu diesem Befund passen die zahlreichen Äußerungen Hesses, die Mythen in die Nähe der Kunst rücken. Auch wenn Hesse mythische Erzählungen meist in religiösen Kontexten erwähnt, so scheint er doch davon überzeugt zu sein, dass ihre Funktion nicht primär in einem normativen Gehalt zu suchen ist. Stattdessen betont er den spielerischen Charakter von Mythen: ihre „verantwortungslose“49 Bilderwelt empfindet er als einen dem Künstler gemäßen Zugang zur Welt und bezeichnet auch seine eigene Dichtung oftmals als „Mythologie“50. In einem Brief vom September 1939 schreibt er: Mir hilft der Gedanke an östliche Mythologien beim Betrachten und Hinnehmen des Weltlaufs. Die Welt als Kampfplatz wildester Dämonen und als Stätte des Jammers und der Zerstörung, während doch über ihr das süße Lächeln des Vishnu schwebt, der stets bereit ist die zusammengehauene Welt spielend neu zu erschaffen, das ist kein schlechtes Bild.51

Dieser Position scheint zunächst zu widersprechen, dass Hesse Mythen gleichzeitig für Träger existenzieller Wahrheiten hält, wie eben gezeigt wurde. Dennoch scheint die vielbeschworene „Elastizität und Plastizität“52, die mythischen

|| 48 Vgl. Hesse, Hermann: Ein Bibliotheksjahr. In: Michels, Volker: Materialien zu ‚Siddharta‘. S. 78. 49 Brief Hesses an Ernst Wiechert vom April 1938. In: GB III. S. 86. 50 So in: Hesse, Hermann: Eine Arbeitsnacht. In: SW 12. S. 123–127. Hier: S. 123. Oder in einem Brief an Romain Rolland vom 06.04.1923. In: GB II. S. 56. 51 Brief Hesses an Paul Otto Waser vom September 1939. In: GB II. S. 130. 52 Hesse, Hermann: Tagebuch. S. 636.

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Erzählungen eigen ist, gerade in ihrer spielerischen Qualität besser dazu geeignet zu sein, diese Einsichten zu transportieren als der logische Diskurs. Nimmt man diese Äußerungen Hesses zum bereits Gesagten hinzu, so lässt sich eine Bestimmung von Hesses Mythosbegriff in Angriff nehmen: Ausgangspunkt für Hesses Verständnis des Mythos ist die Beschäftigung mit Mythen der unterschiedlichsten Kulturkreise (wobei die östliche Mythologie eine Sonderstellung einnimmt) und die Lektüre der Werke Schopenhauers. So geht er davon aus, dass der Inhalt von Mythen aus essentiellen menschlichen Erkenntnissen besteht, von denen sie in symbolischer Sprache berichten. Der Kontakt mit C. G. Jung vertieft diese Ansicht dahingehend, dass Hesse nun „das Geheimnis“53, das mythische Geschichten umkleiden, in den Erlebnissen der Seele vermutet. Sie sind „Denkmäler und Symbole [des] Inneren“54, die aufgrund ihrer archetypischen Ähnlichkeit von allen Menschen intuitiv verstanden werden. Ihre Form ist eine spielerisch-bildliche Ausdrucksweise, die Hesse als „Elastizität und Plastizität“55 bezeichnet. Noch 1957 nennt er Religion, Mythos und Dichtung in einem Atemzug und bezeichnet alle drei als „Versuch der Menschheit, eben jene Unsagbarkeiten in Bildern auszudrücken, die [man] vergeblich ins flach Rationale zu übersetzen versucht“56. Die Begriffe ‚Mythos‘ und ‚Mythologie‘ verwendet Hesse nicht immer trennscharf und grenzt beide Begriffe auch nicht dezidiert von der Sphäre der Religion und der Dichtung ab. Die Funktion von Mythen besteht für Hesse darin, Ausdrucksmittel für Erkenntnisse zu sein, die dem begrifflichen Denken unzugänglich sind. Hier stimmt er also einerseits mit Schopenhauer darüber überein, dass Mythen nicht nur ‚Spiel‘ sind, sondern tiefe menschliche Einsichten bildlich umkleiden, und andererseits übernimmt er auch C. G. Jungs Bestimmung des Mythos als transrationales Erkenntnismedium: die Wahrheiten, die Mythen transportieren, lassen sich nicht im Medium rationalen Denkens ausdrücken, sie sind ‚unsagbar‘ und bedürfen daher der spielerisch-bildlichen Ausdrucksweise, die Mythen eigen ist. Gleichzeitig registriert Hesse die zunehmende politische Vereinnahmung von Mythen und mythischen Symbolen ab den frühen zwanziger Jahren und distanziert sich von diesen Strömungen.57 Die nachfolgende Analyse von Hesses Reaktionen auf den || 53 Brief Hesses an G. G. ca. 1940. In: Michels, Volker: Materialien zu ‚Siddharta‘. S. 231. 54 Hesse, Hermann: Aufzeichnungen von der Indienreise. S. 62. 55 Hesse, Hermann: Tagebuch. S. 636. 56 Brief Hesses an Jens Jürgen Schröder. In: Michels, Volker: Materialien zu ‚Siddharta‘. S. 268. 57 Vgl. dazu z.B. einen Brief an Romain Rolland vom 10.08.1922, in dem er von einer ‚religiösfanatischen Stimmung‘ in Deutschland spricht, die etwas von „kommendem tausendjährigen Reich“ habe. In: GB II. S. 26.

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philosophischen Mythosdiskurs zeigen dies deutlich und sollen diese erste Definition seines Mythosbegriffs vertiefen und erweitern.

3.1.2 Hesses Rezeption des modernen Mythosdiskurses Ein Blick auf Hesses Auseinandersetzung mit dem modernen Mythosdiskurs ist an dieser Stelle zudem sinnvoll, um herauszuarbeiten, worin er die Relevanz mythischer Geschichten für den modernen Menschen sieht. Da Hesse das Verhältnis von Mythos und rationalem Weltzugriff in das Zentrum seiner Überlegungen stellt, soll im Folgenden seine Bewertung der drei im vorangehenden Kapitel erläuterten Verhältnisbestimmungen von Mythos und Rationalität dargestellt werden. Sehr intensiv setzt sich Hesse mit Schopenhauer, Bachofen und Freud auseinander, ohne jedoch deren Grundannahme vom Mythos als prärationalem Weltzugang zu übernehmen. Schopenhauer zählt dabei, wie bereits erwähnt, zu den wichtigsten Einflüssen auf Hesses Denken. Umso verwunderlicher ist es, dass Hesse sich nie wirklich systematisch mit dem Werk Schopenhauers beschäftigt hat. Dennoch prägt die frühe Lektüre seinen Blick auf die Mythen des östlichen Kulturkreises, die für sein literarisches Schaffen so bedeutend werden sollten. Im Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft veröffentlicht Hesse 1938 ein Kleines Bekenntnis zu seiner Schopenhauer-Lektüre: Mit Schopenhauer begann ich mich schon in jenen Jünglingsjahren, in denen Nietzsche meine Hauptlektüre war, zu beschäftigen. Je mehr Nietzsche in den Hintergrund trat, desto mehr fühlte ich mich zu Schopenhauer hingezogen, umso mehr als ich, von ihm unabhängig, schon früh einige Kenntnis der indischen Philosophie bekam. Die spätere intensivere Beschäftigung mit indischer und chinesischer Geistesart war es wohl, die mich abhielt, so viel Schopenhauer zu lesen, wie ich es sonst getan hätte; so ist es gekommen, daß ich die Welt als Wille und Vorstellung zwar vielmals in den Händen gehabt, aber doch nur ein einzigesmal ganz und konsequent gelesen habe.58

Schopenhauer interessiert Hesse also primär als Quelle für ‚östliche Philosophie‘59: seine Lektüre der Originalquellen ‚hält ihn davon ab‘, mehr Schopenhauer zu lesen. An anderer Stelle spricht Hesse davon, dass ihm die buddhisti-

|| 58 Hesse, Hermann: Kleines Bekenntnis. In: SW Registerband. S. 927f. 59 ‚Östliche Philosophie‘ ist in Hesses Begriffsverwendung nicht mit Philosophie im westlichen Verständnis zu verwechseln. Hesse fasst darunter ein breites Spektrum von Mythen, religiösen und philosophischen Äußerungen.

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sche Lehre „auf dem nicht ganz reinen Umweg über Schopenhauer“60 vertraut geworden sei. Hesse identifiziert Schopenhauers Philosophie geradezu mit der östlichen, wenn er davon spricht, dass Schopenhauer sie nicht ‚ganz rein‘ übertragen habe. Wie bereits erwähnt, sollte man aber nicht vernachlässigen, dass die meisten frühen Übertragungen buddhistischer und hinduistischer Texte, die Hesse liest, von Schopenhauers Interpretation stark beeinflusst sind. Der Fokus auf Askese und Weltverneinung in der Übertragung buddhistischer Texte, der in den Originalquellen keineswegs so angelegt ist, wurde beispielsweise von Hesse übernommen und ist auch im allgemeinen ein Beispiel für Schopenhauers Einfluss auf die frühe Rezeption im 20. Jahrhundert. Es ergibt sich also eine Art Wechselwirkung zwischen Hesses Schopenhauer-Lektüre und seinen Studien zu östlichen Philosophien und Mythen. Im Zentrum von Hesses Interesse an Schopenhauers Werk steht dessen Negation des principium individuationis als Täuschung der menschlichen Vorstellung. Diese Denkfigur, nach der die wahre Realität der Allheit hinter dem Schleier der Vielgestaltigkeit verbogen liegt, übernimmt Hesse ebenso wie die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen der Schopenhauerschen Mitleidsethik: Indisch aufgefaßt, d.h. im Sinn der Upanishaden und der ganzen vorbuddhistischen Philosophie, ist mein nächster nicht nur ‚ein Mensch wie ich‘, sondern er ist Ich, er ist mit mir eins, denn die Trennung zwischen ihm und mir, zwischen Ich und Du, ist Täuschung, Maya. Mit dieser Deutung ist auch der ethische Sinn der Nächstenliebe völlig ausgeschöpft. Denn wer erst eingesehen hat, daß die Welt eine Einheit ist, dem ist ohne weiteres klar, daß es sinnlos ist, wenn die einzelnen Teile und Glieder dieses Ganzen einander wehtun.61

Schopenhauers Werk dient Hesse primär dazu, die Inhalte der östlichen Denktraditionen philosophisch zu durchdringen, die er sich auch aus zahlreichen Übertragungen der Originaltexte angeeignet hat. Interessanterweise distanziert sich Hesse aber gleichzeitig auch vom Gedanken der philosophischen Durchdringung dieser Überlieferung. So schreibt er in der oben zitierten Rezension zu den Reden des Buddha, dass Schopenhauer zwar „das ‚Inhaltliche‘ seiner Lehre“ philosophisch dargestellt habe – aber der wirklich relevante Teil der buddhistischen Überlieferung seien eben nicht diese „Gedankeninhalte“, sondern, dass die buddhistischen Mythen „neue, lebendige Symbole für Uraltes“62 gefunden hätten. Die Relevanz dieser Stelle ist nicht zu unterschätzen, denn hier

|| 60 Hesse, Hermann: Reden des Buddha. In: SW 18. S. 348–351. Hier: S. 351. 61 Brief Hesses an W.S. von Ende April 1948. Michels, Volker: Materialien zu ‚Siddharta‘. S. 241. 62 Hesse, Hermann: Reden des Buddha. S. 351.

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zeigt sich, dass Hesse nicht mit Schopenhauer daran glaubt, dass Mythen von philosophischer Welterkenntnis abgelöst werden können. Ganz ähnlich positioniert sich Hesse auch zu Johann Jakob Bachofen, dessen Werk er – nicht zuletzt aufgrund seiner Wurzeln in Basel – schon vor der großen ‚Bachofen-Mode‘ Mitte der zwanziger Jahre schätzt und weiterempfiehlt. So bezeichnet er sich in einer seiner zahlreichen Buchrezensionen als „Verehrer des Basler Gelehrten Bachofen“, auch wenn er sich bewusst ist, dass er damit einem „überaus kleine[n] Kreis“63 angehört. Von der Wichtigkeit seiner Arbeit für den modernen Mythosdiskurs ist Hesse überzeugt: Bachofens Hauptwerk Das Mutterrecht habe „seit Jahrzehnten […] heimlich einen magischen Nimbus besessen und auf Umwegen das geistige Leben dieser Jahrzehnte, von Nietzsche an, wesentlich mit beeinflußt.“64 Wie so viele Bachofen-Interpreten hält Hesse nicht den von Bachofen dargestellten ‚Fortschritt‘ vom Mutter- zum Vaterrecht für die relevante Erkenntnis, sondern er sieht die Darstellung des Mutterrechts selbst als Hauptverdienst des Altphilologen an. Er sieht in ihm einen Vorreiter der „Wiedererschließung der mythischen Welt“65, nachdem das Verständnis für diese im Positivismus des 19. Jahrhunderts einen „Tiefstand erreicht hatte“66. Bachofens Neudeutung der antiken Quellen und seine Konstruktion einer mutterrechtlichen Phase in der Menschheitsentwicklung zeige, dass die „Mythen der alten Völker unendlich viel wahrer und tiefer und ergebnisreicher sind als alles, was zu Bachofens Zeit die Welt und die Wissenschaft glaubte“67. Besonders Bachofens Entgegensetzung von mütterlicher und väterlicher Sphäre, die Hesse in seine eigene Terminologie von ‚Natur‘ und ‚Geist‘ übersetzt, steht im Zentrum seines Interesses. Im Gegensatz zu Mann wendet sich Hesse nie öffentlich von Bachofen ab; selbst Baeumlers Aufsatz über Bachofen und Nietzsche (1929) findet bei ihm lobende Erwähnung.68 Dies ändert sich freilich, als Baeumlers Karriere unter den Nationalsozialisten beginnt: aber für Hesse hängt die Relevanz Bachofens nicht von Bauemler ab, da er – anders als Thomas Mann – die Schriften Bachofens schon lange vor der Sammelausgabe Der Mythus von Orient und Occident, die das Vorwort von Baeumler enthält, gekannt hat. Für ihn ist hauptsächlich die Entgegensetzung ‚väterlich-mütterlich‘ und die Beschreibung der mythischen Quellen relevant, aus der Bachofen die Existenz des || 63 Hesse, Hermann: Oknos, der Seilflechter. In: SW 18. S. 399. 64 Ebd. 65 Hesse, Hermann: Anmerkungen zu Büchern. In: SW 20. S. 201–206. Hier: S. 205. 66 Ebd. 67 Hesse, Hermann: Brief an einen Kommunisten II. In: SW 15. S. 357–367. Hier: S. 361. 68 Vgl. Hesse, Hermann: Zwischen Frühling und Sommer im Tessin. In: SW 19. S. 122f. Hier: S. 122.

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Mutterrechts ableitet. Bewundernswürdig findet er an Bachofens Forschungen interessanterweise gerade deren nicht-rationalen Charakter, der im Gegensatz zum Wissenschaftsbetrieb seiner Zeit steht. Er nennt Bachofen als „Beispiel aus der jüngsten Geistesgeschichte“, an dem gezeigt werden könne, […] wie etwas scheinbar Irrationales, Phantastisches und Verrücktes, dessen ‚Wirklichkeit‘ von allen Mächten der Ordnung und des Verstandes einfach nicht wahrgenommen werden kann, dessen Vorhandensein und Macht die Wissenschaft mit überlegenem Lächeln leugnet – wie etwas derart Wesenloses plötzlich eine Wirklichkeit gewinnen kann, vor der alle Wissenschaften sich beugen.69

Hesse blendet aus, dass Bachofen im Mythos eigentlich eine überwundene Vorstufe zur geistigen Vaterordnung sieht, und betont dagegen, dass er etwas aus den mythischen Erzählungen und Symbolen herausgelesen habe, das einen rationalen Zugriff übersteigt. Auch an Sigmund Freud schätzt Hesse, dass selbst er als „nüchterner Forscher“ an „die mythen- und religionsbildende Kraft der Seele“70 glaube. Im Gegensatz zu dem regen persönlichen Austausch, den Hesse mit C. G. Jung pflegt, lernt er Freud vornehmlich durch dessen Schriften kennen. Es gibt nur einen denkbar kurzen brieflichen Kontakt zwischen den beiden, als Freud sich 1918 für die Zusendung von Hesses Aufsatz Künstler und Psychoanalyse bedankt und dieser antwortet, dass er dem Psychoanalytiker „tiefen Dank“71 schulde. Hesse sieht Freuds Verdienste in seiner Pionierleistung als Begründer der Psychoanalyse und der psychoanalytischen Traumdeutung.72 Dank Freuds Analogiebildung zwischen Mythos und Traum habe er auch einen Beitrag dazu geleistet, dass die Mythologie – gemeinsam mit der Traumdeutung – „wieder zu einer Wissenschaft geworden“ sei.73 Hesse schätzt vor allem Freuds klaren, analytischen Geist und dessen Methodik: schließlich unterzieht er sich ja selbst einer Psychoanalyse und ist davon überzeugt, dass sich die „Grundwahrheiten der Psychoanalyse“ als Methode „durchgesetzt“74 haben. Er äußert sich zu den meisten grundlegenden Werken Freuds, die die Psychoanalyse als Methode betreffen, bleibt allerdings zurückhaltend, wenn es um Freuds Kulturphilosophie geht. So finden sich beispielsweise Kommentare über die Traumdeutung75, || 69 Hesse, Hermann: Brief an einen Kommunisten II. S. 360. 70 Hesse, Hermann: Brief an einen Kommunisten. In: SW 15. S. 353–357. Hier: S. 353. 71 Brief Hesses an Sigmund Freud vom 09.09.1918. In: GB I. S. 378. 72 Vgl. Hesse, Hermann: Psychoanalytische Neuerscheinungen. In: SW 18. S. 164f. 73 Hesse, Hermann: Anmerkungen zu Büchern. S. 205. 74 Hesse, Hermann: Psychoanalytische Neuerscheinungen. S. 164. 75 Vgl. ebd.

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über die Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse76, über die Gesamtausgabe77 und sogar über die Psychopathologie des Alltagslebens78, aber Werke wie Totem und Tabu oder Der Mann Moses, die sich mit mythologischen Themen auseinandersetzen, finden keine Erwähnung. Der Grund dafür könnte möglicherweise darin liegen, dass Hesse diese Themen dem Zuständigkeitsbereich Jungs zurechnet. So sagt er über Freud, dass dieser besonders darauf bedacht sei, „Mediziner und Physiker“ zu bleiben, „mit vorsichtigster Vermeidung jedes metaphysischen Anspruches“79. Jung dagegen habe keine Furcht davor, die Psychoanalyse über die Grenzen einer Wissenschaft hinaus zu einem Weltbild auszuweiten: ihn sieht Hesse in Abgrenzung zu Freud als Wegbereiter für die „Psychoanalyse als Fundament einer neuen, erweiterten, vertieften Weltanschauung“80. Es spricht für sich, dass Hesse gerade das interessant findet, was Freud eben nicht als Gegenstandsbereich der Psychoanalyse ansieht: Das Schöne und merkwürdig Reizvolle an den Schriften Freuds ist dies Hingezogensein eines ungewöhnlich starken Intellekts zu Fragen, die alle ins Überrationale führen, der immer erneute, geduldige dabei kühne Versuch eines disziplinierten Geistes, mit dem doch stets zu groben Netz reiner Wissenschaftlichkeit das Leben einzufangen.81

Den Fragen, die ‚ins Überrationale führen‘, wendet sich C. G. Jung zu, was ja letztlich auch zum Bruch zwischen Freud und Jung beiträgt. Gerade diese Fragen – auch in Bezug auf Mythen – wecken Hesses Interesse und begründen die weitaus stärkere Rezeption der Werke Jungs. Dennoch lässt Hesse keinen Zweifel an der Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte: es gebe nur „wenige Gestalten, die sich an Umfang wie an Tiefe der Wirkung mit Freud vergleichen können“82. Insgesamt kann man bei Hesses Auseinandersetzung mit den Denkern, die im Rahmen dieser Arbeit der prärationalen Deutungsrichtung zugeordnet wurden, eine Gemeinsamkeit erkennen: er bezieht sich stets nur auf einige Aspekte in deren Mythosrezeption, die eher auf eine transrationale Deutungsrichtung verweisen, und ignoriert die Stellen in den Werken Schopenhauers, Bachofens und Freuds, in denen Mythen als eine von der Rationalität überwundene Stufe

|| 76 Vgl. ebd. 77 Vgl. Hesse, Hermann: Erinnerungen an Lektüre. In: SW 18. S. 524–533. Hier: S. 527. 78 Vgl. Hesse, Hermann: Psychoanalytische Neuerscheinungen. S. 164. 79 Ebd. S. 165. 80 Ebd. 81 Hesse, Hermann: Erinnerungen an Lektüre. S. 527. 82 Ebd.

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des menschlichen Denkens dargestellt werden. Hesse schätzt alle drei Denker, geht aber in seinen Äußerungen über deren Werk nicht explizit auf Aspekte ein, die seiner eigenen Auffassung von Mythen zuwiderlaufen. In Bezug auf Friedrich Nietzsche, Ludwig Klages und Alfred Rosenberg, die alle dem Auffassung vom ‚irrationalen Mythos‘ zugeordnet wurden, bietet sich dagegen ein anderes Bild. Hier ist auffällig, dass Hesse sich bei seinen Äußerungen über deren Werk fast gar nicht auf deren Mythenrezeption bezieht. So ist Nietzsche zwar ohne Zweifel einer der Philosophen, die Hesse am stärksten beeinflusst haben, aber er sieht in ihm nicht in erster Linie einen Mythostheoretiker. Nietzsche zählt ab 1897 zu Hesses frühesten und einprägsamsten Lektüreerlebnissen83 und noch 1919 bekennt er in Eine Bücherprobe, dass er beim Aussortieren von Büchern vor dessen Werken Halt gemacht habe: „Nietzsche? Unentbehrlich, samt Briefen.“84 Seine Rezeption ist zwar nicht ungebrochen und auch nicht frei von Kritik85, aber Nietzsches Einfluss auf Hesses literarisches Schaffen ist nicht zu leugnen. Dennoch äußert sich Hesse kaum im Einzelnen zu Nietzsches Werken, insbesondere nicht zur Geburt der Tragödie, die für Nietzsches Mythosbegriff maßgeblich wäre. Ludwig Klages wird von Hesse, soweit dies aus Rezensionen und Briefzeugnissen zu erkennen ist, hautsächlich als Autor des Kosmogonischen Eros wahrgenommen. Auch wenn er zugibt, über andere Veröffentlichungen von Klages „nicht sehr gut orientiert“86 zu sein, lobt er doch den Eros als „tiefe[s] und liebenswerte[s] Buch“87, dessen hervorstechendste Qualität darin zu sehen sei, dass hier „fast Unaussprechliches zu Wort gekommen“88 sei. Hesse schätzt Klages‘ Konzept, dass die Seele sich im Schauen der ‚Welt der Bilder‘ vom Geist befreie und so ein symbolisches Denken entstehe. Seine Beschreibungen des ‚Pelasgertums‘ stehen in Analogie zu Bachofens Konzeption des ‚Mutterrechts‘, der Hesse wohlwollend gegenübersteht. Über Klages‘ Hauptwerk Der Geist als Widersacher der Seele verliert Hesse jedoch kein Wort. Abgesehen von Indizien gibt es keine Belege, dass er die fünf Bände gelesen hat. In einer Kurzrezension

|| 83 Vgl. Hesse, Hermann: Aufzeichnungen vom 14.03.1899–November 1902. In: SW 11. S. 185– 192. Hier: S. 187. 84 Hesse, Hermann: Eine Bücherprobe. In: SW 14. S. 361f. Hier: S. 361. 85 In einem Brief von 1914 spricht Hesse beispielsweise davon, zehn Jahre lang nichts von Nietzsche gelesen zu haben. Vgl. Brief Hesses an Johannes Hesse vom 16.03.1914. In: GB I. S. 243. Vgl. beispielsweise auch Hesses Brief an Karl Isenberg vom 13.06.1897. In: GB I. S. 31. 86 Hesse, Hermann: Über die heutige deutsche Literatur. In: SW 18. S. 424–428. Hier: S. 427. 87 Hesse, Hermann: Oknos, der Seilflechter. S. 399. 88 Hesse, Hermann: Über heutige deutsche Literatur. S. 427.

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zum Band Mensch und Erde lässt Hesse jedoch durchscheinen, dass er den Stil einiger Veröffentlichungen von Klages für problematisch hält: Klages hat zweierlei Arten zu schreiben, eine lesbare und eine philosophisch-gelehrte, und seine Tragik besteht darin, daß er seinen Kampf gegen den ‚Geist‘ zugunsten der ‚Seele‘ in einer Rüstung führt, die ihn seinen Feinden, den Nur-Intellektuellen, zum Verwechseln ähnlich macht.89

Hesse legt mit dieser Aussage den Finger auf die Grundaporie im Werk Klages‘: Er wolle einen Ausdruck für das ‚mythische Denken‘ finden, das sich einem rationalen Zugriff grundsätzlich entzieht. Der moderne Metaphysiker soll zur ‚Wirklichkeit der Bilder‘ durchbrechen – aber er muss die dort geschauten ‚Offenbarungen‘ wiederum im Medium rationaler Begrifflichkeit ausdrücken. Dies gelingt Klages in Hesses Augen nur im Kosmogonischen Eros, in dem er aufgrund seiner dichterischen „Beseeltheit“90 für das ‚Unaussprechliche‘ Worte gefunden habe. Die Tatsache, dass er Klages in einer Besprechung zu Bachofen dessen Lesern empfiehlt91, lässt zudem vermuten, dass Hesse der Geschichtskonzeption beider Denker keine allzu große Bedeutung beimisst. Die Lage ist eindeutig, wenn man sich Hesses Auseinandersetzung mit Alfred Rosenberg ansieht: ihn lehnt er rundheraus ab. Rosenberg hatte Hesse als junger Autor ein Exemplar seines Mythus des 20. Jahrhunderts zugeschickt und darauf keine Antwort erhalten. 1947 schreibt Hesse an Wilhelm Häcker, dass Rosenberg ihm deswegen „böse von Anfang an“92 gewesen sei – aber „ganz bös“ sei er erst geworden, als „ihm ein mir gemachter Bestechungsversuch mißglückt war. Von da an suchte er mich mit allen Mitteln, und deren hatte er viele, kaputt zu machen“93. Mit dem ‚Bestechungsversuch‘ ist eine Einladung Rosenbergs an Hesse gemeint, an einem dem nationalsozialistischen Regime wohlgesinnten Verband europäischer Schriftsteller mitzuwirken, was dieser jedoch abgelehnt hat.94 Hesse hatte mit den Folgen zu leben: ein Großteil seiner Bücher durfte in Deutschland nicht nachgedruckt werden, 1942 wurde ihm auf Drängen Rosenbergs die Druckgenehmigung für Das Glasperlenspiel in Deutschland nicht erteilt und ein Jahr später wurde sein Verleger Peter Suhrkamp von der

|| 89 Hesse, Hermann: Notizen über Bücher. In: SW 19. S. 124–130. Hier: S. 125. 90 Hesse, Hermann: Über heutige deutsche Literatur. S. 427. 91 Hesse, Hermann: Oknos, der Seilflechter. S. 399. 92 Brief Hesses an Wilhelm Häcker vom 29.10.1947. In: SW 15. S. 668. 93 Ebd. 94 Vgl. ebd. S. 629 und BWHM. Anm. 2. S. 223.

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Gestapo verhaftet und ins Konzentrationslager Ravensbrück gebracht.95 Zur politischen Instrumentalisierung von Dichtung und Mythen hat sich Hesse über die gesamte Dauer seines literarischen Schaffens hinweg klar geäußert, einer „Politisierung der Dichter“96 steht er stets ablehnend gegenüber. Schon zu Beginn seiner Karriere als Autor schreibt er an seine Eltern: „Die Kunst als Mittel ist höchstens halbe Kunst“97. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges veröffentlicht er im Oktober 1914 den Apell O Freunde, nicht diese Töne! (1914), der sich an seine Schriftstellerkollegen richtet, die den „Krieg ins Reich des Geistes hinübertragen wollen“ anstatt „Brücken zu schlagen“98, und wird dafür öffentlich angefeindet.99 Dass man Kunst für politische Zwecke einsetzt, findet Hesse etwa so sinnvoll, wie „wenn man ein Barometer zum Nägeleinschlagen benützen wollte“100. 1930 tritt er aus der Akademie der Künste aus, obwohl ihn zahlreiche Kollegen (unter ihnen auch Thomas Mann) bitten zu bleiben. Hesse fürchtet jedoch, dass die Mitglieder der Akademie beim „nächsten Krieg“ zu denen gehören würden, die „das Volk wieder wie 1914 im Staatsauftrag über alle lebenswichtigen Fragen belügen werden“101. Noch heftiger als die politischen Äußerungen von Dichtern und Denkern verurteilt Hesse jedoch die Vereinnahmung von Mythen und religiösen Riten durch den Nationalsozialismus. Hitler nennt er schon 1932 einen „Theaterteutonen ohne Hirn“102, der die Deutschen mit seiner Germanen-Rhetorik zu verführen versuche. 1938 schreibt er in einem Brief: Ich sehe im übrigen die heutige Welt wie ein Irrenhaus und ein schlechtes Sensationsstück an, oft bis zum tiefsten Ekel degoutiert, aber doch so wie man Irre und Besoffene ansieht, mit dem Gefühl: Wie werden die sich schämen, wenn sie eines Tages wieder zu sich kommen sollten! […] [Ich] sehe nur noch mit Erstaunen, nicht mehr mit eigentlichem Ver-

|| 95 Vgl. Michels, Volker: Nachwort des Herausgebers. In: SW 15. S. 817–850. Hier: S. 842ff. 96 Hesse, Hermann: Politische Schriften. In: SW 15. S. 163. 97 Brief Hesses an die Eltern vom 04.10.1897. In: GB I. S. 34. 98 Hesse, Hermann: O Freunde, nicht diese Töne! In: SW 15. S. 10–14. Hier: S. 12. 99 Hesse wurde von der deutschen Presse stets für seine politischen – und apolitischen – Äußerungen angefeindet. So wird er 1915 der „Drückebergerei und schlauen Feigheit“ bezichtigt (Kölner Tageblatt vom 24.10.1915. In: SW 15. S. 80), 1926 wird ihm vorgeworfen, er „beschmutz[e] das eigene Vaterland“ (Dt. Tageszeitung vom 12./13.04.1926. In: SW 15. S. 313) und 1934 erklärt man ihn kurzerhand zum „Halbjuden“ (Ludendorffs Halbmonatsschrift vom 20.09.1934. In: SW 15. S. 436), um nur einige Beispiele zu nennen. 100 Hesse, Hermann: Du sollst nicht töten. In: SW 15. S. 267–270. Hier: S. 269. 101 Brief Hesses an Wilhelm Schäfer vom November 1930. In: SW 15. S. 339. 102 Brief Hesses an seine Schwester Adele vom März 1932. In: SW 15. S. 381.

Hermann Hesses Auseinandersetzung mit dem Mythos | 169

stehenwollen zu, wie noch die kindischsten, ja viehischsten politischen Triebe sich als ‚Weltanschauungen‘ etc. geben, ja die Gebärde von Religionen annehmen.103

Die politische Vereinnahmung nordischer Mythen und religiöser Riten im Nationalsozialismus geht zu großen Teilen auf Rosenbergs Vorarbeit im Mythus des 20. Jahrhunderts zurück, über die sich Hesse im Glasperlenspiel lustig macht. In der zweiten und dritten Fassung der Einführung kommt Rosenberg als ‚Professor Schwentchen‘ vor, der mit seinem Buch ‚Das grüne Blut‘ die Ehre des reinrassigen Germanen beschwört.104 Diese Parodie spricht dafür, dass Hesse den Mythus zumindest in Teilen gelesen oder dessen Inhalt gekannt hat. Nachdem Rosenberg zum Tode verurteilt wurde, schreibt Hesse geradezu zufrieden an Thomas Mann: Dieses Jahr hat mir mehrere an sich gute und erwünschte Gaben gebracht; im Sommer konnte ich meine beiden Schwestern einige Wochen bei mir zu Gast haben […]. Dann gab man mir den Goethepreis. Dann hat man den grimmigsten und bösesten Feind, den ich je gehabt habe, er hieß Rosenberg, in Nürnberg aufgehängt.105

Deutlicher kann man sich nicht ausdrücken. Während Hesse sich also kaum zum Mythosverständnis der ‚Irrationalisten‘ äußert, ist seine Prägung durch den Kontakt mit C. G. Jung kaum zu überschätzen. Hesses Mythosbegriff speist sich fast ausschließlich aus seiner Auseinandersetzung mit dessen Werk. Wie bereits angedeutet, sieht er in Jung den Weiterdenker Freuds, der die Grenzen der reinen Wissenschaftlichkeit sprengt: Nach Freud hat kein heutiger Psychiater die Einsicht in das Wesen des Seelischen mehr gefördert als er. Er bleibt nicht bei dessen Mechanismen stehen und traktiert es nicht als Naturwissenschaft, sondern als Philosophie.106

Der überaus starke Einfluss Jungs auf Hesse ist sicherlich auch daraus zu erklären, dass Hesse ihn nicht nur aus seinen Schriften kennenlernt, sondern auch engen persönlichen Kontakt mit dem Psychoanalytiker pflegt. Nach dem Tod seines Vaters im März 1916 und der Einweisung seiner Frau Mia in eine Nervenheilanstalt lässt sich Hesse zwischen April und Mai 1916 im Luzerner Kurhaus Sonnmatt von Jungs Schüler Josef Bernhard Lang psychoanalytisch behandeln. Auch als er bereits wieder für die Kriegsgefangenenfürsorge arbeitet, pendelt

|| 103 Brief Hesses an R. J. Humm vom 10.07.1938. In: SW 15. S. 548f. 104 Vgl. Michels, Volker: Nachwort des Herausgebers. In: SW 5. S. 705–736. Hier: S. 731. 105 Brief Hesses an Thomas Mann vom 19.11.1946. In: BWHM. S. 222. 106 Hesse, Hermann: Über einige Bücher. In: SW 19. S. 489–497. Hier: S. 494.

170 | Mythos und Psychologie: Der Mythosbegriff bei Hermann Hesse und Thomas Mann

Hesse bis 1917 zunächst jede Woche von Bern nach Luzern zu den Sitzungen mit Lang.107 Auskunft über den Charakter dieser Sitzungen geben das Traumtagebuch der Psychoanalyse108, in das Hesse seine Träume und Assoziationen zur späteren Besprechung in den Analysesitzungen notiert, und der Briefwechsel mit J. B. Lang. Lang und Hesse tauschen sich auch über die Werke C. G. Jungs aus, die Hesse bereits kennengelernt hatte: so zitiert er beispielsweise im Traumtagebuch Jungs Wandlungen und Symbole109 und erkundigt sich brieflich bei Lang über das Erscheinen der Psychologischen Typen110. Das erste persönliche Treffen zwischen Jung und Hesse kommt im September 1917 zustande, als Jung ihn zum Abendessen einlädt: Hesse notiert in sein Notizbuch, dass beide „bis gegen elf“ zusammengesessen und über „Vieles, auch das Gnostische“ gesprochen hätten – er habe einen „sehr guten Eindruck“ von Jung bekommen und es „wertvoll und spannend“ gefunden, „ihn zu hören“111. Es ist zu vermuten, dass Jung Hesse an diesem Abend ein Exemplar seiner anonym verfassten gnostischen Schrift Septem sermones ad mortuos (1916) mitgegeben hat, denn nur drei Tage nach dem Treffen vermerkt Hesse im Notizbuch, dass er auf der Heimfahrt in dem Buch gelesen habe.112 Aber auch Jung liest wiederum Hesses anonym erschienenen Roman Demian: im Dezember 1919 gesteht Lang in einem Brief an Hesse, dass er gegenüber Jung verraten habe, dass Hesse hinter dem Pseudonym Emil Sinclair stecke, denn Jung sei „in großer Unruhe“ darüber gewesen, dass „so etwas außerhalb der Analyse habe entstehen können“113. Beigelegt ist ein Schreiben Jungs an Hesse, das belegt, wie nahe sich der Autor und der Psychoanalytiker gedanklich stehen: Ihr Buch wirkte […] auf mich wie das Licht eines Leuchtturmes in einer Sturmnacht. Ein gutes Buch muß wie ein richtiges Menschenleben ein Ende haben. Ihr Buch hat ein bestmögliches Ende, nämlich da, wo Alles Vorausgegangene auch wirklich ein Ende hat, und wo Alles das wiederum beginnt, womit das Buch begonnen hat, nämlich mit der Geburt

|| 107 Vgl. dazu Zeittafel. In: SW Registerband. S. 13–46. Hier: S. 23. 108 Hesse, Hermann: Traumtragebuch der Psychoanalyse. In: SW 11. S. 444–617. 109 Vgl. Eintrag vom 28.09.1917. In: Hesse, Hermann: Traumtagebuch. S. 518. 110 Vgl. Brief Langs an Hermann Hesse vom 20.10.1919. In: Hesse, Hermann/Lang, Josef Bernhard: Briefwechsel. S. 116. 111 Eintrag vom 08.09.1917. In: Hesse, Hermann: Aus einem Notizbuch. In: SW 11. S. 443–627. Hier: S. 488. 112 Vgl. Eintrag vom 11.09.1917. Ebd. S. 493f. Interessanterweise findet er darin gerade den „Ausdruck für das principium individuationis ungemein durchdacht und wichtig“ dargestellt – er scheint also einen Anknüpfungspunkt zu Schopenhauer gefunden zu haben. 113 Brief Langs an Hermann Hesse vom 05.12.1919. In: Hesse, Hermann/Lang, Josef Bernhard: Briefwechsel. S. 193.

Hermann Hesses Auseinandersetzung mit dem Mythos | 171

und dem Aufwachsen eines neuen Menschen. […] Von Demian wüßte ich Ihnen noch ein kleines Geheimnis zu erzählen, dessen Zeuge Sie geworden sind, dessen Sinn Sie aber dem Leser und vielleicht auch Ihnen vorenthalten haben […]. Ich habe Ihr Buch auch sofort für unsere Clubbibliothek angeschafft. Es ist gesund an allen Gliedern und führt auf den Weg. Nehmen Sie mir, bitte, die Invasion nicht übel. Niemand weiß darum – Ihr ganz ergebener und von Herzen dankbarer C. G. Jung114

Aufgrund dieser gedanklichen Nähe beschließt Hesse (nach einigen Sitzungen mit dem Laienpsychologen Johannes Nohl) sich mit Jung zu psychoanalytischen Gesprächen zu treffen. Nachdem Hesse 1920 zu einer Lesung in Jungs Psychologischem Club eingeladen war, ist er vom 19.–24. Februar und erneut vom 19. – 25. Mai 1921 bei Jung in Küsnacht zur Analyse.115 Von dieser Erfahrung berichtet er in zahlreichen Briefen. An Hans Reinhart schreibt er im Mai 1921: […] Psychoanalyse ist nicht ein Glaube oder eine Philosophie, sondern ein Erlebnis. […] Bei Jung erlebe ich zur Zeit, in einer schweren und oft kaum ertragbaren Lebenslage stehend, die Erschütterungen der Analyse. Es geht bis aufs Blut und tut weh. Aber es fördert.116

Hesse schreibt weiter, Jung sei „als Intellekt wie als Charakter ein prachtvoller, lebendiger, genialer Mensch“117. Auch im Juni 1921 ist Hesse noch ein drittes Mal für zwei Tage bei Jung in Zürich. Die Aufzeichnungen in seinem Notizbuch zeigen, dass die Gespräche der beiden sich nicht nur um privates (wie die anstehende Scheidung von seiner Frau Mia) drehen, sondern auch allgemeine philosophische und mythologische Themen abdecken. So bekräftigt Jung Hesse in dem Glauben, dass „Weisheit nicht mitteilbar“ und „Probleme nicht zum ‚Lösen‘ da“ seien: man solle sie akzeptieren als „Gegensatzpaare, zwischen denen jene Spannung erzeugt wird, die Leben heißt“118. Auch zu einem Gespräch über „Konfuzius und Lao Tse“ sowie über mythische Frauenfiguren, die für die Gnostiker eine Rolle spielen, findet sich ein Vermerk.119 Noch 1950 gibt Jung auf Nachfrage die Auskunft, dass seine Gespräche mit Hesse dessen literarisches Schaffen noch bis weit nach der Zeit der eigentlichen Analyse geprägt hätten. In

|| 114 Ebd. 115 Vgl. Zeittafel. S. 26. 116 Brief Hesses an Hans Reinhart vom Mai 1921. In: GB I. S. 473. 117 Brief Hesses an Hans Reinhart vom Mai 1921. In: Michels, Volker: Materialien zu ‚Siddharta‘. S. 137. 118 Hesse, Hermann: Aus einem Züricher Notizbuch vom 18. Mai bis 26. Juni 1921. In: SW 11. S. 655–657. Hier: S. 656. 119 Vgl. ebd.

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einem Brief an Emanuel Maier, der zu dieser Zeit an einem (nie publizierten) Aufsatz über das Verhältnis von Hesse und Jung arbeitete, schreibt Jung: Er [J. B. Lang, E.K.] hatte durch mich ein reiches Wissen über Gnosis erworben, das er ebenfalls an Hesse weitergab. Aus diesem Stoff schrieb er seinen Demian. Der Ursprung von Siddhartha und Steppenwolf ist verborgener. Direkt oder indirekt gingen sie – wenigstens teilweise – aus einigen meiner Gespräche mit Hesse hervor.120

Auch wenn sich Hesse später hin und wieder kritisch über den Wert der Psychoanalyse für Künstler und insbesondere über die psychoanalytische Deutung von Literatur äußert121, bleibt er zeit seines Lebens mit Jung in Kontakt und verfolgt alle seine Veröffentlichungen mit großem Interesse. Besonders wichtig sind ihm die Schriften Jungs, die vor oder in der Zeit seiner eigenen Analyse erscheinen: die Wandlungen und Symbole der Libido (1912) hält er neben den Septem Sermones (1916) für Jungs wichtigstes Werk122, er liest aber auch Jungs Dissertationsschrift123, die Transzendente Funktion (1916)124 und Psychologische Typen (1921)125. Auch nach seiner Psychoanalyse verfolgt er Jungs Schaffen weiter und liest beispielsweise die Energetik der Seele (1928)126, Wirklichkeit der Seele (1934)127 und den gemeinsam mit Richard Wilhelm herausgegebenen Band Das Geheimnis der goldenen Blüte (1930)128. In einer Besprechung dieses Buches nennt er Wilhelm und Jung „zwei der besten deutschen Geister von heute“129. Wie entscheidend die Psychoanalyse auch sein literarisches Schaffen geprägt hat, lässt sich aus einem Brief Hesses an seinen Freund Ludwig Finckh ersehen, in dem er sein Schaffen in eine Phase vor und eine Phase nach der Psychoanalyse einteilt: […] ich hatte die ganze Welt aus neuen Gesichtspunkten sehen lernen und namentlich meine Psychologie durch das Miterleben der Zeit [des Ersten Weltkriegs, E.K.] und durch

|| 120 Brief Jungs an Emanuel Maier vom 24.03.1950. In: Jung, Carl Gustav: Briefe II. S. 183. 121 Vgl. dazu den Brief Hesses an Theodor Schnittkin vom 03.06.1928. In: GB II. S. 195f. 122 Vgl. Brief Hesses an Hugo Ball vom 30.07.1925. In: GB II. S. 118. 123 Vgl. Hesse, Hermann: Traumtagebuch. S. 520. 124 Vgl. ebd. S. 480. 125 Vgl. Hesse, Hermann: Tagebuch 1920/21. S. 646. 126 Vgl. Hesse, Hermann: Dezembergedanken. S. 378. 127 Vgl. Hesse, Hermann: Über einige Bücher. S. 493. 128 Vgl. Hesse, Hermann: Notizen über Bücher. S. 161f. 129 Ebd. S. 161.

Hermann Hesses Auseinandersetzung mit dem Mythos | 173

die Psychoanalyse völlig neu orientiert. Es blieb mir nichts übrig, […] als unter meine früheren Sachen einen Strich zu machen und neu zu beginnen.130

Auf die Auswirkungen der Psychoanalyse auf Hesses literarisches Schaffen wird zu einem späteren Zeitpunkt noch zurückzukommen sein – an dieser Stelle ist nun zu fragen, welche Elemente von Jungs Mythosverständnis Hesse für sich übernimmt. In seinem Aufsatz Künstler und Psychoanalyse (1918) bezeichnet Hesse Jungs Schritt, sich im Rahmen der analytischen Psychologie „dem Volksmythos, der Sage und der Dichtung“ zuzuwenden als „fruchtbare Berührung“131 zwischen Kunst und Psychoanalyse. Am wichtigsten ist ihm dabei Jungs Annahme eines ‚kollektiven Unbewussten‘, aus dem sich Mythen, Dichtung und Träume speisen. Hesse übernimmt diese Annahme bereits früh: in einer Lektürenotiz zu Jungs Die transzendente Funktion (1916), die vom 30. August 1917 datiert, schreibt er, dass der Aufsatz ihn „klar und wertvoll belehrt habe“, insbesondere über die „Trennung der Inhalte des Unbewußten in persönliche und kollektive“132. Noch Jahrzehnte später bezeichnet er die Entdeckung des kollektiven Unbewussten als einen der wichtigsten „Funde“133 Jungs. Auch die Idee des Austausches zwischen Bewusstsein und Unbewusstem, bei dem das mythische Symbol die Rolle des Vermittlers einnimmt, scheint für Hesse von Interesse gewesen zu sein. So benutzt er beispielsweise in dem 1918/19 verfassten autobiographischen Text Einkehr die von Jung eingeführte Analogie von Wasseroberfläche (Bewusstsein) und Wassertiefe (Unbewusstes), die sich in zahlreichen Texten Jungs über das kollektive Unbewusste findet.134 Hesse schreibt: Daß ich den mir wichtigen Kreis der Dinge dauernd im Blickfeld meines Bewußtseins habe, ist nicht entscheidend für den Wert und die Steigerung meines Ichs, sondern nur das, daß ich zwischen dem Bezirk des Bewußtseins und dem des Unbewußten gute, leichte, flüssige Beziehungen habe. […] [S]telle dir dein Wesen als einen tiefen See mit kleiner Oberfläche vor. Die Oberfläche ist das Bewußtsein. Dort ist es hell, dort geht das vor sich, was wir denken heißen. […] Den unendlich größeren Teil ihres Inhalts sieht die Seele nicht: reich und gesund nun und zum Glück fähig scheint mir die Seele, in der aus dem großen Dunkel nach dem kleinen Lichtfelde hin ein beständiger, frischer Zug und Austausch vor sich geht.135

|| 130 Brief Hesses an Lduwig Finckh vom 05.01.1920. In: GB I. S. 436. 131 Hesse, Hermann: Künstler und Psychoanalyse. In: SW 14. S. 351–356. Hier: S. 351. 132 Hesse, Hermann: Traumtagebuch. S. 480. 133 Hesse, Hermann: Über einige Bücher. S. 493. 134 Vgl. Jung, Carl Gustav: Über die Archetypen. S. 33. 135 Hesse, Hermann: Einkehr. In: SW 11. S. 624–627. Hier: S. 626f.

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Nach Jungs Ansatz ist es die Auseinandersetzung mit den archetypischen Bildern der Mythen und Träume, die diesen ‚Austausch‘ erst ermöglichen. Vieles spricht dafür, dass auch Hesse dieses Konzept übernommen hat. In seinen Aufsätzen und Briefen spricht er zum einen oftmals von einem „höchsten Symbol“136, von Traumbildern, die „etwas durchaus überindividuelles und zeitloses“ an sich hätten und „mit uralten mythologischen Systemen […] übereinstimmen“137. Mythen bezeichnet er als „Denkmäler und Symbole [des] Inneren“138 und spricht sogar ganz im Sinne von Jungs kollektivem Unbewussten von mythischen Bildern als „seelische[m] Gemeinbesitz“139. Zum anderen scheint er auch selbst in der Psychoanalyse erlebt zu haben, dass die Auseinandersetzung mit diesen Bildern zwischen Bewusstsein und Unbewusstem vermitteln kann. In Künstler und Psychoanalyse bekennt er: Wer den Weg der Analyse, das Suchen seelischer Urgründe aus Erinnerungen, Träumen und Assoziationen ernsthaft eine Strecke weit gegangen ist, dem bleibt als bleibender Gewinn das, was man etwa das ‚innige Verhältnis zum eigenen Unbewußten‘ nennen kann.140

Dieser Prozess steht ab dem Demian auch im Zentrum von Hesses literarischem Schaffen, wie noch zu zeigen sein wird. Bemerkenswert ist an dieser Stelle jedoch bereits, wie umfassend Hesse die zentralen Elemente von Jungs Mythenverständnis übernimmt. Der „Sinn dieser Mythen“ und Symbole sei „rational nie ganz wiederzugeben“141, er erhelle sich erst im „liebevolle[n] Lauschen auf die verborgenen Quellen“142. Genau an diesem Punkt sieht Hesse – wiederum genau wie Jung – eine Verbindungslinie zwischen östlicher Philosophie und westlicher Psychoanalyse. Beide sehen für die geistige Kultur der „Abendländer“ die „größte Gefahr“ in einem aus der Aufklärung entsprungenen „bilderfeindliche[n] Intellektualismus“143 und stellen dieser Tendenz die Introspektion und die Auseinandersetzung mit symbolischen Bildern gegenüber. So ist es nicht überraschend, wenn Hesse bekennt, dass die Psychoanalyse (Jungscher

|| 136 Hesse, Hermann: Die Brüder Karamasoff. S. 129. 137 Brief Hesses an Bruno Hesse vom 22.03.1930. In: GB II. S. 246. 138 Hesse, Hermann: Aufzeichnungen von der Indienreise. S. 62. 139 Hesse, Hermann: Erinnerung an Asien. S. 72. 140 Hesse, Hermann: Künstler und Psychoanalyse. S. 354. 141 Hesse, Hermann: Neue deutsche Bücher IV. S. 156. 142 Hesse, Hermann: Künstler und Psychoanalyse. S. 356. 143 Hesse, Hermann: Anmerkungen zu Büchern. In: SW 20. S. 201–206. Hier: S. 206.

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Prägung) neben seiner Beschäftigung mit den Mythen und Religionen Indiens und Chinas zu seiner „wichtigsten Offenbarung“144 geworden sei: Auch von anderer Seite her, aus den Folgerungen, die ich aus manchen Lehren der Psycho-Analyse zog, ergab sich mir mehr und mehr ein Ideal dessen, was ich Weisheit nannte, und das Wissen von einem bipolaren, nicht einseitigen, synthetischen Denken.145

Mit dem Ausdruck ‚synthetisches Denken‘ könnte Hesse auf eben jenen ‚transrationalen‘ Erkenntniszugang verweisen, der für Jungs Mythenkonzept eine zentrale Stellung einnimmt. Ein ‚Denken‘, das zwei Gegensätze umspannt, verstößt gegen Aristotles‘ Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch und kann damit im Rahmen des rationalen Denkens nicht logisch korrekt sein. Mythische und auch seelische Symbole, die sich beispielsweise in Träumen äußern, begreift Hesse jedoch in Anlehnung an Jung als eine Art des bildlichen Denkens, das jenseits der rationalen Begriffssprache steht, und damit einen Zugang zum Unbewussten schafft. Dieser Zugang wiederum ist die Voraussetzung für den Beginn des Individuationsprozesses und einen „Weg der Heilung“146 in einer vom Übergewicht des Intellektualismus geprägten Zeit. Ebenso wie C. G. Jung attestiert Hesse dem rein rationalen Zugang zur Wirklichkeit schon früh eine gefährliche Einseitigkeit. In einem Brief an seine Familie schreibt er bereits im Jahr 1908: Das Resultat aller ernsthaften, exakten, kritischen Philosophie ist ja doch, daß die für unser Seelenbedürfnis brennendsten Fragen dem Verstand oder gar der Logik ganz unlösbar sind.147

Diese Meinung vertrat Hesse wohl lebenslang, denn noch im Jahr 1954 schreibt er an eine Leserin als Antwort auf ihre Zuschrift, sie leide wohl an einer „Einseitigkeit des Strebens, nämlich an dem Bemühen, die Rätsel der Welt und Wirklichkeit auf rationalem Weg, durch Denken, zu lösen“148. Hesse will jedoch keinesfalls als Irrationalist missverstanden werden: es geht ihm um eine Synthese zwischen rationalem Denken (‚Geist‘) und intuitiver Erkenntnis (‚Natur‘), um

|| 144 Hesse, Hermann: Über mein Verhältnis zum geistigen Indien und China. S. 130. 145 Ebd. 146 Hesse, Hermann: Tagebuch. S. 652. 147 Brief Hesses an die Familie vom 29.02.1908. In: Michels, Volker: Materialien zu ‚Siddharta‘. S. 46. 148 Brief Hesses an eine Leserin vom März 1954. In: Michels, Volker: Materialien zu ‚Siddharta‘. S. 250.

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eine „Einheit von Denken und Fühlen“149 – um ‚synthetisches Denken‘ oder eben ‚transrationale Erkenntnis‘. Im östlichen Kulturraum sei „auf allen Gebieten der nichtrationellen Erkenntnis“150 ein Wissen kultiviert worden, das nicht nur, aber auch in Mythen zum Ausdruck komme. Hesse geht sogar so weit zu sagen, dass sich „in den Mythologien […] fast alles wirkliche Wissen angesammelt“151 habe. Welcher Art dieses Wissen ist, wird aus Hesses Anmerkungen zu Keyserlings Reisetagebuch deutlich: Als erster unter all den europäischen Gelehrten hat er [Keyserling, E.K.] das Einfache, längste Bekannte gesehen und einfach ausgesprochen, daß der indische Weg zum Wissen nicht eine Wissenschaft ist, sondern eine psychische Technik, daß es sich um eine Änderung des Bewußtseinszustandes handelt, und daß der auf indischem Wege Ausgebildete seine Erkenntnisse nicht errechnet und erstudiert, sondern die Wahrheiten mit dem inneren Auge sieht, mit dem inneren Ohr belauscht, und sie unmittelbar perzipiert, nicht erdenkt.152

Genauso wie Jung moniert Hesse, dass in der Moderne das ‚Gebiet der nichtrationalen Erkenntnis‘, auf das sich Mythen und Religionen beziehen, zugunsten des ‚Gebietes der rationalen Erkenntnis‘, das die westliche Wissenschaft und Philosophie abdecken, vernachlässigt worden sei. Bei ‚nicht-rationaler Erkenntnis‘ gehe es darum, mithilfe einer ‚psychischen Technik‘ seelische Wahrheiten zu erfahren, aber eben auch eine Einsicht in metaphysische Bereiche zu erlangen. Dies sei eben „keine nur intellektuelle Erkenntnis, kein Lernen und Wissen, sondern geistiges Erleben“153. Als Beispiel dafür, wie mythische Geschichten Zugang zu diesem Bereich des Wissens ermöglichen, führt Hesse das weitverbreitete Stilmittel der Paradoxie an. Mythen enthalten oft Widersprüche, die sich logisch nicht auflösen lassen und verweisen damit auf eine Sphäre der Einsicht, die dem rationalen Denken nicht zugänglich ist. Als gängigstes Beispiel aus der östlichen Mythologie nennt Hesse die Erkenntnis, dass „Gott zugleich transzendent und immanent sein könne“154. Was logisch keinen Sinn ergibt, kann dagegen in der mythischen Bildersprache zum Ausdruck kommen.

|| 149 Hesse, Hermann: Ein Bibliotheksjahr. S. 78. 150 Hesse, Hermann: Rezension zu Martin Bubers ‚Ekstatische Konfessionen‘. In: In: Michels, Volker: Materialien zu ‚Siddharta‘. S. 47. 151 Brief Hesses an einen unbekannten Empfänger vom Mai 1943. In: Michels, Volker: Materialien zu ‚Siddharta‘. S. 233. 152 Hesse, Hermann: Keyserlings Reisetagebuch. In: SW 18. S. 183–186. Hier: S. 184. 153 Hesse, Hermann: Stichworte zu einem Vortrag über indische Kunst und Dichtung. In: Michels, Volker: Materialien zu ‚Siddharta‘. S. 151–155. Hier: S. 155. 154 Hesse, Hermann: Hinduismus. In: SW 18. S. 403f. Hier: S. 404.

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Genau dies fehlt jedoch, Hesses Ansicht nach, in der westlichen Denktradition: das rege Interesse an östlicher Mythologie und Religion deutet er als Anzeichen dafür, dass „die hochgetriebene Einseitigkeit [ihrer] geistigen Kultur […] einer Korrektur bedarf, einer Auffrischung vom Gegenpol her.“155 In der östlichen Denktradition findet er eine „Kultur jener seelischen Funktionen, welchen unsere intellektualistische Geistigkeit nicht gerecht geworden ist“156. Jungs Psychoanalyse empfindet er als westliches Pendant dazu, was – neben den bereits genannten Punkten – auch eine Erklärung für den enormen Einfluss von dessen Theorien auf Hesse sein kann. Karl Kerényis Mythosauffassung hat keinen vergleichbar großen Einfluss auf Hesses Mythosbegriff, wird aber dennoch wohlwollend rezipiert. Ebenso wie Thomas Mann pflegt Hesse auch persönlichen Kontakt zu dem ungarischen Gelehrten. Bereits vor dem ersten Besuch bei Hesse im Jahr 1936 sendet Kerényi ihm seine Schrift Unsterblichkeit und Apollonreligion (1934) zu, die nicht nur den Briefwechsel zwischen ihm und Hesse eröffnet, sondern auch den zwischen Thomas Mann und Kerényi. Im Gegensatz zum Briefwechsel mit Mann, der sich vornehmlich um beider Auseinandersetzung mit dem Mythos dreht, sind die Briefe zwischen Hesse und Kerényi jedoch überwiegend persönlicher Natur.157 Dennoch kommen beide an einigen Stellen auf das Thema Mythos zu sprechen. So kommentiert Kerényi beispielsweise nach der Lektüre des Glasperlenspiels dessen Erzählstruktur folgendermaßen: In den Geweben solcher Träume wird man selbst gewoben und zugleich hineingewoben in jenes saumlose Gewebe, das mit den großen Mythologien und Mythendichtern begann.158

Hesse nimmt die Wendung des ‚saumlosen Gewebes‘ in seinem Antwortschreiben auf und sieht sich durch dieses Bild „im Sinn seines Tuns, im dichterischen Träumen, bestätigt und gerechtfertigt“159. Überhaupt beziehen sich beide häufig auf die Metaphern des Träumens und Webens, wenn es um mythische Erzählungen geht. Auch an anderer Stelle bezeichnet Kerényi die Erzeugnisse des Dichters als „Träume“, in denen sich das „Menschliche, das uns Menschen einzig wichtige […] unverlogen“160 zeige. Interessant ist daran, dass sich der

|| 155 Hesse, Hermann: Die Reden Buddhas. In: SW 18. S. 261–263. Hier: S. 262. 156 Ebd. 157 Vgl. Hesse, Hermann/Kerényi, Karl: Briefwechsel aus der Nähe. Hg. von Magda Kerényi. München/Wien 1972. 158 Brief Kerényis an Hermann Hesse vom 29.06.1944. In: Ebd. S. 37. 159 Brief Hesses an Karl Kerényi vom 05.09.1944. In: Ebd. S. 43. 160 Brief Kerényis an Hermann Hesse vom 20.10.1945. In: Ebd. S. 52.

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humanistische Gedanke gerade in den dichterischen ‚Träumen‘ offenbart und wiederum nicht im rationalen Diskurs. Kerényi führt weiter aus: Eure Träume, Ihr Dichter und Schriftsteller, sind wahrer, weniger – bewußt oder unbewußt – lügenhaft als die Ergebnisse der historischen Wissenschaften […]. Suche ich Wahrheit? Die Reinheit suche ich, die Klarheit, die Unverlogenheit – das ist mir Wahrheit […].161

Diese Art der ‚Wahrheit‘ sieht Hesse – wie bereits gezeigt – in einem ‚bipolaren, synthetischen Denken‘ realisiert, das dem Traum verwandte Bilder für das Erlebnis einer ungeteilten Realität findet. Diese Qualität scheint Hesse auch in den Schriften Kerényis gefunden zu haben. Im Januar dankt er ihm für die Zusendung des Prometheus (1946) und geht dabei auf diese Art des ‚Traumdenkens‘ ein: Haben Sie Dank für den Prometheus! Ich findet diese Schrift besonders getränkt mit jenem Bachofenschen Mythenzauber, jener geheimnis- und bedeutungsvollen Atmosphäre, wo alles klar und zugleich wieder neu problematisch wird, wo alles Erkannte auch sofort [nach] seinem Gegen-Aspekt ruft.162

Wenn Kerényis spezifische Mythostheorie, die ja in weiten Teilen an Jung angelehnt ist, keinen maßgeblichen Einfluss auf Hesses Nachdenken über den Mythos hat, so mag das in Anbetracht dieser Übereinstimmungen auch daran liegen, dass Hesse in Kerényi einen verwandten Geist sieht, der seine eigene Auffassung stets bestätigt. Zudem lernt Hesse Kerényis Schriften erst relativ spät – ab den dreißiger Jahren – kennen, als seine eigener Mythosbegriff bereits durch andere Einflüsse geprägt war. Die zahlreichen Empfehlungen, die Hesse anlässlich von Kerényis Neuerscheinungen publiziert, sprechen jedoch dafür, dass er in ihm einen Gleichgesinnten gesehen hat. So führt er nahezu jede neue Schrift Kerényis in der Rubrik ‚Vorschläge für ein Buchgeschenk‘ auf, die er für die Weltwoche verfasst: er empfiehlt 1941 Die antike Religion, 1946 die Prometheus-Schrift, 1948 Niobe, 1951 Die Mythologie der Griechen und 1955 Geistiger Weg Europas.163 Hesse schätzt an seinen Arbeiten eben jene Verbindung von Wissenschaftlichkeit und Versiertheit auf dem Gebiet des ‚nicht-rationalen Denkens‘, die er auch an den Schriften Jungs immer wieder hervorhebt. In einer

|| 161 Ebd. 162 Brief Hesses an Karl Kerényi vom 21.01.1946. In: Ebd. S. 55. 163 Vgl. Hesse, Hermann: Vorschläge für ein Buchgeschenk. In: SW 20. S. 272; S. 273; S. 277; S. 297; S. 324.

Hermann Hesses Auseinandersetzung mit dem Mythos | 179

Rezension zu Kerényis autobiographischer Schrift Unwillkürliche Kunstreisen (1954) betont Hesse gerade diesen Charakterzug: […] es waltet in dieser Seele beides: die ewig dürstende Ungeduld des […] Entdeckers, und neben ihr oder mit ihr abwechselnd doch wieder die Beharrlichkeit und Geduld des meditierenden Belagerers großer Geheimnisse.164

Es ist angesichts von Jungs enormem Einfluss auf Hesses Mythosverständnis nicht verwunderlich, dass er Kerényis Art zu forschen und zu schreiben wertschätzt und sicherlich auch die Übereinstimmungen zwischen den beiden Denkern gesehen hat. Gerade Kerényis Verbindung von Humanismus, Mythos und Psychologie passt genau zu Hesses eigener Auffassung. Dass Kerényis humanistischer Ansatz weder dem ‚rationalistischen‘ noch dem ‚irrationalistischen‘ Lager zuzuordnen ist, entspricht ebenfalls Hesses Art der Auseinandersetzung mit Mythen.

3.1.3 Fazit: Asiatische Philosophie und Psychoanalyse Die Analyse von Hermann Hesses Auseinandersetzung mit dem modernen Mythosdiskurs bestätigt noch einmal, was sich bereits bei der Darstellung seines eigenen Mythosbegriffs gezeigt hatte: er favorisiert ganz klar jene Denker, die im Mythos einen transrationalen Erkenntniszugang sehen. Er interessiert sich weder für eine ‚rationalistische‘ Deutung, die Mythen als von der Wissenschaft oder Philosophie abgelöste Erklärungsmodelle ansieht, noch für einen ‚irrationalistischen‘ Zugang, der den Geist für lebensfeindlich hält und eine Rückkehr zu ‚mythischem Denken‘ fordert. Stattdessen sieht er im mythischen Erzählen eine Art des Weltzugriffs, die jenseits der Rationalität steht und diese ergänzt. Für ihn sind Mythen ein „Versuch der Menschheit, eben jene Unsagbarkeiten in Bildern auszudrücken, die [man] vergeblich ins flach Rationale zu übersetzen versucht“165. Hesse ist überzeugt, dass das neu zu erlernende Verständnis für diese Bildersprache in der Moderne von elementarer Wichtigkeit ist. Wie so viele Denker stellt Hermann Hesse eine desaströse Diagnose für den geistigen Zustand des modernen Menschen. Die Industrialisierung und mit ihr einhergehend die rapide Beschleunigung der Lebenswelt haben zu „ungeheu-

|| 164 Hesse, Hermann: Karl Kerényi. Uwillkürliche Kunstreisen. In: SW 20. S. 315f. Hier: S. 316. 165 Brief Hesses an Jens Jürgen Schröder. In: Michels, Volker: Materialien zu ‚Siddharta‘. S. 268.

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ren Veränderungen“166 geführt, die – so Hesse – „die Religion und die Sitte“167 der vorhergehenden Generationen obsolet gemacht haben. Ohne deren gesellschaftlicher Bindungskraft sei ein Vakuum entstanden, das sich mit allerlei ‚Ersatzreligionen‘ und ‚Ersatzsymbolen‘ gefüllt habe. In seinem 1926 erschienenen Aufsatz Moderne Versuche zu neuen Sinngebungen teilt Hesse vollkommen die Ansicht C. G. Jungs, was die Beschreibung der modernen Geisteshaltung angeht, die eingangs bereits zitiert wurde: In Zeiten wie der heutigen zeigt sich sowohl den überkommenen religiösen Bekenntnissen wie auch den Gelehrten-Philosophien gegenüber eine allgemeine Ungeduld und Enttäuschung; die Nachfrage nach neuen Formulierungen, neuer Sinngebung, neuen Symbolen, neuen Begründungen ist unendlich groß. In diesem Zeichen steht das Geistesleben unserer Zeit: Schwächung der überkommenen Systeme, wildes Suchen nach neuen Deutungen des Menschenlebens, Aufblühen zahlloser gutbesuchter Sekten, Propheten, Gemeinschaftsgründer, feistes Gedeihen des tollsten Aberglaubens.168

Neben den hier geschilderten negativen Effekten des modernen Sinn-Vakuums erkennt Hesse aber auch eine Chance für eine Neuorientierung des Geisteslebens in der Moderne, die der eben beschriebenen Veränderung innewohnt. Die Loslösung von tradierten Bindungen an Religionen und Wertsysteme führe eben nicht nur zu „gefährlichen und schlechten Ersatzdarbietungen“169, sondern auch zu einem neuen Erwachen des ‚metaphysischen Bedürfnisses‘. Die moderne Suchbewegung zeigt eine „ernste Bemühung um höchste Ziele“170 und birgt daher auch die Möglichkeit zur Weiterentwicklung. Den Anstoß dazu bietet für Hesse die Beschäftigung des Westens mit der östlichen Bilder- und Gedankenwelt. Während er – genau wie C. G. Jung – zwar weit davon entfernt ist, zu glauben, dass eine schlichte Übernahme östlichen Gedankenguts in die moderne westliche Welt heilsbringend sei171, so sieht er in einer ernsthaften Auseinandersetzung dennoch die Chance für eine „fruchtbare Erneuerung“172 der || 166 Hesse, Hermann: Moderne Versuche zu neuen Sinngebungen. S. 479. 167 Ebd. 168 Ebd. S. 481. 169 Ebd. 170 Ebd. S. 483. 171 Vgl. dazu etwa Hesses Brief an Theo Wenger vom 16.04.1921, in dem er schreibt: „Indessen glaube ich keineswegs, daß eine reine Übernahme der indischen oder gar der buddhistischen Einstellung für Europa möglich oder wünschenswert wäre.“ In: Michels, Volker: Materialien zu ‚Siddharta‘. S. 127. 172 Hesse, Hermann: Erinnerungen an Indien. In: Michels, Volker: Materialien zu ‚Siddharta‘. S. 81–85. Hier: S. 82.

Hermann Hesses Auseinandersetzung mit dem Mythos | 181

modernen Geisteshaltung. Von dem neu aufflammenden Interesse an der östlichen Bilderwelt – vom farbenfrohen hinduistischen Mythos der Bhagavad-Gita bis hin zur buddhistischen Ikonographie – verspricht sich Hesse eine Ergänzung der rationalistisch geprägten westlichen Denktradition. Die Brücke zwischen beiden Traditionen werde – so hofft Hesse – die Psychoanalyse bilden: [D]ie Wege, die diesen Kranken [den europäischen Menschen, E.K.] zur Heilung führen, sind eben jene, auf welchen die erkrankte Geistigkeit unserer Welt schon lange suchend geht: Asiatische Philosophie und Psychoanalyse, aus deren Zusammenklang sich die Sehnsucht nach einer Synthese aus asiatischer Entselbstungslehre und abendländischer Aktivität ergibt.173

Schon vor seiner ersten Begegnung mit C. G. Jung zeigt er sich überzeugt, dass „Rettung und Fortbestand der europäischen Kultur nur möglich ist durch das Wiederfinden seelischer Lebenskunst und seelischen Gemeinbesitzes“174. So ist Hesses ausgeprägtes Interesse an Jungs Arbeit nicht verwunderlich, bietet doch Jungs Ansatz die Möglichkeit, die Symbole der östlichen Kulturtradition jenseits einer schlichten Übernahme produktiv in die eigene Weltanschauung einzubinden. Weil sie imstande sind, „jene Unsagbarkeiten“ des Unbewussten „in Bildern auszudrücken“175, ist die Beschäftigung mit Mythen so relevant für den an ‚Einseitigkeit‘ erkrankten modernen Menschen. Sie bedeutet für Hesse keinesfalls „Kritik und Verstand für minderwertig zu halten und abzulehnen“176, sondern einen drüber hinausgehenden transrationalen Zugang zur Erkenntnis. In der Kombination aus dem Sich-Einlassen auf die symbolische Bilderwelt und der Analyse ihrer Symbolik mithilfe der Psychoanalyse sieht Hermann Hesse einen Ausweg aus der modernen Sinnkrise. Wie Hesse dieses Mythosverständnis in seinem literarischen Werk umsetzt, soll im Kapitel IV gezeigt werden. Zunächst folgt jedoch ein Blick auf Thomas Manns Nachdenken über den Mythos, bei dem ebenfalls – jedoch in ganz anderer Art und Weise – die Verbindung von Mythos und Psychologie im Zentrum steht.

|| 173 Hesse, Hermann: Das dionysische Geheimnis. Von Oscar A. H. Schmitz. In: SW 18. S. 235f. Hier: S. 236. 174 Ebd. S. 72. 175 Brief Hesses an Jens Jürgen Schröder vom Januar 1957. In: Michels, Volker: Materialien zu ‚Siddharta‘. S. 268. 176 Brief Hesses an Heinrich Kiefer 1945. In: GB III. S. 282.

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3.2 Thomas Manns Auseinandersetzung mit dem Mythos Thomas Mann bekennt 1934 in einem Brief an Karl Kerényi, dass sein Interesse am Phänomen Mythos erst spät erwacht sei. Er bezeichnet seine Auseinandersetzung mit Mythostheorien als „Produkt [s]einer Jahre“ und gesteht, dass ein Interesse für dieses Thema „in Jugendzeiten überhaupt nicht vorhanden“177 gewesen sei. Einen Monat später bekräftigt er diese Aussage in einem weiteren Brief: Tatsächlich ist in meinem Fall das allmählich zunehmende Interesse fürs MythischReligionshistorische eine ‚Alterserscheinung‘, es entspricht einem mit den Jahren vom Bürgerlich-Individuellen weg, zum Typischen, Generellen und Menschheitlichen sich hinwendenden Geschmack.178

Im Gegensatz zu Hermann Hesse setzt sich Mann bis zum Beginn des JosephProjekts nur selektiv mit Mythen aus verschiedenen Kulturkreisen auseinander. Der erste Kontakt mit antiken Mythen sei „das alte Mythologiebuch“179 seiner Mutter gewesen, berichtet er in einem Brief an Kerényi: Gemeint ist eine Überblicksdarstellung Friedrich Nösselts mit dem vielsagenden Titel Lehrbuch der griechischen und römischen Mythologie für höhere Töchterschulen und die Gebildeten des weiblichen Geschlechts (1874). Danach beeinflussen vor allem Nietzsche, Wagner, Schopenhauer, Freud und Goethe seinen Blick auf mythische Überlieferungen. Vor allem Nietzsches Opposition von dionysischem und apollinischem Prinzip aus der Geburt der Tragödie wird für Thomas Mann zum zentralen Ankerpunkt seiner Mythenaneignung. Zwar ändert sich seine Haltung zu Nietzsche im Laufe seines Lebens, aber die fundamentale Unterscheidung von ‚dionysisch‘ und ‚apollinisch‘ bleibt bis zum Doktor Faustus auch ein grundlegendes Gestaltungsprinzip seiner literarischen Werke. Über Nietzsche vermittelt studiert Thomas Mann zur Zeit der Entstehung des Tod in Venedig einige antike Quellen wie die Bakchen des Euripides, die Odysee und Platons Symposion. Aus Thomas Manns Exzerpten wird jedoch schnell ersichtlich, dass das Studium dieser Texte vornehmlich der Motivsuche für die neu entstehende Novelle dient, und so ist sein Umgang mit diesen Quellen in der Forschung zu Recht als „recht unbekümmert“ und „selten eindringlich“180 bezeichnet worden. Auch Richard Wagners Umgang mit mythischen Stoffen hat Thomas Mann zeit seines Lebens

|| 177 Brief Manns an Karl Kerényi vom 27.01.1934. In: BWKM. S. 38. 178 Brief Manns an Karl Kerényi vom 20.02.1934. In: Ebd. S. 41. 179 Brief Manns an Karl Kerényi vom 20.03.1952. In: Ebd. S. 177. 180 Dierks, Manfred: Mythos und Psychologie. S. 36.

Thomas Manns Auseinandersetzung mit dem Mythos | 183

beeinflusst – jedoch interessiert ihn hier nicht ausschließlich dessen Stoffwahl, sondern auch seine formalen Gestaltungsprinzipien, die mythischen Erzähltechniken entlehnt sind. Besonders das Leitmotiv als „symbolische Formel“181 assoziiert Thomas Mann mit rituellen Vortragsformen. So bezeichnet er Wagner als „Bruder des Priesters“182, der die leitmotivische Wiederholung von Symbolen als „Zeremoniell“ betreibe und die Kunst ins „Zelebrierend-Kirchliche“183 zurückführen wolle. Von dieser unkritischen Übernahme von mythischen Erzähltechniken, grenzt sich Thomas Mann später angesichts der politischen Entwicklung in Deutschland ab. So sieht er den Nationalsozialismus als „tragische Konsequenz der mythischen Politikfremdheit des deutschen Geistes“ an und nennt Richard Wagners Kunst mit ihrem „mythisch-reaktionären Revolutionarismus die genaue geistige Vorform der ‚metapolitischen‘ Bewegung“184. In der Rückschau auf den Joseph gesteht Mann dennoch ein, dass auch seine eigenen Werke „insgeheim […] auch immer von der Erinnerung an Wagners grandiosen Motivbau bestimmt“185 gewesen seien. Diesem Gestaltungsprinzip steht für Thomas Mann Goethes Umgang mit der mythischen Überlieferung als Gegenpol gegenüber. Im Vergleich mit Wagners Pathos stellt Mann fest, dass seine eigene „Art ‚den Mythos zu traktieren‘ […] der Humoristik von Goethe’s ‚Klassischer Walpurgisnacht‘ näher“186 stehe. So ist es gerade Goethes „Spiel mit dem Mythos“187, das Thomas Mann sich angesichts der nationalsozialistischen Vereinnahmung von Mythen zum Vorbild nimmt. Während Nietzsche, Wagner und Goethe vor allem als Inspiration für Thomas Manns literarischen Umgang mit dem Mythos dienen, hat die Lektüre der Werke Schopenhauers und später auch Freuds direkten Einfluss auf Thomas Manns theoretische Auseinandersetzung mit Mythen und seinen Mythosbegriff, der im Folgenden dargestellt wird. Dabei geht es zunächst um eine Definition dessen, was Thomas Mann unter dem Begriff ‚Mythos‘ versteht, bevor anschließend seine Auseinandersetzung mit dem hier behandelten modernen Mythosdiskurs untersucht wird. Abschließend wird Thomas Manns Sicht auf die Verbindung von ‚Mythos und Psychologie‘ genauer beleuchtet.

|| 181 Mann, Thomas: Das Theater als Tempel. In: GKFA 14,1. S. 117–122. Hier: S. 121. 182 Ebd. S. 122. 183 Ebd. S. 121. 184 Mann, Thomas: Zu Wagners Verteidigung. In: Essays 5. S. 75–82. Hier: S. 81. 185 Mann, Thomas: Sechzehn Jahre. Vorrede zur amerikanischen Ausgabe von Joseph und seine Brüder in einem Bande. In: GKFA 19,1. S. 363–377. Hier: S. 373. 186 Ebd. 187 Brief Manns an Karl Kerényi vom 25.10.1940. In: BWKM. S. 93.

184 | Mythos und Psychologie: Der Mythosbegriff bei Hermann Hesse und Thomas Mann

3.2.1 Thomas Manns Mythosbegriff Im Gegensatz zu Hermann Hesse, der in seinen Essays keine konkrete Definition davon gibt, was er unter einem Mythos versteht, finden sich im Umfeld der Entstehung der Josephs-Tetralogie188 bei Thomas Mann drei Formeln, die seinen Mythosbegriff umreißen. Man kann die drei Formeln in das bisher verwendete Definitionsschema von Inhalt, Form und Funktion einordnen und vermeidet so, die drei Ansätze gegeneinander auszuspielen, wie es in der Forschungsliteratur zum Teil der Fall ist.189 Die drei Elemente von Thomas Manns Mythosbegriff – Inhalt, Form und Funktion – kann man nicht nur aus seinen Essays und Briefen herleiten. Sie finden sich auch im Auftaktkapitel von Joseph und seine Brüder, der sogenannten Höllenfahrt, die Thomas Mann in einem Brief an Erika Mann als „eine Art von essayistischer oder humoristisch-pseudowissenschaftlicher Fundamentlegung“190 der Tetralogie bezeichnet.191 Gleich auf der ersten Seite der Höllenfahrt wird angedeutet, welche Inhalte Mythen transportieren sollen. Der Erzähler wirft dazu zunächst ein Problem auf: versuche man, in den „Brunnen der Vergangenheit“ hinabzusteigen und die Anfänge der Menschheitsgeschichte auszuloten, so werde man schnell feststellen, dass sich dieser Brunnen als „unergründlich“192 erweist. Mythische Geschichten bieten jedoch einen Ausweg aus diesem Dilemma, denn sie berichten von „Anfänge[n] bedingter Art, welche den Ur-Beginn der besonderen Überlieferung einer bestimmten Gemeinschaft,

|| 188 Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder I. Die Geschichten Jaakobs. Der junge Joseph. In: GKFA 7,1. [= Joseph I]; Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder II. Joseph in Ägypten. Joseph der Ernährer. In: GKFA 8,1. [= Joseph II]. 189 Zu Thomas Manns Mythosbegriff vgl. Assmann, Jan: Mythos und Psychologie in Thomas Manns Josephromanen. In: Gutjahr, Ortrud (Hg.): Thomas Mann. Würzburg 2012. S. 213–230; Dierks, Manfred: Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann. An seinem Nachlaß orientierte Untersuchungen zum ‚Tod in Venedig’, zum ‚Zauberberg’ und zur ‚Joseph’Tetralogie. Bern/München 1972; Dierks, Manfred: Art. Thomas Mann und die Mythologie. In: Koopmann, Helmut (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch. 3. akt. Aufl. Frankfurt a. M. 2005. S. 301– 306; Ehrenspeck, Yvonne: „Den Mythos ins Humane umfunktionieren“. Frühe Rehabilitierung des Mythos angesichts des Faschismus bei Thomas Mann. In: Neue Sammlung 35. 3 (1995). S. 129–142. 190 Brief Manns an Erika Mann vom 23.12.1926. In: Mann, Thomas: Briefe III. 1924–1932. In: GKFA 23,1. S. 267. 191 Vorerst soll uns an diesem Kapitel nur die darin angelegte Begriffsbestimmung von ‚Mythos‘ interessieren, seine literarische Funktion im Gesamtkontext der Tetralogie bleibt dabei zunächst außen vor. 192 Mann, Thomas: Joseph I. S. IX.

Thomas Manns Auseinandersetzung mit dem Mythos | 185

Volkheit oder Glaubensfamilie praktisch-tatsächlich bilden“193. Das besondere an mythischen Anfängen sei jedoch nicht, dass sie als fest markierter chronologischer Punkt einen Beginn anzeigen, sondern dass sie als typische Urform immer wiederkehren. Sie handeln von Dingen, die sich im menschlichen Leben immer wiederholen, indem sie zeigen, „‘wie alles war‘ und ‚wie alles sein wird‘“194. Die erste Formel, die diese inhaltliche Bestimmung des Mythos fasst, formuliert Mann explizit in seinem Vortrag Joseph und seine Brüder (1942): Denn das Typische ist ja doch das Mythische, insofern es Ur-Norm und Ur-Form des Lebens ist, zeitloses Schema und von je gegebene Formel, in die das Leben eingeht […].195

Ein anschauliches Beispiel für dieses ‚Typische‘, das im Mythos zum Ausdruck kommt, gibt der Erzähler in der Höllenfahrt, wenn er über die „Geschichte der großen Flut“196 berichtet, die sich in so vielen kulturellen Erzähltraditionen findet. Die Mythenerzähler ziehen dabei mehrere Flutkatastrophen zeitlich zu einer zusammen und verdichten all diese Erlebnisse, die sich über Generationen erstecken, zum Bericht über „die Sintflut“197. Alle neuen Überschwemmungen können so dem typischen Erlebnis ‚Sintflut‘ zugeordnet werden. Dies beruht auf der Tatsache, dass „die Umstände, die es herbeigeführt haben, jederzeit gegenwärtig“198 sind: „Jederzeit waren die Wege des Fleisches verderbt oder konnten es bei aller Frömmigkeit sein“ und jederzeit droht deswegen auch „das Schwemmgericht“199. In der mythischen Erzählung „kehrt alles nur wieder, was schon im Anfang war“200 – also das, was ‚immer‘, was typisch ist. An diesem Beispiel lässt sich zugleich auch ein formales Element des Mythos verdeutlichen, das für Thomas Mann relevant ist. Beim Erzählen von my-

|| 193 Ebd. 194 Mann, Thomas: Leiden und Größe Richard Wagners. In: Ders.: Achtung, Europa! Essays 193–1938. Bd. 4. Hg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Frankfurt a. M. 1995. [= Essays 4]. S. 11–72. Hier: S. 20. 195 Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag. In: Essays 5. S. 185–200. Hier: S. 187. 196 Mann, Thomas: Joseph I. S. XXXI. 197 Ebd. S. XXXII. 198 Ebd. 199 Ebd. S. XXXI. Das Sintflut-Beispiel hat Thomas Mann aus seiner Lektüre von Edgar Dacqués ‚Urwelt, Sage und Menschheit‘ (1924) entnommen. Vgl. dazu Dierks, Manfred: Mythos und Psychologie. S. 67. 200 Mann, Thomas: Die Einheit des Menschengeschlechtes. In: Ders.: Ein Apell an die Vernunft. Essays 1926–1933. Bd. 3. Hg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Frankfurt a. M. 1988. [=Essays 3] S. 301–306. Hier: S. 304.

186 | Mythos und Psychologie: Der Mythosbegriff bei Hermann Hesse und Thomas Mann

thischen Geschichten spielt ein chronologischer Zeitablauf keine Rolle, sondern ihnen liegt ein zyklisches Weltbild zugrunde. Das zeigt sich beim Erzählen in Form von „Zusammenziehungen, Verwechslungen und Durchblickstäuschungen“201. Was chronologisch nacheinander passiert, wird zu einem typischen Erlebnis – der Sintflut – verdichtet und jedes neue Erlebnis ähnlicher Art wird diesem Schema zugeordnet, oder sogar mit ihm ‚verwechselt‘. Der Mythos ist seiner Form nach eine „weihevolle Wiederholung“202 oder „Vergegenwärtigung“, eine „Art von Zelebration“ 203 des Wiederkehrenden, Immer-Gleichen. Dieser Art des Erzählens wird bei Thomas Mann eine bestimmte „Geistesverfassung“204 zugewiesen, die der Erzähler der Höllenfahrt als „träumerisch“ beschreibt Der Mythos beziehe seine Bildlichkeit und das traumgleiche Zusammendenken des zeitlich Entfernten aus „dem Unbewußten“205, nicht aus der präzisen Begriffssprache. Auch in diesem Zusammenhang lotet mythisches Erzählen die ‚Brunnentiefe‘ aus: […] die Urgründe der Menschenseele sind zugleich auch Urzeit, jene Brunnentiefe der Zeiten, wo der Mythus zu Hause ist und die Urnormen, Urformen des Lebens gründet. […] Denn Mythus ist Lebensgründung; er ist das zeitlose Schema, die fromme Formel, in die das Leben eingeht, indem es aus dem Unbewußten seine Züge reproduziert.206

Mythisches Erzählen ist deshalb formal dem Traum ähnlich: im symbolischen Bild sind Zeit und Raum aufgehoben, in ihm wird zeitlich und räumlich weit Auseinanderliegendes zu einer typischen ‚Formel‘ zusammengezogen und so verdichtet, dass sich alle Einzelerlebnisse unter das symbolischen Bild subsummieren (sich miteinander ‚verwechseln‘) lassen. Die dritte Formel, die sich aus Thomas Manns Aussagen zu Mythen herleiten lässt, bezieht sich auf deren Funktion. Indem Mythen durch Zusammenziehung der zeitlich-räumlichen Distanz von dem berichten, das ‚immer war‘ und ‚immer sein wird‘, vergegenwärtigen sie dieses Typische in der Erzählung. Im Sintflut-Kapitel der Höllenfahrt führt der Erzähler aus: Jederzeit, das ist das Wort des Geheimnisses. Das Geheimnis hat keine Zeit; aber die Form der Zeitlosigkeit ist das Jetzt und Hier. […] Was uns beschäftigt, ist nicht die bezifferbare Zeit. Es ist vielmehr ihre Aufhebung im Geheimnis der Vertauschung von Überlieferung

|| 201 Mann, Thomas: Joseph I. S. XXXI. 202 Mann, Thomas: Freud und die Zukunft. S. 494. 203 Ebd. S. 497. 204 Mann, Thomas: Joseph I. S. XVII. 205 Mann, Thomas: Freud und die Zukunft. S. 493. 206 Ebd. S. 493.

Thomas Manns Auseinandersetzung mit dem Mythos | 187

und Prophezeiung, welche dem Worte ‚Einst‘ seinen Doppelsinn von Vergangenheit und Zukunft und damit seine Ladung potentieller Gegenwart verleiht.207

Inhalt und Erzählstrategie von Mythen sind also darauf ausgelegt, das Typische als jederzeit gegenwärtig zu zeigen und in dieser Vergegenwärtigung die Zeit aufzuheben. Das Fest als rituelle Wiederkehr des Immer-Gleichen, wie es Freud in Totem und Tabu beschreibt208, wird von Thomas Mann dementsprechend mit dem Akt der Erzählung verknüpft. So beschließt der Erzähler im Joseph das Vorspiel mit der Gleichsetzung von Fest und Erzählung: Denn es ist, ist immer, möge des Volkes Redeweise auch lauten: Es war. So spricht der Mythus, der nur das Kleid des Geheimnisses ist; aber des Geheimnisses Feierkleid ist das Fest, das wiederkehrende, das die Zeitfälle überspannt und das Gewesene und Zukünftige seiend macht für die Sinne des Volks. […] – Fest der Erzählung, du bist des Lebensgeheimnisses Feierkleid, denn du stellst Zeitlosigkeit her für des Volkes Sinne und beschwörst den Mythus, daß er sich abspiele in genauer Gegenwart!209

Das ‚Fest der Erzählung‘ macht den mystischen Zustand der Zeitlosigkeit für jeden erfahrbar, indem der Mythos Vergangenes und Zukünftiges als zyklisch wiederkehrendes Typisches vergegenwärtigt. Um die Aufhebung der Zeit im Medium des mythischen Erzählens geht es auch in einer weiteren Ausführung des Erzählers, die sich auf Schopenhauers Auseinandersetzung mit dem Metempsychosemythos in der Welt als Wille und Vorstellung bezieht. Hier bringt der Joseph-Erzähler ein neues Argument ins Spiel: anstelle der ‚Zusammenziehung‘ von Vergangenheit und Zukunft zu einem zeitlosen Typischen, die bisher thematisiert wurde, geht es im nun vorgebrachten Beispiel der Seelenwanderung um eine Ausbreitung des Zeitlosen in die Sukzession der Erzählung: Denn das Wesen des Lebens ist Gegenwart, und nur mythischerweise stellt sein Geheimnis sich in den Zeitformen der Vergangenheit und der Zukunft dar. Dies ist gleichsam des Lebens volkstümliche Art, sich zu offenbaren, während das Geheimnis den Eingeweihten gehört. Das Volk sei belehrt, daß die Seele wandere. Dem Wissenden ist bekannt, daß die Lehre nur das Kleid des Geheimnisses ist von der Allgegenwart der Seele […].210

|| 207 Mann, Thomas: Joseph I. S. XXXIIf. 208 Vgl. Freud, Sigmund: Totem und Tabu. S. 157. 209 Mann, Thomas: Joseph I. S. LVII. 210 Mann, Thomas: Joseph I. S. LVII.

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Thomas Mann notiert ergänzend zu dieser Stelle in einem Notizbuch: „Die Metempsychose: Mythos; Allgegenwärtigkeit des Willens: Mysterium“211. Der Mythos soll auch für das ‚Volk‘ erfahrbar machen, was sich sonst nur im mystischen Erlebnis offenbart: die ausdehnungslose, zeitlose Gegenwart. Schopenhauers ‚Allgegenwart des Willens’ wird zwar bei Thomas Mann zur ‚Allgegenwart der Seele‘ umbenannt, aber Schopenhauers Argument von der Veranschaulichung des Zeitlosen durch die Sukzession im Mythos bleibt das gleiche. Diese Erfahrung des Allgegenwärtigen zu vermitteln ist jedoch nicht die einzige Funktion, die Thomas Mann dem Mythos zuspricht. Indem sie das Typische vergegenwärtigen, fungieren mythische Geschichten darüber hinaus auch als Legitimation der eigenen Identität. So sei das „bedeutende Leben“ in der Antike nur als „Wiederherstellung des Mythus in Fleisch und Blut“212 denkbar gewesen, also als Wiederholung und Vergegenwärtigung des Typischen. Als „mythische Identifikation“213 bezeichnet Mann wiederum die Strategie der ‚Verwechslung‘, wenn historische Personen sich mit mythischen Typen gleichsetzen (so z.B. Kleopatra mit der Göttin Isis). So zeichnen sich antike Menschen, laut Thomas Mann, im Vergleich mit modernen dadurch aus, dass ihre „Identität nach hinten offen stand und Vergangenes mit aufnahm, dem sie sich gleichsetzten, in dessen Spuren sie gingen“214. Fasst man die drei Formeln zusammen, so ergibt sich ein präzises Bild von Thomas Manns Mythosbegriff zur Zeit der Niederschrift der Josephs-Tetralogie: Den Inhalt von mythischen Geschichten bildet das Zeitlose, Typische. In Erzählungen vom Anfang und den ‚Ur-Formen‘ werden die Konstanten des menschlichen Lebens als zeitloses Schema aufgezeigt, das sich immer wieder aufs Neue wiederholt. Die Form mythischer Erzählungen erlaubt die Vergegenwärtigung des Typischen im traumgleichen Zusammenziehen und Verdichten von räumlich und zeitlich weit auseinanderliegenden Ereignissen zu dem einen typischen Erlebnis. Eine weitere mythische Erzählstrategie erkennt Thomas Mann (in Anlehnung an Schopenhauer) im Auseinanderfalten des an sich Zeitlosen in eine erzählerische Abfolge, wie es der Erzähler anhand des Metempsychosemythos erläutert. Die Funktion von Mythen besteht darin, die Illusion einer chronologisch ablaufenden Zeit aufzuheben, indem sie das Typische als Immer-

|| 211 Mp. XI 19/20. Eine ausführliche Darstellung zu Thomas Manns Quellenstudium zu diesem Komplex findet sich bei Dierks, Manfred: Mythos und Psychologie. S. 81ff. 212 Mann, Thomas: Einheit des Menschengeschlechtes. S. 306. 213 Mann, Thomas: Freud und die Zukunft. S. 496. 214 Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag. S. 190.

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Gegenwärtiges erzählen. Das ‚Fest der Erzählung‘ dient dazu, dieses ‚Geheimnis‘ mithilfe von bildlicher Darstellung auch dem ‚Volk‘ zugänglich zu machen, und bietet darüber hinaus die Möglichkeit der Identifikation, indem das eigene Leben als Wiederholung eines mythischen Vorbilds ausgedeutet werden kann.

3.2.2 Thomas Manns Rezeption des modernen Mythosdiskurses Neben diesem Mythosbegriff, den Thomas Mann für sich erarbeitet hat, steht jedoch eine ganz andere Begriffsverwendung, wenn er über den politisch instrumentalisierten Mythos spricht. So bekundet Mann bereits im Tagebuch von 1933 sein Missfallen an der nationalsozialistischen Vereinnahmung von germanischen Mythen und deren gezieltem Einsatz als Propagandamittel: Die ganze ‚Bewegung‘ ist ein wahres Sich-Siehlen des deutschen Gemütes in der mythischen Jauche, dem mythischen Urschlamm. Der ganze falsche und zeitverhunzte Wiederkehr-Schwindel ist ein wahres Fressen für den Wahrheitshaß, die Gier nach Qualm und Dunst, die von der ‚Führung‘ mit kalter Bewußtheit und Berechnung demagogischschulmädchenhaft ausgenutzt wird […].215

Zwar bezeichnet Thomas Mann den Einsatz germanischer MythenVersatzstücke zur Begründung der nationalsozialistischen ‚Weltanschauung‘ auch als „Pöbel-Mythos“216, aber er nimmt diesen Mythosbegriff doch so ernst, dass er dessen intellektuelle Vorgeschichte für sich rekonstruiert. Die Grundlage für den Nationalsozialismus als „Massen-Gefühls-Überzeugung“217 sieht er im modernen Irrationalismus begründet, der „das Seelendunkel, das MütterlichChthonische, die heilig gebärerische Unterwelt als Lebenswahrheit“ deklariere und „zum Orgiastischen, zur bacchischen Ausschweifung“218 neige. Die „Popularisierung des Irrationalen“219 in den 1920er und 30er Jahren ist für Thomas Mann das Produkt einer verfehlten Weiterführung der deutschen Romantik, die er mit einer fatalen Faszination für den Tod, mit der „Gefahr [eines] überschwemmenden und vernichtenden Einbruchs musikalischer Mächte der Auflö-

|| 215 Mann, Thomas: Leiden an Deutschland. Tagebuchblätter aus den Jahren 1933 und 1934. In: GW XII. S. 684–766. Hier: S. 749. 216 Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag. S. 194. 217 Mann, Thomas: Deutsche Ansprache. Ein Appell an die Vernunft. In: Essays 3. S. 259–279. Hier: S. 265. 218 Ebd. S. 266. 219 Mann, Thomas: Achtung, Europa! In: Essays 4. S. 147–160. Hier: S. 155.

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sung in die Welt der Ordnung und des Lichts“220 und nicht zuletzt auch mit dem „Auseinanderfallen des aesthetischen und des ethischen Prinzips“221 in der Kunst verbindet. Spätestens wenn Thomas Mann auch noch von der „germanischen Neigung zum Rausch, zur Trunkenheit“222 und von der Romantik als „Revolution […] gegen die Hegemonie des Intellekts, der Vernunft, der Form“223 spricht, wird deutlich, wie sehr sein Begriff des irrationalen Mythos von der Lektüre Nietzsches geprägt ist. Es ist das Vokabular aus der Geburt der Tragödie, mit dem Thomas Mann von der „romantischen Gefährdung“224 warnt. Dem Irrationalismus werden alle Attribute des ‚dionysischen Prinzips‘ zugesprochen: von ‚orgiastischer Auflösung‘, über ‚Rausch‘, Musikalität und Todesfaszination bis hin zu seiner Gegenposition zu Form, Vernunft und Moral. Die politische Instrumentalisierung dieses von Thomas Mann so charakterisierten romantischen Erbes sei die Voraussetzung dafür gewesen, dass „der deutsche Romantismus“ in Form des Nationalsozialismus „in hysterische Barbarei“225 ausbrechen konnte. Zwar bezeichnet er die Weltanschauung des Nationalsozialismus spöttisch als „mythisches Surrogat“226 und als „Volksmärchen“, aber er lässt keinen Zweifel daran, dass „im politischen Bereich das Märchen zur blutigen Lüge“ 227 werden könne. Umso wichtiger erscheint es Thomas Mann, seinen eigenen Mythosbegriff von der „feindseligen und anti-humanen Art“228 dieser Instrumentalisierung von Mythen abzugrenzen. Insgesamt entwickelt Mann ein weitaus stärker politisiertes Verständnis für das Phänomen Mythos als Hesse und äußert sich auch öffentlich zum ‚richtigen und falschen Umgang‘ mit dem Mythos.229 Zu diesem Zweck teilt er die hier be-

|| 220 Mann, Thomas: Die geistigen Tendenzen des heutigen Deutschlands. In: GKFA 15,1. S. 1076–1089. Hier: S. 1082. 221 Ebd. S. 1088. 222 Ebd. 223 Ebd. S. 1083. 224 Ebd. S. 1082. 225 Mann, Thomas: Deutschland und die Deutschen. In: Essays 5. S. 260–281. Hier: S. 279. 226 Mann, Thomas: Schicksal und Aufgabe. In: Essays 5. S. 218–238. Hier: S. 226. 227 Ebd. 228 Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag. S. 189. 229 Zu Thomas Manns Auseinandersetzung mit dem modernen Mythosdiskurs vgl. Assmann, Jan: Mythos und Psychologie in Thomas Manns Josephromanen. In: Gutjahr, Ortrud (Hg.): Thomas Mann. Würzburg 2012. S. 213–230; Bishop, Paul: Literarische Beziehungen haben nie bestanden. Thomas Mann and C. G. Jung. In: Oxford German Studies 23 (1994). S. 124–172; Breuer, Stefan: Das Unbewusste in Kilchberg. Thomas Mann und Ludwig Klages. Mit einem Anhang über Klages und C. G. Jung. In: Sprecher, Thomas (Hg.): Das Unbewusste in Zürich. Literatur und Tiefenpsychologie um 1900. Sigmund Freud, Thomas Mann und C. G. Jung.

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handelten Mythostheoretiker in zwei Lager ein: er unterscheidet zwischen den Irrationalisten, die es zu bekämpfen gilt, und den Aufklärern, die einen humanistischen Zugang zum Mythos pflegen. Im Folgenden wird Thomas Manns Auseinandersetzung mit dem philosophischen Mythosdiskurs anhand dieser Trennlinie nachvollzogen. 3.2.2.1 Die Irrationalisten Zu den Denkern, die Thomas Mann dem Irrationalismus zuordnet, zählen neben Johann Jakob Bachofen (bzw. die Bachofen-Verehrer des 20. Jahrhunderts) auch Alfred Baeumler, Alfred Rosenberg und Ludwig Klages. Ihnen wirft er vor, eine Philosophie des „großen Zurück“230 zu propagieren, die mithilfe eines obskuren Mythosverständnisses die Errungenschaften der Aufklärung zurücknehmen und eine Dominanz des ‚Lebens‘ über den ‚Geist‘ ausrufen will. Dieses ‚irrationale‘ Verständnis von Mythos macht Thomas Mann öffentlich für die politische Instrumentalisierbarkeit von mythischen Versatzstücken in der Zeit des Nationalsozialismus verantwortlich. Das heißt jedoch keinesfalls, dass er seine Lektüre dieser Autoren nicht dennoch literarisch verwertet – das beste Beispiel hierfür ist seine Auseinandersetzung mit Johann Jakob Bachofen und seinem Interpreten Alfred Baeumler. Im Gegensatz zu Hermann Hesse lernt Thomas Mann die Schriften Bachofens erst zur Zeit der ‚Bachofen-Mode‘ in den zwanziger Jahren kennen. Er liest auch das Mutterrecht nicht in der Originalversion, sondern hält sich an die beiden 1926 erschienenen Zusammenstellungen von Manfred Schroeter (Der Mythus von Orient und Occident) und Carl Albrecht Bernoulli (Urreligion und antike Symbole). Während er Bachofens Symbolanalysen und sein System der menschheitsgeschichtlichen Fortentwicklung in Stadien vom ‚Hetärismus‘ über die Entwicklung der sogenannten ‚Gynaikokratie‘ bis hin zum ‚Vaterrecht‘ für die Ausgestaltung seines Joseph-Romans nutzt, distanziert er sich öffentlich von Bachofen. Er zeigt sich überzeugt, dass Bachofens „Liebe“ trotz seiner Darstellung des Vaterrechts als Ziel der menschheitlichen Entwicklung in Wirklichkeit

|| Zürich 2000. S. 53–93; Dierks, Manfred: Art. Thomas Mann und die Tiefenpsychologie. In: Koopmann, Helmut (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch. 3. akt. Aufl. Frankfurt a. M. 2005. S. 284– 300; Gelley, Alexander: Mythology and humanism. The correspondence of Thomas Mann and Karl Kerényi. Ithaca u.a. 1975.; Heftrich, Eckhard: Matriarchat und Patriarchat. Bachofen im Joseph-Roman. In: Thomas-Mann-Jahrbuch 6 (1993). S. 205–221; Kristiansen, Børge: Art. Thomas Mann und die Philosophie. In: Thomas-Mann-Handbuch. 3. akt. Aufl. Frankfurt a. M. 2005. S. 259–283. 230 Mann, Thomas: Pariser Rechenschaft. In: GKFA 15,1. S. 1115–1214. Hier: S. 1161.

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„dem Dunkel, dem Grabe, dem Mütterlichen“231 gehört habe. Damit rechnet er Bachofen einer verhängnisvollen Strömung zu, die aus der Romantik erwachsen sei und sich durch ihr reaktionäres Zurücksehnen „in den mythisch-historischromantischen Mutterschoß“232 auszeichne. Wirft man einen Blick auf das Archivexemplar von Der Mythus von Orient und Occident, kann man jedoch unschwer erkennen, wie interessiert Thomas Mann Bachofen gelesen und wie viel er von ihm für seine Konzeption des Joseph übernommen hat. So finden sich beispielsweise im Ägypten-Kapitel zahlreiche Anstreichungen rund um den IsisKult: Mann markiert sich alle Stellen, die Ägypten als „Land der stofflichen Religion“233 kennzeichnen, so z.B. die Zuweisung des ‚stofflichen‘ Mondes zur Frau und der ‚geistigen‘ Sonne zum Mann234 oder aber die Gleichsetzung von Isis mit der Erde und von Osiris mit dem Nil235. Diese Stellen werden dann im Joseph für die Gestaltung der Leitmotivik eingesetzt, worauf im folgenden Kapitel noch ausführlicher zurückzukommen ist.. Die Faszination für vorzeitliche mythische Symbolik, die er bei Bachofen spürt, ist Thomas Mann jedoch nicht distanziert genug. Er warnt öffentlich davor, „zum Mythos zu beten“236 oder vor ihm „nach modisch albernem Brauch auf dem Bauch zu liegen“237 und wirft Bachofen vor, zum ‚mythischen Denken‘ der mutterrechtlichen Phase zurückkehren zu wollen. Wie sehr diese Einschätzung jedoch der politischen Lage in Deutschland geschuldet ist, zeigt sich erst 1945, als Mann in einem Brief an Karl Kerényi gesteht, dass er Bachofen doch genauer gelesen hat: Sie verstehen vollkommen, wie sehr meine ungewichtigen Aeußerungen über ihn [Bachofen, E.K.] in den 20er Jahren von politischer Beängstigung eingegeben waren und von dem tendenziösen Mißbrauch, den man mit ihm trieb. Er ist ja, bei allem Sinn für das ‚Untere‘ (ohne den es gar keine Humanität gibt) durchaus kein Dunkelmann, sondern sein Gedankensystem gipfelt in der Verkündigung der Zeus-Religion. Art und Zeitpunkt der Praesentierung schienen mir unpaedagogisch, aber für meine Person habe ich mich nie gefürchtet vor dem Basler und ihn studiert – beinahe wie Schopenhauer.238

|| 231 Brief Manns an Jonas Lesser vom 31.01.1939. In: Mann, Thomas: Briefe 1937–1947. Hg. von Erika Mann. Frankfurt a. M. 1963. S. 82. 232 Mann, Thomas: Pariser Rechenschaft. S. 1161. 233 Archivexemplar von Bachofen, Johann Jakob: Mythus von Orient und Occident. TMA Zürich. S. 217. 234 Vgl. ebd. S. 218. 235 Vgl. ebd. 220ff. 236 Mann, Thomas: Pariser Rechenschaft. S. 1161. 237 Brief Manns an Hermann Hesse vom 16.05.1934. In: BWHM. S. 109. 238 Brief Manns an Karl Kerényi vom 03.12.1945. In: BWKM. S. 124.

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Die ‚Beängstigung‘, die für Thomas Mann in den zwanziger Jahren von Bachofen ausgeht, ist vor allem der Deutung seiner Schriften durch seine Interpreten geschuldet. So ist es im Grunde nicht Bachofen selbst, gegen den Mann den Vorwurf des Irrationalismus erhebt, sondern Bachofen-Ausleger wie Alfred Baeumler, dessen Einleitung zur Sammlung Der Mythus von Orient und Occident ein Viertel des gesamten Buches ausmacht und in der Debatte weitaus wirkmächtiger wird als Bachofens Text selbst. Diese Einleitung ist es auch, die eine Wende im bis dahin freundlichen Verhältnis von Thomas Mann und Alfred Baeumler auslöst.239 Noch 1920 reagiert Mann äußerst positiv auf Baeumlers Studie Metaphysik und Geschichte (1920), die mit dem Untertitel „Brief an Thomas Mann“ überschrieben ist und sich mit dessen Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) auseinandersetzt.240 Mann antwortet Baeumler mit einem freundlichen Brief und regt sogar an, Baeumlers Essay gesondert als Broschüre veröffentlichen zu lassen.241 Auch Baeumlers Einleitung zu Hegels Ästhetik findet noch Thomas Manns Zustimmung. Dies ändert sich jedoch mit dem Erscheinen der Bachofen-Einleitung in Der Mythus von Orient und Occident: denn obwohl das Archivexemplar wiederum belegt, mit wie viel Interesse Mann die Einleitung gelesen und angestrichen hat, und obwohl er den Text als „tief und prächtig“242 bezeichnet, greift er Baeumler in der Pariser Rechenschaft offensiv als Irrationalisten an. So fragt sich Mann öffentlich, […] ob es eine gute und lebensfreundliche, eine pädagogische Tat ist, den Deutschen von heute all diese Nachtschwärmerei, diesen ganzen Joseph-Görres-Komplex von Erde, Volk, Natur, Vergangenheit und Tod, einen revolutionären Obskurantismus, derb charakterisiert, in den Leib zu reden, mit der stillen Insinuation, dies sei alles wieder an der Tagesordnung, wir ständen wieder an diesem Punkt, es handle sich nicht sowohl um Geschichte, als um Leben, Jugend und Zukunft – das ist die Frage, die beunruhigt.243

Anhand von Thomas Manns Anstreichungen im Archiv-Exemplar von Der Mythus von Orient und Occident lassen sich insbesondere zwei Aspekte herauskristallisieren, die ihn zu dieser heftigen Reaktion bewegt haben können. Zum einen ist dies Baeumlers Charakterisierung der Romantik und zum anderen seine These, dass Mythos und Psychologie nicht miteinander vereinbar seien. So || 239 Zum Verhältnis von Thomas Mann und Alfred Baeumler vgl. die dokumentarische Studie: Baeumler, Marianne/Brunträger, Hubert/Kurzke, Hermann (Hg.): Thomas Mann und Alfred Baeumler. Eine Dokumentation. Würzburg 1989. 240 Vgl. Baeumler, Alfred: Metaphysik und Geschichte. In: Ebd. S. 74–89. 241 Brief Manns an Alfred Baeumler vom 29.02.1920. In: Ebd. S. 91. 242 Mann, Thomas: Pariser Rechenschaft. S. 1159. 243 Ebd.

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streicht sich Mann zahlreiche Schlüsselbegriffe an, die in Baeumlers Text einen reaktionären Romantikbegriff erkennen lassen. Beispielsweise markiert Thomas Mann eine Stelle, in der Baeumler die Verbindung der Romantik zur „Mystik des ‚Volkstums‘“244 herstellt und die Frage nach einer menschheitsgeschichtlichen „Urzeit“245 als genuin romantische Fragestellung charakterisiert. Dass dies Thomas Manns eigene Pläne essentiell betrifft, wird nach dem ersten Blick in die Höllenfahrt klar. In der angestrichenen Stelle bei Baeumler ist die Rede vom „Volk“ als „metaphysische[m] Hintergrund“ der romantischen Geschichtsphilosophie – Thomas Mann notiert sich am Rand das Stichwort „kompromittiert“246. Ein weiterer Lesekommentar Manns bezieht sich auf Baeumlers Trennung zwischen Früh- und Spätromantik, die auch jeweils eine Charakterisierung des 18. Jahrhunderts als Zeitalter der „Humanität“ und des 19. Jahrhunderts als Zeitalter der „Nationalität“247 miteinschließt: Baeumler stellt dar, dass erst in der Spätromantik des 19. Jahrhunderts der „Gedanke des Vaterlandes […] feste Wurzeln geschlagen“248 habe – und dieser sei wiederum gebunden an „ein neues Lebens- und Naturgefühl, an eine neue Empfindung für die Erde“249. Es folgt eine Auseinandersetzung mit Ernst Moritz Arndt, der das 18. Jahrhundert als „Jahrhundert des Geistes“ kritisiert und sich stattdessen „dem Leibe und der Wirklichkeit, dem Staate“250 zuwendet. Hier notiert sich Thomas Mann den Kommentar „bösartig“251 am Rand, der vermuten lässt, dass er Baeumlers Analyse als dessen eigenen Standpunkt ansieht. Dies wird vollends wahrscheinlich, wenn man seine Anstreichungen der Begriffe „Erde, Volk, Natur, Vergangenheit“252 und die Charakterisierung der Romantik als „Bewegung zurück“253 betrachtet. Thomas Mann identifiziert Baeumler aufgrund seiner Ausführungen zur Romantik des 19. Jahrhunderts mit jener irrationalen ‚Volkstümelei‘, die dem militanten Nationalismus des 20. Jahrhunderts – und nicht zuletzt auch der ‚Blut und Boden‘-Ideologie Vorschub geleistet hat.

|| 244 Archivexemplar Bachofen, Johann Jakob: Mythus von Orient und Occident. TMA Zürich. S. CXX. 245 Ebd. S. CXXI. 246 Ebd. 247 Ebd. S. CLXXX. 248 Ebd. S. CLXXIV. 249 Ebd. 250 Ebd. S. CLXXV. 251 Ebd. 252 Ebd. S. CLXXVI. 253 Ebd. S. CLXXXVI.

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Der zweite Punkt, der Thomas Mann an Baeumlers Einleitung erzürnt, ist dessen Behauptung, dass Mythos sich nicht mit Psychologie vereinen lasse – also seine Kritik an genau dem Konzept, das Thomas Mann zum Dreh- und Angelpunkt seines eigenen Mythosbegriffs erklärt. Baeumler kritisiert Nietzsches Herangehensweise an den Mythos in der Geburt der Tragödie, bei der Gegenstand und Methode nicht zur Übereinstimmung zu bringen seien. Als Gegenstand des Nietzsche-Textes bezeichnet Baeumler den Mythos, die Methode sei jedoch psychologisch. „Psychologie und Mythos“, so ist Baeumler überzeugt, „schließen sich jedoch ebenso aus wie Sokratismus und Musik“254. Neben dieser Stelle hat sich Thomas Mann den Kommentar „frecher Obskurant“255 notiert. In der Pariser Rechenschaft verbindet er eine Verteidigung Nietzsches daraufhin mit einem Angriff auf Bachofen und seinen Interpreten Baeumler: „Nietzsches hohes und bildendes Deutschtum wußte […] andere Wege des Ausdrucks als den des großen Zurück in den mythisch-historisch-romantischen Mutterschoß.“256 Dass jedoch weder Bachofen noch Baeumler – im Gegensatz beispielsweise zu Klages – tatsächlich eine ‚Rückkehr‘ zur mutterrechtlichen Phase oder gar zu ‚mythischem Denken‘ fordern, hat Thomas Mann durchaus bemerkt. So notiert er neben einer Stelle, in der Baeumler ausführlich darauf eingeht, dass der Sieg des Vaterrechts (und damit der Rationalität) über das Mutterrecht (und das mythische Denken) als Fortschritt zu werten sei, den Kommentar „wie sonderbar“257. Er unterstreicht sich außerdem Baeumlers Fazit: „Nicht dem Dunkel und der Auflösung hat Bachofens Geist zugestrebt“258 – eine Einschätzung, die Thomas Mann wohl insgeheim teilt, wie der bereits zitierte Brief an Kerényi von 1945 zeigt. Dennoch stempelt er Baeumler in der Pariser Rechenschaft als Irrationalisten ab und zieht ihn auch in späteren Äußerungen immer wieder als Prototyp des ‚Dunkelmannes‘ heran, der mit seinem reaktionären Mythosbegriff den nationalsozialistischen Missbrauch von Mythen vorweggenommen habe. Er sei Vorreiter einer Bewegung, die Thomas Mann in seiner Deutschen Ansprache (1930) folgendermaßen charakterisiert: […] ein irrationalistischer […] Rückschlag, der die allein lebensspendenden Kräfte des Unbewußten, Dynamischen, Dunkelschöpferischen auf dem Schild hat, den Geist, unter dem

|| 254 Baeumler, Alfred: Bachofen. Der Mythologe der Romantik. S. CCLI. 255 Archivexemplar Bachofen, Johann Jakob: Mythus von Orient und Occident. TMA Zürich. S. CCLI. 256 Mann, Thomas: Pariser Rechenschaft. S. 1161. 257 Archivexemplar Bachofen, Johann Jakob: Mythus von Orient und Occident. TMA Zürich. S. CCLXXIV. 258 Ebd.

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man schlechthin das Intellektuelle verstand, als lebensmörderisch verpönte und gegen ihn das Seelendunkel, das Mütterlich-Chthonische, die heilig gebärerische Unterwelt, als Lebenswahrheit feierte.259

Da Baeumler ab 1933 tatsächlich maßgeblich an der Entwicklung einer ‚nationalsozialistischen Pädagogik‘ beteiligt ist und gemeinsam mit Alfred Rosenberg zum ideologischen Fundament der NSDAP beiträgt, sieht Thomas Mann sich nachträglich in seiner Einschätzung bestätigt.260 Wie bereits in Kapitel II.1.2.3 ausgeführt wurde, übt Baeumler in seiner Bachofen-Einleitung jedoch selbst scharfe Kritik an den Bachofen-Interpreten des 20. Jahrhunderts, die den Basler auf seine Darstellung der mutterrechtlichen Sphäre reduzieren und dabei seine positive Wertung des Fortschritts zum apollinischen Vaterrecht ignorieren. So reagiert Baeumler 1926 auch dementsprechend schockiert, als er sich den Anfeindungen Thomas Manns ausgesetzt sieht. In einem Brief an Manfred Schroeter, den Herausgeber der Bachofen-Anthologie, bezeichnet er die Pariser Rechenschaft als „unverschämte Denunziation“ und plant, mit einer Broschüre über Thomas Manns „innere Biographie“261 zu antworten. Er glaubt, dass Thomas Mann so heftig reagiert habe, weil er in Baeumlers Einleitung seinen eigenen Gedanken über Mythos und Romantik begegnet sei, die nicht mehr zur neuen Mythos-Konzeption im Joseph passen. Baeumler plant, dies in einer Abhandlung darzulegen, die er aber letztlich nie verfasst. Am 20. Juni 1926 schreibt er an Schroeter: Ich werde beweisen, daß Mann die Sympathie mit dem Tode in sich nicht aufgearbeitet und ‚überwunden‘ hat, sondern nur verdrängt hat. In meiner Arbeit ist ihm sein eigenes Wesen, seine eigene Vergangenheit wie ein Geist erschienen, und der Tor hat mit dem Stocke nach dem Geist geschlagen.262

Für einen Verächter der psychologischen Methode, der davon überzeugt ist, dass mit „Psychologie […] nie etwas getan“263 sei, ist dies eine erstaunlich psychologische Deutung. Der Angriff Thomas Manns beschäftigt Baeumler für den Rest seines Lebens – noch 1954 schreibt er an Jonas Lesser, dass er von Mann

|| 259 Mann, Thomas: Deutsche Ansprache. S. 266. 260 Noch 1954 schreibt er an Jonas Lesser: „[…] ich war nicht im Irrtum, als ich in B. einen Wegbereiter sah und außerdem einen Verfälscher Bachofens“. Brief Manns an Jonas Lesser vom 03.11.1954. In: Baeumler, Marianne/Brunträger, Hubert/Kurzke, Hermann (Hg.): Thomas Mann und Alfred Baeumler. S. 239. 261 Brief Baeumlers an Manfred Schroeter vom 15.06.1926. In: Ebd. S. 160. 262 Brief Baeumlers an Manfred Schroeter vom 20.06.1926. In: Ebd. S. 161. 263 Baeumler, Alfred: Bachofen. Der Mythologe der Romantik. S. CCLXXXI.

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völlig missverstanden worden sei: „Wie steht denn meine Abhandlung wirklich vor der Nacht- und Todesromantik? Sie warnt davor, sich in die Metaphysik des Mutterrechts zu verlieren.“264 Wie bereits erwähnt, belegen die Lektürespuren im Archivexemplar, dass auch Thomas Mann dies nicht einfach überlesen hat. Sie zeigen darüber hinaus auch auf, wie viel er trotz der öffentlichen Kritik tatsächlich von Baeumler für die Konzeption des Joseph übernommen hat. Als Beispiel soll hier neben den zahlreichen Anstreichungen, die gleich mit Verwertungshinweisen versehen werden (z.B. „Potiphars Weib!“265, „Osiris“266 oder „Grund“267), ein Satz dienen, den Thomas Mann fast wörtlich in seinen Vortrag Freud und die Zukunft übernommen hat. So heißt es bei Baeumler: „Der Mythus reicht in die Urzeit nicht nur, sondern auch in die Urgründe der Menschenseele hinab.“ – und in Manns Rede: „die Urgründe der Menschenseele sind zugleich auch Urzeit“268. Baeumler bemerkt im Rückblick auf die Kontroverse mit Thomas Mann selbst, dass sich einerseits in den vier Josephs-Romanen „zahlreiche Anspielungen auf meine Bachofen-Einleitung“269 finden, dass Thomas Mann sich aber andererseits mit „existenzvernichtende[r] Aggression“ gegen eben jene Einleitung gewandt habe, weil sie „einer bereits eingeleiteten gewünschten Entwicklung der psychologisierenden Mythologie im Wege stand“270 und weil er selbst zu diesem Zeitpunkt außerdem insgeheim noch „viel mehr Romantiker gewesen“271 sei als Baeumler selbst. Thomas Manns Haltung gegenüber Ludwig Klages und Alfred Rosenberg schließt sich direkt an seine Kritik an Baeumler an. Dies wird schon aus Manns gern verwendetem Sammelbegriff „Klages und seine Baeumler“272 deutlich. In Ludwig Klages sieht er den Hauptvertreter der Lebensphilosophie in Deutschland, mit der er eine Aufwertung des Irrationalen gegenüber dem Geist der Aufklärung assoziiert. Aus einem Brief an Karl Kerényi wird ersichtlich, wie Mann zur Lebensphilosophie steht. Im Februar 1934 schreibt er:

|| 264 Brief Baeumlers an Jonas Lesser vom 15.07.1954. In: Ebd. S. 222. 265 Archivexemplar Bachofen, Johann Jakob: Mythus von Orient und Occident. TMA Zürich. S. CCCXVI. 266 Ebd. S. LXX. 267 Ebd. S. XC. 268 Mann, Thomas: Freud und die Zukunft. S. 493. 269 Baeumler, Alfred: Mein Weg als Schriftsteller. S. 249. 270 Ebd. S. 250. 271 Brief Baeumlers an Jonas Lesser vom 15.07.1954. In: Ebd. S. 223. 272 Brief Manns an Hans Ludwig Held vom 01.03.1930. In: Briefe III. S. 459.

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Ja, erlauben Sie mir das Geständnis, daß ich kein Freund der – in Deutschland namentlich durch Klages vertretenen – geist- und intellektfeindlichen Bewegung bin. Ich habe sie früh gefürchtet und bekämpft, weil ich sie in allen ihren brutal-antihumanen Konsequenzen durchschaute, bevor diese manifest wurden…Um jene ‚Rückkehr des europäischen Geistes zu den höchsten, den mythischen Realitäten‘, von denen Sie so eindrucksvoll sprechen, ist es wahrhaftig eine geistesgeschichtlich große und gute Sache […]. Aber ich vertraue auf Ihr Verständnis, wenn ich sage, daß mit der ‚irrationalen‘ Mode häufig ein Hinopfern und bubenhaftes Über Bord werfen von Errungenschaften und Prinzipien verbunden ist, die […] den Menschen zum Menschen machen.273

An dieser Stelle wird erneut deutlich, dass Thomas Mann zwei verschiedene Zugänge zum Mythos unterscheidet: auf der einen Seite steht eine humanistisch-aufklärerische Haltung, wie sie Kerényi mit seiner Rede von den ‚höchsten Realitäten‘ vertritt, auf der anderen Seite dagegen ein irrationales ‚Auf dem Bauch liegen‘ vor dem Mythos, die Thomas Mann mit „Geistfeindlichkeit“274 verbindet. Diese letztere Haltung sieht Thomas Mann als einen „überall verbreiteten, die Zeit beherrschenden antiidealistischen und antiintellektualistischen Willen“ an, dessen Ziel darin besteht, „den Primat des Geistes und der Vernunft zu brechen […] und die Mächte der Dunkelheit und der Tiefe, das Instinktive, das Irrationale triumphierend wieder in ihr Lebensrecht einzusetzen“275. Zu diesem Zwecke bediene sich die Lebensphilosophie, die Thomas Mann auch als „Philosophie des an Denkwut erkrankten Kleinbürgers“276 bezeichnet, einer kritik- und distanzlosen Mythosverehrung. Im Gegensatz zu Bachofen propagiert Ludwig Klages im Kosmogonischen Eros tatsächlich eine Art Eskapismus, wenn er von der Rückkehr zum ‚mythischen Denken‘ des Pelasgertums phantasiert und dem modernen ‚Geist‘ einen utopischen Bewusstseinszustand entgegensetzt, der die ‚Seele‘ ins Zentrum des Daseins rückt. Wenn Klages schreibt, dass im mythischen Denken „das Leben auf Befreiung vom Geiste“277 abziele, so versteht Thomas Mann das als Kampfansage gegen die Ideale von Humanismus und Aufklärung und nicht als rein epistemologische Überlegung. In seiner 1935 verfassten Rede Achtung, Europa! warnt Mann vor den Konsequenzen eines solchen Mythosverständnisses: Unter den europäischen Ideen, die er [der Kleinbürger, E.K.] dank seiner Erhebung für erledigt hält: Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit, ist die Wahrheit ihm die verhaßteste, un-

|| 273 Brief Manns an Karl Kerényi. In: BWKM. S. 42. 274 Mann, Thomas: Stellung Freuds. S. 138. 275 Ebd. 276 Mann, Thomas: Achtung, Europa!. S. 157. 277 Klages, Ludwig. Kosmogonischer Eros. S. 153.

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möglichste. Was er dafür einsetzt, ist der ‚Mythus‘: dieses Wort spielt in seinem Bildungsvokabular eine ebenso hervorstechende Rolle wie das ‚Heroische‘. Sieht man ganz genau hin, was er damit meint, so ergibt sich, daß es die Aufhebung des Unterschiedes von Wahrheit und Humbug ist.278

In einer solchen ‚geistfeindlichen‘ Haltung sieht Thomas Mann die intellektuelle Vorbereitung des Faschismus begründet. Die „Gefahren für Humanität und Kultur, die in aller geistigen Antigeistigkeit liegen“279 sieht Thomas Mann bereits 1935 sehr deutlich: „Es wäre der Krieg, die umfassende Katastrophe, der Untergang der Zivilisation“280. Ludwig Klages, den er sich als Protagonisten dieser Bewegung auserkoren hat, bringt Thomas Mann dann auch folgerichtig direkt mit der Entwicklung der deutschen Politik nach 1933 in Verbindung. So spricht er im Oktober 1935 – einen Monat nach Verabschiedung der ‚Nürnberger Gesetze‘ – direkt von dem „sich in Deutschland nun auswirkenden KlagesVerbrechen“281. Auch Alfred Rosenberg sieht Thomas Mann als Wegbereiter des Faschismus an: niemand sonst verkörpert die Verbindung von Mythosverehrung und Nationalsozialismus so eindeutig wie der Verfasser des Mythus des 20. Jahrhunderts. Er sei als einer jener Denker anzusehen, die dem Begriff ‚Mythos‘ einen „üblen Geruch“ verpasst hätten, indem sie ihn „als Mittel obskurantischer Gegenrevolution mißbrauch[en]“282. Ob Mann den Mythus selbst gelesen hat, ist nicht mehr nachvollziehbar, aber dass er dessen Inhalt kannte, lässt sich aufgrund einiger seiner Äußerungen vermuten. Zum einen kritisiert er Rosenbergs Wahrheitsbegriff in Achtung, Europa! und kommt zum anderen in seiner Deutschen Ansprache mit deutlichen Verweisen auf Rosenbergs Werk auf ihn zu sprechen, ohne jedoch seinen Namen zu nennen. Rosenberg hatte im Mythus in Anlehnung an Houston Stewart Chamberlain postuliert, dass der Begriff der Wahrheit „an der Zweckmäßigkeit der Lebensgestalt abzulesen“283 sei. Der Mythos als Ausdruck der ‚Rassenseele‘ ist lebensdienlich, weshalb ihm sowohl „Wahrheitsgehalt“ als auch „ewiger Deutungswert“284 zukommen. In Achtung, Europa! geht Thomas Mann direkt auf diese These ein und zitiert den Satz „‘Nur das Lebensfördernde

|| 278 Mann, Thomas: Achtung, Europa!. S. 157f. 279 Ebd. S. 154. 280 Ebd. S. 159. 281 Tagebucheintrag vom 27.10.1935. In: Mann, Thomas: Tagebücher 1935–1936. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. M. 1978. S. 195. 282 Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag. S. 189. 283 Rosenberg, Alfred: Mythus. S. 641. 284 Ebd. S. 645.

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ist wahr‘“285. Er fügt zu diesem Satz jedoch sofort hinzu: „Um nicht aus aller Moral zu fallen […], ist es nötig, ihn durch den anderen zu ergänzen: ‚Nur die Wahrheit ist lebensfördernd‘“286. Dass sich Mann also mit Rosenbergs Text durchaus im Detail auseinandergesetzt haben könnte, lässt auch die folgende Stelle aus seiner Deutschen Ansprache vermuten: Es findet sich mehr zusammen, um die politische Bewegung, von der wir sprechen, die nationalsozialistische, vom Geistigen her zu stärken. Dazu gehört eine gewisse PhilologenIdeologie, Germanisten-Romantik und Nordgläubigkeit aus akademisch-professoraler Sphäre, die in einem Idiom von mystischem Biedersinn und verstiegener Abgeschmacktheit mit Vokabeln wie rassisch, völkisch, bündisch, heldisch auf die Deutschen von 1930 einredet und der Bewegung ein Ingrediens von verschwärmter Bildungsbarbarei hinzufügt, gefährlicher und weltentfremdeter, die Gehirne noch ärger verschwemmend und verklebend als die Weltfremdheit und politische Romantik, die uns in den Krieg [den Ersten Weltkrieg, E.K.] geführt haben.287

In Alfred Rosenberg sieht Thomas Mann den Inbegriff des „schamlosen Philosophaster“, der mit „seinem Denkertum der Gosse das Verbrechen ‚ideologisch unterbaut‘“288 und dazu mythische Versatzstücke wie die vom ‚arischen Atlantis‘ und der ‚nordischen Rasse‘ gebraucht. Eine distanzlose Haltung zum Mythos, die mit einer ‚lebensphilosophischen‘ Forderung nach der Überwindung des ‚Geistes‘ zugunsten der ‚Seele‘ – oder gar der ‚Rassenseele‘ – auftrumpft, ist diejenige Ideologie, die Thomas Mann den ‚Irrationalisten‘ vorwirft. Rosenbergs Mythus steht exemplarisch für genau jenen Mythosbegriff, gegen den Thomas Mann sich auch mit seinem literarischen Schaffen in Stellung bringt. In der Rückschau auf seine Joseph-Tetralogie bekennt Mann sogar, dass seine Stoffwahl für das Projekt in direktem Zusammenhang mit diesem steht. Er habe mit dem Joseph ein Gegengewicht schaffen wollen gegen den „fascistischen PöbelMythos“289, wie ihn Rosenberg vertrete. Er greift sogar zu militärischer Metaphorik, um sein Vorgehen zu illustrieren: die Auswahl eines jüdischen Erzählstoffes und sein im Joseph ausgestellter Umgang mit dem Mythos sei so zu verstehen, wie „wenn in der Schlacht ein erobertes Geschütz umgekehrt und gegen den Feind gewendet wird“290.

|| 285 Mann, Thomas: Achtung, Europa!. S. 158. 286 Ebd. 287 Mann, Thomas: Deutsche Ansprache. S. 267. 288 Mann, Thomas: Leiden an Deutschland. S. 692. 289 Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag. S. 194. 290 Ebd. S. 189.

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3.2.2.2 Die Aufklärer Als Fundament für ein anderes, ein humanistisch Mythosverständnis zieht Thomas Mann diejenigen Denker heran, die er den ‚Aufklärern‘ zurechnet. Dabei muss man zwischen Nietzsche, Schopenhauer und Jung einerseits und Freud und Kerényi andererseits noch die Unterscheidung treffen, dass die erste Gruppe von Thomas Mann durchaus ambivalent beurteilt wird, während Freud und Kerényi unumschränkt als Garanten eines neuen Humanismus gesehen werden. So schreibt Mann 1939 an Jonas Lesser, dass Schopenhauer „Mystiker und Humanist in einem“ gewesen sei und fügt hinzu: „Nicht Mystiker ist z.B. Freud – da sieht man den Unterschied.“291 Schopenhauers Metaphysik rechnet Thomas Mann noch der ausgehenden Romantik und dem mit ihr assoziierten Komplex der „Nacht- und Todverbundenheit“292 zu. Seine erste Lektüre Schopenhauers 1895/96 bezeichnet er im Rückblick als „seelisches Erlebnis ersten Ranges und unvergeßlicher Art“, da ihm hier zuerst der „Erkenntnisekel“ 293 als prägende Emotion begegnet, die auf der Einsicht in „die machtvolle sittlich-geistige Verneinung und Verurteilung der Welt und des Lebens“294 beruht. Dabei versteht er Schopenhauers Pessimismus jedoch nicht als anti-aufklärerisch, sondern als eine Art Erweiterung der Aufklärung, wie im folgenden Kapitel gezeigt werden soll. In seinem Vortrag Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte (1929) zitiert Mann dementsprechend zustimmend Nietzsches Einschätzung der Schopenhauerschen Philosophie als Weiterführung und Vertiefung der Aufklärung: Schopenhauers Metaphysik habe die aufklärerische Betrachtungsart aus genialrückschlägigem Erleben korrigiert, und erst nach diesem großen Erfolge der Gerechtigkeit dürften wir die Fahne der Aufklärung […] von Neuem weiter tragen.295

Schopenhauer ist für Thomas Mann Humanist und Aufklärer, insofern seine „Wahrheitsliebe“296 nicht vor der „Nachtseite der Natur und des Lebens“297 zu|| 291 Brief Manns an Jonas Lesser vom 31.01.1939. In: Briefe 1937–1947. S. 82. 292 Mann, Thomas: Stellung Freuds. S. 132. 293 Mann, Thomas: Lebensabriss. In: Essays 3. S. 177–222. Hier: S. 189. 294 Ebd. S. 190. Interessant an Thomas Manns Schopenhauer-Rezeption ist zudem, dass er sich nicht für den von Schopenhauer präsentierten Ausweg aus einem pessimistischen Nihilismus in Form der buddhistischen Mitleidsethik interessiert. Stattdessen bezieht er sich oftmals auf Schopenhauers ‚temporäre Lösung‘: die kurzzeitige Freiheit vom Willen in der ästhetischen Anschauung. Vgl. dazu Mann, Thomas: Schopenhauer. In: Essays 4. S. 253–303. Hier: S. 269. 295 Mann, Thomas: Stellung Freuds. S. 126f.

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rückschreckt. Das von Mann als ‚mystisch‘ bezeichnete Element seiner Metaphysik ist dagegen die Annahme von der ‚Allgegenwart des Willens‘, also der Vorstellung, dass alles Erscheinende in Wahrheit Objektivation desselben Willens, derselben ungeteilten Realität ist. In der Höllenfahrt übernimmt der Erzähler Schopenhauers Modell eines prärationalen Mythosbegriffs: es wird unterschieden zwischen den ‚Wissenden‘, die den Gedanken der Allgegenwart des Willens philosophisch durchdringen können, und dem ‚Volk‘, das zur Veranschaulichung dieses Gedankens noch des Mythos bedarf.298 Friedrich Nietzsches Werke hat Thomas Mann noch früher als Schopenhauer gelesen und er beschäftigt sich über die gesamte Dauer seines Lebens hinweg immer wieder mit dem Philosophen. Dabei steht er insbesondere denjenigen Werken Nietzsches nahe, die auf der Auseinandersetzung mit Schopenhauer fußen. In Bezug auf Manns Beschäftigung mit dem Mythos ist vor allem seine Rezeption der Geburt der Tragödie maßgeblich: Die Gegenüberstellung von apollinischem und dionysischem Prinzip wird vom Tod in Venedig bis zum Doktor Faustus zu einem zentralen literarischen Gestaltungsmittel Manns. Wie bereits gezeigt wurde, ist Nietzsches apollinisches Prinzip in Anlehnung an Arthur Schopenhauers Konzept der ‚Welt als Vorstellung‘ gestaltet und das dionysische Prinzip dementsprechend analog zur ‚Welt als Wille‘.299 Nietzsche verwendet das von Schopenhauer vorgegebene Schema einer Doppelperspektive auf das menschliche Dasein: Absolute Realität ist die Welt als Wille, welche Nietzsche im dionysischen Rausch verkörpert sieht; relative Realität ist die Welt als Vorstellung, welche sich in Nietzsches Konzeption als apollinische Traumwelt oder ‚Schleier der Maja‘ über die dionysische Perspektive legt. Trotz dieser Übereinstimmung sollte nicht übersehen werden, dass Nietzsche und Schopenhauer die Funktion von Mythen in diesem Kontext vollkommen anders bewerten. Während Schopenhauer Mythen als prärationale Form der Wahrheitserkenntnis – wenn auch ‚im Gewand der Lüge‘ – deutet, sind sie in Nietzsches Konzeption ein ‚Heilmittel‘ gegen die Erfahrung der dionysischen Realität. Im Gegensatz zu Schopenhauer, der eine Erlösung von der Tyrannei des Willens allein in der auf die philosophische Erkenntnis folgenden Willensverneinung und der Mitleidsethik sieht, postuliert Nietzsche Kunst und Mythos als Ausweg. Im gleichen Atemzug mit seiner Aussage „nur als aesthetisches

|| 296 Mann, Thomas: Freud und die Zukunft. S. 483f. 297 Mann, Thomas: Stellung Freuds. S. 128. 298 Vgl. dazu Mann, Thomas: Joseph I. S. LVII. 299 Vgl. Kap. 2.2.1

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Phänomen“ seien „das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“300 schließt Nietzsche in der Geburt der Tragödie eine moralische oder wertschaffende Funktion von Kunst und Mythos aus. Beide müssten „vor Allem Reinheit in ihrem Bereiche verlangen“301. Von dieser Haltung grenzt sich Thomas Mann in den 1930er Jahren ab, weil er in ihr eine Wurzel der ästhetizistisch-unpolitischen Geistesverfassung sieht, die er für das Aufkommen des Nationalsozialismus verantwortlich macht. Er bezeichnet Nietzsche als den „vollkommenste[n] und rettungsloseste[n] Ästhet[en], den die Geschichte des Geistes kennt“302. Dennoch deutet er Nietzsche auch gleichzeitig auch als „Propheten der neuen und zukünftigen Humanität“303. Während Thomas Mann Schopenhauers Werk gemeinsam mit der Musik Richard Wagners als „den Gipfel, die Krönung und die höchste geistig-künstlerische Machtentfaltung der Romantik“304 ansieht, stilisiert er Friedrich Nietzsche zum Überwinder der Romantik. Obwohl Mann sich ab den 1920er Jahren immer wieder „dagegen wehrt, das Romantische als das Lebenswidrige“305 zu sehen, so häufen sich doch seine Aussagen darüber, dass die romantische Gesinnung als „Lied des Heimwehs nach dem Vergangenen, [als] Zauberlied des Todes“306 dem Irrationalismus der Moderne Vorschub geleistet habe. Dass Nietzsche sich in seiner Auflehnung gegen Wagner von der Romantik abgegrenzt habe, macht ihn für Thomas Mann dagegen zum Begründer eines humanistischen Neuanfangs, zu dessen Vertretern er auch Freud und Kerényi rechnet. In seiner 1924 gehaltenen Rede zu Nietzsches 80. Geburtstag führt er den Gedanken von Nietzsche als ‚Selbstüberwinder‘ aus, der durch seine Lektüre von Ernst Bertrams Nietzsche – Versuch einer Mythologie (1918) maßgeblich beeinflusst ist: [Nietzsches] Heldentum aber hieß Selbstüberwindung […]. Er war, wie Wagner, von dem er sich mit seinem Gewissensurteil gelöst, den er aber bis in den Tod geliebt hat, seiner geistigen Herkunft nach ein später Sohn der Romantik. Daß aber Wagner ein mächtigglückhafter Selbstverherrlicher und Selbstvollender, Nietzsche dagegen ein revolutionärer Selbstüberwinder war, das macht es, daß jener auch nur dieser letzte Verherrlicher und

|| 300 Nietzsche, Friedrich: Geburt der Tragödie. S. 47. 301 Ebd. S. 152. 302 Mann, Thomas: Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung. In: GKFA 19,1. S. 185–226. Hier: S. 220. 303 Brief Manns an Hans Arnim Peter vom 02.02.1925. In: Briefe III. S. 128. 304 Brief Manns an Hans Taub vom 19.07.1926. In: Briefe III. S. 240. 305 Mann, Thomas: Rede, gehalten zur Feier des 80. Geburtstages Friedrich Nietzsches. In: GKFA 15,1. S. 788–793. Hier: S. 791. 306 Ebd. S. 790

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unendlich bezaubernde Vollender einer Epoche blieb, dieser aber zu einem Seher und Führer in neue Menschenzukunft geworden ist.307

Thomas Mann versucht an zahlreichen Stellen, Nietzsche von dem Vorwurf reinzuwaschen, dass seine Philosophie zu den Vorläufern der irrationalistischen Strömung in der Moderne gehört. Dennoch scheinen Nietzsches Überlegungen zum Mythos in der Geburt der Tragödie nicht zu Thomas Manns neu entwickelten begrifflichen Entwurf eines modernen Mythosverständnisses gepasst zu haben. Die ästhetizistische Ausrichtung von Nietzsches Mythosbegriff ist nicht in das Projekt einer ‚Umfunktionierung des Mythos ins Humane‘ integrierbar, wenngleich das Schema der Gegenüberstellung von apollinischem und dionysischem Prinzip in der literarischen Gestaltung stets weiterverwendet wird. Sigmund Freud dagegen wird von Beginn der Josephs-Zeit an für Thomas Mann zur Gallionsfigur eines aufklärerischen Umgangs mit dem Mythos. In seinen zwei Freud-Vorträgen Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte (1929) und der Geburtstagsrede Freud und die Zukunft (1936) erklärt er den Psychoanalytiker zum „Wegbereiter eines künftigen Humanismus“308. Beide Vorträge nutzt er als Plattform, um sich gegen die Irrationalisten abzugrenzen und Freud als Mythosforscher darzustellen, der die mythische Überlieferung „mit der behutsam-unerbittlichen Sonde des Arztes durchforscht und analytisch durchleuchtet“309, ihr also auf rational-aufklärerischem Wege begegnet. Dabei ist Thomas Mann im Gegensatz zu Hesse durchaus nicht von Anfang an vom Projekt der Psychoanalyse überzeugt. 1915 notiert er über Freud ins Notizbuch, dessen Theorie sei „fortschrittlich-zersetzend, wie alle Psychologie“310 und noch 1925 formuliert er in Mein Verhältnis zur Psychoanalyse die Gefahr, dass sie zu einer „boshaften Aufklärung“311 genutzt werden könnte. Auch seine Rezeption der Werke Freuds setzt erst spät ein.312 Erst 1911 liest er als ersten Freud-Text die Literaturanalyse Der Wahn und die Träume in W. Jensens ‚Gradiva‘ (1907), die erstaunliche Parallelen zum Tod in Venedig aufweist. Auch die Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) muss Mann gelesen haben, da sie im Zauberberg

|| 307 Ebd. 308 Mann, Thomas: Freud und die Zukunft. S. 500. 309 Mann, Thomas: Stellung Freuds. S. 128. 310 Mann, Thomas: Notizbuch 11. In: Ders.: Notizbücher 7–14. 2 Hg. von Hans Wysling und Yvonne Schmidlin. Frankfurt a. M. 1991–1992. S. 6. 311 Mann, Thomas: Mein Verhältnis zur Psychoanalyse. In: GKFA 15,1. S. 990f. Hier: S. 990. 312 Zu Thomas Manns Freud-Rezeption vgl. Dierks, Manfred: Art. Thomas Mann und die Tiefenpsychologie.

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ironisiert dargestellt werden. In Die Stellung Freuds gibt Mann jedoch zu, bis dahin keine der Schriften Freuds „ernstlich gelesen“313 zu haben. Erst kurz vor Beginn der Niederschrift des ersten Joseph-Bandes hat Thomas Mann die Gesammelten Werke studiert, wobei auffällig ist, dass der Band, der Totem und Tabu enthält, am stärksten von Mann angestrichen wurde. Hier beginnt sich Manns Verknüpfung von Mythos und Psychoanalyse und damit auch die Aufwertung der gesamten Methode anzukündigen. Ein persönlicher Kontakt zwischen beiden entwickelt sich nach Manns erstem Vortrag, den er 1929 an den Psychoanalytiker schickt. Freud dankt ihm – insbesondere dafür, dass Mann ihn „gegen den Vorwurf eines reaktionären Mystizismus“314 verteidigt habe. Im März 1932 folgt der erste Besuch Thomas Manns bei Freud in Wien. Die Verbindung von Mythos und Psychologie bei Freud rekonstruiert Mann aus den beiden Texten Totem und Tabu und Der Mann Moses. In Totem und Tabu streicht er sich gleich auf der ersten Seite das Programm Freuds an, der versuchen will, „Gesichtspunkte und Ergebnisse der Psychoanalyse auf ungeklärte Probleme der Völkerpsychologie anzuwenden“315. Neben Anstreichungen zur Definition des Begriffs ‚Tabu‘ und Stellen zum Priesterkönigtum, die er mit der Notiz „Pharao?“316 versieht und für den Joseph verwenden will, scheint Thomas Mann besonders an der psychologischen Ausdeutung des Vatermordes als Ursprung von Totemismus und Monotheismus interessiert gewesen zu sein. In der gesamten Passage IV.4, die sich um die Totemmahlzeit dreht, finden sich zahlreiche Anstreichungen.317 Die Stelle, die die Totemmahlzeit mit dem Gottesbund in Verbindung bringt, ist mit Ausrufezeichen versehen: Das heilige Mysterium des Opfertodes rechtfertigt sich, indem nur auf diesem Wege das heilige Band hergestellt werden kann, welches die Teilnehmer untereinander und mit ihrem Gotte einigt.318

Zudem sind zahlreiche Stellen markiert, die die Identität des geopferten Totemtieres mit dem Vater feststellen319, und natürlich besonders all jene Textteile, die || 313 Mann, Thomas: Stellung Freuds. S. 148. 314 Brief Freuds an Thomas Mann vom 23.10.1929. In: Mann, Thomas: Briefwechsel mit Autoren. Hg. von Hans Wysling. Frankfurt a. M. 1988. S. 184. 315 Vgl. Thomas Manns Exemplar von Totem und Tabu im Thomas-Mann-Archiv Zürich. Freud, Sigmund: Gesammelte Schriften. Zehnter Band. Hg. von Anna Freud, Otto Rank, A. J. Stufer. Wien 1924. TMA. S. 5. 316 Ebd. S. 56. 317 Vgl. ebd. Kap. IV.4. S. 150ff. 318 Ebd. S. 154. 319 Ebd. S. 165.

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eine Linie vom Vater- über das Tier- bis hin zum Gottesopfer führen.320 Die Parallelen von Adonis, Tammuz und Mithras bis hin zu Jesus und die „Identität der Totemmahlzeit mit dem Tieropfer, dem theantropischen Menschenopfer und […] der christlichen Eucharistie“321 scheinen für Mann ebenfalls von höchstem Interesse gewesen zu sein. Auch in seinem Exemplar von Der Mann Moses und die monotheistische Religion ist die dort gegebene Zusammenfassung der Ergebnisse aus Totem und Tabu nochmals angestrichen, die alle später Eingang in die Joseph-Romane finden.322 Außerdem sind hier einige Stellen zur Aton-Religion als „erste[m] Versuch“ eines „strenge[n] Monotheismus“323 markiert und dazu wenig später die These, dass das Christentum diese reine, vergeistigte Form des Monotheismus nicht aufrechterhalten habe, mit mehreren Ausrufezeichen versehen. Die Mehrzahl der Anstreichungen Thomas Manns verweist darauf, dass ihn Freuds Übertragung des Neurosenschemas auf die Religionsentwicklung besonders interessiert hat. Freud versteht die „religiösen Phänomene“ als „symptomähnlichen Folgen“324 eines Verdrängungsprozesses und interpretiert Mythen als nach außen projizierte psychologische Vorgänge. Dies ermöglicht ihm einen analytischen Umgang mit mythischen Überlieferungen – er ‚entlarvt‘ sie als Produkte eines psychischen Prozesses. Genau diesen Ansatz beschreibt Thomas Mann in den beiden Freud-Reden als aufklärerische Haltung zu Mythen: Es ist die „Durchleuchtung und psychologische Eroberung“ von Mythen „durch die Neurosenlehre“325, die „Bewußtmachung und analytische Auflösung“326 ihrer Symbolik, die die Psychoanalyse zu einer Methode der „Aufklärung“327 macht. Diese Elemente der psychoanalytischen Mythenauslegung hält Thomas Mann für entscheidend im Kampf gegen die ‚Irrationalisten‘: Der Weg, den sie [die Psychoanalyse, E.K.] vorschreibt, ist der der Bewußtmachung, der Analyse, auf welchem es kein Halt und Zurück, kein Wiederherstellen des ‚Guten-Alten‘ gibt; das Ziel, das sie zeigt: eine neue, verdiente, durch Bewußtheit gesicherte, auf Freiheit und Wahrhaftigkeit beruhende Lebensordnung. […] Sie ist diejenige Erscheinungs-

|| 320 Ebd. S. 168f. 321 Ebd. S. 172. 322 Vgl. Thomas Manns Exemplar von Der Mann Moses im Thomas-Mann-Archiv-Zürich. Freud, Sigmund: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. New York/Toronto 1939. S. 234ff. Zum Einsatz der Stellen im Joseph vgl. Kap. 4.2. 323 Ebd. S. 35. 324 Freud, Sigmund: Der Mann Moses. S. 529. 325 Mann, Thomas: Stellung Freuds. S. 123. 326 Ebd. S. 133. 327 Ebd. S. 147.

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form des modernen Irrationalismus, die jedem reaktionären Mißbrauch unzweideutig widersteht.328

Die Bewusstmachung der psychologischen Hintergründe, aus denen Mythen nach Freud entstehen, ist für Thomas Mann das einzige Mittel, mythische Überlieferungen vor politischem Missbrauch zu schützen. Die so analytisch ‚durchleuchteten‘ Mythen bieten keine Projektionsfläche mehr für irrationale Schwärmerei oder politische Instrumentalisierung, da sie – derart ‚entlarvt‘ – keine Objekte der Verehrung mehr sein können. Eine solche Haltung schließt aber gleichzeitig eine Position wie die Jungs aus, der in Mythen mehr sieht als einen bloßen Ausdruck historischer Verdrängungsprozesse. Thomas Mann scheint Freud dahingehend gefolgt zu sein, dass er in Mythen prärationale Äußerungen aus der Menschheitsgeschichte sieht, die vom modernen Verstand erst ‚entziffert‘ und in rationale Sprache übersetzt werden müssen. Dessen ungeachtet hat Thomas Mann jedoch auch C. G. Jungs Mythostheorie mit Interesse rezipiert. Im Vergleich zur euphorischen Stilisierung Freuds als Mythosforscher der Aufklärung steht Mann zu ihm aber in einem distanzierteren Verhältnis. An Anna Jacobson schreibt er im Februar 1945: Jung habe ich in der Schweiz nie gesehen. Er besuchte mich einmal in München zusammen mit einem anderen Herrn, an den ich mich nicht mehr erinnere. Jung machte einen außerordentlich gescheiten Eindruck auf mich. Seine Haltung gegenüber den Nazis war anfangs recht zweifelhaft und mehr als das. Literarische Beziehungen haben nie bestanden.329

Wenn man die Rezeptionsspuren verfolgt, ist diese Aussage Manns ebenso anzuzweifeln wie eine Tendenz in der Thomas-Mann-Forschung, die davon ausgeht, dass er Jung nur „beiläufig“ gelesen habe.330 Thomas Mann hat sich durchaus intensiv mit Jung auseinandersetzt und einige Denkfiguren von ihm übernommen. Jungs uneindeutige politische Positionierung hat Mann wohl aber davon abgehalten, dies öffentlich zuzugeben. Der erste Text, den Mann von C. G. Jung liest, ist wahrscheinlich der kurze Essay Probleme der modernen Psychotherapie (1929), den Jung ihm zugesandt hat und den er in Vorbereitung für seinen ersten Freud-Vortrag studiert. In diesem Text grenzt Jung seine eigene „analytische Psychologie“ als Methode von

|| 328 Ebd. S. 153f. 329 Brief Manns an Anna Jacobson vom 22.02.1945. In: Briefe 1937–1947. S. 413. 330 Vgl. Dierks, Manfred: Thomas Mann und die Tiefenpsychologie. S. 295.

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Freuds Psychoanalyse ab.331 Unter der Überschrift ‚Aufklärung‘ setzt er sich mit Freuds Methode auseinander und hebt es als dessen Verdienst hervor, gezeigt zu haben, dass „die menschliche Natur auch eine dunkle Seite hat“332. Gleichzeitig betont er, dass man den Menschen dennoch „nicht einseitig von seiner Schattenseite her erklären“333 dürfe. Die Denkfigur von Freud als Aufklärer, der schonungslos die ‚Nachtseite der Seele‘ durchleuchtet, ist in Jungs Essay vorgezeichnet: Das Ergebnis der FREUDschen Aufklärungsmethode ist eine minutiöse Ausarbeitung der menschlichen Schattenseite, wie sie keine Zeit vor uns je kannte. Es ist das denkbar wirksamste Gegengift gegen alle idealistischen Illusionen über das Wesen des Menschen.334

In seinem Antwortbrief an Jung greift Thomas Mann genau diese Stelle auf und münzt sie auf das Programm seines Freud-Vortrags um. Ihn interessiert nicht so sehr Jungs Kritikpunkt an seinem Mentor, sondern eben jene Sichtweise auf Freud als Aufklärer, der sich zwar mit dem Irrationalen beschäftigt und es demaskiert, es aber nicht im Sinne der ‚Irrationalisten‘ glorifiziert. Mann antwortet an Jung: So zutreffend es ist, wenn Sie Freud einen Zerstörer idealistischer Illusionen über das Wesen des Menschen nennen, so bestätigend geht mir doch auch aus Ihrer Vorstellung hervor, daß das analytische Interesse fürs Irrational-Nächtige nicht Sympathie, nicht Geistfeindschaft ist, sondern daß dieses Interesse nur Mittel ist und zuletzt dem Primat der Vernunft und des Geistes gilt.335

Ein Jahr nach dieser zustimmenden Rezeption – bzw. Adaption – von Jungs Einschätzung von Freuds Methodik wird Thomas Mann der von Jung und Richard Wilhelm herausgegebene Band Das Geheimnis der goldenen Blüte (1929) empfohlen, der die Übersetzung des chinesischen Originaltextes von Richard Wilhelm und eine kommentierende Einleitung von Jung enthält.336 Anlässlich seiner Lektüre zeigt sich Thomas Mann „freudig erschrocken“337 darüber, Übereinstimmungen mit seinen eigenen Gedanken bei Jung zu finden: auch er sei ein Verfechter der Kombination von „Psychologie und Mythus“, deren „Unver|| 331 Jung, Carl Gustav: Die Probleme der modernen Psychotherapie. In: GWJ 16. S. 57–81. Hier: S. 57. 332 Ebd. S. 69. 333 Ebd. 334 Ebd. S. 68. 335 Brief Manns an C. G. Jung vom 01.04.1929. In: Briefe III. S. 392. 336 Vgl. Brief Manns an Hans Ludwig Held vom 01.03.1930. In: Briefe III. S. 459. 337 Ebd.

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einbarkeit […] Klages und seine Bäumler“338 behaupten. Während er Jung ebenfalls als Vertreter der Formel ‚Mythos plus Psychologie‘ etikettiert, scheint Thomas Mann jedoch die vollkommen andere Ausrichtung Jungs im Vergleich zu Freud zu übersehen. Stattdessen sucht er sich diejenigen Elemente aus dessen Texten heraus, die zu dem aus der Freud-Lektüre entwickelten Mythosverständnis passen und sich in das Programm ‚Mythos plus Psychologie‘ eingliedern lassen. In seinem Kommentar zum Geheimnis der goldenen Blüte legt Jung seinen Mythosbegriff in nuce dar. Er skizziert seine Konzeption des ‚kollektiven Unbewussten‘, aus der sich die kulturübergreifende „Identität der Mythenmotive und der Symbole“339 erklären lässt, und erläutert außerdem die produktive Funktion, die er dem zwischen Unbewusstem und Bewusstsein vermittelnden Symbol zuspricht.340 Die darauf folgende Textstelle setzt sich mit dieser Funktion des mythischen Symbols auseinander und scheint Thomas Mann besonders interessiert zu haben: LÈVI-BRUHL hat mit genialem Griffe das, was er ‚participation mystique‘ nannte, als das Kennzeichen primitiver Geistesart hervorgehoben. Was er bezeichnet, ist einfach der unbestimmt große Rest von Ununterscheidbarkeit zwischen Subjekt und Objekt […]. Insofern der Unterschied zwischen Subjekt und Objekt nicht bewußt wird, herrscht unbewußte Identität. Dann ist das Unbewußte ins Objekt projiziert und das Objekt ins Subjekt introjiziert, das heißt psychologisiert. […] Gelingt es aber nun, das Unbewußte als mitbedingende Größe neben dem Bewußtsein anzuerkennen und so zu leben, daß bewußte und unbewußte (respektive instinktive) Forderungen nach Möglichkeit berücksichtigt werden, so ist das Gravitationszentrum der Gesamtpersönlichkeit nicht mehr das Ich, welches bloßes Bewußtseinszentrum ist, sondern ein sozusagen virtueller Punkt zwischen dem Bewußten und dem Unbewußten, welchen man als das Selbst bezeichnen könnte. Gelingt diese Umstellung, so tritt als Erfolg die Aufhebung der participation mystique ein, und daraus entsteht eine Persönlichkeit, die sozusagen nur noch in den unteren Stockwerken leidet, in den oberen aber dem leid- wie freudvollen Geschehen eigentümlich entrückt ist.341

Dies ist eine der Stellen, bei denen sich Thomas Mann „freudig erschrocken“ darüber zeigt, „bei Jung Gedanken zu finden, die ich im Roman praktiziere“ – wie beispielsweise „den ‚primitiven Rest von Ununterscheidbarkeit zwischen Subjekt und Objekt‘, die ‚participation mystique‘ Lévy-Bruhls. Erstaunlich!“342. Dabei scheint sich Mann nur für den ersten Teil der hier zitierten Stelle zu inte|| 338 Ebd. 339 Vgl. Jung, Carl Gustav: Goldene Blüte. S. 20f. 340 Vgl. ebd. S. 36. 341 Ebd. S. 53. 342 Brief Manns an Hans Ludwig Held vom 01.03.1930. In: Briefe III. S. 459.

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ressieren, nämlich für die Einheit von Subjekt und Objekt in einem unbewussten Geisteszustand, nicht aber für die nachfolgende Theorie eines transrationalen Bewusstseinszustandes, der durch das vermittelnde Symbol induziert wird. Zu diesem Befund passt zudem, dass Thomas Mann Jungs Kritik an der Philosophie Klages‘343 wohlwollend zur Kenntnis nimmt, aber mit keinem Wort darauf eingeht, dass Jung selbst der Moderne eine „einseitige Überspannung des bewußten Standpunktes“344 unterstellt und außerdem die Lebensphilosophie, die Thomas Mann als ‚Irrationalismus‘ abstempelt, „als ein Zeichen des kultürlichen Fortschrittes“345 betrachtet, weil sie diese Vereinseitigung offen thematisiert. Mit Thomas Manns kategorischer Ablehnung der ‚Irrationalisten‘ ist eine solche Haltung natürlich nicht in Übereinstimmung zu bringen. Im Vortrag Freud und die Zukunft lassen sich trotz dieser Differenzen exemplarisch einige Übernahmen Thomas Manns von Jung ablesen. Aus dessen Kommentar zum Tibetanischen Totenbuch übernimmt er beispielsweise entscheidende Stellen für die Freud-Rede, obwohl er sich durchaus darüber im Klaren ist, dass Freud Jung als seinen „undankbare[n] Sprößling“346 ansieht. In seinem Exemplar des Psychologischen Kommentars zum Bardo Thödol hat Thomas Mann zahlreiche Anstreichungen vorgenommen: unter anderem eine Stelle, die sich mit der Idee des Gottesbundes in der Jospehs-Tetralogie überschneidet. So heißt es bei Jung, dass in der östlichen Philosophie die „Seele selber“ das „Licht der Gottheit“347 sei und in diesem Zusammenhang eine Perspektive eingenommen werden könne, aus der zu erkennen sei, „wie die Welt aus dem Wesen der Seele ‚gegeben‘ wird“348. Den nachfolgenden Satz zitiert Mann in Freud und die Zukunft wörtlich von Jung349 und zieht im Anschluss eine direkte Linie von Schopenhauer über Freud bis hin zu Jung. „Niemand“ habe „so scharf wie er die Schopenhauer-Freud´sche Erkenntnis formuliert, daß ‚der Geber aller Gegebenheiten in uns selber wohnt‘“350. In seinem Kommentar überträgt Jung dies im Folgenden auf eine esoterische Gottesvorstellung:

|| 343 Vgl. Jung, Carl Gustav: Goldene Blüte. S. 19. 344 Ebd. S. 22. 345 Ebd. S. 19. 346 Mann, Thomas: Freud und die Zukunft. S. 488. 347 Vgl. Thomas Manns Exemplar der Schrift im Thomas-Mann-Archiv Zürich. Jung, Carl Gustav: Psychologischer Kommentar zum Bardo Thödol. In: Das tibetanische Totenbuch. Hg. von W.Y. Evans-Wentz. 1935. S. 20. 348 Ebd. S. 21. 349 Vgl. Mann, Thomas: Freud und die Zukunft. S. 488 und 489. 350 Ebd. S. 489.

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Wenn ich annehme, daß ein Gott absolut und jenseits aller menschlichen Erfahrung sei, dann läßt er mich kalt. Ich wirke nicht auf ihn, und er nicht auf mich. Wenn ich dagegen weiß, daß Gott eine mächtige Regung meiner Seele ist, dann muß ich mich mit ihm beschäftigen […].351

In Freud und die Zukunft übernimmt Thomas Mann genau dieses Modell als Ausgangspunkt für seinen Entwurf des ‚Gottesbundes‘ in den Joseph-Romanen. Seinen Roman präge eine „psychologische Theologie“352, die sich im Bild des Gottesbundes erklären lässt: Gottes gewaltige Eigenschaften – und damit Gott selbst – sind zwar etwas sachlich Gegebenes außer Abraham, zugleich aber sind sie auch in ihm und von ihm; die Macht seiner eigenen Seele ist in gewissen Augenblicken kaum von ihnen zu unterscheiden, verschränkt sich und verschmilzt erkennend in eins mit ihnen, und das ist der Ursprung des Bundes, den der Herr dann mit Abraham schließt und der nur die ausdrückliche Bestätigung einer inneren Tatsache ist.353

Neben dieser Bestätigung der Gottesbund-Konzeption findet Thomas Mann bei Jung außerdem die Formel ‚Mythos plus Psychologie‘ weitaus eindeutiger vorformuliert als bei Freud. Im Schlussteil seines Kommentars zur Goldenen Blüte erläutert Jung sein Programm eines psychologischen Umgangs mit Mythen: Ich will mit voller Absicht metaphysisch klingende Dinge ins Tageslicht psychologischen Verstehens ziehen und mein möglichstes zu tun, das Publikum zu verhindern, an dunkle Machtwörter zu glauben. […] Metaphysisch ist nichts zu begreifen, wohl aber psychologisch. 354

Eine vergleichbare Stelle ließe sich bei Freud nicht finden, da er eine produktive psychische Funktion von Mythen kategorisch ausschließt. Carl Gustav Jungs Ausführungen zum Mythos sind also für Thomas Mann während der JospehsZeit durchaus relevant und passen an manchen Stellen im Grunde besser zu seinem Programm als Freuds Aussagen – zumindest sind sie so relevant, dass er in einer Rede anlässlich von Freuds Geburtstag mehr Jung zitiert als den Jubilar selbst. Dieses Interesse erstreckt sich auch noch bis in die vierziger Jahre: 1941 schickt ihm Karl Kerényi sein Gemeinschaftswerk mit Jung, Das göttliche Kind (1941), das Thomas Mann in seinem Antwortbrief „ein Wunder an Interessant-

|| 351 Jung, Carl Gustav: Goldene Blüte. S. 57. 352 Mann, Thomas: Freud und die Zukunft. S. 490. 353 Ebd. S. 490f. 354 Jung, Carl Gustav: Goldene Blüte. S. 57.

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heit“355 nennt. Es ist wiederum die Verbindung von Mythos und Psychologie, die ihn interessiert: Für meinen Teil habe ich mich gefreut, zu sehen, wie eifrig und aufgeregt ich noch lesen kann, wenn ich wirklich in meinem Elemente bin, – und was sollte mein Element derzeit wohl mehr sein als Mythos plus Psychologie.356

Auch in diesem Text finden sich wiederum zahlreiche Anstreichungen und Anregungen, die Thomas Mann aufnimmt: von Jungs Annahme, dass es in der Antike noch keine „Einheit der Person“357 im modernen Sinne gegeben habe bis hin zu Ausführungen über Hermes und den Hermaphroditos als „konfliktüberwindenden Heilbringer“358. Im Schlussteil des Textes fasst Jung seine eigene Auffassung vom Verhältnis zwischen Mythos und Psychologie zusammen: Die Psychologie übersetzt also die archaische Sprache des Mythus in ein modernes, als solches noch nicht erkanntes, Mythologem […].359

Auch diese Aussage passt besser zu Thomas Manns dichterisch-ironischer Neugestaltung antiker Mythen im Joseph-Roman als Freuds Hypothese von Mythen als Produkten archaischer Verdrängungsprozesse. Jung kann aufgrund seiner fehlenden Distanzierung vom Nationalsozialismus jedoch für Thomas Mann nicht als Garant für einen ‚richtigen‘ Umgang mit Mythen stehen – und so vermengt er in seinen öffentlichen Reden die von Jung assimilierten Gedanken mit denen Freuds. Es ist dennoch erstaunlich, dass er 1935 im Tagebuch vom „widerwärtige[n] Benehmen Jungs“360 spricht – vermutlich in Bezug auf die ‚Zentralblatt-Affäre‘ – und dennoch gleichzeitig mit Interesse Jungs Publikationen verfolgt.361 So gestaltet sich Thomas Manns Verhältnis zu Jung ähnlich wie das zu Bachofen: sein Interesse und seine offenkundigen Übernahmen von beiden

|| 355 Brief Manns an Karl Kerényi vom 18.02.1941. In: BWKM. S. 97. 356 Jung, Carl Gustav: Goldene Blüte. S. 57. 357 Vgl. Thomas Manns Exemplar im Thomas-Mann-Archiv Zürich. Jung, Carl Gustav: Zur Psychologie des Kindarchetypus. In: Ders./Kerényi, Karl: Das göttliche Kind. In mythologischer und psychologischer Beleuchtung. Amsterdam 1940. S. 83–124. Hier: S. 91. 358 Vgl. ebd. S. 94 und S. 114f. 359 Ebd. S. 123. 360 Tagebucheintrag Thomas Manns vom 16.03.1935. In: Mann, Thomas: Tagebücher 1935– 1936. S. 56. 361 Ein Jahr später vermerkt er beispielsweise im Tagebuch: „Einleitung zum Tibetanischen Totenbuch von C. G. Jung, interessant“. Tagebucheintrag Thomas Manns vom 20.02.1936. In: Ebd. S. 259.

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Denkern verschleiert er öffentlich, da sie seinem politischen Programm im Wege stehen. Anders verhält es sich jedoch mit seiner Rezeption der Werke Karl Kerényis: diese legt er offen zutage, da er ihm als Garant für einen humanistischen Umgang mit dem Mythos dienen kann. Obwohl Kerényi eher die Rolle eines Bestätigers zukommt, da Thomas Manns grundlegende Mythos-Konzeption bereits abgeschlossen ist, als er dessen Werke zu lesen beginnt, wird er zu einem seiner wichtigsten Gesprächspartner in der Josephs-Zeit. Der Briefwechsel zwischen beiden beginnt 1934, als Kerényi seine Schrift Unsterblichkeit und Apollonreligion (1934) an Thomas Mann sendet, nachdem er dessen Geschichten Jaakobs gelesen hatte.362 Thomas Mann antwortet begeistert an Kerényi: dessen Text habe ihn „entzückt“ und „an die Wurzeln [s]einer geistigen Existenz“363 gerührt. Aus diesem Auftakt entspinnt sich ein über zwei Jahrzehnte andauernder Austausch, in dessen Zentrum Gespräche über mythologische Figuren und Zusammenhänge stehen. Mann liest ab 1934 fast alle neu erscheinenden Schriften von Kerényi; zu den einflussreichsten zählen die Gedanken über Dionysos (1935), die Apollon-Schrift (1937), die Abhandlung Vom Wesen des Festes (1938) und das Gemeinschaftswerk mit C. G. Jung Das göttliche Kind (1940). Oftmals antwortet Thomas Mann auf die Zusendung der Schriften mit einem Augenzwinkern: Kerényi werde die „Spuren“ seiner Ausführungen schon „in dem Roman finden“364, an dem er jeweils gerade arbeitet. So gleicht Mann beispielsweise die Charakterisierung Asnaths an Kerényis Beschreibung dieses Typus in Das göttliche Mädchen an365 und bespricht mit ihm die im Joseph ausgestellten intermythologische Parallelfiguren wie Anup und Hermes.366 Kerényis Werke sind für Mann jedoch keine reine ‚Stoffsammlung‘ für mythologische Motive, sondern es geht ihm vor allem darum, sich eines humanistischen Zugangs zum Mythos zu versichern.

|| 362 Vgl. Kerényi, Karl: Vorbetrachtungen. S. 14. 363 Brief Manns an Karl Kerényi vom 27.01.1934. In: BWKM. S. 37. 364 Brief Manns an Karl Kerényi vom 29.09.1935. In: BWKM. S. 66. Ebenso im Brief vom 07.09.1941. S. 99. 365 Ebd. S. 99. An den Archiv-Exemplaren der Kerényi-Schriften lassen sich diese Spuren leicht nachverfolgen. In seinem Exemplar des ‚Göttlichen Kindes‘ finden sich beispielsweise Anstreichungen zur Gestalt des Hermaphroditos, die mit dem Vermerk „Jaakob“ versehen sind und weitere Markierungen zu Hermes psychopompos und Dionysos. Vgl. Thomas Manns Exemplar im Thomas-Mann-Archiv Zürich. Kerényi, Karl: Das Urkind in der Urzeit. In: Ders./Jung, Carl Gustav: Das göttliche Kind. In mythologischer und psychologischer Beleuchtung. Amsterdam 1940. S. 19–82. Hier: S. 62, S. 63f. und S. 80ff. 366 Vgl. Brief Manns an Kerényi vom 20.02.1934. In: BWKM. S. 41.

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Das Aufkommen des Nationalsozialismus und mit ihm die politische Instrumentalisierung von Mythen bringen Thomas Mann dazu, ein Konzept für eine moderne Form des Humanismus zu suchen und mit ihm auch eine humanistische Form des Umgangs mit Mythen. In seinem 1936 veröffentlichten Weckruf Achtung, Europa! fordert Thomas Mann gar einen „militante[n] Humanismus“, der sich „nicht von einem Fanatismus, der ohne Scham und Zweifel ist, ausbeuten und überrennen lassen darf“367. Dieses offene Bekenntnis zum Humanismus ist für Thomas Mann ein Produkt der Zeitgeschichte. Noch 1903 bespöttelt er in einem Brief an Paul Ehrenberg den „Geist milder und frommer Humanität“ des 18. Jahrhunderts, an den „die lieben Leute“ noch geglaubt hätten, obwohl er heute „angefressen und zernagt“368 sei. Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs leitet jedoch eine Wende in dieser Einstellung ein. Während Mann noch zu Beginn des Krieges euphorisch den Künstler als Soldaten beschwört369 und den Krieg selbst als „Reinigung“ und „Befreiung“ von dem „Ungeziefer des Geistes“370 feiert, das die Friedenszeit bestimmt habe, bemerkt er im Rückblick, dass die Kriegserfahrung die „Idee der Humanität“371 neu befördert habe. Der Erste Weltkrieg habe die Ausbildung eines Humanismusbegriffs gefördert, der „notwendig das Politische einschließt“372. Unter dieser Art des Humanismus versteht Thomas Mann ein „neues, gefühlsbetontes Interesse am Menschen und seinem Los, seiner exzeptionellen Stellung zwischen den Reichen der Natur und des Geistes“ und eine Verteidigung der „Vernunft gegen Blut und Instinkt“373. Dazu gehört für Mann auch ein anderer Umgang mit dem Mythos, der sich von dessen Einsatz als nationalsozialistisches Propagandamittel fundamental unterscheidet. In seinem Vortrag Joseph und seine Brüder erläutert er das humanistische Programm der Romantetralogie: So aber ist auch das mythische Romanwerk nichts weniger als ein abseitiges, ausweichendes, zeitabgewandtes Produkt, sondern eingegeben von einem über das MenschlichIndividuelle hinausgehenden Interesse am Menschheitlichen, - eine humoristisch getönte, ironisch abgedämpfte, ich möchte fast sagen: verschämte Menschheitsdichtung.374

|| 367 Mann, Thomas: Achtung, Europa!. S. 159f. 368 Brief Manns an Paul Ehrenberg vom 29.04.1903. In: Briefe I. S. 237f. 369 Vgl. Mann, Thomas: Gedanken im Kriege. In: GKFA 15,1. S. 27–46. Hier: S. 29. 370 Ebd. S. 32. 371 Mann, Thomas: Von deutscher Republik. Gerhart Hauptmann zum sechzigsten Geburtstag. In: GKFA 15,1. S. 514–559. Hier: S. 540. 372 Brief Manns an Giulio Einaudi vom 28.06.1953. In: Briefe 1948–1955. S. 297. 373 Mann, Thomas: Schicksal und Aufgabe. S. 238. 374 Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag. S. 189.

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Ein entscheidender Teil des Briefwechsels zwischen Karl Kerényi und Thomas Mann dreht sich dementsprechend um den Zusammenhang von Mythos und Humanität. Bereits in einem der ersten Briefe grenzt sich Thomas Mann von einem ‚deutschen‘ Mythosbegriff ab, wie ihn die moderne „geist- und intellektfeindliche Bewegung“375 gebrauche, und setzt diesen Begriff von einem humanistischen Mythosverständnis ab, wie es Kerényi im vorhergehenden Brief charakterisiert hatte. Während die Aufgabe des modernen Humanisten für Kerényi jedoch die eines „Hüters und Erhalters“ ist, der die „gemeinsame[n], überlieferte[n] Schätze der europäischen Menschheit […] aus einer alten Welt in eine neue hinüberrettet“376, betont Thomas Mann, dass das mythische Material bearbeitet, ‚umfunktioniert‘ werden müsse, um eine humanistische Wirkung zu entfalten. Erst nach ihrer psychologischen Durchleuchtung könne Mythenrezeption zur Grundlage eines neuen Humanismus dienen. Anlässlich der Zusammenarbeit Kerényis mit C. G. Jung fasst Thomas Mann sein Programm zusammen: […] was sollte mein Element derzeit wohl sein als Mythos plus Psychologie. Längst bin ich ein leidenschaftlicher Freund dieser Combination; denn tatsächlich ist Psychologie das Mittel, den Mythos den fascistischen Dunkelmännern aus den Händen zu nehmen und ihn ins Humane ‚umzufunktionieren‘. Diese Verbindung repräsentiert mir geradezu die Welt der Zukunft, ein Menschentum, das gesegnet ist oben vom Geiste herab und ‚aus der Tiefe, die unten liegt‘.377

Vielleicht wird an keiner anderen Stelle deutlicher als an dieser, wie Thomas Mann das Verhältnis von Mythos und Rationalität bewertet: es ist der Mythos, der ‚unten‘ in der Tiefe liegt – also in einer naturhaften, nichtbewussten Sphäre – und er bedarf erst des rationalen Geistes, der ihm ‚von oben herab‘ eine Bedeutung zuweist. Damit unterscheidet sich sein Mythosverständnis fundamental von dem Karl Kerényis und Carl Gustav Jungs, die in Mythen sogar ein die Rationalität übersteigendes Erkenntnispotential vermuten. Über diesen Unterschied scheint Thomas Mann jedoch hinweggesehen zu haben, denn er sieht in Kerényis Arbeiten eine Bestätigung seiner eigenen literarischen Tätigkeiten. Die Lektüre seiner Schriften habe Mann nachträglich darin bestätigt, dass er bei seinen „eigenen ungelehrten mythologischen Träumereien doch eigentlich viel richtigen Instinkt bewiesen habe“378. Ebenso wie von Jung übernimmt Thomas Mann auch von Karl Kerényi zahlreiche Anregungen, ohne jedoch den geistigen

|| 375 Brief Manns an Karl Kerényi vom 20.02.1934. In: BWKM. S. 42. 376 Brief Kerényis an Thomas Mann vom 15.03.1945. In: BWKM. S. 117. 377 Brief Manns an Karl Kerényi vom 18.02.1941. In: BWKM. S. 97f. 378 Ebd. S. 98.

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Überbau beider Mythostheorien in seinen eigenen Mythosbegriff zu integrieren. Eine abschließende Analyse der Mann´schen Formel ‚Mythos plus Psychologie‘ soll diesen Befund noch weiter verdeutlichen.

3.2.3 Fazit: Die Formel ‚Mythos plus Psychologie‘ Wie aus dem vorangehenden Kapitel ersichtlich wurde, ist Thomas Mann davon überzeugt, dass eine literarische Neubearbeitung von Mythen diese nicht einfach unbefangen widergeben dürfe, sondern dass sie zunächst einer ‚Umfunktionierung‘ bedürfen. Die psychologische Analysemethode soll mythische Erzählungen und deren Hintergründe durchsichtig machen, so dass sie sich nicht mehr als Stimulans für irrationalistische Propaganda verwenden lassen. Die geistige Grundlage der psychologischen Mythendeutung liegt für Thomas Mann im Konzept der ‚Entlarvungspsychologie‘. Die Genese des Begriffs folgt seiner Rezeptionslinie von Nietzsche und Schopenhauer zu Freud. Die Denkfigur, die hinter dem Begriff steht, geht auf Schopenhauers philosophische Grundannahme zurück, dass der Intellekt dem Willen untergeordnet sei. Nietzsche habe sodann die psychologische Methode entwickelt, um diesen Zusammenhang zu ‚entlarven‘ und Freud habe schließlich die Psychologie zu einer medizinisch-naturwissenschaftlichen Methode ausgebaut, die jedoch ebenfalls auf der Grundannahme ruht, dass das Unbewusste unser Handeln weitaus stärker bestimmt als das bewusste Denken. In Schopenhauers Annahme, dass nicht der Intellekt den ‚Willen‘ (also den blinden, triebhaften Lebensdrang) beherrsche, sondern dass das Verhältnis umgekehrt sei, sieht Thomas Mann den Grundstein für sein Konzept der ‚Entlarvungspsychologie‘ begründet. In seiner Rede Freud und die Zukunft gibt Thomas Mann über Schopenhauers Philosophie als Vorwegnahme der Psychologie Auskunft: Der unerschrockene Wahrheitsmut, der die Sittlichkeit der analytischen Tiefenpsychologie ausmacht, war mir in dem Pessimismus einer naturwissenschaftlich bereits stark gewappneten Metaphysik zuerst entgegengetreten. Diese Metaphysik lehrte in dunkler Revolution gegen den Glauben von Jahrtausenden den Primat des Triebes vor Geist und Vernunft, sie erkannte den Willen als Kern und Wesensgrund der Welt […] und den Intellekt als sekundär und akzidentiell, als des Willens Diener und schwache Leuchte. Nicht

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aus antihumaner Bosheit tat sie das, […] sondern aus der strengen Wahrheitsliebe eines Jahrhunderts, das den Idealismus aus Idealismus bekämpfte.379

Hierin sieht Mann die Verbindungslinie zu Freud und bezeichnet Schopenhauer dementsprechend als „Vater der modernen Seelenkunde“380. In seiner Schopenhauer-Rezeption ist das Muster vorgezeichnet, nach dem Thomas Mann später auch Freud rezipiert: der Terminus ‚Entlarvungspsychologie‘ impliziert zwar ein Erkennen des beschriebenen Primates des Willens vor dem Intellekt, aber zugleich auch eine Distanzierung von dieser Erkenntnis und ihr Sichtbarmachen in der Analyse zum Zwecke der Aufklärung. Im Gegensatz zu den ‚Irrationalisten‘ nutzen die ‚Aufklärer‘ ihre Einsichten eben nicht für ‚antihumane‘ Zwecke, sondern streben „Bewußtmachung und analytische Auflösung“381 an. Obwohl auch Schopenhauers, Freuds und Nietzsches Erkenntnisse dem „Antirationalismus“ zuzuordnen sind, da sie die „Überlegenheit des Triebes über den Geist“ zum Inhalt haben, schließe deren Haltung aber dennoch „nicht das bewunderungsvolle Auf-dem-Bauch-liegen vor dieser Überlegenheit und die Verhöhnung des Geistes“382 mit ein. Dem einmal identifizierten Schema der ‚Entlarvungspsychologie‘ – Erkenntnis der Vorrangstellung des Triebes über den Geist, gefolgt von aufklärerischer Analyse und Bewusstmachung dieser Einsicht – ordnet Thomas Mann die heterogenen Konzepte Schopenhauers, Nietzsches und Freuds unter, ohne jedoch auf die inhaltlichen und methodischen Unterschiede in deren Ansätzen einzugehen. Er bildet Analogien zwischen Schopenhauers ‚Welt als Wille‘, Nietzsches ‚dionysischem Prinzip‘ und Freuds ‚Es‘ sowie zwischen der ‚Welt als Vorstellung‘, dem ‚apollinischen Prinzip‘ und dem ‚Ich‘. Gemeinsam ist den erstgenannten Konzepten, dass sie für ein vom Intellekt nicht beherrschbares, uferloses Triebstreben stehen, das in Wahrheit das menschliche Leben bestimmt. Die zweitgenannten Konzepte dagegen stehen für den Geist, für die traumgleiche Vorstellung des principium individuationis, die verbirgt, von welchen Mächten das Dasein tatsächlich beherrscht ist. „Quellpunkt aller Psychologie, einer Verdächtigungs- und Entlarvungspsychologie“ ist für Thomas Mann die bereits erläuterte Annahme vom „Intellekt als dienende[m] Werkzeug des Willens“ 383, die beide Prinzipien in ein Verhältnis zueinander bringt.

|| 379 Mann, Thomas: Freud und die Zukunft. S. 483f. 380 Mann, Thomas: Schopenhauer. S. 301. 381 Mann, Thomas: Stellung Freuds. S. 133. 382 Ebd. S. 147. 383 Mann, Thomas: Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung. S. 202.

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In Nietzsches Adaption der Schopenhauerschen Philosophie (mithilfe ihrer mythischen Einkleidung als Gegenüberstellung von Apollon und Dionysos) sieht Thomas Mann eine Vorform der „psychologischen Erkenntnismethode“384. In Nietzsches Werk falle der Begriff „Wahrheit“ mit dem „psychologischer Wahrheit“385 zusammen. Die Linie von Schopenhauer und Nietzsche weiter zu Sigmund Freud zieht Thomas Mann in seiner Rede Freud und die Zukunft. Ebenso wie Nietzsche zeichne sich Freuds Forschergeist durch einen „Wahrheitssinn, eine Empfindlichkeit und Empfänglichkeit für diese Reize und Bitterkeiten der Wahrheit“386 aus. Seine Einteilung der Psyche in ‚Ich‘, ‚Es‘ und ‚Über-Ich‘ sei außerdem bei Schopenhauer vorgezeichnet: Wie nahe verwandt ist seine Revolution nach ihren Inhalten, aber auch nach ihrer moralischen Gesinnung der Schopenhauer´schen! Seine Entdeckung der ungeheuren Rolle, die das Unbewußte, das ‚Es‘ im Seelenleben des Menschen spielt, besaß und besitzt für die klassische Psychologie […] die gleiche Anstößigkeit, die Schopenhauers Willenslehre für alle philosophische Vernunft- und Geistgläubigkeit besaß. […] Denn das Unbewußte, das ‚Es‘, ist primitiv und irrational, es ist rein dynamisch. […] Freuds Beschreibung aber des ‚Es‘ und Ich – ist sie nicht aufs Haar die Beschreibung von Schopenhauers ‚Wille‘ und ‚Intellekt‘ – eine Übersetzung seiner Metaphysik ins Psychologische?387

Die enormen Unterschiede, die tatsächlich zwischen Freuds psychologischer Methodik und Schopenhauers metaphysischem Ansatz bestehen, sind an dieser Stelle für Thomas Mann nicht von Interesse. Es geht ihm um einen aufklärerischen Umgang mit der „Nachtseite der Natur und des Lebens“388, mit dem ‚Unbewussten‘, ‚Dionysischen‘, der ‚Welt als Wille‘ – und nicht zuletzt auch mit dem Mythos. Die richtige Haltung ist im Schema der ‚Entlarvungspsychologie‘ als Erkenntnis und analytische Distanz angelegt und wird von Thomas Mann als revolutionär und aufklärerisch gegen den Standpunkt der ‚Irrationalisten‘ gewendet: Nur dem durch Bewußtmachung und analytische Auflösung führenden Willen zur Zukunft gehört der Name der Revolution […] – womit nicht gesagt sein soll, daß etwa der revolutionäre Wille von Vergangenheit und Tiefe nichts wüßte. Das Gegenteil soll besagt werden. Er muß und will sehr viel davon wissen, sehr gründlich darin zu Hause sein; nur daß diese dunkle Welt ihn nicht um ihrer selbst willen lockt, daß er sie nicht […] aus reak-

|| 384 Mann, Thomas: Stellung Freuds. S. 132. 385 Mann, Thomas: Freud und die Zukunft. S. 481. 386 Ebd. S. 480. 387 Ebd. S. 484ff. 388 Mann, Thomas: Stellung Freuds. S. 128.

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tionärem Instinkt zu seiner Sache macht, sondern als ein Erkennender und ein Befreier in ihre mit Greueln und Schätzen gefüllten Verliese dringt.389

Thomas Manns Ansicht nach gleichen sich also die Ansätze Schopenhauers, Nietzsches und Freuds darin, dass sie sich alle mit Antirationalismus beschäftigen und die positive Einstellung der Aufklärung zum Verhältnis von Intellekt und Trieb auf den Kopf stellen, um deren tatsächliches Machtverhältnis zu entlarven. Alle drei Denker – so Thomas Mann – tun dies jedoch nicht mit einer irrationalistischen Agenda, sondern im Sinne einer Erweiterung und Vertiefung der Aufklärung. Mithilfe von analytischer und psychologischer Methodik machen sie unbewusste Dynamiken sichtbar und ermöglichen so eine kritische Distanz zu diesen Vorgängen. Dieses Denkschema bildet die Grundlage für Thomas Manns vielzitierte Formel „Mythos plus Psychologie“390, die den aufklärerisch-humanistischen Umgang mit Mythen umschreiben soll. Die Entlarvung der psychischen Prozesse, die in mythischen Erzählungen bildlich eingekleidet werden, mache eine unkritische „Anbetung des Unbewußten“ und „die systematische Verherrlichung des Primitiven und Irrationalen“391 unmöglich, die Mann als Charakteristik der nationalsozialistischen Mythenverehrung ausgemacht hatte. Aus diesem Zusammenhang leitet Thomas Mann auch die Unbeliebtheit der Psychoanalyse im Nationalsozialismus ab, denn deren Aufklärungsarbeit müsse eine Bewegung, die „berauscht von einer Religiosität des Unbewußten“ sei, zwangsläufig „antipathisch“392 gegenüberstehen. Mythischen Erzeugnissen mit der gleichen aufklärerischen Haltung gegenüberzustehen wie Träumen und Neurosen, sie mit der „mit der behutsamunerbittlichen Sonde des Arztes“393 zu erforschen, ist daher die Grundlage für Thomas Manns Strategie zur ‚Umfunktionierung des Mythos ins Humane‘. Das literarische Mittel zur Umsetzung dieser Strategie ist jedoch nicht die wissenschaftliche Analyse, sondern die Ironie – sie bietet Distanz zu ihrem Gegenstand ohne ihn jedoch zu einem reinen Forschungsobjekt zu machen. Im Lebensabriß erläutert Thomas Mann diese literarische Strategie im Selbstkommentar:

|| 389 Ebd. S. 133. 390 Brief Manns an Karl Kerényi vom 18.02.1941. In: BWKM. S. 98. 391 Mann, Thomas: Freud und die Zukunft. S. 485. 392 Ebd. 393 Mann, Thomas: Stellung Freuds. S. 128.

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Freilich kann die Eroberung des Mythus von der Stufe aus, die wir einnehmen, nie ohne Selbstbetörung die seelische Rück- und Heimkehr in ihn bedeuten wollen, und die ultraromantische Verleugnung der Großhirnentwicklung, die Verfluchung des Geistes, die wir an der philosophischen Tagesordnung sehen, ist nicht jedermanns Sache. Die Vereinigung von Sympathie und Vernunft zu einer Ironie, die nicht unheilig zu sein brauchte: ein Kunstgriff, eine innere Haltung dieser Art würde wohl bei Betreuung der mir vorschwebenden Aufgabe das natürlich gegebene sein. Mythus und Psychologie, – die antiintellektualistischen Frömmler wollten das weit geschieden wissen.394

Wie bereits erwähnt, wird aus Thomas Manns Zusammenstellung ‚Mythos plus Psychologie‘ auch erkenntlich, wie er das Verhältnis von Mythos und Rationalität bewertet. Er übernimmt Freuds Gleichsetzung von menschheitsgeschichtlicher und individuell-psychologischer Entwicklung: Mythen sind für ihn sowohl Ausdrucksform eines prärationalen Denkens als auch Produkte des Unbewussten und gehören damit zur „Nachtseite der Natur und des Lebens“395. Aus dem folgenden Abschnitt aus dem Lebensabriß wird dies noch einmal deutlich: Vorstöße der Erkenntnis, sei es ins Dunkel der Vorzeit oder in die Nacht des Unbewußten, Erkundungen, die sich an einem gewissen Punkt berühren und zusammenfallen, haben das anthropologische Wissen in die Tiefen der Zeit zurück, oder, was eigentlich dasselbe ist, in die Tiefen der Seele hinab, mächtig erweitert, und die Neugier nach dem menschlich Frühesten und Ältesten, dem Vorvernünftigen, Mythischen, Glaubensgeschichtlichen, ist rege in uns allen.396

Als etwas ‚Vorvernünftiges‘ bedürfen mythische Erzählungen jedoch einer rationalen Erkenntnismethode, die sie in einer aufklärerischen Art und Weise zu deuten vermag, so dass sie nicht dem Irrationalismus in die Hände fallen. Sowohl Thomas Mann als auch Hermann Hesse verwenden die Psychoanalyse als elementaren Bestandteil ihres eigenen Umgangs mit Mythen. Trotzdem unterscheiden sich ihre Ansätze fundamental voneinander: während Thomas Mann Mythen als prärationale Äußerungen interpretiert, denen mit einem gewissen Misstrauen zu begegnen ist, weil sie sich für eine Verherrlichung des Irrationalen instrumentalisieren lassen, sieht Hermann Hesse in Mythen eine Quelle der Weisheit, in der sich „fast alles wirkliche Wissen angesammelt“397 habe. Die Psychologie hat bei der Interpretation von Mythen für ihn nur die Aufgabe, sie für den modernen Menschen verstehbar zu machen und mithilfe

|| 394 Mann, Thomas: Lebensabriß. In: Essays 3. S. 177–222. Hier: S. 215. 395 Mann, Thomas: Stellung Freuds. S. 128. 396 Mann, Thomas: Lebensabriß. S. 214f. 397 Brief Hesses an einen unbekannten Empfänger vom Mai 1943. In: Michels, Volker: Materialien zu ‚Siddharta‘. S. 233.

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der Symbolanalyse eine Brücke zwischen intuitivem Verstehen und rationalem Denken zu schlagen. Thomas Mann dagegen sieht in Zusammenhang mit seinem politischen Mythosbegriff in der psychologischen Entlarvung von Mythen, wie sie Freud beispielsweise in der Vatermord-Episode von Totem und Tabu betreibt, den einzig zeitgemäßen Umgang mit der Überlieferung, die für sich alleine stehend nicht gegen ihre Vereinnahmung durch den modernen Irrationalismus gewappnet ist. Aufgrund dieser Annahme stilisiert Thomas Mann Freud zum „Wegbereiter eines künftigen Humanismus, der durch vieles hindurchgegangen sein wird“ und die „Mächte der Unterwelt“398 mit einschließt.

|| 398 Mann, Thomas: Freud und die Zukunft. S. 500.

4 Sinceritas und Ironie: Mythisches Erzählen bei Hermann Hesse und Thomas Mann Ebenso wie ihr Mythosverständnis unterscheiden sich auch die literarische Umsetzungen mythischen Erzählens bei Hermann Hesse und Thomas Mann voneinander. Die Analyse einiger ausgewählter Romane und Erzählungen der beiden Autoren soll im folgenden Kapitel ihre jeweils charakteristischen Wege des Umgangs mit Mythen und mythischem Erzählen in der Moderne aufzeigen, die sich mit den Schlagworten ‚Sinceritas‘ und ‚Ironisierung‘ charakterisieren lassen. Während Hermann Hesse an die Tradition des Mythenerzählens anknüpft, um psychische Prozesse sichtbar zu machen, die sich rational nicht ausdrücken lassen, bearbeitet Thomas Mann mythische Motive und Erzähltechniken, um sie in sein Humanismus-Programm einzupassen. Dazu gehört die ironische Distanz zu den mythischen Vorlagen, die den irrationalen Charakter des mythischen Erzählens ‚entschärfen‘ soll, um es so der politischen Instrumentalisierung zu entziehen. Hesse dagegen folgt C. G. Jung in der Annahme, dass Mythen als archetypische ‚Symbole des Inneren‘ einen intrinsischen Wert für die Moderne besitzen und nicht erst ironisierend bearbeitet werden müssen, um im humanistischen Sinne wirksam zu sein. Anhand einer Analyse der ausgewählten Romane Demian, Siddhartha und Narziß und Goldmund lässt sich darüber hinaus auch nachvollziehen, dass sich Hesses literarischer Umgang mit dem Mythos im Laufe der Zeit ebenso wenig verändert wie sein Mythosbegriff. Thomas Manns mythisches Erzählen zeigt dagegen – ebenso wie sein Verständnis des Mythos – eine Entwicklung auf, die sich stark an seiner politischen Einstellung orientiert: im Tod in Venedig wird anders erzählt als in der Joseph-Tetralogie, die als „Geschütz“1 gegen die faschistische Vereinnahmung von Mythen gerichtet sein soll. Um diese Zusammenhänge detailliert aufzeigen und dabei die literarischen Strategien der beiden Autoren vergleichen zu können, erfolgt die Analyse der Texte Hesses und Manns jeweils in drei analogen Schritten: im ersten Teil stehen die Inhalte und schematischen Handlungsabläufe der erzählten Mythen im Fokus der Analyse (‚Mythen erzählen‘), während im zweiten Schritt die formalen Charakteristika und die Strategien des mythischen Erzählens in den Blick genommen werden (‚Mythisches Erzählen‘). Abschließend werden beide Aspekte in einem Fazit miteinander verbunden, um zu analysieren, welche Funktion der Einsatz mythischen Erzählens jeweils in den Romanen erfüllt. || 1 Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag. S. 189. https://doi.org/10.1515/9783110660421-004

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Hinsichtlich der formalen Charakteristika wurden vier Elemente für den Vergleich ausgewählt, die zugleich zentrale Bestandteile der mythischen Erzähltechnik sind und von Thomas Mann und Hermann Hesse erzählerisch aufgegriffen werden. Darunter fallen zum einen die Leitmotivtechnik, die durch ein enges Beziehungsgeflecht die Verdichtung des erzählten Textes erzeugt, und zum anderen die Typisierung von Romanfiguren. Des weiteren wird die erzählerische Gestaltung von Zeit und Raum und der Einsatz der Sprache hinsichtlich der Gegenpole ‚Sinceritas‘ und ‚Ironisierung‘ beleuchtet. Mythisches Erzählen ist – wie bereits bei der eingangs erfolgten Begriffsbestimmung festgestellt – zuallererst bildhaftes Erzählen: es ist geprägt durch den Einsatz von Symbolen und wiederkehrenden Motiven, die mit bestimmten Figuren oder Schauplätzen verbunden sind. Karl Kerényi bezeichnet die Art, wie im Mythos erzählt wird, als „in einem besonderen Sinn bildhaft“2 und verweist mit Hinblick auf die ikonographisch konstante Darstellung von mythischen Geschichten in Vasenmalereien darauf, dass die meisten mythischen Erzählungen „auch in Bildern hätte[n] überliefert werden können“3. Ernst Cassirer, der den Mythos ebenfalls als eine „allegorisch-symbolische Sprache“4 bezeichnet, betont darüber hinaus, dass das mythische Bild nicht repräsentativ zu lesen ist: „Das ‚Bild‘ stellt die ‚Sache‘ nicht dar – es ist die Sache“5. Die Identität von bildlicher Darstellung und der Realität, auf die sie sich bezieht, ist besonders für dessen Rolle im rituellen Handeln von Relevanz. Der Einsatz von Leitmotivik ist ein elementarer Bestandteil dieser mythischen Bildlichkeit: im mythischen Erzählen erfüllt sie zugleich eine differenzierende und eine synthetisierende Funktion.6 Zum einen werden über wiederkehrende Motive einzelne Figuren über den Erzählverlauf hinweg identifizierbar und wiedererkennbar gemacht, diese werden aber zum anderen auch motivisch mit der sie umgebenden Welt oder anderen Figuren verbunden, so dass der Eindruck entsteht, dass alles mit allem in Beziehung steht. So zeigt Claude Lévi-Strauss beispielsweise bei seiner Analyse des Ödipus-Mythos auf, dass das Motiv des Hinkens als Verweis auf die Autochthonie des Menschen alle Figuren miteinander verbindet, die in der Ge-

|| 2 Kerényi, Karl: Umgang mit Göttlichem. Über Mythologie und Religionsgeschichte. Göttingen 1955. S. 39. 3 Ebd. S. 40. 4 Cassirer, Ernst: Das mythische Denken. S. 47. 5 Ebd. 6 Der Begriff ‚Leitmotiv‘ ist natürlich ein moderner – er eignet sich aber in diesem Falle gut dazu, eine mythische Erzähltechnik zu beschreiben.

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nealogie des Protagonisten eine Rolle spielen.7 In diesem Falle dient die verbindende Motivik dazu, die „Einheit des Verschiedenen“8 zu betonen. Andererseits vergleicht Lévi-Strauss den Einsatz von Leitmotivik im mythischen Erzählen aber auch mit der Musik, in der das wiederkehrende Motiv als ‚Leitmelodie‘ Figuren und Schauplätze voneinander unterscheidbar macht.9 Aber auch in diesem Fall schafft das Motiv durch seine beständige Wiederholung über die erzählte Handlung hinweg eine Verdichtung, die den Zusammenhang und die Einheit des Erzählten hervorhebt. Diese synthetisierende Funktion des Leitmotivs erzeugt ein eng verwobenes Geflecht von Beziehungen und damit eine Geschlossenheit der Erzählung, die im literarischen Mythenerzählen entweder imitiert oder bewusst unterlaufen werden kann. Ein weiteres Element, das Homogenität erzeugt, ist die Typisierung von Figuren, deren individueller Charakter zugunsten der ihnen zugedachten Rolle in den Hintergrund tritt. So ist mythisches Erzählen oftmals von schematischen Handlungsabläufen (wie beispielsweise der ‚Heldenreise‘) geprägt, in der typische Figuren eine feste Rolle besetzen. Die „Vorbildlichkeit“10 des mythischen Typus, dem bestimmte für ihn charakteristische Eigenschaften zugeschrieben werden, macht einen Teil der „ikonischen Konstanz“11 aus, die Blumenberg dem mythischen Erzählen attestiert. Die Typisierung sichert durch ihre „Unabhängigkeit von lokalen und epochalen Bedingungen“ die „hochgradige Haltbarkeit“12 von mythischen Geschichten und macht sie tradierbar. Die Präsenz von universellen Typen (wie beispielsweise dem ‚weisen alten Mann‘ oder dem ‚Trickster‘) in Mythen aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen hat C. G. Jung dazu veranlasst, von ‚Archetypen‘ zu sprechen, die allgemein menschliche Grundprinzipien verkörpern. Die ‚ikonische Konstanz‘ dieser typischen Figuren zeichnet sich jedoch zugleich durch ihre Variabilität und Anpassungsfähigkeit aus. Der bereits erwähnte Terminus ‚Thema mit Variationen‘ zeigt anschaulich auf, dass mythische Typisierung zugleich konstant und variabel sein kann: der Hörer der Geschichte erkennt den Grundtypus einer Figur unabhängig von seiner historischen oder kulturellen Einkleidung anhand von bestimmten wiederkehrenden typischen Merkmalen, die ihm eine bestimmte festgeschriebene Rolle im Handlungsgeschehen zuweisen. || 7 Vgl. Lévi-Strauss, Claude: Die Struktur der Mythen. In: Ders.: Strukturale Anthropologie I. Übers. v. Hans Naumann. Frankfurt a. M. 1977. S. 226–254. S. 236f. 8 Cassirer, Ernst: Das mythische Denken. S. 294. 9 Vgl. Lévi-Strauss, Claude: Mythos und Bedeutung. S. 69f. 10 Kerényi, Karl: Umgang mit Göttlichem. S. 59. 11 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. S. 166. 12 Ebd.

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Typisierung ist darüber hinaus auch ein Bestandteil der Zeit- und Raumdarstellung im Mythos. Es wird nicht von empirisch verortbaren Orten und Zeitepochen erzählt, sondern von aus der Zeit gefallenen oder vor dem Beginn der Zeit liegenden Ursprungsereignissen und von typisierten oder phantastischen Räumen, wie beispielsweise in den zahlreichen Kosmogonien, Schöpfungsgeschichten oder Paradieserzählungen. Die Beschreibung von Zeit und Raum im Mythos unterscheidet sich grundlegend von einem empirisch-wissenschaftlichen Raum- und Zeitbegriff.13 Im Gegensatz zu einer linear-chronologisch ablaufenden Zeit, die sich in historische Epochen untergliedern lässt, spielt im mythischen Erzählen der typisch-zyklische Zeitablauf eine Rolle. Das, was im Mythos erzählt wird, ist das Immer-Wiederkehrende, das sich in seiner Vorbildlichkeit außerhalb der Zeit befindet: thematisiert wird ein „zeitloser Ursprungsbereich“, der „nicht unter den Aspekt der Chronologie zu stellen ist“14, aber durch seine Wiederholbarkeit dennoch eine „Dauerstruktur“15 aufweist. In enger Anbindung an die rituelle Praxis markiert beispielsweise der Mythos um den sterbenden und wiedergeborenen Gott, um den sich Thomas Manns Joseph dreht, jeweils das Ende der Vegetationsperiode und strukturiert so den Zeitablauf durch seine zyklische Wiederkehr. Ebenso wie die Zeit wird auch der Raum in der mythischen Erzählung typisiert: Cassirer spricht vom mythischen Raum als einem „Strukturraum“16, dem Bedeutung zugewiesen wird, indem er mit einem bestimmten „Charakter“17 versehen wird. So spielen beispielsweise die Oppositionen links und rechts, hell und dunkel oder die Bedeutung, die den vier Himmelsrichtungen jeweils zugeschrieben wird, eine zentrale Rolle im mythischen Erzählen, insofern sie eine Trennlinie zwischen sakralem und profanem Raum markieren.18 Dabei weisen diese Bedeutungszuschreibungen meist keine spezifischen Charakteristika auf, die einen empirischen Ort erkennbar machen würden, sondern sie beziehen sich auf typisierte Ursprungsräume, die ebenso ‚vorbildlich‘ sind wie die mythischen Figurentypen. Mythisches Erzählen ist darüber hinaus durch einen bestimmten Sprachduktus geprägt. Dieser ist nicht nur hochgradig bildhaft und symbolisch aufgeladen, sondern er zeichnet sich außerdem dadurch aus, dass er mit einem gewissen Wahrheitsanspruch auftritt. Der Mythos als das „autoritative Wort“19 || 13 Vgl. Cassirer, Ernst: Das mythische Denken. S. 95. 14 Kerényi, Karl: Umgang mit Göttlichem. S. 29. 15 Lévi-Strauss, Claude: Die Struktur der Mythen. S. 62. 16 Cassirer, Ernst: Das mythische Denken. S. 104. 17 Ebd. S. 116. 18 Vgl. ebd. S. 102; 112f. 19 Kerényi, Karl: Umgang mit Göttlichem. S. 36.

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wird nicht primär zur Unterhaltung erzählt, sondern berichtet von essentiellen menschlichen Grundfragen und „gründet“ – so Mircea Eliade – „die absolute Wahrheit“20. Der Mythos überliefert die wahre Geschichte, die Geschichte der conditio humana: in ihm sind die Prinzipien und die Beispiele jeden Verhaltens zu suchen.21

Man denke dabei beispielsweise an die vielen Ursprungserzählungen vom ‚ersten Menschen‘, in denen grundlegende Bedingungen und Verhaltensregeln des menschlichen Lebens verhandelt und bildhaft vorgestellt werden. Die ‚Sinceritas‘, mit der Mythen erzählt werden, unterscheidet sich daher grundlegend von ironischem Erzählen, bei dem das Gemeinte im Gegenteil des Gesagten zu suchen ist. Für Cassirer ist das „magische Wort“22, das im mythischen Erzählen einen unumschränkten Wahrheitsanspruch erhebt, das Gegenstück zum nur „semantische[n] Wort“23, das sich in einem rationalen Diskurs hinterfragen lässt. Der ‚Tonfall‘, in dem Mythen erzählt werden, ist demnach ein entscheidendes Kriterium für deren Rezeption und wird von Hesse und Mann in ganz unterschiedlicher Art und Weise eingesetzt. Die vergleichende Analyse ihrer Romane und Erzählungen anhand der hier kurz skizzierten inhaltlichen und formalen Kriterien soll aufzeigen, dass beide Autoren mythischem Erzählen in der Moderne eine enorme Relevanz und humanistische Wirkkraft zuschreiben, diese aber mit literarisch gänzlich unterschiedlichen Mitteln zu erreichen versuchen. Um die Funktion des mythischen Erzählens herauszuarbeiten, erfolgt die Analyse von Inhalt und formaler Struktur vornehmlich deskriptiv, so dass die in diesen Kapiteln erzielten Ergebnisse dann jeweils im Fazit auf ihre Funktion hin interpretiert werden können.

|| 20 Eliade, Mircea: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. In: Barner, Wilfried u. a. (Hg.): Texte zur modernen Mythentheorie. Stuttgart 2007. S. 78–86. Hier: S. 78. 21 Ebd. S. 84. 22 Cassirer, Ernst: Der Mythus des Staates. In: Barner, Wilfried u. a. (Hg.): Texte zur modernen Mythentheorie. Stuttgart 2007. S. 39–55. Hier: S. 51. 23 Ebd. S. 52.

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4.1 Mythisches Erzählen als Abbild der Psyche bei Hermann Hesse Der 1917 verfasste Roman Demian markiert eine stilistische Wende im Werk Hermann Hesses.24 Im Vergleich zu den Erzählungen des Frühwerks stechen neben dem konkreten Zeitbezug auf den Ersten Weltkrieg vor allem zwei Neuerungen ins Auge: zum einen ist der Roman geprägt von Visionen und Traumsequenzen, die einen Bezug zur Psychoanalyse vermuten lassen. Zum anderen verwendetet Hesse zahlreiche Bezüge zu mythischen Stoffen und Motiven und beginnt Erzähltechniken einzusetzen, die an mythisches Erzählen erinnern. Das Zusammenspiel dieser beiden Elemente bildet den Fokus der nachfolgenden Analyse: Es soll gezeigt werden, dass Hermann Hesse mythisches Erzählen in den auf den Demian folgenden Romanen immer genau dann einsetzt, wenn psychologische Prozesse anschaulich gemacht werden sollen, die sich dem Zugriff des rationalen Denkens entziehen. Der erste Roman, an dem sich dieser Zusammenhang aufzeigen lässt, entsteht unter dem direkten Einfluss von Hesses psychoanalytischer Behandlung bei Josef B. Lang ab 1916 und dem persönlichen Kontakt zu C. G. Jung sowie der Lektüre von dessen Schriften. Hesse führt ab 1917 ein Traumtagebuch, in das er Erlebnisse, Träume und Assoziationen notiert, die für die Psychoanalyse relevant sein könnten.25 Hier taucht der Name ‚Demian‘ zum ersten Mal auf – bezeichnenderweise als Figur in einem Traum. Hesse notiert, der Name Demian sei „eine Verstümmelung von Damian, [er] klingt aber eben durch den veränderten Laut stark an ‚Dämon‘ an, erinnert mich auch etwas an Demiurg“26. Die Verknüpfung von Trauminhalten mit mythischen Gestalten, die sich aus dieser Notiz nur andeutungsweise erahnen lässt, wird im Roman zum Programm erhoben. Auch der zwischen 1920 und 1922 entstandene Roman Siddhartha nutzt asiatische Mythen und Symbole als Projektionsfläche für die psychische Entwicklung des Protagonisten. Die Niederschrift erfolgt in zwei Abschnitten (von Februar bis August 1920 und von März bis Mai 1922), die von einer intensiven

|| 24 Zur These der ‚Stilwende‘ im Anschluss an den Demian vgl. auch Huber, Peter: Alte Mythen, neuer Sinn. Zur Codierung der Moderne und Modernisierung im Werk Hermann Hesses. In: Solbach, Andreas (Hg.): Hermann Hesse und die literarische Moderne. Kulturwissenschaftliche Facetten einer literarischen Konstante im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2004. S. 175– 201. Hier: S. 192; Ziolkowski, Theodore: Mythos und Logos bei Hesse und seinen Kritikern. In: Ders.: Der Schriftsteller Hermann Hesse. Wertung und Neubewertung. Frankfurt a. M. 1979. S. 236–260. Hier: S. 250f. 25 Vgl. Hesse, Hermann: Traumtagebuch der Psychoanalyse. In: SW 11. S. 444–617. 26 Eintrag vom 12.09.1917. In: Ebd. S. 497.

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Phase der Psychoanalyse bei C. G. Jung unterbrochen sind (im Februar und von Mai-Juli 1921).27 Der dritte Roman, der im Folgenden untersucht werden soll, ist die 1930 erschienene Erzählung um Narziß und Goldmund, in der – unter anderem – erneut Motive aus dem Demian aufgegriffen werden. In diesen Roman, an dem Hesse vom Frühjahr 1927 bis 1929 arbeitet, sind Elemente aus der griechischen Mythologie eingewoben, die dazu dienen, die psychische Entwicklung der beiden Protagonisten zu illustrieren. Auch in den anderen Romanen Hesses, die ab den 1920er Jahren entstehen, findet sich diese Kombination aus mythischem Erzählen und psychologischen Deutungsangeboten: so beispielsweise in der Beschreibung des ‚Magischen Theaters‘ im Steppenwolf (1927) oder in den ‚Drei Lebensläufen‘ am Ende des Glasperlenspiels (1943). Anhand der Analyse der drei Romane Demian, Siddhartha und Narziß und Goldmund lässt sich Hesses Vorgehen jedoch besonders gut exemplarisch zeigen. Zum einen decken sie mit den Anspielungen auf die christliche und gnostische, die asiatische und die antik-griechische Mythologie die drei kulturellen Bezugsrahmen ab, auf die sich Hesse in seinem Gesamtwerk vornehmlich intertextuell bezieht. Zum anderen wendet Hesse hier Erzählstrategien an, die eine Verbindung aus mythischem und psychologischem Erzählen sichtbar machen. Bei der Analyse von Hesses Texten ist im Gegensatz zu denen Thomas Manns noch eine quellenkritische Untersuchung vonnöten, weil viele der intertextuellen Bezüge – so etwa zu Jungs Septem Sermones oder zu Oldenbergs Leben des Buddha – von der Forschung bisher nicht beachtet worden sind.

4.1.1 Inhaltliche Aspekte: Mythos und Individuation 4.1.1.1 Welche Mythen werden erzählt? Der Kreis der mythischen Bezüge in Hesses Romanen erstreckt sich über die antike und östliche Bilderwelt bis hin zu den biblischen Geschichten und gnostischen Elementen. Mit den Erzählungen und Motiven, die aus traditionellen Mythologien entnommen und ins Romangeschehen eingewoben werden, verfährt Hesse literarisch auf ganz unterschiedliche Weise: so werden etwa die christlichen Mythenmotive im Demian von einer Figur kommentiert und in ihr Gegenteil verkehrt, während die mythische Gestalt des Buddha im Siddhartha selbst als Protagonist im Roman auftaucht. Der griechische Mythos um den sich selbst bespiegelnden Narziß wird dagegen in seine Bestandteile zerlegt und seine Motive werden auf zwei Figuren verteilt. Gemeinsam ist ihnen jedoch, || 27 Vgl. Michels, Volker: Materialien zu Siddharta. S. 34ff.

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dass die mythischen Bezüge dazu eingesetzt werden, die psychische Entwicklung der Protagonisten zu illustrieren. Im Folgenden soll daher jeweils herausgearbeitet werden, auf welche Mythen in den drei untersuchten Romanen intertextuell Bezug genommen wird und welche inhaltliche Funktion dieses Mythenerzählen erfüllt. Da die drei Romane Demian, Siddhartha und Narziß und Goldmund auch drei unterschiedliche mythische Bezugssysteme haben, werden diese gesondert voneinander behandelt. 4.1.1.1.1 Biblische und gnostische Mythen Im Demian sticht besonders die Entgegensetzung von biblischen Bezügen und gnostischen Mythenmotiven hervor. Die beiden mythischen Bezugssysteme werden geradezu gegeneinander ausgespielt: während die biblischen Geschichten im Verlauf des Romans alle eine inhaltliche Verkehrung in ihr Gegenteil erfahren, werden die gnostischen Elemente als Alternative inszeniert, die einen ganzheitlichen Blick auf die Welt ermöglichen. Aus dem Bereich der biblischen Mythen werden Bezüge zur Sündenfallgeschichte, zum Motiv des verloreneren Sohnes, zu den Erzählungen um Kain und Abel und Jakobs Kampf mit dem Engel sowie zur Kreuzigungsszene in den Roman eingewoben. Dabei wird jedoch keine der biblischen Geschichten im Rahmen ihrer traditionellen Bedeutungsdimensionen erzählt: sie erfahren alle eine inhaltliche Umkehrung durch die Interpretation Demians. Die Erzählung beginnt mit einer Episode aus der Jugend des Ich-Erzählers Emil Sinclair, der im Alter von 10 Jahren von Franz Kromer, einem älteren Jungen aus der Nachbarschaft, erpresst wird. Um seine Gruppenzugehörigkeit zu demonstrieren, erzählt Emil eine erfundene Geschichte über einen wagemutigen Apfelraub: In einem Garten bei der Eckmühle, erzählte ich, hätte ich mit einem Kameraden bei Nacht einen ganzen Sack voll Äpfel gestohlen, und nicht etwa gewöhnliche, sondern lauter Reinetten und Goldparmänen, die besten Sorten. Aus den Gefahren des Augenblicks flüchtete ich mich in diese Geschichte, das Erfinden und Erzählen war mir geläufig. Um nur nicht gleich wieder aufzuhören und vielleicht in Schlimmeres verwickelt zu werden, ließ ich meine ganze Kunst glänzen. Einer von uns, erzählte ich, hatte immer Schildwache stehen müssen, während der andre im Baum war und die Äpfel herunterwarf […].28

|| 28 Hesse, Hermann: Demian. Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend. In: SW 3. S. 233–365. Hier: S. 241.

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Emil muss die Wahrheit der Geschichte „Bei Gott und Seligkeit“29 beschwören und begibt sich damit in die Abhängigkeit von Franz Kromer, der ihn in den folgenden Monaten damit erpresst, alles an den vermeintlich beraubten Bauern weiterzuerzählen. Das Motiv des Apfelraubs ist untrennbar mit der biblischen Sündenfallgeschichte verbunden30: Gott verbietet Adam und Eva das Essen „von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen“31 und verstößt sie aus dem Paradies, nachdem sie auf Geheiß der Schlange dennoch die Frucht des Baumes gegessen haben. Damit das Menschenpaar nicht auch noch vom „Baum des Lebens“32 isst, postiert Gott die Cherubim als Wächter vor dem Garten Eden. Die Anlage der erfundenen Apfelraub-Geschichte ist auf humoristische Art und Weise der biblischen Erzählung angeglichen: sie ist in einem abgegrenzten Garten situiert, es gibt zwei verschiedene Arten von verbotenen Früchten (‚die besten Sorten‘) und sogar eine ‚Schildwache‘ am Rande des Gartens. Dennoch erfüllt die Episode im Demian eine gänzlich andere Funktion als im biblischen Kontext: Die Geschichte wird zwar zunächst auch als ‚Sündenfall‘ inszeniert, da Emil durch die kleinen Diebstähle, die er begeht, um Franz Kromer zu bezahlen, die Gunst seiner Eltern verliert und sich selbst als „Verbrecher“33 sieht. Im Verlauf des Romans zeigt sich jedoch, dass dieser ‚Sündenfall‘ als eine Art Initiation fungiert, die den Protagnisten zum ersten Mal in Kontakt mit der Seite des Lebens bringt, die laut Demian in der dual organisierten christlichen Weltsicht „unterschlagen und totgeschwiegen“34 werde. Durch das Herausfallen aus seiner unschuldigen Einheit mit der ‚lichten Welt‘ des Elternhauses wird Emil zunächst mit einer in polare Gegensätze aufgespaltenen Weltsicht konfrontiert, in der diese von einem verbotenen Bereich des Verbrecherischen und moralisch Schlechten abgegrenzt ist. Diese Weltsicht gelte es – so Demian – jedoch zu überwinden: er schlägt Emil vor, dass er „alles verehren und heilig halten“ solle, „die ganze Welt, nicht bloß diese künstlich abgetrennte, offizielle Hälfte“35. Diese von Demian aufgestellte Maxime wird im weiteren Verlauf der Erzählung wiederum durch zwei biblische Geschichten illustriert, die durch seine Interpretation eine inhaltliche Umkehrung erfahren und die christliche Dichotomie von Gut und Böse in Frage stellen.

|| 29 Ebd. S. 242. 30 Gen. 2, 15 ff. 31 Gen 2, 17. 32 Gen 3, 23. 33 Hesse, Hermann: Demian. S. 243. 34 Ebd. S. 281. 35 Ebd.

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Bei der ersten Begegnung zwischen Emil mit seinem älteren Mitschüler Demian spricht dieser die zuvor im Unterricht besprochene Geschichte um Kain und Abel an, die auch in der Bibel direkt auf die Sündenfall-Episode folgt.36 Demian stellt zunächst die Paradoxie in Frage, die sich daraus ergibt, dass Kain zwar seinen Bruder Abel tötet und von Gott dafür verstoßen wird, aber dennoch mit einem „Zeichen“37 versehen wird, das ihn selbst vor dem Totschlag schützt. Um diesen Widerspruch aufzulösen, bietet er eine alternative Lesart der Geschichte an: Das, was vorhanden war und womit die Geschichte ihren Anfang genommen hat, war das Zeichen. Es war da ein Mann, der hatte etwas im Gesicht, was den anderen Angst machte. […] Dieser Mann hatte Macht, vor diesem Mann scheute man sich. Er hatte ein ‚Zeichen‘. […] Also erklärte man das Zeichen nicht als das, was es war, als eine Auszeichnung, sondern als das Gegenteil. Man sagte, die Kerls mit diesem Zeichen seien unheimlich, und das waren sie auch. Leute mit Mut und Charakter sind den anderen Leuten immer sehr unheimlich. […] Kurz, ich meine, der Kain war ein famoser Kerl, und bloß, weil man Angst vor ihm hatte, hängte man ihm diese Geschichte an.38

Demians Deutung folgt der Vorstellung der gnostischen Sekte der Kainiten, die in Kain einen Ausgezeichneten sehen, der im Besitz vollkommener Erkenntnis ist.39 Kain wird in dieser Lesart nicht als Sünder angesehen, sondern als charakterstarker Mensch, der von der Gemeinschaft ausgegrenzt wird, weil er nicht mit deren Wertvorstellungen übereinstimmt. Dieser Deutung folgend schreibt sich die Gruppierung um Demian und Frau Eva am Ende des Romans selbst zu, mit dem „Kainszeichen“40 versehen zu sein. Parallel zu Demians Umdeutung der Kainsgeschichte erfährt auch die neutestamentliche Figur des Schächers am Kreuz eine neue Interpretation. In den Evangelien nach Lukas, Markus und Matthäus wird berichtet, dass zwei Mörder gemeinsam mit Jesus gekreuzigt werden.41 Bei Lukas findet sich außerdem der Zusatz, dass einer der beiden Jesus lästert, während der andere um Vergebung bittet und von Jesus die Antwort bekommt, dass er erlöst und mit ihm „im Para-

|| 36 Vgl. Gen 4, 1–16. 37 Gen 4, 15. 38 Hesse, Hermann: Demian. S. 255f. 39 Im Roman selbst erläutert Emils Vater auf dessen Nachfrage, dass es eine urchristliche Sekte gegeben habe, die den Kain verehrt habe. Vgl. Hesse, Hermann: Demian. S. 269. Vgl. außerdem Rassidakis, Alexandra: Die Provokation der Vorübergehenden. Gnosis als Denkfigur in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Düsseldorf 1999. S. 32. 40 Hesse, Hermann: Demian. S. 340. 41 Vgl. Mt 27, 38f.; Mk 15, 27f.; Lk 23, 33f.

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diese sein“42 werde. In einem Gespräch mit Emil greift Demian auch diese Bibelstelle auf und gibt ihr einen gänzlich neuen Sinn: Da ist etwas, Sinclair, was mir nicht gefällt. Lies einmal die Geschichte nach und prüfe sie auf der Zunge, es ist da etwas, was fad schmeckt. Nämlich die Sache mit den beiden Schächern. Großartig, wie da die drei Kreuze auf dem Hügel beieinanderstehen! Aber nun diese sentimentale Traktätchengeschichte mit dem biederen Schächer! […] Wenn du heute einen von den beiden Schächern zum Freund wählen müßtest oder dich besinnen, welchem von beiden du eher Vertrauen schenken könntest, so ist es doch ganz gewiß nicht dieser weinerliche Bekehrte. Nein, der andere ist’s, der ist ein Kerl und hat Charakter. Er pfeift auf eine Bekehrung, die ja in seiner Lage bloß noch ein hübsches Gerede sein kann, er geht seinen Weg zu Ende und sagt sich nicht im letzten Augenblick feig vom Teufel los, der ihm bis dahin hat helfen müssen.43

Analog zur Deutung der Kainsgeschichte wird auch hier der Sünder als der charaktervolle Mensch dargestellt, den es zu bewundern gilt. Mithilfe dieser Umkehrungen wird Emils Einteilung der Welt in eine ‚lichte‘ und eine ‚dunkle‘ Seite provokant hinterfragt und auf den Kopf gestellt.44 Mit den Motiven des verlorenen Sohnes und Jakobs Kampf mit dem Engel, die im Erzählerkommentar vorkommen, wird ähnlich verfahren: während der biblische verlorene Sohn reumütig zu seinem Vater heimkehrt und um Vergebung bittet45, ist Sinclairs „Heimkehr des verlorenen Sohnes“46 nur eine kurze Flucht zurück in „die Abhängigkeit von Vater und Mutter“47, die er bald als heuchlerisch empfindet und hinter sich lässt. Dies wird bereits zu Beginn der Erzählung angedeutet, wenn Sinclair berichtet, er habe in der Kindheit „mit Leidenschaft“ die Geschichte vom verlorenen Sohn gelesen, es aber insgeheim „geradezu schade“ gefunden, dass „der Verlorene Buße tat und wieder gefunden wurde“48. Auch Jakobs Kampf mit dem Engel erfährt im Demian eine inhaltliche Modifikation. Während Jakob im Genesisbericht vor der Überquerung des

|| 42 Lk 23, 43. 43 Hesse, Hermann: Demian. S. 280. 44 Vgl. ebd. S. 237. 45 Vgl. Lk 15, 11–24. 46 Hesse, Hermann: Demian. S. 268. 47 Ebd. S. 269. 48 Ebd. S. 239. Colby hat dem Motiv des verlorenen Sohnes in den Romanen Hermann Hesses eine Untersuchung gewidmet, in der er aufzeigt, dass die ‚verlorenen Söhne‘ im Knulp, Demian, Steppenwolf und Narziß und Goldmund alle eine Rückkehr in den Kreis der Familie verweigern. Vgl. Colby, Thomas E.: Zur Thematik des verlorenen Sohnes. In: Michels, Volker (Hg.): Materialien zu Hermann Hesses Demian. Zweiter Band. Die Wirkungsgeschichte in Rezensionen und Aufsätzen. Frankfurt a. M. 1997. S. 150–155.

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Flusses Jabbok mit dem Engel ringt, bis dieser ihm seinen Segen und einen neuen Namen gibt49, ringt Emil alleine mit sich selbst. Seinem selbstgeschaffenen Symbolbild ruft er in einer Art rituellem Kampf die Worte Jakobs zu: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“50. Hier wird die Bedeutung des Kampfes mit Gott zwar nicht in ihr Gegenteil verkehrt, aber auf eine andere Ebene verschoben: statt eines Ringens mit einer externen Gewalt wird die Auseinandersetzung gänzlich ins Innere des Protagonisten verlegt. Nimmt man diese im Demian versammelten Bezüge zu biblischen Mythen in ihrer Gesamtheit in den Blick, so zeigt sich ein klares Bild: Durch die inhaltliche Verkehrung in ihr Gegenteil werden auch die mit diesen Geschichten verknüpften Werte umgekehrt. So werden die als ‚sündhaft‘ gekennzeichneten Figuren in Demians Interpretation zu einer Gemeinschaft der ‚Ausgezeichneten‘, deren Taten als Charakterstärke ausgelegt werden. Auf eine Leseranfrage nach der Rolle der Kainsfigur im Demian entgegnet Hesse dementsprechend folgendes: So wie die ‚Erkenntnis‘, also das Erwachen zum Geist, von der Bibel als Sünde dargestellt wird (repräsentiert durch die Schlange im Paradies), so wird das Menschwerden, die Individuation, das Sichdurchkämpfen des Einzelnen aus der Masse heraus zur Persönlichkeit stets von Sitte und Herkommen mit Mißtrauen betrachtet […]. Und so, scheint mir, läßt sich sehr wohl Kain, der verfemte Übeltäter, der erste Mörder, als ein ins Gegenteil entstellter Prometheus, als ein für seinen Vorwitz und seine Kühnheit durch Ächtung bestrafter Vertreter des Geistes und der Freiheit auffassen.51

Die Umkehrung der traditionellen Bedeutungszuschreibungen dient also dem persönlichen Wachstum des Protagonisten. In einer Rückschau kommentiert der Erzähler, dass die Provokationen Demians dazu beigetragen haben könnten, ihn „mit Spott und Ironie selbstständiger zu machen“52. Zu diesem Zweck werden die biblischen Mythen ‚gegen den Strich gelesen‘ und neu ausgedeutet. Dass hier in humoristischem Tonfall über Mythen gesprochen wird, ist eher selten bei Hermann Hesse. Der Spott Demians gilt auch nicht grundsätzlich den mythischen Geschichten und Motiven selbst, sondern eher ihrer einseitigen Auslegung. Durch die Verkehrung in ihr Gegenteil werden die christlichen Mythen um eine zweite Dimension ergänzt und so zu ‚echten Symbolen‘ umfunktioniert, die sowohl die ‚lichte‘ wie auch die ‚dunkle‘ Welt umfassen. Die Koketterie mit dem Verbotenen, mit der ‚dunklen‘ im Gegensatz zur ‚lichten‘ Welt soll || 49 Gen 32, 23–33. 50 Hesse, Hermann: Demian. S. 327. Vgl. Gen 32, 27. 51 Brief Hesses an H.S. vom 13.04.1930. In: Michels, Volker: Materialien zu Hermann Hesses Demian. Entstehungsgeschichte in Selbstzeugnissen. Frankfurt a. M. 1993. S. 200f. 52 Hesse, Hermann: Demian. S. 269.

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jedoch letztlich nicht dazu führen, dass Emil sich für eine der ‚zwei Welten‘ entscheidet, sondern sie soll ihn vielmehr grundsätzlich über die Dichotomie von Gut und Böse hinausführen. Diese Funktion erfüllen die gnostischen Mythenmotive, die als Gegenbilder zu den christlichen Mythen in den Roman eingewoben sind: der Gott Abraxas, das Motiv des sich aus dem Ei kämpfenden Vogels und die Figur der Frau Eva. In Kontakt mit dem gnostischen Material kommt Hesse vornehmlich durch die Vermittlung über C. G. Jung und J. B. Lang. Während über Hesses Gespräche mit Lang im Zuge der psychoanalytischen Sitzungen nur gemutmaßt werden kann, sind die intertextuellen Bezüge zu den Werken C. G. Jungs direkt nachvollziehbar. Bereits nach der ersten Begegnung mit Jung notiert Hesse ins Traumtagebuch, dass er mit dem Psychoanalytiker über „Vieles, auch das Gnostische“53 gesprochen habe. Bei diesem Treffen muss ihm Jung auch seine im Privatdruck erschienene gnostische Schrift Septem Sermones ad Mortuos (1916) mitgegeben haben, denn Hesse vermerkt die Lektüre nur drei Tage nach dem Treffen in seinem Notizbuch.54 Die Schrift mit dem Untertitel Geschrieben von Basilides in Alexandria, der Stadt, wo der Osten den Westen berührt ist nicht im Buchhandel erschienen, sondern wurde von Jung nur privat an Freunde verschenkt. Jung berichtet, er habe die ‚Sieben Reden an die Toten‘ nach einer dreijährigen psychischen Krise anhand der Eingebungen seines spirituellen Führers namens Philemon wie in Trance niedergeschrieben und den Text dann als Transkription der Lehren des Gnostikers Basilides von Alexandria (85–145) ausgegeben.55 Basilides entwickelte einen kosmogonischen Mythos, der die Entstehung der Welt aus Licht und Dunkelheit erklärt: Durch die Vermischung von Licht und Finsternis und von göttlichem Geist und Materie entsteht die Schöpfung und mit ihr das Böse.56 Der Gott Abraxas repräsentiert in diesem System die Gesamtheit der Schöpfung. Die sieben Buchstaben seines Namens symbolisieren sowohl die sieben Wochentage als auch die sieben planetarischen Sphären, der Zahlenwert der Buchstaben ergibt die Zahl 365.57 Jung teilt seine Schrift ebenfalls in sieben Reden ein und stellt die Figur des Abraxas ins Zentrum seiner Überlegungen. Die erste Rede befasst sich mit den Eigenschaften des sogenann-

|| 53 Hesse, Hermann: Traumtagebuch. S. 488. 54 Vgl. Eintrag vom 11.09.1917. In: Hesse, Hermann: Aus einem Notizbuch von 1917/18. S. 493f. 55 Vgl. McLynn, Frank: Carl Gustav Jung. S. 175. 56 Vgl. Rassidakis, Alexandra: Gnosis als Denkfigur in der Literatur des 20. Jahrhunderts. S. 44ff. 57 Vgl. Dahrendorf, Malte: Hermann Hesse und C. G. Jung. S. 142.

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ten „Pleroma“58, dem unendlichen ungeteilten Nichts, das dem an die Verankerung in Zeit und Raum geketteten Menschen in Form von sich gegenseitig aufhebenden Gegensatzpaaren erscheint.59 In der zweiten Rede erscheint der Gott Abraxas als Repräsentation dieses Zusammenhangs: Gott und Teufel sind die ersten Verdeutlichungen des Nichts, das wir Pleroma nennen. […] Insofern Gott und Teufel Creaturen sind, heben sie sich nicht auf, sondern bestehen gegeneinander als wirksame gegensätze [sic!]. […] Alles, was die unterscheidung [sic!] aus dem Pleroma herausnimmt, ist Gegensatzpaar, daher zu Gott immer auch der Teufel gehört. […] Dies ist ein Gott, von dem ihr nicht wußtet, denn die Menschen vergaßen ihn. wir [sic!] nennen ihn mit seinem Namen ABRAXAS.60

Der Gott Abraxas bringe sowohl Gutes wie Böses, sowohl Licht wie Finsternis hervor, wird aber in der siebten Rede zugleich auch mit dem Menschen gleichgesetzt, der „seine Welt gebiert oder verschlingt“.61 Das Motiv des aus dem Ei schlüpfenden Vogels im Demian, der auf diese Art und Weise ‚seine Welt gebiert oder verschlingt‘, wird also bereits in Jungs Schrift explizit mit Abraxas verbunden, darüber hinaus aber auch mit der Figur der Großen Mutter. In der fünften Rede erwähnt Jung die „MATER COELESTIS“62 als himmlische Mutter, die die Geistigkeit repräsentiert. In der folgenden Rede kommt die Sprache dann auf den „weiße[n] vogel“ als „halbhimmlische seele des menschen [sic!]“, der „hinauf zur Mutter“63 unterwegs sei. Die Verbindung der drei Symbole in Jungs Geheimschrift ist trotz der offenkundigen intertextuellen Bezüge als Vorlage für die Entstehung des Demian bisher von der Forschung gänzlich vernachlässigt worden.64

|| 58 Jung, Carl Gustav: Septem Sermones ad Mortuos. Die sieben Belehrungen der Toten. Geschrieben von Basilides in Alexandria, der Stadt, wo der Osten den Westen berührt. In: Ders.: Erinnerungen, Träume, Gedanken. Hg. von Anelia Jaffé. Zürich/Stuttgart 1963. S. 389–398. Hier: S. 389. 59 Vgl. ebd. S. 390f. 60 Ebd. S. 392. 61 Vgl. ebd. S. 393 und 397. 62 Ebd. S. 395. 63 Ebd. S. 397. 64 Es gibt zwar zahlreiche Studien, die sich mit dem Verhältnis von Hermann Hesse und C. G. Jung auseinandersetzen, aber auf die enorme Relevanz von Jungs Schrift Septem Sermones und die offenkundige Verbindung der drei Symbolbereiche wird kein Bezug genommen. Vgl. dazu: Baumann, Günter: Der archetypische Heilsweg. Hermann Hesse, C. G. Jung und die Weltreligionen. Rheinfelden 1990; Dahrendorf, Malte: Hermann Hesses Demian und C. G. Jung. In: Michels, Volker (Hg.): Materialien zu Hermann Hesses Demian. Zweiter Band. Die Wirkungsgeschichte in Rezensionen und Aufsätzen. Frankfurt a. M. 1997. S. 129–149; Erdmann-Pandžić,

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Analysiert man die drei Symbolbereiche jedoch als aufeinander bezogene Ganzheit, wie es Jungs Schrift suggeriert, so ergibt sich auch in Bezug auf die im Demian verwendeten gnostischen Mythen ein geschlossenes Bild. Im Zentrum steht die Figur des Abraxas als Gegenbild zu einer Gottesvorstellung, die nur „das Gute, das Edle, das Väterliche“ für „heilig“65 hält. Abraxas dagegen wird – wie in Jungs Text – als eine Gottheit eingeführt, „welche die symbolische Aufgabe hatte, das Göttliche und das Teuflische zu vereinigen“66. Bereits vor der ersten Erwähnung des Abraxas im Text wird die Figur zudem mit dem Seelenvogel in Verbindung gebracht. In einer Phase der Krisis träumt Emil von dem Wappenvogel über seiner Haustür, auf den Demian ihn bereits bei ihrer ersten Begegnung hingewiesen hatte. Am nächsten Tag zeichnet er ein Bild des Vogels, um es an Demian zu schicken: Nun war es ein Raubvogel, mit einem scharfen, kühnen Sperberkopf. Er stak mit halbem Leibe in einer dunklen Weltkugel, aus der er sich wie aus einem riesigen Ei heraufarbeitete, auf einem blauen Himmelsgrunde.

Demian antwortet prompt: auf einem Zettel in seinem Schulbuch findet Emil eine kryptische Nachricht, die den Wappenvogel mit Abraxas verbindet. Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren werden will, muss eine Welt zerstören. Der Vogel fliegt zu Gott. Der Gott heißt Abraxas.67

Direkt im Anschluss taucht dicht gedrängt das dritte Symbol der Reihe auf, als Emil zum ersten Mal von der Großen Mutter träumt:

|| Elisabeth von: Hermann Hesses ‚Demian’ und Analytische Psychologie. In: Canadian review of comparative literature 17 (1990). S. 120–139; Golden, Kenneth Lacoy: The problem of opposites in five fictional narratives. Jungian psychology and comparative mythology in modern language. Univ. of Southern Mississippi 1978; Michels, Volker: Hermann Hesse and Psychoanalysis. In: Cornils, Ingo (Hg.): A companion to the works of Hermann Hesse. Rochester 2009. S. 323–344; Richards, David G.: Integrationssymbole in Hermann Hesses Demian. In: Michels, Volker (Hg.): Materialien zu Hermann Hesses Demian. Zweiter Band. Die Wirkungsgeschichte in Rezensionen und Aufsätzen. Frankfurt a. M. 1997. S. 288–303; Wehdeking, Volker: Hermann Hesse, Carl Gustav Jung und Thomas Mann. Die intertextuellen Bezüge in der Erzählprosa des späteren Werks. In: Ponzi, Mauro (Hg.): Hermann-Hesse-Jahrbuch. Bd. 2. Tübingen 2005. S. 121–148. 65 Hesse, Hermann: Demian. S. 281. 66 Ebd. S. 306. 67 Ebd. S. 305.

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Ein bestimmter Traum, oder ein Phantasiespiel, das immer wiederkehrte, wurde mir bedeutungsvoll. Dieser Traum, der wichtigste und nachhaltigste meines Lebens, war etwa so: ich kehrte in mein Vaterhaus zurück – über dem Haustor leuchtete der Wappenvogel in Gelb auf blauem Grund – im Hause kam mir meine Mutter entgegen – aber als ich eintrat und sie umarmen wollte, war es nicht sie, sondern eine nie gesehene Gestalt, groß und mächtig […] und trotz der Mächtigkeit ganz und gar weiblich. Diese Gestalt zog mich an sich und nahm mich in eine tiefe, schaudernde Liebesumarmung auf. Wonne und Grausen waren vermischt, die Umarmung war Gottesdienst und war ebenso Verbrechen.68

Die drei aus der Gnostik entlehnten Symbole sind im Demian ebenso eng miteinander verknüpft wie in Jungs Septem Sermones und bilden gemeinsam ein Gegengewicht zu den biblischen Mythen. So dient die bereits beschriebene Umwertung der biblischen Geschichten auch nicht zuletzt der Vorbereitung für Emils Verständnis der gnostischen Symbole: indem die dichotomische Bewertung ‚gut‘ und ‚böse‘ in Demians Interpretation der Kainsgeschichte und der Erzählung vom Schächer am Kreuz umgedreht wird, lernt Sinclair, das Denken in Gegensätzen als relativ zu betrachten. An dem Punkt in der Erzählung, an dem Emil sowohl die ‚lichte‘ als auch die ‚dunkle‘ Welt kennengelernt hat, erscheint zum ersten Mal der Gott Abraxas als Lösung für das Gegensatzproblem. Das Bild des sich aus dem Ei kämpfenden Vogels, der neu geboren wird und ‚zu Abraxas fliegt‘, verheißt die Transzendierung der alten dichotomischen Weltsicht zugunsten einer Akzeptanz der ungeteilten Realität. Die kryptische Botschaft Demians und der Traum von der Großen Mutter sind jedoch nur der erste Anstoß für Emils weitere Entwicklung. Mit der Hilfe des Organisten Pistorius nähert er sich zunächst einem Verständnis des Abraxas-Symbols an, bevor er dazu bereit ist, mit der Figur der Großen Mutter konfrontiert zu werden. Pistorius‘ erste Lektion ist bezeichnenderweise eine Lektion ohne Worte. Bei seinem ersten Besuch im Haus des Organisten entzündet Pistorius ein Kaminfeuer, das beide schweigend betrachten.69 Erst im Rückblick bemerkt Emil, dass Pistorius ihm damit einen ersten Hinweis auf das Wesen des Abraxas zu geben versucht: An die wenigen Erfahrungen, welche ich bis jetzt auf dem Wege zu meinem eigentlichen Lebensziel gefunden habe, reihte sich diese neue: das Betrachten solcher Gebilde, das Sichhingeben an irrationale, krause, seltsame Formen der Natur erzeugt in uns ein Gefühl

|| 68 Ebd. S. 307f. 69 Vgl. ebd. S. 314f.

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der Übereinstimmung unseres Inneren mit dem Willen, der diese Gebilde werden ließ […]. Vielmehr ist es dieselbe unteilbare Gottheit, die in uns und die in der Natur tätig ist […].70

Die Identifikation von Innen und Außen, die hier übrigens in Schopenhauerscher Terminologie ausgedrückt wird (es ist die Rede vom unteilbaren ‚Willen‘), ist eine Erfahrung, die sich eigentlich nicht sprachlich vermitteln lässt, aber paradoxerweise dennoch wortreich umschrieben wird. Dieses Paradox kehrt auch an prominenter Stelle in Narziß und Goldmund wieder.71 Das stille Betrachten der Natur löst ein Einheitsgefühl aus, das Emil darauf vorbereitet, das Leben in seiner Ganzheit zu akzeptieren. In den folgenden Gesprächen mit Pistorius repräsentiert der Gott Abraxas diese ungeteilte Ganzheit: „er ist Gott und ist Satan, er hat die lichte und die dunkle Welt in sich“72. Dieses Symbol tritt jedoch im weiteren Verlauf der Erzählung in den Hintergrund und wird vom Bild der Großen Mutter ersetzt, die dem Protagonisten in der Gestalt von Demians Mutter Eva begegnet. Emil wendet sich von Pistorius ab, dessen Begeisterung für antike Symbole ihm „antiquarisch“73 erscheint, und verfolgt nun „das neue Bild“74 der Großen Mutter auf der Suche nach einem die Gegensätze vereinigenden Symbol. Für die Ausgestaltung der Eva-Figur sind mehrere intertextuelle Bezugssysteme relevant: es finden sich sowohl Anklänge an gnostische und hinduistische Schriften als auch an Ausführungen bei Bachofen und bei C. G. Jung. Aus einem Gespräch mit C. G. Jung notiert sich Hesse eine Reihe von gnostischen Frauenfiguren, die jeweils für einen anderen Lebenszusammenhang stehen: „Eva (die Erdmutter), Helena (Erotik), Maria (Gottesmutter) und Sophia“75. In der gnostischen Anthropogonie gebiert Eva als Mutter allen Lebens einen hermaphroditischen „mann-weibliche[n] Mensch[en]“76, der zum spirituellen „Unterweiser“77 Adams wird, sie selbst zeigt sich als „Jungfrau, Weib und Mutter in einer Person“78. Bei der ersten Erwähnung der Eva-Figur im Demian sind diese Elemente ebenfalls angesprochen: in Emils Traum ist Frau Eva zugleich seine Mutter und seine Geliebte und erinnert ihn darüber hinaus an Demian.79 Auch die hermaph|| 70 Ebd. S. 316. 71 Vgl. Kap. 4.1.2. 72 Hesse, Hermann: Demian. S. 320. 73 Ebd. S. 333. 74 Ebd. S. 335. 75 Hesse, Hermann: Aus einem Züricher Notizbuch vom 18. Mai bis 26. Juni 1921. Hier: S. 656. 76 Rudolph, Kurt: Die Gnosis: Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion. 4. Aufl. Göttingen 2011. S. 113. 77 Ebd. S. 115. 78 Ebd. S. 114f. 79 Vgl. Hesse, Hermann: Demian. S. 308.

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roditische Gestalt Demians, der als Emils ‚Unterweiser‘ auftritt, wird mehrmals erwähnt: Ich sah Demians Gesicht, und ich sah nicht nur, daß er kein Knabengesicht hatte, sondern das eines Mannes; ich sah noch mehr, ich glaubte zu sehen, oder zu spüren, daß es auch nicht das Gesicht eines Mannes sei, sondern noch etwas anderes. Es war, als sei auch etwas von einem Frauengesicht darin […].80

Die gnostische Vorstellung der Eva als Urmutter beinhaltet wiederum Anklänge an die Gestalt der ‚Großen Mutter‘ als Repräsentantin des Lebens, die nahezu allen frühzeitlichen Mythologien gemeinsam ist. Die Große Göttin ist sowohl die „Spenderin und Hegerin des Lebens wie auch [die] Verschlingerin der Toten“ und vereint damit die „hellen und dunkleren Aspekte des bunt gemischten Lebensganzen“81 in einer Gestalt. In ihren zahlreichen Erscheinungen von der indischen Kali bis zur griechischen Demeter ist sie neben der „göttlichen Mutter aller Wesen“ zugleich auch „die Mutter und Braut des toten und auferstandenen Gottes“82 und wird mit dem Motiv der spirituellen Wiedergeburt verbunden. Diese Doppelfunktion der göttlichen Urmutter findet sowohl in Bachofens Mutterrecht als auch in den Schriften C. G. Jungs Erwähnung. In Bachofens Ausführungen ist die Mutterfigur untrennbar mit den Mysterienkulten und deren Vorstellung von spiritueller Wiedergeburt verbunden. Im Mutterrecht heißt es: Aber das Mysteriöse bildet das wahre Wesen jeder Religion, und wo immer das Weib auf dem Gebiete des Kultus und dem des Lebens an der Spitze steht, wird es gerade das Mysteriöse mit Vorliebe pflegen. Dafür bürgt […] insbesondere das Gesetz des demetrischen Muttertums, das sich ihm in den Verwandlungen des Saatkorns offenbart, und durch das Wechselverhältnis von Tod und Leben den Untergang als die Vorbedingung höherer Wiedergeburt, als die Verwirklichung des ‚Gewinns der Weihe‘ darstellt.83

Über die Verbindung der frühzeitlichen Mutterverehrung mit den antiken Mysterienkulten schlägt auch Bachofen die Brücke zur Gnosis. Die gnostische Mythenwelt trete zur „christlichen Lehre“ in „den entschiedensten Gegensatz“84, indem sie (im Angesicht der patriarchalischen Struktur der neuen Religion)

|| 80 Ebd. S. 273. 81 Campbell, Joseph: Mythologie des Westens. Übers. von Hans-Ulrich Möhring. Basel 1992. S. 33. 82 Ebd. S. 56. 83 Bachofen, Johann Jakob: Mutterrecht. S. 22. 84 Bachofen, Johann Jakob: Der Mythus von Orient und Occident. S. 529.

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erneut die weiblichen Figuren ins Zentrum stelle und den „Einfluß des Weibes“ an einen „Mysterienkult“85 knüpfe, der sich um die geistige Erneuerung dreht. Auch C. G. Jung knüpft an diese symbolische Funktion des Mutterbildes an: In seiner 1912 erschienen Schrift Wandlungen und Symbole charakterisiert er den klassischen mythischen Helden als den „Sohngeliebte[n] der Muttergöttin“86, interpretiert das inzestuöse Verhältnis zwischen dem Helden und der Großen Mutter jedoch als geistiges Symbol eines Strebens nach spiritueller Wiedergeburt: Überdies ist hervorzuheben, daß insbesondere der Sonnenmythus zeigt, inwiefern die Grundlage des ‚inzestuösen‘ Begehrens […] auf dem einzigartigen Gedanken beruht, wieder Kind zu werden […]. Es ist nicht die inzestuöse Kohabitation, die gesucht wird, sondern die Wiedergeburt.87

Um das Inzestproblem zu vermeiden, sei – so erklärt Jung weiter – in der Mythologie auch das „Motiv der zwei Mütter“ weit verbreitet: während die leibliche Mutter die „wirkliche, menschliche“ sei, die den Helden geboren hat, ist die zweite Mutter eine „symbolische“, die als „göttlich, übernatürlich oder sonstwie als außerordentlich gekennzeichnet“88 ist. Genau dieses Motiv findet sich auch im Demian: während Emils eigene Mutter nur schemenhaft in den Erzählungen aus seiner Kindheit Erwähnung findet, tritt im Laufe seiner seelischen Entwicklung Frau Eva als ‚zweite göttliche Mutter‘ an ihre Stelle. Als mütterliche Figur, die zugleich Geliebte ist, klingt bereits bei ihrem ersten Auftreten in Sinclairs Traum die mythische Referenz an die Große Mutter und ihren ‚Sohngeliebten‘ an. Sobald Emil ein Foto von Demians Mutter zu Gesicht bekommt, identifiziert er sie sogleich als sein Traumbild: Aber als ich nun das kleine Bildnis sah, blieb mir der Herzschlag stehen. – Das war mein Traumbild! Das war sie, die große, fast männliche Frauenfigur, ihrem Sohne ähnlich, mit Zügen von Mütterlichkeit, Zügen von Strenge, Zügen von tiefer Leidenschaft, schön und verlockend, schön und unnahbar, Dämon und Mutter, Schicksal und Geliebte.89

Bei der ersten Begegnung mit Frau Eva hofft Sinclair gar, dass sie ihm „Mutter, Geliebte, Göttin“90 werden könnte und macht so die mythischen Bezüge der

|| 85 Ebd. S. 531. 86 Jung, Carl Gustav: Wandlungen und Symbole. S. 395. 87 Ebd. S. 286. 88 Ebd. S. 411. 89 Hesse, Hermann: Demian. S. 337. 90 Ebd. S. 345.

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Mutterfigur offensichtlich. Im Laufe der Erzählung übernimmt Frau Eva beide Rollen: sie gibt Emil sowohl mütterliche Geborgenheit als auch die Andeutung einer Liebesbeziehung, die sich allerdings auf Symbolisches beschränkt. Die deutlichste Charakterisierung der Frau Eva als Große Mutter findet sich am Schluss des Romans. Emil kämpft als Soldat im Ersten Weltkrieg und erlebt während des nächtlichen Wachestehens folgende Vision: In den Wolken war eine große Stadt zu sehen, aus der strömten Millionen von Menschen hervor, die verbreiteten sich in Schwärmen über weite Landschaften. Mitten unter sie trat eine mächtige Göttergestalt, funkelnde Sterne im Haar, groß wie ein Gebirge, mit den Zügen der Frau Eva. In sie hinein verschwanden die Züge der Menschen, wie in eine riesige Höhle, und waren weg. Die Göttin kauerte am Boden nieder, hell schimmerte das Mal auf ihrer Stirn. Ein Traum schien Gewalt über sie zu haben, sie schloß die Augen, und ihr großes Antlitz verzog sich in Weh. Plötzlich schrie sie hell auf, und aus ihrer Stirn sprangen Sterne, die schwangen sich in herrlichen Bogen und Halbkreisen über den schwarzen Himmel. Einer von den Sternen brauste mit hellem Klag gerade zu mir her, schien mich zu suchen. – Da krachte er brüllend in tausend Funken auseinander, es riß mich empor und warf mich wieder zu Boden, donnernd brach die Welt über mir zusammen.91

In dieser Vision stehen die Aspekte, die Frau Eva mit der Figur der ‚Großen Mutter‘ verbinden, noch einmal gedrängt beisammen: Sie ist sowohl Gebärerin als auch Verschlingerin des Lebens und gleichzeitig das Vehikel spiritueller Erneuerung. Die Vision wird eröffnet mit dem Bild der ‚Stadt in den Wolken‘, die ‚Millionen Menschen‘ hervorbringt. Die Stadt steht traditionell für ein mythisches Bild der Mutter – man denke an die weiblichen Personifikationen der Städte Babylon, Rom oder (wie in diesem Fall) an das himmlische Jerusalem.92 Die Menschen, die sie hervorbringt, verschlingt sie jedoch auch wieder: die ‚Züge der Menschen‘ verschwinden in der Göttin. Dieses Verschwinden oder die Rückkehr zur Mutter beinhaltet aber zugleich auch die spirituelle Erneuerung. Als wäre sie schwanger, ‚verzieht sich das Antlitz der Göttin in Weh‘ und sie gebiert eine Reihe von Sternen. Das Gebären von Sternen ist als deutliche Referenz an Nietzsches Also sprach Zarathustra zu lesen: in Zarathustras Vorrede findet sich die vielzitierte Aussage, der Mensch „müsse noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können“93. Der Stern repräsentiert in Nietzsches Kontext die Neugeburt des Menschen zum „Übermenschen“94 und

|| 91 Ebd. S. 363f. 92 Vgl. auch Jung, Carl Gustav: Symbole der Wandlung. S. 272. 93 Nietzsche, Friedrich: Zarathustra. S. 19. 94 Ebd. S. 16ff.

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passt sich als Symbol der spirituellen Erneuerung gleichzeitig in die mythologischen Bezüge zur gebärenden Großen Mutter ein. Die Darstellung der göttlichen Figur ist neben dem bereits erwähnten Verweis auf die gnostische ‚Mater Coelestis‘ außerdem mit Anklängen an die Bhagavad-Gita und die Offenbarung des Johannes versehen. Im Elften Gesang der Bhagavad-Gita wird ebenfalls ein Kriegsschauplatz geschildert, der durch eine göttliche Vision durchbrochen wird. Der Kämpfer Arjuna fordert Krishna dazu auf, sich ihm in seiner wahren Gestalt zu zeigen. Daraufhin verwandelt sich Krishna in ein Abbild des gesamten Kosmos, er wird beschrieben als „Berg von Glanz“95 (analog zur Göttergestalt als ‚Gebirge‘ im Demian), der ebenfalls ein „Diadem“96 trägt und die Menschen, die er hervorgebracht hat, wieder verschlingt: Gleichwie der Ströme mächt’ge Wasserwogen Zum Meere hin, ihm zugewendet, laufen, So diese Helden aus der Welt der Menschen Bewegen sich in deine Flammenrachen.97

Hier erfüllt zwar nicht die Mutter die Rolle der Gebärerin und Verschlingerin des Lebens, aber auch Krishna als „Vater der Welt“98 wird zu Arjuna in die gleiche Beziehung gesetzt wie die ‚Große Mutter‘ zu ihrem ‚Sohngeliebten‘: Krishna soll sich zu ihm verhalten „wie seines Sohnes ein Vater“ und ein „Geliebter der Geliebten“99. Jahnke hat überdies darauf hingewiesen, dass die Vision von Frau Eva analog zu einigen Passagen aus der Offenbarung des Johannes gestaltet ist.100 Auch hier gibt es eine Gleichsetzung der „heilige[n] Stadt“ mit der „geschmückte[n] Braut“101 und eine himmlische Mutter, die „auf ihrem Haupte eine Krone von zwölf Sternen“102 trägt und schwanger ist. Auch sie hat „große Qual bei der Geburt“103, bringt jedoch anstelle der Sterne einen göttlichen Knaben zur

|| 95 Bhagavad-Gita. Des Erhabenen Sang. Übers. von Leopold von Schroeder. Jena 1922. S. 52. 96 Ebd. 97 Ebd. S. 54. 98 Ebd. S. 55. 99 Ebd. S. 56. 100 Vgl. Jahnke, Walter: Hesses Frau Eva und die Maria der Geheimen Offenbarung. In: Michels, Volker (Hg.): Materialien zu Hermann Hesses Demian. Zweiter Band. Die Wirkungsgeschichte in Rezensionen und Aufsätzen. Frankfurt a. M. 1997. S. 252–259. 101 Offb. 21, 2. 102 Offb. 12, 2. 103 Offb. 12, 3.

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Welt. Hier ist es der siebenköpfige Drache, der die „Sterne des Himmels“104 herabfegt. Die Vision Emils, die mit dem Einschlag einer Granate wieder in der Realität endet, ist also mit reichen mythologischen Bezügen versehen, die Frau Eva die mythische Rolle der ‚Großen Mutter‘ als Repräsentantin des Lebens in seiner Ganzheit zuschreibt. Gerade durch die Einbettung der Vision in den Kontext des Ersten Weltkriegs wird die Verbindung von Leben und Tod in einer göttlichen Figur besonders relevant. Gleichzeitig wird durch das Motiv der spirituellen Wiedergeburt eine Perspektive eröffnet, die über den Naturzwang des Geborenwerden- und Sterbenmüssens hinausweist. An einer früheren Stelle im Roman gibt Frau Eva selbst eine deutliche Referenz zum Wiedergeburtsmotiv. Mit einem Rückbezug auf das Bild des sich aus dem Ei kämpfenden Seelenvogels erklärt sie: „Es ist immer schwer, geboren zu werden. Sie wissen, der Vogel hat Mühe, aus dem Ei zu kommen.“105 An dieser Stelle zeigt sich abschließend erneut der Zusammenhang zwischen den drei Symbolen Abraxas, Seelenvogel und Frau Eva. Der sich aus dem Ei kämpfende Vogel kann als Symbol der menschlichen Seele in ihrer Entwicklung verstanden werden. Dafür spricht neben C. G. Jungs Deutung mythischer Vogelmotive als „Seelenbilder“106 auch eine mögliche biografische Inspiration für den Seelenvogel: Hesses Vater, der 1916 verstorben war, hatte sich als Grabspruch die Psalmenstelle „Der Strick ist zerrissen, der Vogel ist frei!“107 gewählt und damit ebenfalls auf die Gleichsetzung von Vogel und Seele verwiesen. Der Seelenvogel muss sich in der von Demian und Frau Eva verwendeten Bildlichkeit aus dem ‚Ei‘ seiner bisherigen Weltsicht herauskämpfen, um ‚zu Abraxas zu fliegen‘ – also das Leben in seiner Ganzheit akzeptieren zu lernen. Das Abraxas-Symbol als Repräsentant der Einheit von ‚lichter‘ und ‚dunkler‘ Welt wird abgelöst und ergänzt durch Frau Eva als Stellvertreterin der ‚Großen Mutter‘, die sowohl für die Akzeptanz des Lebensgesetzes als auch für die Möglichkeit der spirituellen Wiedergeburt steht. Sie bildet damit ein Gegengewicht zur ‚väterlichen‘ christlichen Religion und fügt sich in die Reihe der aus der Gnosis entlehnten Mythen ein, die im Demian in Opposition zu den christlichen stehen.

|| 104 Offb. 12, 4. 105 Hesse, Hermann: Demian. S. 346. 106 Jung, Carl Gustav: Symbole der Wandlung. S. 272. 107 Hesse, Hermann: Zum Gedächtnis. In: Michels, Volker: Materialien zu Hermann Hesses Demian. Entstehungsgeschichte in Selbstzeugnissen. Frankfurt a. M. 1993. S. 59–68. Hier: S. 65.

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4.1.1.1.2 Östliche Mythen Der auf den Demian folgende Roman Siddhartha bietet eine Zusammenschau von Mythen und Symbolen, die aus Hinduismus, Buddhismus und Taoismus stammen. Die Rede vom ‚Mythos‘ ist in diesem Zusammenhang jedoch problematisch, da die Originaltexte – abgesehen von den hinduistischen Göttergeschichten – wenig bildhafte Ausgestaltung mythischer Erzählungen beinhalten, sondern in Form von Weisheitssprüchen, bildlichen Darstellungen, philosophischen Reden und kurzen Berichten überliefert sind. Der Terminus ‚Mythos‘ bezieht sich hier also oftmals auf zusammengezogene bildliche Symbole (wie beispielsweise das Tai Gi im Taoismus), auf Personifikationen, die auf Weisheitssprüchen beruhen, oder auf mythisch überformten Lebensberichten (wie dem des historischen Buddha Shakyamuni). In der Forschung ist viel darüber diskutiert worden, ob Siddhartha ein ‚Bekenntnis‘ zu einem dieser religiösen Systeme enthält, ob sich Hesse darin vom Buddhismus abwendet oder – im Gegenteil – eine eigene Version der BuddhaLegende verfasst hat.108 Im Folgenden soll in Abgrenzung von dieser Diskussion gezeigt werden, dass der Roman Elemente aus allen drei Bezugssystemen entlehnt, um die gemeinsamen Grundgedanken von Hinduismus, Buddhismus und Taoismus aus Hesses Perspektive herauszustellen. Der Fokus liegt dabei auf drei gemeinsamen Grundgedanken, die – ebenso wie bei Schopenhauer – miteinander in Zusammenhang stehen: dies ist zum einen die Einsicht in die Idealität von Zeit und Raum, zum anderen der Gedanke der All-Einheit alles Seienden und zuletzt und daraus resultierend das Mitgefühl. Hesse selbst bezeichnet den Siddhartha als ein Buch, in dem er „versucht habe, die alte asiatische Lehre von der göttlichen Einheit für unsere Zeit und in unserer Sprache zu erneuern“109. So durchläuft der Protagonist des Romans im Laufe seiner Entwicklung verschiedene Stationen von seiner brahmanistisch geprägten Erziehung über die Askese und seine Begegnung mit dem historischen Buddha bis hin zu seinem gemein-

|| 108 Vgl. dazu Cheong, Kyung Yang: Mystische Religiosität als Synthese zwischen West und Ost bei Hermann Hesse. In: Böhme, Wolfgang (Hg.): Hermann Hesse und die Religion. Stuttgart 1978. S. 117–131; Gellner, Christoph: Wie der Buddha in den Westen kam. Hermann Hesse, Luise Rinser und Adolf Muschg. In: Ponzi, Mauro (Hg.). Hermann-Hesse-Jahrbuch. Bd. 3. Tübingen 2006. S. 47–70; Hsia, Adrian: Siddhartha. In: Cornils, Ingo (Hg.): A companion to the works of Hermann Hesse. Rochester 2009. S. 149–170; Kassim, Hussain: Toward a Mahayana Buddhist Interpretation of Hermann Hesse’s Siddhartha. In: Literature East and West 18 (1974). S. 233–243; Liu, Weijian: Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. Bochum 1991; Timpe, Eugene: Hesse’s Siddhartha and the Bhagavad-Gita. In: Comparative Literature 22/4 (1970). S. 346–357. 109 Hesse, Hermann: Gedanken über Lektüre. In: SW 19. S. 11–15. Hier: S. 13.

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samen Leben mit einem taoistischen Weisen. Dieser Ablauf ist an der Darstellung Hermann Oldenbergs orientiert, dessen Leben des Buddha 110 den Roman maßgeblich beeinflusst hat. Obwohl Hesse die Wichtigkeit des Oldenbergschen Werkes mehrmals betont – er nennt es z.B. schlicht „das klassische BuddhaBuch“111 in deutscher Sprache – ist dieser Einfluss in der Forschung bisher gänzlich unbeachtet geblieben. Oldenberg zeigt im ersten Teil seiner Schrift auf, wie sich der Buddhismus aus den Gedankensystemen des Brahmanismus und der asketischen Mönchstradition entwickelt hat, und gibt dann darauf aufbauend eine Zusammenfassung der Lebensgeschichte und der Lehren des Buddha Shakyamuni. Im Roman durchläuft Siddhartha die drei von Oldenberg vorgezeichneten Entwicklungsstufen und begegnet am Schluss des Romans darüber hinaus der taoistischen Lehre.112 Im Folgenden sollen daher die Einflüsse aus Brahmanismus/Hinduismus, Buddhismus und Taoismus, die in den Roman eingeflossen sind, dargestellt werden. Die Beschreibung von Siddharthas Kindheit und Jugend folgt den Ausführungen Oldenbergs zum Brahmanismus und Hinduismus.113 Siddhartha wird als Brahmanensohn erzogen und übt sich früh in der Spekulation über das Wesen von atman und brahman. Während atman den „innersten geistigen Kern des Menschen und der Welt“ bezeichnet, steht der Begriff brahman für die allumfassende „Wachstum gebende Energie“114 des Kosmos. Bei Oldenberg werden die beiden Begriffe noch stärker als persönliche und überpersönliche Erscheinungen konturiert: er bezeichnet atman als „centrale Kraft, die im Grunde des per-

|| 110 Oldenberg, Hermann: Buddha. Sein Leben, seine Lehre, seine Gemeinde. Berlin 1881. Zum Einfluss des Hinduismus auf den Siddhartha vgl. außerdem Timpe, Eugene: Hesse’s Siddhartha and the Bhagavad-Gita. In: Comparative Literature 22/4 (1970). S. 346–357. 111 Hesse, Hermann: Reden des Buddha. S. 348. Vgl. auch Ders.: Mein Verhältnis zum geistigen Indien und China. S. 129. 112 Oldenberg thematisiert den Taoismus nicht, hier sind die Übersetzungen und Kommentare von Richard Wilhelm maßgeblich. 113 Die Begriffe werden nahezu deckungsgleich verwendet, wobei der Terminus ‚Brahmanismus‘ eher auf die theoretische Schriftauslegung der Veden bezogen wird und ‚Hinduismus‘ als übergreifender Begriff, der auch die Göttererzählungen einschließt. ‚Hinduismus‘ ist ein westlich geprägter Sammelbegriff, der „eine Reihe unter sich verwandter und doch voneinander verschiedener Religionen zusammenfaßt“ (wie beispielsweise Vishnuismus oder Shivaismus), die auf den gemeinsamen Grundtext der Veden zurückgehen. Vgl. Keller, Carl: Heilige Schriften des Hinduismus. In: Tworuschka, Udo (Hg.): Heilige Schriften. Eine Einführung. Darmstadt 2008. S. 211–241. Hier: S. 211. 114 Ebd. S. 215.

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sönlichen Lebens wirkt“ und brahman als „Antlitz des All[s]“115. Die Aufgabe des Brahmanen besteht darin, die beiden Kräfte als Einheit zu erleben: […] im Âtman oder dem Brahma das einzige, unvergängliche Wesen zu erfassen, die Quelle alles Daseins, die im Grunde der Vielheit ruhende Einheit. […] Erlösung ist die erreichte Einheit der Seele mit ihrer wahren Wesenheit, dem Brahma.116

Diese Deutung wird von Hesse sowohl persönlich als auch in der literarischen Gestaltung von Siddharthas Erziehung übernommen.117 Siddhartha lernt von seinem Vater und den Brahmanen die Opfer und Riten, hört „die Gespräche der Weisen“ und wird darin unterwiesen, „im Innern seines Wesens Atman zu wissen, unzerstörbar, eins mit dem Weltall“118. Er zitiert Sprüche aus dem Chandogya-Upanishad 119 und dem Dhyanabindu-Upanishad 120, die Hesse aus der Übersetzung von Paul Deussen entnimmt.121 Gleichzeitig wendet sich Siddhartha jedoch von dieser Art des metaphysischen Wissens ab, weil es ihm zum tatsächlichen Erleben der Einheit nicht tauglich erscheint: [V]on allen Weisen und Weisesten, die er kannte und deren Belehrung er genoß, von ihnen allen war keiner, der sie ganz erreicht hatte, die himmlische Welt, der ihn ganz gelöscht hatte, den ewigen Durst.122

Anstelle der Lehren, die er von den Brahmanen erfahren hat, begleitet Siddhartha auf seinem weiteren Weg ein symbolischer Laut, der die Vergegenwärtigung der gesuchten All-Einheit in sich enthält: Siddhartha lernt das Sprechen der Silbe Om, das er zur Meditation nutzt.123 Der Laut dient als Symbol für das, was nicht sprachlich oder in Form einer Lehre vermittelt werden kann. Das als

|| 115 Vgl. Oldenberg, Hermann: Buddha. Buddha. S. 26 und 30. 116 Ebd. S. 48. 117 In einem Brief schreibt Hesse noch 1943: „Dann ist aber das andere Ich da, im ersten Ich verborgen, mit ihm vermischt, keineswegs aber mit ihm zu verwechseln. Dies zweite, hohe, heilige Ich (der Atman der Inder, den Sie dem Brahma gleichstellen) ist nicht persönlich, sondern ist unser Anteil an Gott, am Leben, am Ganzen, am Un- und Überpersönlichen.“ Brief Hesses an einen unbekannten Empfänger vom Mai 1943. In: Michels, Volker: Materialien zu Siddharta. S. 233. 118 Hesse, Hermann: Siddhartha. In: SW 3. S. 369–472. Hier: S. 373. 119 Vgl. ebd. S. 376. 120 Vgl. ebd. 121 Vgl. Deussen, Paul: Sechzig Upanishad’s des Veda. Kiel 1897. 122 Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 376. 123 Vgl. ebd. S. 373 und 376.

Mythisches Erzählen als Abbild der Psyche bei Hermann Hesse | 247

dreisilbiger Laut ‚A-U-M‘ gesprochene Wort umfasst sowohl alle menschlichen Bewusstseinszustände als auch die Stadien der hinduistischen Kosmogonie: The cosmogonic cycle pulses forth into manifestation and back into nonmanifestation amidst a silence of the unknown. The Hindus represent this mystery in the holy syllable AUM. Here the sound A represents waking consciousness, U dream consciousness, M deep sleep. The silence surrounding the syllable is the unkown: it is called simply „The Forth“. The syllable itself is God as creator-preserver-destroyer, but the silence is God Eternal, absolutely uninvolved in all the openings and closings of the round.124

Das Sprechen des Om begleitet Siddhartha auf seinem gesamten Entwicklungsweg. Die Erinnerung an den Laut bewahrt ihn vor dem Selbstmord am Fluss125, Vasudeva spricht ihn als Vorwegnahme von Siddharthas eigenem Einheitserlebnis126, und auch als Siddhartha zum Schluss des Romans die Einsicht in die All-Einheit des Seins erlangt, ist es der Laut Om, der über allem schwebt.127 Es ist also keine Lehre, die Siddhartha von seiner Zeit bei den Brahmanen behält, sondern ein symbolischer Laut, der die gesuchte Einheit direkt repräsentiert, anstatt sie in metaphysische Erklärungen zu kleiden. Darüber hinaus finden sich im Siddhartha aber auch Anklänge an hinduistische Mythen. Abgesehen davon, dass zwei der Hauptfiguren Namen aus der Bhagavad-Gita tragen – Govinda und Vasudeva128 –, ist auch die Schlussszene des Romans an die Offenbarung des Krishna in der Gita angelehnt: Ebenso wie Govinda beim Ansehen von Siddharthas Gesicht einen unendlichen Strom von Gestalten vor sich sieht, die sich alle zu einer Einheit verbinden, wird Arjuna in der Bhagavd-Gita vom Anblick des sich offenbarenden Krishna überwältig. Dort heißt es: Die Götter schau ich all in deinem Leibe, O Gott, so auch die Scharen aller Wesen, Brahman, den Herrn, auf seinem Lotussitze, Die Rishis alle und die Himmelsschlangen. Mit vielen Armen, Bäuchen, Mündern, Augen, Seh ich dich, - allwärts endlos gestaltet;

|| 124 Campbell. Joseph: The Hero. S. 228. 125 Vgl. Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 430. 126 Vgl. ebd. S. 444. 127 Vgl. ebd. S. 462. 128 Beides sind Beinamen des Krishna. Vgl. Ganeshan, Vridhagiri: Siddhartha und Indien. In: Michels, Volker (Hg.): Materialien zu Hermann Hesses Siddhartha. Zweiter Band. Frankfurt a. M. 1976. S. 225–254. Hier: S. 226.

248 | Sinceritas und Ironie: Mythisches Erzählen bei Hermann Hesse und Thomas Mann

Nicht Ende, Mitte, noch auch Anfang seh ich An dir, du Herr des Alls, du allgestalt’ger!129

Und zum Vergleich im Siddhartha: Er sah seines Freundes Siddhartha Gesicht nicht mehr, er sah stattdessen andre Gesichter, viele, eine lange Reihe, einen strömenden Fluß von Gesichtern, von Hunderten, von Tausenden, welche alle kamen und vergingen, und doch alle zugleich dazusein schienen […]. Er sah das Gesicht eines Fisches, […] er sah das Gesicht eines neugeborenen Kindes […] und alle diese Gestalten ruhten, flossen, erzeugten sich, schwammen dahin und strömten ineinander […].130

In beiden Beschreibungen wird die Figur des Krishna bzw. Siddhartha zum Spiegel des Kosmos, der den Blick auf die unendliche Vielzahl der Gestalten freigibt, die alle in Einem vereint sind. Auch in dieser Schlussszene greift Hesse also auf eine bildliche Repräsentation des Einheitsgedankens zurück, deren lautliches Äquivalent – das Sprechen des Om – für den selben Gedanken steht. Neben kleineren Verweisen auf hinduistische Mythen, wie beispielsweise die Gleichsetzung Siddharthas und Kamals mit dem göttlichen Liebespaar Vishnu und Lakshmi131, sind dies die beiden deutlichsten Referenzen an den Hinduismus. Dabei fällt auf, dass Siddhartha zwar die theoretische Lehre ablehnt, dass die sinnlichen Symbole, die diese Lehre bildlich oder lautlich verkörpern, aber im Verlauf des gesamten Romangeschehens beibehalten werden. Dass dies mit dem buddhistischen Glaubenssystem vereinbar ist, entnimmt Hesse der Lektüre Oldenbergs, der – wie bereits erwähnt – die hinduistischen Gedankensysteme als Vorläufer der Buddha-Lehre betrachtet. Das asketische Mönchstum, dem sich Siddhartha nach Verlassen seines Elternhauses zuwendet, betrachtet Oldenberg als zweite Grundlage des Buddhismus. So hält es Oldenberg für wahrscheinlich, dass es „vorzugsweise Brahmanen waren, die als Bettler oder Waldeinsiedler in der Abkehr von dem Irdischen ihrer Erlösung nachtrachteten“132. Diese „Samanas“133 genannten Mönche hätten beispielsweise durch „Kasteiungen“, Nahrungs- oder Schlafentzug in Kombina-

|| 129 Bhagavad-Gita. S. 52. 130 Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 470f. 131 Vgl. ebd. S. 408. Besonders Kamala wird mit den Attributen der Lakshmi ausgestattet, die als Göttin der Schönheit gilt. Der Banyan-Baum, auch als ‚Bengalische Feige‘ bekannt, ist der Sitz der beiden Liebenden. Daher wird beispielsweise Kamalas Mund immer wieder leitmotivisch mit einer „frisch aufgebrochenen Feige“ verglichen (so z.B. in Ebd. S. 407, 409, 411, 448). 132 Oldenberg, Hermann: Buddha. S. 63. 133 Ebd. S. 68.

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tion mit „geistige[m] Versenktsein“134 versucht, den Zustand der Erleuchtung durch Askese zu erreichen. Es habe auch „Hahnheilige“ und „Kuhheilige“135 gegeben, die durch die Identifikation mit diesen Tieren versucht hätten, ihre persönliche Identität hinter sich zu lassen und die Einheit mit der gesamten Schöpfung zu erlangen. Hesse folgt dieser Darstellung in seinem Roman, wenn er die Bemühungen Siddharthas beschreibt, durch asketische Übung das persönliche Selbst zu transzendieren: Vom Ältesten der Samanas belehrt, übte Siddhartha Entselbstung, übte Versenkung, nach neuen Samanaregeln. Ein Reiher flog überm Bambuswald – und Siddhartha nahm den Reiher in seine Seele auf, flog über Wald und Gebirg, war Reiher, fraß Fische, hungerte Reiherhunger, sprach Reihergekrächz, starb Reihertod. […] Vieles lernte Siddhartha bei den Samanas, viele Wege vom Ich hinweg lernte er gehen. Er ging den Weg der Entselbstung durch den Schmerz, durch das freiwillige Erleiden und Überwinden des Schmerzes, des Hungers, des Durstes, der Müdigkeit. Er ging den Weg der Entselbstung durch Meditation, durch das Leerdenken des Sinnes von allen Vorstellungen.136

Aus Mangel an mythischer Überlieferung greift Hesse hier nahezu wörtlich auf Oldenbergs Darstellung zurück, um dieses Stadium in der Entwicklung Siddharthas zu beschreiben. Der Gang durch die Askese ist jedoch auch ein fester Bestandteil des Buddha-Mythos, auf den Hesse maßgeblich Bezug genommen hat, wie im Folgenden gezeigt werden soll.137 Bereits der Titel des Romans legt nahe, dass die Lebensgeschichte des historischen Buddha Siddhartha Gautama die dominante Vorlage für die Gestaltung || 134 Ebd. 135 Ebd. S. 69. 136 Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 381. 137 Zum Einfluss des Buddhismus im Siddhartha vgl. Ganeshan, Vridhagiri: Siddhartha und Indien. In: Michels, Volker (Hg.): Materialien zu Hermann Hesses Siddhartha. Zweiter Band. Frankfurt a. M. 1976. S. 225–254; Gellner, Christoph: Wie der Buddha in den Westen kam. Hermann Hesse, Luise Rinser und Adolf Muschg. In: Ponzi, Mauro (Hg.). Hermann-HesseJahrbuch. Bd. 3. Tübingen 2006. S. 47–70; Hsia, Adrian: Siddhartha. In: Cornils, Ingo (Hg.): A companion to the works of Hermann Hesse. Rochester 2009. S. 149–170; Jacobs, Angelika: Fragile Idole der Moderne. Die Buddha-Figur bei Victor Segalen, Fritz Mauthner und Hermann Hesse. In: Solbach, Andreas (Hg.): Hermann Hesse und die literarische Moderne. Kulturwissenschaftliche Facetten einer literarischen Konstante im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2004. S. 322–354; Kassim, Hussain: Toward a Mahayana Buddhist Interpretation of Hermann Hesse’s Siddhartha. In: Literature East and West 18 (1974). S. 233–243; Shaw, Leroy: Zeit und Struktur des Siddhartha. In: Michels, Volker (Hg.): Materialien zu Hermann Hesses Siddhartha. Zweiter Band. Frankfurt a. M. 1976. S. 98–124; Ziolkowski, Theodore: Siddhartha. Die Landschaft der Seele. In: Michels, Volker (Hg.): Materialien zu Hermann Hesses Siddhartha. Zweiter Band. Frankfurt a. M. 1976. S. 133–161.

250 | Sinceritas und Ironie: Mythisches Erzählen bei Hermann Hesse und Thomas Mann

von Hesses Siddhartha ist. In der buddhistischen Überlieferung gibt es mehrere Versionen dieser Lebensgeschichte, die – je nach Quelle – mehr oder weniger mythisch ausgestaltet wird.138 Im Vergleich zu den Erzählungen vom Leben des Buddha wird die Lebensgeschichte Siddharthas im Roman jedoch zum einen in ihrem chronologischen Ablauf verändert und zum anderen tritt Siddhartha Gautama selbst als Figur auf. Der Protagonist des Romans begegnet dem Buddha und hört seine Lehre, schließt sich jedoch nicht der Schar seiner Mönche an, sondern sucht seinen eigenen Weg. Der Buddha als bereits Vollendeter erscheint als Vorbild des zu erreichenden Zieles, während die Modifikation des Lebenswegs, den Siddhartha zurücklegt, auf den jeweils individuellen Weg zu diesem Ziel verweist. Als Quellen für die Lebensbeschreibung des historischen Buddha hat Hesse vor allem Oldenbergs Beschreibung und die von Karl Eugen Neumann übersetzten Reden des Buddha (1896–1902)139 herangezogen. Obwohl es verschiedene Versionen des mythischen Lebensweges des Buddha gibt, stimmen sie doch alle in der Abfolge der Ereignisse überein: Der adelige Knabe Siddhartha Gautama wird als Fürstensohn aus dem Geschlecht der Sakya geboren und wächst trotz des frühen Todes seiner Mutter Maya behütet und abgeschirmt auf. Er vermählt sich im Alter von 16 Jahren mit der Prinzessin Yasodhara und lebt ein luxuriöses Leben in „drei Paläste[n]“ – „einen für den Herbst, einen für den Winter, einen für den Sommer“140. Als er im Alter von 29 Jahren auf drei verschiedenen Ausfahrten dem Alter, der Krankheit und dem Tod begegnet, beschließt er, sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen und einen Weg zu finden, „der über die Macht alles Leidens hinwegführt“141. Genau zu dieser Zeit wird ihm sein einziger

|| 138 Der Pali-Kanon enthält einige Erzählungen über das Leben des Buddha und seine früheren Inkarnationen und erweitert diese durch mythische Elemente, wie beispielsweise den Kampf mit Mara. Vgl. hierzu die „Wiedergeburtsgeschichten“ (Jātakam) in der digitalen Sammlung http://www.palikanon.com, die auf der Übersetzung von J. Dutoit beruht. Auch die von Hermann Hesse genutzte Übersetzung der Reden Buddhas von Karl Eugen Neumann enthält verstreute Erzählungen aus dem Leben des Buddha, die jedoch weniger mythische Elemente enthalten. Eine Zusammenfassung der Lebensgeschichte des Buddha findet sich beispielsweise in: Rahula, Walpola: What the Buddha taught. London/Bedford 1959. S. xvii–xviii. 139 Vgl. Reden Gotamo Buddhos. Mittlere Sammlung. Bd. I–II. Übers. Von Karl Eugen Neumann. München 1922. Zu Hesses Lektüre der Werke Oldenbergs und Neumanns vgl. Hesse, Hermann: Reden des Buddha. S. 348ff. 140 Reden des Buddha II. S. 346. In einem Brief vom Februar 1920 berichtet er von seinem intensiven Studium der „alte[n] Texte“ des Pali-Kanons. Vgl. Brief Hesses an Anny Bodmer vom 07.02.1920. In: Michels, Volker: Materialien zu Siddharta. S. 102. 141 Oldenberg, Hermann: Buddha. S. 105. Vgl. auch die ausführliche Erzählung im PaliKanon: www.palikanon.com. §B2.6.

Mythisches Erzählen als Abbild der Psyche bei Hermann Hesse | 251

Sohn Rahula geboren (dt. ‚Fessel‘), den er jedoch bei seiner Frau zurücklässt, um sich den Asketen anzuschließen.142 Im Gespräch mit Bodhi, dem Königssohn, der ebenfalls die Askese suchen will, berichtet er rückblickend von dieser Entscheidung: Auch ich hab‘ es, Königssohn, noch vor der vollen Erwachung, als unvollkommen Erwachter, Erwachung erst Erringender, bei mir bedacht: ‚Man kann nicht Wohl um Wohl gewinnen: um Wehe lässt sich Wohl gewinnen.‘ Und da bin ich, Königssohn, nach einiger Zeit, noch in frischer Blüthe, glänzend dunkelhaarig, im Genusse glücklicher Jugend, im ersten Mannesalter, gegen den Wunsch meiner weinenden und klagenden Eltern, mit geschorenem Haar und Barte, mit fahlem Gewande bekleidet, vom Hause fort in die Hauslosigkeit gezogen.143

Sechs Jahre lang übt Siddhartha unter der Anweisung berühmter Lehrer die Askese, kasteit sich, leidet Hunger und vollzieht körperliche Versenkungsübungen.144 Als er seinen Lehrern ebenbürtig ist, erkennt er, dass dieser Weg nicht zur Erleuchtung und zur Aufhebung des Leidens führt, „sondern nur zur Einkehr in das Reich des Nichtdaseins“145. Er beginnt also, wieder feste Nahrung zu sich zu nehmen und die Askese zu durchbrechen, woraufhin sich die fünf Mönche, mit denen er gemeinsam geübt hatte, von ihm abwenden.146 Als er im Alter von 35 Jahren eines Abends zur Meditation unter einen Feigenbaum sitzt (später als ‚Bodhi-Baum‘ – also Baum der Weisheit – bezeichnet), erlangt er in drei Nachtwachen die vollkommene Erleuchtung. In einigen mythisch ausgekleideten Versionen der Erzählung schließt sich daran ein Kampf mit dem Versucher Mâra an, vor dem der Buddha bestehen muss.147 Seine Einsicht in die ‚Vier edlen Wahrheiten‘ über das Leiden, die Entstehung des Leidens, die Aufhebung des Leidens und den Weg zur Aufhebung des Leidens (dieser Weg ist der ‚Achtfache Pfad‘) predigt er im Wildpark Isipatana vor den fünf Mönchen, die sich von ihm abgewendet hatten. Sie werden im Anschluss daran zu den ersten Mitgliedern des sangha, der buddhistischen Mönchsgemeinschaft, der sich später auch seine Frau und sein Sohn Rahula anschließen. Der Buddha verbringt den Rest seines Lebens damit, seine Lehre zu verkünden und gemeinsam mit dem sangha zu leben. Sein liebster Aufenthaltsort soll der Hain Jetava-

|| 142 Vgl. ebd. 143 Reden des Buddha II. S. 552. 144 Vgl. Reden des Buddha I. S. 566–571. 145 Reden des Buddha II. S. 554f. 146 Vgl. ebd. 570. 147 Vgl. z.B. die Darstellung bei Oldenberg, www.palikanon.com. §B2.10.

Hermann:

Buddha.

S.

120f.

oder

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na bei Shravasti (Uttar Pradesh) gewesen sein, an dem er die meisten seiner Lehrreden gehalten hat.148 Er stirbt im Alter von 80 Jahren und ist vom Rad der Wiedergeburten befreit.149 Das Leben des Protagonisten in Hesses Roman enthält zahlreiche Elemente aus diesem mythischen Lebensbericht, die jedoch anders arrangiert sind: Siddhartha wächst zwar als Brahmanensohn auf, und seine Mutter stirbt nicht direkt nach seiner Geburt150, aber auch er beschließt als junger Mann – trotz seiner ‚weinenden und klagenden Eltern‘ – sich den Asketen anzuschließen.151 Er durchläuft die gleichen Askeseübungen wie sein mythisches Vorbild und verlässt seine Lehrer, denen er schnell ebenbürtig wird, mit dem gleichen Ungenügen.152 Er begegnet dem historischen Buddha in eben jenem Hain Jetavana, der dessen liebster Aufenthaltsort gewesen sein soll.153 Die Episode, die sich um die Liebe und den einzigen Sohn als ‚Fessel‘ dreht, ist im Roman auf die Zeit nach der Askese verschoben, was jedoch strukturelle Gründe hat, wie noch zu zeigen sein wird. Dorthin ist im Roman auch eine Szene verschoben, die in der mythischen Vorlage vor dem Aufbruch des zukünftigen Buddhas in die Heimatlosigkeit liegt. Noch im Palast verliert der Buddha der mythischen Überlieferung das Interesse an den Tänzerinnen, die ihn zu unterhalten versuchen, und wendet sich voll Ekel ab, als er deren Vergänglichkeit zu begreifen beginnt.154 Auch Siddhartha erfasst im Roman am Ende seiner Zeit in der Stadt der „Ekel“, nachdem er „die Nacht in seinem Hause mit Tänzerinnen beim Weine zugebracht“155 hat, und er verlässt daraufhin sein luxuriöses Leben. Ebenso wie der mythische Buddha erlangt Siddhartha am Schluss des Romans die Erleuchtung und gleicht ihm in seiner Vollendung.156 Siddhartha erreicht dieses Ziel allerdings nicht, indem er sich der Lehre des Buddha anschließt: obwohl er sofort erkennt, dass

|| 148 Vgl. ebd. S. 145f. 149 Vgl. Rahula, Walpola: What the Buddha taught. S. xviif. 150 Vgl. Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 377. 151 Vgl. ebd. S. 380. 152 Vgl. ebd. S. 387f. 153 Es findet sich sogar eine Referenz an den Beginn zahlreicher Lehrreden des Buddha. Sie beginnen oftmals mit der Formel: „Zu der Zeit weilte der heilige Buddha bei Sâvatthi, im Jetavana, dem Park des Anâthapindika.“ (Oldenberg, Hermann: Buddha. S. 146). Im Roman fragt Siddhartha nach dem Aufenthaltsort des Buddha und bekommt zur Antwort: „Wisset, in Jetavana, im Garten Anathapindikas, weilt der Erhabene.“ (Hesse, Hermann: Siddhrtha. S. 388). 154 Vgl. www.palikanon.com. §B2.6 155 Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 426. 156 Vgl. ebd. S. 469f.

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der Buddha „heilig“157 ist und dessen Lehre als die bestmögliche anerkennt158, will er doch seinen eigenen Weg verfolgen. Als er am Schluss des Romans selbst zum Vollendeten wird, weiß er sich mit der Lehre des Buddha „einig“159 und gleicht ihm zum Verwechseln.160 Siddharthas Entwicklung ist dem Leben des Siddhartha Gautama also stark angeglichen, wird jedoch im Roman weit genug modifiziert, um die Individualität des Romanhelden im Vergleich zur mythischen Vorlage zu betonen. Der Fokus der Suche Siddharthas liegt auf ihrer Individualität: auch der Buddha folgte schließlich keiner Lehre und keinem Lehrer, sondern hat den Pfad zur Erleuchtung selbst gesucht. Die Betonung der Selbstständigkeit des Suchenden hat auch in den Reden des Buddha eine Entsprechung: kurz vor seinem Tod weist er seine Jünger an, niemandem zu folgen, sondern ihre „eigene Leuchte“161 auf dem Weg zur Vollendung zu sein. Siddhartha und der Buddha können also auch als Parallelfiguren verstanden werden – sie zeigen in ihrer Begegnung gleichzeitig die Stadien von „Sein und Werden“162 auf diesem Weg auf. Während der Buddha das zu erreichende Ziel verkörpert, zeigt die Lebensbeschreibung Siddharthas die Entwicklung hin zu diesem Ziel. So wird bereits auf den ersten Seiten des Romans vorausgedeutet, dass Siddhartha die Erleuchtung erreichen wird: Er wächst unter dem „Feigenbaum“163 – also dem Bodhi-Baum – auf und Govinda verkündet schon in seinem Jugendalter, dass Siddhartha „einstmals“164 ein Vollendeter sein wird. Das ‚Sein‘ und das ‚Werden‘ sind – vom Schluss des Romans aus betrachtet – ebenso wenig verschieden voneinander wie Siddhartha und der Buddha am Ende verschieden voneinander sind. Die Modifikation der Lebensgeschichte und das neue Arrangement ihrer Bestandteile hat aber noch eine weitere Funktion: sie fungieren als Veranschaulichung der Lehre des Buddha. So ist Siddharthas Lebensweg nicht nur dem Leben des Buddha angeglichen, sondern er ‚durchlebt‘ darüber hinaus auch die zentralen Einsichten der buddhistischen Lehre. Dies lässt sich an der Struktur des Romans verdeutlichen: er zerfällt in zwei Teile, die wiederum in vier und acht Kapitel unterteilt sind. In der Forschung wird kontrovers diskutiert, inwie-

|| 157 Ebd. S. 390. 158 Vgl. ebd. S. 396. 159 Ebd. S. 469. 160 Vgl. ebd. S. 471. 161 Oldenberg, Hermann: Buddha. S. 202. 162 Shaw, Leroy: Zeit und Struktur des Siddhartha. In: Michels, Volker (Hg.): Materialien zu Hermann Hesses Siddhartha. Zweiter Band. Frankfurt a. M. 1976. S. 98–124. Hier: S. 102. 163 Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 373. 164 Ebd. S. 374.

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weit Hesse damit die ‚Vier edlen Wahrheiten‘ und den ‚Achtfachen Pfad‘ auf der strukturellen und inhaltlichen Ebene des Romans aufgreift.165 Dabei hat jedoch bisher die Zweiteilung des Romans nicht genügend Beachtung gefunden: sie kann zum einen durchaus in Hinblick auf das Erkennen der ‚Vier edlen Wahrheiten‘ und die Befolgung des ‚Achtfachen Pfades‘ interpretiert werden und verweist in ihrer inhaltlichen Aufteilung darüber hinaus auf das zentrale buddhistische Credo des ‚mittleren Weges‘. In seiner ersten Predigt erläutert der Buddha seine Einsicht in den ‚mittleren Weg‘: Zwei Enden gibt es, ihr Mönche, von denen muss, wer ein geistiges Leben führt, fern bleiben. Welche zwei Enden sind das? Das eine ist ein Leben in Lüsten, der Lust und dem Genuss ergeben; das ist niedrig, unedel, ungeistlich, unwürdig, nichtig. Das andre ist ein Leben in Selbstpeinigung; das ist trübselig, unwürdig, nichtig. Von diesen beiden Enden, ihr Mönche, ist der Vollendete fern und hat den Weg, der in ihrer Mitte liegt, erkannt, der Weg, der das Auge aufthut und den Geist aufthut, der zur Ruhe, zur Erkenntnis, zur Erleuchtung, zum Nirvana führt.166

Diese beiden Extreme – das Leben in der Askese und das rein sinnliche Dasein – durchläuft Siddhartha in den zwei Teilen des Romans. Während der erste Teil seinem Aufbruch von zu Hause und der Suche nach Erleuchtung bei den asketischen Mönchen gewidmet ist, fällt er im zweiten Teil des Romans in das andere Extrem, lebt in der Stadt mit allen Annehmlichkeiten, hat eine Geliebte, wird spielsüchtig und gibt sich ganz dem ‚Leben in Lüsten‘ hin. Beide Extrembereiche sind geographisch durch den Fluss getrennt, auf den noch genauer einzugehen sein wird. Auf seinem Weg vom Leben in der Askese zu den Stadtmenschen muss er zuerst den Fluss überqueren, und auch, nachdem er sich vom Stadtleben abgewendet hat, kommt er an den Fluss zurück, der die Mitte zwischen den zwei Extremen bildet. Es ist kein Zufall, dass Siddhartha hier zum Fährmann wird, der zwischen den beiden Ufern pendelt und sich somit auf dem ‚mittleren Weg‘ zwischen Askese und Lustleben befindet, der ihn schließlich am Ufer des Flusses zur Erleuchtung gelangen lässt. Die Zweiteilung des Romans hat aber noch eine weitere Funktion, auf die die Unterteilung in vier und acht Kapitel verweist. So lässt sich durchaus argu|| 165 So zeigen sich Shaw und Ganeshan überzeugt, dass Struktur und Inhalt deckungsgleich sind, während Ziolkowski und Hsia nicht davon ausgehen, dass die einzelnen Kapitel jeweils für die ‚Vier edlen Wahrheiten‘ und die Bestandteile des ‚Achtfachen Pfades‘ stehen. Vgl. dazu Ganeshan, Vridhagiri: Siddhartha und Indien. S. 231; Shaw, Leroy: Zeit und Struktur des Siddhartha. S. 102ff.; Hsia, Adrian: Siddhartha. S. 150; Ziolkowski, Theodore: Siddhartha. S. 144. 166 Oldenberg, Hermann: Buddha. S. 129.

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mentieren, dass der erste Teil der Einsicht in die ‚Vier edlen Wahrheiten‘ gewidmet ist, während der zweite Teil die Lebensanweisungen des ‚Achtfachen Pfades‘ aufgreift. Die Kombination aus diesen beiden Elementen bildet eine Art Nukleus der buddhistischen Lehre.167 Die erste der ‚Vier edlen Wahrheiten‘ bezieht sich auf die realistische Einsicht, dass das Leben im endlosen Rad der Wiedergeburten von Leiden und permanenter Veränderung geprägt ist, da sich jedes Lebewesen immer wieder Krankheit, Alter und Tod gegenübersieht.168 Die zweite berichtet von der Entstehung des Leidens, die auf den ‚Durst nach Dasein‘ zurückgeführt wird. Demensprechend ist in der dritten Wahrheit die Vernichtung dieses ‚Durstes‘ oder dieser Begierde als Aufhebung des Leidens bezeichnet. Die vierte Wahrheit befasst sich mit dem Weg zur Aufhebung des Leidens durch die Befolgung des ‚Achtfachen Pfades‘. Diese vier Einsichten werden im ersten Teil des Romans thematisiert. Auch Siddhartha bezeichnet zuweilen das Leben als „Qual“169 und sucht einen Weg, um dem „trüben Rausch des Kreislaufs“170 zu entrinnen (erste Wahrheit). Er fühlt sich getrieben von einem permanenten „Durst“171, der nicht gelöscht werden kann. Die Askese bietet keine Erlösung von diesem Durst: er findet sich nach jeder Übung „erwachend wieder […], schwang im Kreislauf, fühlte Durst, überwand den Durst, fühlte neuen Durst“172 (zweite Wahrheit). Daraufhin erreicht ihn die Kunde vom Buddha, der „in sich das Leid der Welt überwunden und das Rad der Wiedergeburten zum Stehen gebracht“173 habe. Als er dem Buddha begegnet, sieht er mit eigenen Augen, dass die Aufhebung des Leidens in der Vernichtung dieses Daseinsdurstes besteht: der Buddha hat einen „unantastbaren Frieden“174 erlangt und strahlt völligen Gleichmut aus (dritte Wahrheit). Siddhartha hört sich daraufhin die Lehre des Buddha an, der über die „vier Hauptsätze“ und den „acht|| 167 Eine ausführliche Zusammenfassung dieser beiden Elemente findet sich in den Kapiteln II–V bei Rahula: Vgl. Rahula, Walpola: What the Buddha taught. S. 16–50. Hesse entnimmt seine Kenntnis vermutlich zum einen aus den Orginaltexten und zum anderen aus der Darstellung bei Oldenberg: Vgl. Oldenberg, Hermann: Buddha. S. 215ff. 168 Rahula weist darauf hin, dass die Übersetzung von dukkha mit ‚Leiden‘ unvollständig ist: es soll kein pessimistisches Weltbild vermittelt werden, sondern ein realistischer Blick auf die Vergänglichkeit des eigenen Lebens und Strebens geworfen werden. Er übersetzt dukkha daher mit ‚suffering‘, ‚impermanence‘, ‚emptiness‘, ‚insubstantiality‘. Vgl. Rahula, Walpola: What the Buddha taught. S. 17. 169 Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 380. 170 Ebd. S. 381. 171 Ebd. S. 376. 172 Ebd. S. 382. 173 Ebd. S. 385. 174 Ebd. S. 390.

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fachen Pfad“175 predigt. Er wird jedoch nicht zum Mitglied im sangha, sondern verweist im Gespräch mit dem Buddha darauf, dass er den Pfad selbst beschreiten und erfahren muss: denn die reine Lehre enthält eben nicht, „das Geheimnis dessen, was der Erhabene selbst erlebt hat“176 (vierte Wahrheit). Damit wendet sich Siddhartha nicht vom Buddhismus ab, wie so oft in der Forschung behauptet wird177, sondern er steht in bester buddhistischer Tradition: denn das Wissen um den Pfad ist nicht der Pfad selbst. Die vierte Wahrheit von der Befolgung des ‚Achtfachen Pfades‘ muss nicht gewusst, sondern gelebt werden, um zur Erleuchtung zu gelangen.178 Dementsprechend zeichnet der zweite Teil des Romans die Erlebnisse Siddharthas nach, die ihn zur Befolgung des ‚Achtfachen Pfades‘ führen. Dieser lässt sich in acht Anforderungen unterteilen, die wiederum in drei Gruppen zerfallen. In Anlehnung an die Erläuterungen bei Rahula lassen sich diese drei Gruppen wie folgt schematisch darstellen: 1.

Right Understanding

2.

Right Thought

3.

Right Speech

4.

Right Action

5.

Right Livelihood

6.

Right Effort

7.

Right Mindufulness

8.

Right Concentration

Wisdom

Ethical Conduct

Mental Discipline 179

|| 175 Ebd. S. 391. 176 Ebd. S. 394. 177 Vgl. beispielsweise Liu, Weijian: Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. S. 63.; Hsia, Adrian: Siddhartha. S. 150ff. 178 Vgl. dazu Rahula: „The Fourth Noble Truth is the Path leading to the realization of Nirvana. A mere knowledge of the Path, however complete, will not do. In this case our function is to follow it and keep to it.“ (Rahula, Walpola: What the Buddha taught. S. 50). Er verweist außerdem darauf, dass der Buddha in seinen Lehrreden den Zweifel an sich und seiner Lehre nachdrücklich unterstützt, um das eigene Denken und Erleben der Mönche zu fördern. (Vgl. ebd. S. 3). 179 Vgl. ebd. S. 45–50.

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Siddharthas Weg im zweiten Teil des Romans beginnt mit den Erfahrungen, die hier unter ‚Ethical Conduct‘ dargestellt sind: sein Leben bei den Stadtmenschen endet in der Negation aller drei hier genannten Tugenden. Durch das Leben im Dienst des Kaufmanns Kamaswami erfährt er, was es bedeutet, sein Leben nicht mit der ‚Right Livelihood‘ zuzubringen. Er verdient sein Geld durch Geschäftemacherei und empfindet deswegen bald Missgunst, Neid und Habgier.180 Auch sein tägliches Handeln ist weit vom Ideal der ‚Right Action‘ – also eines friedfertigen Handelns, das vom Mitgefühl geprägt ist – entfernt. Siddhartha wird spielsüchtig und verliert jegliche Gutmütigkeit gegen andere.181 Er äußert sich ärgerlich und unzufrieden und beginnt, seine Mitmenschen zu belügen – auch das letzte Ideal der ‚Right Speech‘ verneint er in seinem Handeln.182 Das Gegenbild zu dieser Negation findet er nach seinem Selbstmordversuch beim Fährmann Vasudeva, der alle drei Tugenden verkörpert (er hat einen Beruf, mit dem er anderen dient, zeigt sich stets hilfsbereit und mitfühlend und macht sparsamen Gebrauch von Worten). Der auf die Stadt-Episode folgende Teil der Erzählung, die sich bei Vasudeva am Fluss abspielt, ist – neben dem positiven Beispiel für den ‚Ethical Conduct‘ – der Dreiergruppe der ‚Mental Discipline‘ gewidmet. Von Vasudeva lernt Siddhartha insbesondere die Tugend der ‚Right Mindufulness‘, der vollkommen gegenwärtigen und nicht wertenden Aufmerksamkeit. Dies wird besonders deutlich, wenn das Zuhören Vasudevas beschrieben wird: Beim Erzählen bemerkt Siddhartha, wie „Vasudeva seine Worte in sich einließ, still, offen, wartend, wie er keines verlor, keines mit Ungeduld erwartete, nicht Lob noch Tadel danebenstellte, nur zuhörte“183. Beim Fährmann übt sich Siddhartha darüber hinaus in der Meditation und der ‚Right Concentration‘: es wird immer wieder beschrieben, wie er sich nach dem Vorbild des Flusses in die Versenkung begibt.184 Während seiner Zeit bei Vasudeva entwickelt sich zuletzt auch jener ‚Right Effort‘, den er bei den Stadtmenschen verloren hatte: er bemüht sich, sein Bewusstsein frei von allen Bindungen zu halten, was ihm zum Schluss gelingt, als er seinen Sohn ziehen lässt, anstatt ihm sein eigenes Lebensideal aufzuzwingen.185 Am Ende des Romans hat Siddhartha die Tugenden der Weisheit verinnerlicht: ‚Right Understanding‘ umfasst die Einsicht in die ‚Vier edlen Wahrheiten‘ und einen ungetrübten Blick auf die

|| 180 Vgl. Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 423f. 181 Vgl. ebd. S. 425. 182 Vgl. ebd. S. 426. 183 Ebd. S. 441. 184 Vgl. ebd. S. 456. 185 Vgl. ebd. Kapitel ‚Der Sohn‘.

258 | Sinceritas und Ironie: Mythisches Erzählen bei Hermann Hesse und Thomas Mann

Realität des Daseins. Dies schließt auch all jene Einsichten ein, die Siddhartha von der Beobachtung des Flusses lernt. Dies ist zum einen die Entdeckung, dass Zeit und Raum Kategorien des Bewusstseins und damit „nicht wirklich“186 sind, was in der Metapher des Flusses zusammengefasst wird: Siddhartha sieht, dass […] der Fluß überall zugleich ist, am Ursprung und an der Mündung, am Wasserfall, an der Fähre, an der Stromschnelle, im Meer, im Gebirge, überall, zugleich und daß es für ihn nur Gegenwart gibt, nicht den Schatten Zukunft.187

Zum anderen gehört zum ‚Right Understanding‘ die Einsicht in die All-Einheit des Seins, die im Siddhartha als Kern der Weisheit beschrieben wird: Langsam blühte, langsam reifte in Siddhartha die Erkenntnis, das Wissen darum, was eigentlich Weisheit sei, was seines langen Suchens Ziel sei. Es war nichts als eine Bereitschaft der Seele, eine Fähigkeit, eine geheime Kunst, jeden Augenblick, mitten im Leben, den Gedanken der Einheit zu denken, die Einheit fühlen und einatmen zu können.188

Hieraus wird überdies deutlich, dass mit ‚Right Thought‘ kein rationales Wissen gemeint ist, sondern ein erlebtes Verstehen. Unterschieden wird in der buddhistischen Tradition zwischen „knowledge (anubodha)“ als Bereich des rationalen Wissens und „penetration (pativedha)“ als tiefes Verstehen der Realität oder als „seeing a thing in its true nature, without name and label“189. So zweifelt auch Siddhartha schließlich, ob „Wissen“ tatsächlich „so sehr hoch zu werten“ sei, oder ob das Hängen an Begriffen möglicherweise eine „Kinderei der Denkmenschen“190 sei. Zum Bereich des ‚Right Thought‘ gehört abschließend und aus den vorherigen Einsichten resultierend die Liebe zu und das Mitgefühl mit der gesamten Schöpfung. Das „Mitleid“191 ist die hervorstechende Eigenschaft des Buddha und der Grund, warum er nach seiner Erleuchtung nicht direkt ins Nirvana eingeht, sondern bleibt, um seine Lehre von der Erlösung vom Leiden zu verbreiten. ‚Right Thought‘ beinhaltet dementsprechend „thoughts of selfless renunciation or detachment, thoughts of love and thoughts of non-violence, which are extended to all beings“192. Dies wird im Siddhartha ganz zum Schluss des Romans veranschaulicht, wenn Siddhartha seine Liebe zur Schöpfung an-

|| 186 Ebd. S. 466. 187 Ebd. S. 443. 188 Ebd. S. 458. 189 Rahula, Walpola: What the Buddha taught. S. 49. 190 Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 458. 191 Reden des Buddha III. S. 43. 192 Rahula, Walpola: What the Buddha taught. S. 49.

Mythisches Erzählen als Abbild der Psyche bei Hermann Hesse | 259

hand eines Steins erklärt. Dem zuhörenden Govinda erläutert er dabei folgendes: Früher nun hätte ich gesagt: ‚Dieser Stein ist bloß ein Stein, er ist wertlos, er gehört der Welt der Maja an […]. Heute aber denke ich: dieser Stein ist Stein, er ist auch Tier, er ist auch Gott, er ist auch Buddha, ich verehre und liebe ihn nicht, weil er einstmals dies oder das werden könnte, sondern weil er alles längst und immer ist – und gerade dies, daß er Stein ist, daß er mir jetzt und heute als Stein erscheint, gerade darum liebe ich ihn […].193

In dieser kurzen Rede über den Stein sind alle drei Elemente der erlebten ‚Weisheit‘ miteinander verbunden: die Idealität von Zeit und Raum (der Stein ist ‚längst und immer‘ alles zugleich), die Einheit alles Seienden (er ist zugleich Stein, Tier, Gott und Buddha) und die aus dieser Einsicht resultierende Liebe zur gesamten Schöpfung (selbst zu einem unbelebten Stein). So wird zum Schluss des Romans klar, dass Siddhartha die Anforderungen des ‚Achtfachen Pfades‘ gemeistert und die Erleuchtung erlangt hat. Angesichts dieser Befunde erscheint es überzeugend, die Verbindung von Struktur und Inhalt des Siddhartha als literarische Veranschaulichung der buddhistischen Lehre zu interpretieren, die im Romangeschehen zudem mit den Elementen der mythischen Lebensgeschichte des Buddha verbunden wird. Die zwei Teile des Romans beschreiben in den vier Kapiteln des ersten Teils die Erkenntnis der ‚Vier edlen Wahrheiten‘ und in den acht Kapiteln des zweiten Teils die Umsetzung des ‚Achtfachen Pfades‘ während sie gleichzeitig gemeinsam den ‚mittleren Weg‘ symbolisieren. Die Modifikation der BuddhaBiographie ist zum einen dieser strukturellen Aufteilung in die beiden Extrembereiche des ‚Lebens in Lüsten‘ und des ‚Lebens in Askese‘ geschuldet und dient zum anderen dazu, die Individualität des Suchenden auf dem Pfad zur Vollendung zu illustrieren. Insgesamt gesehen überwiegen sicherlich die buddhistischen Einflüsse, aber es fließen – gerade zum Ende der Erzählung – darüber hinaus auch taoistische Symbole in die Gestaltung des Siddhartha mit ein.194 So bekennt Hesse in einem Brief, dass „der Schluß des ‚Siddhartha‘ […] beinahe mehr taoistisch als indisch“195 geraten sei. Da es im Taoismus, der auf Lao Tse und seine Nachfolger || 193 Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 467. 194 Zu den taoistischen Einflüssen im Siddhartha vgl. Hsia, Adrian: Hermann Hesse und China. Darstellung, Materialien und Interpretation. Erw. Neuausgabe. Frankfurt a. M. 2002; Ders.: Siddhartha. In: Cornils, Ingo (Hg.): A companion to the works of Hermann Hesse. Rochester 2009. S. 149–170; Liu, Weijian: Die daoistische Philosophie im Werk von Hesse, Döblin und Brecht. Bochum 1991. 195 Brief Hesses an Helene Welti vom 29.08.1922. In: GB II. S. 28.

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Dschuang-Dsi und Liezi zurückgeht, im Vergleich zum Hinduismus weniger Mythen oder mythische Helden gibt, auf die sich Bezug nehmen ließe, arbeitet Hesse im Siddhartha Symbole und Personifikationen ein, die den Inhalt der klassischen taoistischen Weisheitssprüche transportieren. Die drei zentralen Konzepte im Taoismus – tao, yin yang und wu-wei - werden alle auf unterschiedliche Weise in den Roman integriert. Der Begriff tao ist seit Beginn der deutschen Taoismus-Rezeption im 18. Jahrhundert mit den verschiedensten Bedeutungen übersetzt worden (z.B. Leben, Sinn, Weg) und ist im Grunde unübersetzbar.196 Das liegt vor allem daran, dass die Bedeutung von tao in LaoTses Texten als das Unaussprechliche bezeichnet wird. Der erste Vers des ersten Spruches im Tao Te King macht dies deutlich: „Der SINN [tao, E.K.], der sich aussprechen läßt, ist nicht der ewige SINN.“197 Tao ist der unbeschreibbare Urgrund des Seins, der sich nicht „sehen, hören, fühlen oder mit Worten fassen lässt“198 und aus dem die gesamte Schöpfung entspringt: Das Dao bringt die Eins, den ursprünglichen Anfang aller Erscheinungen hervor. Diese Eins erzeugt weiterhin zwei Kräfte, Yin und Yang, die im symbolischen Bild des Taiji, dem Modell des Dao enthalten sind und die als Polarität jeweils das Empfangende und das Schöpferische symbolisieren. Diese zwei Kräfte schließen sich zusammen und bilden eine neue Einheit – die Drei. Aus der steten Vereinigung von Schöpferischem und Empfangendem gehen die zehntausend Erscheinungen hervor. Demnach ist das Dao der Urgrund all dessen, was ist.199

Das Problem der Unsagbarkeit wird im Tao Te King umgangen, indem das tao in immer neuen Metaphern und Gleichnissen ausgedrückt wird, die es umschreiben. Eine der am häufigsten wiederkehrenden Metaphern für tao ist das Wasser oder der Fluss. Auf einige dieser Sprüche wird im Siddhartha direkt Bezug genommen, so heißt es beispielsweise im 32. Spruch des Tao Te King: Man kann das Verhältnis des SINNS zur Welt vergleichen mit den Bergbächen und Talwassern, die sich in Ströme und Meere ergießen.200

|| 196 Zur Geschichte der Taoismus-Rezeption in Deutschland vgl. Liu, Weijian: Die daoistische Philosophie. S. 15–41. 197 Lao Tse: Tao Te King. Das Buch vom Sinn und Leben. Übers. von Richard Wilhelm. 2. Aufl. Hamburg 2013. 1. Spruch, S. 34. 198 Liu, Weijian: Die daoistische Philosophie. S. 11. 199 Ebd. 200 Lao Tse: Tao Te King. 32. Spruch, S. 65.

Mythisches Erzählen als Abbild der Psyche bei Hermann Hesse | 261

Im Schlussteil des Romans beschließt Siddhartha, von einem Fluss zu lernen und glaubt, dass derjenige, der „dies Wasser und seine Geheimnisse verstünde“, letztlich „alle Geheimnisse“ verstehen könne.201 Auch er lässt sich also auf das Wasser als Gleichnis ein und erlangt seine oben bereits beschriebenen Einsichten ohne die Vermittlung durch Worte. Auch der Fährmann Vasudeva scheint die Verbindung von Wasser und tao zu kennen, denn er zitiert beiläufig einen weiteren Spruch aus dem Tao Te King: er bestärkt Siddhartha darin zu glauben, dass „Weich stärker ist als Hart, Wasser stärker als Fels, Liebe stärker als Gewalt“ und bezieht sich damit auf den 78. Spruch Lao Tses. Auf der ganzen Welt gibt es nichts Weicheres und Schwächeres als Wasser. Und doch in der Art, wie es dem Harten zusetzt, kommt ihm nichts gleich. Es kann durch nichts verändert werden. Daß Schwaches das Starke besiegt Und Weiches das Harte besiegt, weiß jedermann auf Erden, aber niemand vermag danach zu handeln.202

Auch auf den 66. Spruch, in dem es heißt, dass Flüsse „sich gut unten halten können“203, nimmt er Bezug, wenn er Siddhartha dafür lobt, dass er vom Fluss gelernt habe, „nach unten zu streben, zu sinken, die Tiefe zu suchen“204. Der Fährmann Vasudeva wird zum Schluss des Romans mit dem Fluss verglichen und dementsprechend als taoistischer Weiser inszeniert. Siddhartha erkennt, dass Vasudeva mit dem „Fluß selbst“205 identisch ist, dass auch der das tao repräsentiert. Er zeigt sich überdies als ein Meister des taoistischen wu-wei, des „NichtHandeln[s]“ oder „Nicht-Widerstreben[s]“206. Wu-wei ist nicht mit Passivität gleichzusetzen, sondern bezieht sich auf ein Handeln ‚im Fluss‘ des Geschehens, das dem Lauf der Natur nicht widerstrebt. Der taoistische Weise hält sich „frei von Geschäftigkeit“207 und „verweilt im Wirken ohne Handeln“208. Auch

|| 201 Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 439. 202 Lao Tse: Tao Te King. 78. Spruch. S. 112. 203 Ebd. 66. Spruch. S. 100. 204 Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 442. 205 Ebd. S. 460. 206 Liu, Weijian: Die daoistische Philosophie. S. 12. 207 Lao Tse: Tao Te King. 48. Spruch. S. 82. 208 Ebd. 2. Spruch. S. 35.

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Vasudeva lebt nach diesem Prinzip, er ist stets präsent und gleichmütig, greift aber nie aktiv ins Geschehen ein. Das zeigt sich beispielsweise an seinem Verhalten gegenüber Siddharthas Sohn, den er – im Gegensatz zu Siddhartha – nicht zu seiner eigenen Lebensweise bekehren will, sondern ihn seinen eigenen Weg verfolgen lässt.209 Er ist überdies kein Freund der großen Worte und hält sich an den taoistischen Weisheitsspruch „Der Wissende redet nicht. Der Redende weiß nicht.“210: Sieh, ich bin kein Gelehrter, ich verstehe nicht zu sprechen, ich verstehe auch nicht zu denken. Ich verstehe nur zuzuhören und fromm zu sein, sonst habe ich nichts gelernt. Könnte ich es sagen und lehren, so wäre ich vielleicht ein Weiser, so aber bin ich nur ein Fährmann […].211

Hesse selbst bezeichnet Vasudeva als „freundlichen alten Trottel, der […] heimlich ein Heiliger ist“212 und rückt ihn damit in die Nähe Lao Tses, der sich selbst als ‚Idiot‘ bezeichnet haben soll.213 Gleichzeitig steht jedoch nicht in Frage, dass Vasudeva im Besitz der wahren Weisheit ist, die nicht ausgesprochen werden kann.214 In humorvoll-ironischer Weise personifiziert Vasudeva damit die taoistische Ablehnung jeglicher Lehre215 in Anlehnung an Lao Tse, der sich geweigert haben soll, eine Schule zu gründen oder feste Lehrsätze zu hinterlassen. Blickt man an dieser Stelle an den Anfang des Romans zurück, so zeigt sich überdies, dass Siddharthas Lehrer im Verlauf seiner Lebensgeschichte immer weniger Worte verwenden: am Anfang steht die wortreiche metaphysische Spekulation der Brahmanen über atman und brahman, die auch von den Samanas als Grundlage ihres Suchens akzeptiert wird. Als Siddhartha dann die Lehre des Buddha auf eine „Lücke“ hin zu analysieren beginnt, warnt dieser ihn vor dem „Dickicht der Meinungen und vor dem Streit um Worte“216. Vasudeva als taoistischer Weiser schließlich weigert sich, irgendeine Lehre in Worte zu fassen und

|| 209 Vgl. Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 450. 210 Lao Tse: Tao Te King. 56. Spruch. S. 90. 211 Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 442. 212 Brief Hesses an Emmy Ball vom 02.06.1922. In: Michels, Volker: Materialien zu Siddharta. S. 163. 213 Vgl. dazu Hsia, der Vasudeva für ein Portrait Lao Tses hält. Hsia, Adrian: Siddhartha und China. S. 203. 214 Vgl. Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 458. 215 Vgl. ebd. S. 384; 464; 468. 216 Ebd. S. 394.

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verweist Siddhartha an den Fluss.217 Erst beim stummen Zuhören und Beobachten des Flusses erlangt Siddhartha am Ende die gesuchte Einsicht. Es ist daher auch charakteristisch für den Roman, dass die drei Grundeinsichten, die Hesse als gemeinsame Essenz der hinduistischen, buddhistischen und taoistischen Tradition ansieht, in Form von Symbolen, Metaphern, Lauten und Personifikationen in den Roman eingearbeitet sind: von dem Fluss als Leitmotiv (das im Folgenden noch eingehender analysiert wird) über die mythische Lebensgeschichte des Buddha bis hin zum Laut Om und Vasudeva als Personifikation des taoistischen Weisen. 4.1.1.1.3 Antike griechische Mythen In Narziß und Goldmund teilt Hesse – wie bereits im Siddhartha – die Motive einer mythischen Erzählung auf mehrere Charaktere auf. Ebenso wie Siddhartha und Buddha Gautama als Figuren beide Anteil an der Buddha-Legende haben, sind in diesem Roman Elemente aus dem griechischen Mythos um den sich selbst bespiegelnden Jüngling Narziß auf die beiden Protagonisten verteilt. Die innere Zusammengehörigkeit der beiden Hauptfiguren Narziß und Goldmund wird durch ein intertextuelles Spiel mit den antiken mythischen Motiven akzentuiert.218 Der Narziß-Mythos erhält seine kanonische Form in der Erzählung aus Ovids Metamorphosen.219 In dieser Version wird Narziß, dem Sohn der Liriope und des Cephius, von einem Seher prophezeit, dass er lange leben werde, „wenn er sich fremd bleibt“220. Bereits als Jüngling wird er aufgrund seiner Schönheit von allen geliebt, liebt aber selbst niemanden: „Niemand vermochte den Schönen zu rühren, kein Jüngling, kein Mädchen.“221 Auch die Liebesbekundungen der Nymphe Echo weist er harsch zurück und wird daraufhin von der Göttin von Rhamnus (Nemesis) verflucht.222 Als er an einer kühlen Quelle rastet, sieht er im || 217 Vgl. ebd. S. 442. 218 Zur Rolle des Narziß-Mythos in Narziß und Goldmund vgl. Kaminski-Knorr, Katharina: Zur Problematik der psychoanalytischen Symbol- und Mythentheorie. Eine Auseinandersetzung mit dem Narziß-Mythos. Berlin 1990; Moritz, Julia: Narkissos und Chrysostomos. Oder „dahin, wo es weniger weh tut“. Metamorphosen des Mythos in Hermann Hesses Roman ‚Narziß und Goldmund’. In: Mirtschev, Bogdan u. a. (Hg.): Mythos und Krise in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Dresden 2004. S. 217–236; Nicolai, Ralf: Hesses Narziß und Goldmund. Kommentar und Deutung. Würzburg 1997. 219 Ovid: Metamorphosen. Übers. und hg. von Hermann Breitenbach. Ditzingen 1988. 220 Ovid: Metamorphosen. 3, 348. 221 Ebd. 3, 354. 222 Vgl. ebd. 3, 390ff.

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Wasser sein eigenes Spiegelbild und verliebt sich in dieses.223 Er wird rasend darüber, dass er das geliebte Spiegelbild „nicht greifen“224 kann und begeht aus unerfüllter Liebe Selbstmord. An der Stelle, an der er stirbt, blüht später eine Narzisse.225 Der Mythos hat in der abendländischen Geistesgeschichte die unterschiedlichsten Deutungen erfahren226: im Neuplatonismus wird die Figur des Narziß beispielsweise als „Symbol der Seele“ gedeutet, „die durch Hingabe an das Scheinbild der Sinnenschönheit in geistiger Finsternis versinkt“227, während die mittelalterlichen Deutungen den Fokus auf die „hoffnungslose Liebe“228 legen. Francis Bacons Interpretation des Narziß-Mythos als „Symbol der Selbstliebe“229 läutet die moderne Sichtweise auf die Erzählung ein, die sich um Selbsterkenntnis und Subjektivität dreht: In der Romantik gewinnt der Mythos im Rahmen der Subjektivität des Künstlers wieder neue Aktualität, die in der Décadence zum Motiv der künstlerischen Selbstbespiegelung überzeichnet wird.230 In seiner Schrift Zur Einführung des Narzißmus (1914) prägt Sigmund Freud schließlich ein pathologisches Verständnis der Narziß-Figur, indem er Narzissmus als Verschiebung des Libido-Objektes auf die eigene Person definiert. In Hesses Narziß und Goldmund trägt zwar nur einer der beiden Protagonisten den Namen Narziß, aber die Motive aus dem Mythos werden auch auf dessen Freund Goldmund übertragen. Zu Beginn des Romans erscheint zunächst Narziß als der schöne und hochmütige Jüngling, dem die Liebe aller zufliegt, der aber im Gegenzug selbst niemanden liebt: alle im Kloster sind „von Narziß bezaubert, dem Wunderknaben, dem schönen Jüngling“ und viele sind „in ihn verliebt“, obwohl der Abt ihn für „hochmütig“231 hält. Er hat „keine Freunde“ und wünscht sich schon in jungen Jahren, in die „Einsiedelei“232 gehen zu dürfen. Narziß hat Macht über seine Mitbrüder, weil er „ein Gefühl für die Art und

|| 223 Vgl. ebd. 3, 415ff. 224 Ebd. 3, 447. 225 Vgl. ebd. 3, 509f. 226 Vgl. Frenzel, Elisabeth: Art. Narziß. In: Dies.: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 9. erw. Aufl. Stuttgart 1998. S. 566–572; Kaminski-Knorr, Katharina: Zur Problematik der psychoanalytischen Symbol- und Mythentheorie. S. 121ff. 227 Frenzel, Elisabeth: Art. Narziß. S. 567. 228 Ebd. 229 Ebd. S. 568. 230 Vgl. ebd. S. 570f. 231 Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. S. 273. 232 Ebd. S. 274.

Mythisches Erzählen als Abbild der Psyche bei Hermann Hesse | 265

Bestimmung der Menschen“233 hat und in ihren Seelen zu lesen versteht. Gleichzeitig scheint ihm jedoch die Liebesfähigkeit zu fehlen: im letzten Gespräch mit Goldmund gibt er zu, dass sein Leben „arm an Liebe“234 gewesen sei und er niemanden außer Goldmund je geliebt habe. Hier ist bereits angedeutet, dass Goldmund – als einiger Mensch, den Narziß lieben kann – die Funktion des Spiegelbildes für Narziß erfüllt. Auch er, der ebenfalls von allen (und insbesondere von den Frauen) geliebt wird, bezeichnet sein Leben im Rückblick mit exakt den selben Worten als „arm an Liebe“235. Die Frau, die er am meisten begehrt, ist ihm selbst am ähnlichsten, oder in anderen Worten, „seinesgleichen“236. Diese selbstbezogene Art der Liebe wird mit dem Motiv des Spiegelbilds verbunden, das die Goldmund-Figur begleitet. Sogar die Werbung um die Frau, die ‚seinesgleichen‘ ist, wird über dieses Motiv als selbstreflexive Liebe gekennzeichnet: Alsbald erfuhr er, sie wohne im Schloß und sei Agnes, die Geliebte des Statthalters; es setzte ihn nicht in Erstaunen, sie hätte die Kaiserin selbst sein können. An einem Brunnenbecken blieb er stehen und suchte sein Spiegelbild. Das Bild passte brüderlich zum Bild der blonden Frau, nur war es gar sehr verwildert.237

Im Laufe des Romans wird Goldmund noch öfters bei der Selbstbespiegelung dargestellt: er wird wie magisch vom Wasser angezogen und sucht sein Bild immer wieder im „dunklen Brunnenspiegel“238, um die Veränderungen festzustellen, die er durchläuft. Zuletzt betrachtet er sich selbst als alter Mann im Spiegel und erkennt Spuren seiner einstigen Weggefährten in seinem eigenen Gesicht.239 Goldmund bespiegelt sich jedoch nicht nur selbst, sondern er dient – wie bereits erwähnt – auch seinem Freund Narziß als Spiegelbild. In Abweichung von der mythischen Vorlage ist Goldmund jedoch ein lebendiges Gegenbild, das Narziß nicht gleicht, sondern im Sinne einer Ergänzung zeigt, was diesem fehlt. So sieht Narziß in Goldmund bereits bei seiner Ankunft im Kloster den geistig „Verwandten“, der „in allem sein Gegenspiel zu sein schien“240 und erkennt in ihm eine Ergänzung zu seiner eigenen Persönlichkeit. Er beschreibt

|| 233 Ebd. S. 275. 234 Ebd. S. 526. 235 Ebd. S. 498. 236 Ebd. S. 467. 237 Ebd. S. 468. 238 Ebd. S. 398. 239 Vgl. ebd. S. 523. 240 Ebd. S. 282.

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„Goldmunds Natur“ als „die andere, verlorene Hälfte seiner eigenen“241, lange bevor Goldmund dies selbst begreift. Das Verhältnis der beiden Freunde wird zudem in ähnlichen Bildern beschrieben wie in der mythischen Vorlage: ebenso wie Narziß sein geliebtes Spiegelbild ‚nicht greifen‘ kann, können die beiden so verschiedenen Freunde sich nie ganz zu fassen bekommen. So erklärt Narziß: ‚Es ist nicht unsere Aufgabe, einander näherzukommen, sowenig wie Sonne und Mond zueinander kommen oder Meer und Land. […] Unser Ziel ist nicht, ineinander überzugehen, sondern einander zu erkennen und einer im andern das sehen und ehren zu lernen, was er ist: des anderen Gegenstück und Ergänzung.‘242

Goldmund versteht Narziß´ Worte erst, nachdem er sich weit genug entwickelt hat, um sich selbst als „sein Gegenspiel“243 zu erkennen und einzusehen, dass beide durch ihre Verschiedenheit ebenso voneinander getrennt sind wie Narziß und sein Spiegelbild: „Man konnte sich nach Narziß bis zu Tränen sehnen […] – ihn erreichen, werden wie er konnte man nicht.“244 Die selbstreflexive Komponente des Mythos, die in der Moderne zum Teil auch als pathologische Selbstbespiegelung thematisiert wird, erfährt durch die Aufspaltung in zwei Figuren jedoch auch eine positive Konnotation. Die Liebe zwischen Narziß und Goldmund wird als Suche nach der Ganzheit der Persönlichkeit inszeniert, die eine Brücke zwischen den unterschiedlichen Charakteren bildet. Das intertextuelle Spiel mit den Elementen des Narziß-Mythos, zu denen neben dem Liebes- und dem Spiegelmotiv auch noch die Verknüpfung zwischen (Selbst-)Erkenntnis und Tod gehört245, untermalt die innere Verbindung der beiden Figuren, deren Einheit auf ihrer sich gegenseitig ergänzenden Verschiedenheit beruht. Der Narziß-Mythos ist zwar die dominante, aber nicht die einzige mythische Vorlage aus der Antike, die in den Roman eingewoben wird. Goldmund, dessen Lebenslauf die Erzählung hauptsächlich nachzeichnet, wird zusätzlich zu den Narziß-Bezügen zum einen als Sohn-Geliebter der ‚Großen Mutter‘ inszeniert und in seiner künstlerischen Tätigkeit zum anderen mit der Prometheus-Figur in Beziehung gesetzt. Wie bereits im Demian wird auch in Narziß und Goldmund erneut die Beziehung der mythischen ‚Großen Mutter‘ zu ihrem Sohn-Geliebten aufgegriffen.

|| 241 Ebd. S. 293. 242 Ebd. S. 303f. 243 Ebd. S. 410. 244 Ebd. 245 Vgl. dazu Moritz, Julia: Narkissos und Chrysostomos. S. 230ff.

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Auch hier ist der Protagonist auf der Suche nach dem universellen Bild der „Menschenmutter“246, die jedoch – anders als Frau Eva im Demian – nicht in einer einzigen Figur personifiziert ist, sondern als eine Art Archetyp in all den unterschiedlichen Frauenfiguren des Romans präsent ist. Ausgehend von Goldmunds Wiedererinnerung an die vom Vater verschmähte eigene Mutter, sucht er die „unsäglich Geliebte“247 in allen Frauen, denen er begegnet. Immer wieder erscheint ihm die Große Göttin als eine Art Vision, die er künstlerisch gestalten will: [D]as Gesicht der Mutter […] war schon seit langer Zeit nicht mehr dasselbe, wie es ihm einst, nach den Gesprächen mit Narziß, aus verlorenen Erinnerungstiefen wieder erschienen war. In den Tagen der Wanderung, in den Liebesnächten, in den Zeiten der Sehnsucht, den Zeiten der Lebensgefahr und Todesnähe hatte das Muttergesicht sich langsam verwandelt und bereichert […]; es war nicht mehr das Bild seiner eigenen Mutter, sondern aus dessen Zügen und Farben war nach und nach ein nicht mehr persönliches Mutterbild geworden, das Bild einer Eva, einer Menschenmutter.248

Maßgeblich für den Roman ist vor allem die in den vorchristlichen Mythen beschriebene Rolle der ‚Großen Mutter‘ als Herrin über Leben und Tod des Sohnes, die mit dem Lauf der Jahreszeiten verknüpft ist: Alle alten Kulturen Klein- und Vorderasiens einschließlich Mesopotamiens […] verehrten eine Muttergottheit, die immer zusammen mit ihrem Sohn und gleichzeitigen Gatten erscheint. Dieses göttliche Paar waren bei den Sumerern Inanna und Dumuzi, hießen auf akkadisch Ischtar und Tammuz, im Phrygischen Kybele und Attis, im Griechischen Aphrodite und Adonis. Der Sohn (meist als hübscher Knabe dargestellt) wurde entweder ermordet, oder von einem wilden Tier zerfleischt. Dem Tod des Sohnes entsprach das Ende der Vegetationsperiode. Nach einer Zeit der Trauer stieg die Muttergöttin in die Unterwelt und löste ihren Sohn aus. Mit dem Wiedererscheinen der beiden auf der Erde begann der neue Frühling und Jahreszyklus.249

Auch Goldmunds Leben und Sterben ist eindeutig an die Jahreszeiten gebunden: im Frühling zieht er als junger Mann aus dem Kloster aus, im „Spätherbst“250 tritt er gealtert seine letzte Wanderung an und stürzt vom Pferd, im

|| 246 Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. S. 405. 247 Ebd. S. 313. 248 Ebd. S. 405. 249 Huber, Peter: Goldmunds Weg zu den Müttern. Hermann Hesses Erzählung ‚Narziß und Goldmund‘ vor dem Hintergrund der Mutterrezeption im frühen 20. Jahrhundert. In: Ponzi, Mauro (Hg.): Hermamn-Hesse-Jahrbuch. Bd. 9. Würzburg 2017. S. 85–120. S. 92. 250 Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. S. 497.

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Winter stirbt er schließlich.251 Sein Tod wird als Rückkehr zur Mutter dargestellt, die ihn „zum Sterben verführt“252, nachdem sie ihn sein ganzes Leben lang in unterschiedlichen Formen als Geliebte begleitet hat. Wie bereits gezeigt wurde, wird das Muttersymbol von Bachofen und Klages in der Moderne zum Sinnbild des organischen Lebens erhoben, von dem alles kommt und zu dem alles zurückkehrt. Die ‚Mutter Erde‘ ist mit dem Zyklus des Lebens verbunden, mit dem Leben, Sterben und Neugeborenwerden des Menschen analog zum Rhythmus der Natur. Der zyklische Ablauf als „Gesetz immer sich wiederholender Wiederholung des Gleichen“253 bestimmt das Leben des mythischen mit der Mutter verbundenen Sohnes. Die Verbindung der Mutter mit Leben und Tod wird bereits zu Beginn des Romans exponiert: als Narziß in Goldmund die Erinnerung an die vergessene Mutter wachruft, durchzieht der „Duft von Rosen“254 die Luft, die im weiteren Verlauf des Romans leitmotivisch mit Goldmunds Mutterbindung und seinem Liebesleben verbunden sind. Gleich darauf fällt Goldmund jedoch in Ohnmacht, nachdem er einer Variante des dreiköpfigen Zerberus begegnet, der als Wächter des Hades den Übergang von Leben und Tod bewacht: Goldmund stand unter einem der runden schweren Steinbogen, die aus den Gängen ins Kreuzgärtchen führten, von den Säulen des Bogens blickten drei Tierköpfe, steinerne Köpfe von Hunden oder Wölfen, glotzend auf ihn herab. […] Todesangst schnürte ihm Kehle und Magen. Mechanisch aufblickend sah er über sich einen der Säulenknäufe mit den drei Tierköpfen und alsbald war ihm, als säßen, glotzten, bellten die drei wilden Köpfe innen in seinen Eingeweiden. ‚Gleich muß ich sterben“, empfand er ergrausend.255

Sobald das Bild der Mutter in Goldmunds Erinnerung aufzutauchen beginnt, sind die Motive, die Leben und Tod symbolisieren, untrennbar miteinander verschränkt. Das Wiederauferstehungsmotiv fehlt jedoch in der klassischen Form im Roman. Dennoch findet sich eine Anspielung auf den Gang in die Unterwelt: es ist aber nicht die ‚Große Mutter‘, die Goldmund vor dem Tod bewahrt, sondern Narziß. Als Goldmund nach der Agnes-Episode in einen unterirdischen Kerker eingesperrt und zum Tode verurteilt wird, ist es Narziß, der ihn befreit. Am Eingang zu dem Verlies steht ein Knecht mit einer Fackel in der Hand, der auf den Todesgott Thanatos verweisen könnte, der ebenfalls ikono|| 251 Vgl. ebd. S. 507. Vgl. dazu ausführlicher: Kap. IV.1.2.1b). 252 Ebd. S. 531. 253 Klages, Ludwig: Geist als Widersacher. S. 1349. 254 Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. S. 307. 255 Ebd.

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graphisch mit einer Fackel in der Hand dargestellt wird und am Übergang zwischen der Welt der Sterblichen und der des Todes wohnt.256 Die Assoziation der Fackel mit dem Tod wird über den Verlust der sinnlichen Wahrnehmung verdeutlicht: Er konnte nichts sehen als das leise flackernde Licht, das dicht vor sein Gesicht gehalten wurde und ihm in die Augen blendete. Und hinter dem Licht in einer Dämmerung voll Grauen sah er noch etwas, etwas Gestaltloses, Großes, Gespenstisches: den Abgrund, das Ende, den Tod. Mit starren Augen stand er, nichts sehend und hörend.257

Er richtet seine Klage an die Mutter, die ihm als Erinnerungsbild erscheint258, aber es ist Narziß, der als Beichtvater zu ihm kommt und ihn aus dem Verlies befreit.259 Auch hier wird also ein Motiv, das in der mythischen Vorlage klar einer Figur zugeordnet ist, im Roman auf eine zweite Figur übertragen. Neben dem bei Hesse so dominanten Muttermotiv ist abschließend noch auf die Verknüpfung von Goldmunds Künstlertum mit der Prometheus-Figur zu verweisen. Der Titan Prometheus, der Erde und Regenwasser vermischt, um daraus die Menschen zu formen260, wird von Goethe im gleichnamigen Gedicht zur Personifikation der künstlerischen Subjektivität erhoben.261 So taucht die Prometheus-Referenz auch in Narziß und Goldmund genau dann auf, als Goldmund sein künstlerisches Talent entdeckt. Noch während er im Kloster seine ersten Zeichenversuche macht, träumt er davon, Figuren zu kneten262 und fühlt sich beim Malen „wie ein kleiner Herrgott“, der „Kreaturen nach seinem Willen erschaffen“263 kann. Gleich nach seinem Auszug aus dem Kloster begegnet er einem kleinen Jungen, der Ton knetet264 und auch Meister Niklas fragt ihn zuerst, ob er schon einmal mit Ton gearbeitet habe.265 Im Zuge seiner Ausbildung modelliert er Kunstwerke aus Ton, bevor er mit dem Holzschnitzen beginnt, und erinnert sich seines prometheischen Kindheitstraums vom Figurenkneten.266 Die

|| 256 Vgl. ebd. S. 479. 257 Ebd. 258 Vgl. ebd. S. 482. 259 Vgl. ebd. S. 486. 260 Vgl. Ovid: Metamorphosen. 1, 80ff. 261 Vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Prometheus. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. von Friedmar Apel u. a. Bd. 1. Frankfurt a. M./Berlin 1987. S. 203f. 262 Vgl. Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. S. 319. 263 Ebd. S. 342. 264 Vgl. ebd. S. 345. 265 Vgl. ebd. S. 395. 266 Vgl. ebd. S. 406.

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künstlerische Subjektivität wird über die Verweise auf Prometheus – ebenso wie in Goethes Gedicht – mit dem Schöpfungsprozess gleichgesetzt. Betrachtet man die Bezüge zur griechischen Mythologie in ihrer Gesamtheit – gerade im Vergleich mit den asiatischen Motiven im Siddhartha –, so fällt auf, dass sie auf die Individualität der Protagonisten und ihre Selbstreflexivität verweisen. Sowohl das Spiegelmotiv als auch die Anspielungen auf Prometheus dienen dazu, die Charaktere in ihrer Subjektivität darzustellen. 4.1.1.2 Die mythische Heldenreise Neben den inhaltlichen Bezügen zu Mythen lässt sich in Hesses Romanen auch ein immer wiederkehrendes Handlungsschema entdecken: die Orientierung des Erzählflusses an der mythischen Heldenreise.267 Der klassische Ablauf der Reise des mythischen Helden ist bereits bei Leo Frobenius, in Otto Ranks Der Mythus von der Geburt des Helden (1909) und C. G. Jungs Symbole der Wandlung thematisiert worden: er vollzieht sich nach Muster des Rituals in enem Dreischritt aus Aufbruch, Abenteuer und Rückkehr. Der amerikanische Mythenforscher Joseph Campbell hat diese Hinweise systematisch ausgearbeitet und eine detaillierte Beschreibung der Stadien, die der mythische Held auf seiner Reise typischerweise durchläuft, in seinem Standardwerk The Hero with a Thousand Faces (1949) zusammengefasst. Die Stationen der mythischen Heldenreise in ihrer klassischen Form werden im Folgenden zunächst in ihrem vollständigen Ablauf dargestellt. Dabei weist Campbell jedoch selbst darauf hin, dass nicht jede Erzählung einer mythischen Heldenreise alle beschriebenen Stationen tatsächlich beinhalten muss: es können Elemente übersprungen werden oder es findet eine Konzentration auf einen bestimmten Teil der Heldenreise statt, der dann in die Länge gezogen und ausgeschmückt wird.268 Die klassische Struktur der Heldenreise beinhaltet jedoch den bereits erwähnten Dreischritt:

|| 267 In seiner Analyse der Romane ‚Demian‘, ‚Siddhartha‘ und ‚Der Steppenwolf‘ wählt Rickard Scotts als theoretische Basis Campbells Modell der Heldenreise. Dabei orientiert er sich jedoch nicht primär an der mythischen Erzählstruktur der Heldenreise, sondern fokussiert sich auf die innere Struktur der Romane, zu deren Analyse Campbells Ausführungen den Hintergrund bilden. Vgl. Scott, Rickard: The mythological structure of Hermann Hesse's novels ‚Demian’, ‚Siddhartha’, and ‚Der Steppenwolf’. Ann Arbor 1982. 268 Vgl. ebd. S. 212.

Mythisches Erzählen als Abbild der Psyche bei Hermann Hesse | 271

The standard path of the mythological adventure of the hero is a magnificiation of the formula represented in the rites of passage: seperation – initiation – return: which might be named the nuclear unit of the monomyth.269

Innerhalb dieses Dreischritts, der den sogenannten ‚Monomythos‘ bildet, gibt es verschiedene Stationen und typische Erlebnisse, die der Held durchlaufen muss: I DEPARTURE 1. The Call to Adventure 2.

Refusal of the Call

3.

Supernatural Aid

4.

The Crossing of the First Threshold

5.

The Belly of the Whale

II INITIATION 1. The Road of Trials 2.

The Meeting with the Goddess

3.

Woman as the Temptress

4.

Atonement with the Father

5.

Apotheosis

6.

The Ultimate Boon

III RETURN 1. Refusal of the Return 2.

The Magic Flight

3.

Rescue from Without

4.

The Crossing of the Return

5.

Master of the Two Worlds

6.

Freedom to Live270

Threshold

|| 269 Ebd. S. 23. 270 Ebd. S. 28f.

272 | Sinceritas und Ironie: Mythisches Erzählen bei Hermann Hesse und Thomas Mann

Die Heldenreise nimmt ihren Ausgang mit dem Call to Adventure (I.1): der Held wird durch ein Ereignis oder eine von außen kommende Person aus seinem alltäglichen Leben gerissen und zum Aufbruch aufgefordert. Dies kündigt sich oftmals bereits dadurch an, dass der Held beginnt, sich langsam seinem alltäglichen Leben zu entfremden, es nicht mehr als passend zu empfinden.271 Dennoch kann zunächst der Refusal of the Call (I.2) folgen; der Held weigert sich, seine gewohnte Umgebung zu verlassen und sich auf die magische Reise zu begeben. Campbell verweist darauf, dass die Weigerung oft dem Eigeninteresse des Helden entspringe, als „refusal to give up what one takes to be one’s own interest“272. Hier kommt nun die Supernatural Aid (I.3) ins Spiel: eine – zumeist männliche, oft aber auch hermaphroditische – Beschützerfigur begegnet dem Helden und gibt ihm Ratschläge oder magische Gegenstände mit auf den Weg, die ihn bei seiner Reise unterstützen sollen. Gleichzeitig hat dieser Helfer aber oftmals einen ambivalenten Charakter: [He is] the great figure of the guide, the teacher, the ferryman, the conductor of souls to the afterworld. In classical myth this is Hermes-Mercury; in Egyptian usually Thot […] and not infreuqently the dangerous aspect of the ‚mercurial‘ figure is stressed; for he is the lurer of the innocent soul into the realms of trial.273

Mit der Hilfe des magischen Helfers gelingt dann der Aufbruch des Helden, der markiert wird durch The Crossing of the First Threshold (I.4), also die Überschreitung der Grenze zwischen der Alltagswelt und der magischen Welt, in die der Held nun aufbricht. Dort trifft er gemeinhin auch auf den „threshold guardian“274, der die Grenze bewacht. Auf das Überschreiten der Grenze folgt ein äußerst populärer Teil der Heldenreise – die sogenannte Nachtmeerfahrt oder, wie Campbell diesen Teil der Reise in Anlehnung an Jonah im Walfischbauch nennt, The belly of the Whale (I.5). Hier vollzieht der Held die klassische Reise des Sonnenhelden, der abends im Westen vom Meer oder dem großen Fisch verschluckt werden muss, um am nächsten Morgen im Osten wieder neu geboren zu werden. Die Nachmeerfahrt des Sonnenhelden symbolisiert die spirituelle Erneuerung, die der Held erfährt: The idea that the passage of the magical threshold is a transit into a sphere of rebirth is symbolized in the worldwide womb image of the belly of the whale. The hero, instead of

|| 271 Vgl. ebd. S. 42ff. 272 Ebd. S. 49. 273 Ebd. S. 60. 274 Ebd. S. 64.

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conquering or conciliating the power of the threshold, is swallowed into the unknown, and would appear to have died.275

Der Held stirbt jedoch nicht, sondern kämpft sich aus dem Inneren des Walfischbauches oder seines Meergefährts (Kiste, Fass, Arche etc.) heraus und wird neu geboren. Nun beginnt die zweite Phase der Heldenreise. Im nun folgenden Teil, der Road of Trials (II.1), muss der Held zahlreiche Abenteuer bestehen, wobei ihm die Ratschläge und Hilfsmittel helfen, die ihm der magische Helfer am Anfang der Reise mitgegeben hatte. Dies ist ebenfalls einer der beliebtesten und am meisten ausgeschmückten Teile des ‚Monomythos‘, da der Held hier als Abenteurer gezeigt wird, der sowohl innere als auch äußere Prüfungen zu durchlaufen hat. Wenn er diese Prüfungen erfolgreich bewältigt hat, begegnet der (männliche) Held der im vorherigen Kapitel bereits beschriebenen Figur der Großen Göttin. The Meeting with the Goddess (II.2) wird oft als eine Art mystische Hochzeit zwischen dem Helden und der Göttin ausgestaltet, die gleichzeitig seine „mother, sister, mistress, bride“276 sein kann und damit für das Weibliche schlechthin steht: The whole round of existence is accomplished within her sway, from birth, through adolescense, to the grave. She is the womb and the tomb: the sow that eats her farrow. Thus she unites the ‚good‘ and the ‚bad‘, exhibiting the two modes of the remembered mother not as personal only, but as universal.277

Alternativ zu der mystischen Hochzeit mit der Göttin kann die Frau auch eine andere Rolle erfüllen: in der Variante Woman as Temptress (II.3) spielt sie die Rolle der Verführerin und wird zur Repräsentantin des materiellen Lebens, die den Fortschritt des Helden zu einer geistigen Existenz behindert.278 Auf die Begegnung mit dem Weiblichen folgt die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität: in Atonement with the Father (II.4) wird der Held sowohl mit dem schrecklichen als auch mit dem gnadenvollen Aspekt der Vaterfigur konfrontiert und setzt sich, vermittelt über diese Begegnung, auch mit seiner Herkunft und mit sich selbst auseinander: For the ogre aspect of the father is a reflex of the victim’s own ego […]. Atonement (at-onement) consists in no more than the abandonment of that self-generated double monster

|| 275 Ebd. S. 74. 276 Ebd. S. 92. 277 Ebd. S. 95. 278 Vgl. ebd. S. 102.

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[…]. But this requires an abandonment of the attachment to ego itself; and that is what’s difficult.279

Wenn diese Überwindung glückt, wird dem Helden klar, dass er nicht getrennt von der Welt existiert, sondern ein Teil von ihr ist. Im Stadium der Apotheosis (II.5) erlebt der Held sein eigenes göttliches Potential und ist nun bereit, den ‚Schatz‘ zu bergen, nach dem er bisher gesucht hat. Campbell weist darauf hin, dass dieser Schatz im Märchen meist ein materieller Gegenstand ist, während er in den meisten Mythen als moralische oder spirituelle Errungenschaft dargestellt wird, die jedoch auch in einem magischen Gegenstand oder Elixier symbolisiert sein kann.280 The Ultimate Boon (II.6) kann auch eine unvergängliche „miraculous energy-substance“281 sein, z.B. eine göttliche Speise, Feuer, ein Lebenselixier-Kraut oder ähnliches. Es repräsentiert das, was der Held zu erreichen strebt: The boon bestowed on the worshipper is always scaled to his stature and to the nature of his dominant desire: the boon is simply a symbol of life energy stepped down to the requirements of a certain specific case.282

Wenn der Held diesen Schatz erlangt hat, ist der zweite Teil seiner Reise abgeschlossen und er muss sich zur Rückkehr in die Alltagswelt bereitmachen. Analog zum Refusal of the Call (I.2) kann es aber nun auch ein Refusal of the Return (III.1) geben, wenn sich der Held weigert, die magische Welt wieder zu verlassen und nach Hause zurückzukehren.283 Alternativ kann auf das Erringen des Schatzes aber auch ein Magic Flight (III.2) folgen; nämlich dann, wenn der Held das Elixier oder den Schatz von den Göttern oder magischen Wächtern des Schatzes gestohlen hat und nun, von ihnen verfolgt, fliehen muss.284 Es kann auch sein, dass der Held mithilfe einer Rescue from Without (III.3) zurück in die Heimat gebracht werden muss, weil er es alleine nicht schafft. Hier stehen ihm dann erneut magische Helfer zur Seite.285 Schließlich überschreitet der Held den Return Threshold (III.4) und kehrt mit seinem errungenen Schatz von der magischen Welt in seine ursprüngliche Lebenswelt zurück.286 Wenn der Held sich

|| 279 Ebd. S. 107f. 280 Vgl. ebd. S. 30. 281 Ebd. S. 155. 282 Ebd. S. 163. 283 Vgl. ebd. S. 167. 284 Vgl. ebd. S. 170. 285 Vgl. ebd. S. 178. 286 Vgl. ebd. S. 188.

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danach so weiterentwickelt, dass er zum Master of the Two Worlds (III.5) wird, kann er sich zwischen beiden Welten frei bewegen. Er begreift, dass die Trennung zwischen der magischen Welt und der Alltagswelt auf einer Täuschung beruht: The two worlds, the divine and the human, can be pictured only as distinct from each other – different as life and death, as day and night. […] Nevertheless – and here is a great key to the understanding of myth and symbol – the two kingdoms are actually one. The realm of the gods is a forgotten dimension of the world we know. And the exploration of that dimension […] is the wohle sense of the deed of the hero.287

Im letzten Stadium – Freedom to Live (III.6) – wird der Held zur Erlöserfigur, der den errungenen Schatz oder das Lebenselixier mit der Gemeinschaft teilt, in die er zurückgekehrt ist: „The boon that he brings restores the world.“288 In Hermann Hesses Romanen werden unterschiedliche Teile der Heldenreise akzentuiert. Während Emil im Demian die erste Hälfte der Heldenreise durchläuft, konzentriert sich die Darstellung im Siddhartha eher auf die zweite Hälfte. Narziß und Goldmund kreist dagegen um einen Teil der Heldenreise – die Begegnung mit der Göttin – und dehnt diesen erzählerisch aus. Anhand der beiden Romane Demian und Siddhartha lässt sich das Erzählen entlang des klassischen Ablaufs der Heldenreise exemplarisch nachvollziehen, da beide zusammen einen geschlossenen Kreis der Heldenerzählung bilden. Nicht umsonst bezeichnet Hesse die beiden Romane als „Stücke desselben Weges“289. Der Call to Adventure erfolgt im Demian durch die Begegnung Emils mit Franz Kromer. Die Erpressung reißt Emil aus seiner Verankerung in der heimatlichen „hellen Welt“290. Durch die heimlichen Diebstähle fühlt er sich ihr nicht mehr zugehörig: Der Hut und Sonnenschirm, der gute alte Sandsteinboden, das große Bild überm Flurschrank, und drinnen aus dem Wohnzimmer her die Stimme meiner älteren Schwester, das alles war lieber, zarter und köstlicher als je, aber es war nicht Trost mehr und sicheres Gut, es war lauter Vorwurf. Dies alles war nicht mehr mein, ich konnte an seiner Heiterkeit und Stille nicht teilhaben.291

|| 287 Ebd. 288 Ebd. S. 211. 289 Brief Hesses an Frederik van Eeden vom 03.02.1923. In: Michels, Volker: Materialien zu Siddharta. S. 186f. 290 Hesse, Hermann: Demian. S. 239. 291 Ebd. S. 245.

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Obwohl er nicht mehr mit seiner alten Lebensweise übereinstimmt, will Emil sich nicht auf das bevorstehende Abenteuer einlassen und den Ruf annehmen. Er versucht krampfhaft, in die heimische Welt und zum Schutz der Eltern zurückzukehren, eine Art „Heimkehr des verlorenen Sohnes“292 zu inszenieren. Diesem klassischen Refusal of the Call folgt in der Logik der Heldenreise die Supernatural Aid, die Emil in der Figur des Demian begegnet, der überdies als hermaphroditische „mercurial figure“293 gekennzeichnet ist. Demian gibt Emil nicht nur erste Hinweise für seinen weiteren Weg, indem er ihn auf das Symbol des Wappenvogels aufmerksam macht und ihm die Geschichte von Kain und Abel neu erzählt, sondern er löst auch auf magische Weise das Problem mit Franz Kromer.294 Mit Demians Hilfe ist Emil nun bereit zum Crossing of the First Threshold: er zieht von zu Hause fort und geht auf ein Internat, der „Abschied von der Heimat“ gelingt ihm nun „sonderbar leicht“295. Mit der Abnabelung von zu Hause und dem Beginn der Reise beginnt jedoch sogleich die ‚Nachtmeerfahrt‘ und Emil verschwindet im Belly of the Whale. Er beginnt, regelmäßig ins Wirtshaus zu gehen und sich zu betrinken, verliert sämtliche soziale Kontakte und droht, aus dem Internat ausgeschlossen zu werden: Es war wie ein arger Traum. Über Schmutz und Klebrigkeit, über zerbrochene Biergläser und zynisch durchschwatzte Nächte weg, sehe ich mich, einen gebannten Träumer, ruhelos und gepeinigt kriechen, einen häßlichen und unsauberen Weg. […] Auf diese wenig feine Art war es mir beschieden, einsam zu werden und zwischen mich und die Kindheit ein verschlossenes Edentor mit erbarmungslos strahlenden Wächtern zu bringen.296

Die hier beschriebenen ‚Eden-Wächter‘ fungieren als „threshold guardian[s]“297 und bewachen die magische Schwelle zwischen der heimischen und der magischen Welt. Der Übergang zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt, der hier thematisiert ist, wird als ein „Sterben und Neugeborenwerden“298 bezeichnet und damit ebenfalls an die Bildlichkeit der ‚Nachtmeerfahrt‘ angeglichen. Nachdem sich Emil mit der Hilfe seiner Verehrung für Beatrice aus der Krisis befreit, folgt für ihn die Road of Trials, die er alleine zu bestehen hat. Die zu

|| 292 Ebd. S. 268. 293 Vgl. Campbell, Joseph: The Hero. S. 60. Wie bereits erwähnt, ist die Figur des Demian hermaphroditisch angelegt: in das „Gesicht eines Mannes“ mischen sich bei ihm Züge eines „Frauengesicht[es]“. Hesse, Hermann: Demian. S. 273. 294 Vgl. Hesse, Hermann: Demian. S. 266. 295 Ebd. S. 287. 296 Ebd. S. 293. 297 Campbell, Joseph: The Hero. S. 64. 298 Hesse, Hermann: Demian. S. 271.

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bewältigenden Aufgaben bestehen für Emil in einer Auseinandersetzung mit seinem Inneren. Er begegnet Pistorius und lernt dessen Auffassung vom Gott Abraxas kennen. Er beginnt sich außerdem mit Symbolen auseinanderzusetzen, die ihm in Träumen begegnen und malt Bilder von ihnen, die ihm zu rituellen Zwecken dienen. Mit einem dieser Traumbildnisse setzt er sich so intensiv auseinander, dass es ihm wie die Begegnung mit einem „Geist“ erscheint, mit dem er „kämpfen mu[ss] bis zur Entscheidung“299. Die Auseinandersetzung mit dem Bildnis wird ihm zu einer Art ritueller Gottesbegegnung: Ich stand davor und wurde vor innerer Anstrengung kalt bis in die Brust hinein. Ich fragte das Bild, ich klagte es an, ich liebkoste es, ich betete zu ihm: ich nannte es Mutter, ich nannte es Geliebte, nannte es Hure und Dirne, nannte es Abraxas. […] Das gemalte Gesicht im Lampenschein verwandelte sich bei jeder Anrufung. Es wurde hell und leuchtend, wurde schwarz und finster, schloß fahle Lider über erstorbenen Augen, öffnete sie wieder und blitzte glühende Blicke, es war Frau, war Mann, war Mädchen, war ein kleines Kind, ein Tier, verschwamm zum Fleck, wurde wieder groß und klar. Am Ende schloß ich, einem starken, inneren Ruf folgend, die Augen und sah nun das Bild inwendig in mir, stärker und mächtiger. Ich wollte vor ihm niederknien, aber es war so sehr in mir innen, daß ich es nicht mehr von mir trennen konnte, als wäre es zu lauter Ich geworden.300

Mit der Hilfe seiner „supernatural helpers“301 Pistorius und Demian nähert sich Emil Schritt für Schritt einer neuen Sichtweise auf sich selbst und die ihn umgebende Welt an. Erst nachdem er seine Krisis überwunden und sich mit seinen inneren Bildern auseinandergesetzt hat, ist er bereit für die Begegnung mit Frau Eva. Dass diese Begegnung als Meeting with the Goddess inszeniert wird, geht bereits aus den Ausführungen im vorhergehenden Kapitel hervor: Frau Eva ist mit den Zügen der ‚Großen Göttin‘ ausgestattet und erfüllt für Emil die Rolle der Mutter und Geliebten, auch wenn die zweite Rolle nur angedeutet wird. Emil berichtet, er gehe in ihrem „Hause ein und aus wie ein Sohn und Bruder, aber auch wie ein Liebender“302, die Gemeinschaft mit Demian, Frau Eva und den anderen ‚Zeichenträgern‘ empfindet er als glückliche „Insel“303. Nachdem Demian Emil bei ihrer letzten Begegnung nach Ausbruch des Krieges auf dem Krankenlager einen Kuss von Frau Eva übermittelt, bricht die Erzählung jedoch ab, so dass der restliche Bogen der Heldenreise nur in Andeutungen erahnt werden kann. Nach der Szene im Lazarett verschwinden Demian und Frau Eva auf ma-

|| 299 Ebd. S. 327. 300 Ebd. 301 Campbell, Joseph: The Hero. S. 81. 302 Hesse, Hermann: Demian. S. 348. 303 Ebd.

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gische Weise und Emil berichtet in zwei kargen Sätzen von seiner weiteren Entwicklung: Alles, was seither mit mir geschah, tat weh. Aber wenn ich manchmal den Schlüssel finde und ganz in mich selbst hinuntersteige, da wo im dunklen Spiegel die Schicksalsbilder schlummern, dann brauche ich mich nur über den schwarzen Spiegel zu neigen und sehe mein eigenes Bild, das nun ganz Ihm gleicht, Ihm, meinem Freund und Führer.304

Dicht gedrängt deutet der Erzähler hier sowohl an, dass Demian und Frau Eva Projektionen seines Inneren waren, deren Potential er nun verwirklicht und in sich aufgenommen hat, und impliziert außerdem, dass er seitdem auf dem Weg der Entwicklung weitergegangen ist. Die Phasen der Heldenreise, in der das gesuchte Gut – The Ultimate Boon – erreicht und zurück in die Alltagswelt gebracht wird, sind hier auf diese beiden Sätze verkürzt und nur zu erahnen. Im Siddhartha dagegen liegt der Fokus der Erzählung auf diesem zweiten Teil der Heldenreise. Der Protagonist dieses Romans durchläuft jedoch ebenso die ersten Stadien, die auch im Demian beschrieben sind. So wird zu Beginn der Erzählung Siddharthas Unzufriedenheit mit seinem bisherigen Leben beschrieben, die durch den Call to Adventure – das Auftauchen der Samanas – durchbrochen wird.305 Während der Refusal of the Call auf den ängstlichen Govinda übertragen wird, muss sich Siddhartha seinem Vater stellen, der sich als Verkörperung des Threshold Guardian weigert, ihn gehen zu lassen.306 Ebenso wie Emil Sinclair muss Siddhartha die Nachtmeerfahrt (Belly of the Whale) und die Road of Trials durchmachen (hier repräsentiert durch seine Todeserfahrung bei den Samanas und das Streitgespräch mit dem Buddha307), bevor er für die Begegnung mit seinem weiblichen Gegenpart bereit ist. Zuvor ist noch eine kurze Variante der Woman as Temptress eingeschaltet: nach dem ersten Überqueren des Flusses begegnet Siddhartha einer jungen Frau, die ihn verführen will. Er wendet sich jedoch im letzten Moment von dieser rein sinnlichen Variante der

|| 304 Ebd. S. 365. Zur Rede vom ‚Freund und Führer‘ ist anzumerken, dass Hesse in seinem Roman von 1917 keinesfalls an die politische Konnotation dieses Begriffs denken kann, die heutige Leser sofort assoziieren. So hat er sich auch zu Beginn der 30er Jahre vehement von einem nun zunehmend politisch verstandenen ‚Führer‘-Begriff abgegrenzt: In einem Brief von 1932 scheibt er, dass er „das von der deutschen Jugend so mißbrauchte Wort ‚Führer‘ geradezu hasse. Den Führer braucht und verlangt, wer selbst nicht verantworten und selbst nicht denken mag.“ (Brief Hesses an M. A. Jordan von 1932. In: SW 15. S. 389). 305 Vgl. Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 374–377. 306 Vgl. ebd. S. 378. 307 Vgl. ebd. S. 381 und 393ff.

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Liebe ab und verfolgt seinen Weg weiter, der ihn zur Goddess Kamala führt.308 Sie repräsentiert nicht nur die sinnliche Seite des Daseins, sondern – als weibliche Entsprechung zu Siddhartha – auch das geistige Streben.309 Im Vergleich zu Emil Sinclairs Heldenreise, die an dieser Stelle endet, entwickelt Siddhartha sich jedoch weiter. Zwar kehrt er nicht mehr zu seinem Vater zurück, aber er setzt sich mit dessen Schicksal auseinander, als er selbst in der Rolle des Vaters die gleichen Erfahrungen macht. Er durchlebt „dasselbe Leid“310 wie sein Vater als er selbst seinen Sohn ziehen lassen muss und erkennt sich so in seinem eigenen Vater wieder (Atonement with the Father). Seine Lehrzeit am Fluss (Apotheosis) endet mit dem Höhepunkt der Heldenreise: dem Erringen des ‚Schatzes‘ (The Ultimate Boon). Siddhartha erreicht die gesuchte Vollendung bei seiner letzten Meditation am Fluss: In dieser Stunde hörte Siddhartha auf, mit dem Schicksal zu kämpfen, hörte auf zu leiden. Auf seinem Gesicht blühte die Heiterkeit des Wissens, dem kein Wille mehr entgegensteht, das die Vollendung kennt, das einverstanden ist mit dem Fluß des Geschehens, mit dem Strom des Lebens, voll Mitleid, voll Mitlust, dem Strömen hingegeben, der Einheit zugehörig.311

Der errungene Schatz ist das Mitgefühl, die aus dem Erleuchtungserlebnis folgende universale Liebe, von der Siddhartha erklärt, dass sie „von allem die Hauptsache“312 sei. Die Erzählung bricht hier jedoch nicht ab, sondern beschließt den Bogen der Heldenreise mit Siddharthas Rückkehr in den Dienst der Gemeinschaft. Die ersten drei Stadien der Rückkehrphase sind im Siddhartha etwas nach vorne verschoben: er weigert sich zunächst, seinen Sohn in das weltliche Leben zurückkehren zu lassen (Refusal of the Return) und muss von Vasudeva (Rescue from Without) mithilfe eines Floßes zurück über den Fluss gebracht werden (Crossing of the Return Threshold), um dort seinen Dienst an der Gemeinschaft als Fährmann zu leisten.313 Siddhartha wird Vasudevas Nachfolger als Fährmann und bewegt sich als Master of the Two Worlds frei zwischen beiden Ufern. Er begreift, dass die Trennung zwischen den ‚zwei Welten‘ auf einer Illusion beruht und erklärt dies Govinda:

|| 308 Vgl. ebd. S. 406. 309 Vgl. ebd. S. 420. 310 Ebd. S. 459. 311 Ebd. S. 462. 312 Ebd. S. 468. 313 Vgl. ebd. S. 450–457.

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Wenn der erhabene Gotama lehrend von der Welt sprach, so mußte er sie teilen in Sansara und Nirwana, in Täuschung und Wahrheit, in Leid und Erlösung. Man kann nicht anders, es gibt keinen anderen Weg für den, der lehren will. Die Welt selbst aber, das Seiende um uns her und in uns innen, ist nie einseitig. […] Die Welt, Freund Govinda, ist nicht unvollkommen, oder auf einem langsamen Wege zur Vollkommenheit begriffen: nein, sie ist in jedem Augenblick vollkommen […].314

Siddhartha teilt nun den errungenen ‚Schatz‘ mit anderen (Freedom to Live): bei seiner letzten Begegnung mit Govinda teilt Siddhartha nicht nur seine Einsichten mit ihm, sondern verhilft ihm auch zu einem Einheitserlebnis.315 In einem alternativen Schluss der Erzählung, den Hesse verworfen hat, wird Siddhartha darüber hinaus selbst zum Lehrer für den nächsten Fährmann, den er ebenso unterweist wie Vasudeva zuvor ihn unterwiesen hatte.316 Siddhartha durchläuft also den gesamten Kreis der Heldenreise von seinem Aufbruch über die Initiation bis zur Rückkehr in den Dienst an der Gemeinschaft. Siddharthas „Heldentum“ besteht – so Hesse in einem Brief nach Deutschland – nicht in äußeren Errungenschaften, sondern in einem geistigen Gewinn: der „Ahnung von der geheimen Einheit alles Lebens“317. Auch der Beginn des Romans Narziß und Goldmund ist nach dem nun bekannten Muster gestaltet. Der Kuss des Mädchens bei Goldmunds nächtlichem Ausriss aus dem Kloster fungiert als Call to Adventure, indem er die Erinnerung an die vergessene Mutter anregt318, die durch Narziß´ Supernatural Help wieder in Goldmunds Bewusstsein zurückgeholt wird.319 Goldmund weigert sich zunächst, diese Erinnerung und den damit verbundenen Lebensweg anzunehmen und fällt ihn Ohnmacht (Refusal of the Call).320 Sobald er jedoch die Grenze des Klosters übertritt (Crossing of the First Threshold), begibt er sich auf den „Weg zur Mutter“321, wie eine verworfene Variante des Romantitels nahelegt. Auch wenn die anderen Stadien der Heldenreise weiterhin angedeutet werden, steht der Roman ganz im Zeichen des Meeting with the Goddess. Die Suche nach der

|| 314 Ebd. S. 465f. 315 Vgl. ebd. S. 470. 316 Vgl. ebd. S. 479. 317 Brief Hesses an einen unbekannten Empfänger vom 08.04.1932. In: Michels, Volker: Materialien zu Siddharta. S. 220. 318 Vgl. Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. S. 295. 319 Vgl. ebd. S. 305. 320 Vgl. ebd. S. 307. 321 Eine der verworfenen Titelversionen lautet „Goldmunds Weg zur Mutter“. Vgl. Michels, Volker (Hg.): Narziß und Goldmund. Eine Dokumentation zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte. Berlin 2015. S. 41.

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‚Großen Mutter‘ durchzieht den gesamten Roman und wird, anders als im Demian oder Siddhartha, nicht auf eine einzelne Figur eingegrenzt, sondern auf nahezu alle Frauenfiguren in der Erzählung aufgeteilt. Das Bild der Urmutter, an dem alle Frauen Anteil haben, denen Goldmund begegnet, repräsentiert das Leben selbst und mit ihm auch den Tod. Die ‚Große Mutter‘ als „womb and tomb“322 steht für den gesamten Bereich des sinnlichen Lebens, den Goldmund im Roman erkundet. Die Mutter des Lebens konnte man Liebe oder Lust nennen, man konnte sie auch Grab und Verwesung nennen. Die Mutter war Eva, sie war die Quelle des Glücks und die Quelle des Todes, sie gebar ewig, tötete ewig, in ihr waren Liebe und Grausamkeit eins, und ihre Gestalt wurde ihm zum Gleichnis und heiligen Sinnbild, je länger er sie in sich trug.323

Der Erkenntnis der Mutter als universaler, doppelgesichtiger Lebens- und Todesgöttin ist das Ziel von Goldmunds Heldenreise. Sie ist es auch, die Goldmund am Schluss des Romans „zum Sterben verführt“324 und somit sein Aufgehen in der Mutterwelt an sein logisches Ende führt. Damit schließt die Erzählung auf ähnliche Weise ab wie im Demian: auch hier führt der Kuss der Mutter zu einem todesähnlichen Schlaf, aus dem der Protagonist jedoch erwacht und sein Leben neu beginnt. In Narziß und Goldmund ist diese ‚geistige Wiedergeburt‘ nicht dargestellt, sondern wird andeutungsweise auf Goldmunds „andere Hälfte“325 Narziß verlegt. Kurz vor seinem Tod weist Goldmund den in der ‚Vatersphäre‘ befangenen Narziß darauf hin, welcher Teil der menschlichen Entwicklung ihm fehlt: ‚Aber wie willst du denn einmal sterben, Narziß, wenn du doch keine Mutter hast? Ohne Mutter kann man nicht lieben. Ohne Mutter kann man nicht sterben.‘ […] Goldmunds letzte Worte brannten in seinem Herzen wie Feuer.326

Mit diesem Schlusssatz lässt der Erzähler gänzlich offen, ob die Heldenreise der beiden Figuren in der Identifikation mit der Mutter- bzw. Vatersphäre endet, oder ob dieser Fingerzeig Goldmunds die Funktion eines erneuten Call to Adventure erfüllt und Narziß an der Stelle des Freundes den Bogen der Heldenreise abschließt und sich weiterentwickelt. Der Protagonist des Glasperlenspiels jedenfalls durchläuft – ganz ähnlich wie Siddhartha – wieder den kompletten

|| 322 Campbell, Joseph: The Hero. S. 95. 323 Ebd. S. 410. 324 Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. S. 531. 325 Ebd. S. 293. 326 Ebd. S. 531.

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Kreis der mythischen Heldenreise. Wie Narziß entstammt Joseph Knecht der geistigen Vatersphäre und muss sich in einem frühen Entwurf der Erzählung von Plinio Designori vorwerfen lasse, dass er genau wie Narziß keine Mutter habe – Josef Knecht wird jedoch, entgegen diesem Vorwurf, als Figur skizziert, die „von ‚den Müttern‘ weiß“ und dem „Ur-Mütterlichen überall und immer wieder begegne[t]“327. Als eine Art Weiterentwicklung der Narziß-Figur verlässt Knecht die rein geistige Klostersphäre und kehrt am Schluss der Erzählung nach vollzogener Heldenreise in den Dienst der Gemeinschaft zurück: als Lehrer des jungen Tito regt er diesen durch sein Opfer dazu an, sein eigenes „Leben umgestalten“ zu wollen und „viel Größeres“ von sich zu fordern, „als er bisher je von sich verlangt hatte“328. So endet Hesses letzter Roman bezeichnenderweise in der Weitergabe des Call to Adventure an die nächste Generation. Die Ausrichtung am Erzählmodell der mythischen Heldenreise ist ein markantes Merkmal nahezu aller Romane Hesses nach dem Ersten Weltkrieg. Auch wenn die drei Abschnitte des Kreislaufs in den Erzählungen jeweils unterschiedlich gewichtet werden und nur Siddhartha und das Glasperlenspiel den gesamten Ablauf erzählerisch darstellen, sind die beschriebenen Stadien doch – wenn auch zum Teil nur andeutungsweise – in allen Romanen präsent. Die Verbindung dieser mythischen Erzählstruktur mit der Persönlichkeitsentwicklung der Protagonisten, die in Kapitel IV.1.3 thematisiert wird, erlaubt Hesse eine Neudeutung des mythischen Schemas im Sinne einer Psychologisierung. Der zu erringende ‚Schatz‘, den der Held suchen und in die Gemeinschaft zurückbringen muss, ist ein innerlicher.

4.1.2 Formale Aspekte: Mythisches Erzählen als Ausdruck des Einheitsgedankens 4.1.2.1 Verdichtung und Beziehung durch Leitmotivik In seinen Romanen nutzt Hermann Hesse eine bildliche Symbolsprache, die – ebenso wie in mythischen Erzählungen – dazu beiträgt, die Handlungsstränge, Protagonisten und Schauplätze zu charakterisieren und miteinander in Beziehung zu setzten. Über den Einsatz von Leitmotivik wird eine ‚Verdichtung‘ des Erzählflusses erreicht, die sich durch ihre Bildlichkeit auszeichnet. Hesse selbst verweist im Rückblick auf sein künstlerisches Schaffen auf den Stellenwert dieser Bildsprache in seinen Romanen: „Die Kunst hat es mit Verdichtungen, || 327 Hesse, Hermann: Vorarbeiten zum Glasperlenspiel. In: SW 5. S. 575. 328 Hesse, Hermann: Das Glasperlenspiel. In: SW 5. S. 5–394. Hier: S. 394.

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mit Bildern zu tun. Ihr aber möchtet statt der Bilder Begriffe haben – etwas, was wir Künstler für nicht wertvoll halten.“329 Anhand der nachfolgenden Analyse der Leitmotivik lässt sich nachvollziehen, wie diese bildliche ‚Verdichtung‘ in Hesses Romanen zustande kommt. Im Demian ist es das Seelenvogelmotiv, das sich durch den gesamten Roman zieht und an dessen Modifikation man die Entwicklung des Protagonisten ablesen kann. Zuerst erwähnt wird es von Demian, der Sinclair bei ihrer ersten Begegnung nach dem Wappenvogel über dessen Haustür fragt. Emil scheint dieser aber bisher noch nicht aufgefallen zu sein: Ich wußte gar nicht gleich, was er meinte, und war erstaunt, daß er unser Haus besser zu kennen schien als ich. Es war wohl als Schlußstein über der Torwölbung eine Art Wappen vorhanden, doch war es im Lauf der Zeit flach und oftmals mit Farbe überstrichen worden, mit unserer Familie hatte es, soviel ich wußte, nichts zu tun. „Ich weiß nichts darüber“, sagte ich schüchtern. „Es ist ein Vogel oder so was Ähnliches, es muß ganz alt sein. Das Haus soll früher einmal zum Kloster gehört haben.“ „Das kann schon sein“, nickte er. „Sieh dir’s einmal gut an! Solche Sachen sind oft ganz interessant. Ich glaube, daß es ein Sperber ist.“330

In dieser Exposition werden bereits zentrale Elemente des Motivs angesprochen: Demian bestimmt den Vogel als Sperber (also als Raubvogel), der zudem eine spirituelle Bedeutung hat (das Haus ‚soll zum Kloster gehört haben‘). Der Vogel ist darüber hinaus mit der Dominanz des Weiblichen assoziiert, denn Sperber-Weibchen sind weitaus größer als die Männchen. Emil ist sich seines Vorhandenseins jedoch nicht bewusst und muss erst von Demian auf das Wappen hingewiesen werden, dessen altertümliche Herkunft daran abzulesen ist, dass es ‚im Laufe der Zeit flach und oftmals mit Farbe überstrichen worden‘ ist. Demians Interesse für den Wappenvogel wird noch einmal bekräftigt, als Emil ihn wenig später beim Abzeichnen des Bildes beobachtet.331 Das nächste Mal taucht der Sperber in einem Traum Emils auf, als dieser bereits im Internat untergebracht ist: In der Nacht träumte ich von Demian und von dem Wappen. Es verwandelte sich beständig, Demian hielt es in den Händen, oft war es klein und grau, oft mächtig groß und vielfarbig, aber er erklärte mir, daß es doch immer ein und dasselbe sei. Zuletzt aber nötigte er mich, das Wappen zu essen. Als ich es geschluckt hatte, spürte ich mit ungeheurem Er-

|| 329 Brief Hesses an Karl-Josef Fletten vom April 1956. In: Michels, Volker: Narziß und Goldmund. S. 155. 330 Hesse, Hermann: Demian. S. 254. 331 Vgl. ebd. S. 272.

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schrecken, daß der verschlungene Wappenvogel in mir lebendig sei, mich ausfülle und von innen zu verzehren beginne.332

Die Verinnerlichung des Bildes wird symbolisiert durch das Essen des Wappens. Das Vogelmotiv ist nun nichts Äußerliches mehr, sondern wird zum Sinnbild der seelischen Entwicklung Sinclairs: obwohl es sich beständig wandelt und entwickelt, ist es doch ‚immer ein und dasselbe‘. Direkt im Anschluss an diesen Traum malt Emil den sich aus dem Ei kämpfenden Sperber und schickt das Bild an Demian.333 Dieser antwortet mit der Referenz an Abraxas: Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer geboren werden will, muß eine Welt zerstören. Der Vogel fliegt zu Gott. Der Gott heißt Abraxas.334

Zum Motiv des Wappenvogels kommt nun die Abraxas-Figur und der Symbolkreis des ‚aus dem Ei-Schlüpfens‘ als Geburtsmetapher hinzu. Obwohl Abraxas selbst nicht direkt mit dem Vogel identifiziert wird (der freie Vogel ‚fliegt zu Abraxas‘), ist es dennoch erwähnenswert, dass Abraxas zum einen mit der Bildlichkeit des Greifs assoziiert wird und antike Abraxas-Gemmen den Gott zum anderen mit dem Kopf eines Hahnes zeigen, der die aufgehende Sonne repräsentiert.335 Damit reiht er sich in den von C. G. Jung analysierten Komplex des Sonnenmythus ein, der – ebenso wie das kosmogonische Ei – für Geburt und geistige Erneuerung steht. Das ‚Weltenei‘ repräsentiert kulturübergreifend in zahlreichen Mythen die erste Entstehung der Welt: Das hinduistische Gesetzbuch Manu-Smriti beginnt beispielsweise mit einem kosmogonischen Mythos, in dem das höchste Selbst sich selbst als Gott Brahman aus einem goldenen Ei gebiert, das der Sonne gleicht.336 Analog zu dieser Schöpfungsgeschichte geht auch der ägyptische Gott Amun aus einem selbstgeschaffenen Ei hervor337 und in den Orphischen Schöpfungstexten ist es Phanes, der aus dem Ei geboren wird.338 Das Ei trägt den Ursprung der Welt in sich, aus ihm geboren zu werden,

|| 332 Ebd. S. 303. 333 Vgl. ebd. S. 303f. 334 Ebd. S. 305. 335 Vgl. Michels, Volker: Demian – eine Stimme der Revolution. In: Ders. (Hg.): Materialien zu Hermann Hesses Demian. Entstehungsgeschichte in Selbstzeugnissen. Frankfurt a. M. 1993. S. 25. 336 Vgl. https://ia601301.us.archive.org/23/items/ManuSmriti_201601/Manu-Smriti.pdf. Chapter 1.8f. 337 Vgl. Hansen, Susanne (Hg.): Mythen vom Anfang der Welt. Das verborgene Wissen vom Usprung und Werden der Welt und des Menschen. Augsburg 1991. S. 24. 338 Vgl. ebd. S. 124.

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ermöglicht erst die schöpferische Tätigkeit und die nachfolgende Erschaffung der Welt. Das Bild des sich aus dem Ei kämpfenden Vogels hat über diese mythologischen Bezüge hinaus aber auch eine biographische Inspiration. Im August 1917, also nur einen Monat vor dem Beginn der Arbeit am Demian, notiert sich Hesse folgendes Traumfragment ins Tagebuch: Ich kam […] zu meiner Frau, und hatte eine höchst seltsame Sehenswürdigkeit mitgebracht: eine Art von Relief in einem runden Rahmen. Es war ein junger Adler, der aus dem Ei kroch […], und der Kopf des Adlers (ja manchmal schien es, der ganze Adler) war echt und lebendig, er arbeitete sich aus dem Rahmen heraus […].339

Wie in der Notiz Demians ist auch hier ist das Motiv des aus dem Ei schlüpfenden Raubvogels mit der Zerstörung des alten Bezugsrahmens verbunden: in der Notiz heißt es, wer geboren werden wolle, müsse zuerst ‚eine Welt zerstören‘. In Hesses Traumfragment entspricht dies dem Rahmen, aus dem sich der Vogel befreien will. Das Abstreifen der ‚alten Welt‘ – oder im übertragenen Sinne der alten Sicht auf die Welt – gehört also auch zu diesem Schöpfungssymbol. An den weiteren Erwähnungen des Vogelmotivs lassen sich die genannten Bezüge weiterverfolgen: Emil sieht den Sperber bei seiner ersten Lektion von Pistorius in den Flammen aufscheinen340 und sieht sein Bild, das er an Demian geschickt hatte, bei seiner ersten Begegnung mit Frau Eva an der Wand hängen.341 Wann immer Sinclair also eine neue Entwicklung beginnt, steht das Bild des Sperbers am Anfang. In diesem Zusammenhang ist auch auf die Verbindung des Motivs mit der Raum-Metaphorik zu verweisen. Der Sperber befindet sich zwei Mal direkt über einer Schwelle: zunächst als Wappen über Emils Elternhaus und dann in Frau Evas Haus „über einer Tür“342. Auch damit ist jeweils ein Übergang und der Eintritt in eine neue Entwicklungsphase markiert. Am Ende des Romans erfährt das Motiv noch einmal eine Modifikation. Kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs hat Emil während eines Spazierganges eine Vision: Da kam über den Himmel weg eine lockere gelbe Wolke getrieben, sie staute sich gegen die graue Wand, und der Wind formte in wenigen Sekunden aus dem Gelben und dem

|| 339 Eintrag vom 27.08.1917. In: Hesse, Hermann: Traumtagebuch. S. 477. 340 Vgl. Hesse, Hermann: Demian. S. 315. 341 Vgl. ebd. S. 344. 342 Ebd.

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Blauen ein Bild, einen riesengroßen Vogel, der sich aus blauem Wirrwarr losriß und mit weiten Flügelschlägen in den Himmel hinein verschwand.343

Der Vogel scheint sich also erfolgreich ‚aus dem Ei gekämpft‘ zu haben und kann – wie in der Notiz angekündigt – zu Abraxas, oder ‚in den Himmel‘ fliegen. Damit markiert die Vision zum einen die gelingende Entwicklung Sinclairs, der inzwischen erfolgreich seine alte Sicht auf die Welt abgestreift hat und in den Kreis der ‚Zeichenträger‘ aufgenommen wurde. Zum anderen weist sie aber auch über Emils individuelles Schicksal hinaus und steht für einen universellen Umbruch. Schon vor dieser Vision kommt das Gespräch in der Gemeinschaft über die politische und gesellschaftliche Lage oft darauf, „dass eine Neugeburt und ein Zusammenbruch des Jetzigen nahe und schon spürbar“344 seien. Nach der Vision deutet Demian diese dementsprechend als Zeichen für den bevorstehenden Wandel, der sich dann im Ausbruch des Krieges bewahrheitet: Es kämpfte sich ein Riesenvogel aus dem Ei, und das Ei war die Welt, und die Welt mußte in Trümmer gehen.345

Das Vogelmotiv, dessen Bezug zur Seele bereits im vorhergehenden Kapitel thematisiert wurde, erfährt also im Laufe des Romans eine Veränderung und Verbreiterung: Zunächst wird es als statisches Wappen eingeführt, das überdies schwer erkennbar ist, weil es bereits verwittert und mehrmals übermalt ist. Dann wird das Wappenmotiv zunächst im Traum lebendig und beginnt, sich aus seiner Statik zu lösen. Am Schluss des Romans kann sich der Vogel uneingeschränkt bewegen und fliegt gen Himmel. Übertragen auf Sinclairs seelische Entwicklung ergäbe sich daraus folgendes Bild: zu Beginn des Romans ist sich Emil seiner seelischen Potentiale nicht bewusst, Demian muss ihn zunächst auf das Wappen hinweisen, das er vorher noch nie bemerkt hatte. Durch seine Erfahrungen und die Hinweise von Demian beginnt er sich mit seinem Seelenbild zu identifizieren (er isst den Wappenvogel im Traum) und reift soweit, dass er dazu bereit ist, seine alte dualistische Weltsicht abzustreifen und symbolisch neu geboren zu werden (der Vogel kämpft sich aus dem Ei und kann schließlich frei fliegen). Zuletzt wird deutlich, dass das Motiv auch eine überindividuelle Bedeutung hat (die Vision kündigt den Ausbruch des Krieges an). Innerhalb der Erzählung bildet das Motiv ein verbindendes Element, das immer wiedererkannt werden kann, obwohl es modifiziert wird. Sein Auftauchen markiert stets

|| 343 Ebd. S. 355f. 344 Ebd. S. 350. 345 Ebd. S. 363.

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Sinclairs Eintritt in eine neue Stufe der Entwicklung und gibt dieser jeweils bildlichen Ausdruck. Auch im Siddhartha taucht das Vogel-Motiv noch einmal am Rande als Referenz auf die seelische Entwicklung des Protagonisten auf. Nachdem er sich selbst aus seinen Verstrickungen in das weltliche Leben lösen will, träumt Siddhartha von einem toten Singvogel in seinem Käfig,.346 Als er sich nach seinen Selbstmordgedanken wieder erholt hat, greift er auf dieses Traumbild zurück und freut sich, dass „der Vogel in [s]einer Brust nicht gestorben ist“347. Auch hier dient das Vogel-Motiv also als ein Bild der Seele. Dominant sind in diesem Roman jedoch zwei andere Leitmotive: der Fluss und das Lächeln der Vollendeten.348 Da das Fluss-Motiv im folgenden Kapitel ausführlich beleuchtet wird, soll an dieser Stelle zunächst das Lächeln als Leitmotiv analysiert werden. Es zieht sich als Erkennungszeichen der Vollendeten durch den gesamten Roman und fungiert als Zeichen der Identität zwischen allen Figuren, die die Erleuchtung erlangt haben. So erkennt Siddhartha den Buddha bei ihrer ersten Begegnung sofort an seinem Lächeln349 und dieses Lächeln ist auch das Charakteristikum, das er in seiner Erinnerung behält.350 Die Identität zwischen Vasudeva und Buddha wird ebenfalls über das Lächeln etabliert: Vasudevas „helle[s] Lächeln“351, das er nie ablegt, zeichnet ihn als Vollendeten aus. Auch Siddharthas Entwicklung zur Erleuchtung lässt sich an dem Motiv ablesen: sein „allzu laut[es]“352 falsches Lachen während seines Stadtlebens zeigt an, dass er sich nicht auf dem richtigen Weg befindet. Als er jedoch vom Fluss zu lernen beginnt, erinnert er sich „mit Lächeln“353 seiner Begegnung mit dem Buddha, und auch als er als letzte Prüfung den Verlust seines Sohnes überwunden hat, wird dies mit einem Lächeln markiert.354 Siddhartha sieht schließlich den Fluss selbst lächeln355 und als er dessen Lehren am Ende in sich aufgenommen hat, ist es

|| 346 Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 426f. 347 Ebd. S. 436. 348 Vgl. auch Field, G. W.: Hermann Hesse. Polarities and Symbols of Synthesis. In: Queen’s Quarterly 81 (1974). S. 87–101. Hier: S. 90; Ziolkowski, Theodore: Siddhartha. S. 152ff. 349 Vgl. Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 390. 350 Vgl. ebd. S. 395. 351 Ebd. S. 443. 352 Ebd. S. 423. 353 Ebd. S. 445. 354 Vgl. ebd. S. 456. 355 Vgl. ebd. S. 458.

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natürlich sein eigenes Lächeln, das seinen Eintritt in die Gemeinschaft der Vollendeten anzeigt: Hell glänzte Vasudevas Lächeln, über all den Runzeln seines alten Antlitzes schwebte es leuchtend, wie über all den Stimmen des Flusses das Om schwebte. Hell glänzte sein Lächeln, als er den Freund anblickte, und hell glänzte nun auch auf Siddharthas Gesicht dasselbe Lächeln auf.356

Siddhartha ist nun selbst ein Vollendeter geworden, dessen „golden[es]“357 Lächeln von Govinda als „genau dasselbe“ Lächeln erkannt wird wie das „tausendfältige Lächeln Gotamas, des Buddha“358. Es symbolisiert die erlöste Ruhe und Heiterkeit des Vollendeten, der das Leiden überwunden hat. Das Lächeln ist aus der buddhistischen Ikonographie nicht wegzudenken: egal, ob in der indischen, chinesischen, tibetischen oder indonesischen Kunst – der Buddha wird stets lächelnd dargestellt. Diese Ikonographie hat Hesse möglicherweise bei seiner Darstellung des Buddha noch stärker beeinflusst als die textliche Überlieferung. An Christoph Schrempf schreibt er rückblickend 1932: Für mich, den Künstler, ist von Buddha die Gestalt nicht zu trennen, die er in der indischen Dichtung und der Plastik ganz Asiens im Lauf der Zeit angenommen hat, eine der sublimsten Figuren im ganzen Bilderschatz der Menschheit […]. Da sprechen unsäglich tiefe, rührende und großartige Züge, und ob ein etwaiger historischer Buddha hinter ihnen stehe oder nicht, kann mir einerlei sein.359

Das Motiv des Lächelns ist im Roman als Erkennungszeichen der Vollendeten als plastisch-bildliches Symbol zu verstehen, das anzeigt, was nicht in Worten übermittelt werden kann: der Zustand der Erleuchtung. Im Gegensatz zu den zwei dominanten Motiven, die den Erzählfluss im Siddhartha gliedern und verbinden, findet sich eine ganze Vielzahl an Leitmotiven in Narziß und Goldmund.360 Diese stehen jedoch alle in einer inneren Verbindung miteinander, da sie auf Bachofens Einteilung der Symbolik von mutterund vaterrechtlicher Sphäre bezogen sind. Gleich zu Beginn des Romans spricht

|| 356 Ebd. S. 462. 357 Ebd. S. 469. 358 Ebd. S. 471. 359 Brief Hesses an Christoph Schrempf vom Sommer 1932. In: Michels, Volker: Materialien zu Siddharta. S. 220f. 360 Eine zusammenfassende Analyse der Leitmotive in Narziß und Goldmund findet sich bei Nicolai, der sie vornehmlich im Hinblick auf Nietzsches Entgegensetzung von apollinischem und dionysischem Prinzip interpretiert. Vgl. Nicolai, Ralf: Hesses Narziß und Goldmund. S. 13ff.

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Narziß deutlich aus, welchen unterschiedlichen Sphären die beiden Freunde jeweils zugehörig sind: ‚Die Naturen von deiner [Goldmunds, E.K.] Art, die mit den starken und zarten Sinnen, die Beseelten, die Träumer, Dichter, Liebenden, sind uns andern, uns Geistmenschen beinahe immer überlegen. Eure Herkunft ist eine mütterliche. […] Eure Heimat ist die Erde, unsere die Idee. Eure Gefahr ist das Ertrinken in der Sinnenwelt, unsere das Ersticken im luftleeren Raum. Du bist Künstler, ich bin Denker. Du schläfst an der Brust der Mutter, ich wache in der Wüste.‘361

Im Erzählfluss wird diese Unterscheidung von Goldmunds mütterlicher und Narzißens väterlich-geistiger Herkunft durch den Einsatz von Leitmotiven permanent bildlich vergegenwärtigt. Goldmunds Sphäre zugehörig sind beispielsweise Symbole wie der Mond, der Fisch und das Wasser, Bäume, Holz und Blumen (vornehmlich Rosen), die von Bachofen – und später ebenso von Klages – als der Mutter zugehörig beschrieben werden.362 Die Klosterwelt, zu der Narziß gehört, wird dagegen durch die Symbole Stein und Sonne markiert363 und darüber hinaus mit der Frauenfigur der Maria assoziiert, der auf Goldmunds Seite die Eva entspricht. Einige der Symbole tauchen erst auf, als Goldmund sich an seine Mutter erinnert hat und die ersten Schritte heraus aus der väterlichen Klostersphäre wagt. So verlässt er mit seinen Kameraden im Schutz der Nacht zum ersten Mal das Kloster und reißt sich nach dem Kuss des Mädchens „die Hand an einem Rosenstrauch wund“364. Als er bald darauf im Kloster ohnmächtig wird, nachdem Narziß ihn an seine Mutter erinnert hatte, erfüllt ein „leise herziehender Rosenduft“365 den Kreuzgang. Auf der Suche nach Arzneipflanzen begegnet ihm Lise, die als Repräsentantin der Großen Mutter „eine kleine brennrote Steinnelke im Munde“366 hat. Die von Enthaltsamkeit geprägte Zeit, die Goldmund auf dem Rittergut zubringt, wird ebenso auf das Blumenmotiv übertragen: hier fallen Goldmund zum Zeichen für die unterdrückte mütterlich-sinnliche Sphäre „die vom Schnee hinabgebogenen Rosenstämme“367 auf. Goldmund wird über-

|| 361 Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. S. 305f. 362 Vgl. beispielsweise Bachofen, Johann Jakob: Der Mythus von Orient und Occident. S. 23; 49; 175; 245f.; 255f. 363 Vgl. ebd. S. 23. 364 Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. S. 289. 365 Ebd. S. 308. 366 Ebd. S. 329. 367 Ebd. S. 370.

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dies mit einer Biene verglichen, die „kreuz und quer“368 von Blüte zu Blüte fliegt und nichts so sehr scheut wie die Sesshaftigkeit. Er passt damit genau in die Rolle des Mannes in der Phase des ‚aphroditischen Hetärismus‘, den Bachofen mit einem Bienenstaat vergleicht, in dem den Männern nur die Rolle des anonymen Erzeugers zukommt.369 Die Frauen, mit denen er zusammen ist, scheinen ebenfalls in eben dieser ‚hetärischen Phase‘ befangen zu sein, denn keine möchte eine feste Partnerschaft mit ihm eingehen: „Keine hatte ihn ernstlich gebeten dazubleiben, keine einzige hatte ihn je gebeten, sie mitzunehmen […].“370 Auch der Mond als Symbol der mütterlichen Sphäre ist diesem Motivkreis zugeordnet.371 Nach seiner ersten Liebesnacht mit Lise sieht Goldmund den Mond aufgehen, der sogleich mit der Frauenfigur in Verbindung gebracht wird: Als er sich über Lises Gesicht gebeugt hatte und im Dunkeln ihre Lippen zu küssen begann, sah er plötzlich ihre Augen und die Stirn in einem sanften Licht erschimmern, staunend blickte er hin und sah zu, wie der Schein aufdämmerte und schnell sich verstärkte. Dann begriff er und wandte sich um: überm Rand der schwarzen langgestreckten Wälder kam der Mond herauf. Wunderbar sah er das weiße sanfte Licht über ihre Stirn und Wangen fließen […].372

Über den gesamten Roman hinweg bleibt von nun an das Motiv des Mondes eng mit dem Weiblichen verbunden373, während die Sonne mit der väterlichen Klosteratmosphäre assoziiert wird. Sogar während Goldmunds Wanderzeit ist es ein „Sonnenstrahl“374, der ihn in einer Kirche auf die Marienfigur des Meister Niklas aufmerksam macht. Deutlich mit der mütterlichen Sphäre verbunden ist dagegen wiederum Goldmunds Vorliebe für Gewässer und deren Bewohner, die Bachofen folgendermaßen charakterisiert: Alle diese Tiere lieben Schlamm- und Sumpfgründe, in welchen sich die Mischung von Erde und Wasser gewissermaßen verkörpert und die eben darum als das [mütterliche, E.K.] Urchaos, aus welchem alles Leben hervorgeht, angesehen werden.375

Das Wasser und die in ihm lebenden Kreaturen werden über Goldmunds gesamte Wanderzeit hinweg immer wieder erwähnt und ausführlich beschrieben. || 368 Ebd. S. 518. 369 Bachofen, Johann Jakob: Der Mythus von Orient und Occident. S. 245f. 370 Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. S. 351. 371 Vgl. Bachofen, Johann Jakob: Der Mythus von Orient und Occident. S. 255f. 372 Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. S. 338. 373 Vgl. ebd. S. 339; 389; 390. 374 Ebd. S. 391. Vgl. auch Nicolai, Ralf: Hesses Narziß und Goldmund. S. 127. 375 Bachofen, Johann Jakob: Der Mythus von Orient und Occident. S. 175.

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Goldmund träumt oftmals von Fischen376, beobachtet sie eindringlich und scheint sich ebenfalls für die Bachofenschen ‚Schlamm- und Sumpftiere‘ zu interessieren, die dieser mit der mütterlichen Urzeugung aus der fruchtbaren Verbindung von Wasser und Erde in Verbindung bringt: Am Fluß kannte er eine Stelle, dort war das Wasser nicht tief und strömte über einen Grund voll Gerümpel und Abfall. […] Und wenn man von hier aus durch das strömende, kristallfädige Wasser hinabschaute auf den dunklen undeutlichen Grund, dann sah man hier und dort irgend etwas mit gedämpftem Goldglanz aufblinken und verlockend glitzern, unerkennbare Dinge […], manchmal auch mochte es ein Schlammfisch sein, eine feiste Trüsche oder ein Rotauge, das sich da unten umdrehte und einen Augenblick auf den hellen Bauchflossen und Schuppen einen Lichtstrahl auffing […].377

Über den Zusatz ‚Goldglanz‘, der im Text immer wieder bei der Beschreibung von Fischen auftaucht, sind sie überdies mit ‚Goldmund‘ direkt assoziiert. Sie sind als Motiv darüber hinaus auch mit Vergänglichkeit und Tod als Teilaspekt der ‚Großen Muttergöttin‘ verbunden. Immer wieder beobachtet Goldmund die Fischhändler beim Verkaufen ihrer Ware, wie sie „die kühlen silbernen Fische aus ihren Bottichen rissen“ und „wie die Fische mit schmerzlich geöffneten Mäulern und angstvoll starren Goldaugen sich still dem Tode ergaben“378 (auch hier findet sich wieder die Gold-Referenz). Als Lene an der Pest stirbt, fallen Goldmund sofort „die sterbenden Fische ein, die er oft auf dem Fischmarkt gesehen und bedauert hatte“379. Auch Goldmund selbst zieht sich seine tödliche Verletzung nicht zufällig im Wasser zu: er stürzt vom Pferd in einen Bach und bleibt danach lange im Wasser liegen, ohne sich gegen den Tod zu wehren.380 Über all diesen versprengten Motiven, die auf Bachofens Symbolanalysen zurückgehen, steht das übergeordnete Bild der Urmutter Eva, nach dem Goldmund auf der Suche ist. Aus seinem persönlichen Mutterbild entwickelt sich bald der Archetyp der ‚Großen Mutter‘, die Leben und Tod in sich vereint.381 Als dieses Bild Goldmund in einer Vision erscheint, enthält es alle bisher erwähnten Motive der Muttersphäre in gedrängter Form: […] er sah das Gesicht der Urmutter, über den Abgrund des Lebens geneigt, mit einem verlorenen Lächeln schön und grausig blicken, sah es lächeln zu den Geburten, zu den To-

|| 376 Vgl. Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. S. 318. 377 Vgl. ebd. S. 420f. 378 Ebd. S. 416. 379 Ebd. S. 450. 380 Vgl. ebd. S. 529. 381 Vgl. Bachofen, Johann Jakob: Der Mythus von Orient und Occident. S. 23.

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den, zu den Blumen […]. Alles galt ihr gleich, der Urmutter, über allem hing wie der Mond ihr unheimliches Lächeln, ihr war der schwermütig sinnende Goldmund so lieb wie der auf dem Pflaster des Fischmarkts sterbende Karpfen […]. [Meine Hervorhebungen]

Das weibliche Gegenstück zur Urmutter Eva ist die Figur der Maria, die in die väterliche Klostersphäre eingebettet ist. Sie ist die christlich-geistige Entsprechung der Urmutter, die jedoch ihres sinnlichen Aspekts beraubt ist und für die platonische Liebe steht. Goldmund liebt schon während seiner Zeit im Kloster besonders „die Marienlieder“382 und verehrt die „große steinerne Madonna in der Kapelle“383. Die Erwähnung der ‚steinernen Madonna‘ erfolgt nicht zufällig: der feste, unveränderliche Stein taucht über die gesamte Erzählung hinweg immer wieder in Zusammenhang mit Narziß und der Klosteratmosphäre auf und fungiert damit als Gegenspieler des organischen Holzes, das für Goldmunds Verhaftung im sinnlichen Leben steht. Ein weiterer Hinweis auf die Zugehörigkeit der Marienfigur zur väterlichen Sphäre ist ihre Verbindung mit zwei Frauen, die sich nicht von Goldmund erobern lassen. So spricht Goldmund auf dem Rittergut beispielsweise ein „Marienlied“384, kurz bevor Lydia zur Tür hereinkommt. Sie lässt sich nicht von ihm verführen, weil sie ihrem Vater keine „Schande machen“385 will – und so ist es auch nicht überraschend, dass Goldmund sie in seinem letzten Werk als „Marienfigur“386 verewigt. Auch Marie, die die Maria ja bereits im Namen trägt, kümmert sich um Goldmund, ohne mit ihm eine Liebesbeziehung einzugehen: sie „hinkt“387 aufgrund eines „kranken Hüftgelenk[s]“ und scheint damit nicht in Goldmunds Welt der sinnlichen Schönheit zu passen. Dafür kümmert sie sich liebevoll um ihn und empfängt zum Dank seinen platonischen Kuss „wie ein Sakrament“388. Sie besitzt außerdem ein „rotes Rubinglas“389: der Rubin ist im Alten Testament als Stein des Stammes Juda gekennzeichnet und gilt in der christlichen Mystik als Symbol für Jesus selbst.390 Die Marienfigur erhält aus all diesen Bezügen ihre Bedeutung als Verkörperung der geistigen Liebe, die in Gegensatz und Ergänzung zur sinnlichen Liebe steht, die von der

|| 382 Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. S. 300. 383 Ebd. S. 326. 384 Ebd. S. 364. 385 Ebd. S. 366. 386 Ebd. S. 514. 387 Ebd. S. 464f. 388 Ebd. 389 Ebd. S. 465. 390 Vgl. Ex 39, 8–15.

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Urmutter Eva repräsentiert wird und mit den Bachofenschen Symbolen der ‚Großen Mutter‘ versehen ist. Die beiden bislang analysierten leitmotivischen Bereiche der geistigväterlichen und sinnlich-mütterlichen Sphäre, denen Narziß und Goldmund jeweils zugehören, bilden jedoch keine geschlossenen oder sich gegenseitig ausschließenden Systeme. Sie werden vielmehr im Verlauf des Romans immer stärker miteinander verwoben: die Freundschaft zwischen Narziß und Goldmund und die Kunst nehmen dabei eine vermittelnde Rolle ein. Diese Verbindung beider Sphären wird bereits im ersten Absatz des Romans exponiert, indem das steinerne Kloster (als Repräsentation des väterlich-geistigen Prinzips) mit dem leitmotivisch wiederkehrenden Kastanienbaum (als Symbol für die mütterlich-sinnliche Welt) in Beziehung gesetzt wird. Um dies zu verdeutlichen, sind im folgenden Zitat die Attribute der väterlichen Sphäre kursiv hervorgehoben, die der mütterlichen sind unterstrichen: Vor dem von Doppelsäulchen getragenen Rundbogen des Klostereingangs von Mariabronn, dicht am Wege, stand ein Kastanienbaum […], eine Edelkastanie mit starkem Stamm; zärtlich hing ihre runde Krone über den Weg, atmete breitbrüstig im Winde, […] trieb dann um die Zeit der kürzesten Nächte aus den Blattbüscheln die matten, weißgrünen Strahlen ihrer fremdartigen Blüten empor, die so mahnend und beklemmend herbkräftig rochen […]. Fremd und zärtlich ließ der schöne Baum seine Krone überm Eingang zum Kloster wehen, ein zartgesinnter und leicht fröstelnder Gast aus einer anderen Zone, verwandt in geheimer Verwandtschaft mit den schlanken sandsteinernen Doppelsäulchen des Portals und dem steinernen Schmuckwerk der Fensterbogen, Gesimse und Pfeiler […].391 [Meine Hervorhebungen]

Die ‚geheime Verwandtschaft‘ zwischen dem organischen Leben des Baumes und der statischen Welt des steinernen Klosters wird in der Exposition bereits angedeutet und im Laufe des Romans immer weiter verdichtet. Während Goldmunds erste Worte im Roman eben jenem Kastanienbaum gelten392, den er immer wieder besucht und auch noch als erwachsener Mann bei seiner Rückkehr ins Kloster „zärtlich berührt“393, wird Narziß stets umgeben von der steinernen Welt des Klosters dargestellt: man sieht ihn „den Kreuzgang durchschreiten“ oder „auf dem Steinboden kniend“394, bei Goldmunds Abschied vom Kloster befindet er sich in einer „der Büßerzellen im inneren Kloster“395, also im Mittel-

|| 391 Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. S. 271. 392 Vgl. ebd. S. 277. 393 Ebd. S. 498. 394 Ebd. S. 325. 395 Ebd. S. 331.

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punkt der ihn umgebenden Klostermauern. Als Goldmund ihm nachsieht, hört er „seine Sandalen […] auf den Steinfliesen“ und sieht ihn verschwinden als wäre er „von der Finsternis der Kirchenpforte eingeschluckt“396. Goldmunds Abwendung vom Klosterleben wird dagegen stets mit seiner Nähe zu Bäumen und Pflanzen markiert: seine Freunde ziehen ihn „hinaus unter die Bäume“397, um ihn zu einem Ausriss aus dem Kloster zu überreden. Sie treffen sich „unter den Lindenbäumen“398 und trinken beim Besuch der Dorfmädchen „Apfelmost“399 – die Verbindung des Baumes zu Eva und dem Essen des Apfels ist auch hier, wie schon im Demian, angedeutet. Bei seinem endgültigen Abschied vom Kloster lehnt er sich „im Hof an die Linden, an den Kastanienbaum“400. Bereits während der Zeit, die Narziß und Goldmund gemeinsam im Kloster verbringen, sind jedoch beide Elemente Stein und Holz auch in ihrer Verbindung miteinander dargestellt – und zwar bezeichnenderweise im Medium der Kunst. Goldmund bemerkt früh die Verzierungen und Kunstwerke im Kloster, die das organische Leben in Stein gemeißelt darstellen: Ebenso spürte er eine Liebe und eine geheime holde Beziehung zu den Säulen und Kapitälen der Fenster und Türen, den Ornamenten der Altäre, zu diesen schön profilierten Stäben und Kränzen, zu diesen Blumen und krautig wuchernden Blättern, die aus dem Stein der Säulen und sich so sprechend und eindringlich falteten.401

Hier zeigt sich die sinnliche Natur verbunden mit dem Medium Stein, das in die geistig-väterliche Klostersphäre gehört. Auch die „steinerne[n] Köpfe von Hunden oder Wölfen“, die an den Säulen „der runden schweren Steinbogen“ 402 angebracht sind, werden in seiner Einbildungskraft lebendig. Im Verlauf von Goldmunds Entwicklung zum Künstler dreht sich dieses Verhältnis um: er gestaltet nun geistliche Figuren aus organischem Holz. Inspiriert wird er von der „Mutter Gottes aus Holz“403, die Meister Niklas gefertigt hat. Er selbst gestaltet als erste Figur den Jünger Johannes aus Holz, dem er die Gestalt seines Freundes Narziß gibt.404 Seine letzte Figur ist ein Gegenstück zu der „steinerne Ma-

|| 396 Ebd. S. 334f. 397 Ebd. S. 285. 398 Ebd. S. 286. 399 Ebd. S. 287. 400 Ebd. S. 326. 401 Ebd. S. 300. 402 Ebd. S. 307. 403 Ebd. S. 391. 404 Vgl. ebd. S. 412.

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donna“405 des Klosters: er stellt eine Marienfigur aus Holz her, die Narziß als sein „schönstes Werk“406 bezeichnet. Beim Anblick von Goldmunds Werken wird sich Narziß bewusst, dass die Kunst als Vermittlung zwischen den beiden getrennten Sphären dient, denen die beiden Freunde angehören: Tief hatte Narziß in seines Freundes verworrenes Leben geblickt, und weder seine Liebe zu ihm noch seine Achtung für ihn war kleiner geworden. O nein, und seit er aus Goldmunds befleckten Händen diese wunderbar still-lebendigen, von innerer Form und Ordnung verklärten Gebilde hatte hervorgehen sehen, diese innigen, von Seele leuchtenden Gesichter, diese unschuldigen Pflanzen und Blumen, diese flehenden oder begnadeten Hände, all diese kühnen und sanften, stolzen und heiligen Gebärden, seitdem wußte er wohl, daß in diesem unsteten Künstler- und Verführerherzen eine Fülle von Licht und Gottesgnade wohne.407

Ebenso wie die beiden Frauenfiguren Eva und Maria für zwei unterschiedliche Aspekte der Liebe stehen, aber durch ihr Muttersein miteinander verbunden sind, wird die Kunst über die leitmotivische Verbindung der geistigen und der sinnlichen Komponente des menschlichen Lebens als Vermittlerin zwischen den getrennten Sphären inszeniert. Der Einsatz von Leitmotivik erfüllt also in den hier untersuchten Romanen jeweils eine verbindende Funktion: Die Motive werden entweder dazu eingesetzt, verschiedene Figuren über die Erzählung hinweg miteinander zu verknüpfen und auf ihre geheime Identität miteinander zu verweisen (wie beispielsweise beim ‚Lächeln‘ der Erleuchteten), oder sie deuten eine Synthese zwischen zwei gegensätzlichen Polen an (wie in der Kunst Goldmunds). Sie drücken außerdem meist etwas aus, das nicht direkt gesagt werden kann und einer bildlichen Umkleidung bedarf (so wie die Darstellung von Emils seelischer Entwicklung im Seelenvogelmotiv). 4.1.2.2 Typisierung und Aufspaltung der Totalität in eine Vielzahl Auch in Bezug auf die Figuren-Darstellung nutzt Hesse eine Technik des mythischen Erzählens: Wie in mythischen Geschichten werden in Hesses Romanen viele Figuren typisiert und auf eine bestimmte Rolle festgelegt. Dies ist besonders auffällig bei den Nebenfiguren, die oft kaum ausführlicher skizziert werden, als es eine reine Rollenzuschreibung verlangen würde. Diese typischen Figuren dienen entweder dazu, bestimmte Lebens- und Erfahrungsbereiche des

|| 405 Ebd. S. 326. 406 Ebd. S. 516. 407 Ebd. S. 520.

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Protagonisten symbolisch zu vertreten oder sie fungieren als Spiegelbilder, die bestimmte Aspekte seiner Persönlichkeit verkörpern, die in diese andere Figur ausgelagert sind. Beispielhaft dafür sind im Demian die Darstellungen der Mutter als Repräsentantin eines Lebensbereichs und die von Sinclair verehrte Beatrice als Verkörperung eines ausgelagerten Persönlichkeitsanteils. Emils Mutter steht als symbolische Figur für seine Bindung an das Elternhaus und wird zunächst nur indirekt charakterisiert über die Stimmungen, die Sinclair mit diesem in Verbindung bringt. Neben der Assoziation mit Reinlichkeit („Klarheit und Sauberkeit“, „gewaschene Hände“408) ist es vor allem ein strikter Moralkompass, den er mit seiner Mutter verbindet: sie steht für „Pflicht und Schuld, schlechtes Gewissen und Beichte, Verzeihung und gute Vorsätze, Liebe und Verehrung, Bibelwort und Weisheit“409. Im weiteren Fortgang der Erzählung erhält sie kaum weitere individuelle Züge, sondern wird mit den typischen Attributen der mitfühlenden und umsorgenden Mutter versehen: sie fühlt, „daß etwas nicht richtig sei“, während Emil von Kromer erpresst wird, und zeigt „viel Anteilnahme“, bringt ihm sogar abends „ein Stückchen Schokolade“410 ans Bett. Er wird von der Mutter während dieser gesamten Phase „mehr wie ein Kranker behandelt als wie ein Bösewicht“411 und nach der Beichte auch wieder liebevoll in den Familienkreis aufgenommen.412 Nach der Aufnahme ins Internat verschwindet die Figur der Mutter fast ganz aus der Erzählung: sie taucht nur noch indirekt in den mahnenden Worten des Vaters auf413 und es wird berichtet, dass sie bei einem Heimatbesuch Emils „traurig“414 gewesen sei. Ihr Verschwinden aus der Erzählung markiert zugleich die Ablösung Emils von seinem Elternhaus und seine Abwendung von den damit verbundenen christlichen Werten. Auch die Beatrice-Figur wird nur äußerst schemenhaft und typisiert dargestellt. Sie kommt Emils Wunsch nach seelischer Läuterung entgegen und wird damit zur Projektionsfläche für seine eigene seelische Entwicklung. Das lässt bereits ihr Name vermuten, da sie Sinclair wie Dantes Beatrice in der Göttlichen Komödie nach seinem Durchgang durch ‚Inferno‘ und ‚Purgatorium‘ empfängt und Läuterung verspricht. Obwohl er kein Wort mit ihr spricht, löst die „junge

|| 408 Hesse, Hermann: Demian. S. 237. 409 Ebd. 410 Ebd. S. 252. 411 Ebd. S. 260. 412 Vgl. ebd. S. 268. 413 Vgl. ebd. S. 293. 414 Ebd. S. 294.

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Dame“ in ihm den „Wunsch nach Ehrfurcht und Anbetung“415 aus. Sie ist die reine Jungfrau, der Emil eine Art Marienverehrung entgegengenbringt, um sich nach seiner Krisis und Trinksucht innerlich zu läutern: Ich habe mit Beatrice nicht ein einziges Wort gesprochen. Dennoch hat sie damals den tiefsten Einfluß auf mich ausgeübt. Sie stellte ihr Bild vor mir auf, sie öffnete mir ein Heiligtum, sie machte mich zum Beter in einem Tempel. Von einem Tag auf den anderen blieb ich von den Kneipereien und nächtlichen Streifzügen weg.416

Damit steht die Beatrice-Figur in der – übrigens auch von C. G. Jung beschriebenen – Tradition des „Frauendienstes“ als „Seelendienst“417: über die Verehrung der anonym bleibenden Jungfrau kommt Sinclair nach seiner Krisis wieder zu sich und richtet sich erneut an höherstehenden Idealen aus. Die Frauenfigur im Siddhartha hat dagegen eine umgekehrte Funktion: sie verkörpert den Bereich des sinnlichen Begehrens, den der Protagonist während seiner Askese unterdrückt hatte. Auch sie trägt einen sprechenden Namen: Kamala. Ebenso wie der Kaufmann Kamaswami trägt sie das Wort kama im Namen, das in Oldenbergs Buddha-Schrift mit „Begehren“418 übersetzt wird. Beide repräsentieren zwei verwandte Erfahrungsbereiche, die Siddhartha durchlebt: Während Kamala Siddhartha in der Kunst der sinnlichen Liebe unterweist (kamasutra)419, lehrt ihn Kamaswami, wie man mit dem Begehren der Menschen Geschäfte macht.420 Kamala ist im Vergleich zu Kamaswami jedoch eine mehrschichtige Figur: sie steht als Typus nicht nur für einen begrenzten Lebensabschnitt des Protagonisten, sondern entwickelt sich zu seinem weiblichen Spiegelbild. Sie ist „ihm ähnlicher“421 als sein Freund Govinda, weil auch sie neben ihrer Sinnlichkeit die „Stille und Zuflucht“422 der geistigen Einkehr kennt. Das ihr zugeschriebene Leitmotiv – ihr Mund gleiche einer „frisch aufgebrochenen Feige“423 – beinhaltet dementsprechend beide Elemente: das Bild kann zum einen mit ihrer Sinnlichkeit als Kurtisane assoziiert werden, verweist aber zugleich auch auf die buddhistische Erleuchtungs-Ikonographie. Der Bodhi-Baum, unter dem Buddha die Vollendung erlangt, ist als Bengalische || 415 Ebd. S. 295. 416 Ebd. S. 296. 417 Jung, Carl Gustav: Psychologische Typen. S. 236. 418 Oldenberg, Hermann: Buddha. S. 49. 419 Vgl. Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 421. 420 Vgl. ebd. S. 414f.; 418. 421 Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 420. 422 Ebd. 423 Vgl. ebd. S. 407; 409; 411; 448.

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Feige bekannt und auch Siddhartha wächst (als Vorausnahme seiner Erleuchtung) unter einem „Feigenbaum“424 auf. Damit spiegelt Kamala als Figur den Entwicklungsweg Siddharthas und nimmt in der Erzählung vorweg, dass Siddhartha selbst in seiner der Sinnlichkeit gewidmeten Lebensphase auf der Suche nach Erleuchtung ist. Zusätzlich zur Typisierung von Nebenfiguren fällt in Hesses Romanen die Auslagerung einer Einheit in zwei oder mehrere Figuren als Textstrategie auf. Dabei taucht zum einen häufig die Kombination von Sucher- und Führerfiguren auf, wie z.B. Emil und Demian, Siddhartha und Vasudeva oder Harry und Hermine im Steppenwolf. Zum anderen treten aber auch oft zwei gegensätzlichen Figuren auf, die gemeinsam eine übergeordnete Einheit bilden, wie Narziß und Goldmund oder Josef Knecht und Plinio Designiori im Glasperlenspiel. In Narziß und Goldmund sind die beiden Protagonisten als sich ergänzende Gegenpole angelegt, die durch ihre Freundschaft die Verbindung der beiden Typen zu einer höheren Einheit symbolisieren. Theoretisch hat sich Hesse in seinem Aufsatz Ein Stückchen Theologie (1932) zu den zwei Menschentypen geäußert, die er in Narziß und Goldmund literarisch portraitiert hat. Die Typeneinteilung, die höchstwahrscheinlich von C. G. Jungs Schrift über die Psychologischen Typen (1921) beeinflusst ist, bezeichnet Hesse als ein „Spiel“, das den Versuch darstellt, „unsere Erfahrungsmasse zu bewältigen“425. In seinem Aufsatz stellt er zwei grundsätzlich verschiedene Menschentypen vor, die er als den ‚Vernünftigen‘ und den ‚Frommen‘ bezeichnet. Während der vernünftige Typus einen rationalen Blick auf die Welt pflege und an „nichts so sehr“ glaube wie „an die menschliche Vernunft“426, neige der fromme Typus „zum Spielen“ und „mythologisiert die Welt“427. Im Gegensatz zum fortschrittsgläubigen Vernünftigen, der sich berechtigt fühle, zu herrschen und nach Macht zu streben – „sei es auch nur, um das ‚Gute‘ durchzusetzen“428 –, misstraue der Fromme jeglichem Machtstreben und zeichne sich auch nicht durch praktische Tätigkeit aus.429 Er misstraue auch dem Verstand als einzig zuverlässigem Erkenntnismittel und sei Bildung und Wissen gegenüber ebenso „unsicher“430, wie es der Vernünftige der Natur und der Kunst gegenüber sei. In den beiden Typenbeschreibungen lassen sich unschwer Narziß und Goldmund erkennen. Narziß als der gelehrte Ver|| 424 Ebd. S. 373. 425 Hesse, Hermann: Ein Stückchen Theologie. S. 157. 426 Ebd. S. 158. 427 Ebd. S. 161. 428 Ebd. S. 160. 429 Vgl. ebd. 430 Ebd. S. 161.

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nünftige preist die rationale Wissenschaft als „Unterscheidungskunst“431 und strebt nach Macht und Ämtern, um das ‚Gute‘ durchzusetzen.432 Dafür ist er unsicher gegenüber Goldmunds Sinnlichkeit und betont, dass er kein „Kunstkenner“433 sei. Goldmund dagegen hat hier seine Stärken, eignet sich aber weder zum Gelehrten noch zu sonstiger praktischer Tätigkeit – wann immer er einer geregelten Arbeit nachgehen soll, bricht er aus.434 Stattdessen scheinen ihm „Liebe und Wollust“ das einzige zu sein, was sein Leben „mit Wert erfüllt“ – „Ehrgeiz“ ist ihm „unbekannt“435. Das Ziel der Typenbeschreibung und auch des literarischen Spiels mit den zwei gegensätzlichen Charakteren liegt aber für Hesse nicht in der Differenzierung, sondern im Erkennen der Zusammengehörigkeit der beiden Polaritäten: So sieht er es als „Kennzeichen eines genialen Menschen“ an, dass „er zwar seinen Typus als besonders geglücktes Exemplar darstellt, zugleich aber ein stilles Verlangen nach dem Gegenpol in sich trägt“436. Sobald beide Typen sich in ihrem „Aufeinanderangewiesensein“ gegenseitig erkennen, führe der Weg weiter zu den höchsten „Möglichkeiten des Menschentums“437. Diese Erkenntnis formuliert Narziß auch im Roman als Zielvorstellung der Freundschaft zwischen ihm und Goldmund: Unser Ziel ist nicht, ineinander überzugehen, sondern einander zu erkennen und einer im andern das sehen und ehren zu lernen, was er ist: des andern Gegenstück und Ergänzung.438

Die übergeordnete Einheit, die ihre Freundschaft herstellt, wird symbolisch in Goldmunds künstlerischen Werken angedeutet. Wie bereits bei der Analyse der Leitmotivik erwähnt wurde, dient die Kunst als Vermittlerin zwischen der geistigen Sphäre, der Narziß als ‚Vernünftiger‘ angehört, und der sinnlichen Sphäre, der Goldmund als Typus des ‚Frommen‘ zugerechnet wird. Insgesamt fällt bei der Figurenanalyse auf, dass die Mehrzahl der portraitierten Figuren entweder kaum individuelle Züge trägt und stattdessen Ideen personifiziert oder als Ergänzung und Gegenpol des Protagonisten fungiert. Die Typisierung der Figuren dient – ebenso wie in mythischen Geschichten – dazu,

|| 431 Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. S. 302. 432 Vgl. ebd. S. 275. 433 Ebd. S. 511. 434 Vgl. ebd. S. 319f. 435 Ebd. S. 409. 436 Hesse, Hermann: Ein Stückchen Theologie. S. 163. 437 Ebd. S. 164. 438 Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. S. 304.

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leicht erkennbare Charakterisierungen zu schaffen, die dann dazu genutzt werden, die Entwicklung der Hauptfigur zu konturieren oder die Handlung an einer bestimmten Ideenfolge auszurichten. Zusätzlich wird in Hesses Romanen oftmals eine gedachte ideale Einheit auf eine Zwei- oder Vielheit ausgelagert, so dass mehrere Protagonisten zusammengenommen das Ideal einer ganzheitlich entwickelten Persönlichkeit verkörpern. Ähnlich wie in polytheistischen Mythen steht so jede Einzelfigur für einen Teilaspekt der ungeteilten Ganzheit. 4.1.2.3 Zeit und Raum Zusätzlich zur Typisierung von Figuren wird auch die Gestaltung von Zeit und Raum in Hesses Romanen metaphorisch aufgeladen und teilweise sogar zu übergeordneten geometrischen Symbolen ausgeweitet. Im Demian ist besonders die räumliche Grenzmetaphorik markant: die innere Entwicklung Sinclairs wird durch das Übertreten von Schwellen markiert. Dies wird zum ersten Mal deutlich, wenn Franz Kromer Sinclair erpresst und sich mit in den Hausflur drängt.439 Nach dieser Grenzübertretung fällt Emil aus der heimatlichen Welt seiner Kindheit heraus: „Unser Hausflur roch nicht mehr nach Frieden und Sicherheit, die Welt brach um mich zusammen.“440 Im vorausgehenden Abschnitt wurde bereits erläutert, dass auch das Bild des Wappenvogels jeweils an Schwellen geknüpft ist, die eine weitere Station in Sinclairs Entwicklung symbolisieren.441 Demian weist Sinclair auf das Wappen über seiner Haustür hin und auch vor dem Eintritt in das Haus von Demians Mutter hängt sein Bild des Sperbers über der Tür. Damit stehen sich die heimatliche Welt und die neue Gemeinschaft in einer Art Spiegelung gegenüber. Die Begegnung mit Pistorius, die zwischen diesen beiden Stationen liegt, bedarf ebenfalls des Übertretens einer Schwelle: nachdem Sinclair sich zunächst heimlich vor das Kirchentor setzt, um ihm beim Orgelspiel zuzuhören, findet er beim nächsten Besuch das Kirchentor offen und geht hinein.442 Das Übertreten der Schwelle ist die Voraussetzung für seinen Kontakt mit Pistorius, der ihn in die Bedeutung des AbraxasSymbols einweiht und ihn auf die nächste Entwicklungsstufe vorbereitet. Ebenso wie in rituell basierten Mythen markiert das Übertreten einer Schwelle hier den Übergang eines Initianden von einer Lebensspähre (z.B. der Kindheit) in die

|| 439 Hesse, Hermann: Demian. S. 242. 440 Ebd. S. 243. 441 Vgl. dazu auch Whiton, John: Stil und Symbolik des Demian. In: Michels, Volker (Hg.): Materialien zu Hermann Hesses Demian. Zweiter Band. Die Wirkungsgeschichte in Rezensionen und Aufsätzen. Frankfurt a. M. 1997. S. 162–164. Hier: S. 164. 442 Vgl. Hesse, Hermann: Demian. S. 311.

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nächste (z.B. das Erwachsenendasein), die mit bestimmten Regeln und Ritualen verbunden ist.443 Auch der Fluss im Siddhartha erfüllt – unter anderem – die Funktion einer geographischen Trennung zweier verschiedener Erfahrungsbereiche.444 Siddharthas Erlebnisse bei den Asketen und bei den Stadtmenschen sind jeweils durch das Überqueren des Flusses voneinander getrennt. Nachdem er seinem Leben bei den Samanas abgeschworen hat und auch nicht dem Gefolge des Buddha beigetreten ist, kommt er zum ersten Mal an das Flussufer und übernachtet beim Fährmann Vasudeva. Noch am diesseitigen Flussufer hat er einen Traum, der die nun folgende Phase des sinnlichen Stadtlebens vorausdeutet: […] aus des Weibes Gewand quoll eine volle Brust, an der lag Siddhartha und trank, süß und stark schmeckte die Milch dieser Brust. Sie schmeckte nach Weib und Mann, nach Sonne und Wald, nach Tier und Blume, nach jeder Frucht, nach jeder Lust. Sie machte trunken und bewußtlos.445

Nach seiner Zeit bei den Stadtmenschen, deren Wohlleben ihn tatsächlich ‚trunken und bewusstlos‘ macht, kommt Siddhartha wiederum an den Fluss und sein Erlebnis beim ersten Überqueren des Flusses wird nun am jenseitigen Ufer genau gespiegelt. Während es vor der ersten Überquerung der Traum von der Sinnlichkeit ist, der das Kommende ankündigt, erlebt Siddhartha vor der zweiten Überquerung eine Vorausdeutung der geistigen Entwicklung, die er am anderen Ufer durchlaufen wird: der Laut Om bewahrt ihn vor dem Selbstmord und er begegnet Govinda (der inzwischen Mönch in der Gefolgschaft Buddhas ist) als Vorbote des mönchshaften Lebens, das er bei Vasudeva am Fluss verbringen wird.446 Die Bereiche der asketischen Geistigkeit und des sinnlichen Wohllebens sind also durch den Fluss getrennt und gleichzeitig durch ihn verbunden. Dies lässt sich zum einen mit Ziolkowski als eine Art „Landschaft [der] Seele“447 deuten, die Siddhartha auf seinem Entwicklungsweg als Extreme durchwandert. Zum anderen kann man aber auch auf den symbolischen Gehalt dieser Topographie verweisen, der an Buddhismus und Taoismus angelehnt ist. Die Funktion der beiden Bereiche dies- und jenseits des Flussufers als Veranschaulichung der beiden Extrembereiche jenseits des buddhistischen ‚mittleren

|| 443 Vgl. Cassirer, Ernst: Das mythische Denken. S. 122. 444 Zum Fluss-Motiv vgl. auch Shaw, Leroy: Zeit und Struktur im Siddhartha. S. 113ff.; Ziolkowski, Theodore: Siddhartha. S. 141ff. 445 Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 405. 446 Vgl. ebd. S. 430ff. 447 Ziolkowski, Theodore: Siddhartha. S. 145.

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Pfades‘ (Askese und Lustleben) ist bereits analysiert worden. Darüber hinaus weist die ‚Landschaft der Seele‘ jedoch auch einen bildlichen Bezug zum Taoismus auf, der die Forderung des ‚mittleren Pfades‘ unterstützt. Das wichtigste Symbol des Taoismus ist das tai ji, das die beiden polaren Kräfte yin und yang in einer übergreifenden Einheit darstellt. Die weiße Hälfte des Kreises steht für yang (das männliche, lichte, aktive Prinzip), die schwarze Hälfte dagegen für yin (das weibliche, dunkle, empfangende Prinzip). Beide Seiten tragen jedoch den Keim des anderen Prinzips als Punkt in sich und sind im sie umschließenden Kreis zu einer sich gegenseitig bedingenden Einheit verbunden.448 Blickt man vertikal auf die beiden durch den Fluss getrennten Bereiche, wie sie im Siddhartha beschrieben werden, ergibt sich genau dieses Bild: bevor Siddhartha den Bereich des geistig-asketischen Lebens (yang) verlässt, begegnet ihm im Traum bereits die nun zu durchlebende sinnliche Seite des Lebens als Vorausdeutung (yin).449 Ebenso auf dem Rückweg: vor dem Verlassen des sinnlichen Lebensbereiches begegnet ihm als Keim der zurückgelassenen Geistigkeit der Laut Om und sein Freund Govinda, den er seit seiner Abwendung von der Askese und der Lehre des Buddha nicht mehr gesehen hatte. Der Fluss bildet die Mitte zwischen den beiden Hälften des Kreises und stellt damit nicht nur eine Trennlinie, sondern vor allem eine fließende Verbindung zwischen beiden Bereichen dar. Er wird damit zum Symbol für den ‚mittleren Pfad‘ und die Einheit zweier gegensätzlicher Aspekte des menschlichen Lebens, die Hesse selbst in einem Brief folgendermaßen formuliert: Unser Ziel ist […] nicht: auf Kosten unsrer Natur zu lauter Geist zu werden. Unser Ziel ist auch nicht: auf Kosten der Güte, der Liebe und der Menschlichkeit ein möglichst wildes Willkürleben zu führen. Sondern wir müssen zwischen den beiden Forderungen, denen die Natur und deren des Geistes, unsern Weg suchen, aber nicht einen starren Mittelweg, sondern jeder seinen eigenen, elastischen, auf welchem Freiheit und Bindung abwechseln wie Einatmen und Ausatmen.450

Im Siddhartha dient der Fluss als Symbol für den hier beschriebenen ‚elastischen Mittelweg‘ zwischen den Extremen. Das Motiv des Flusses hat neben dieser Verbindungsfunktion jedoch noch eine weitere Dimension, die sich auf die Zeit bezieht. Er symbolisiert eine Kreis|| 448 Vgl. dazu die Erläuterungen Richard Wilhelms in: Lao Tse: Tao Te King. S. 116f. 449 Dieser Logik folgend taucht auch Kamala als Repräsentantin für den sinnlichen Lebensbereich an dem Flussufer auf, das an den geistigen Bereich angrenzt. Vgl. Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 446f. 450 Brief Hesses an G. R. vom Januar 1954. In: Michels, Volker: Materialien zu Siddharta. S. 249.

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laufbewegung, die auf die Idealität eines linearen Zeitbegriffs verweist. Der Fluss ist im Roman omnipräsent und begleitet den gesamten Lebensweg Siddharthas von seinem Aufwachsen am „Flußufer“451 bis hin zu seiner letzten Begegnung mit Govinda am Ufer des Flusses.452 Dieser Lebensweg beschreibt einen Kreis, für den der Wasserkreislauf des Flusses als Vorbild dient. So verkündet Vasudeva Siddhartha bereits bei seiner ersten Überfahrt, dass er wieder zu ihm zurückkommen werde, denn: „alles kommt wieder“453. Siddhartha selbst beginnt bei seiner Rückkehr an den Fluss, seinen eigenen Weg als „im Kreise“454 laufend zu begreifen. Dies wird besonders deutlich, als sich das Schicksal seines Vaters in seiner eigenen Erfahrung mit seinem Sohn genau wiederholt: er selbst verlässt seinen Vater, um seinen eigenen Weg zu suchen und kehrt nicht mehr zurück – ebenso verlässt ihn viele Jahre später sein eigener Sohn auf dieselbe Weise: [E]r erinnerte sich, wie er vor Zeiten, ein Jüngling, seinen Vater gezwungen hatte, ihn zu den Büßern gehen zu lassen, wie er Abschied von ihm genommen hatte, wie er gegangen und nie mehr wiedergekommen war. Hatte nicht sein Vater um ihn dasselbe Leid gelitten, wie er es nun um seinen Sohn litt? […] War es nicht eine Komödie, eine seltsame und dumme Sache, diese Wiederholung, dieses Laufen in einem verhängnisvollen Kreise?455

Das Sinnbild für diesen ‚verhängnisvollen Kreislauf‘ ist das stetige Zirkulieren des Wassers: Zum Ziele strebte der Fluß, Siddhartha sah ihn eilen, der aus ihm und den Seinen und allen Menschen bestand, die er je gesehen hatte, alle die Wellen und Wasser eilten, leidend, Zielen zu, vielen Zielen, dem Wasserfall, dem See, der Stromschnelle, dem Meer, und alle Ziele wurden erreicht, und jedem folgte ein neues, und aus dem Wasser ward Dampf und stieg in den Himmel, ward Regen und stürzte vom Himmel herab, ward Quelle, ward Bach, ward Fluß, strebte aufs neue, floß aufs neue.456

Der rastlose Kreislauf des Wassers, der auch in der Rhythmisierung der Sprache und den anaphorischen Wortwiederholungen zum Ausdruck kommt, ist durch das dazwischengeschaltete Adjektiv ‚leidend‘ mit einem Verweis auf den Kreislauf der Wiedergeburten (samsara) versehen, der in der buddhistischen Erlösungslehre durchbrochen werden soll. Ebenso wie das menschliche Leben in || 451 Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 373. 452 Vgl. ebd. S. 464. 453 Ebd. S. 405. 454 Ebd. S. 436. 455 Ebd. S. 459. 456 Ebd. S. 461.

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samsara von der Geburt bis zum Tod und neuer Wiedergeburt zirkuliert, bewegt sich das Wasser in einem ständigen Kreislauf. Dieser ‚verhängnisvolle Kreislauf‘ löst sich für Siddhartha jedoch auf, als er Einsicht in die Idealität der Zeit erlangt und damit das vermeintliche Nacheinander als Gleichzeitiges zu begreifen lernt. Auch für diese Einsicht steht im Gespräch Siddharthas mit Vasudeva wiederum der Fluss Pate: ‚Hast du‘, so fragte er ihn einst, ‚hast auch du vom Flusse jenes Geheime gelernt: daß es keine Zeit gibt? Vasudevas Gesicht überzog sich mit einem hellen Lächeln. ‚Ja, Siddhartha‘, sprach er. ‚Es ist doch dieses, was du meinst: daß der Fluß überall zugleich ist, am Ursprung und an der Mündung, am Wasserfall, an der Fähre, an der Stromschnelle, im Meer, im Gebirge, überall, zugleich, und daß es für ihn nur Gegenwart gibt […]‘457

Der Fluss dient als metaphorische Veranschaulichung zweier unterschiedlicher Perspektiven auf die Zeit: mit Schopenhauer könnte man formulieren, dass das Fließen des Flusses aus der Perspektive der ‚Welt als Vorstellung‘ einen endlosen Kreislauf beschreibt – aus der Perspektive der ‚Welt als Wille‘ jedoch erscheint es als die ausdehnungslose Gegenwart. Er dient Siddhartha sowohl als Sinnbild für das sich stetig wiederholende Kreisen des Lebens zwischen Geburt, Tod und neuer Geburt als auch für die erlösende Einsicht, dass dieser Kreislauf aus der Perspektive der ihm zugrundeliegenden Einheit als Illusion zu begreifen ist. Der Fluss als mythisches Symbol geht mit dieser doppelten Perspektivierung aber über Schopenhauers Funktionsbeschreibung des Mythos hinaus: er zeigt die Gleichzeitigkeit des Geschehens eben nicht nur (wie im MetempsychoseMythos) als Sukzession des Wiedergeburtenkreislaufs und ‚verhüllt‘ damit die dahinterliegende philosophische Wahrheit, sondern er symbolisiert auch die philosophische Wahrheit selbst. Der Fluss beschreibt nicht nur einen Kreislauf, sondern er ist auch ‚überall zugleich‘ in ständiger ‚Gegenwart‘ und verweist damit auf die Idealität des linearen Zeitkonzepts.458 Am Ende des Romans wird dieser Symbolbereich noch einmal erweitert, wenn der Fluss als Oberfläche erscheint, auf der sich die Vielheit der Erscheinungen in ihrer permanenten Veränderung spiegelt, und zugleich die dahinter liegende zeitlose Einheit dieser Erscheinungen repräsentiert.459 || 457 Ebd. S. 443. 458 An dieser Stelle wird erneut deutlich, dass Hesse zwar mit Schopenhauers philosophischer Durchdringung der östlichen Religionen übereinstimmt, aber nicht mit den Einschränkungen seines Mythosbegriffs. 459 Vgl. Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 461f.; 466f.

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Das Kreislaufmotiv bestimmt auch die Zeitmetaphorik in Narziß und Goldmund. Goldmunds Wanderschaft beschreibt eine Kreisbewegung, die mit dem Jahreszyklus übereinstimmt. Die Zeit seiner Wanderschaft wird in genau 12 Kapiteln dargestellt und mit den Jahreszeiten als Eckpunkten versehen, obwohl die erzählte Zeit natürlich mehrere Jahre umfasst. Goldmund trifft „an einem Frühlingstage“ im Kloster ein, aber die Kastanie, die leitmotivisch mit seinem Schicksal verbunden wird, ist noch „winterkahl“460. Erst bei seinem Auszug aus dem Kloster steht die Natur in voller Blüte: er wird von Pater Anselm zum Sammeln von Johanniskraut ausgesendet, das im Juni zu blühen beginnt. Die Mehrzahl der Episoden, die aus seiner Wanderschaft erzählt werden, finden im Sommer statt461 und erst im „kühlen Spätherbst“462 kehrt Goldmund ins Kloster zurück. Die Kastanie hat nun ihre Früchte abgeworfen: ihre „zersprungenen, stacheligen Fruchtschalen“ liegen „braun und verwelkt am Boden“463. Als Goldmund einige Jahre später stirbt, wie das Kastanienmotiv bereits vorausgedeutet hat, ist es ebenfalls wieder Herbst geworden.464 Als mythischer Sohn der ‚Großen Mutter‘, zu der er im Tod zurückkehrt, ist Goldmunds Leben und Sterben mit dem Leben und Sterben der Vegetation aufs engste verbunden und folgt dessen zyklischem Ablauf. Narziß wird im Gegensatz zu Goldmund, der den natürlichen Abläufen der Natur gänzlich unterworfen ist, geradezu statisch dargestellt: als Repräsentant des Geistes scheint er dem Ablauf der Zeit zu trotzen. Er verändert sich äußerlich kaum, während Goldmund sichtbar altert, und ist zudem räumlich in die statische Welt des Klosters eingebunden.465 Goldmunds Leben dagegen ist auch auf der räumlichen Ebene als dynamischer Kreislauf dargestellt. Vom Kloster ausgehend tritt er seine Wanderschaft über verschiedene Stationen der zeitweiligen Sesshaftigkeit an. Er trifft zuerst bei dem Rittergut ein (Kap. 8) und bleibt dann – nach einer erneuten Phase der Wanderschaft – für einige Zeit bei Meister Niklas in der Stadt (Kap. 10). Die letzte Station seiner Sesshaftigkeit, und damit auch sein Umkehrpunkt, ist die Hütte, die er gemeinsam mit Lene und Robert bewohnt (Kap. 14). Nach Lenes Pesterkrankung und Goldmunds Begegnung mit dem Tod beginnt die Rückkehrbewegung, die ihn kreisförmig wieder zurück an seinen Ausgangsort führt: er kommt zunächst zurück in die Stadt und zu Meister Niklas‘ Haus (Kap. 15)

|| 460 Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. S. 277. 461 Vgl. bspw. Ebd. S. 445. 462 Ebd. S. 497. 463 Ebd. S. 499. 464 Vgl. ebd. S. 522. 465 Vgl. ebd. S. 486.

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und wird dort von Narziß nach der Agnes-Episode aus dem Kerker befreit. Auf dem Heimweg machen sie bei dem selben Rittergut Station, auf dem Goldmund Jahre zuvor gewohnt hatte (Kap. 17), bevor sie schließlich wieder zum Anfangspunkt der Reise ins Kloster zurückkehren (Kap. 18). Die räumliche Bewegung des Protagnisten ist damit auf die zeitliche abgestimmt und beschreibt ebenso wie diese einen Kreis. Sowohl die Leitmotivik als auch die mit Raum und Zeit verbundene Metaphorik unterlegen den Erzählfluss mit einer stets präsenten Bildlichkeit, die das Erzählte miteinander in Beziehung setzt und den Kern der Erzählung zu Bildsymbolen verdichtet. So dient die Beschreibung von Raum und Zeit nicht vornehmlich dem realistischen Erzählen, sondern sie ist typisiert und stark symbolisch aufgeladen. 4.1.2.4 Sinceritas: Sprache der Aufrichtigkeit Abschließend soll nach der Analyse der Bildlichkeit und der Figuren-Ebene noch ein kurzer Blick auf den Einsatz der Sprache in den untersuchten Romanen geworfen werden. In der Hermann-Hesse-Forschung wird gerne das Schlagwort ‚Sinceritas‘ zur Beschreibung seiner Textstrategien des authentischen Erzählens herangezogen.466 Abgeleitet von dem lateinischen Begriff sincerus, der mit „unverfälscht, ursprünglich, rein“467 übersetzt wird, beschreibt ‚Sinceritas‘ ein bekenntnishaftes Schreiben, das den Anschein der Aufrichtigkeit erweckt. Dabei wird in der Forschung meist auf die Nähe zwischen Leben und Werk Hesses verwiesen und seine Romane als „autobiographische Fiktionen“468 gedeutet. Anstatt diese Lesart weiterzuverfolgen, soll im Folgenden jedoch der Frage nachgegangen werden, mit welchen sprachlichen Mitteln der Eindruck von aufrichtigem Erzählen erweckt wird, der auch für mythisches Erzählen als ‚hohes Wort‘ konstitutiv ist. Hesse selbst gibt nach dem Ende des Ersten Weltkrieges häufig zu Protokoll, er wolle nicht mehr allein als ein „Meister guter Formen“469 wahrgenommen werden und interessiere sich nicht mehr für das „rein [Ä]sthetische“470; stattdessen solle Dichtung dazu dienen, das „wahrhaft ernste Streben um über-

|| 466 Vgl. Buciuman, Veronika Alina: ‚Sinceritas‘. Der poetologische Begriff in Hermann Hesses Prosawerk. Frankfurt a. M. 2010; Solbach, Andreas: Hermann Hesse. Die poetologische Dimension seines Erzählens. Heidelberg 2012. 467 Buciuman, Veronika Alina: ‚Sinceritas‘. S. 19. 468 Ebd. S. 7. 469 Brief Hesses an Peter Suhrkamp vom 15.01.1942. In: GB III. S. 201. 470 Brief Hesses an Conrad Haußmann vom 03.01.1920. GB I. S. 434.

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persönliche Werte“471 zu unterstützen. Dieses Anliegen lässt sich in Hesses Romanen nicht nur inhaltlich festmachen, sondern auch im Hinblick auf die Sprache, die – im Gegensatz zu Thomas Manns ironisierender Schreibweise – häufig einen um Aufrichtigkeit bemühten, bekenntnishaften Ton annimmt. Damit soll keinesfalls gesagt sein, dass Hesse nicht auch humoristisch erzählt: bezeichnenderweise ist es gerade Thomas Mann, der bei seiner eigenen Hesse-Lektüre immer wieder auf die „Ironie“ als „Kunstspaß“472 und die „sprachlichen Humorigkeiten“473 hinweist, die auch dessen Werk prägen.474 Dennoch lässt sich das Bemühen um ‚authentisches Erzählen‘ als Charakteristikum der hier behandelten Romane beschreiben. So konstatiert Solbach beispielsweise in seiner Analyse des Demian, dass die Sprache des homodiegetischen Erzählers in diesem Roman an die Stilform des „sermo humilis“475 angelehnt sei. Die ungekünstelte Sprechweise des Protagnisten diene dazu, eine „Fiktion des Authentischen“476 zu erzeugen und die formalen Aspekte der Erzählung in den Hintergrund treten zu lassen. Im Gegensatz zu Siddhartha und Narziß und Goldmund, die sich jeweils durch einen spezifischen Sprachduktus auszeichnen, ist der Demian daher vornehmlich durch den Einsatz von Alltagssprache geprägt. Der Einsatz der Sprache in den beiden erstgenannten Romanen dient zwar ebenfalls einer ‚Fiktion des Authentischen‘, erzeugt diese jedoch auf jeweils unterschiedliche Weise. Im Siddhartha ist die Annäherung der Sprache an die deutschen Übersetzungen buddhistischer Texte besonders augenfällig. Sie ist zum einen an den Stil der buddhistischen Lehrreden angelehnt und greift darüber hinaus auch Elemente aus der Dialogform auf. So sind die Lehrreden beispielsweise von zahlreichen Wiederholungen und Aufzählungen geprägt, die im Siddhartha imitiert werden. Ein Beispiel aus Neumanns Übersetzungen der Reden Buddhas soll dies veranschaulichen. In der dritten Rede heißt es: Nun merket, Brüder: Gier ist vom Übel und Hass ist vom Übel und es giebt [sic!] einen Mitttelweg um der Gier zu entgehn und dem Hass zu entgehn, einen Weg, der sehend und

|| 471 Tagebucheintrag Hesses von Mai/Juni 1921. In: Hesse, Hermann: Tagebücher. S. 653. 472 Brief Manns an Hermann Hesse vom 08.04.1945. In: BWHM. S. 202. 473 Mann, Thomas: Hermann Hesse zum sechzigsten Geburtstag. In: BWHM. S. 232–236. Hier: S. 235. 474 Dies ließe sich besonders gut anhand des ‚Steppenwolf‘ und des ‚Glasperlenspiels‘ zeigen, da hier Humor und humoristisches Erzählen eine weit größere Rolle spielen als in den im Rahmen dieser Studie behandelten Romanen. 475 Solbach, Andreas: Hermann Hesse. S. 132. 476 Ebd. S. 130.

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wissend macht, zur Ebbung, Durchschauung, Erwachung, Erlöschung führt. Was ist das aber, Brüder, für ein Mittelweg, der sehend und wissend macht, zur Ebbung, Durchschauung, Erwachung, Erlöschung führt? Dieser heilige achtfältige Pfad ist es eben […]. Das, ihr Brüder, ist der Mittelweg, der sehend und wissend macht, zu Ebbung, Durchschauung, Erwachung, Erlöschung führt.477

Die Stilmittel der Iteratio und Enumeratio, die alle Lehrreden prägen, waren ursprünglich als Hilfe beim Memorieren der über einen langen Zeitraum hinweg nur mündlich tradierten Texte gedacht. Im Siddhartha werden sie ebenso eingesetzt und erzeugen einen melodischen Sprachfluss, der Hesse selbst „an Gebetsmühlen erinnert“478. Wiederholungen und Aufzählungen prägen die Sprache des gesamten Romans, wofür auch hier ein Beispiel genügen soll: Niemand war so allein wie er. Kein Adliger, der nicht zu den Adligen, kein Handwerker, der nicht zu den Handwerkern gehörte und Zuflucht bei ihnen fand, ihr Leben teilte, ihre Sprache sprach. Kein Brahmane, der nicht zu den Brahmanen zählte und mit ihnen lebte, kein Asket, der nicht im Stande der Samanas seine Zuflucht fand, und auch der verlorenste Einsiedler im Walde war nicht einer und allein, auch ihn umgab Zugehörigkeit, auch er gehörte einem Stande an, der ihm Heimat war.479

Darüber hinaus orientiert sich die Sprache im Siddhartha auch am charakteristischen Satzbau der Lehrreden, in denen häufig das prädikative Adjektiv an den Anfang des Satzes gezogen wird, um dieses besonders zu betonen. So heißt es beispielsweise am Schluss einer Rede: „Also sprach der Erhabene. Zufrieden freuten sich jene Mönche über das Wort des Erhabenen.“480 Diese Betonung des Satzanfangs rhythmisiert die Sprache zusätzlich und trägt ebenfalls zum Eindruck der ‚gebetsmühlenhaften‘ Wiederholung bei. Im Siddhartha lässt sich der gleiche Effekt beobachten – hier heißt es beispielsweise: „Lächelnd schieden sie voneinander. Lächelnd freute sich Siddhartha über die Freundschaft und Freundlichkeit des Fährmanns.“481 Der häufige Gebrauch von Alliterationen und Anaphern verstärkt diesen Eindruck zusätzlich. Darüber hinaus finden sich im Siddhartha auch Anklänge an die Dialogform des buddhistischen Streitgesprächs, die stets durch formelhafte Floskeln wie „Sprach der Erhabene“ eingeleitet werden und in denen der Gesprächspartner mit einer direkten Anrede („o […]“482) indiziert wird, um dem Leser oder Zuhörer den Überblick darüber zu || 477 Neumann, Karl Eugen: Reden des Buddha I. S. 34. 478 Hesse, Hermann: Die Reden des Buddha. S. 262. 479 Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 399. 480 Neumann, Karl Eugen: Reden des Buddha I. S. 76. 481 Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 405f. 482 Neumann, Karl Eugen: Reden des Buddha I. S. 86f.

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erleichtern, wer gerade spricht. Dies wird auch im Roman praktiziert, wenn Siddhartha selbst zum Gesprächspartner des Buddha wird: Sprach Siddhartha: ‚Gestern, o Erhabener, war es mir vergönnt, deine wundersame Lehre zu hören. Zusammen mit meinem Freund kam ich aus der Ferne her, um die Lehre zu hören. Und nun wird mein Freund bei den Deinen bleiben, zu dir hat er seine Zuflucht genommen. Ich aber trete meine Pilgerschaft aufs neue an.‘ ‚Wie es dir beliebt‘, sprach der Erhabene höflich.483

Die buddhistischen Lehrreden und Dialoge sind zwar das dominante, aber nicht das einzige Bezugssystem für die Sprache im Siddhartha. So werden auch Stilelemente eingesetzt, die an den Duktus der deutschen Veden-Übersetzungen angeglichen sind. Abgesehen davon, dass Sprüche aus den Upanishaden – wie der über das ‚Om als Bogen‘ – direkt zitiert werden484, finden sich auch in diesen Texten die Stilmittel der Iteratio und Enumeratio, die in ähnlicher Art und Weise im Siddhartha angewandt werden. Um auch hiervon einen beispielhaften Eindruck zu geben, wird im Folgenden aus Oldenbergs Übersetzung zitiert: […] durch dieses unwandelbaren Wesens Gebot gehalten stehen Himmel und Erde fest; durch dieses unwandelbaren Wesens Gebot gehalten stehen Sonne und Mond fest, stehen Tage und Nächte, Halbmonate, Monate, Jahre und Jahreszeiten fest […].485

Die Wiederholung immer wiederkehrender Satzelemente, die dann durch Aufzählungen ergänzt werden, findet sich auch immer wieder als Stilmittel im Siddhartha – so etwa in der folgenden Stelle: Lange stand er, nachdenkend, Bilder sehend, der Geschichte seines Lebens lauschend. Lange stand er, blickte nach den Mönchen, sah statt ihrer den jungen Siddhartha, sah die junge Kamala unter den hohen Bäumen gehen.486

Neben diesen Reihungen innerhalb eines Satzes ist auch die parataktische Reihung kurzer Hauptsätze ein klassisches Stilmerkmal aus den deutschen Upanishaden-Übersetzungen, das Hesse übernimmt.487

|| 483 Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 393. 484 Vgl. ebd. S. 376 und Deussen, Paul: Sechzig Upanishad’s des Veda. S. 661. 485 Oldenberg, Hermann: Buddha. S. 40. 486 Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 455. 487 Vgl. dazu Friederici, Hans: Die Indien-Rezeption in Hermann Hesses ‚Siddhartha‘. In: Michels, Volker: (Hg.): Materialien zu Hermann Hesses Siddhartha. Zweiter Band. Frankfurt a. M. 1976. S. 125–132. Hier: S. 125.

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Die sprachliche Imitation der Originaltexte – bzw. ihrer deutschen Übersetzung – erzeugt beim Leser das Gefühl, einen authentischen Text vor sich zu haben. Die ‚gebetsmühlenhafte‘, rhythmisierte Sprache der buddhistischen Lehrreden und Dialoge wird nicht ironisiert, sondern immer wieder in den Erzählfluss eingewoben, um einen ähnlichen Effekt zu erzielen wie die Originaltexte. Der Klangrhythmus des Textes und die stetig wiederkehrenden Wiederholungen erzeugen eine Art gleichmäßiges Fließen, das an die Rezitation buddhistischer Texte zur Meditation erinnert. So wendet sich Hesse in seiner Rezension der Neumannschen Übersetzung der Buddha-Reden mit folgendem Argument gegen jene Kritiker, die die endlosen Wiederholungsreihen in der Lektüre als ermüdend empfinden: Diese Kritik, so witzig sie sein mag, geht von einer Einstellung aus, welche der Sache nicht gerecht zu werden fähig ist. Buddhas Reden nämlich sind nicht Kompendien einer Lehre, sondern sie sind Beispiele von Meditationen, und das meditierende Denken eben ist es, was wir bei ihnen lernen können.488

Die Sprache im Siddhartha ist zwar noch immer weit entfernt von der formalisierten Gleichförmigkeit der buddhistischen Lehrreden, aber es werden eindeutig markante Stilelemente aus ihnen übernommen, die bei der Lektüre einen ähnlichen Effekt erzielen. Diese Textstrategie, die im Siddhartha praktiziert wird, erfährt in Narziß und Goldmund eine kritische Meta-Reflexion. Durch den Fokus auf die GoldmundFigur wird grundsätzlich in Frage gestellt, ob Sprache überhaupt als Trägerin von Wahrheit fungieren kann. Siddharthas Zweifel daran, ob man durch ‚Lehre‘ etwas erkennen könne, wird hier noch weiter zugespitzt: Im Gegensatz zu Narziß, der in jeder Lebenslage die richtigen Worte zu finden scheint, ist Goldmunds Entwicklung als Künstler von der Erfahrung durchzogen, dass die essentiellen Erlebnisse nicht ausgesprochen werden können. Er formuliert immer wieder Ungenügen an der beschreibenden Kraft der Sprache und moniert, dass sich „nichts überhaupt […] irgend aussprechen, irgend ausdenken“489 lasse. Paradigmatisch für diese Einstellung ist sein Umgang mit den griechischen Schriftzeichen als Schüler: ‚Ich glaube‘, sagte er einmal, ‚daß ein Blumenblatt oder ein kleiner Wurm auf dem Wege viel mehr sagt und enthält als alle Bücher der ganzen Bibliothek. Mit Buchstaben und mit Worten kann man nichts sagen. Manchmal schreibe ich irgendeinen griechischen Buch-

|| 488 Hesse, Hermann: Reden des Buddha. S. 262. 489 Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. S. 350.

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staben, ein Theta oder Omega, und indem ich die Feder ein klein wenig drehe, schwänzelt der Buchstabe und ist ein Fisch und erinnert in einer Sekunde an alle Bäche und Ströme der Welt, an alles Kühle und Feuchte, an den Ozean Homers und an das Wasser, auf dem Petrus wandelte […].‘490

Goldmund verwandelt die Buchstaben in kleine Bildsymbole, die für ihn mehr Assoziationsfreiheit zulassen als das in seiner Bedeutung festgelegte Wort. Man könnte sagen, dass Hesse mit der Goldmund-Figur einen Anhänger der Klageschen ‚Wirklichkeit der Bilder‘ portraitiert hat, der die exakten Differenzierungen der Begriffssprache nicht für einen angemessenen Zugang zur Wirklichkeit hält. Goldmunds Erkenntnisse sind bildlich vermittelte – in einer Diskussion mit Narziß erläutert er, dass er „nicht verstehen [könne], was Denken ohne Vorstellungen sein soll“491. Im Roman wird diese Ablehnung des abstrakten Denkens zugunsten der Bildsprache anschaulich umgesetzt, indem Goldmund während der Zeit seiner Wanderschaft nur sehr sparsam über Dialoge portraitiert wird. Stattdessen wird er beim stummen ‚Schauen‘ gezeigt, das äußerst bildreich beschrieben wird. Ludwig Klages umschreibt den „Vorgang des Schauens“492 als Rezeptionshaltung, auf der die Bewusstseinsform der ‚Wirklichkeit der Bilder‘ beruht. Nur im passiven Schauen – das im Gegensatz zum aktiv-eingreifenden Denken steht – könne man erkennen, dass „alles die Seele Ergreifende […] Bilder und nichts als Bilder“493 seien. Dieses Schauen wird in Narziß und Goldmund permanent inszeniert, sei es bei der Geburtsszene494, bei Goldmunds Durchgang durch das Pesthaus495 oder beim Blick in den Brunnen: So wie dies kleine Wassergeheimnis, schien ihm, waren alle echten Geheimnisse, alle wirklichen, echten Bilder der Seele: sie hatten keinen Umriß, sie hatten keine Form, […] sie waren verschleiert und vieldeutig. Wie da in der Dämmerung der grünen Flußtiefe für zuckende Augenblicke etwas unsäglich Goldenes oder Silbernes herblinkte, ein Nichts und doch voll seligster Versprechungen, ebenso konnte das verlorene Profil eines Menschen, halb von hinten gesehen, manchmal etwas unendlich Schönes oder unerhört Trauriges ankündigen, oder auch: wie unter einem nächtlichen Lastwagen eine Laterne hing und die sich drehenden riesigen Schatten der Radspeichen an die Mauern malte, konnte

|| 490 Ebd. S. 319f. 491 Ebd. S. 513. 492 Klages, Ludwig: Geist als Widersacher. S. 1253. 493 Ebd. S. 1254. 494 Vgl. Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. S. 376f. 495 Vgl. ebd. S. 433ff. Für die Beschreibung der Pestszenen hat Hesse auch auf ikonische bildliche Darstellungen zurückgegriffen: so stimmt die Schilderung einer Totentanz-Szene nahezu exakt mit dem ‚Basler Totentanz‘ überein, der ebenso wie im Roman beschrieben an die Innenseite einer Friedhofsmauer gemalt wurde. Vgl. ebd. S. 453.

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dies Schattenspiel eine Minute lang so voll Anblicken, Geschehnissen und Geschichten sein wie der ganze Vergil.496

Hier zeigt sich ein Dilemma, das bereits den Chandos-Brief (1902) als wirkmächtigste Formulierung des Unsagbarkeitstopos prägt: der Behauptung, dass sich die Wirklichkeit durch Sprache nicht adäquat ausdrücken lasse, steht auf der anderen Seite die äußerst wortreiche und poetische Beschreibung des eigentlich ‚stummen‘ Schauens gegenüber. Goldmunds Erfahrungen, die er auf seiner Wanderschaft mit Liebe, Geburt und Tod sammelt, sind stets wortlos („Es war kein Wort gesprochen worden“497), werden dafür aber in zum Teil ausufernd bildhafter Sprache exakt beschrieben, die von Hesse-Kritikern gerne als „Monstrum des Sprachkitsches“498 bezeichnet wird. Eine mögliche Lösung dieses Dilemmas zwischen Wortlosigkeit und Beschreibungsreichtum wird im Roman angedeutet. Goldmund drückt sich zum einen durch seine Kunstwerke aus, die „keine Worte, keine Lehren, keine Aufklärungen, keine Ermahnungen“ enthalten, sondern als Bildwerke „echtes, erhöhtes Leben“499 repräsentieren. Anscheinend hat sich Goldmund zudem Klages Warnung vor dem Lüften des Schleiers der Isis als Entzauberung des „Weltgeheimnis[ses]“500 zu Herzen genommen: denn das Bild der Urmutter gestaltet er letztlich nicht, weil sie nicht wolle, „daß [er] ihr Geheimnis sichtbar mache“501. Zum anderen findet sich aber auch eine selbstreferentielle Rechtfertigung des poetischen Beschreibens im Roman, die Narziß in den Mund gelegt wird. Er charakterisiert das poetische Sprechen als Bildsprache, die ohne abstrakte Begrifflichkeit auskommt und sich so – ähnlich der bildenden Kunst – der ‚Wirklichkeit der Bilder‘ annähert. Goldmund, so führt er aus, hätte auch ein Dichter werden können: ‚Erinnere dich daran, wie ich dir schon in unsern Schülerzeiten manchmal sagte, daß ich dich für einen Künstler halte. Damals schien mir, es könnte ein Dichter aus dir werden; du hattest beim Lesen und Schreiben eine gewisse Abneigung gegen das Begriffliche und Abstrakte und liebtest in der Sprache die Worte und Klänge besonders, denen sinnlichdichterische Qualitäten eigen waren, also die Worte, bei welchen man sich etwas vorstellen kann.502

|| 496 Ebd. S. 421. 497 Ebd. S. 335. 498 Solbach, Andreas: Hermann Hesse. S. 276. 499 Ebd. S. 520. 500 Klages, Ludwig: Kosmogonischer Eros. S. 165. 501 Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. S. 531. 502 Ebd. S. 501.

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Das poetische Sprechen ist also von der Sprachkritik ausgenommen: es ist ein ‚wahrhaftes‘ Sprechen, das die Unzulänglichkeit der Wirklichkeit in sprachliche Bilder fasst und ebenso wie mythisches Sprechen als ‚hohes Wort‘ einen Sinn transportiert, der nicht ohne weiteres in Begriffssprache übersetzbar ist. Hesse selbst bezeichnet die Sprache in Narziß und Goldmund als „einfache, aber liedhafte, ich möchte sagen sangbare Prosa“503 und setzt sie damit, neben der bildenden Kunst, auch mit der Musik in Beziehung, die in der Romantik als die Kunstform gilt, die das Unsagbare sagen kann.504

4.1.3 Funktionale Aspekte: Mythos als Ausdruck psychischer Prozesse Anhand der bisherigen Analyse lässt sich deutlich erkennen, dass mythisches Erzählen bei Hermann Hesse immer dann zum Tragen kommt, wenn psychische Prozesse, die sich einem rationalen Zugriff entziehen, adäquat dargestellt werden sollen. So ist es nicht verwunderlich, dass die Stilwende, die nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Roman Demian einsetzt, sowohl von einer Psychologisierung des Erzählens als auch vom zunehmenden Einsatz von mythischen Stoffen, Motiven und Erzähltechniken geprägt ist. In einem Brief an Emil Molt aus dem Jahr 1919 nimmt Hesse selbst zu dieser Entwicklung Stellung: Ich bin, wie jeder ernsthafte Mensch, durch die letzten bösen Jahre dazu gebracht worden, meine persönliche Aufgabe im Leben möglichst zu erfassen und in ihr zu leben […]. Dichterisch äußert sich das Erlebte bei mir in einer Vertiefung der Psychologie, die mir aber zugleich viele neue technische Aufgaben stellt, so daß die literarische Arbeit für mich zu einem schweren Ringen geworden ist.505

Seine Dichtung beschreibt er im Kurzgefaßten Lebenslauf (1921) zudem als Ausdruck einer „magische[n] Auffassung des Lebens“506, nicht aber als Abbild der „sogenannten Wirklichkeit“507. Wenn Hesse hier von ‚Wirklichkeit‘ spricht,

|| 503 Brief Hesses an Helene Welti vom August 1929. In: Michels, Volker: Narziß und Goldmund. S. 101. 504 Vgl. dazu meine Studie zur Rolle der Musik in den Romanen Hermann Hesses und Thomas Manns. Knöferl, Eva: Dies Glasperlenspiel mit schwarzen Perlen. Musik und Moralität bei Hermann Hesse und Thomas Mann. Würzburg 2012. Hier: Kap. 2.2. S. 17ff. Zum RomantikBezug Hesses vgl. auch Kap. 5.3. 505 Brief Hesses an Emil Molt vom 19.06.1919. In: Michels, Volker: Materialien zu Hermann Hesses Demian. Bd. 1. S. 139. 506 Hesse, Hermann: Kurzgefaßter Lebenslauf. In: SW 12. S. 46–63. Hier: S. 59. 507 Ebd. S. 57f.

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meint er die externe Realität – nicht jedoch die ‚seelischen Realitäten‘, denn er bezeichnet seine Romane gleichzeitig auch als „Seelenbiographien“, in denen eine „mythische Figur in ihren Beziehungen zur Welt und zum eigenen Ich betrachtet wird“508. Wie Hesse in diesen ‚Seelenbiographien‘ mythisches Erzählen mit Elementen der Jungschen Psychoanalyse verbindet, soll im Folgenden zusammenfassend dargestellt werden. 4.1.3.1 Die Heldenreise als Individuationsprozess Zu Beginn der Analyse wurde bereits beschrieben, dass die Entwicklung der Protagonisten in den hier behandelten Romanen Hesses am klassischen Ablauf der mythischen Heldenreise orientiert ist. Gleichzeitig lässt sie sich jedoch auch mit dem von C. G. Jung beschriebenen ‚Individuationsprozess‘ parallelisieren. In den besprochenen Romanen psychologisiert Hesse den Helden und stellt seine Errungenschaften als psychische dar.509 Der „tragische Held“ ist für ihn der außergewöhnliche Einzelne, „der seinen ‚eigenen Sinn‘, seinen edlen, natürlichen Eigensinn zu seinem Schicksal gemacht hat“510. Damit umschreibt Hesse ein ganz ähnliches Konzept wie C. G. Jung, der diesen Entwicklungsprozess ‚Individuation‘ nennt. Darunter versteht Jung den „Vorgang der Bildung und Besonderung von Einzelwesen, speziell die Entwicklung des psychologischen Individuums“, das sich „im Gegensatz zur Kollektivnorm“ befindet, da der Entwicklungsprozess die „Differenzierung vom Allgemeinen und [die] Herausbildung des Besonderen“511 beinhaltet. Gemeint ist damit jedoch „nicht eine gesuchte Besonderheit“, sondern eine, „die a priori schon in der Anlage begründet ist“512 – also in Hesses Worten der ‚eigene Sinn‘, den es zu entdecken und entwickeln gilt. Den Ablauf des Individuationsprozesses hat Jung an vielen Stellen seines Werkes in unterschiedlichen Fokussierungen dargestellt. Eine

|| 508 Hesse, Hermann: Eine Arbeitsnacht. In: SW 12. S. 123–127. Hier: S. 124. 509 Zur Darstellung des Individuationsprozesses bei Hesse siehe auch: Baumann, Günter: Der archetypische Heilsweg. Hermann Hesse, C. G. Jung und die Weltreligionen. Rheinfelden 1990. S. 39ff.; Richards, David G.: Integrationssymbole in Hermann Hesses Demian. In: Michels, Volker (Hg.): Materialien zu Hermann Hesses Demian. Zweiter Band. Die Wirkungsgeschichte in Rezensionen und Aufsätzen. Frankfurt a. M. 1997. S. 288–303. Field analysiert den Demian als psychologisierten Bildungsroman: Field, G. W.: Hermann Hesses Demian als Bildungsroman. In: Michels, Volker (Hg.): Materialien zu Hermann Hesses Demian. Zweiter Band. Die Wirkungsgeschichte in Rezensionen und Aufsätzen. Frankfurt a. M. 1997. S. 157–161. 510 Hesse, Hermann: Eigensinn. In: SW 12. S. 101–106. Hier: S. 103f. 511 Jung, Carl Gustav: Psychologische Typen. S. 477f. 512 Ebd. S. 478.

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grobe Skizze dieses Ablaufs soll an dieser Stelle zur Erinnerung genügen, da er bereits in Kapitel II.3.1.3 ausführlicher beschrieben wurde. Der Individuationsprozess beinhaltet eine Auseinandersetzung mit dem eigenen persönlichen und dem kollektiven Unbewussten zum Zwecke der Entwicklung einer sogenannten „oberen Persönlichkeit“513, dem ‚Selbst‘. Der Weg beginnt mit der Herauslösung des Individuums aus der Wertegemeinschaft, in die es eingebettet ist. Sobald die unabhängige geistige Entwicklung eines Menschen einsetzt, ist er mit der „Auflösung der Persönlichkeit in Gegensatzpaare“514 konfrontiert und sieht sich einer „Sackgasse“ oder einer „unmögliche[n] Situation“515 gegenüber. Die darauf folgende Auseinandersetzung mit dem persönlichen Unbewussten beinhaltet die Assimilation des eigenen ‚Schattens‘ und damit die Begegnung mit den Elementen, die bisher aus der bewussten Persönlichkeit verdrängt waren. Der ‚Schatten‘ repräsentiert alles, was „das Subjekt nicht anerkennt, was sich ihm doch immer wieder – direkt oder indirekt – aufdrängt“, beispielsweise verdrängte Erinnerungen, oder „minderwertige Charakterzüge“516, die es nun anzuerkennen gilt. Dabei kann es immer wieder zu Rückfällen kommen, bei denen man vergeblich versucht, in den Zustand vor der Beschäftigung mit dem Unbewussten zurückzukehren.517 Gelingt die Assimilation des ‚Schattens‘, ist zwar erst ein „kleiner Teil der Aufgabe“518 gelöst, aber sie bringt eine neue Offenheit für Träume, Visionen und psychische Prozesse mit sich, die ‚magische Helfer‘ auf den Plan ruft: Hat man eine derartige Einstellung, so können hilfreiche Kräfte, die in der tieferen Natur des Menschen schlummern, erwachen und eingreifen […].519

Nun kann die Auseinandersetzung mit dem kollektiven Unbewussten folgen, die mit einer „Entfesselung der Phantasie“520 einhergeht. Für den Mann beginnt sie in der Konfrontation mit seiner „Anima“, der „weiblichen Persönlichkeit“, die in ihm selbst verborgen ist.521 Die Anima ist ein Archetyp des kollektiven

|| 513 Jung, Carl Gustav: Goldene Blüte. S. 53. 514 Jung, Carl Gustav: Die Struktur des Unbewußten. In: GWJ 7. S. 277–320. Hier: S. 287. 515 Jung, Carl Gustav: Über die Archetypen. S. 48. 516 Jung, Carl Gustav: Bewußtsein, Unbewußtes und Individuation. In: GWJ 9.1. S. 293–307. Hier: S. 302. 517 Vgl. Jung, Carl Gustav: Die Struktur des Unbewußten. S. 300ff. 518 Jung, Carl Gustav: Über die Archetypen. S. 30. 519 Ebd. S. 30. 520 Jung, Carl Gustav: Die Struktur des Unbewußten. S. 297. 521 Jung, Carl Gustav: Bewußtsein, Unbewußtes und Individuation. S. 302.

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Unbewussten und kann daher in den verschiedensten „buntschillernd[en]“522 Erscheinungsformen auftreten: sie kann „Gutes und Böses“523 in sich vereinen, als „Engel des Lichts“524, „Göttin oder Hexe“525 erscheinen, oft aber auch als universal-weibliche „Mutter“ mit „einer überlegenen Kenntnis der Lebensgesetze“526. Die Aufgabe, die dieser Begegnung innewohnt, besteht wiederum in einer Assimilation: das, was bisher nach außen projiziert wurde – z. B. auf die eigene Mutter oder die Lebenspartnerin – soll verinnerlicht und in die eigene Persönlichkeit integriert werden.527 Dieser Prozess ist nicht rational zu bewältigen, sondern bedarf der symbolischen Vermittlung: Da die Archetypen relativ autonom sind, wie alle numinosen Inhalte, so können sie nicht einfach rational integriert werden, sondern verlangen ein dialektisches Verfahren, das heißt eine eigentliche Auseinandersetzung, die von dem Patienten häufig in Dialogform durchgeführt wird […] Er drückt sich aus, oder ist begleitet von Traumsymbolen, welche verwandt sind mit jenen ‚représentations collectives‘, welche in Form mythologischer Motive seelische Wandlungsvorgänge von jeher dargestellt haben.528

Gelingt die Integration, tauchen im Verlauf des Prozesses weitere Archetypen auf, die dem auf dem Weg Befindlichen als „handelnde Persönlichkeiten in Träumen und Phantasien“529 begegnen können und ihm bei der weiteren Entwicklung behilflich sind. Ein solcher Archetyp ist beispielsweise der des „alten Mannes“530, der als Lehrer und weiser Führer auftritt: er hat die Aufgabe, „Gut und Böse in ihrer gemeinsamen Funktion darzustellen“ und die Auseinandersetzung mit ihm bedeutet eine „Relativierung der Gegensätze“531, die zu Beginn des Weges eine Krise oder das Gefühl einer ‚Sackgasse‘ ausgelöst hatten. Der Archetyp des weisen alten Mannes entspricht dem des „Psychopompos“, des Seelenführers, der „die chaotischen Dunkelheiten des bloßen Lebens mit dem Lichte des Sinnes durchdringt“ 532. Am Schluss des Individuationsprozesses steht das imago dei als Visualisierung eines „inneren Gottes“533 und damit das || 522 Jung, Carl Gustav: Über die Archetypen. S. 35. 523 Ebd. S. 37. 524 Ebd. S. 38. 525 Ebd. S. 39. 526 Ebd. S. 40. 527 Vgl. ebd. S. 38. 528 Ebd. S. 50. 529 Ebd. S. 47. 530 Ebd. S. 45. 531 Ebd. 532 Ebd. S 46. 533 Jung, Carl Gustav: Psychologie und Religion. S. 63.

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Sinnbild einer höheren Persönlichkeit, deren Entwicklung das Ziel des Prozesses war. Jung setzt dieses Ziel an einigen Stellen mit religiösen Termini wie „Erleuchtung“ oder „höherer Bewusstheit“ gleich und sieht den Sinn des Individuationsprozesses in einem Transzendieren der dualen Weltsicht: „die Ausgangssituation“ – also das Auseinanderfallen der Persönlichkeit in Gegensätze – wird durch den Prozess „auf einer höheren Ebene überwunden“534. Diese Erfahrung muss in die Alltagswelt integriert werden – Jung setzt daher die Auseinandersetzung mit dem kollektiven Unbewussten mit der „Nachtmeerfahrt“535 des Sonnenhelden gleich, der am Ende der Reise siegreich wieder aus dem Meer oder der Unterwelt auftaucht. Die Parallelen, die der von Jung beschriebene Individuationsprozess mit der mythischen Heldenreise aufweist, sind offenkundig: Beide Wege beginnen mit einer krisenhaften Infragestellung des bisherigen Lebens und führen den Einzelnen aus der Gemeinschaft heraus, um eine transformative persönliche Erfahrung zu machen. Bei den nun zu bewältigenden Aufgaben, vor denen der ‚Held‘ zunächst zurückschreckt, empfängt er übernatürliche Hilfen bis er so weit gereift ist, dass er für die existentielle Begegnung mit der Göttin (oder Anima) bereit ist, die das Leben in seiner Ganzheit repräsentiert. Es folgt die Auseinandersetzung mit der Vaterfigur (oder dem weisen alten Mann) und die Bergung des Schatzes, der „life energy“536 oder des imago dei, die dann mit zurück in das Leben in der Gemeinschaft gebracht werden müssen. Jung selbst zieht für die Beschreibung des Individuationsprozesses zahlreiche mythische Motive hinzu und geht davon aus, dass Mythen – und insbesondere der Heldenmythos – als „an den Himmel projizierte Psychologie“537 zu verstehen sind. Diese Gleichsetzung nutzt Hermann Hesse für seine literarische Darstellung: er versieht den Ablauf der mythischen Heldenreise, die seine Protagonisten absolvieren, mit einer psychologischen Bedeutung. Im Zentrum des Demian – so schreibt Hesse 1923 in einem Brief – stehe der „Individuationsprozeß, das Werden der Persönlichkeit“538. Man kann den Roman dementsprechend als ‚Seelenbiographie‘ lesen, bei der die Romanfiguren als ausgelagerte psychische Aspekte der Hauptfigur gedeutet werden. Emil Sinclairs ‚Heldenreise‘ beginnt mit der Begegnung mit seinem ‚Schatten‘ Franz Kromer: in ihm ist alles verwirk-

|| 534 Jung, Carl Gustav: Über die Archetypen. S. 48. 535 Jung, Carl Gustav: Symbole der Wandlung. S. 203. 536 Campbell, Joseph: The Hero. S. 163. 537 Jung, Carl Gustav: Symbole der Wandlung. S. 254. 538 Brief Hesses an Frederik van Eeden vom 03.02.1923. In: Michels, Volker: Materialien zu Hermann Hesses Demian. Bd. 1. S. 194.

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licht, was Emil bisher erfolgreich aus seinem Bewusstsein verdrängt hat. Er kommt „aus der andern Welt“539, sieht im Gegensatz zu Emil schon aus „wie ein Mann“540, hat schlechte Manieren, steht für „Grausamkeit und Macht“541 und verführt Emil dazu, seine Eltern zu betrügen. Sogar in Emils Träumen taucht Franz Kromer „wie [s]ein Schatten“542 auf und zwingt ihn sogar – mit einem Seitenhieb auf Freud – zu einem „Mordanfall auf [s]einen Vater“543. Die Auseinandersetzung mit ihm konstelliert den Konflikt, in dem sich Emil mit den Werten seines Elternhauses befindet (Auseinandersetzung mit dem persönlichen Unbewussten/Call to Adventure). Es ist sowohl für die Heldenreise als auch für den Individuationsprozess charakteristisch, dass Emil noch einmal versucht, in seine alte Werteordnung zurückzukehren, bevor er sich tatsächlich auf den Weg macht (Regression/Refusal of the Call). Diese Entscheidung ruft den ‚magischen Helfer‘ Demian hervor und lässt ihn bewusster auf seine Träume und seine innere Entwicklung achten: er kann kaum mehr unterscheiden, was er in seinen „Träumen erlebt und was in der Wirklichkeit“544 (Aktivierung der schöpferischen Kräfte des Unbewussten/Supernatural Aid). Auf Sinclairs ‚Nachtmeerfahrt‘ während seiner Zeit im Internat folgt die bewusste Auseinandersetzung mit seinen Traumbildern und Visionen, wie beispielsweise die Bilder von Beatrice, dem Wappenvogel oder Frau Eva (Arbeit mit den Inhalten des kollektiven Unbewussten/Road of Trials). Aber auch die Abraxas-Figur gehört in diesen Kontext der vermittelnden Symbole, die Sinclair dabei helfen, sich mit dem Unbewussten auseinanderzusetzen. Die Begegnung mit Frau Eva schließt den im Demian erzählten Teil des Weges ab (Assimilation der Anima/Meeting with the Goddess). Frau Eva ist deutlich als Anima-Figur gekennzeichnet: sie ist „ganz und gar weiblich“545, gleichzeitig aber mit ambivalenten Attributen versehen. Ebenso wie die Jungsche Anima ist sie eine „bipolare Figur“, die als „bald alt, bald, jung; bald Mutter, bald Mädchen; bald gütige Fee, bald Hexe; bald Heilige, bald Hure“546 erscheinen kann. Die Sehnsucht nach ihr ist für Emil zugleich „Gottesdienst und […] Verbrechen“547, ihr Bildnis verehrt er mal als

|| 539 Hesse, Hermann: Demian. S. 243. 540 Ebd. S. 241. 541 Ebd. S. 242. 542 Ebd. S. 258. 543 Ebd. S. 259. 544 Ebd. 545 Ebd. S. 308. 546 Jung, Carl Gustav: Zum psychologischen Aspekt der Korefigur. S. 216. 547 Hesse, Hermann: Demian. S. 308.

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„Mutter“ und „Geliebte“, beschimpft es aber auch als „Hure und Dirne“548 und als Gottesgestalt in seiner Vision ist sie die Herrin über Leben und Tod549; er selbst ist – ebenso wie Goldmund – der „Sohngeliebte der Muttergöttin“550. Die Assimilation des weiblichen Seelenanteils, den sie repräsentiert, vollzieht sich im Demian als platonischer Liebesdienst. Emil setzt sich mit ihr zunächst in Träumen und über das von ihm selbst gemalte Bildnis auseinander, bis er ihr tatsächlich in der Realität begegnet. Auch dann werden seine Liebessehnsüchte nicht erfüllt, sondern sie erzählt ihm Gleichnisse und Märchen, die auf eine Liebe verweisen, die er in sich selbst suchen soll, anstatt sie auf eine andere Person zu projizieren.551 Emil abstrahiert seine Gefühle für Frau Eva so weit, dass „[a]lles“, was ihm als „wichtig“ und sein „Schicksal“ betreffend erscheint, „ihre Gestalt annehmen“552 kann. Als er hofft, dass sie seinem Ruf folgen würde, kommt stattdessen Demian zu ihm und überbringt die Nachricht vom Ausbruch des Weltkrieges: Frau Eva erscheint ihm zuletzt in der Vision der Großen Göttin und zeigt sich in der Gestalt der weiblichen Herrin über Leben und Tod.553 Auf diesen Teilbereich des Individuationsprozesses bezieht sich auch die Haupthandlung in Narziß und Goldmund. Goldmunds ‚Weg zur Mutter‘ ist das sinnlich ausgestaltete Äquivalent zu Emils geistiger Liebe zu Frau Eva. Obwohl Goldmunds Auseinandersetzung mit Geburt, Liebe und Tod immer an konkreten Frauenfiguren festgemacht wird (man denke an die gebärenden Bäuerin, Lydia und Agnes oder die pestkranke Lene), rückt das Anima-Bild der ‚Großen Mutter‘ in diesem Roman weiter in den Bereich des Archetypischen und wird nicht mehr in einer einzelnen Figur konkretisiert. Zwar ist es die Erinnerung an die persönliche Mutter, die Goldmunds Entwicklung anstößt554, aber im Laufe seines Lebens abstrahiert er diese Erinnerung gemeinsam mit seinen neuen Erfahrungen zu jenem „buntschillernd[en]“555Anima-Archetyp, der nach Jung „Gutes und Böses“556 in sich vereinen und als universal-weibliche „Mutter“ mit „einer überlegenen Kenntnis der Lebensgesetze“557 erscheinen soll. Goldmunds inneres Bild der ‚Großen Mutter‘ erfüllt genau diese Funktion – es repräsentiert

|| 548 Ebd. S. 327. 549 Vgl. ebd. S. 363f. 550 Jung, Carl Gustav: Symbole der Wandlung. S. 395. 551 Vgl. Hesse, Hermann: Demian. S. 351ff. 552 Ebd. S. 353. 553 Vgl. ebd. S. 363f. 554 Vgl. Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. S. 313. 555 Jung, Carl Gustav: Über die Archetypen. S. 35. 556 Ebd. S. 37. 557 Ebd. S. 40.

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das Leben in seiner Gesamtheit, das Goldmund nach und nach anzunehmen lernt: Weiter dachte Goldmund: ein Geheimnis ist es, das ich liebe, dem ich auf der Spur bin […]. Es ist die Gestalt der großen Gebärerin, der Urmutter, und ihr Geheimnis besteht nicht, wie das einer anderen Figur, in dieser oder jener Einzelheit, […], sondern es besteht darin, daß die größten Gegensätze der Welt, die sonst unvereinbar sind, in dieser Gestalt Frieden geschlossen haben und beisammenwohnen: Geburt und Tod, Güte und Grausamkeit, Leben und Vernichtung.558

Die Assimilation dieses Anima-Bildes ermöglicht es Goldmund, das Leben in seiner Vielschichtigkeit anzunehmen und letztlich auch mit seinem Tod einverstanden zu sein. Seine psychische Entwicklung ist ganz auf die Auseinandersetzung mit diesem Archetyp ausgerichtet, so dass seine letzte Sorge nicht dem eigenen Tod gilt, sondern dem des ‚mutterlosen‘ Narziß.559 Ebenso wie im Demian wird die weitere Entwicklung des alleine zurückbleibenden zweiten Protagonisten nicht erzählt, sondern nur angedeutet. Im Siddhartha dagegen liegt der Fokus der Erzählung auf dem zweiten Teil des Individuationsprozesses, auch wenn die ersten Stufen ebenso thematisiert werden. Der Hauptteil des Romans konzentriert sich aber auf den letzten Abschnitt des Weges, der über die Persönlichkeitsentwicklung hinausführt. Siddhartha begegnet zunächst Vasudeva als Archetyp des ‚alten Mannes‘, der den „Archetypus des Sinnes“, bzw. des „überlegenen Meisters und Lehrers“ 560 verkörpert. Er scheint Siddharthas weiteren Lebensweg bei ihrer ersten Begegnung bereits vorauszuwissen561, unterweist ihn nahezu wortlos im „Wissen um die ewige Vollkommenheit der Welt“562 und dient ihm als Vorbild der Lebensführung. Dabei ist – wie auch bei Demian – auffällig, wie wenig individuelle Züge Vasudeva in der Beschreibung erhält. So wird beispielsweise sein Äußeres bis auf das leitmotivische Lächeln und das faltige Gesicht, das sein Alter anzeigt, überhaupt nicht beschrieben.563 Stattdessen wird er mit den archetypischen Attributen des Heiligen ausgestattet, der stets von Licht umgeben ist: sein Lächeln ist immer „hell“ oder „strahlend“564 und als er Siddhartha verlässt, er-

|| 558 Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. S. 422f. 559 Vgl. ebd. S. 531. 560 Jung, Carl Gustav: Über die Archetypen. S. 42–45. 561 Vgl. Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 405. 562 Ebd. S. 458. 563 Vgl. ebd. S. 462. 564 Ebd.

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scheint ihm Vasudevas „Haupt voll Glanz“ und seine „Gestalt voll Licht“565. Er erscheint daher als Archetyp des weisen alten Mannes, dessen Aufgabe darin besteht, „die chaotischen Dunkelheiten des bloßen Lebens mit dem Lichte des Sinnes“ zu durchdringen, wie es bei Jung heißt.566 Dem Individuationsprozess folgend verweist der weise alte Mann Siddhartha auf das höchste Symbol: den Fluss als imago dei. Dem höchsten Symbol als „Gottesbild“ weist Jung eine „ungeheure Bedeutung“567 im Individuationsprozess zu, weil es im Rahmen der sogenannten „transzendente[n] Funktion“568 die Mittlerrolle zwischen dem Unbewussten und dem Bewusstsein übernimmt, deren Zusammenspiel das ‚Selbst‘ als höhere Persönlichkeit erst ermöglicht. Im Siddhartha ist der Fluss dieses höchste Symbol, das alle Elemente von Siddharthas Erleuchtungserlebnis umfasst. Wie bereits gezeigt wurde, fungiert der Fluss als symbolische Repräsentation für Siddharthas Einsicht in die Idealität von Zeit und Raum569, für sein Erlebnis der All-Einheit570 und schließlich auch für das daraus resultierende Gefühl der selbstlosen Liebe zur gesamten Schöpfung571. Der Fluss als allumfassendes Symbol beinhaltet „alle Geheimnisse“572, die Siddhartha letztlich dazu befähigen, über seine Persönlichkeitsentwicklung hinaus zum überindividuellen Zustand des ‚Vollendeten‘ zu gelangen. Damit führt die Erzählung im Siddhartha fort, was im Demian begonnen wurde – beide Romane gemeinsam umfassen den gesamten Individuationsprozess, wie ihn Jung beschrieben hat. Hesse schreibt dazu in einem Brief: Dies Buch [Demian, E.K.] betont den Individuationsprozeß, das Werden der Persönlichkeit, ohne das kein höheres Leben ist. […] Daß mir die andere Seite unsrer Aufgabe und Bestimmung, die größere, göttliche, das Überwinden der Persönlichkeit und das Durchdrungenwerden von Gott, auch bekannt ist, haben Sie aus dem Siddhartha gesehen. Ich selber sehe diese zwei Bücher keineswegs als Widersprüche, sondern als Stücke desselben Weges.573

|| 565 Ebd. 566 Jung, Carl Gustav: Über die Archetypen. S. 46. 567 Jung, Carl Gustav: Psychologische Typen. S. 132. 568 Ebd. S. 133. 569 Vgl. Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 443. 570 Vgl. ebd. S. 443f.; 461f. 571 Vgl. ebd. S. 462; 467. 572 Ebd. S. 439. 573 Brief Hesses an Frederik van Eeden vom 03.02.1923. In: Michels, Volker: Materialien zu Siddharta. S. 186f.

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Um diesen Prozess bildlich darzustellen, greift Hesse jedoch nicht nur auf das Schema der Heldenreise zurück, sondern er nutzt auch die Figurenkonstellation in seinen Romanen dazu, die Psyche des Protagonisten anschaulich zu machen. 4.1.3.2 Die ‚mythische Person‘ Die ‚mythische Person‘, die im Zentrum des Seelenromans steht, beschreibt Hesse in einem Arbeitsbericht folgendermaßen: Eine neue Dichtung beginnt für mich in dem Augenblick zu entstehen, wo eine Figur mir sichtbar wird, welche für eine Weile Symbol und Träger meines Erlebens, meiner Gedanken, meiner Probleme werden kann. Die Erscheinung dieser mythischen Person […] ist der schöpferische Augenblick, aus dem alles entsteht.574

Gruppiert um diese ‚mythische Person‘ sind im Romangeschehen stets Figuren, die als deren nach außen projizierte Seelenanteile interpretiert werden können. Dafür nutzt Hesse eine mythische Erzähltechnik, die bereits anlässlich der Typisierung von Figuren beschrieben wurde575: die Totalität wird durch ihre Aufspaltung in eine Vielheit sichtbar gemacht. Psychologisch gedeutet repräsentieren die Nebenfiguren Teile der psychischen Realität des Protagonisten, die dieser noch nicht in seine Persönlichkeit integriert hat. So nutzt Hesse eine mythische Erzähltechnik psychologisch: analog zur polytheistischen Praxis der Aufspaltung des Weltganzen in Einzelfiguren, die jeweils einen Aspekt der Realität verkörpern, spaltet Hesse in seinen Romanen die eine ideale ‚mythische Person‘ in zahlreiche Neben- oder Ergänzungsfiguren auf, die auf die gesuchte psychische Ganzheit des Protagonisten verweisen. Im Steppenwolf findet sich zu dieser Erzähltechnik ein versteckter poetologischer Kommentar. Im Tractat vom Steppenwolf erläutert der unbekannte Verfasser eben jene Erzählstrategie Hesses: [I]n unsrer modernen Welt gibt es Dichtungen, in denen hinter dem Schleier des Personen- und Charakterspiels, dem Autor wohl kaum ganz bewußt, eine Seelenvielfalt darzustellen versucht wird. Wer dies erkennen will, der muß sich entschließen, einmal die Figuren einer solchen Dichtung nicht als Einzelwesen anzusehen, sondern als Teile, als Seiten, als verschiedene Aspekte einer höhern Einheit […].576

Zwei der häufigsten Konstellationen für diese Auslagerung der ‚Seelenvielfalt‘ des Protagonisten sind zum einen die Kombination aus Lehrer- und Schüler-

|| 574 Ebd. S. 123. 575 Vgl. Kapitel IV.1.2.3. 576 Hesse, Hermann: Der Steppenwolf. In: SW 4. S. 5–267.

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Figuren und zum anderen zwei gegensätzliche, aber stets aufeinander bezogene Komplementärfiguren. Bei der Lehrer-Schüler-Kombination findet sich in Hesses Romanen dabei ein immer wiederkehrendes Muster: Die Lehrerfiguren verschwinden bezeichnenderweise immer genau dann aus der Erzählung, wenn der Protagonist den von ihnen symbolisierten ‚ausgelagerten‘ Aspekt verinnerlicht hat.577 Ganz deutlich ist dies beispielsweise im Demian zu beobachten. So wird Demian selbst den gesamten Roman hindurch als eine Art ‚innere Stimme‘ Emils inszeniert. Gleich zu Beginn des Romans, als Demian Emils Geheimnis um Franz Kromer enttarnt, heißt es: Wie im Traum unterlag ich seiner Stimme, seinem Einfluß. Ich nickte nur. Sprach da nicht eine Stimme, die nur aus mir selber kommen konnte? Die alles wußte? Die alles besser, klarer wußte als ich selber?578

Als Sinclair ein Bild von Demian malt, erkennt er bald darauf, dass es ihm selbst gleicht579 und identifiziert Demian erneut als seine innere Stimme, die „alles weiß“580. Darüber hinaus wiederholt Demian mehrmals wortgetreu Sinclairs Gedanken: er versichert ihm beispielsweise, wie gut es sei, dass „in uns drinnen einer ist, der alles weiß“581. Darüber hinaus wird Demian auch als eine Art archetypisches Traumwesen charakterisiert: sein Gesicht sieht „nicht alt oder jung“ aus, „sondern irgendwie tausendjährig, irgendwie zeitlos, von anderen Zeitläufen gestempelt“582. Er altert während der gesamten Dauer der erzählten Zeit von rund 8 Jahren nicht, sondern erscheint Emil „ganz unverändert, gleich alt, gleich jung wie immer“583. Während einer Versenkungsübung erscheinen seine Züge „wie aus Holz oder Stein geschnitten“584 und Emil glaubt, seine wahre Gestalt sehen zu können: Ich hing mit gebanntem Blick an seinem Gesicht, an dieser blassen, steinernen Maske, und ich fühlte: das war Demian! Wie er sonst war, wenn er mit mir ging und sprach, das war nur ein halber Demian, einer, der zeitweilig eine Rolle spielte, sich anbequemte, aus Gefälligkeit mittat. Der wirkliche Demian aber sah so aus, so wie dieser, so steinern, uralt,

|| 577 Vgl. dazu auch Baumann, Günter: Der archetypische Heilsweg. S. 93. 578 Hesse, Hermann: Demian. S. 263. 579 Ebd. S. 299. 580 Ebd. S. 302. 581 Ebd. 582 Ebd. S. 273. 583 Ebd. S. 300. 584 Ebd. S. 285.

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tierhaft, steinhaft, schön und kalt, tot und heimlich voll von unerhörtem Leben. Um ihn her diese stille Leere, dieser Äther und Sternenraum […].585

Die Motive der maskenhaften Gesichtszüge und der Identifikation einer Figur mit nicht-menschlichen Attributen tauchen immer wieder in Hesses Romanen auf, wenn es darum geht, einen solchen archetypischen ‚Seelenführer‘ zu beschreiben. Die Assimilation dieser Figuren in die Psyche des Protagonisten kann auf verschiedene Art und Weise erfolgen. Im Demian ist das Essen von symbolischen Bildrepräsentationen als Aufnahmeritual die dominierende Metaphorik. In Emils Traum vom Wappenvogel fordert Demian ihn beispielsweise dazu auf, „das Wappen zu essen“586, und nach der ritualhaften Auseinandersetzung mit dem Bild von Frau Eva erinnert sich Emil nicht mehr, ob er nur im Traum oder auch in Wirklichkeit das Bild „in [s]einen Händen verbrannt und die Asche gegessen“587 hat. Die metaphorische Aufnahme der seelischen Prozesse, die diese Bilder repräsentieren, bedeutet für Emil jeweils einen Fortschritt in seiner psychischen Entwicklung. Das, was nach außen projiziert war, ist nun assimiliert und bedarf keiner äußerlichen Repräsentation mehr. Dieser Vorgang bezieht sich aber nicht nur auf Bilder, sondern eben auch auf diejenigen Romanfiguren, die nach außen verlagerte Anteile von Sinclairs Psyche symbolisieren. Nachdem Emils Entwicklung weit genug fortgeschritten ist, verschwinden Demian und Frau Eva auf magische Art und Weise. Im Lazarett taucht Demian noch ein letztes Mal auf und gibt Emil Anweisungen: ‚Kleiner Sinclair, paß auf! Ich werde fortgehen müssen. Du wirst mich vielleicht einmal wieder brauchen, gegen den Kromer oder sonst. Wenn du mich dann rufst, dann komme ich nicht mehr so grob auf einem Pferd geritten oder mit der Eisenbahn. Du mußt dann in dich hinein hören, dann merkst du, daß ich in dir drinnen bin. Verstehst du? – Und noch etwas! Frau Eva hat gesagt, wenn es dir einmal schlecht gehe, dann solle ich dir den Kuß von ihr geben, den sie mir mitgegeben hat […].‘ Als ich endlich richtig wach war, wendete ich mich schnell nach der Nachbarmatratze hin. Es lag ein fremder Mensch darauf, den ich nie gesehen hatte.588

Demian repräsentiert hier nicht nur sich selbst, sondern auch seine Mutter, von der er einen Kuss übermittelt. Die Aufnahme der Potentiale, die die beiden Figuren für Emil symbolisieren, wird durch die Anspielung auf den Mund wiederum

|| 585 Ebd. 586 Ebd. S. 303. 587 Ebd. S. 328. 588 Ebd. S. 365.

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mit dem Motivbereich des Essens verbunden, der bei den menschlichen Figuren durch den Kuss ersetzt wird. Auch im Siddharta gibt es zahlreiche Lehrerfiguren, die auf magische Art und Weise verschwinden, sobald der Protagonist das von ihnen Erlernte verinnerlicht hat. Am deutlichsten zeigt sich dies beim Verschwinden des Vasudeva. Er bleibt als stummer Lehrmeister bei Siddhartha bis genau zu jenem Moment, in dem dieser selbst die Erleuchtung erlangt. Er verlässt Siddhartha gleich darauf, um ‚in die Einheit zu gehen‘ und verweist sogar selbst darauf, dass er Siddhartha nun ‚lange genug‘ in seiner Gestalt als Lehrer erschienen sei: Als Vasudeva sich von dem Sitz am Ufer erhob, als er in Siddharthas Augen blickte und die Heiterkeit des Wissens darin strahlen sah, berührte er dessen Schulter leise mit der Hand, in seiner behutsamen und zarten Weise, und sagte: ‚Ich habe auf diese Stunde gewartet, Lieber. Nun sie gekommen ist, laß mich gehen. Lange habe ich auf diese Stunde gewartet, lange bin ich der Fährmann Vasudeva gewesen. Nun ist es genug. […]. Ich gehe in die Wälder, ich gehe in die Einheit.‘589

Nicht umsonst trägt Vasudeva den Namen einer Inkarnation Krishnas – auch mit dieser Namenswahl ist darauf verwiesen, dass die Person Vasudeva nur eine temporäre Verhüllung des ihr innenwohnenden göttlichen Prinzips ist. Sobald sein Schüler gelernt hat, was er zu lehren hatte, kann er ‚in die Einheit‘ zurückkehren. Siddhartha selbst bemerkt kurz zuvor, dass er von Vasudeva „kaum noch verschieden sei“590 und ist damit einen Schritt weiter als Emil, der sich seiner Identität mit Demian nur langsam bewusst wird. In einem Brief an seine Schwester Adele erwähnt Hesse selbst diese Erzähltechnik mit dem Verweis auf indische Lehrer-Schüler-Mythen: Der ‚Führer‘ ist ja immer nur eine Figur, das Richtige ist schon in uns drinnen […]. Darum sagen die indischen Weisen oft, wenn sie Wichtiges sagen, zum Schüler: ‚Ich lehre dich nicht, ich erinnere dich nur.‘ Und darum muß Demian am Ende auch verschwinden und in Sinclair eingehen, da er den Führer, oder doch diesen, nimmer braucht.591

Neben diesem Lehrer-Schüler-Verhältnis gibt es, wie bereits erwähnt, aber auch ‚Doppelfiguren‘, bei denen zwei sich ergänzende Prinzipien in zwei Charaktere aufgespalten sind.592 Narziß und Goldmund sind solche Komplementärfiguren,

|| 589 Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 462. 590 Ebd. S. 460. 591 Brief Hesses an Adele vom 04.11.1920. In: Michels, Volker: Materialien zu Hermann Hesses Demian. Bd. 1. S. 188. 592 Vgl. hierzu auch Moritz, Julia: Narkissos und Chrysostomos. S. 234.

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die durch ihre Freundschaft das Ideal eines Menschen symbolisieren, der sowohl die ‚mütterliche‘ Sinnlichkeit als auch die ‚väterliche‘ Geistigkeit in seine Persönlichkeit zu integrieren vermag. Im Roman wird auf die geheime Identität der beiden Figuren mit einem Namens-Spiel verwiesen: Goldmund ist nach dem frühchristlichen Prediger Johannes Chrysostomos (griech. ‚Goldmund‘) benannt, der sein „Taufpatron“593 ist, und seine Wanderschaft beginnt mit der Suche nach „Johanniskraut“594. Aber Narziß ist ebenso wie Goldmund mit dem Namen Johannes verbunden. Zunächst gestaltet Goldmund seine erste Holzfigur als Jünger Johannes mit der Gestalt seines Freundes Narziß, der ihm dieses Bild „in die Seele gegeben“595 habe, um dann später bei ihrer nächsten Begegnung herauszufinden, dass Narziß, der inzwischen Abt geworden ist, den Namen Johannes angenommen hat.596 Die Namensidentität der beiden Figuren verweist auf ihre Zusammengehörigkeit, die ja auch in ihren Freundschaftsbekundungen immer wieder zum Ausdruck gebracht wird. Der Weg der beiden Freunde von der Bewusstwerdung ihrer Unterschiedlichkeit bis zur gegenseitigen Liebe und Akzeptanz des jeweils anderen als „seinesgleichen“597 ist als psychologischer Selbstfindungsprozess gestaltet, der den jeweils anderen als komplementäres Gegenbild braucht. Die ‚Spiegelbild‘-Motivik, die zu diesem Zweck aus dem Narziß-Mythos entlehnt wird, unterstreicht zusätzlich die Einheit der zwei Figuren als ‚eine Person‘. In einem Brief schreibt Hesse nach dem Erscheinen des Romans eine Art Leseanweisung zu den beiden Figuren: Worauf es mir überall und immer ankommt, das ist die Einheit über den Gegen-sätzen, das Beieinander und stete Ineinander von Sinnenmensch und Asket […]. Der irgendwie höher stehende Mensch ist nicht der, der eine Seite überzüchtet, sondern der beide annimmt und zu leben sucht […].598

Die Aufspaltung in zwei Komplementärfiguren findet sich z.B. auch im Steppenwolf (dort auch mit der damit verbundenen Spiegelbild-Motivik) oder im Glasperlenspiel, in dem der Fokus diesmal auf den ‚Geistmenschen‘ Josef Knecht gelegt wird und der ‚Sinnenmensch‘ Plinio Designiori die Rolle der Nebenfigur einnimmt. || 593 Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. S. 296. Vgl. dazu auch Nicolai, Ralf: Hesses Narziß und Goldmund. S. 39f.; Moritz, Julia: Narkissos und Chrysostomos. S. 231f. 594 Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. S. 327. 595 Ebd. S. 414. 596 Vgl. ebd. S. 486. 597 Ebd. S. 521. 598 Brief Hesses an Anni Rebenwurzel vom Januar 1930. In: Michels, Volker: Narziß und Goldmund. S. 103f.

Mythisches Erzählen als Abbild der Psyche bei Hermann Hesse | 327

Diese Art des Erzählens, bei der die Romanfiguren als psychische Teilbereiche der Hauptfigur ausgestaltet werden, in denen sie sich spiegelt oder die nach und nach von dieser aufgenommen werden, trägt maßgeblich dazu bei, die Entwicklung seiner Protagonisten analog zum von C. G. Jung beschriebenen ‚Individuationsprozess‘ zu gestalten. 4.1.3.3 Mythos und Psychoanalyse in der Erzählung Die bisher erfolgte Analyse hat gezeigt, dass die Verbindung von mythischem Erzählen mit psychologischen Deutungen ein Charakteristikum der Romane seit dem Demian ist. Hesse sieht in dieser Verbindung den Versuch, „das Wissen von einem bipolaren, nicht einseitigen, synthetischen Denken“599 darzustellen, das sowohl in der Psychoanalyse als auch in mythischen Erzählungen thematisiert werde. Die zu bewältigende Aufgabe, die sich dem Individuum sowohl in der mythischen Heldenreise als auch im Individuationsprozess stellt, ist die Überwindung einer dual strukturierten Sicht auf die Realität zugunsten eines synthetischen, ‚transrationalen‘ Weltzugangs, der die Gegensätze umschließt. Das mythische Symbol, das stets „weit mehr“ bedeutet „als der rationalen Betrachtung zugänglich ist“600, dient dabei als Mittler zu diesem Ziel. Im Gegensatz zu Thomas Mann ironisiert oder verfremdet Hermann Hesse Mythen und mythisches Erzählen in seinen Romanen nicht, sondern unterlegt sie stattdessen mit einer psychologischen Deutungsebene. Es ist jedoch genau diese psychologische Deutungsebene, die mythisches Erzählen aus Hesses Sicht für die Moderne relevant erscheinen lässt: In einem Brief an einen Leser schreibt Hesse, dass „alle Mythen der Menschheit […] für uns wertlos“ seien, „solang wir sie nicht persönlich und für uns und unsere Zeit zu deuten wagen. Dann aber können sie uns sehr wichtig werden.“601 Dieser Einstellung folgend hat Hesse beispielsweise den Siddhartha mehrmals als seine „ganz persönliche Mythologie“602 bezeichnet, weil in diesem Roman die produktive Verbindung von Mythos und Psychologie besonders eindeutig zum Tragen kommt: es sei der

|| 599 Hesse, Hermann: Mein Verhältnis zum geistigen Indien und China. In: SW 12. S. 128–130. Hier: S. 130. 600 Brief Hesses an F. Abel vom Dezember 1931. In: Michels, Volker: Materialien zu Hermann Hesses Demian. Bd. 1. S. 208f. 601 Brief Hesses an H.S. vom 13.04.1930. In: Michels, Volker: Materialien zu Hermann Hesses Demian. Bd.1. S. 201. 602 Brief Hesses an Romain Rolland vom 06.04.1923. In: GB II. S. 56.

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Roman, „in dem [er] versucht habe, die alte asiatische Lehre von der göttlichen Einheit für unsere Zeit und in unserer Sprache zu erneuern“603. Wie diese Erneuerung literarisch umgesetzt wird, geht aus der bisher erfolgten Analyse hervor: in die hier behandelten Romanen werden Mythen aus den verschiedensten Kulturkreisen eingewoben, die typische menschliche Lebenssituationen und -fragen thematisieren. Die seelische Entwicklung der Protagonisten wird mit dem Erzählmuster der mythischen Heldenreise unterlegt, die zugleich an den Ablauf des von Jung beschriebenen Individuationsprozesses angeglichen ist und so eine psychologische Deutung erfährt. Die Reise des Helden ist eine innerliche; sie zeigt den Weg des Menschen zur Ausbildung seiner Persönlichkeit und die Entwicklung darüber hinaus hin zu einem überindividuellen Ideal. Hesse zeigt sich überzeugt, dass diese psychischen Prozesse nur bildlich zu vermitteln sind und nutzt daher die Mittel des mythischen Erzählens, um diese anschaulich machen zu können. Am deutlichsten wird dies in der Suche nach einem „höchsten Symbol“604 – sei es Abraxas, der Fluss oder das Bild der Mutter –, das die in den Romanen beschriebenen Lebenskrisen zu lösen vermag und am Ende des Individuationsprozesses steht. Sowohl der Einsatz von Leitmotivik als auch die Figurenkonstellation sind darauf ausgelegt, Gegensätze sichtbar zu machen, die dann auf einer symbolischen Ebene transzendiert und zu einer Synthese geführt werden. Diese ‚höhere Einheit‘ kann nur in einer symbolischen Sprache ausgedrückt werden. Damit einher geht, so Hesse, „eine Art von Verzicht auf den Wert des spekulativen Denkens“605 für eben jene psychischen Prozesse, die in den Romanen beschrieben sind. Sie können nicht „ins flach Rationale“ übersetzt werden, sondern bedürfen der Vermittlung durch mythische Symbole, um „jene Unsagbarkeiten in Bildern auszudrücken“606. Diese Haltung „teilt Hesse“ jedoch nicht „mit der irrationalistischen Philosophie seiner Epoche“607, wie so gerne in der Forschung behauptet wird. Friederici bezieht sich in der hier zitierten Kritik beispielhaft auf eine Stelle im Siddhartha, an der der Protagonist selbstreflexiv den Wert des abstrakten Denkens in Frage stellt, und parallelisiert diese mit der Philosophie Klages‘. Dabei übersieht er jedoch, dass Siddhartha den Wert des rationalen Denkens nicht generell

|| 603 Hesse, Hermann: Gedanken über Lektüre. S. 13. 604 Hesse, Hermann: Die Brüder Karamasoff. S. 129. 605 Brief Hesses an Fritz Marti vom 10.01.1923. In: Michels, Volker: Materialien zu Siddharta. S. 184. 606 Brief Hesses an Jens Jürgen Schröder vom Januar 1957. In: Ebd. S. 268. 607 Friederici, Hans: Die Indien-Rezeption in Hermann Hesses ‚Siddhartha‘. S. 128.

Mythisches Erzählen als Abbild der Psyche bei Hermann Hesse | 329

in Frage stellt, sondern nur in Bezug auf einen bestimmten Lebensbereich, der nicht mit „Wissen“, sondern nur mit „Weisheit“608 zu erfassen sei. Da ‚Weisheit‘ im nächsten Absatz mit dem Erlebnis der Einheit allen Seins gleichgesetzt wird, ist auch schnell klar, warum rationales Denken in diesem Bereich nicht von Wert sein kann: da rationales Denken auf Differenzierung beruht, kann es das paradoxe Erlebnis des In-Eins-Fallens dieser Differenzierungen nicht erfassen. Deshalb legt Hesse seinem Protagonisten auch Jungs Diktum in den Mund, dass „Weisheit, welche ein Weiser mitzuteilen versucht“ aus der Perspektive des rationalen Denkens „immer wie Narrheit“609 klinge. Sobald es um transzendente Erfahrungen geht, stellt sich die Sprache der Rationalität als Hindernis dar. An ihre Stelle treten symbolische und mythische Erzählverfahren, die diese Erfahrungen in bildlicher Form darstellbar machen und einen ‚transrationalen‘ Zugang zur Wirklichkeit ermöglichen.

|| 608 Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 458. 609 Hesse, Hermann: Siddhartha. S. 465. Vgl. dazu Hesses Tagebucheintrag, in dem er zur letzten Sitzung mit Jung notiert: „Weisheit ist nicht mitteilbar, versucht man es, so sieht es gleich verrückt aus […].“ (Eintrag vom 29.06.1921. In: Hesse, Hermann: Tagebuch. S. 656.).

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4.2 Entlarvungspsychologie und ironisches Spiel: Mythisches Erzählen bei Thomas Mann Nach den durchweg realistisch erzählten Buddenbrooks (1901) und den frühen Novellen, die sich aus dem Motivfundus der Wagner-Opern bedienen, ist der Tod in Venedig (1912) die erste Erzählung Thomas Manns, die zum einen auf mythische Motive aus der Antike zurückgreift und bei der er zum anderen mythische Erzähltechniken einsetzt.610 In fast allen Werken Thomas Manns, die auf den Tod in Venedig folgen, lassen sich – mal mehr und mal weniger dominant – mythische Bezüge finden: von den Hermes-Anspielungen und dem antikisierenden Schneetraum im Zauberberg (1924) über das vom Panbabylonismus inspirierte Monumental-Epos Joseph und seine Brüder (1933–43) und sein Nachspiel Das Gesetz (1944) bis hin zur Aufarbeitung der deutschen Geschichte im Horizont des Faust-Mythos im Doktor Faustus (1947) und der Neubearbeitung der Gregorius-Sage in Der Erwählte (1951). Ein Überblick über die Entwicklung des mythischen Erzählens bei Thomas Mann lässt sich durch einen Vergleich zwischen dem Tod in Venedig und der Joseph-Tetralogie gewinnen: denn sie stehen paradigmatisch für einen Wandel in Thomas Manns Mythosverständnis. Während die frühe Erzählung noch vor Thomas Manns theoretischer Reflexion über den Mythos liegt, die erst in den zwanziger Jahren einsetzt, ist der Gebrauch von mythischen Bezügen und Erzähltechniken im Joseph bereits ein Politikum. Über der Romantetralogie, die als „Geschütz“611 gegen die faschistische Vereinnahmung des Mythos dienen soll, steht ein humanistisches Konzept, in dessen Rahmen der moderne und ‚richtige‘ Umgang mit dem Mythos exemplarisch gezeigt werden soll. Mythisches Erzählen wird hier durch Witz, Reflexion und einen der Erzählung inhärenten Fortschrittsgedanken gebrochen, während es im Tod in Venedig als eine zweite Bedeutungsebene unter dem realistisch Erzählten fungiert, die Irrationales und Verdrängtes metaphorisch umkleidet. Anhand eines Vergleiches zwischen dem Tod in Venedig und den Joseph-Romanen lässt sich aufzeigen, wie Thomas Mann im Laufe seiner Entwicklung Mythos und mythisches Erzählen ins Verhältnis zu Rationalität || 610 Vgl. dazu Baron, Frank (Hg.): Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Wirklichkeit, Dichtung, Mythos. Lübeck 2003; Dierks, Manfred: Mythos und Psychologie. S.13–59; Kurzke, Hermann: Thomas Mann. Leben – Werk – Wirkung. 2. überarb. Aufl. München 1991. S. 122; Michael, Wolfgang: Stoff und Idee im Tod in Venedig. In: DVjs. 33 (1959). S. 13–19; Rechberger, Friedrich: Vorformen des Mythischen im Frühwerk von Thomas Mann. Salzburg 1994; Vaget, Hans Rudolf: Art. Die Erzählungen. In: Koopmann, Helmut (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch. 3. akt. Aufl. Frankfurt a. M. 2005. S. 534–618. 611 Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag. S. 189.

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und Aufklärung setzt, und wie diese Verhältnisbestimmung sein eigenes ‚mythisches Erzählen‘ beeinflusst. Der Tod in Venedig nimmt trotz seiner Kürze eine wichtige Stellung in Thomas Manns Gesamtwerk ein. Die Verbindung aus Nietzsches und Schopenhauers philosophischem Gedankengut und mythischer Erzähltechnik wird hier zum ersten Mal praktiziert und verdichtet sich zu einem Schema, das auch in späteren Werken immer wieder aufgerufen wird. Der erste Plan zu der VenedigErzählung ist im Vergleich zu ihrer späteren Gestalt noch ein durchaus realistischer: Thomas Mann will in ‚Goethe in Marienbad‘ – so der Arbeitstitel – die Geschichte der letzten Liebe Goethes zu der jungen Ulrike von Levetzow erzählen.612 Sein Aufenthalt in Venedig vom 26.05.–02.06.1911 liefert dann jedoch die Inspiration zu der mit mythischen Bezügen aufgeladenen Geschichte um die Venedig-Reise des alternden Künstlers Aschenbach, der sich in den jungen Tadzio verliebt und schließlich an der Cholera stirbt. Im Lebensabriß (1930) bekennt Mann, im Tod in Venedig sei […] nichts erfunden: Der Wanderer am Münchener Nordfriedhof, das düstere Polesaner Schiff, der greise Geck, der verdächtige Gondoliere, Tadzio und die Seinen, die durch Gepäckverwechslung mißglückte Abreise, die Cholera, der ehrliche Clerc im Reisebüro, der bösartige Bänkelsänger oder was sonst anzuführen wäre – alles war gegeben, war eigentlich nur einzustellen und erwies dabei aufs Verwunderlichste seine kompositionelle Deutungsfähigkeit.613

Trotz der realen Vorbilder für die Erzählung enthält sie unter ihrer realistisch gehaltenen Oberfläche eine zweite Bedeutungsschicht, die mit mythischen Bezügen versehen ist und die die ‚kompositionelle Deutungsfähigkeit‘ des realistisch Erzählten erst ermöglicht. Das Grundmodell der Erzählung ist an Nietzsches Entgegensetzung von apollinischem und dionysischem Prinzip orientiert, die Thomas Mann zu einer Verfallsgeschichte umdeutet und mit mythischen Motiven versieht. In die Entstehungszeit der Venedig-Erzählung, die bereits am 21. Juli 1912 abgeschlossen wird, fallen auch Thomas Manns erste ernsthafte Mythos-Recherchen, die sich jedoch im Vergleich zu den umfangreichen Vorarbeiten zu den Joseph-Romanen noch in einem begrenzten Rahmen bewegen.614 Manfred Dierks, der als hauptsächliche Intertexte neben Nietzsches Geburt der || 612 Vgl. Mann, Thomas: Notizbuch 9. In: Ders.: Notizbücher 7–14. Hg. von Hans Wysling und Yvonne Schmidlin. Frankfurt a. M. 1992. S. 67. 613 Mann, Thomas: Lebensabriß. S. 203. 614 Zur Entstehungsgeschichte des Tod in Venedig und den Mythos-Recherchen Manns vgl. Vaget, Hans Rudolf: Art. Die Erzählungen. S. 580ff.; Dierks, Manfred: Mythos und Psychologie. S. 36ff.

332 | Sinceritas und Ironie: Mythisches Erzählen bei Hermann Hesse und Thomas Mann

Tragödie die Bakchen des Euripides, Erwin Rohdes Psyche sowie zwei Dialoge Platons ausmacht, nennt „Thomas Manns Aneignung mythologischer und anderer antiker Stoffe“ in diesem frühen Stadium noch „wenig umfangreich und selten eindringlich“615. Dies ändert sich radikal mit den ersten Plänen zur Joseph-Tetralogie, deren Abfassung intensive mythologische Vorstudien vorangehen, die ganze zwei Jahre in Anspruch nehmen. Die erste Inspiration zur Neubearbeitung des Joseph-Stoffes erhält Thomas Mann seiner eigenen Aussage nach von dem Maler Hermann Ebers, der von ihm eine Einleitung zu einer Bilderserie über das Schicksal des Joseph erbeten hatte. Als Mann daraufhin die biblische Geschichte erneut gelesen habe, sei ihm Goethes Aussage in Dichtung und Wahrheit wieder in den Sinn gekommen, der die Josephserzählung für „höchst anmutig“ hält, aber leider für zu kurz – er fühle sich daher dazu „berufen, sie ins einzelne auszumalen“616. Auf einer Mittelmeerreise, die auch über Kairo und Luxor führt, sammelt Thomas Mann 1925 weitere Inspiration für seine noch „etwas schattenhaften Pläne“617 zu einer JosephNovelle. Da Thomas Mann seine Tagebücher von 1922–32 vernichtet hat, ist – abgesehen von den verwendeten Quellen – relativ wenig über die zweijährigen Vorstudien zum Joseph bekannt.618 Im Juni 1926 beginnt er mit der Niederschrift der ‚Novelle‘, die sich bald zu einem umfangreichen ersten Roman (Die Geschichten Jaakobs) ausweitet, der erst 1930 abgeschlossen wird. Nach einer weiteren Reise nach Palästina und Ägypten beginnt Thomas Mann mit der Arbeit am zweiten Roman der Serie, dem Jungen Joseph. Der erste und zweite Band erscheinen in rascher Folge im Oktober 1933 und im März 1934, während der dritte Band (Joseph in Ägypten) erst im Oktober 1936 veröffentlicht werden kann. Obwohl die ‚Novelle‘ inzwischen zu einem dreibändigen Werk angewachsen ist, entschließt sich Mann 1935 dazu, auch noch einen vierten Band folgen zu lassen, weil das Manuskript des dritten Romans inzwischen „so stark angeschwollen“ ist, dass „an eine Veröffentlichung in einem Bande nicht mehr zu den-

|| 615 Dierks, Manfred: Mythos und Psychologie. S. 36. 616 Mann, Thomas: On Myself. In: Wysling, Hans (Hg.): Thomas Mann. Selbstkommentare zu Joseph und seine Brüder. Frankfurt a. M. 1999. S. 180–185. Hier: S. 181. Zur Entstehungsgeschichte der Joseph-Tetralogie vgl. außerdem: Heftrich, Eckhard: Art. Joseph und seine Brüder. In: Koopmann, Helmut (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch. 3. akt. Aufl. Frankfurt a. M. 2005. S. 447–474; Fischer, Bernd-Jürgen: Handbuch zu Thomas Manns Josephsromanen. Tübingen/ Basel 2002. S. 36ff. 617 Brief Manns an Ernst Bertram vom 04.02.1925. In: Briefe I. S. 135. 618 Vgl. Fischer, Bernd-Jürgen: Handbuch Joseph. S. 36.

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ken“619 sei. Nach der dazwischengeschalteten Arbeit an Lotte in Weimar (1939) nimmt er ab Juli 1940 das Joseph-Manuskript wieder zur Hand und schließt Joseph, der Ernährer im Januar 1943 ab, so dass der vierte und letzte Roman im Dezember desselben Jahres erscheinen kann. Für die Arbeit an der JosephTetralogie zieht Thomas Mann eine ganze Bibliothek an Quellen heran, die er für die Montage von historischen, religionsgeschichtlichen, theologischen und naturwissenschaftlichen Details in die Erzählung nutzt: die Spannweite reicht von Textsammlungen über die Joseph-Erzählung wie beispielsweise Ben Gorions Die Sagen der Juden, über ägyptologische Sachbücher wie die von Hermann Ranke und Adolf Erman herausgegebene Studie über Ägypten und ägyptisches Leben im Altertum, bis hin zu naturwissenschaftlicher Mythos-Spekulation wie in Edgar Daqués Urwelt, Sage und Menschheit. Besonders relevant für Thomas Manns Rückführung der alttestamentarischen Geschichte auf die Mythologie des alten Orients sind außerdem die panbabylonischen Studien von Alfred Jeremias (v.a. Das Alte Testament im Lichte des Alten Orients) und Dmitri Mereschkowskis Die Geheimnisse des Ostens. Da Thomas Manns Quellennutzung für die Joseph-Romane sehr gut von der Forschung erschlossen ist, soll hier ein kurzer Verweis auf die Sekundärliteratur genügen.620 Stattdessen liegt der Fokus der Analyse auf dem konkreten Einsatz von mythischen Bezügen (Kap. 4.2.1) in Kombination mit mythischer Erzähltechnik (Kap. 4.2.2) bei Thomas Mann, der in diesem Umfang noch nicht von der Forschung rekonstruiert worden ist. Obwohl es zahlreiche Studien zu den mythischen Motiven gibt, die im Tod in Venedig und im Joseph in den Erzählfluss einmontiert werden, fehlt bisher eine Zusammenschau dieser inhaltlichen Komponente mit den formalen Aspekten mythischen Erzählens.621 Diese Zu|| 619 Brief Manns an Berdich Fucik vom 18.12.1935. In: Wysling, Hans (Hg.): Selbstkommentare Joseph. S. 122. 620 Vgl. Dierks, Manfred: Mythos und Psychologie. S. 60ff.; 243ff.; Dierks, Manfred: Art. Thomas Mann und die Mythologie; Fischer, Bernd-Jürgen: Handbuch Joseph. S. 37ff.; Heftrich, Eckhard: Art. ‚Joseph und seine Brüder‘; Kurzke, Hermann: Mondwanderungen. Wegweiser durch Thomas Manns Joseph-Roman. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2008. S. 149–153; Lehnert, Herbert: Thomas Manns Vorstudien zur Josephstetralogie. 621 Eine Analyse der inhaltlichen Bezüge zu mythischen Motiven in den beiden Texten findet sich u. a. bei: Assmann, Jan: Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen. München 2006; Baron, Frank (Hg.): Der Tod in Venedig. Wirklichkeit, Dichtung, Mythos. Lübeck 2003.; Dierks, Manfred: Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann. An seinem Nachlaß orientierte Untersuchungen zum ‚Tod in Venedig’, zum ‚Zauberberg’ und zur ‚Joseph’-Tetralogie. Bern/München 1972; Fischer, Bernd-Jürgen: Handbuch zu Thomas Manns Josephsromanen. Tübingen/Basel 2002; Heftrich, Eckhard: Art. ‚Joseph und seine Brüder‘. In: Koopmann, Helmut (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch. 3. akt. Aufl. Frankfurt a. M. 2005.

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sammenschau bildet die Grundlage für eine Analyse der Funktion, die mythisches Erzählen in den Romanen und Erzählungen Thomas Manns erfüllt (Kap. 4.2.3).

4.2.1 Inhaltliche Aspekte: Mythos zwischen ‚Heimsuchung‘ und Identitätsbildung 4.2.1.1 Welche Mythen werden erzählt? Bevor sich Thomas Mann im Rahmen der Vorstudien zum Joseph intensiver mit Mythen und der Formulierung eines Mythosbegriffs auseinandersetzt, nutzt er in seinen Romanen und Erzählungen vornehmlich Motive aus der griechischen Mythologie. Seine mythologischen Grundkenntnisse, die er unter anderem aus dem Lehrbuch der griechischen und römischen Mythologie von Friedrich Nösselt entnimmt622, werden ergänzt durch die Lektüre von Nietzsches Geburt der Tragödie, aus der Thomas Mann das für sein Werk so prägende Schema der ‚dionysischen Versuchung‘ ableitet. Die Romantetralogie Joseph und seine Brüder ist dagegen mit einer weitaus größeren Bandbreite an mythischen Bezügen versehen: in Anlehnung an die religionshistorische Strömung des Panbabylonismus wird die alttestamentarische Geschichte in Beziehung zu historisch früher und später entstandenen Mythologien gesetzt. Die biblische Erzählung wird unter anderem mit Motiven aus der babylonischen, sumerischen, griechischen und christlichen Mythologie angereichert und entwirft so einen ganzen Kosmos der frühgeschichtlichen und antiken Mythologien. Aus einem Vergleich zwischen dem Tod in Venedig und der JosephTetralogie lässt sich nicht nur ersehen, wie sich Thomas Manns Einsatz von mythischen Bezügen in seinen Erzählungen und Romanen entwickelt hat, sondern auch, wie stark diese Bezüge innerhalb der Erzählung reflektiert werden. 4.2.1.1.1 Der Tod in Venedig Im Tod in Venedig verwendet Thomas Mann nicht nur zum ersten Mal intensiv mythische Bezüge, um Figuren zu charakterisieren, sondern er beginnt auch eine Erzähltechnik einzusetzen, bei der diese Bezüge in der Beschreibung einer || S. 447–474.; Meier, Bernhard: Gustav von Aschenbachs Verfall. Studien zur Symbolik in Thomas Manns Erzählung ‚Der Tod in Venedig‘. In: Blätter für den Deutschlehrer 1(1980). S. 3– 14; Kurzke, Hermann: Mondwanderungen. Wegweiser durch Thomas Manns Joseph-Roman. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 2008. 622 Vgl. Brief Manns an Karl Kerényi vom 20.03.1952. In: BWKM. S. 177.

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Figur miteinander vermischt oder auf mehrere Figuren aufgeteilt werden. Diese Technik wird später im Joseph perfektioniert.623 Anders als in der Tetralogie sind sich die Figuren im Tod in Venedig jedoch nicht selbst über ihre mythischen Rollenvorbilder im Klaren, sondern diese werden ihnen entweder vom Erzähler oder vom Protagonisten Gustav von Aschenbach zugeschrieben. Es sind besonders zwei Figuren bzw. Figurengruppen, die sich für eine Untersuchung ihrer mythischen Bezüge anbieten: das ist zum einen die Figurenreihe der ‚Fremden‘, die Aschenbach über die gesamte Erzählung hinweg immer wieder begegnen, und zum anderen Tadzio. Beide werden mit einer Vielzahl an Motiven aus der griechischen Mythologie ausgestattet, die alle in Bezug mit Aschenbachs Schicksal stehen.624 Die Erzählung beginnt mit Aschenbachs Spaziergang in München und seiner Begegnung mit dem Fremden am Nordfriedhof. Bereits vor dessen Auftreten ist die Szenerie deutlich mit Todessymbolik aufgeladen: Die Umgebung ist „von Menschen leer“, obwohl sich Aschenbach in einer Großstadt befindet, „regt sich nichts“ und er blickt im „Abglanz des scheidenden Tages“ auf ein „unbehaustes Gräberfeld“625. Der Fremde taucht schließlich „oberhalb der beiden apokalyptischen Tiere“626 auf und versammelt in seiner Erscheinung ein ganzes Sammelsurium an Bezügen zu mythischen Figuren, die mit dem Tod in Verbindung stehen: Mäßig hochgewachsen, mager, bartlos und auffallend stumpfnäsig, gehörte der Mann zum rothaarigen Typ und besaß dessen milchige und sommersprossige Haut. Offenbar war er durchaus nicht bajuwarischen Schlages: wie denn wenigstens der breit und gerade gerandete Basthut, der ihm den Kopf bedeckte, seinem Aussehen ein Gepräge des Fremdländischen und Weithergekommenen verlieh. Freilich trug er dazu den landesüblichen Rucksack um die Schultern geschnallt, einen gelblichen Gurtanzug aus Lodenstoff, wie es schien, einen grauen Wetterkragen über dem linken Unterarm, den er in die Weiche gestützt hielt, und in der Rechten einen mit eiserner Spitze versehenen Stock, welchen er schräg gegen den Boden stemmte und auf dessen Krücke er, bei gekreuzten Füßen, die

|| 623 Vgl. dazu auch Palencia-Roth, Michael: Myth and the modern novel. Garcia Márquez, Mann, and Joyce. New York u. a. 1987. S. 113. 624 Zu den mythischen Bezügen im Tod in Venedig vgl. auch: Baron, Frank (Hg.): Der Tod in Venedig; Haesler, Ludwig: Der Mythos des Orpheus und seine literarische Gestaltung im ‚Tod in Venedig’ und im ‚Zauberberg’. In: Jahrbuch der Psychoanalyse 44 (2002). S. 281–322; Meier, Bernhard: Gustav von Aschenbachs Verfall. Studien zur Symbolik in Thomas Manns Erzählung ‚Der Tod in Venedig‘. In: Blätter für den Deutschlehrer 1(1980). S. 3–14; Vaget, Hans Rudolf: Art. Die Erzählungen. 625 Mann, Thomas: Der Tod in Venedig. In: GKFA 2,1. Frühe Erzählungen 1893–1912. S. 501– 592. Hier: S. 502. 626 Ebd.

336 | Sinceritas und Ironie: Mythisches Erzählen bei Hermann Hesse und Thomas Mann

Hüfte lehnte. […] [S]eine Lippen schienen zu kurz, sie waren völlig von den Zähnen zurückgezogen, dergestalt, daß diese, bis zum Zahnfleisch bloßgelegt, weiß und lang dazwischen hervorbleckten.627

Das Gesicht des Fremden ist einem Totenschädel nachempfunden: es ist ‚mager‘ und ‚stumpfnäsig‘ und seine Lippen sind ‚völlig von den Zähnen zurückgezogen‘. Abgesehen davon entspricht seine Körperhaltung der üblichen Darstellung des griechischen Todesgottes Thanatos. Dieser wird mit gekreuzten Füßen und auf eine herabgesenkte Fackel gestützt dargestellt.628 Auch der Fremde steht mit ‚gekreutzten Füßen‘ und stemmt sich auf seinen Stock, der darüber hinaus – als Wander- oder Hirtenstock – auch ein Attribut des Hermes ist. Er hat etwas „wandererhafte[s]“629 an sich und trägt neben dem Stock auch den Mantel und Hut des Hermes, so dass er auch auf die Rolle des Hermes als psychopompos verweist, der die Seelen ins Totenreich führt.630 Nicht zuletzt ist der Fremde aber auch als dionysische Figur gekennzeichnet, denn wie der ‚fremde Gott‘, der angeblich aus Indien gekommen sein soll, ist er nicht einheimisch, sondern vermittelt das ‚Gepräge des Fremdländischen und Weithergekommenen‘.631 Die Attribute des Fremden vom Nordfriedhof tauchen erneut bei der Beschreibung des Gondoliere in Venedig auf, der Aschenbach gegen seinen Willen bis zum Lido fährt. Auch hier fällt ihm bei der Fahrt zuerst die „besondere Stille der Wasserstadt“632 auf, die in motivischem Zusammenhang mit der menschenleeren Szenerie am Nordfriedhof steht. Die nachfolgende Beschreibung des Gondoliere ruft die gleichen Bezüge auf, die dem Fremden in München zugeschrieben wurden: auch er ist fremdländisch, hat eine „kurz aufgeworfene Nase“ und zieht beim Rudern „vor Anstrengung die Lippen zurück“633. Er trägt einen „formlosen Strohhut“634, der den Bezug zum ‚wandererhaften‘ Hermes wieder herstellt. Darüber hinaus ist der Gondoliere aber noch mit einem weiteren Rollenvorbild aus der griechischen Mythologie ausgestattet: er erinnert an Charon, den Bootsmann, der die von Hermes herangeführten Toten „in einem || 627 Ebd. S. 502f. 628 Vgl. Art. Thanatos. In: Cancik, Hubert/Schneider, Helmuth (Hg.): Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Stuttgart/Weimar 1996. Bd. XII,1. S. 241. 629 Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 504. 630 Vgl. Art. Hermes. In: Cancik, Hubert/Schneider, Helmuth (Hg.): Der neue Pauly. Bd. V. S. 426–432. 631 Vgl. Schmidt, Jochen/Schmidt-Berger, Ute (Hg.): Mythos Dionysos. Texte von Homer bis Thomas Mann. Stuttgart 2008. Hier der Abschnitt: Der fremde Gott. S. 11ff. 632 Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 524. 633 Ebd. S. 525. 634 Ebd.

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Nachen mit Ruder und Stange“635 über den Fluss in die Unterwelt übersetzt. Die Gondel, in der Aschenbach sitzt, gleicht dementsprechend einem Sarg: Das seltsame Fahrzeug, aus balladesken Zeiten ganz unverändert überkommen und so eigentümlich schwarz, wie sonst unter allen Dingen nur Särge es sind, – es erinnert an lautlose und verbrecherische Abenteuer in plätschernder Nacht, es erinnert noch mehr an den Tod selbst, an Bahre und düsteres Begräbnis und letzte, schweigsame Fahrt.636

Aschenbach kann seinen Willen nicht durchsetzen und muss sich dem Gondoliere überlassen, der ihn – so kommt es ihm vor – gegen seinen Willen „mit einem Ruderschlage ins Haus des Aides“637 befördern könnte. Wie Charon verlangt auch der Gondoliere keinen Lohn für die Überfahrt – abgesehen von dem berühmten „Obolos“638, der Münze, die den Toten zur Überfahrt in den Mund gelegt wird. Aschenbach wirft anstelle der Bezahlung eine „Münze“639 in den Hut des Hotelangestellten. In die Beschreibung des Gondoliere werden also Elemente aus der Charakteristik des Fremden übernommen, aber sie wird auch um neue Bezüge erweitert, die auf eine weitere Figur aus der Todesmythologie verweisen. Am Ende der Erzählung ist die Figur erneut präsent: diesmal in Gestalt des Bänkelsängers, dem Aschenbach im Vorgarten seines Hotels zuhört. Auch er ist wiederum dionysisch-fremdländisch, „bleich“ und „stumpfnäsig“640 und „entblößt seine starken Zähne“641. Er trägt den Hut des Hermes – diesmal aus „Filz“642 –, in den Aschenbach erneut als Obolos ein „ungebührlich bedeutendes Geldstück“643 fallen lässt. Nachdem in seiner Beschreibung erneut alle Attribute der beiden vorangegangenen Figuren aufgerufen worden sind, zeigt diese letzte Figur der Reihe ihr wahres Gesicht. In einer Art dionysischem Satyr-Spiel trägt er einen enthemmenden Lach-Gesang vor, an dessen Ende er „die Maske“ abwirft und den Gästen auf der Terrasse „frech die Zunge heraus[streckt]“644 wie

|| 635 Art. Charon. In: Cancik, Hubert/Schneider, Helmuth (Hg.): Der neue Pauly. Bd. III. S. 1107f. Hier: S. 1107. 636 Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 523. 637 Ebd. S. 526. 638 Art. Charon. S. 1107. 639 Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 527. 640 Ebd. S. 573. 641 Ebd. S. 574. 642 Ebd. 643 Ebd. S. 574f. 644 Ebd. S. 577.

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ein Satyr im Gefolge des Dionysos.645 Mit dieser Abschlussszene ist die Verbindung der Todesfiguren zu Aschenbachs ‚dionysischer Verführung‘ offenkundig: seine Hingabe an den dionysischen Rausch, der im folgenden Kapitel genauer erläutert wird, ist von Beginn der Erzählung an mit Tod und Verfall konnotiert. In der Beschreibung der Figurenreihe vermischt sich die mittelalterlichchristliche Todesdarstellung als Skelett oder Totenschädel mit Bezügen zu Hermes psychopompos, Thanatos, Charon und Dionysos. Mit jeder neu auftauchenden Figur, die jeweils den Beginn seiner „Reiselust“646, seine Ankunft in Venedig und sein nahendes Ende markieren, werden die bereits bekannten Motive wiederholt und um ein weiteres ergänzt. Das gleiche Verfahren lässt sich auch in der Beschreibung Tadzios erkennen. Allerdings unterscheiden sich bei dieser Figur die mythischen Rollenzuschreibungen danach, ob er aus der Perspektive Aschenbachs oder vom Erzähler geschildert wird. Zunächst wird Tadzio nur aus der Perspektive Aschenbachs beschrieben, der ihm diverse Charakteristika mythischer Knaben andichtet. Gleich bei ihrer ersten Begegnung vergleicht er ihn mit dem „Dornauszieher“647, der in Kleists Über das Marionettentheater (1810) zum Inbegriff der natürlichen Anmut und der unbewussten jugendlichen Schönheit stilisiert wird.648 Weiterhin wird Tadzio mit Eros als „kindlich-verantwortungslose[m] Gott“649 verglichen, der alle mit seiner Schönheit betört. Er ist „vollkommen schön“ und wird im Gegensatz zu seinen Schwestern ohne „pädagogische Strenge“ und mit „Weichheit und Zärtlichkeit“650 behandelt. Die „gottähnliche Schönheit“ seiner Gesichtszüge vergleicht Aschenbach mit dem „Haupt des Eros“651 und zitiert damit aus Platons Phaidros, der im Verlauf der Erzählung noch eine wichtige Rolle spielen wird.652 Dort findet sich auch der Bezug des Eros zur Aphrodite, der im Phaidros als „der Aphrodite Sohn“653 eingeführt wird. Tadzio selbst wird in || 645 Vgl. Schmidt, Jochen/Schmidt-Berger, Ute (Hg.): Mythos Dionysos. S. 17f. 646 Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 504. 647 Ebd. S. 530. 648 Vgl. Kleist, Heinrich von: Über das Marionettentheater. Berliner Abendblätter 1810. In: Ders.: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe. Hg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Bd. II,7. Berliner Abendblätter I. Basel u.a. 1997. S. 317ff. Hier: S. 326. 649 Art. Eros. In: Cancik, Hubert/Schneider, Helmuth (Hg.): Der neue Pauly. Bd. IV. S. 89f. Hier: S. 89. 650 Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 530. 651 Ebd. S. 535. 652 Vgl. Kap. 4.2.2.4. Sokrates spricht in Bezug auf Phaidros von dessen „göttliche[m] Haupt“. Platon: Phaidros. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. IV. Hg. von Ernesto Grassi. Übers. von Friedrich Schleiermacher. Hamburg 1957ff. 234 d. 653 Ebd. 242 d.

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der Pose der aus dem Meer steigenden, ‚schaumgeborenen‘ Aphrodite beschrieben, die als Verkörperung der vollkommenen Schönheit gilt: Er kehrte zurück, er lief, das widerstrebende Wasser mit den Beinen zu Schaum schlagend, hintübergeworfenen Kopfes durch die Flut; und zu sehen, wie die lebendige Gestalt, vormännlich hold und herb, mit triefenden Locken und schön wie ein zarter Gott, herkommend aus den Tiefen von Himmel und Meer, dem Elemente entstieg und entrann: dieser Anblick gab mythische Vorstellungen ein […].654

Als androgyner Hermaphrodit ist Tadzio der vollkommen Schöne, der aus der Ferne bewundert werden kann. Im weiteren Verlauf der Erzählung ändern sich jedoch die mythischen Rollen, die Tadzio von Aschenbach zugeschrieben werden, und er erscheint nun als Opfer der Götter. Zunächst stellt sich Aschenbach beim Schreiben vor, er würde Tadzios „Schönheit ins Geistige tragen, wie der Adler einst den troischen Hirten zum Äther trug“655. Der Vergleich bezieht sich auf den Mythos um den schönen Knaben Ganymed, der von Zeus in Gestalt eines Adlers in den Olymp entführt wird, damit er den Göttern dort als Mundschenk dienen kann.656 Während an dieser Stelle noch die geistige Bemäntelung der homoerotischen Neigung Aschenbachs im Vordergrund steht, ist der nächste Vergleich bereits etwas deutlicher: nur wenig später vergleicht er Tadzio mit „Hyakinthos“, der „sterben mußte, weil zwei Götter ihn liebten“657. Hyakinthos ist ein schöner Knabe, um den sich Apollon und Zephyros streiten und der von einem Diskuswurf getötet wird, den letzterer aus Eifersucht auf ihn gelenkt haben soll. Er ist eine mythische Figur, die dezidiert mit der Homoerotik verbunden ist, da er nicht nur die Liebe zweier männlicher Götter auf sich zieht, sondern selbst als Geliebter des Sängers Thamyris gilt, der die homoerotische Praxis erfunden haben soll.658 Aschenbach versetzt sich selbst in die Rolle des eifersüchtigen Gottes und „empfindet Zephirs schmerzenden Neid auf den Nebenbuhler“659. Direkt im Anschluss daran schreibt er Tadzio noch das „Lächeln des Narziß“660 zu, der ebenfalls sterben muss, nachdem er hochmütig alle ihm entgegengebrachten Avancen – selbst die des Eros – zurückgewiesen hat und

|| 654 Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 539. 655 Ebd. S. 556. 656 Vgl. Art. Ganymedes. In: Cancik, Hubert/Schneider, Helmuth (Hg.): Der neue Pauly. Bd. IV. S. 781f. 657 Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 560. 658 Vgl. Art. Hyakinthos. In: Cancik, Hubert/Schneider, Helmuth (Hg.): Der neue Pauly. Bd. V. S. 765f. 659 Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 560. 660 Ebd. S. 562.

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sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt.661 Die mythischen Rollen, die Aschenbach Tadzio zuweist, sind durchweg schöne junge Knaben oder Götter, die aufgrund ihrer Schönheit verehrt werden und in einigen Fällen aufgrund von zurückgewiesener Liebe zu Tode kommen. Der Erzähler jedoch schreibt Tadzio andere mythische Vorbilder zu: in seinen Beschreibungen ist er motivisch mit der Figurenreihe der Fremden verbunden. Auch er steht beispielsweise am Ende der Erzählung in der Haltung des Thanatos – „die Füße gekreuzt, die rechte Hand in der tragenden Hüfte“662 – wie der Fremde am Nordfriedhof. Kurz vor Aschenbachs Tod wird er als hermetischer „Psychagog“ beschrieben, der Aschenbach den Weg in die Unterwelt weist und dessen Seele „voranschweb[t] ins Verheißungsvoll-Ungeheure“663 wie Hermes psychopompos. In seinen Notizen aus der Zeit der Vorarbeit zum Tod in Venedig vermerkt Thomas Mann zu Hermes nur knapp: „Merkur hatte die Seelen in die Unterwelt hinabzuführen und wurde davon psychagogos und psychopompos genannt.“664 Als Hermes- und Thanatos-Figur ist Tadzio daher ebenso mit der Sphäre des Todes verbunden wie die Figurenreihe. Die mythischen Bezüge, die im Tod in Venedig zur Charakterisierung der Figuren herangezogen werden, erfüllen zwei unterschiedliche Funktionen: zum einen dienen sie dazu, eine Art Drohkulisse um Aschenbach herum aufzubauen, wenn die mythische Zuschreibung aus der Perspektive des Erzählers erfolgt. Die immer wiederkehrenden Bezüge zur Todesmythologie spinnen ein enges Netz an Verweisen, das im Laufe der Erzählung auf immer mehr Figuren und weitere Bedeutungsebenen ausgeweitet wird. Aschenbach selbst dagegen gebraucht mythische Vergleiche, um seine homoerotische Neigung zu Tadzio auszudrücken und diese durch ihre antikisierend-mythische Verkleidung kulturell zu legitimieren. Gemeinsam ist beiden Perspektiven jedoch der Einsatz von mythischen Motiven als Bedeutungsträgern, die das ansonsten realistisch erzählte Geschehen mit einer zweiten Ebene unterlegen, in der das Verdrängte und Dämonische im mythischen Gewand erscheint. In der Joseph-Tetralogie wird dieses Verfahren erweitert und zudem mit einer ironischen Brechung versehen, indem die handelnden Figuren sich ihrer mythischen Vorbilder selbstreflexiv bewusst werden.

|| 661 Vgl. Art. Narkissos. In: Cancik, Hubert/Schneider, Helmuth (Hg.): Der neue Pauly. Bd. VIII. S. 712. 662 Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 572. 663 Ebd. S. 592. 664 Mann, Thomas: Mp. XI 13e. Blatt 11. TMA. Vgl. Dierks, Manfred: Mythos und Psychologie. S. 209.

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4.2.1.1.2 Joseph und seine Brüder Thomas Mann dehnt die alttestamentarische Geschichte um Joseph und seine Brüder, die in der Bibel innerhalb von 25 Abschnitten erzählt wird665, auf ein vier Romane umfassendes Monumentalwerk aus. In seinem humoristischironischen Anspruch, äußerst detailreich zu erzählen, „wie sie sich wirklich zugetragen“666 hat, wird zwar fast jeder Satz aus der biblischen Vorlage in die Romane einmontiert, ein einziger Satz daraus kann jedoch im Gegenzug in Thomas Manns Bearbeitung ganze Kapitel einnehmen. So wird etwa die Mutem-enet Episode in epischer Breite über insgesamt 18 Kapitel hinweg erzählt, während es in der alttestamentarischen Vorlage lapidar heißt: Und Joseph war schön an Gestalt und hübsch von Angesicht und es begab sich danach, daß seines Herrn Frau ihre Augen auf Joseph warf und sprach: Lege dich zu mir!667

In die biblische Geschichte, die selbst aus unterschiedlichen Erzählsträngen zusammengefasst wurde und zahlreiche Varianten kennt668, hat Thomas Mann einen ganzen Kosmos an Bezügen aus der babylonischen, assyrischen, sumerischen, ägyptischen und griechischen Mythologie eingearbeitet, die zu überblicken eine eigene Abhandlung erfordern würde.669 Die nachfolgende Analyse widmet sich daher den mythischen Bezügen, mit denen die Hauptfigur Joseph versehen wird, um das Verfahren Thomas Manns sichtbar zu machen. In der Charakterisierung Josephs gehen die unterschiedlichsten mythischen Vorlagen „bunt durcheinander“670, wie Thomas Mann in einem Brief an Karl Kerényi schreibt. Die Figur wird einerseits vom Erzähler mit den Eigenschaften || 665 Gen. 25–50. 666 Brief Manns an Carl Helbig vom 15.11.1926. In: Briefe III. S. 261. Vgl. auch Mann, Thomas: Joseph I. S. 104. 667 Gen. 39, 6–8. 668 Vorlagen für die biblische Joseph-Geschichte sind unter anderem das Gilgamesch-Epos und das ägyptische ‚Brüdermärchen‘. Die biblische Erzählung wurde vermutlich aus unterschiedlichen Erzählsträngen zusammengesetzt, der Kern der Erzählung wird von der Forschung auf das 9.–6. Jahrhundert v. Chr. datiert. Es gibt außerdem zahlreiche Varianten des Stoffes, beispielsweise im Koran, bei Philo von Alexandria, Flavius Josephus, Sefer ha-Yaschar und dem persischen Dschani. Vgl. dazu ausführlich: Fischer, Bernd-Jürgen: Handbuch Joseph. S. 214ff. 669 Eine Übersicht findet sich u.a. bei Assmann, Jan: Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen. München 2006; Dierks, Manfred: Mythos und Psychologie; Fischer, Bernd-Jürgen: Handbuch zu Thomas Manns Josephsromanen. Tübingen/Basel 2002; Heftrich, Eckhard: Art. ‚Joseph und seine Brüder‘; Kurzke, Hermann: Mondwanderungen. 670 Brief Manns an Karl Kerényi vom 15.07.1936. In: BWKM. S. 68.

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anderer mythischer Helden ausgestattet, andererseits identifiziert Joseph sich auch selbst mit diesen Vorlagen oder wird von Nebenfiguren mit ihnen in Verbindung gebracht. Das Besondere an der Joseph-Figur ist, dass sie ganz bewusst in den „Spuren“671 dieser mythischen Vorbilder wandelt und im Verlauf des Romans ein immer freier werdendes Spiel mit den vorgeprägten Mustern treibt. Ein Brief Thomas Manns an Jakob Horovitz vom Juni 1927 legt dieses Verfahren als zentrales Gestaltungsprinzip der Romantetralogie nahe: […] auf jeden Fall ist doch die Form, in der sie [die Joseph-Geschichte, E.K.] uns vorliegt, eine späte Reaktion, deren Verfasser in der altorientalisch literarischen Überlieferung stand, und wenn er sie mit allerlei mythischen Anspielungen ausgestaltet und altes Gedankengut hineingeheimnißt hätte, so wäre das nicht zu verwundern. […] [I]ch bin längst entschlossen, den Spieß gewissermaßen umzukehren und die handelnden Personen jene Anspielungen selber machen zu lassen.672

Die mythischen Vorlagen, auf die Joseph sein Leben bezieht, drehen sich hauptsächlich um den Komplex des sterbenden und wiedergeborenen Gottes: das sind zum einen der sumerische Dumuzi, der babylonische Tammuz und der griechische Adonis, die drei sterbenden Jünglinge, die als Verkörperung der wiederkehrenden Vegetation in die Unterwelt hinabfahren und wieder zurückkehren. Zum anderen gehören dazu die ‚zerrissenen Götter‘ Osiris und Dionysos und der auferstandene Gottessohn Jesus Christus. Zum Ende der Romantetralogie löst sich Joseph von diesem dominanten Schema und identifiziert sich zusätzlich mit dem griechischen Hermes. Josephs zahlreiche ‚Unterweltsfahrten‘ in den Brunnen, hinab nach Ägypten und dort wiederum ins Gefängnis werden historisch sowohl ‚nach hinten geöffnet‘ und auf die Geschichten um Dumuzi, Tammuz, Adonis, Osiris und Dionysos bezogen als auch in einer Art prophetischen Vorausnahme als Parallele zur Passion Christi inszeniert. Gemeinsam haben alle diese mythischen Figuren ihren frühen Tod und ihre Wiederauferstehung bzw. ihre Rückkehr aus der Unterwelt, die symbolisch entweder im materialen Sinn für die Wiederkehr der Vegetation stehen kann oder im spirituellen Sinn für die geistige Wiedergeburt und Erneuerung.

|| 671 Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag. S. 190. 672 Brief Manns an Jakob Horovitz vom 11.06.1927. In: Briefe III. S. 301.

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Die älteste mythische Schicht bilden der sumerische Dumuzi-Mythos und seine babylonische Entsprechung Tammuz.673 Beide sind Hirtenjünglinge und Geliebte der jeweiligen Mutter- und Fruchtbarkeitsgöttin Inanna bzw. Iŝtar/Astarte, deren Schicksal in Klageliedern beweint wird. Die Geschichte ihrer Rückkehr aus der Unterwelt ist mit der ‚Höllenfahrt‘ Inannas/Iŝtars verbunden, von der es unterschiedliche Varianten gibt. Gemeinsam ist ihnen, dass die Göttin drei Tage und Nächte in der Unterwelt zubringt, um dort den Thron zu besteigen. Auf dem Weg in die Unterwelt muss sie an sieben Toren sieben Insignien ihrer Macht abgeben, bis sie das siebte Tor schließlich nackt durchschreitet. Der Versuch, ihrer Schwester Ereŝkigal den Thron zu entreißen, misslingt jedoch und sie kann nur durch eine List aus der Unterwelt entkommen. Inanna/Iŝtar muss nun einen Ersatz stellen, der an ihrer statt an die Unterwelt gebunden wird: ihr Geliebter Dumuzi/Tammuz wird von den Unterweltsdämonen verschleppt. Inanna/Iŝtar geht jedoch letztlich einen Tauschhandel ein, so dass sie und ihr Geliebter jeweils ein halbes Jahr in der Unterwelt zubringen (in einer anderen Variante ist es Dumuzis Schwester Geŝtinanna, die den Tauschhandel eingeht). Die vorderorientalisch-griechische Entsprechung zu dieser Erzählung ist der Mythos um Adonis und Aphrodite. Auch Adonis ist ein Hirtenjüngling und der Geliebte der Fruchtbarkeitsgöttin, der von Ares in Gestalt eines Ebers getötet wird. Nach einem Schiedsspruch des Zeus muss auch er ein Drittel des Jahres bei Persephone im Hades verbringen, nachdem sich die Unterweltsgöttin mit Aphrodite um ihn gestritten hatte.674 Ebenso wie der Tod des Dumuzi/Tammuz geht auch sein Gang in die Unterwelt im Hochsommer mit dem Verdorren der Vegetation einher und wird mit einem Trauerfest beklagt. Während der Adonisriten im östlichen Mittelmeerraum, die zum Ende der Getreideernte stattfinden, verkörpern Frauen die trauernde Aphrodite in einem dreitägigen Fest, das mit der Trauer um den verlorenen Geliebten und dem Einpflanzen von neuen Samen beginnt und mit der Freude über seine Wiederkehr, die das neue Auskeimen des Getreides symbolisiert, nach drei Tagen endet. Nah verwandt mit diesen drei Figuren sind auch der griechische DionysosZagreus und der ägyptische Osiris, die beide zerstückelt und wieder zusammengesetzt werden. Beide sind Mysteriengottheiten, die mit Tod und Wiedergeburt

|| 673 Vgl. dazu Art. Astarte. In: Cancik, Hubert/Schneider, Helmuth: Der neue Pauly. Bd. II. S. 117; Art. Iŝtar. In: Ebd. Bd. V. S. 1146; Art. Tammuz. In: Ebd. Bd. XII. S. 4; Kurzke, Hermann: Mondwanderungen. S. 302–305. 674 Vgl. Art. Adonis. In: Cancik, Hubert/Schneider, Helmuth: Der neue Pauly. Bd. I. S. 120.

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assoziiert sind.675 Osiris, der Brudergemahl der Isis, mit der er sich bereits im Mutterleib verbindet, wird von seinem eifersüchtigen Bruder Set ermordet, zerstückelt und über ganz Ägypten verteilt. Isis setzt ihn wieder zusammen und zeugt mit dem Toten in Gestalt eines über ihm schwebenden Geierweibchens ihren Sohn Horus. Auch Osiris‘ Tod ist mit dem Werden und Vergehen der Vegetation verbunden. Er steht symbolisch für das Nilwasser, das die trockene Erde (Isis) befruchtet. Bei der alljährlich stattfindenden Trauerfeier für Osiris wurde im alten Ägypten ein Kästchen herumgetragen, das mit Erde und Wasser befüllt wird, um die fruchtbare Überschwemmung des Nils rituell herbeizuführen.676 Herodot führt den Dionysos-Mythos auf die Geschichten um Osiris zurück: ebenso wie dieser wird Dionysos-Zagreus von den Titanen ermordet und zerrissen. Aus seinem Blut soll ein Granatapfelbaum emporgewachsen sein. Rhea setzt Dionysos in einer der zahlreichen Varianten des Mythos wieder zusammen und übergibt ihn den Nymphen, die ihn von nun an aufziehen. Auch er vollzieht eine Unterweltsfahrt und besticht Persephone mit Myrte, um seine Mutter Semele wieder aus der Unterwelt zu befreien.677 Er ist – zumindest in einer Bedeutungsvariante – ein mit der Vegetation verbundener Gott und ist für „für das Gedeihen des Weinstocks und der Bäume“678 zuständig. In Athen gab es zu seinen Ehren ein Frühlingsfest, bei dem er unter ekstatisch-ausschweifenden Feierlichkeiten als Bringer der neu erwachten Vegetation gefeiert wurde. Wie allen bisher genannten Götterfiguren kommt Dionysos aber nicht nur die Rolle eines Vegetationsgottes zu, sondern er verkörpert auch die spirituelle Wiedergeburt: Dionysos ist die Hauptgottheit der Eleusinischen Mysterien.679 Im dionysischen Einweihungsritual lässt der Initiand sein altes Leben hinter sich, stirbt symbolisch und wird zum „neuen Menschen“680 wiedergeboren. Damit ist Dionysos als religiöser Typus ein Mittler zwischen Leben und Tod, ein heilsversprechender „Soter“681, der als Sohn eines göttlichen Vaters und einer sterblichen Mutter darüber hinaus in einer Mittlerfunktion zwischen göttlicher und menschlicher Welt steht.682

|| 675 Vgl. Art. Dionysos. In: Ebd. Bd. III. S. 651–664.; Art. Isis. In: Ebd. Bd. V. S. 1125–1132; Art. Osiris. In: Ebd. Bd. IX. S. 85; Schmidt, Jochen/Schmidt-Berger, Ute (Hg.): Mythos Dionysos. 676 Vgl. dazu auch die Ausführungen Bachofens: Mythos von Orient und Occident. S. 220. 677 Vgl. Fischer, Bernd-Jürgen: Handbuch Josephsromane. S. 15. 678 Schmidt, Jochen/Schmidt-Berger, Ute (Hg.): Mythos Dionysos. S. 15. 679 Vgl. das Kapitel ‚Der Mysteriengott‘. Ebd. S. 26–31. 680 Ebd. S. 28. 681 Ebd. S. 38. 682 Zu den zahlreichen Bezeichnungen des Dionysos als ‚fremder Gott‘, ‚kommender Gott‘ oder ‚sterbender Gott‘ vgl. die ausführliche Darstellung bei Schmidt, Jochen/Schmidt-Berger,

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Dieses Element des Mittlertums und der spirituellen Wiedergeburt verbindet die mythischen Hirten- und Vegetationsgötter auch mit Jesus Christus, der ebenfalls Sohn eines himmlischen Vaters und einer menschlichen Mutter ist. Auch er durchleidet die Trias von Martyrium (bzw. Zerreißung‘), Tod (bzw. ‚Abstieg in die Unterwelt‘) und Auferstehung (bzw. ‚Wiedergeburt‘), die in der Passionsgeschichte erzählt wird. Ebenso wie Adonis wird er außerdem in einem dreitägigen Fest beweint und seine Rückkehr zu den Lebenden gefeiert. All diese mythischen Figuren werden vom Erzähler und von den Nebenfiguren auf Joseph übertragen, der sich schließlich selbst mit ihnen identifiziert und die mythischen Vorlagen zur Selbstinszenierung benutzt. Dies lässt sich an drei Stellen des Romans exemplarisch aufzeigen, an denen sich auch Josephs zunehmende Freiheit im Umgang mit dem mythischen Material ablesen lässt: im Folgenden werden daher die Eröffnungsszene, der Besuch im Adonis-Hain und die Brunnenfahrt einer genaueren Analyse unterzogen, bevor die weitere Entwicklung Josephs nachvollzogen werden kann. Die Eröffnungsszene Der Roman beginnt nach dem Vorspiel der Höllenfahrt mit dem am Brunnen sitzenden Joseph, der in den Nachthimmel blickt. Schon hier wird sein zukünftiges Schicksal in einer Exposition des Erzählers angedeutet: er sitzt wie Jesus am Brunnen683, an der „feuchte[n] Tiefe“ des Unterwelts-eingangs und trägt einen „locker geflochtenen Myrtenkranz“684 im Haar. Die Myrte ist als traditioneller Brautschmuck der Aphrodite geweiht und kennzeichnet Joseph damit bereits als jungfräulichen Geliebten der Göttin und als ‚Braut‘ seines Gottes. Sie ist aber auch mit Tod und Unterwelt konnotiert: Dionysos besticht Persephone mit dem immergrünen Kraut, um seine Mutter Semele zu befreien. Joseph nennt die Myrte später im Roman überdies das „Kräutlein Rührmichnichtan“685 und verweist damit wiederum gleichzeitig auf seine jungfräuliche Gottesgeweihtheit und auf einen Ausspruch des auferstandenen Christus, der zu Maria spricht: „Rühre mich nicht an“686. Als Jakob zu Joseph hinzutritt, äußert er sogleich seine Besorgnis, Joseph möge „in den Brunnen fallen“687 und deutet damit be-

|| Ute (Hg.): Mythos Dionysos und bei Frank, Manfred: Der kommende Gott. Vorlesungen über die neue Mythologie. Frankfurt a. M. 1982. 683 Vgl. Joh. 4, 6f. 684 Mann, Thomas: Joseph I. S. 6. 685 Ebd. S. 442. 686 Joh. 20, 17f. 687 Mann, Thomas: Joseph I. S. 15.

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reits dessen späteres Schicksal voraus. Etwas später folgt die Erläuterung der Gedankenverbindung, die mit dem Symbol des Brunnens verknüpft ist: Das kam aber daher, daß er die Brunnentiefe nicht denken konnte, ohne daß die Idee der Unterwelt und des Totenreiches sich in den Gedanken, ihn vertiefend und heiligend, einmengte, – diese Idee, die zwar nicht in seinen religiösen Meinungen, wohl aber in den Tiefen seiner Seele und Einbildungskraft, uralt mythisches Erbgut der Völker, das sie war, eine wichtige Rolle spielte: die Vorstellung des unteren Landes, in dem Usiri, der Zerstückelte, herrschte […]688

Im Bild des Brunnes ist also bereits die Tat der Brüder und Josephs Reise nach Ägypten in die symbolische Unterwelt präsent. Jakob schreibt Joseph schon in dieser Eröffnungsszene die Rolle des sterbenden und wiedergeborenen Gottes auf den Leib und nennt ihn „Dumuzi“689 – ein Kosename, den er Joseph bereits vor dessen Geburt verliehen hat.690 Joseph ist für ihn aber nicht nur der geopferte Hirtenjüngling Dumuzi, sondern er muss – noch im Mutterleib – auch bereits die Rolle des wundertätigen Heilands annehmen: [Jakob] versteifte sich darauf, in Rahel, der Gebärerin, eine himmlische Jungfrau und Muttergöttin zu sehen, eine Hathor und Eset mit dem Kind an der Brust, – in dem Kinde aber einen Wunderknaben und Gesalbten, mit dessen Auftreten der Anbruch gelächtervoller Segenszeit verbunden war […].691

In ikonographischer Vermischung des Bildes von Isis und Horus mit der Madonna und ihrem Kind wird Joseph von Jakob schon vor seiner Geburt als mythenübergreifender Heilsbringer und zugleich als Gottesopfer inszeniert. Zu allem Überfluss nennt er den Säugling sogleich „das Lamm“692 und gibt ihm damit den christologischen Hoheitstitel Agnus Dei: Das ‚Gotteslamm‘.693

|| 688 Ebd. S. 40. 689 Ebd. S. 68. 690 Vgl. ebd. S. 301. 691 Ebd. S. 316. 692 Ebd. S. 317. 693 Zur Rolle Josephs als Präfiguration Christi vgl. auch Marx, Friedhelm: ‚Ich aber sage Ihnen…‘. Christusfigurationen im Werk Thomas Manns. Frankfurt a. M. 2002.

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Die Adonishain-Szene Die Vermischung der mythischen Bezüge erreicht ihren Höhepunkt in der Adonishain-Szene, in der Joseph die mythischen Muster erläutert, die er später auf sich selbst beziehen wird. Die Szene dient als eine Art „Initiation des Lesers“694 in die Kreislaufgeschichte des sterbenden und wiedergeborenen Gottes in all seinen mythischen Figurationen. Joseph führt Benjamin – und mit ihm den Leser – an der Hand zu einem dem Adonis geweihten Hain, um ihn in die Mysterien einzuweihen, die „der Astaroth-Ischtar oder mehr noch ihre[m] Sohn, Bruder und Gatten, de[m] Tammuz-Adoni“695 gewidmet sind. Die Schlucht, in der der Hain liegt, ist mit „starkstämmigem Myrtengebüsch“696 bewachsen und verweist damit erneut auf den in der Eröffnungsszene etablierten Symbolkomplex aus jungfräulicher Gottesgeweihtheit (Adonis und Aphrodite) und Unterweltsmotivik (Dionysos). Joseph trägt überdies selbst wieder einen Myrtenkranz im Haar und verbietet seinem Bruder Benjamin, ebenfalls einen solchen zu tragen: denn man müsse „achtgeben, womit man sich schmückt und seine Wahl treffen“697. Joseph erläutert auf Benjamins Nachfrage hin, dass die Myrte nicht nur der jungfräulichen Braut zugedacht sei, sondern eben auch als „Todesstrauch“ und „Schmuck des Ganzopfers“698 anzusehen sei. Damit verweist Joseph sowohl auf Tammuz/Dumuzi und Adonis, die der Liebe von Iŝtar/Inanna bzw. Aphrodite zum Opfer fallen699, als auch auf die Sohnesopfer Isaak und Jesus. Er erzählt Benjamin nach diesem Vorspiel nun vom Fest für Adonis, den er in spielerischer Verwechslung auch hin und wieder mit dem hebräischen Gottesnamen „Adonai“700 versieht, der als Ersatz für den tabuisierten Namen ‚Jahve‘ dient.701 Die Beschreibung des Adonisfestes, die Thomas Mann seiner Mereschkowski-Lektüre entnommen hat702, vermischt der erzählende Joseph dabei

|| 694 Dierks, Manfred: Studien zu Mythos und Psychologie. S. 95. 695 Mann, Thomas: Joseph I. S. 416. 696 Ebd. 697 Ebd. S. 420. 698 Ebd. S. 422. 699 Hier zusammengefasst als die Liebesgöttin, die „Weinen bereitet den Ihren und Verderben bringt denen, die sie liebt“. Ebd. 700 Ebd. S. 427. 701 Vgl. Art. Adonai. In: Cancik, Hubert/Schneider, Helmuth: Der neue Pauly. Bd. I. S. 120. Der Ersatz des Gottesnamens Jahve durch ‚Adonai‘ wird übrigens auch bei Freud thematisiert. Vgl. Freud, Sigmund: Der Mann Moses. S. 484. 702 Vgl. Thomas Manns Lektürespuren in Mereschkowski, Dmitri: Die Geheimnisse des Ostens. Berlin 1924. TMA. S. 223f.

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mit Gebräuchen des Osterfestes und Zitaten aus der Passionsgeschichte. Als Inspiration für diese Verbindung zwischen Adonis- und Osterfest könnte auch eine Stelle in Totem und Tabu gedient haben, in der Freud ebenfalls vermutet, dass die „Beweinung und die Freude über die Auferstehung“ von Tammuz und Adonis „in das Ritual einer anderen Sohnesgottheit“ – nämlich Jesus Christus – „übergegangen“703 sei. Das Fest, das ausschließlich von Frauen gefeiert wird, beginnt mit dem Suchen und Finden einer wächsernen Adonis-Figur, die mit der „furchtbare[n] Wunde von Ninibs Zahn“704 versehen ist. Schon hier beginnt die mythologische Vermischung, denn die Wunde wird Adonis in Josephs Version der Geschichte nicht vom griechischen Jagd- und Kriegsgott Ares in Gestalt eines Ebers beigebracht, sondern vom mesopotamischen Ninib/Ninurta, der jedoch ebenfalls die Funktion eines Jagdgottes einnimmt. Die Frauen, die das Adonisfest feiern, nehmen nun die Rolle der trauernden Aphrodite ein und stimmen Klagelieder an, in denen die Bezüge zu den nun schon bekannten Jünglingsopfern erneut ‚bunt durcheinander‘ gehen: „Wehe um Tammuz! […] Adon! Adonai!“705. In das Klagelied sind sowohl Zitate aus der Tammuz-Klage eingeflochten, die Thomas Mann bei Mereschkowski findet, als auch eine Übernahme aus Bachs MatthäusPassion: „Wir setzen uns mit Tränen nieder“706. Dieses Zitat dient als Verbindungsglied zur Passion Christi, die im Folgenden in die Beschreibung des Adonisfestes verwoben wird. Nachdem die trauernden Frauen die Adonisfigur in einer „Lade“707 – Joseph besteht auf den Begriff – bestattet haben, „wälzen“ die Trauernden einen „Stein davor und kehren heim vom Grabe“708. Damit bezieht sich der erzählende Joseph unverkennbar auf die Grablegung Jesu, der ebenfalls in einem Felsengrab bestattet wird, vor das ein großer ‚Stein gewälzt‘ wird.709 Bei Johannes liegt das Grab gar in einem Garten, wie er in der Adonishain-Szene beschrieben wird.710 Ebenso wie am Abend der Osternacht folgt auch in Josephs Erzählung auf die Grablegung „das Fest des Lampenbrennens“711 und am dritten Tag das Fest der Auferstehung: die Feiernden finden ebenso wie Maria und

|| 703 Freud, Sigmund: Totem und Tabu. S. 436. 704 Mann, Thomas: Joseph I. S. 425. 705 Ebd. S. 427. 706 Ebd. Vgl auch Fischer, Bernd-Jürgen: Handbuch Joseph. S. 404. 707 Mann, Thomas: Joseph I. S. 428. 708 Ebd. 709 Vgl. Mt. 27, 60. 710 Vgl. Joh. 19,41. 711 Mann, Thomas: Joseph I. S. 429.

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Maria Magdalena das Grab leer und mit abgewälztem Stein vor712 und brechen in einen österlichen Jubelruf aus, in dem sie Jesus, Adonis und Tammuz miteinander vermischen: „Das Grab ist leer, Adon ist auferstanden! […] Der Herr ist groß! […] Verherrlicht sei Tammuz!“713. Joseph setzt sich zum Abschluss der Festerzählung seinen Myrtenkranz auf, den er wie Jesus als „Stirnkrone“714 trägt, und identifiziert sich damit bereits mit seinen mythischen Vorbildern. Nachdem Joseph den Ritus des Adonisfestes erzählt hat, möchte Benjamin auch noch „die Geschichte“715 – also den Mythos – hören, die dem Ritus zugrunde liegt. Joseph schickt sich also an, die Geschichte von Adonis zu erzählen, die er aber wiederum mit anderen mythischen Vorlagen vermischt, die in Verbindung mit seiner Vorstellung des ‚Ganzopfers‘ stehen. Er beginnt mit Adonis‘ Geburt aus einem Baum, weigert sich aber auch auf zweimaliges Nachfragen Benjamins, den Namen dieses Baumes zu verraten.716 Dafür gibt es einen guten Grund, denn der Baum ist eine Myrrhe, die noch stärker als die Myrte mit einer Todeskonnotation versehen ist: Myrrhe ist nicht nur eine der Grabbeigaben Jesu717, sondern wurde von den Ägyptern auch zur Einbalsamierung von Leichen benutzt. Dennoch nimmt Joseph den Faden auf und erzählt nun – anstatt den Adonis-Mythos weiter auszuführen – die Geschichte von Inannas/Iŝtars Unterweltsfahrt, wobei er so tut, als erzähle er immer noch die gleiche Geschichte. Der aus dem Baum geborene Knabe heißt plötzlich nicht mehr Adonis, sondern „Adonai“718 und wird nicht von Aphrodite geliebt, sondern von „Aschera“719 (also Iŝtar). Zu allem Überfluss fügt Joseph auch noch hinzu, dass die Ägypter den betreffenden Jüngling „Usiri“720 nennen, der auch als „Sohn einer Lieblichen“721 bezeichnet werde und damit den selben Titel trägt, den Joseph sich als Sohn Rahels zuschreibt. Zu guter Letzt vermischt Joseph die mythischen Figuren Aphrodite und Adonis, Iŝtar und Tammuz und Inanna und Dumuzi in seiner Erzählung zu einer einzigen androgynen, mann-weiblichen Figur, um die Einheit der Muttergöttin mit ihrem Sohn-Geliebten hervorzuheben. Seine eigene Mutter Rahel setzt er kurzerhand mit der babylonischen ‚Ma-

|| 712 Vgl. Mt. 28, 5f. 713 Mann, Thomas: Joseph I. S. 429f. 714 Ebd. S. 428. 715 Ebd. S. 432. 716 Ebd. 717 Vgl. Joh. 19, 39. 718 Mann, Thomas: Joseph I. S. 433. 719 Ebd. 720 Ebd. S. 435. 721 Ebd. S. 433.

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mi‘ (als Kosename für Iŝtar/Inanna) gleich und verkündet: „Ich und die Mutter sind eins.“722 – in sprechender Abwandlung des Jesuswortes: „Ich und der Vater sind eins.“723 In einer wild durcheinandergehenden Engführung legt Joseph die verschiedenen mythischen Figuren, die den sterbenden und wiedergeborenen Gott verkörpern, wie Folien übereinander und vermischt sie nach Gutdünken miteinander. Sie alle dienen Joseph zur Identifikation, so dass er in seiner nun folgenden eigenen ‚Unterweltsfahrt‘ nur die entsprechenden Bezüge aufrufen und auf sich selbst zu beziehen braucht, um sich der Rolle bewusst zu werden, in der er sich befindet. Er selbst trägt den Myrtenkranz und wird den Kreislauf der Opferung, Unterweltsfahrt und ‚Auferstehung‘ nach dem Vorbild der mythischen Vorlagen gleich mehrmals vollziehen. Dabei beginnt Joseph im nachfolgenden Romangeschehen, die in der Adonishain-Szene etablierten Vorlagen immer freier und spielerischer aufeinander zu beziehen und sich selbst in die Rolle des sterbenden und wiedergeborenen Gottes zu stilisieren. Die Brunnenfahrt Als Joseph das Schleiergewand Rahels von Jakob erhält, knüpft er sogleich an seine Inszenierung in der Adonishain-Szene an und verkündet erneut seine Identifikation mit Tammuz, Adonis und Jesus. Er vergleicht sich nicht nur mit den geopferten Jünglingen, sondern auch mit Iŝtar selbst, aus deren Lied er zitiert: „Ich habe mein Kleid angezogen, – soll ich’s wieder ausziehen“724. Als Jakob ihn zu den Brüdern schicken will, hat Joseph prompt das nächste Zitat bereit und antwortet mit Abrahams Wendung vor der Opferung Isaaks: „Hier bin ich!“725. Mit Schleier und Myrtenkranz versehen reitet Joseph auf einer Eselin zu den Brüdern und gebärdet sich wie Jesus beim Einzug nach Jerusalem.726 Die Bühne ist mit all diesen Anspielungen also bereitet für die Unterweltsfahrt, der die rituelle ‚Zerreißung‘ Adonis‘/Dionysos‘/Osiris‘ vorausgeht. Diese vollziehen die Brüder in Gestalt des reißenden Tieres, nachdem Joseph vor ihnen im Gewand Rahels – und vermeintlich im Besitz der Erstgeburtswürde – erscheint:

|| 722 Ebd. S. 435f. 723 Joh. 10, 30. 724 Mann, Thomas: Joseph I. S. 463. Eine ausführliche Analyse des Schleiergewands als Allegorie für das ‚kulturelle Gedächtnis‘ findet sich bei Assmann, Jan: Thomas Mann und Ägypten. S. 71–73. 725 Mann, Thomas: Joseph I. S. 508; Vgl. Gen. 22, 1. 726 Vgl. Mann, Thomas: Joseph I S. 514f.

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Sie fielen auf ihn wie das Rudel verhungerter Wölfe auf das Beutetier fällt; es gab kein Halten und kein Besinnen für ihre blutblinde Begierde, sie stellten sich an, als wollten sie ihn in mindestens vierzehn Stücke zerreißen. Ums Reißen, Zerreißen und Abreißen war’s ihnen wirklich vor allem in tiefster Seele zu tun.727

Wie Seth seinen Bruder Osiris wollen auch Josephs Brüder ihn in ‚vierzehn Stücke‘ zerreißen und scheinen sich dazu wie Ares in wilde Tiere zu verwandeln. Anstelle Josephs wird jedoch der Schleier als Zeichen der Einheit von Mutter und Sohn zerrissen und wird damit zum Symbol des Gottesopfers. Joseph ist sich derweilen vollkommen im Klaren darüber, welches Rollenvorbild er gerade erfüllt: Er hatte achtgegeben vom ersten Augenblick an. Man möge es glauben oder nicht, aber im verstörtesten Trubel der Überrumpelung […] hatte er geistig die Augen aufgemacht, um zu sehen, was ‚eigentlich‘ geschah. […] ‚Mein Kleid!‘ hatte er aufgeschrien und in bedeutendem Schrecken gebettelt: ‚Zerreißt es nicht!‘ Ja, sie hatten es ihm zerrissen und abgerissen, das Mutterkleid, das auch des Sohnes war […]. In seinem Geist wohnten die Gedanken ‚Entschleierung‘ und ‚Tod‘ nahe beisammen […].728

Die Verbindung des Schleiers mit Opferung und Tod, die Thomas Mann aus seiner Bachofen-Lektüre entnommen hat729, fügt sich nahtlos an dessen Symbolfunktion für die Einheit von Muttergottheit und geopfertem Sohn an, die Joseph bereits in der Adonishain-Szene etabliert hat. Nach dem Angriff der Brüder liegt Joseph in seiner Rolle als zerrissener Gottesjüngling in der gleichen Stellung wie die wächserne Adonis-Figur, die er Benjamin im Adonishain beschrieben hatte730, bevor seine Brüder ihn in den Brunnen werfen und eben jenen ‚großen Stein‘ darüber wälzen, der zur Grablegung Adonis‘/Jesus‘ gehört.731 Nun ist es an ihm, sich gänzlich in die Rolle des sterbenden und wiedergeborenen Gottes zu begeben: er schreit aus dem Brunnen „Mich dürstet“ wie Jesus am Kreuz732 und ruft anstelle des Vatergotts die Muttergöttin an: „Mutter! Erlöse den Sohn!“733 Die Brüder vergleicht er mit wilden Tieren, die ihn zerrissen haben wie der Eber Adonis734, ist sich aber zugleich

|| 727 Ebd. S. 541. 728 Ebd. S. 569f. 729 Zum Symbolzusammenhang zwischen Schleier und Unterwelt vgl. Galvan, Elisabeth: Zur Bachofen-Rezeption in Thomas Manns Joseph-Roman. Frankfurt a. M. 1996. S. 56ff. 730 Vgl. Mann, Thomas: Joseph I. S. 544. 731 Vgl. ebd. S. 552. 732 Ebd. S. 555.; Vgl. Joh. 19, 29. 733 Mann, Thomas: Joseph I. S. 578. 734 Vgl. ebd. S. 561; 566; 569.

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voll und ganz dessen bewusst, dass sein Martyrium – dem mythischen Schema gemäß – nicht länger als drei Tage dauern kann.735 Noch im Brunnen liegend ruft er sich all seine mythischen Vorbilder zur Identifikation in Erinnerung: ‚Bôr‘ hatten die Brüder gesagt in ihrer Sprache und hatten sich einsilbig-vielsinnig damit ausgedrückt, denn die Silbe enthielt den Begriff des Brunnens sowohl wie des Gefängnisses, und dieser wieder hing so nahe mit dem des Unteren, des Totenreiches zusammen, daß Gefängnis und Unterwelt ein und derselbe Gedanke und eines nur ein anderes Wort fürs andere war […]. Es war der Abgrund, in den der wahrhafte Sohn steigt, der eins mit der Mutter ist und das Gewand trägt im Austausch. Es war der unterirdische Schafstall, Etura, das Reich der Toten, darin der Sohn Herr wird, der Hirte, der Dulder, das Opfer, der zerrissene Gott.736

Joseph inszeniert sich hier selbst als Dumuzi, der ‚wahrhafte Sohn‘, als Tammuz, der mit Iŝtar als weiblicher Abend- und männlicher Morgenstern die Kleider tauscht, als Hirte, der wie die Hirtenjünglinge Dumuzi, Tammuz und Adonis in die Unterwelt hinab muss, wo er wie Jesus als guter Hirte ‚Herr wird‘, und nicht zuletzt als der ‚zerrissene Gott‘ Osiris bzw. Dionysos. Gleichzeitig weiß Joseph natürlich genau, dass das „Hinabsinken des Sohnes“ in die Unterwelt untrennbar verknüpft ist mit dessen „Wiedererscheinen, Neulicht und Auferstehung“737. So verwundert es nicht, dass er sich nach der Rettung durch die Kaufleute wie „neugeboren“, bzw. im Sinne der rituellen Erneuerung „zweimal geboren“738 fühlt. Selbst Jakob spielt Josephs Identifikations-Spiel übrigens mit, indem er in seiner Trauer selbst zu Iŝtar werden will, die ihren in die Unterwelt abgestiegenen Sohn-Geliebten zurückholen muss – Eliezer weist ihn jedoch ganz pragmatisch darauf hin, dass sich spätestens „am siebenten Tore“739 (an dem Iŝtar nackt vor dem Eingang zur Unterwelt steht) zeigen werde, dass er nicht die Muttergöttin sei.

|| 735 Vgl. ebd. S. 563. 736 Ebd. S. 571. 737 Ebd. S. 572. 738 Ebd. S. 582. 739 Ebd. S. 643.

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Das Spiel mit den mythischen Vorbildern Im weiteren Verlauf des Romans ruft Joseph seine einmal etablierten Identifikations-Vorbilder immer wieder auf und nutzt das Spiel mit seinen diversen mythischen Rollen zu seinem eigenen Vorteil. So inszeniert er sich beispielsweise vor Potiphar erneut als „Ganzopfer“740, das mit dem „Kräutlein Rührmichnichtan“741 zum Zeichen seiner Erwähltheit geschmückt ist. Seine eigene Mutter, die bisher die Rolle der Iŝtar erfüllen musste, stilisiert er nun gar zur Jungfrau Maria und sich selbst zum Heiland, der in „jungfräuliche[r] Geburt“742 das Licht der Welt erblickte.743 Er versieht sich selbst mit christologischen Hoheitstiteln wie ‚Menschensohn‘, ‚Gotteslamm‘ oder ‚der gute Hirte‘744 und gibt sich immer wieder mit Jesus‘ Erkennungsformel „Ich bin’s“745 in seiner Rolle zu erkennen. Er speist mit seinen Brüdern wie Jesus mit den Sündern746, und seine ‚Auferstehung‘ wird von Serach als „Mägdlein“ mit der „Laute im Arm“747 genau so verkündet, wie Joseph es Benjamin anlässlich des Adonis-/Osterfestes beschrieben hatte. Neben den Vorausdeutungen auf Jesus Christus bleiben aber auch seine anderen mythischen Bezüge stets präsent und es kommen noch einige neue hinzu. Auf der Reise nach Ägypten gibt er sich beispielsweise selbst den Namen „Usarsiph“748, der aus Osiris und Joseph zusammengesetzt ist, während er dort – in Anspielung auf Adonis und Adonai – häufig „Adôn“749 genannt wird. Im Verhältnis zu Mut-em-enet schlüpft Joseph dagegen in eine neue Rolle: In der Bedrängnis durch die Frau seines Herrn sieht sich Joseph in der Position des Gilgamesch, der sich Iŝtars Avancen erwehren muss. Er bezeichnet sich wie Gilgamesch als „Weh-Froh-Mensch“750 und hat ebenso wie jener sieben Gründe, sich des Verhältnisses mit der Göttin zu enthalten.751 Auf der sechsten Tafel des sumerischen Epos steht beschrieben, wie Gilgamesch die Liebe der Göttin Iŝtar zurückweist, weil er weiß, wie zerstörerisch diese Liebe ist: er zählt eine lange || 740 Mann, Thomas: Joseph II. S. 948. 741 Ebd. S. 947. 742 Ebd. S. 924. 743 Vgl. Marx, Friedhelm: Christusfigurationen im Werk Thomas Manns. 744 Vgl. Karthaus, Ulrich: Poetische Theologie. Überlegungen zu Thomas Mann. Frankfurt a. M. 2017. S. 99; Fischer, Bernd-Jürgen: Handbuch Joseph. S. 25f. 745 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1366; 1434; 1488; 1774. Lk. 24, 39; Joh. 4, 26. 746 Vgl. Mann, Thomas: Joseph II. S. 1738f.; Mt. 9, 9–13. 747 Mann, Thomas: Joseph I. S. 429. 748 Mann, Thomas: Joseph II. S. 707. 749 Ebd. S. 1558. 750 Ebd. S. 922; Vgl. Gilgamesch. Eine Erzählung aus dem alten Orient. Leipzig 1921. S. 4. 751 Vgl. Mann, Thomas: Joseph II. S. 1175. Gilgamesch. S. 25f. Vgl. zu weiteren GilgameschMotiven: Fischer, Bernd-Jürgen: Handbuch Joseph. S. 650.

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Liste von Iŝtar-Geliebten – unter ihnen auch Tammuz – auf, die von der Göttin ins Verderben gestürzt wurden.752 Daraufhin hetzt Iŝtar ihm mit Hilfe ihres Vaters Anu den Himmelsstier auf den Hals, den er jedoch gemeinsam mit Enkidu besiegen kann. Mut-em-enet nimmt die Rolle der Iŝtar ein, die GilgameschJoseph mit Geschenken und Gefälligkeiten an sich binden will. Erneut durchschaut Joseph sogleich, ‚was gespielt wird‘ und wappnet sich gegen Muts Liebesbegehren, indem er in die Rolle Gilgameschs schlüpft: So, so, dachte Joseph, indem er die arme Mut betrachtete. Anu’s verbuhlte Tochter bist du in deiner Wahrheit und weißt es am Ende selber nicht. Ich werde dich schelten und dir deine vielen Geliebten vorhalten, die du schlugst mit deiner Liebe […]. ‚Mir würde wie ihnen geschehen‘, gibt das Spiel mir zu sagen auf. Warum sagte Gilgamesch so und beleidigte dich, so daß du zu Anu ranntest in deiner Wut und ihn bestimmtest, den feuerschnaubenden Himmelsstier zu senden wider den Unfolgsamen? Ich weiß nun, warum, denn in ihm verstehe ich mich, wie ich ihn verstehe durch mich.753

Joseph ist inzwischen so versiert im Spiel mit mythischen Vorbildern, dass er mühelos je nach Situation eine neue Rolle einnehmen kann und die mythischen Geschichten zur Selbstreflexion nutzt. Die Gilgamesch-Episode, in der Thomas Mann übrigens auch einen Gruß an Hermann Hesse versteckt hat754, ist ein erster Schritt auf dem Weg zu seiner Lösung vom Dumuzi/Tammuz-Schema, da Gilgamesch im Gegensatz zu jenen das Gottesopfer verweigert. Zum Ende des Romans wird das Schema des Gottesopfers nahezu gänzlich von einer neuen Rolle verdrängt, die besser zu dem nun zum ‚Ernährer‘ aufgestiegenen Joseph passt: nachdem er inzwischen die ‚zweite Grube‘ – das Gefängnis in Ägypten – hinter sich gelassen hat, identifiziert er sich mit Thomas Manns „Lieblingsgottheit“755 Hermes. Die Rolle des Tricksters, vermittelnden Boten, Wegeführers und Kulturbringers passt zu seiner neuen Funktion im Dienste Pharaos, den er durch seine geschickte Traumdeutung dazu bringt, ihn || 752 Vgl. Gilgamesch. S. 24–29. 753 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1174f. 754 Thomas Mann hat in Bezug auf das Gilgamesch-Epos eine Gemeinsamkeit mit Hesse entdeckt: denn auch das Verhältnis zwischen Harry Haller und Maria im ‚Steppenwolf‘ bezieht sich auf eine Stelle im Gilgamesch. Ebenso wie Enkidu von der Tempeldienerin wird Haller von Maria in die ‚Zivilisation‘ eingeführt. Dieser Bezugnahme Hesses auf den Mythos trägt Thomas Mann Rechnung, indem er den Begriff ‚Steppenwolf‘ an der entsprechenden Stelle seines Romans einbaut: so findet es Joseph beim Hören der Gilgamesch-Geschichte „vorzüglich, wie die Dirne den Steppenwolf zustutzte“ (Mann, Thomas: Joseph I. S. 382). Hesse hat den Gruß beim Lesen der Josephsromane entdeckt und Thomas Mann per Brief dafür gedankt (Vgl. Brief Hesses an Thomas Mann vom April 1934. In: BWHM. S. 107.). 755 Brief Manns an Karl Kerényi vom 24.03.1934. In: BWKM. S. 51.

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zum ‚Ernährer‘ Ägyptens einzusetzen und seine Brüder nachkommen zu lassen. Er inszeniert sich sowohl als „Hermes logios“ der trickreichen Rede als auch als „Hermes psychopompos“756, der seine Familie ins ‚Totenreich‘ Ägypten hinabführt. In einem Brief an Kerényi bemerkt Thomas Mann zu dieser neuen Rolle Josephs: […] im letzten Bande, der den Helden als Staats-Geschäftsmann von reichlicher Durchtriebenheit zeigt, wechselt dieser aus der ursprünglichen Tammuz-Adonis-Rolle immer mehr in die eines Hermes hinüber.757

In Kerényis Abhandlung über das Urkind, die er zusammen mit C. G. Jungs Beitrag unter dem Titel Das göttliche Kind (1940) veröffentlichte, hat sich Thomas Mann zahlreiche Absätze über das Hermes-Mythologem angestrichen, unter anderem auch Stellen zur Höhlengeburt des Hermes und seiner SchildkrötenLeier, die das Hermeskind Apollon äußerst redegewandt als Ausgleich für den Raub seiner Rinder anbietet.758 Dieses Motiv wird für die Einführung der Hermes-Rolle genutzt: Pharao erzählt Joseph die Geschichte vom Rinderraub des kleinen Hermes und seiner Schildkrötenleier, die er anschließend Joseph schenkt, da sie ihm gut „zu Gesichte“759 stehe. Ebenso wie Hermes erweist sich Joseph im Gespräch mit Pharao als äußerst trickreich und geschickt: eine seiner „Schalks-Erfindung[en]“760 besteht z.B. darin, permanent Dinge laut auszusprechen, von denen er vorgibt, sie nur „in [s]einen Gedanken“ oder „lautlos zu [s]ich selber“761 zu sagen. So kann er frei sprechen und dennoch vorgeben, die vor Pharao gebotene Schicklichkeit zu wahren. Er erheitert den jugendlichen Herrscher mit verschiedenen „Stückchen“ aus seinen Vätergeschichten und zeigt sich auch mit den Charakteristika des Hermes wohl „vertraut“ 762. Im Gegenzug schenkt dieser Joseph seine Schildkrötenleier, die „Erfindung des Herrn der Stückchen“763. Besonders die schalkhaft-unschuldige „vermittelnde Rede“764 ist eine der Fähigkeiten, die Joseph schon seit seiner Kindheit innehat. Einzig

|| 756 Fischer, Bernd-Jürgen: Handbuch Joseph. S. 25. Vgl. auch Art. Hermes. In: Cancik, Hubert/Schneider, Helmuth: Der neue Pauly. Bd. V. S. 426–432. 757 Brief Manns an Karl Kerényi vom 18.02.1841. In: BWKM. S. 98. 758 Vgl. Thomas Manns Anstreichungen in: Kerényi/Jung, Carl Gustav: Das göttliche Kind. TMA. S. 65–67. 759 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1514. 760 Ebd. S. 1510. 761 Ebd. S. 1509. 762 Ebd. S. 1497. 763 Ebd. S. 1514. 764 Mann, Thomas: Joseph I. S. 45.

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Pharaos Mutter Teje durchschaut Josephs Spiel, das sie mit dem des Hermeskindes vergleicht: ‚Pharao hat mich erhöht‘, antwortete Joseph, ‚indem er mich dieses Gottesgesprächs würdigte.‘ ‚Papperlapapp‘ machte sie ungeduldig. ‚Du hast’s drauf angelegt und dich ihm untergeschoben vom ersten Worte an! Vor mir brauchst du das Kind nicht zu spielen, oder das Lamm, wie die dich nannten, die dich verzogen. […] ‚Süßer Schlaf und Muttermilch‘, nicht wahr, ‚Wickelbänder und warme Bäder‘, das sind deine Sorgen. Geh mir doch!‘765

Teje zitiert in dieser entlarvenden Anklage direkt aus Pharaos HermesErzählung vom Anfang des Gesprächs: so wie das trickreiche Hermes-Kind vorgibt, nur an ‚süßen Schlaf und Muttermilch‘, ‚Wickelbänder und warme Bäder‘ gedacht zu haben, während es in Wirklichkeit Apollons Rinder geraubt hat, so habe auch Joseph ebenso trickreich seine Position im Hause Pharaos erlangt.766 Joseph schlüpft gewandt in die Rolle des Hermes als „Handelsmann zwischen den Sphären und Mittler zwischen oben und unten“767, indem er Pharao mithilfe seines Redegeschicks dazu bringt, ihn zum Mittelsmann zwischen ihm selbst und seinem Volk und zum „Herrn des Überblicks“768 über die Versorgung des Landes zu ernennen. Damit fungiert er – ganz im Sinne von Kerényis HermesInterpretation – als erlösender „Mittler“769, der für den Ausgleich und Austausch zwischen Götter- und Menschenwelt zuständig ist. Diese Erlöserrolle ist jedoch verbunden mit schalkhafter Ironie und diebischem Geschick: Joseph ist immer auch ein „Schelm“770. Seine Hochzeit mit Asnath wird zudem als hermetischer Diebstahl inszeniert – so kann Joseph zu guter Letzt in die Rolle des „Mädchenräuber[s]“771 schlüpfen, die ebenfalls in Kerényis Hermes-Beschreibung vorgeprägt ist.772 Auch mit den Brüdern treibt Joseph am Ende des Romans ein schelmisches Spiel, indem er sie zunächst über seine wahre Identität im Unklaren lässt und ihnen diverse Streiche spielt. In der Erkennungs-Szene verneint er seine eigentliche Rolle als ‚Hermes psychopompos‘ zunächst ironisch – er gibt

|| 765 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1542. 766 Vgl. ebd. S. 1493; 1542. 767 Ebd. S. 1523. 768 Ebd. S. 1550. 769 Kerényi, Karl: Hermes. Der Seelenführer. Zürich 1944. S. 98. 770 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1550 771 Ebd. S. 1589. 772 Als Charakteristikum des Hermes nennt Kerényi den „ewigen Zusammenhang von Liebe und Diebstahl“ – eine Stelle, die sich Thomas Mann mit Ausrufezeichen markiert hat. In: Kerényi, Karl: Das Urkind. TMA. S. 62.

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vor, „kein Gottesheld und kein Bote geistlichen Heils“ zu sein, sondern nur „ein Volkswirt“773 –, ist sich allerdings durchaus darüber im Klaren, dass er die Brüder als eine Art Seelenführer ins ägyptische ‚Unterweltsreich‘ nachkommen lässt. Das hermetische ‚Seelen-Leiten‘ wird zum Schluss des Romans über das Bild des ‚guten Hirten‘ noch einmal mit Josephs früheren Identifikationsrollen enggeführt: Man liest: ‚Er gab ihnen Brot um ihre Pferde, Schafe, Rinder und Esel und ernährte sie mit Brot das Jahr um all ihr Vieh.‘ Allein die Übersetzung ist ungenau und lässt eine gewisse Anspielung und Einflüsterung vermissen, deren das Original sich befleißigt. Statt ‚ernährte‘ steht dort ein Wort, das ‚leiten‘ bedeutet […] – ein eigentümlicher Ausdruck und absichtsvoll gewählt; denn er ist der Hirtensprache entnommen und bedeutet ‚hüten‘, ‚weiden‘ […]; und für das mythisch geübte Ohr wird dem Sohne Jaakobs mit diesem hervorstechenden und formelhaft feststehenden Wort die Rolle und Eigenschaft zugeschrieben des guten Hirten, der die Völker hütet, sie auf grüner Aue weidet und zu frischem Wasser führt.774

Der ‚gute Hirte‘ ist nicht nur ein Hoheitstitel Jesu775, sondern schlägt den Bogen auch zurück vom hermetischen Joseph zu seiner anfänglichen Identifikation mit den diversen mythischen Hirtenjünglingen von Dumuzi über Tammuz bis Adonis. Er entwickelt sich vom Gottesopfer zum ‚guten Hirten‘, der über die Herde wacht, und wird im Laufe dieser Entwicklung immer freier im Umgang mit seinen mythischen Vorbildern. Damit unterscheidet sich Joseph grundlegend von einer Figur wie Gustav von Aschenbach, der den mythischen Mächten, die plötzlich in sein geordnetes Leben einbrechen, geradezu ausgeliefert ist. Joseph nimmt das Spiel mit den mythischen Bezügen selbst in die Hand und passt seine Rolle der jeweiligen Situation an. Mit dieser Technik entzieht sich die Joseph-Figur auch dem dominanten Schema der ‚dionysischen Versuchung‘, der so viele der Thomas Mannschen Künstlerfiguren zum Opfer fallen und die im Folgenden thematisiert werden soll. 4.2.1.2 Die dionysische Versuchung Zusätzlich zu der Figurenbeschreibung mit mythischen Charakteristika findet sich in Thomas Manns Werken auch ein wiederkehrendes Handlungsschema, das an Nietzsches Mythos-Interpretation in der Geburt der Tragödie angelehnt

|| 773 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1774. 774 Ebd. S. 1854. 775 Joh. 10, 11–14.

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ist. Immer wieder wird von der ‚dionysischen Versuchung‘ erzählt, vom Einbruch des triebhaften Lebens in die gefasste Sphäre des Geistes. Dionysos als der ‚fremde Gott‘ ist in Thomas Manns Romanen und Erzählungen zwar ebenso wie bei Nietzsche der Repräsentant des rauschhaften Lebenstriebs, der auf Schopenhauers Konzeption der Welt als Wille bezogen ist. Im Gegensatz zu Nietzsche steht dieser aber nicht in einer sich gegenseitig ergänzenden Beziehung zum formvoll-gefassten apollinischen Prinzip, sondern beide erscheinen als unvereinbare Gegenpole.776 Dieser Aspekt wird in der Forschung oft übersehen, wenn es um Thomas Manns Übernahmen von Nietzsche geht.777 Anstelle der Verschränkung der beiden Prinzipien in der Kunst, die Nietzsche anhand der attischen Tragödie als „Verbildlichung dionysischer Weisheit durch apollinische Kunstmittel“778 bezeichnet, dienen sie bei Thomas Mann als Illustration für Verfallsgeschichten nach dem Muster der ‚Idee der Heimsuchung‘. Dieses Schema wird im Joseph folgendermaßen beschrieben: Es ist die Idee der Heimsuchung, des Einbruchs trunken zerstörender und vernichtender Mächte in ein Gefaßtes und mit allen seinen Hoffnungen auf Würde und ein bedingtes Glück der Fassung verschworenes Leben. Das Lied vom errungenen, scheinbar gesicherten Frieden und des den treuen Kunstbau lachend hinwegfegenden Lebens, von Meisterschaft und Überwältigung, vom Kommen des fremden Gottes war im Anfang, wie es in der Mitte war.779

Anders als in Nietzsches Ideal des antiken Künstlers wird hier der Einbruch des dionysischen Prinzips in das apollinisch gefasste Künstlertum als zerstörerisch dargestellt. Die ‚Idee der Heimsuchung‘ dominiert Thomas Manns Romane bis in sein Spätwerk hinein (man denke an Leverkühns Teufelsverschreibung im Doktor Faustus oder die wiederkehrende Verknüpfung von dionysischer Versuchung und Tod in Die Betrogene) und spielt auch im Tod in Venedig und den Joseph-Romanen eine zentrale Rolle.

|| 776 Zu Nietzsches Konzeption des dionysischen und des apollinischen Prinzips vgl. Kap. 2.2.1. 777 So beispielsweise bei Reed, Terence J.: Art. Thomas Mann und die literarische Tradition. In: Koopmann, Helmut (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch. 3. akt. Aufl. Frankfurt a. M. 2005. S. 95–136. Hier: S. 99. 778 Nietzsche, Friedrich: Geburt der Tragödie. S. 141. 779 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1123.

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4.2.1.2.1 Der Tod in Venedig Gustav von Aschenbachs apollinische Formkunst dient nicht, wie bei Nietzsche, als „Vehikel dionysischer Weisheit“780, verpackt im schönen Schein der Kunst, sondern sie wird durch den Einbruch des dionysischen Prinzips als defizitär entlarvt. Der moderne Künstler erreicht das Ideal der attischen Tragödie nicht mehr, weil er als nur noch rational Schaffender die apollinische Form zum Selbstzweck erhoben hat. Aschenbach ist ein Künstler der Form und des Maßes, der mit „Haltung“ und „Selbstbeherrschung“781 sein Werk „in kleinen Tagewerken“782 aufschichtet und dessen „Kopf ein wenig zu groß“783 erscheint. Sein „Aufstieg zur Würde“ beruht auf dem Vorrang des Geistes vor dem Leben, das er als „Moralist der Leistung“784 zugunsten seiner künstlerischen Produktion unterdrückt: […] Zucht war ja zum Glücke sein eingeborenes Erbteil von väterlicher Seite. Mit vierzig, mit fünfzig Jahren wie schon in einem Alter, wo andere verschwenden, schwärmen, die Ausführung großer Pläne getrost verschieben, begann er seinen Tag beizeiten mit Stürzen kalten Wassers über Brust und Rücken und brachte dann […] die Kräfte, die er im Schlaf gesammelt, in zwei oder drei inbrünstig gewissenhaften Morgenstunden der Kunst zum Opfer dar.785

Ebenso wie Adrian Leverkühn im Doktor Faustus fehlt Aschenbach das Element des dionysischen Kunstprinzips zu Beginn der Erzählung vollkommen. Der Einbruch des Dionysischen – in Aschenbachs Fall durch die Begegnung mit dem Fremden, in Leverkühns Fall in Form des Teufelspaktes – bewirkt daher keine Ergänzung, sondern einen Fall ins andere Extrem. Der geistig-rationale Formkünstler Aschenbach wird im Tod in Venedig zum Opfer des dionysischen Rausches, weil er diesen Aspekt des Lebens zuvor domestiziert und gänzlich aus seinem Leben und aus seiner Kunst verdrängt hatte. Aschenbachs ‚dionysische Versuchung‘ beginnt mit der Begegnung am Nordfriedhof, die eine „seltsame Ausweitung seines Innern“ auslöst, die er zunächst als harmlose „Reiselust“786 interpretiert. Gleich darauf überfällt ihn jedoch die erste dionysische Vision:

|| 780 Nietzsche, Friedrich: Geburt der Tragödie. S. 73. 781 Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 511. 782 Ebd. S. 510. 783 Ebd. S. 515. 784 Ebd. S. 512. 785 Ebd. S. 510. 786 Ebd. S. 504.

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[…] er sah, sah eine Landschaft, ein tropisches Sumpfgebiet unter dickdunstigem Himmel, feucht, üppig und ungeheuer, eine Art Urweltwildnis aus Inseln, Morästen und Schlamm führenden Wasserarmen […], sah zwischen den knotigen Rohrstämmen des Bambusdickichts die Lichter eines kauernden Tigers funkeln – und fühlte sein Herz pochen vor Entsetzen und rätselhaftem Verlangen.787

Der Urwald als fruchtbarer Lebensraum evoziert das Bild des ungezügelt wuchernden Lebens, das gleichzeitig auf Venedig als Schauplatz der dionysischen Versuchung verweist. In der späteren Stadtbeschreibung kehren beispielsweise die ‚Schlamm führenden Wasserarme‘ als „faul riechende Lagune“ wieder und der ‚dickdunstige Himmel‘ in der „widerliche[n] Schwüle“788 Venedigs. Der Tiger als Symbol des Dionysos ist von Nietzsche übernommen, der in seiner Schilderung des Gottes erwähnt, dass „unter seinem Joche“ auch „Panther und Tiger“789 schreiten. Er ist darüber hinaus auch motivisch mit der am Ende der Erzählung ausbrechenden Cholera verbunden, in deren Beschreibung er und auch einige Urwald-Motive erneut wörtlich wieder auftauchen: Seit mehreren Jahren schon hatte die indische Cholera eine verstärkte Ausbreitung und Wanderung an den Tag gelegt. Erzeugt aus den warmen Morästen des Ganges-Deltas, aufgestiegen mit dem mephitischen Odem jener üppig-untauglichen, von Menschen gemiedenen Urwelt- und Inselwildnis, in deren Bambusdickichten der Tiger kauert […].790

Dionysos als der wandernde ‚fremde Gott‘, der aus Indien stammen soll, ist über die wiederkehrenden Motive der Urwald-Wildnis und des ‚kauernden Tigers‘ von Beginn der Erzählung an mit einer tödlichen Gefährdung verbunden, die sich im ‚Entsetzen‘ Aschenbachs bei der ersten Vision widerspiegelt. Dies wird noch unterstützt durch die beiden Figuren, die seine Ankunft in Venedig flankieren: der Fahrkartenverkäufer und der falsche Greis. Beide verweisen zugleich auf Dionysos und auf Aschenbachs drohenden Verfall. Der Fahrkartenverkäufer ist ein „ziegenbärtiger Mann“ mit der „Physiognomie eines altmodischen Zirkusdirektors“791, der Assoziationen mit den ziegenbärtigen Satyrn im Gefolge des Dionysos aufkommen lässt. Diese sind über das ‚Satyrspiel‘ mit der Sphäre des Komödienhaften verbunden, der Dionysos als Theatergott vorsteht.792 Auch

|| 787 Ebd. 788 Ebd. S. 541. 789 Nietzsche, Friedrich: Geburt der Tragödie. S. 29. 790 Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 578. 791 Ebd. S. 517. 792 Vgl. Schmidt, Jochen/Schmidt-Berger, Ute (Hg.): Mythos Dionysos. Abschnitt ‚Der Theatergott‘. S. 24ff.

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der Fahrkartenverkäufer grimassiert theatralisch und verabschiedet sich mit „schauspielerischer Verbeugung“793. Er hat „gelbe Finger“794 und ist damit ebenso vom Verfall gekennzeichnet wie der ‚falsche Greis‘ mit seinem „gelbe[n] […] Gebiß“795, der sich als Jüngling ausgibt. Auch er ist mit seiner maskenhaften Schminke und seinem komödiantischen Gebaren der Theatersphäre nahe und zitiert im Rausch aus der Auerbachskeller-Szene im Faust.796 Als eine Art prophetische Figur nimmt er Aschenbachs eigene Verwandlung in einen geschminkten Greis vorweg, dem der Friseur dann auch noch mit einem MephistoZitat bescheinigt, „der Herr“ könne sich jetzt „unbedenklich verlieben“797. Das ‚rätselhafte Verlangen‘, das Aschenbach neben dem ‚Entsetzen‘ bei seiner ersten Vision befällt, ist dagegen mit der enthemmenden und Grenzen sprengenden Wirkung verbunden, die dem Dionysos zugeschrieben wird. Nicht nur bei Nietzsche werden die Effekte der dionysischen Festlichkeiten mit „Rausch“, „Grausen“ und „Verzückung“798 bis hin zu „völliger Selbstvergessenheit“799 beschrieben, sondern auch in seinen anderen Quellen findet Thomas Mann Belege für die Entgrenzung, die mit diesen Festen einhergeht. Aus seinen Notizen zu den Vorarbeiten zum Tod in Venedig lässt sich ersehen, dass Thomas Mann vor allem an dem ekstatischen, orgiastischen Element der dionysischen Feierlichkeiten interessiert ist: er notiert sich aus Nietzsche, Euripides und aus Rohdes Psyche Textstellen, die mit der Beschreibung des Dionysos-Kultes zusammenhängen. Dort ist beispielsweise die Rede von „Manie, Überspannung des Wesens, Verzückung, Überreizung der Empfindung bis zu visionären Zuständen“800 und von dem „Wahnsinn“801, den Dionysos unter seinen Anhängern hervorruft. Aschenbachs Entwicklung bis zu seiner zweiten Vision, die diesen ‚Wahnsinn‘ drastisch schildert, ist jedoch eine graduelle. Nach der ersten Begegnung mit Tadzio ist er noch immer der rational agierende apollinische Künstler, der die Schönheit des Knaben – scheinbar – nur zum Anlass nimmt, über die Schönheit an sich nachzudenken:

|| 793 Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 518. 794 Ebd. S. 517. 795 Ebd. S. 519. 796 So richtet er beispielsweise immer wieder Grüße ans „Liebchen“ aus. Ebd. S. 523. 797 Ebd. S. 586. 798 Ebd. 799 Nietzsche, Friedrich: Tod in Venedig. S. 29. 800 Mann, Thomas: MP XI 13e. Blatt 8. TMA. Eine Transkription einiger markanter Stellen findet sich bei Dierks: Mythos und Psychologie. Anhang 1. S. 207ff. 801 Ebd.

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Müde und dennoch geistig bewegt, unterhielt er sich während der langwierigen Mahlzeit mit abstrakten, ja transzendenten Dingen, sann nach über die geheimnisvolle Verbindung, welche das Gesetzmäßige mit dem Individuellen eingehen müsse, damit menschliche Schönheit entstehe […].802

Schon bald muss sich Aschenbach jedoch eingestehen, dass diese ‚transzendenten Dinge‘ nicht der wahre Grund für sein Interesse an Tadzio sind. Nach dem Eingeständnis seiner Verliebtheit nutzt der Künstler alle Kräfte, die er sonst „an ein Werk zu verausgaben gewohnt gewesen war“, dazu, diese „hochherzigunwirtschaftlich“ in „Rausch und Empfindung“803 zu investieren. Das Liebesgeständnis läutet die Hingabe Aschenbachs an eben jenen dionysischen ‚Rausch‘ ein: er lässt sich selbst durch den Ausbruch der Cholera nicht davon abhalten, Tadzio durch die Gassen Venedigs zu verfolgen. Das „schlimme Geheimnis der Stadt“ – die Cholera und die durch sie herbeigeführte „Lockerung des bürgerlichen Gefüges“ – ist symbolisch aufs engste mit „seinem eigensten Geheimnis“804 verknüpft. Aschenbach trinkt zum Zeichen seines Verfallenseins an den Gott des Rausches Granatapfelsaft, der nun schon als dionysisches Symbol bekannt ist: aus dem Blut des Dionysos soll nach dessen Zerreißung durch die Titanen ein Granatapfelbaum emporgewachsen sein.805 Der Granatapfel ist darüber hinaus auch symbolisch mit der Unterwelt verbunden, da Persephone nach dem Essen eines Granatapfels an den Hades gebunden wird – diese Geschichte findet übrigens auch bei Schopenhauer Erwähnung, so dass anzunehmen ist, dass Thomas Mann sie auch von dort kannte.806 Nachdem Aschenbach solchermaßen vorbereitet ist, folgt die zweite dionysische Vision, die diesmal den Exzess während der Dionysos-Feierlichkeiten zum Inhalt hat: In dieser Nacht hatte er einen furchtbaren Traum […]. Angst war der Anfang, Angst und Lust und eine entsetzte Neugier nach dem, was kommen wollte. Nacht herrschte und seine Sinne lauschten; denn von weither näherte sich Getümmel, Getöse, ein Gemisch von Lärm: Rasseln, Schmettern und dumpfes Donnern, schrilles Jauchzen dazu und ein bestimmtes Geheul im gezogenen u-Laut, - alles durchsetzt und grauenhaft süß übertönt von tief girrendem, ruchlos beharrlichem Flötenspiel, welches auf schamlos zudringende Weise die Eingeweide bezauberte. Aber er wußte ein Wort, dunkel, doch das benennend, was kam: Der fremde Gott!807

|| 802 Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 532. 803 Ebd. S. 558. 804 Ebd. S. 565. 805 Vgl. ebd. S. 571. Vgl. Art. Dionysos. 806 Vgl. Schopenhauer, Arthur: Welt als Wille und Vorstellung I. § 50. S. 337f. 807 Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 582.

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Das ‚Entsetzen‘ und das ‚rätselhafte Verlangen‘ der ersten Vision haben sich inzwischen zu ‚entsetzter Neugier‘ verbunden und zu ‚Angst‘ und ‚Lust‘ gesteigert, die nun mit dem Wissen um den ‚fremden Gott‘ in Verbindung gebracht wird. Die Beschreibung des dionysischen Festzuges aus Erwin Rohdes Psyche, wo von „lärmende[r] Musik, […] Donner großer Handpauken und zum Wahnsinn treibene[m] Einklang der tieftönenden Flöten“808 die Rede ist, wird mit dem ‚gezogenen u-Laut‘ in Verbindung gebracht, mit dem Tadzio am Strand von den Seinen stets gerufen wird.809 Die Erkennungsmelodie von Tadzios Namen wird zunächst den dionysisch „Begeisterten“810 in den Mund gelegt, erreicht aber zum Ende der Vision auch Aschenbach, der sich dem dionysischen Rausch geschlagen gibt: Und die Begeisterten heulten den Ruf aus weichen Mitlauten und gezogenem u-Ruf am Ende, süß und wild zugleich, wie kein jemals erhörter […]. Lockte er nicht auch ihn, den widerstrebend Erlebenden, schamlos beharrlich zum Fest und Unmaß des äußersten Opfers? Groß war sein Abscheu, groß seine Furcht, redlich sein Wille, bis zuletzt das Seine zu schützen gegen den Fremden, den Feind des gefaßten und würdigen Geistes. Aber der Lärm, das Geheul, vervielfacht von hallender Bergwand, wuchs, nahm überhand, schwoll zu hinreißendem Wahnsinn […], und seine Seele begehrte sich anzuschließen dem Reigen des Gottes. […] Ja, sie waren er selbst, als sie reißend und mordend sich auf die Tiere hinwarfen und dampfende Fetzen verschlangen, als auf zerwühltem Moosgrund grenzenlose Vermischung begann, dem Gotte zum Opfer. Und seine Seele kostete Unzucht und Raserei des Untergangs.811

Die Beschreibung des dionysischen Exzesses, der jegliche gesellschaftliche Norm während der Festzeit durchbricht, wird nun auf Aschenbachs Seelenleben übertragen. Die Hingabe an den Gott des Rausches läutet sein Ende ein: beim Genuss von „überreife[n]“812 Erdbeeren infiziert er sich mit der Cholera und stirbt bald darauf am Strand beim Beobachten Tadzios. Als Hinweis auf die nun verlassene Position des Apollonischen steht am Strand ein „herrenlose[r]“ Fotoapparat auf einem „dreibeinigen Stativ“813, das auf den Dreifuß der Pythia im apollinischen Orakel von Delphi verweisen könnte.814

|| 808 Vgl. MP XI 13 e. Blatt 8. TMA; Dierks, Manfred: Mythos und Psychologie. S. 207f.; Michael, Wolfgang: Stoff und Idee im Tod in Venedig. S. 16. 809 Vgl. Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 539. 810 Ebd. S. 583. 811 Ebd. S. 583f. 812 Ebd. S. 587. 813 Ebd. S. 590. 814 Vgl. auch Dierks, Manfred: Mythos und Psychologie. S. 28.

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Die Geschichte der ‚Künstlerwürde‘ ist unverkennbar an Nietzsches „mythisch eingekleidete Psychologie der dionysischen und apollinischen Impulse“815 orientiert, aber sie ist eben auch eine Verfallsgeschichte: So sehr der geistige apollinische Künstler auch der rauschhaften dionysischen Inspiration bedarf, so fatal ist diese doch in Thomas Manns Erzählungen für das Leben des Künstlers, sei es Adrian Leverkühn oder Gustav von Aschenbach. 4.2.1.2.2 Joseph und seine Brüder Im Joseph entfaltet die ‚dionysische Versuchung‘ die gleiche Dynamik: hier fällt die Rolle des Heimgesuchten allerdings ausnahmsweise nicht dem Protagonisten zu, sondern wird auf eine Nebenfigur ausgelagert. Es ist Potiphars Frau Mutem-enet, die dem dionysischen Rausch verfällt, der „die ganze Fassung, Würde und Ordnung ihres Lebens vernichten“816 wird. Die Episode, die zwar in der Bibel nur äußerst knapp beschrieben wird, dafür aber in zahlreichen Versionen überliefert ist817, läuft in Thomas Manns Roman nach dem nun schon bekannten Schema ab. Mut wird zunächst in ihrer Keuschheit und extremen Beherrschtheit gezeigt, bevor der Einbruch des Dionysischen seine berauschende Wirkung entfaltet und sie schließlich in Wahnsinn und Raserei verfällt. Zu Beginn der Episode wird Mut-em-enet über ihren „mondkeuschen Ehrenstand“818 definiert: sie ist die Ehefrau eines Eunuchen und eine „Mondnonne“819 im Dienste Amun-Res. Dennoch wird ihre zukünftige Verfallenheit an Dionysos bereits mit Bachofenscher Symbolik vorbereitet und angedeutet. So wird sie beispielsweise mit einer „Liebesgans“820 und einer Sumpfblume verglichen: Sie war wie eine Wasserblüte, die auf dem Spiegel schwimmend unter den Küssen der Sonne lächelt, unberührt von dem Wissen, daß ihr langer Stengel im dunklen Schlamme der Tiefe wurzelt.821

Sowohl die Gans als auch Wasser- und Sumpfgewächse dienen in Bachofens Interpretation der Darstellung des hetärischen Zeitalters und der Phase der

|| 815 Reed, Terence J.: Art. Thomas Mann und die literarische Tradition. S. 99. 816 Mann, Thomas: Joseph II. S. 852. 817 Vgl. dazu ausführlicher: Assmann, Jan: Thomas Mann und Ägypten. S. 119. 818 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1041. 819 Ebd. 820 Ebd. 821 Ebd. S. 1040.

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‚Sumpfzeugung‘, in der die Ehe noch nicht existiert.822 Schon bald nach diesen ersten Andeutungen erfolgt der erste Einbruch des Dionysischen, wie bei Aschenbach, in einem Traum. Mut träumt davon, dass sie sich in die Hand schneidet, als sie gerade einen „Granatapfel zerteilen“823 will, und erst Joseph das Blut zu stillen vermag. Wie schon im Tod in Venedig dient auch hier der Granatapfel als Symbol des Dionysos. Die Andeutung im Traum wird nach und nach zur Realität: im Laufe der drei Jahre, über die hinweg die Verliebtheit in Joseph andauert, gerät Mut zunehmend „außer sich“824 und ergibt sich schließlich dem dionysischen Rausch. Zunächst fallen die Schranken zwischen Herrin und Sklave, indem Mut Joseph mit dem ‚Du‘ anspricht, das ebenso wie im Doktor Faustus eine grenzüberschreitende Nähe ausdrückt: Eine so große Dame, vornehm, überlegen, hochmütig und weltgewandt, kühl eingeschlossen bisher in das Ichgefühl ihres Gottesdünkels, – und nun auf einmal dem Du verfallen, einem von ihrem Standpunkt gesehen ausgemacht unwürdigen Du, aber ihm verfallen bereits in solcher Schwäche und bis zu solcher Auflösung ihres Herrinnentums, daß sie es schon kaum noch zustande brachte, wenigstens die Rolle festzuhalten der Liebesherrin und der herausfordernden Unternehmerin des Gefühls, sondern sich bereits Sklavin wußte des Sklaven-Du […]825

Die ‚Auflösung‘, die mit der Nivellierung von Unterschieden einhergeht, wird auf die Spitze getrieben im dionysischen Kleidertausch: ebenso wie Frauen und Männer im Fest zu Ehren des Dionysos ihre Kleider tauschen, will Mut Joseph für sich gewinnen, indem sie eine Tracht aus seiner Heimat trägt, während Joseph ägyptische Gewänder trägt. Diesen ‚Kleidertausch‘ im übertragenen Sinne setzt Mut in Bezug zu den Dionysos-Feierlichkeiten, die Joseph jedoch aufgrund ihrer rauschhaften Natur abzulehnen vorgibt: ‚So haben wir die Kleider getauscht, festlicherweise. Denn etwas Gottesfestliches ist es um solchen Tausch von alters, wenn sich in Weibertracht ergehen die Männer und im Kleide des Mannes das Weib und die Unterschiede dahinfallen.‘ ‚Laß mich dazu anmerken‘, erwiderte er, ‚daß solch ein Brauch und Dienst mich nicht sonderlich anheimelt. Denn es liegt etwas Taumelhaftes darin und ein Dahinfall der Gottesbesonnenheit, der meine Väter nicht freuen wollte.‘826

|| 822 Vgl. Bachofen, Johann-Jakob: Mythos von Orient und Occident. S. 34. 823 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1056. 824 Ebd. S. 1044. 825 Ebd. S. 1144. 826 Ebd. S. 1162.

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Josephs Zurückweisung treibt Mut jedoch noch tiefer in ihren Liebeswahn, sie führt zu einer weiteren „Lockerung“827 ihrer einst so strengen Prinzipien, bis sie schließlich im dionysischen Rausch lallend ihre Liebe gesteht und Joseph „mit Efeu kränzen“ will und mit „Ranken des Weins“ – den Insignien des Dionysos.828 Mut wird ganz zur rasenden Mänade, zur „wild bekränzte[n], keuchend jauchzende[n] Thyrusschwingerin“829 wie die Frauen im Gefolge des Dionysos.830 Sie veranstaltet gar eine heidnische Opferung an die ebenfalls mit Dionysos verknüpfte ‚Hündin‘, um Joseph gefügig zu machen. Das Hunde-Symbol bildet aber auch eine Brücke zu Bachofen, der die Hündin als Göttin des hetärischen Zustandes beschreibt: sie sei „der hetärischen, jeder Befruchtung sich freuenden, Erde Bild“831. Die ‚Lockerung‘ bzw. Entfesselung, die mit Mut vonstattengeht, lässt sich demnach nicht nur in das bekannte Nietzsche-Schema des dionysischen Rausches einordnen, sondern hat auch bei Bachofen eine Entsprechung. Er interpretiert Dionysos als „Bekämpfer des Mutterrechts“832, der das Ende der Gynaikokratie herbeiführt. Das mutterrechtliche Stadium bzw. die ‚Gynaikokratie‘ folgt in Bachofens Schema auf den hetärischen Zustand und ist von „strenger Zucht des Lebens“833 geprägt. Das Aufkommen der dionysischen Kulte zerstört jedoch dieses Stadium, indem er eben jene ‚Lockerung‘ herbeiführt, die Mut im Verhältnis zu Joseph erfährt: Der dionysische Kult hat dem Altertum die höchste Ausbildung einer durch und durch aphroditischen Zivilisation gebracht […] Er hat alle Fesseln gelöst, alle Unterschiede aufgehoben [und] das Leben selbst wieder zu den Gesetzen des Stoffes zurückgeführt.834

Josephs Zurückweisung der Avancen Muts ist im Sinne Bachofens als Heraufkunft des nun folgenden vaterrechtlichen Zustandes zu interpretieren: schließlich ist es auch „das Vaterantlitz“835, das Joseph im allerletzten Moment davon abhält, Muts Begehren nachzugeben. Diese zweite Deutungsweise des ‚dionysischen Prinzips‘ bei Bachofen fügt sich in Thomas Manns Konzeption nahtlos in das schon bekannte Nietzsche-Schema ein. Auch hier wird das Dionysische mit || 827 Ebd. S. 1166. 828 Ebd. S. 1221. 829 Ebd. S. 1257. 830 Vgl. zur ikonographischen Darstellung des Dionysos und seines Gefolges: Schmidt, Jochen/Schmidt-Berger, Ute (Hg.): Mythos Dionysos. S. 31f. 831 Bachofen, Johann Jakob: Mythos von Orient und Occident. S. 238. 832 Ebd. S. 38. 833 Ebd. S. 31. 834 Ebd. S. 40. 835 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1312.

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dem verführerisch Lockenden, Grenzen sprengenden und Triebhaften assoziiert. In On myself greift Thomas Mann noch einmal die Kontinuität dieses Motivs in seinem Werk auf, indem er an die oben zitierte Stelle zur ‚Heimsuchung‘ aus dem Joseph anknüpft: Im Anfang, wie in der Mitte: Vom ‚Kleinen Herrn Friedemann‘ zum ‚Tod in Venedig‘, der viel späteren Erzählung vom Kommen des ‚fremden Gottes‘ spannt sich der Bogen; und was ist die Leidenschaft von Potiphars Frau für den jungen Fremdling anderes als abermals der Einsturz, der Zusammenbruch einer mühsam, aus Einsicht und Verzicht gewonnenen hochkultivierten Haltung: die Niederlage der Zivilisation, der heulende Triumph der unterdrückten Triebwelt.836

Joseph entkommt der dionysischen Versuchung knapp durch sein virtuoses Spiel mit dem Mythos: indem er sich als Gilgamesch inszeniert, der Iŝtars Avancen zurückweist, kann er sich selbst vor der ‚Heimsuchung‘ bewahren, der dann anstatt seiner Mut zum Opfer fällt. Schon für Adrian Leverkühn gilt jedoch im Doktor Faustus wieder das bewährte von Nietzsche entlehnte Schema: auch seine apollinische ‚Gefasstheit‘ fällt dem Dionysischen zum Opfer, sobald er als Künstler um Inspiration und Ausdruck ringt. Das Handlungsschema der dionysischen Entgrenzung setzt Thomas Mann ein, um Psychologie im Gewand des Mythos zu betreiben. Mythos und Traum dienen bei der Beschreibung der ‚Heimsuchung‘ dazu, die verdrängte Triebwelt bildhaft anschaulich zu machen, ohne diese allzu direkt beschreiben zu müssen. Die im Tod in Venedig etablierte Assoziation des Dionysischen mit dem Einbruch des Irrationalen und Triebhaften in ein diszipliniertes und gefasstes Leben kehrt als das konstante ‚Thema mit Variationen‘ in Thomas Manns Gesamtwerk in immer neuen Formulierungen wieder und bleibt für diesen Komplex das dominante Bild.

4.2.2 Formale Aspekte: Die ‚Umfunktionierung‘ mythischen Erzählens 4.2.2.1 Leitmotivik zwischen Geschlossenheit und ironischer Brechung Anlässlich der Veröffentlichung des Doktor Faustus schreibt Thomas Mann an Adorno, er habe versucht, die „musikalische Gewebetechnik auf den Roman zu übertragen“837. Diese Aussage gilt nicht nur für das Spätwerk Manns, sondern sie charakterisiert den Einsatz von Leitmotivik, der seine Romane seit den Bud-

|| 836 Mann, Thomas: On Myself. S. 179. 837 Brief Manns an Theodor W. Adorno vom 30.12.1945. In: Briefe 1937–1947. S. 471.

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denbrooks maßgeblich prägt. Angelehnt an die Technik Richard Wagners, seine Figuren jeweils mit einer immer wiederkehrenden Erkennungsmelodie zu versehen, arbeitet Thomas Mann mit wiederkehrenden Motiven, die Figuren, Schauplätze und Sinnzusammenhänge eindringlich charakterisieren und sie wiedererkennbar machen. Im Vergleich zum musikalischen besteht das epische Leitmotiv […] aus einem identischen textlichen Grundelement – Adjektiv oder Substantiv, aber auch Verbindungen von beiden sind häufig. Zum Leitmotiv wird das Grundelement aber erst dadurch, daß es wiederholt wird und so als identisches Element in verschiedenen Bedeutungs- und Sinnzusammenhängen auftaucht. Auf diese Weise verdichten sich viele verschiedene semantische Dimensionen und Schichten und werden zum Kontext der leitmotivischen Einheit.838

Als immer wiederkehrendes Textelement erzeugt das Leitmotiv ein dichtes Netz von Beziehungen, bei dem alles mit allem zusammenzuhängen scheint. Ebenso wie beim mythischen Erzählen wird so eine geschlossene Ganzheit suggeriert, die eine Art Mikrokosmos der Erzählung konstituiert. Obwohl Thomas Mann in allen seinen Erzählungen Leitmotive verwendet, kann man dennoch eine Veränderung im Umgang mit diesen feststellen: während sie noch im Tod in Venedig dazu dienen, die Erzählung immer weiter zu verdichten und eine atmosphärische Geschlossenheit zu erzeugen, wird diese Technik im Joseph so deutlich sichtbar gemacht und dabei ironisiert, dass sie einen distanzierenden Effekt erzielt. In Abgrenzung zu Kristiansen, der davon ausgeht, dass in der JosephTetralogie „mythisch erzählt“839 wird, kann man daher genau umgekehrt feststellen, dass die Leitmotivtechnik als Element des mythischen Erzählens dort kritisch entlarvt wird. Dies soll im Folgenden anhand eines Vergleichs zwischen dem Einsatz der Leitmotivik im Tod in Venedig und im Joseph nachvollzogen werden. Abgesehen von der motivischen Verbindung, in der die mythischen Bezüge der Figuren im Tod in Venedig stehen, sticht hier vor allem die Leitmotivik ins Auge, die mit der Physiognomie der Figuren zusammenhängt.840 In einer tabel-

|| 838 Kristiansen, Børge: Art. Das Problem des Realismus bei Thomas Mann. Leitmotiv – Zitat – Mythische Wiederholungsstruktur. In: Koopmann, Helmut (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch. 3. akt. Aufl. Frankfurt a. M. 2005. S. 823–835. Hier: S. 829f. 839 Ebd. S. 833f. 840 Vgl. dazu auch Dierks Analyse der „motivisch zu wertenden Gestaltenreihe“ und die Auflistungen bei Bernhard Meier. In: Dierks, Manfred: Mythos und Psychologie. S. 20; Meier, Bernhard: Gustav von Aschenbachs Verfall. S. 8f.

Entlarvungspsychologie und ironisches Spiel: Thomas Mann | 369

larischen Darstellung lassen sich beispielsweise die immer wiederkehrenden Attribute, die den drei Todesfiguren zugeschrieben werden, gut nachvollziehen: Attribut

Fremder

Gondoliere

Bänkelsänger

‚mager‘

„mager“ (502)

„schmächtig“ (525)

„mager und ausgemergelt“ (572f.)

‚bartlos‘

„bartlos“ (502)

„Schnurrbart“ (525)

„bartlosen Zügen“ (573)

‚stumpfnäsig‘

„auffallend stumpfnäsig“ (502)

„kurz aufgeworfene Nase“ (525)

„stumpfnäsiges Gesicht“ (573)

‚rothaarig‘

„zum rothaarigen Typ“ (502)

„rötliche Brauen“ (525)

„roten Haars“ (573)

‚fremdländisch‘

„nicht bajuwarischen Schlages“ (502)

„nicht italienischen Schlages“ (525)

„nicht venezianischen Schlages“ (573)

‚gerunzelte Brauen‘

„zwei senkrechte energische Furchen“ (503)

„Brauen gerunzelt“ (525)

„Furchen […] zwischen seinen Brauen“ (573)

‚Zähne‘

„weiß und lang“ (503) „weiße Zähne“ (525)

„starken Zähne“ (574)

‚Adamsapfel‘

„Adamsapfel stark und nackt“ (503)

„groß und nackt wirkendem Adamsapfel“ (573)

‚Wildheit‘/ ‚Brutalität‘

„hatte seine Haltung etwas […] Wildes“ (503)

„brutaler Physiognomie“ (524); „verwegen“ (525)

„brutal und verwegen“ (573)

Die immer wiederkehrenden Attribute zeigen die Identität der drei verschiedenen Figuren auf und stehen in engem Bezug zu deren Bedeutung als mythische Todesfiguren. Ihre Physiognomie gleicht der eines Skelettes und ihre Gesichtszüge ähneln einem Totenschädel: sie sind mager und fast haarlos, die Nase ist wie bei einem Schädel ‚stumpf‘ und die Zähne sind außergewöhnlich sichtbar. Der „finstere Blick“ und die gerunzelten Brauen sind außerdem ein fester Bestandteil der Todesfiguren aus der griechischen Mythologie.841 Zudem sind sie alle ‚fremdländisch‘, was – wie bereits erwähnt – mit ihrer Rolle als Vorboten des ‚fremden Gottes‘ Dionysos zu tun hat. Die rötliche Haarfarbe könnte auf die Konnotation von Rot als Farbe des Blutes und – im christlichen Kontext – als Farbe Satans zurückzuführen sein, wozu die Betonung des Adamsapfels passt, die auf die Sündenfallgeschichte anspielt. Ein weiteres Vorbild für die Gestal|| 841 Vgl. Art. Charon. S. 1107.

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tenreihe, das in der Forschung bisher übersehen wurde, findet sich in Platons Phaidros, dessen Funktion für den Tod in Venedig im Folgenden noch thematisiert wird.842 Sokrates beschreibt dort das ‚Seelengespann‘, das aus einem Wagenlenker, einem guten Pferd und einem schlechten Pferd besteht. Das schlechte Pferd, das für Triebhaftigkeit und Begierde steht, teilt auffallend viele Attribute mit den Todesfiguren: es ist „schlecht gebaut“, „glasäugig und rot unterlaufen“ und „mit aufgeworfener Nase“ und „Wildheit“843 ausgestattet. Auch hier wäre also eine motivische Beziehung denkbar, die die Todesfiguren mit dem Element der sinnlichen Begierde in Zusammenhang bringt. Die einmal eingeführten Leitmotive werden aber nicht nur auf die drei Figuren begrenzt, sondern auch auf andere Figuren übertragen oder in Kontrast zu diesen gesetzt. So haben beispielsweise alle drei Todesfiguren starke Zähne, während Aschenbach an Tadzio sofort auffällt, dass dieser keine guten Zähne hat: Er hatte jedoch bemerkt, daß Tadzios Zähne nicht recht erfreulich waren: etwas zackig und blaß, ohne den Schmelz der Gesundheit und von eigentümlich spröder Durchsichtigkeit, wie zuweilen bei Bleichsüchtigen. Er ist sehr zart, er ist kränklich, dachte Aschenbach.844

Auch der falsche Greis, der auf das Schicksal Aschenbachs vorausdeutet, hat keine guten Zähne: sein „gelbes […] Gebiß“ ist ein „billiger Ersatz“845, das ihm zu allem Überfluss auch noch aus dem Mund fällt. Aschenbachs Zähne scheinen ebenso der „kosmetischen Kunst“846 zu bedürfen, wie der Friseur kritisch anmerkt. Während die Todesfiguren also paradoxerweise mit starken, gesunden Zähnen ausgestattet sind, lässt der Zustand von Tadzios und Aschenbachs Zähnen auf Kränklichkeit und Verfall schließen. Dennoch wird die Verbindung zwischen den Figuren über das physiognomische Motiv hergestellt und dank seiner leitmotivischen Wiederholung und Besetzung mit den Todesfiguren assoziiert. Ein weiteres Beispiel für diese geheime Verbindung der Figuren untereinander sind die gerunzelten Brauen und der finstere Blick, den sowohl Tadzio als auch Aschenbach mit den Todesfiguren teilen: Tadzio hat bei einer Begegnung am Strand „seine Brauen […] so schwer gerunzelt, daß unter ihrem Druck die Augen eingesunken schienen und böse und dunkel darunter hervor die

|| 842 Vgl. Kap. 4.2.2.4. 843 Platon: Phaidros. 253 d. 844 Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 541. 845 Ebd. S. 519. 846 Ebd. S. 585.

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Sprache des Hasses führten“847, und auch Aschenbach wird hin und wieder mit „finsteren Brauen“848 beschrieben. Dazu kommt noch die Ebene der mythischen Zuschreibungen, die – wie bereits gezeigt849 – ebenfalls untereinander verknüpft sind: man denke beispielsweise an die Bezüge zu Hermes und Thantatos, die Tadzio mit den Todesfiguren teilt. Die mit der Physiognomie der Figuren verbundene Leitmotivik etabliert die Präsenz des Todes vom Beginn der Erzählung bis zu ihrem Ende und erfüllt damit die Funktion einer „Allegorisierung“850 des ansonsten realistisch Erzählten, wie Børge Kristiansen argumentiert: Indem das Leitmotiv alles miteinander in Beziehung setzt, alles grundsätzlich für alles eintreten und stehen kann, entindividualisiert es auch und verwischt so in der Kunst die Grenze zwischen den Phänomenen, die in der Lebenswirklichkeit sowohl in zeitlicher als auch räumlicher Hinsicht klar und eindeutig voneinander unterschieden sind […]. Das gilt auch, wo das Leitmotiv zur Charakterisierung der fiktiven Figuren verwendet wird. Diese werden durch die leitmotivisch wiederholten Merkmale auf etwas Gemeinsames bezogen, und der Blick des Lesers wird somit in der epischen Welt der unterschiedenen Realitäten auch immer eine allen empirischen Zeit- und Raumbezügen enthobene Transpersonalität und Synchronizität der Dinge wahrnehmen.851

Der Einsatz der Leitmotivik erzeugt ein dichtes Netz an Bezügen, das der Leser im Verlauf des Textes zu entschlüsseln lernt. Am hier gewählten Beispiel der physiognomischen Attribute lässt sich der dadurch erzeugte Effekt gut beobachten: die immer wiederkehrenden Charakteristika verbinden die drei Gestalten über die Erzählung hinweg und machen sie als prophetische Figuren erkennbar, die auf Aschenbachs nahenden Tod verweisen. Die permanente Präsenz der nun symbolisch aufgeladenen Attribute baut eine Drohkulisse auf, die immer stärker empfunden wird, je öfter diese Attribute wiederholt werden. Durch die Übertragung der Motive auf Tadzio und Aschenbach wird das Motivnetz so omnipräsent, dass man davon sprechen kann, dass alles mit allem in Beziehung steht. Die Figuren sind zudem allein durch ihre Rolle bestimmt und dank der immer wiederkehrenden gleichen Zuschreibungen miteinander identifizierbar, so dass kaum Raum für individuelle Charakteristika bleibt. Die Leitmotivik erzeugt im Tod in Venedig also ein geschlossenes Motivsystem, das durchaus der Erzähltechnik in mythischen Geschichten angeglichen ist.

|| 847 Ebd. S. 537. 848 Ebd. S. 522. 849 Vgl. Kap. 4.2.1.1. 850 Kristiansen, Børge: Das Problem des Realismus bei Thomas Mann. S. 830. 851 Ebd.

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Demgegenüber wird im Joseph die gleiche Erzähltechnik einer ironischen Brechung unterworfen, so dass eine gewisse Distanz zum solchermaßen ‚mythischen‘ Erzählen geschaffen wird. Die gesamte Tetralogie ist ebenso engmaschig von Leitmotiven durchzogen wie der Tod in Venedig. Angefangen von der allgegenwärtigen Augen-Motivik, die Rahels Kinder mit den „lieblichen Augen“ von denen Leas trennen, die stets entzündet sind852, bis hin zu den stehenden Motiven, die den zwölf Brüdern zugeordnet werden. Ruben ist wie „dahinschießendes Wasser“, Gad ist „gerade“, Ascher ist „naschhaft“853 – diese Attribute werden als eine Art Wagnersche Erkennungsmelodie eingesetzt, die alle zwölf Brüder über die vier Romane hinweg leicht identifizierbar und wiedererkennbar macht. Auch übergreifende Motivkomplexe, wie beispielsweise das ‚Nachkommenlassen‘ und die bereits erwähnte Hadesfahrt durchziehen als wiederkehrende Themen die Tetralogie. Auch wenn Thomas Mann gesteht, sein Verfahren im Joseph „Wagners grandiose[m] Motivbau“854 angeglichen zu haben, sieht er die Funktion von Leitmotiven nun jedoch durchaus kritisch. Bereits in seinem frühen Aufsatz Das Theater als Tempel (1907) bezeichnet er das Wagnersche Leitmotiv als „Monstranz“855, das die Kunst in eine gefährliche Nähe zum Religiösen rückt. Der nichtironische, pathetische Einsatz von Leitmotivik mache den Künstler zum „Bruder des Priesters“856: Eine Kunst der Sinnlichkeit und des symbolischen Formelwesens (denn das Leitmotiv ist eine Formel – mehr noch, es ist eine Monstranz, es nimmt eine fast schon religiöse Autorität in Anspruch) führt mit Notwendigkeit ins zelebrierend Kirchliche zurück, ja, ich glaube, daß die heimliche Sehnsucht, der letzte Ehrgeiz des Theaters der Ritus ist […].857

Diese frühe Kritik an der Funktion des Leitmotivs – fünf Jahre vor der Abfassung des Tod in Venedig – steht im Kontrast zu der eben analysierten Rolle der Leitmotivik im Kontext des mythischen Erzählens. Anders als beispielsweise schon in den Buddenbrooks werden die wiederkehrenden Motive hier nicht ironisch gebrochen oder durch Übertreibung ins Lächerliche gezogen. Gerade in Kombination mit den mythischen Bezügen entfaltet die Leitmotivik im Tod in Venedig

|| 852 Vgl. z.B. Mann, Thomas: Joseph I. S. 471. 853 Eine Übersicht der stehenden Motive findet sich bei Kurzke, Hermann: Mondwanderungen. S. 71f. und bei Fischer, Bernd-Jürgen: Handbuch Joseph. S. 164. 854 Mann, Thomas: Sechzehn Jahre. S. 373. 855 Mann, Thomas: Das Theater als Tempel. S. 121. 856 Ebd. S. 122. 857 Mann, Thomas: Leiden und Größe Richard Wagners. S. 14.

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genau jene ‚Kunst des symbolischen Formelwesens‘, die Thomas Mann in seinem Aufsatz kritisiert: die Geschlossenheit des motivischen Systems lässt die beschworenen Mächte des Irrationalen, ‚Dionysischen‘ als durchaus reale Bedrohung erscheinen, vor der es für den Protagonisten kein Entrinnen gibt. Im Laufe seiner Auseinandersetzung mit dem modernen Mythosdiskurs beginnt Thomas Mann jedoch, eben jene Rolle des Mythos als Verbildlichung des Irrationalen mit einer anti-aufklärerischen Haltung in Verbindung zu bringen und sucht nach literarischen Strategien, um diese zu entschärfen. Sein Verfahren, dem Leitmotiv seine ‚religiöse Autorität‘ zu nehmen, ist der Humor.858 In der Joseph-Tetralogie setzt er Leitmotivik zwar in Anlehnung an Wagners Operntechnik exzessiv ein, aber er bricht die Geschlossenheit dieses Systems, indem er den Motiven eine humoristische Note verpasst oder sie durch Ironie entlarvt. Die immer wiederkehrende „Neigung zur Lidentzündung“859 bei Lea und ihren Sprösslingen hat zwar auch einen gliedernden und identitätsstiftenden Effekt – aber hauptsächlich regt die Häufigkeit ihrer Erwähnung zum Lachen an. Das Verfahren der humoristischen Entlarvung lässt sich besonders gut anhand der Leitmotive nachvollziehen, die Thomas Mann aus seiner Auseinandersetzung mit dem philosophischen Mythosdiskurs entnommen hat. Gerade die Mythos-Analysen Johann Jakob Bachofens, dessen Interpreten Baeumler und Klages Thomas Mann zum Inbegriff der ‚Irrationalisten‘ stempelt, werden im Joseph motivisch verarbeitet und einer ironischen Brechung unterzogen. Der immer wiederkehrende Motivkomplex der Gestirns-Metaphorik bietet sich als Ausgangspunkt der Analyse an. Sonne und Mond fungieren im Joseph in Anlehnung an Bachofens Einteilung als Repräsentanten für die mutterrechtliche und die vaterrechtliche Sphäre – ganz ähnlich wie in Hermann Hesses Narziß und Goldmund, jedoch mit einem ironischen Hintergrund. Der Mond steht metaphorisch für den „mütterlichmondmythischen Kultus“, die Sonne dagegen für die „Religion des männlichväterlichen Lichtes“860, die in Abrahams Gottesbund und Echnatons Sonnenverehrung ihren Ausdruck findet. Diese Einteilung findet Thomas Mann bei Bachofen vorgeprägt, der jedoch darüber hinaus noch zwei unterschiedliche Rollen der Mondverehrung unterscheidet. Der Mond ist bei Bachofen einerseits ein rein mütterliches Symbol, das „in den Bereich des Stoffes und der vergänglichen

|| 858 Zur Differenzierung zwischen Humor und Ironie bei Thomas Mann vgl. Kap. 4.2.2.4. 859 Mann, Thomas: Joseph I. S. 195. 860 Mann, Thomas: Leiden und Größe Richard Wagners. S. 48.

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Erdnatur“861 gehört, aber er nimmt andererseits auch die Rolle eines Mittlers zwischen der ‚weiblich-stofflichen‘ Erde und der ‚männlich-geistigen‘ Sonne ein: Das reine außereheliche Naturrecht ist das tellurische Prinzip, das reine Vaterrecht das Sonnenprinzip. In der Mitte zwischen beiden steht der Mond, die Grenzscheide der tellurischen und der solarischen Religion. […] [Er ist] androgyn, Luna und Lunus zugleich, weiblich gegenüber der Sonne, männlich hinwieder gegenüber der Erde […]. Er hält so die Gemeinschaft des Weltalls, ist der Dolmetsch der Unsterblichen und der Sterblichen.862

Beide Interpretationsweisen des Mondes stehen jedoch in einem ‚stofflichen‘ Verhältnis zur Sonne, die bei Bachofen als „unkörperliches, geistiges Prinzip“863 gilt. Auf diese Einteilung bezieht sich auch die Sonnen- und Mond-Metaphorik im Joseph. Gleich im Vorspiel wird der Mond in seinen zwei Funktionen als Motiv eingeführt: er ist zum einen das mütterliche Gestirn der Iŝtar864 und zum anderen der Patron des Erzählers, der in einer Mittelstellung zwischen mütterlichem und väterlichem Prinzip steht: Als des „Erzählers Gestirn“865 ist er das „kosmische Gleichnis allen Mittlertums“866. In der Eröffnungs-Szene jedoch steht der Mond, dem Joseph verbotenerweise „Kusshände“867 zuwirft, noch im Zeichen der ‚mütterlichen‘ Bedeutung. In dieser ersten Szene des Romans sitzt Joseph in einer Mondnacht am Brunnen und verehrt das mütterliche Gestirn: Jetzt schien er Andacht zu verrichten, denn, das Gesicht emporgewandt, zum Monde, der es voll beschien, hielt er die beiden Oberarme an den Flanken, die unteren aber aufgerichtet, mit offen nach außen und oben gekehrten Handflächen, und während er sich im Sitzen leicht hin und her schaukelte, gab er halbe, singende Stimme zu Worten oder Lauten, die er mit den Lippen bildete.868

Er führt eine „leise Zweisprache mit dem hohen Gestirn“869 und hat sein Hemd dazu ausgezogen, weil er „es süß und hoffnungsvoll“ findet, „dem Monde, dem er sich horoskopisch und durch allerlei Ahnung und Spekulation verbunden“

|| 861 Bachofen, Johann-Jakob: Mythos von Orient und Occident. S. 300. 862 Ebd. S. 255. 863 Ebd. S. 218. 864 Vgl. Mann, Thomas: Joseph I. S. X. 865 Ebd. S. 52. 866 Mann, Thomas: Schopenhauer. S. 259. 867 Vgl. Mann, Thomas: Joseph I. S. 7. 868 Ebd. 869 Ebd. S. 10.

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fühlt, „seine junge Nacktheit darzustellen in der Überzeugung, dieser werde Gefallen daran haben“870. So findet ihn Jakob vor, als er über seine „kultische Entblößung“ und die dazugehörigen „halbdunklen Gesinnungen“ nachdenkt: Außerdem war Joseph, wie er wußte und von jedermann hörte, hübsch und schön – eine Verfassung, die ein gewisses weibliches Bewußtsein ohnedies in sich schließt; und da ‚schön‘ das Beiwort war, das man vor allem auf den Mond, und zwar auf den vollen, unverdunkelten und unverhüllten, anzuwenden pflegte […], so flossen ihm die Denkbilder ‚schön‘ und ‚nackt‘ fast ohne Unterschied ineinander über, und es schien ihm klug und fromm, die Schönheit des Gestirns, mit der eigenen Nacktheit zu beantworten, damit Vergnügen und Bewunderung gegenseitig seien.871

Josephs Mondverehrung, die klar im Zeichen des ‚Stofflich-Mütterlichen‘ steht, findet keinen Anklang bei Jakob, der zu Recht fürchtet, er habe beobachtet, wie Joseph „den Gestirnen Kußhände zuwarf“872. Dieses Verhalten ist für den frommen Vater ein Zeichen „religiösen Rückfalls“873 in heidnisch-mutterrechtliche Kulte, das sein Vorbild in der Unschuldsbeteuerung Hiobs hat, der vor Gott vehement verneint, dem „Mond“ jemals „Küsse zu[geworfen]“874 zu haben. Joseph entzieht sich Jakobs Vorwurf, indem er ebenso schleunigst beteuert, gar nicht daran zu denken, dem Mond „auch nur die kleinste und versteckteste Kußhand [zu]zu werfen“875 – denn schließlich leuchte er ja nur durch Gottes Kraft. Josephs ironischer Kommentar zu Jakobs Sorge, der mit dem Hiob-Zitat eine gewisse religiöse Autorität verliehen wird, zeigt das spielerische Verhältnis des Jüngeren zu Mythos und Religion. Er nimmt es mit der Frömmigkeit nicht allzu ernst und zieht sich dadurch aus der Affäre, dass er den mütterlichen Mond – genau wie in Bachofens Analyse – als abhängiges Gestirn beschreibt, das erst durch die Kraft der väterlichen Sonne leuchtet. Geschickt stellt er den jüdischen Gott an die Stelle der väterlichen Sonne, wenn er behauptet, dass der Mond nur durch ‚Gottes Kraft‘ leuchte. Jakob entgeht die ironische Konnotation dieser Behauptung, die Gott mit den vielen ‚heidnischen‘ väterlichen Sonnengöttern gleichsetzt. Der Mond als Leitmotiv bleibt über den ganzen Roman hinweg mit Joseph verbunden und gehört fest zu seiner Tammuz/Adonis-Rolle, die ja an die mütterlich-weibliche Göttin Iŝtar/Aphrodite geknüpft ist. In Einheit und Austausch || 870 Ebd. S. 25. 871 Ebd. S. 25f. 872 Ebd. S. 46. 873 Ebd. 874 Hiob 31, 27. Vgl. zu dieser Stelle auch Karthaus, Ulrich: Poetische Theologie. S. 127 875 Mann, Thomas: Joseph I. S. 47.

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mit der Göttin setzt er sich beispielsweise im Brunnen selbst mit dem verdunkelten Neumond gleich, der erst nach drei Tagen wieder sichtbar wird.876 Auch in seiner Mittlerrolle wird der Mond motivisch mit Joseph verknüpft – aber bezeichnenderweise erst, als dieser sich von seiner Tammuz/Adonis-Identifikation wegbewegt und im Dienste Pharaos die Rolle des Hermes annimmt. Hier wiederholt der Erzähler dann sogar wörtlich die eben zitierte Stelle bei Bachofen, in der er das Mittlertum des Mondes beschreibt – er spricht von einem […] zweideutigen, in seinem Sonnenverhältnis weiblichen, seiner Erdbeziehung aber männlichen Gestirn, das kraft dieses Doppelsinns eine gewisse Einheit des Weltalls verbürgt und zum Dolmetsch zwischen Sterblichen und Unsterblichen taugt.877

Zu eben jenem mondhaften ‚Dolmetscher‘ wird Joseph im Dienste Pharaos, der selbst dem Sonnenkult anhängt. Er vermittelt zwischen ihm und seinem Volk, ebenso wie er dem so sehr ‚durchgeistigten‘ jungen König in seiner geschickten Traumdeutung die Auswüchse seines Unterbewussten zu übersetzen vermag. Daher attestiert Echnaton dem Joseph, er sei ein Vermittler „wie der Mond zwischen Pharao, unserer schönen Sonne, und der unteren Erde“878. Pharao selbst dagegen ist ein Verehrer der väterlichen Sonne, mit dessen ‚Geistigkeit‘ es jedoch nicht allzu weit her ist: Echnaton, den Thomas Mann historisch nicht ganz korrekt zum Vorbild des Pharaos wählt, zitiert zwar reichlich aus Bachofens Symbol-Fundus zum Vaterrecht, ist aber eigentlich der Inbegriff des ‚Muttersohnes‘879 und zieht die Motive damit ins Lächerliche. So träumt Echnaton beispielsweise vom Phönix als Symbol des mutterlosen Vaters und debattiert äußerst ausführlich über das Phönix-Ei, in das der Vogel seinen verstorbenen Vater eingeschlossen habe, um es auf dem Sonnenaltar zur Wiedergeburt niederzulegen. Das Besondere daran sei, dass das Ei dabei „nicht schwerer werde“ und somit als Beweis dafür dienen könne, dass es „unstoffliche Körper“880 gebe: [E]s gab das Geistige; und dies Geistige war ätherisch verkörpert in dem Bennu-Vater, den das Myrrhen-Ei aufnahm, indem es dadurch seinen Charakter als Ei in der aufregendesten und bedeutsamsten Weise veränderte. Das Ei überhaupt war ein Ding entschieden weibli-

|| 876 Vgl. ebd. S. 571. 877 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1280. Vgl. dazu die eben zitierte Stelle bei: Bachofen, JohannJakob: Mythos von Orient und Occident. S. 255. 878 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1545. 879 Vgl. ebd. S. 1608. Zur Figur Echnatons vgl. auch Dierks, Manfred: Mythos und Psychologie. S. 184ff. 880 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1453.

Entlarvungspsychologie und ironisches Spiel: Thomas Mann | 377

cher Spezifität, einzig die Weibchen unter den Vögeln legten Eier, und nichts konnte mütterlich-weiblicher sein als das große Ei, aus dem einst die Welt hervorgegangen. Bennu aber, der Sonnenvogel, mutterlos und sein eigener Vater, formte sein Ei selbst, ein GegenWeltei, ein männliches Ei, ein Vater-Ei und legte es als eine Kundgebung von Vatertum, Geist und Licht auf dem Alabaster-Tisch der Sonnengottheit nieder.881

In einer Verballhornung Bachofens lässt der Erzähler den jungen Pharao vom ‚Vater-Ei‘ schwärmen, das zur Rechtfertigung seiner neuen Aton-Religion herhalten muss. Sein gelehrtes Schwadronieren ist eine humoristische Version des Textes von Bachofen, der in Versatzstücken direkt zitiert und neu kompiliert wird. Bachofen interpretiert den „Mythos vom Phoenix-Ei“ als „Symbol der unstofflichen Geistigkeit des Mannes“882 – in Thomas Manns Exemplar mit Ausrufezeichen versehen – und betont ebenfalls, dass das Ei an Gewicht nicht zunehme. Damit sei der Phoenix gleichbedeutend mit der „Idee der großen Lichtmacht in ihrer reinsten Unkörperlichkeit“883, wie sie von Echnaton in Gestalt des Aton verehrt wird. Dies steht in komischem Kontrast zur Gestalt Pharaos selbst, der vom Erzähler als sinnlich überreizter ‚Muttersohn‘ inszeniert wird. Der ganze Hof nennt ihn bei seinem Kosenamen „Meni“, er schläft in einer kissenreichen „kunstgewerblichen Bettstatt“884, sitzt in „überbequemen Stühlen“885, verzehrt „gebratene Taube[n]“ und „Zuckerwerk“886 und weint gerne beim Gedanken an „Mäuslein“ und an das „Küchlein“, das „schon in der Schale piept“887. Er lebt außerdem in einem reinen Frauenhaushalt: Erwägt man, daß an der Spitze des Sonnenhauses noch immer Teje, die große Mutter stand; daß Königin Nefertiti eine Schwester hatte: Nezemmut; daß auch dem Könige eine Schwester lebte, die süße Prinzessin Baketatôn, und daß dazu im Lauf der Jahre die sechs Königstöchter sich aufreihten, so wird man eines wahren Weiberhofes ansichtig, in welchem Meni das anfällige Hähnchen im Korbe machte, und der zu seinen Phönix-Träumen vom unstofflichen Vatergeiste des Lichts in eigentümlichem Widerspruch stand.888

Während Freud in Der Mann Moses Echnatons neue Aton-Religion zum Vorläufer des Monotheismus erklärt889, ist der junge Pharao im Joseph „der Rechte

|| 881 Ebd. S. 1608. 882 Bachofen, Johann-Jakob: Mythos von Orient und Occident. S. 308. 883 Ebd. S. 257. 884 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1453. 885 Ebd. S. 1514 886 Ebd. S. 1451. 887 Ebd. S. 1528. 888 Ebd. S. 1608. 889 Vgl. Freud, Sigmund: Der Mann Moses. S. 42ff.

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nicht für den Weg“890 und als Person dazu ungeeignet, eine neue monotheistische Vater-Religion einzuführen. Dieser Widerspruch zwischen Echnatons Leben und seinen Gedanken erzeugt eine Komik, die den gesamten Motivkomplex der Bachofenschen Gestirns-Metaphorik ins Lächerliche zieht und so seine Wirkmacht ironisch entkräftet. Ein weiteres Beispiel für an Bachofen angelehnte Leitmotivik, das gerne und ausführlich in der Joseph-Forschung analysiert wird, ist das Gespräch zwischen Huji und Tuji, in dem es vor Bachofen-Bezügen nur so wimmelt. Auch hier werden Motive aus Bachofens Schriften teils wörtlich übernommen, aber so weit überzogen, dass sie ins Lächerliche kippen: man denke nur an die Kreativität der beiden ‚Elterlein‘, sich gegenseitig mit immer neuen Sumpftier-Kosenamen zu bedenken, um ihre Zugehörigkeit zur tellurisch-mutterrechtlichen Sphäre zu bekunden.891 Thomas Manns Einsatz von Leitmotivik im Joseph ist seinem Umfang nach durchaus mit dem ‚Wagnerschen Motivbau‘ zu vergleichen, unterscheidet sich jedoch von jenem durch den humoristischen Einschlag, mit dem die verwendeten Motive durchweg versehen werden. Gerade im Vergleich zum Tod in Venedig wird deutlich, dass das gleiche Verfahren ohne Ironisierung ein geschlossenes System erzeugt, während die humoristische Wendung der Motive im Joseph eine Distanz zu diesem System schaffen. Durch die Komik, die die ständige Wiederholung von Leitmotiven auslöst, und durch das Lächerlich-Machen der Motive selbst wird die auf Geschlossenheit und Ernsthaftigkeit beruhende mythische Erzähltechnik durchbrochen. 4.2.2.2 Typisierung und Individualität Auch in Bezug auf die Figuren-Charakterisierung wird im Joseph die mythische Typisierung zunehmend durchbrochen. Alle Romanfiguren im Joseph wandern zunächst ‚in Spuren‘892 und beziehen ihr eigenes Leben – stärker oder weniger stark determiniert – auf mythische Vorbilder, die ihnen als Typenvorlagen dienen. Ihre eigene Identität ist stets „durchscheinend für immer ältere Vergangenheiten“893: indem sie ihr Verhalten an vorgeprägte mythische Rollen angleichen, scheinen sie Thomas Manns Mythosdefinition vom „Typischen“, das „auch schon das Mythische“894 sei, zu erfüllen. Was die Romanfiguren jedoch

|| 890 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1543. 891 Vgl. Mann, Thomas: Joseph II. S. 881ff.; Bachofen, Johann-Jakob: Mythos von Orient und Occident. S. 175.; 892 Vgl. Mann, Thomas: Joseph II. S. 844. 893 Mann, Thomas: Joseph I. S. 395. 894 Mann, Thomas: Freud und die Zukunft. S. 492.

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voneinander unterscheidet, ist der Grad an Bewusstheit und Reflexion, mit dem sie mit ihrer mythischen Vorlage umgehen und wie frei oder gebunden sie im Spiel mit dieser Vorlage sind. Dies wird in den Romanen anhand der Generationenfolge unterschieden: so werden beispielsweise die Figuren, die wie Isaak, Laban oder Eliezer der ‚Großvätergeneration‘ angehören, als fest gebunden an ihre mythischen Vorbilder dargestellt. Jakob dagegen beginnt sich schon aus diesen Bindungen zu lösen, indem er mehrere Rollen zur Identifikation nutzt. Einige Figuren der dritten Generation, wie Joseph und Ruben, befreien sich schließlich aus den vorgegebenen Mustern und wählen frei zwischen verschiedenen Identitäten. Josephs Großvater Isaak versteift sich so sehr darauf, der beinahe geopferte Sohn Abrahams zu sein, dass er sich im Sterben vollkommen mit dem Widder identifiziert, der an ‚seiner‘ Stelle bzw. an der Stelle seines mythischen Vorbildes, geopfert wurde: Jizchak, Abrahams Sohn, […] redete in der Weihestunde des Todes vor Jaakob und allen, die die da waren, in hohen und schauerlichen Tönen, seherisch und verwirrt, von ‚sich‘ als von dem verwehrten Opfer und von dem Blute des Schafbocks, das als sein, des wahrhaften Sohnes, Blut habe angesehen werden sollen, vergossen zur Sühne für alle. Ja, dicht vor seinem Ende versuchte er mit dem sonderbarsten Erfolge wie ein Widder zu blöken, wobei gleichzeitig sein blutloses Gesicht eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der Physiognomie dieses Tieres gewann […], dergestalt, daß alle sich entsetzten und nicht schnell genug auf ihr Angesicht fallen konnten, um nicht zu sehen, wie der Sohn zum Widder wurde, während er doch, da er wieder zu sprechen anhob, den Widder Vater nannte und Gott.895

Unverkennbar sieht sich Isaak in der Rolle des Sohnesopfers, das Freud zufolge als Sühne des Vatermordes auf das symbolisch getötete Totemtier folgt. Seine übersteigerte Identifikation mit Isaak, der schließlich viele Generationen vor ihm gelebt hat, wird mithilfe von Freuds Theorien aus Totem und Tabu ironisiert. So wie bei Freud vorgegeben, fordert er, man solle nach seiner ‚Opferung‘ eine „Festmahlzeit halten“896, die an den vorangegangenen Mord am „gottväterliche[n] Tier“897 erinnert, und verbindet diese Totemmahlzeit ebenso wie Freud mit der christlichen Kommunion: ‚Siehe, es ist geschlachtet worden‘, hörte man ihn röcheln, faseln und künden, ohne daß man gewagt hätte, nach ihm zu schauen, ‚der Vater und das Tier an des Menschen Statt

|| 895 Mann, Thomas: Joseph I. S. 140f. 896 Ebd. S. 141. Vgl. Freud, Sigmund: Totem und Tabu. S. 424. 897 Mann, Thomas: Joseph I. S. 141.

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und des Sohnes, und wir haben gegessen. Aber wahrlich, ich sage euch, es wird geschlachtet werden der Mensch und der Sohn statt des Tieres und an Gottes Statt, und aber werdet ihr essen.‘ Dann blökte er noch einmal naturgetreu und verschied.898

Isaak verkündet mit den Worten Jesu (‚ich aber sage euch‘) die zukünftige Opferung des ‚Menschensohnes‘ als ‚Sühne für alle‘, die Freud zufolge in der Tradition des urzeitlichen Vatermords steht. Freuds Theorie, die Thomas Mann intensiv rezipiert hat899, wird hier genutzt, um die übermäßige Rollenidentifikation Isaaks lächerlich zu machen, der den Zusammenhang des Tieropfers als symbolische Repräsentanz des Menschenopfers nicht versteht und so in der Rolle des Opferwidders stecken bleibt. Auch Laban ist so fest mit seiner Rolle als „betrogene[m] Teufel“900 verbunden, dass er sich willig von Jakob und Rahel betrügen lässt. Jakob dagegen ist schon freier im Umgang mit seinen mythischen Vorbildern. Er identifiziert sich je nach Situation mal mit Abel, mit Abraham oder Hiob oder gar mit Iŝtar und dem Gottvater. Im Verhältnis zu seinem Bruder ist er der friedliebende Hirte, Esau hingegen der kriegerische Jäger. Sie entsprechen dem Typus des ‚Glatten‘ und des ‚Roten‘, die beide auch in anderen mythischen Kontexten vorkommen. Die Vorlage für diese beiden unterschiedlichen BrüderTypen findet sich bereits in der biblischen Geschichte. Dort heißt es zu Esaus und Jakobs Geburt: Der erste, der herauskam, war rötlich, ganz rauh wie ein Fell, und sie nannten ihn Esau. Danach kam heraus sein Bruder, der hielt mit der Hand die Ferse des Esau und sie nannten ihn Jakob. […] Und als nun die Knaben groß wurden, wurde Esau ein Jäger und streifte auf dem Felde umher, Jakob aber ein gesitteter Mann und blieb bei den Zelten.901

Die Unterscheidung zwischen dem schweifenden Jäger und dem heimatlich verbundenen Schafhirten wird im Roman ausgebaut und erweitert: der Typus des ‚Roten‘ steht nicht nur für Esau, sondern auch für Kain, Seth und Typhon, die alle Inkarnationen des „rote[n] Jäger[s]“902 sind und ihren Hirtenbrüdern Abel und Osiris Böses wollen. Die Identifikation mit dem Typus des ‚glatten‘ Hirtenbruders bleibt aber für Jakob nicht die einzige mythische Vorlage: In Schekem vergleicht er sich mit „Abraham, der von Osten kam und von Ephron

|| 898 Ebd. 899 Vgl. auch die Anstreichungen zur Zusammenfassung der Vatermord-Episode in seinem Exemplar von Der Mann Moses. TMA S. 234ff. 900 Mann, Thomas: Joseph I. S. 323. 901 Gen. 25, 25ff. 902 Mann, Thomas: Joseph I. S. 146.

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den Acker […] kaufte“903, nach dem vermeintlichen Verlust Josephs inszeniert er sich als gottverlassener Hiob und will in die Rolle Iŝtars schlüpfen, die den Geliebten aus der Unterwelt zurückholt.904 Schließlich vergleicht er sich sogar mit dem Gottvater selbst: seine unmäßige Vorliebe für seinen Sohn Joseph im Verhältnis zu seinen anderen Söhnen rechtfertigt er damit, dass ja schließlich auch Gottes „Auserwählung und Bevorzugung einzelner ohne oder jedenfalls über ihr Verdienst […] großherrlich“905 sei. Dabei bezieht er stets seine eigene Erfahrung auf die in den Geschichten vorgeprägte Rollen, ohne sich jedoch gänzlich damit zu identifizieren – er vergleicht eher seine Situation mit dem Vorgegebenen. Auf die Spitze treibt das mythische Identifikationsspiel erst Joseph, der schon als Kind ein ‚Effekthascher‘ ist und seine mythischen Rollen gezielt einzusetzen weiß: in seinem Spiel mit den mythischen Vorlagen zeigt sich sein „Sinn für den reinen Effekt“906 und er nutzt seine „hochstaplerische Identifikation“907 bewusst zu seinem eigenen Vorteil. Darin besteht auch der Unterschied zur Jakob, der immerhin noch durch seine Frömmigkeit an die mythischen Geschichten gebunden ist. Joseph dagegen spielt mit dem Mythos im Medium einer humoristischen Distanz, die sogar im denkbar ernstesten Moment erhalten bleibt, als er von den Brüdern in den Brunnen geworfen wird: Verfehlt wäre die Annahme, daß Joseph unter so tödlich ernsten Umständen aufgehört hätte zu spielen und zu träumen, – wenn unter solchen Umständen zu spielen und träumen noch spielen und träumen heißt. Er war Jakobs wahrhafter Sohn, des WürdigSinnenenden, des Mannes mythischer Bildung, der immer wußte, was ihm geschah, der in allem irdischen Wandel zu den Sternen blickte und immer sein Leben ans Göttliche knüpfte. Eingeräumt, daß Josephs Art, seinem Leben durch die Anknüpfung ans Obere Richtigkeit und Wirklichkeit zu verleihen, ein anderes, weniger gemüthaftes, sondern witzigberechnendes Gepräge trug als in Jaakobs Fall […].908

Dieses ‚witzig-berechnende‘ Verhalten zu seinen mythischen Rollen zeichnet besonders Joseph aus, wie ja bereits in Kapitel IV.2.1.1. gezeigt wurde. Aber auch sein Bruder Ruben zeigt einen weit bewussteren Umgang mit seiner mythisch vorgegebenen Rolle als noch die Großväter- und Vätergeneration. Eigentlich zählt er zusammen mit der restlichen Brüderschar zum Typus des ‚Roten‘, der den ‚glatten Bruder‘ verrät und tötet. So werden die Lea-Kinder gerne „die

|| 903 Ebd. S. 115. 904 Vgl. Kap. 4.2.1.1. 905 Mann, Thomas: Joseph I. S. 30. 906 Ebd. S. 15. 907 Brief Manns an Jakob Horovitz vom 11.06.1927. In Briefe III. S. 301. 908 Mann, Thomas: Joseph I. S. 571.

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Rotäugigen“909 genannt. Als sie Joseph in Rahels Kleid kommen sehen, werden ihre „Gesichter rot wie die gewundenen Stämme der Bäume in ihrem Rücken, rot wie die Wüste, dunkelrot wie der Stern am Himmel“910. Während die Brüder jedoch auf Joseph losgehen, beschützt ihn Ruben, weil er sich über seine eigene Kains-Rolle im Klaren ist und sich bewusst davon distanziert: Ich könnte ihn niederstrecken auf immer mit einem einzigen Streich […]. Was aber hätte ich davon? Habel läge erschlagen, und ich wäre, der ich nicht sein will, Kajin, den ich nicht verstehe. Wie kann man gegen seine Überzeugung handeln, gleich Kajin, und sehenden Auges den Angenehmen erschlagen, weil man unangenehm ist?911

Ruben reflektiert also die ihm zugedachte Rolle und wendet sich bewusst von ihr ab. Diese Freiheit erlangt im Laufe der Erzählung erst die Sohnesgeneration, was sich übrigens auch an der Namenswahl ablesen lässt: während Isaak sich mit seinem gegebenen Namen und der damit verbundenen Rollenzuschreibung identifiziert, erringt Jakob im Kampf mit dem Engel seinen neuen Namen Israel.912 Joseph dagegen gibt sich einfach selbst einen neuen Namen, weil er der Ansicht ist, man müsse seinen Namen stets „den Umständen anpassen“913. Erst Joseph hat also die Freiheit, unter den mythischen Typenvorlagen frei zu wählen und sie wie Kostüme zu tragen. Er zeigt ein ästhetisch-spielerisches Verhalten zum Mythos, das charakteristisch für den modernen Künstler ist: so nennt ihn Thomas Mann auch selbst „einen Künstler, insofern er spielt“914. Der Typus des Künstlers wird auch im Tod in Venedig zum Thema gemacht, wenngleich sich die Figuren in dieser Erzählung nicht selbstreflexiv ihrer Rollen bewusst werden. Insbesondere die Nebenfiguren werden hochgradig typisiert dargestellt: weder die drei Todesfiguren noch Tadzio tragen wirklich individuelle Züge. Stattdessen werden sie durch die mythischen Rollen definiert, die ihnen vom Erzähler (oder im Falle Tadzios auch von Aschenbach) zugeschrieben werden. Aschenbach selbst dagegen wird eingehender charakterisiert, aber

|| 909 Ebd. S. 326. 910 Ebd. S. 540. 911 Ebd. S. 477f. 912 Vgl. ebd. S. 43. 913 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1514. 914 Mann, Thomas: Freud und die Zukunft. S. 499. Der Bezug zu Schillers ‚Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen‘ klingt in der Formulierung ‚insofern er spielt‘ an: Bei Schiller heißt es, der Mensch sei „nur da ganz Mensch, wo er spielt“ (Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Fünfzehnter Brief. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8. Theoretische Schriften. Hg. von Rolf-Peter Janz u.a. Frankfurt a. M. 1992. S. 556–676. Hier: S. 614.).

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bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass auch er einen Typus verkörpert. Zwar ist die Hauptfigur von den mythischen Rollenzuschreibungen ausgenommen, die die Charakterisierung der Nebenfiguren prägt, aber dafür wird Aschenbach als exemplarischer Typus des modernen Künstlers inszeniert. Er veranschaulicht die Stellung des Künstlers zwischen Geist und Leben, mit der sich Thomas Mann auch in seiner Essayistik aus der Entstehungszeit des Tod in Venedig theoretisch auseinandersetzt.915 In einem Brief an Paul Amann schreibt er über die Konzeption der Erzählung: Was mir vorschwebte, war das Problem der Künstlerwürde, etwas wie die Tragödie des Meistertums, und hervorgegangen ist die Novelle aus dem ursprünglichen Plan, Goethe’s letzte Liebe zu erzählen […].916

Das ‚Problem der Künstlerwürde‘ liegt für Thomas Mann in der Spannung zwischen den beiden Polen, die in Nietzsches Entgegensetzung von apollinischem und dionysischem Prinzip ausgedrückt sind. Der Künstler bewegt sich auf einem feinen Grat zwischen apollinisch-geistigem Maßhalten und dionysischer Entgrenzung und erscheint in Thomas Manns Konzeption als stets gefährdet, dem irrationalen ‚Leben‘ zum Opfer zu fallen, das im ‚Meistertum‘ zugunsten einer geistigen Kunst unterdrückt wurde. Die beiden Möglichkeiten des Künstlertums bewegen sich für Mann zwischen „Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptisierung, Auflösung“ und „Geist“917 auf der einen Seite und dem ‚Leben‘, das „sittlich indifferent, unverantwortlich und unschuldig“918 ist, auf der anderen Seite. Der Konflikt zwischen diesen beiden Polen ist im Tod in Venedig in Aschenbachs Herkunft metaphorisch ausgedrückt: Seine Vorfahren waren Offiziere, Richter, Verwaltungsfunktionäre gewesen, Männer, die im Dienste des Staates ihr straffes, anständig karges Leben geführt hatten. […]; rascheres, sinnlicheres Blut war der Familie in der vorigen Generation durch die Mutter des Dichters, Tochter eines böhmischen Kapellmeisters, zugekommen. […] Die Vermählung dienstlich nüchterner Gewissenhaftigkeit mit dunkleren, feurigeren Impulsen ließ einen Künstler und diesen besonderen Künstler entstehen.919

|| 915 So beispielsweise in der ‚Auseinandersetzung mit Wagner‘, in ‚Der Literat‘, ‚Gedanken im Kriege‘ und in seinen Notizen zum Thema ‚Geist und Kunst‘. 916 Brief Manns an Paul Amann vom 10.04.1915. In: Briefe II. S. 94. 917 Mann, Thomas: Notizen II. In: GKFA 14,1. S. 211–216. Hier: S. 214. 918 Mann, Thomas: Der Literat. In: GKFA 14,1. S. 354–362. Hier: S. 359. 919 Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 508.

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Aschenbachs Herkunft ist zweigeteilt: seine Vorfahren sind einerseits klassisch bürgerliche Staatsbedienstete, deren ‚straffes, anständig karges Leben‘ zum Inbegriff des Form- und Maßhaltens stilisiert wird. Andererseits stammt er mütterlicherseits von einem ‚Kapellmeister‘ ab, der vage an die immer nahe am Wahnsinn liegenden Künstler- und Kapellmeisterfiguren in der Romantik denken lässt (beispielsweise an Johannes Kreisler aus Hoffmanns Kreisleriana). Die Mischung aus „Zucht und Zügellosigkeit“, die in der Erzählung als typisches „Gepräge des Künstlertums“920 bezeichnet wird, führt in Aschenbachs Fall zu einem unlösbaren Konflikt. Sein ‚Meistertum‘, das auf Arbeitsethos und bürgerlicher Pflichterfüllung beruht, wird durch seine Hingabe an die Verliebtheit in Tadzio unterlaufen und als leere Hülse entlarvt. Aschenbach wird im zweiten Kapitel als moderner Künstler vorgestellt, der unter dem Deckmantel einer neuklassischen Kunstausrichtung seine wahre Natur als Décadent versteckt. Er gibt sich als „geduldige[r] Künstler“, der mit „Fleiß“921 und „Leistung“922 sein klassizistisches Werk „in kleinen Tagewerken aus aberhundert Einzelinspirationen zur Größe emporgeschichtet“923 hat, obwohl er eigentlich „am Rande der Erschöpfung“924 steht und sein Leben die Insignien der Décadence trägt: „Überfeinerung, Müdigkeit und Neugier der Nerven“925. Obwohl er als neuklassischer Künstler vorgestellt wird, dessen Werke mit denen Schillers verglichen und in die „Schul-Lesebücher“926 aufgenommen werden, entspricht sein Stil genau Nietzsches Décadence-Begriff, den er im Fall Wagner entwirft: Aber das ist das Gleichniss für jeden Stil der décadence: […] Das Leben, die gleiche Lebendigkeit, die Vibration und Exuberanz des Lebens in die kleinsten Gebilde zurückgedrängt, der Rest arm an Leben. Überall Lähmung, Mühsal, Erstarrung oder Feindschaft und Chaos: beides immer mehr in die Augen springend, in je höhere Formen der Organisation man aufsteigt. Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt.927

Aschenbach ist der Repräsentant dieser lebensarmen, formellen und ‚künstlichen‘ Kunst, der schließlich von den irrationalen Lebensmächten in Form der

|| 920 Ebd. S. 557. 921 Ebd. S. 507. 922 Ebd. S. 509. 923 Ebd. S. 510. 924 Ebd. S. 512. 925 Ebd. S. 516. 926 Ebd. S. 515. 927 Nietzsche, Friedrich: Der Fall Wagner. In: KSA VI. S. 9–53. Hier: S. 27.

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‚dionysischen Versuchung‘ eingeholt wird.928 Damit verkörpert er einen Künstlertypus, der immer wieder in Thomas Manns Romanen und Erzählungen auftaucht: von Detlev Spinell über Gustav von Aschenbach bis hin zu Adrian Leverkühn. Im Tod in Venedig wird dieses Künstlerschicksal mithilfe der mythischen Typisierung der Nebenfiguren inszeniert, die den Einbruch des Irrationalen in Aschenbachs gefasstes Leben symbolisch repräsentieren. Im Unterschied zu den Joseph-Romanen wird diese Typisierung aber nicht selbstreflexiv gebrochen: die Figuren im Tod in Venedig bedienen sich ihrer mythischen Rollenvorbilder nicht selbst im ästhetischen Spiel, sondern sie sind ihnen im Rahmen der „Zweischichtenstruktur“929 der Erzählung auf den Leib geschrieben. Die „mythisch-symbolische Bedeutungsschicht“ der Nebenfiguren als Todesboten und Träger der dionysischen Verführungskraft wird in die „psychologische (reale)“930 Ebene der Erzählung integriert, um das typische Künstlerschicksal mithilfe der von Nietzsche übernommenen Entgegensetzung von apollinischem und dionysischem Prinzip zu illustrieren. Der Einsatz der mythischen Typenvorlagen unterlegt den Verfall von Aschenbachs ‚Künstlerwürde‘ mit einer tieferen Bedeutungsebene, die auf den antiken Mythos und seine Interpretation durch Nietzsche zurückgreift, aber er selbst wird auf der Ebene der Erzählung nicht reflektiert, wie das im Joseph der Fall ist. 4.2.2.3 Zeit und Raum Der Unterschied zwischen dem Tod in Venedig und den Joseph-Romanen lässt sich nicht nur hinsichtlich des Einsatzes von Leitmotivik und Typisierung beobachten, sondern auch anhand der Beschreibung von Raum und Zeit. In Thomas Manns Erzählungen und Romanen konkurrieren ebenso wie bei Hermann Hesse zwei unterschiedliche Konzeptionen von Zeit und Raum miteinander, die an Schopenhauers Unterscheidung der beiden Perspektiven auf die Welt als Wille und die Welt als Vorstellung angelehnt sind. Auf der einen Seite steht die Vorstellung einer linear ablaufenden Zeit und einer definierten Räumlichkeit, die allerdings aus der Perspektive der ‚Welt als Wille‘ als Illusion entlarvt wird. Die Idealität von Zeit und Raum, der unsere ‚Gehirnfunktionen‘ einen empirischen und linearen Zeit- und Raumbegriff gegenüberstellen, ist im Mythos bildlich durch eine zyklische Sukzession ausgedrückt. In einem Brief an Käthe Hamburger führt Thomas Mann seine „Zeit-Spintisierereien“ im Zauber-

|| 928 Vgl. Kap. 4.2.1.2. 929 Dierks, Manfred: Mythos und Psychologie. S. 18. 930 Ebd. S. 32.

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berg auf eben jene „‘Idealität‘ von Zeit und Raum“ zurück, die er „durch Schopenhauer“931 kennengelernt habe. Das ‚mythische Erzählen‘ bietet für Mann die Möglichkeit, beide Zeit- und Raumbegriffe gleichzeitig in einer Erzählung dazustellen und sie teils sogar – wie im Joseph – gegeneinander auszuspielen. Im Tod in Venedig wird dieses Verfahren zum ersten Mal praktiziert, wobei hier die Anlehnung an Schopenhauers Postulat der Idealität von Zeit und Raum noch nicht ironisiert wird, wie später im Joseph. Für den Tod in Venedig gilt das Schema der Entlarvung der empirischen Zeit- und Raum-Vorstellung, wie es Børge Kristiansen dargestellt hat: Der gedankliche Hintergrund des Mythischen ist für Thomas Mann Schopenhauers Unterscheidung zwischen einer raum-zeitlichen empirischen Welt (Welt als Vorstellung) und einem zeit- und raumenthobenen wahren Seinsbereich (Welt als Wille) […]. Der Leser muß sich, das ist die geheime Wirkungsabsicht des Thomas Mannschen Erzählens, zu gleicher Zeit in eine empirisch-reale Welt versetzt fühlen und die nichtige Scheinhaftigkeit dieser Vorstellungswelt nachvollziehen können.932

Dieses Konzept wird im Tod in Venedig erzählerisch umgesetzt: Aschenbachs Ankunft in Venedig markiert eine schrittweise Auflösung der Zeit von einem linearen Ablauf hin zu einem zyklischen und gleichzeitig eine Entgrenzung des Raumgefühls. Die Überfahrt nach Venedig beginnt mit der Ablösung von fester räumlicher Bestimmung: Auf dem Schiff fühlt sich Aschenbach, […] als beginne eine träumerische Entfremdung, eine Entstellung der Welt ins Sonderbare um sich zu greifen […]. In diesem Augenblick jedoch berührte ihn das Gefühl des Schwimmens, und mit unvernünftigem Erschrecken aufsehend, gewahrte er, daß der schwere und düstere Körper des Schiffes sich langsam vom gemauerten Ufer löste. […] Der Himmel war grau, der Wind feucht. Hafen und Inseln waren zurückgeblieben, und rasch verlor sich aus dem dunstigen Gesichtskreise alles Land. […] In seinen Mantel geschlossen, ein Buch im Schoße, ruhte der Reisende, und die Stunden verrannen ihm unversehens. […] Unter der trüben Kuppel des Himmels dehnte sich rings die ungeheure Scheibe des öden Meeres. Aber im leeren, im ungegliederten Raume fehlt unserem Sinn auch das Maß der Zeit, und wir dämmern im Ungemessenen.933

Auf dem Schiff gehen Aschenbach sowohl die räumliche Umgrenzung als auch das Gefühl für das lineare Ablaufen der Zeit verloren. Das Gefühl der zeitlichen und räumlichen Entgrenzung ist an das Symbol des Meeres als ‚ungegliedertem Raum‘ gebunden, dessen Uferlosigkeit alle festen und messbaren Bestimmun-

|| 931 Brief Manns an Käthe Hamburger. In: Briefe III. S. 660. 932 Kristiansen, Børge: Das Problem des Realismus bei Thomas Mann. S. 826. 933 Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 519f.

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gen von Zeit und Raum aufzulösen scheint. Die Entwicklung, die in der Überfahrt angedeutet ist, setzt sich bei Aschenbachs allmorgendlichen Besuchen am Lido fort: das „lieblich-nichtige, müßig unstete Leben“934 am Strand, das sich „täglich gleichmäßig“935 wiederholt, lässt in Aschenbachs Wahrnehmung die Zeit unbemerkt verrinnen und die Tage austauschbar werden. Er „überwacht […] nicht mehr den Ablauf der Mußezeit“ und genießt die „köstlich einförmigen Tage“936. Der zyklischen Wiederkehr des Immergleichen wohnt jedoch auch eine tödliche Gefahr inne, die in der Sanduhr-Erinnerung Aschenbachs metaphorisch zum Ausdruck kommt: Die Nacht schritt vor, die Zeit zerfiel. Im Hause seiner Eltern, vor vielen Jahren, hatte es eine Sanduhr gegeben, er sah das gebrechliche und bedeutende Gerätchen auf einmal wieder, als stünde es vor ihm. Lautlos und fein rann der rostrot gefärbte Sand durch die gläserne Enge, und da er in der oberen Höhlung zur Neige ging, hatte sich dort ein kleiner, reißender Strudel gebildet.937

Der ‚kleine, reißende Strudel‘ verweist zugleich auf die zyklisch sich im Kreise drehende Zeit und auf Aschenbachs nahendes Ende. Die ‚Maßlosigkeit‘, die mit dem Verlust der zeitlichen und räumlichen festen Umgrenzung einhergeht, wird zum Sinnbild für Aschenbachs Hingabe an das Irrationale und Formlose. So ist das Meer als grenzenloser Raum bereits am Beginn der Erzählung mit seinem nahenden Tod verbunden. Die Entscheidung, in Venedig zu bleiben, trifft er wiederum am Strand im Angesicht des Meeres: Ich will also bleiben, dachte Aschenbach. Wo wäre es besser? Und die Hände im Schoß gefaltet, ließ er seine Augen sich in den Weiten des Meeres verlieren, seinen Blick entgleiten, verschwimmen, sich brechen im eintönigen Dunst der Raumeswüste. Er liebte das Meer aus tiefen Gründen: aus dem Ruheverlangen des schwer arbeitenden Künstlers […]; aus einem verbotenen, seiner Aufgabe gerade entgegengesetzten und ebendarum verführerischen Hange zum Ungegliederten, Maßlosen, Ewigen, zum Nichts.938

Die Erfahrung der Aufhebung von Zeit und Raum in der ‚Raumeswüste‘ des scheinbar grenzenlosen Meeres löst in Aschenbach jenen Nihilismus aus, der auch Thomas Buddenbrook nach seiner Schopenhauer-Lektüre zu Tode bringt. In der Beschreibung seines ins Weite schweifenden Blicks, der sich ‚verliert‘, ‚verschwimmt‘ und schließlich ‚bricht‘, ist sein Tod am Ufer des Meeres bereits || 934 Ebd. S. 552. 935 Ebd. S. 551. 936 Ebd. S. 558. 937 Ebd. S. 577. 938 Ebd. S. 536.

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vorausgedeutet. Das Formlose als Gegenbild zu Aschenbachs ansonsten so streng gegliedertem Tagesablauf ist Teil der ‚dionysischen Verführung‘, der Auflösung des principium individuationis im dionysischen Rausch. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass Tadzio motivisch eng mit dem Meeres-Symbol assoziiert ist. Die Begegnungen zwischen Tadzio und Aschenbach tragen noch weiter dazu bei, den Strand und das Meer als symbolischen Raum mit Bedeutung aufzuladen und ihn in Cassirers Sinn zu einem mythischen „Strukturraum“939 zu stilisieren. Tadzio ist unverkennbar mit dem Meer verknüpft: er trägt stets ein „Matrosenkostüm“940, einen „Blusenanzug aus blau und weiß gestreiftem Waschstoff“941 oder einen „blau und weißen Badeanzug“942. Auch Tadzios Bewegung im Raum ist nicht dem Zufall überlassen: er betritt die Szene immer von „links“943, niemals aus einer anderen Richtung. Die linke Seite ist im Gegensatz zur rechten mit Passivität verknüpft, bei Bachofen ist sie sogar mit dem Tod konnotiert944, was Tadzios Rolle als hermetischer Todesbote unterstützen würde. Außerdem wird er auffällig oft beim Übertreten einer Schwelle gezeigt, was ebenfalls an seine Rolle als Hermes psychopompos erinnert, der die Schwelle zwischen Ober- und Unterwelt übertritt.945 Darüber hinaus durchquert Tadzio den Raum häufig „schräg“946 oder „kreuzt“947 ihn, was an die gekreuzten Füße des Todesgottes Thanatos erinnert. Der mit Tadzio verbundene Raum ist durchweg symbolisch aufgeladen: durch die permanenten Wiederholungen der gleichen Elemente (Begegnung am Meer, von links kommen, Schwellen übertreten und kreuzen) wird der empirische Raum typisiert und mit Bedeutung versehen. Besonders verdichtet kehren alle Elemente am Schluss der Erzählung wieder, an dem sich Tadzio in seiner Rolle als Hermes psychopompos zu erkennen gibt: Tadzio ging schräg hinunter zum Wasser. Er war barfuß und trug einen gestreiften Leinenanzug mit roter Schleife. […] Dort stand er einen Augenblick, das Gesicht der Weite zugekehrt, und begann hierauf, die lange und schmale Strecke entblößten Grundes nach links hin langsam abzuschreiten. […] Der Schauende dort saß, wie er einst gesessen, als zuerst, von jener Schwelle zurückgesandt, dieser dämmergraue Blick dem seinen begeg-

|| 939 Cassirer, Ernst: Das mythische Denken. S. 104. 940 Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 530. 941 Ebd. S. 534. 942 Ebd. S. 551. 943 Ebd. S. 537; 551; 572; 591. 944 Vgl. Bachofen, Johann-Jakob: Mythos von Orient und Occident. S. 49. 945 Vgl. Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 532; 534; 544. 946 Ebd. S. 534; 591. 947 Ebd. S. 544.

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net war. […] Ihm aber war, als ob der bleiche und liebliche Psychagog dort draußen ihm lächle, ihm winke; als ob er, die Hand aus der Hüfte lösend, hinausdeute, voranschwebe ins Verheißungsvoll-Ungeheure.948 [Meine Hervorhebungen]

Der beschriebene Raum ist kein natürlicher mehr, obwohl er mit scheinbar realistischen Attributen geschildert wird, sondern er ist bis zum Äußersten mit Symbolik aufgeladen. Die Wiederkehr der immergleichen Elemente suggeriert auch hier den Verlust einer chronologischen Raum- und Zeitbestimmung, an deren Stelle ein wiederholendes Kreisen tritt. Durch diese Wiederholungsstruktur, die sich übrigens auch in der „mythisch verwandelt[en]“949 Naturbeschreibung fortsetzt, verschwindet die individuelle Lokalisierbarkeit von Zeit und Raum zugunsten einer unterscheidungslosen Typisierung. Während hier also der empirische Zeit- und Raumbegriff von einem mythisch-symbolischen abgelöst wird, stehen sich beide Konzepte in den JosephRomanen konkurrierend gegenüber und werden zudem beide ironisch gebrochen. Auch hier gibt es zwei unterschiedliche Zeitbegriffe, die allerdings bewusst gegeneinander ausgespielt werden: auf der einen Seite steht die zyklische ‚mythische Zeit‘, auf der anderen die chronologisch-lineare Zeit.950 Joseph wächst mit einem mythisch-zyklischen Zeitbewusstsein auf: So lernt er beispielsweise von Eliezer allerlei zyklische Zahlenspiele, die an der Wiederkehr des Jahresrhythmus, des „großen Umlaufs“951, orientiert sind und alle auf der Zwölf (als Sonnenumlauf) und der Sieben (als Mondumlauf) aufbauen. Eng damit verbunden ist natürlich auch seine Identifikation mit den zyklisch sterbenden und wiedergeborenen Vegetationsgöttern, deren Schicksal in jährlich wiederkehrenden Festen betrauert und gefeiert wird. Josephs eigene ‚Grubenfahrten‘ finden immer genau zur Saatzeit statt und passen sich damit in das mythische Kreislauf-Muster ein. Auf dem Schiff, das ihn ins ägyptische Gefängnis bringen soll, beobachtet er beispielsweise, […] wie die Bauern auf dem Fruchtland der Ufer das ernste, gefährliche, von Umsichtsund Sühne-Maßregeln umgebene Geschäft des Umbrechens und Sähens besorgten,– ein Geschäft der Trauer, denn Saatzeit ist Trauerzeit, Zeit der Bestattung des Korngottes, Usirs

|| 948 Ebd. S. 591f. 949 Ebd. S. 559. 950 Vgl. auch die Ausführungen zum Zeitbegriff im Joseph bei: Dierks, Manfred: Mythos und Psychologie. S. 84ff; Assmann, Jan: Thomas Mann und Ägypten. S. 74f. 951 Mann, Thomas: Joseph I. S. 374.

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Bestattung ins Finstere […] – zum Zeichen, daß auch ein großes Jahr sich umgedreht hatte und Wiederholung brachte, Erneuerung des Lebens, die Fahrt in den Abgrund.952

Die mythische Zeit der ewigen Wiederkehr ist die bildreiche Verhüllung der Schopenhauerschen Idealität von Zeit und Raum. Wie bereits im Kapitel zu Thomas Manns Mythosbegriff dargestellt, übernimmt Mann Schopenhauers Idee, dass das zeitlose nunc stans im Mythos zu einer immer wiederkehrenden Sukzession ausgebreitet wird.953 Dies wird in der Höllenfahrt am Beispiel des zyklischen Festes erläutert: Was uns beschäftigt, ist nicht die bezifferbare Zeit. Es ist vielmehr ihre Aufhebung im Geheimnis der Vertauschung von Überlieferung und Prophezeiung, welche dem Worte ‚Einst‘ seinen Doppelsinn von Vergangenheit und Zukunft und damit seine Ladung potentieller Gegenwart verleiht. […] Das ist der Sinn des Begängnisses, des Festes. Jede Weihnacht wieder wird das welterettende Wiegenkind zur Erde geboren, das bestimmt ist, zu leiden, zu sterben und aufzufahren. Und wenn Joseph zu Sichem oder Beth-Lahama um die Mitsommerzeit beim ‚Fest der weinenden Frauen‘ […] seine Auferstehung unter viel Flötengeschluchz und Freudengeschrei in ausführlicher Gegenwart erlebte, dann waltete ebenjene Aufhebung der Zeit im Geheimnis, die uns angeht […].954

Ebenso wie in Schopenhauers Analyse des Metempsychose-Mythos wird hier die mythische Zeitauffassung erklärt, indem die Realität, die außerhalb von Zeit und Raum liegt, mit den Mitteln der zeitlichen Inszenierung als wiederkehrende ‚Stunden des Festes‘ in einer Sukzession dargestellt wird. Diesem zyklischen Zeitbegriff steht die Vorstellung einer linear ablaufenden Zeit entgegen, die dem Erzähler in der Höllenfahrt bei der Suche nach dem Anfang aller Dinge (der sich letztlich als „unauslotbar“955 erweist) solche Schwierigkeiten bereitet. Im Gegensatz zur zyklischen Zeit des Mythos mit der „Mondes-Klarheit“956 seiner Kreislaufidee erhebt der lineare Zeitbegriff in der Klarheit der Sonne einen Anspruch auf Exaktheit, der immer wieder aufs Neue in den seitenlangen Rechenexempeln des Erzählers ironisiert wird. Er scheint dem Leser genau vorzurechnen, wann genau der Zeitpunkt der Sintflut anzusetzen sei, wie viele Jahre Jakob nun genau bei Laban verbracht habe und wie alt Joseph genau gewesen sein muss, als er bei Potiphar ankam.957 Allerdings wird nicht nur diese vorgetäuschte wissenschaftliche Exaktheit in Bezug auf den || 952 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1352. 953 Vgl. Kap. 3.2.2.2. 954 Mann, Thomas: Joseph I. S. XXXIIf. 955 Ebd. S. IX. 956 Ebd. 957 Vgl. ebd. S. XVI; S. 204f.; Joseph II. S. 843f.

Entlarvungspsychologie und ironisches Spiel: Thomas Mann | 391

Zeitbegriff lächerlich gemacht: Unter dem Begriff „Mondlicht-Genauigkeit“958 wird im Gegenzug auch die mangelnde Exaktheit des mythisch-zyklischen Zeitbegriffs ironisiert, die reichlich Raum lässt für „Zusammenziehungen, Verwechslungen und Durchblickstäuschungen“959. So hält Joseph z.B. im Rahmen der ‚Mondgenauigkeit‘ gerne Abraham für seinen Großvater, was dann aber der Erzähler sogleich „mit voller Strenge aus dem Gebiete des Möglichen […] verweisen“960 muss. Auch Jakob ist sich nicht immer ganz im Klaren darüber, welche Inkarnation des mythischen Knechts Eliezer er gerade vor sich hat.961 Diesen zyklischen ‚Zusammenziehungen‘ stehen aber im Roman wiederum auch der heilsgeschichtliche und der wissenschaftliche Zeitbegriff gegenüber, die beide eine chronologische Zeitdeutung als progressives Fortschreiten der Geschichte beinhalten. Joseph schlüpft schließlich in die Rolle des zukünftigen Heilsbringers Jesus Christus und trägt damit auch der „gerichteten Dynamik der heiligen Geschichte“962 Rechnung. Im Rahmen der christlichen Eschatologie ist die Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und zukünftige Heilserwartung aufgeteilt, so dass sich eine progressive Entwicklung abbilden lässt: sie ist eine „religiöse Zukunftsgeschichte“963, die sich am linearen Ablauf der Zeit orientiert. Auch der Erzähler geht von einem linearen Zeitbegriff aus, der aber das Gepräge der Wissenschaftlichkeit trägt. Dem mythischen Zeitbegriff seiner Figuren, der sich „für unseren Äon nicht schickt“964, setzt er sein Bemühen entgegen, die Menschheitsgeschichte in eine sinnvolle Chronologie einzuordnen und die ‚Durchblickstäuschungen‘ zu korrigieren, denen die handelnden Figuren so gerne nachgehen.965 Da jedoch beide Zeitvorstellungen, die zyklische ebenso wie die chronologische, im Roman nebeneinander existieren und auch beide der Ironisierung unterworfen sind, kann man nicht mit Manfred Dierks davon ausgehen, dass der lineare Zeitbegriff nach dem Versuch seiner ‚Auslotung‘ in der Höllenfahrt einfach in den mythisch-metaphysischen „überführt“966 wird. Beide Zeitbegriffe stehen sich als unterschiedliche Perspektiven im Roman gegenüber, die permanent gegeneinander ausgespielt werden.

|| 958 Ebd. S. 1725 959 Mann, Thomas: Joseph I. S. XXXI. 960 Ebd. S. XV. 961 Vgl. ebd. S. 70. 962 Assmann, Jan: Thomas Mann und Ägypten. S. 74. 963 Cassirer, Ernst: Das mythische Denken. S. 142. 964 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1815. 965 Vgl. z.B. Mann, Thomas: Joseph I. S. XVI. 966 Vgl. Dierks, Manfred: Mythos und Psychologie. S. 332ff.

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Während man nicht davon sprechen kann, dass im Roman ein Übergang vom einen zum anderen Zeitbegriff stattfindet, lässt sich im Bild der ‚rollenden Sphäre‘ aber dennoch der Versuch beobachten, den zyklischen und den chronologischen Zeitbegriff miteinander zu synthetisieren. Dieses Konzept, das Thomas Mann von Alfred Jeremias übernommen hat967, löst den Konflikt zwischen den beiden widerstreitenden Zeitbegriffen mithilfe einer räumlichen Allegorie. Der Erzähler erläutert, nachdem er erneut eine der vielen mythischen ‚Durchblickstäuschungen‘ korrigiert hat, das Konzept der ‚rollenden Sphäre‘ folgendermaßen: Das Geheimnis ist in der Sphäre. Diese aber besteht in Ergänzung und Entsprechung, sie ist ein doppelt Halbes, das sich zu Einem schließt, sie setzt sich zusammen aus einer oberen und einer unteren, einer himmlischen und einer irdischen Halbsphäre […]. Diese Wechselentsprechung nun zweier Hälften, die zusammen das Ganze bilden und sich zur Kugelrundheit schließen, kommt einem wirklichen Wechsel gleich, nämlich der Drehung. Die Sphäre rollt: Das liegt in der Natur der Sphäre. Oben ist bald Unten und Unten Oben […] Nicht allein daß Himmlisches und Irdisches sich ineinander wiedererkennen, sondern es wandelt sich auch, kraft der sphärischen Drehung, das Himmlische ins Irdische […].968

Im räumlichen Bild der sphärischen Drehung sind sowohl der mythische Kreislauf- als auch der chronologische Fortschrittsgedanke enthalten: es findet der nun schon wohlbekannte zyklische Ablauf vom Oberen ins Untere statt, aber durch das ‚Rollen‘ der Sphäre bewegt sie sich durch diesen Kreislauf auch gleichzeitig fort. Kurzke interpretiert diese Zusammenschau der beiden Zeitkonzepte als eine Art Spiralbewegung, die nach jedem zyklischen Umlauf eine „höhere Stufe“ erreicht und dabei einen Fortschritt produziert, der sich „im günstigsten Falle als Vergeistigung, Transzendierung, Spiritualisierung und Zivilisierung“969 erweist. 4.2.2.4 Ironie und Humor zwischen Entlarvungspsychologie und Mittlertum Ein letztes Merkmal des Thomas Mannschen Mythenerzählens ist der humoristische Tonfall, in dem seine Romane und Erzählungen im Gegensatz zur ‚Sinceritas‘ des Sprachgestus bei Hermann Hesse gehalten sind. Humor und Ironie sind aus Manns Erzählen nicht wegzudenken.970 Obwohl er die beiden Termini oft

|| 967 Vgl. dazu ausführlicher: Fischer, Bernd-Jürgen: Handbuch Joseph. S. 352f. 968 Mann, Thomas: Joseph I. S. 145. 969 Kurzke, Hermann: Mondwanderungen. S. 26. 970 Zu Ironie und Humor bei Thomas Mann vgl. Fischer, Bernd-Jürgen: Handbuch zu Thomas Manns Josephsromanen. Tübingen/Basel 2002; Hamburger, Käte: Der Humor bei Thomas

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synonym verwendet und sich kaum zur begrifflichen Unterscheidung zwischen Humor und Ironie geäußert hat971, kann man dennoch einen Unterschied in der Funktion des vorwiegend ironischen und des vorwiegend humoristischen Erzählens ausmachen: Während die Ironie im Tod in Venedig ganz im Dienste der ‚Entlarvungspsychologie‘ steht, ist der Joseph eher von einem humorvollvermittelnden Erzählton geprägt. Um dies im Folgenden nachvollziehen zu können, ist vorab eine kurze begriffliche Klärung vonnöten.972 Der Terminus Humor geht auf das lateinische Wort humor zurück, das eigentlich ‚Flüssigkeit‘ bedeutet, und entwickelt sich aus der Temperamentenlehre: er betont die Flüchtigkeit einer Laune. Im neuzeitlichen Sprachgebrauch kann Humor sowohl einen „Modus der Kommunikation“ als auch „eine das Weltverhältnis bestimmende Einstellung“973 bezeichnen, die beide in Beziehung mit dem Komischen stehen. Preisendanz bestimmt den Humor seit der Romantik als „wesentliches Merkmal der modernen Welterfahrung“974, insofern er – als das „umgekehrte Erhabene“975 in Jean-Pauls Sinn – den Konflikt zwischen Ideal und Realität mithilfe der Komik überbrückt. In der Nachfolge der Romantik nimmt der Humor in der Literatur des 19. Jahrhunderts „die Bedeutung eines heiteren Kompromisses“976 zwischen Anspruch und Wirklichkeit ein, den auch Thomas Mann aufnimmt. Ebenso wie der Witz überbrückt humoristisches Erzählen bei ihm die „Inkommensurabilität“977, die zwischen zwei Ebenen entsteht, die unpassenderweise miteinander in Beziehung gesetzt werden. Er dient der „Durchheiterung“978, die ein fester Bestandteil von Thomas Manns Humanismus-Konzept ist:

|| Mann. Zum Joseph-Roman. München 1965; Koopmann, Helmut: Art. Humor und Ironie. In: Ders. (Hg.): Thomas-Mann-Handbuch. 3. akt. Aufl. Frankfurt a. M. 2005. S. 836–853; Schwöbel, Christoph: Ironie und Religion. Theologische Bemerkungen zu ihrem Verhältnis in Thomas Manns Werk. In: Niklaus, Peter/Sprecher, Thomas (Hg.): Der ungläubige Thomas Mann. Zur Religion in Thomas Manns Romanen. Frankfurt a. M. 2012. S. 167–190. 971 Vgl. Koopmann, Helmut: Art. Humor und Ironie. S. 836. 972 Zur begrifflichen Trennung von Humor und Ironie Vgl. Preisendanz, Wolfgang: Art. Humor. In: Fricke, Harald (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. II. Berlin/New York 2007. S. 100–103.; Müller, Wolfgang: Art. Ironie. In: Ebd. S. 185–189. 973 Preisendanz, Wolfgang: Art. Humor. S. 100. 974 Ebd. S. 101. 975 Ebd. S. 100. 976 Ebd. S. 101. 977 Koopmann, Helmut: Art. Humor und Ironie. S. 838. 978 Ebd.

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Das Humoristische scheint am ehesten dadurch charakterisiert, daß es als Gegensphäre zur Realität aufgefaßt wird, als Versuch, deren Schärfen und Mißhelligkeiten zu neutralisieren, sie zu überspielen und damit zu überwinden.979

Während der Humor also eine eher vermittelnde Funktion erfüllt und für Thomas Mann als „Ausdruck der Menschenfreundlichkeit“980 gilt, ist die Ironie ein schärferes Werkzeug. Als „Spiel mit dem Doppeldeutigen“ erzeugt sie „Spannung zwischen der buchstäblichen Bedeutung des Gesagten und dem Gemeinten“981 und erfüllt damit auch eine „kritische und eine aufdeckende Funktion“982. Obwohl der griechische Begriff eironeίa so viel bedeutet wie „betrügerische Vorstellung“983, ist Ironie – zumindest für denjenigen, der sie versteht – oftmals entlarvend: dadurch, dass beim ironischen Sprechen das Gegenteil dessen, was gesagt wird, gemeint ist, enthält die Ironie stets ein Element des Spottes. In Form der „dramatischen Ironie“984, die sich auch auf die Epik übertragen lässt, beruht die Schärfe dieses Stilmittels auf dem „Mehrwissen“985 des Erzählers und des Lesers gegenüber den handelnden Figuren. Gerade im Umgang mit Mythen eröffnet die Ironie für Thomas Mann einen aufklärerischen Zugang zu der „Nachtseite der Natur und des Lebens“986, die mit den Mitteln der Entlarvungspsychologie durchdrungen werden kann. Obwohl Thomas Mann auch zeitweise die Ironie als humanistische Kraft betrachtet, die eine Mittelstellung zwischen Geist und Leben einnimmt, und obwohl auch das humoristische Erzählen (gerade im Joseph) immer wieder ins Lächerlich-machen umschwingt, kann man dennoch einen graduellen Unterschied in der Art und Weise feststellen, wie im Tod in Venedig und im Joseph ironisch und humoristisch erzählt wird. Über den Tod in Venedig gibt Thomas Mann immer wieder brieflich zu Protokoll, er sei „stramm moralisch“987 oder gar „mit dem tiefsten moralischen Ernst“988 erzählt. Es drängt sich die Frage auf, was ‚stramm moralisch‘ an einer Geschichte über einen alternden Schriftsteller ist, der sich in einen jugendlichen Knaben verliebt. Thomas Mann bezieht sich in diesen brieflichen Äußerungen || 979 Ebd. S. 851. 980 Brief Manns an Irita von Doren vom 28.08.1951. In: Briefe 1948–1955. S. 220. 981 Schwöbel, Christoph: Ironie und Religion. S. 169. 982 Ebd. S. 171. 983 Müller, Wolfgang: Art. Ironie. S. 186. 984 Ebd. S. 188. 985 Ebd. 986 Mann, Thomas: Stellung Freuds. S. 128. 987 Brief Manns an Ida Boy-Ed vom 24.03.1913. In: Briefe I. S. 519. 988 Brief Manns an Leonar Goldschmied vom 11.04.1912. In: Briefe I. S. 490.

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jedoch nicht primär auf den Inhalt der Erzählung, sondern auf die Erzählhaltung, mit der dieser dargestellt wird: sie ist geprägt vom Konzept der Entlarvungspsychologie.989 Dieses frühe Verständnis von Psychologie als Entlarvung fasst Thomas Mann in seinem Schopenhauer-Essay nochmals folgendermaßen zusammen: Im Grunde ist alle Psychologie Entlarvung und ironisch-naturalistischer Scharfblick für das vexatorische Verhältnis von Geist und Trieb.990

Diese Aussage ist jedoch nicht nur eine Zusammenfassung zu Thomas Manns Begriff der ‚Entlarvungspsychologie‘, sondern sie bezeichnet auch genau die Haltung des Erzählers im Tod in Venedig, der mit eben jenem ‚ironischnaturalistischen Scharfblick‘ das ‚vexatorische Verhältnis von Geist und Trieb‘ in Aschenbachs Psyche entlarvt. Anhand von Aschenbachs Platon-Rezeption lässt sich dies besonders anschaulich nachvollziehen. Zwei platonische Dialoge, die sich mit der Natur des Eros und am Rande auch mit Homosexualität beschäftigen, spielen eine zentrale Rolle im Tod in Venedig: Phaidros und Symposion. Aus diesen zitiert Aschenbach und identifiziert sich selbst mit Sokrates, um seiner Verliebtheit in Tadzio eine philosophische Rechtfertigung zu geben. Dabei wird der Protagonist aber so deutlich ironisiert, dass der Leser selbst zum ‚Entlarvungspsychologen‘ wird und schnell durchschaut, dass hier sinnliches Begehren intellektuell bemäntelt wird. Wie dies im Einzelnen funktioniert, lässt sich aus einem intertextuellen Abgleich der Erzählung mit den beiden platonischen Dialogen ersehen. Beim Beobachten Tadzios greift Aschenbach zunächst die berühmte ErosRede des Sokrates im Symposion auf, die dieser von der Seherin Diotima „gehört“991 haben will. Darin unterscheidet er die sinnliche Liebe, deren Ziel die Zeugung von Nachkommen ist992, von der Liebe zur Schönheit selbst, die eine Entwicklung der Erkenntnisfähigkeit vom sinnlichen Objekt bis hin zur Idee des Schönen zur Folge haben soll: Wenn also jemand vermittels der echten Knabenliebe von dort an aufgestiegen jenes Schöne anfängt zu erblicken, der kann beinahe zur Vollendung gelangen. Denn dies ist die rechte Art, sich auf die Liebe zu legen oder von einem anderen dazu angeführt zu werden, daß man von diesem einzelnen Schönen beginnend jenes einen Schönen wegen im-

|| 989 Vgl. Kap. 3.2.3. 990 Mann, Thomas: Schopenhauer. S. 301. 991 Platon: Symposion. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Ernesto Grassi. Übers. von Friedrich Schleiermacher. Band II. Hamburg 1957ff. 172a–233d. Hier: 201d. 992 Vgl. ebd. 208e.

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mer höher hinaufsteige, gleichsam stufenweise von einem zu zweien zu allen schönen Gestalten, und von den schönen Gestalten zu den schönen Sitten und Handlungsweisen, und von den schönen Sitten zu den schönen Kenntnissen, bis man von den Kenntnissen endlich zu jener Kenntnis gelangt, welche von nichts anderem als eben von jenem Schönen selbst die Kenntnis ist, und man also zuletzt jenes selbst, was schön ist, erkenne.993

Aschenbach greift diesen Gedankengang schnell auf, um sein Interesse an Tadzio mit dem hehren Ziel der Erkenntnis der Idee des Schönen zu begründen. Beim Beobachten des Knaben glaubt er, „das Schöne selbst zu begreifen“ und die „reine Vollkommenheit“ zu schauen, „die im Geiste lebt und von der ein menschlich Abbild und Gleichnis hier leicht und hold zur Anbetung aufgerichtet war“994. Ausgehend von dieser Rechtfertigung des sinnlichen Begehrens als Stimulans der höchsten geistigen Erkenntnis gerät Aschenbach schnell in einen denkerischen „Rausch“995, dessen Relevanz dem kundigen Symposion-Leser schnell klar wird. Aschenbach überzeugt sich selbst davon, dass die Seele sich „nur mit Hilfe eines Körpers“ zur „höheren Betrachtung“ und zur Schau der Ideen „erheben“996 könne, und schreibt dem Eros die Rolle des Helfers bei diesem Erkenntnisprozess zu: Amor fürwahr tat es den Mathematikern gleich, die unfähigen Kindern greifbare Bilder der reinen Formen vorzeigen: So auch bediente der Gott sich, um das Geistige sichtbar zu machen, gern der Gestalt und Farbe menschlicher Jugend, die er zum Werkzeug der Erinnerung mit allem Abglanz der Schönheit schmückte und bei deren Anblick wir dann wohl in Schmerz und Hoffnung entbrannten.997

Die Ironie des Textes liegt in der Diskrepanz zwischen Gesagtem und wirklich Gemeintem: Aschenbach nutzt die Rede des Sokrates, um sich vor sich selbst den Anschein zu geben, als interessiere er sich für Tadzios Schönheit nur als Vehikel für einen geistigen Erkenntnisprozess, während er in Wahrheit durchaus rein sinnlich in den Knaben verliebt ist. Diese Ironie wird aber im intertextuellen Spiel mit Platons Dialog noch vertieft, denn eben jene Diskrepanz ist auch dort angelegt, was von der Forschung bisher kaum beachtet worden ist.998

|| 993 Ebd. 211bf. 994 Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 553. 995 Ebd. 996 Ebd. S. 554. 997 Ebd. 998 Zum Ironie- und Liebeskonzept bei Platon vgl. Ebbersmayer, Sabrina: Art. Liebe. In: Horn, Christoph u.a. (Hg.): Platon-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2009. S. 300–305; Ferrarri, G.R.I.: Platonic love. In: Kraut, Richard (Hg.): The Cambridge Companion to Plato. Cambridge 1992. S. 248–276; Westermann, Helmut: Art. Ironie. In: Horn, Christoph u.a.

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Der Symposion-Dialog endet nicht mit Sokrates‘ Eros-Rede und seinem hehren Gedankengebäude vom Aufstieg der Seele vom sinnlich Schönen zur Idee des Schönen, sondern sie hat ein Nachspiel, das Sokrates ebenso entlarvt wie Aschenbach im Tod in Venedig. In diesem Nachspiel, das man mit einer Art Satyrspiel am Schluss des Dialoges vergleichen könnte, werden die vorangegangen Reden zum Lob des Eros noch einmal ironisiert, nachdem schon der Beginn des Dialoges mit reichlich Ironie-Signalen versehen worden ist: Die Erzählung von dem Gastmahl wird umständlich mit mehreren Verschachtelungen der Erzählperspektive eingeleitet, aus denen ganz klar hervorgeht, dass der Erzähler Apollodoros, der die Reden wiedergibt, an dem betreffenden Abend gar nicht dabei war und das Gespräch nur vom Hörensagen kennt. Aber damit nicht genug: das Gespräch hat sogar vor so langer Zeit stattgefunden, dass sowohl der Erzählende als auch der Zuhörer zu diesem Zeitpunkt „noch Kinder waren“999. Nicht einmal Sokrates selbst hat Apollodoros von dem Gespräch berichtet, sondern Aristodemos, einem der „eifrigsten Verehrer des Sokrates zur damaligen Zeit“1000. Als gäbe diese Rahmenhandlung nicht schon genug Anlass zur Skepsis über die Zuverlässigkeit des Erzählten, stammt die Rede des Sokrates auch nicht einmal von ihm selbst, sondern er hat sie wiederum von der mysteriösen Seherin Diotima gehört und versucht sie nur „zu wiederholen“1001, soweit er sich an sie erinnern kann. Endgültig ironisiert wird die Rede des Sokrates aber am Ende des Dialoges: nachdem die Reden abgeschlossen sind, kommt der betrunkene Alkibiades zur Tür herein, begleitet von einer „Flötenspielerin“ und „bekränzt mit einem dicken Kranz von Efeu“1002 – also mit Insignien des Dionysos versehen. Es stellt sich schnell heraus, dass Alkibiades ein verschmähter Liebhaber des Sokrates ist, der sich eifersüchtig darüber äußert, dass jener sich neben Agathon gesetzt habe und es auch grundsätzlich immer so anstelle, dass er „neben dem schönsten von allen hier zu liegen“1003 komme. In einer Lobrede auf Sokrates, den er zuvor noch „bekränzt“1004 hat, rühmt Alkibiades ihn als „Satyr“

|| (Hg.): Platon-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2009. S. 297–300; Zur Platon-Rezeption im Tod in Venedig Vgl. Renner, Rolf Günter: Das Ich als ästhetische Konstruktion. Der Tod in Venedig und seine Beziehung zum Gesamtwerk Thomas Manns. Freiburg i. Br. 1987. S. 53ff. 999 Platon: Symposion. 173a. 1000 Ebd. 173b. 1001 Ebd. 201d. 1002 Ebd. 212df. 1003 Ebd. 213c. 1004 Ebd. 213e.

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und „Flötenspieler“1005, dessen Reden eine Wirkung ausüben, die jene des Dionysos noch übertrifft: Hört aber einer dich selbst oder von einem andern deine Rede vorgetragen, […] alle sind wir wie außer uns und ganz davon hingerissen. […] Denn weit heftiger als den vom Korybantentanz Ergriffenen pocht mir, wenn ich ihn höre, das Herz, und Tränen werden mir ausgepreßt von seinen Reden […].1006

Obwohl Sokrates die Avancen des Alkibiades trotz dessen jugendlicher Schönheit zurückgewiesen hat, rühmt dieser den Philosophen über die Maßen – nur um zum Schluss seiner Rede aufzuzählen, wie viele schöne Jünglinge schon von Sokrates verschmäht worden seien.1007 Sokrates wirft ihm daraufhin vor, er habe die ganze Rede nur gehalten, um ihn „und den Agathon zu entzweien“1008, und fordert Agathon mit einer fadenscheinigen Begründung auf, sich doch wieder neben ihn zu setzen.1009 Alibiades bemerkt trotzig: […] wenn Sokrates dabei ist, kann kein anderer etwas von einem Schönen haben. Auch jetzt, was für eine leichte und wahrscheinliche Ausrede hat er nun wieder gefunden, daß dieser nur neben ihm sitzen muß!1010

Die Szene endet schließlich in einem Trinkgelage, an das sich Aristodemos nur noch schemenhaft erinnern kann. Im Morgengrauen habe Sokrates schließlich alle Zuhörer bis auf den Agathon mit einer Rede über Komödien- und Tragödiendichter eingeschläfert: die verbliebenen Zuhörer bis auf den Agathon seien der Rede „nicht recht gefolgt und schläfrig geworden“, jener aber sei erst eingeschlafen, als „es schon Tag geworden“ 1011 ist. Das Nachspiel, das auf die Reden im Symposion folgt, relativiert und ironisiert das zuvor Gesagte durch die derbe Sinnlichkeit des abschließenden Trinkgelages und die öffentlich ausgetragenen Eifersüchteleien um und von Sokrates. Nur scheinbar dient hier die zuvor verklärte Liebe zur sinnlichen Schönheit eines Einzelnen dem Aufstieg der Erkenntnis zur Idee des Schönen – in der Realität zieht sie stattdessen äußerst irdische Streitereien und Exzesse nach sich. Die Ironisierung dieses Eros-

|| 1005 Ebd. 215b. 1006 Ebd. 215df. 1007 Vgl. ebd. 222b. 1008 Ebd. 222d. 1009 Vgl. ebd. 222ef. 1010 Ebd. 223a. 1011 Ebd. 223d.

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Konzeptes findet also nicht erst im Tod in Venedig statt, sondern sie ist auch schon im Prätext so angelegt.1012 Dieses intertextuelle Spiel mit Aschenbachs Sokrates-Identifikation wird noch vertieft in den Bezügen zum späteren Dialog Phaidros. In dessen Ausgangsszene versetzt der vom Beobachten Tadzios „Enthusiasmierte“1013 sich hinein, um erneut das platonische Liebesideal zum Vorwand zu nehmen, sein Interesse an Tadzio philosophisch zu rechtfertigen. Die Rahmenhandlung des platonischen Dialogs zeigt Sokrates und den jungen Phaidros, wie sie gemeinsam außerhalb der Stadt „lustwandeln“1014 und sich über eine Rede des Lysias über die Nachteile des Verliebtseins unterhalten. Sie lagern unter einer „Platane“1015 am Fluss, um die betreffende Rede zu besprechen. In diese Szene versetzt sich Aschenbach beim Beobachten Tadzios hinein und malt sie mit klassizistischem Sprachkitsch aus: Und aus Meerrausch und Sonnenglast spann sich ihm ein reizendes Bild. Es war die alte Platane unfern den Mauern Athens, – war jener heilig-schattige, vom Dufte der Keuschbaumblüten erfüllte Ort, den Weihbilder und fromme Gaben schmückten zu Ehren der Nymphen und des Acheloos. Ganz klar fiel der Bach zu Füßen des breitgeästeten Baums über glatte Kiesel; die Grillen geigten.1016

Ausgehend von dieser Szenerie erinnert sich Aschenbach an das Gespräch zwischen dem „Weisen“ und dem „Liebenswürdigen“1017 und wiederholt noch einmal für sich den Gedanken vom sinnlichen Scheinen der Idee in der menschlichen Schönheit, die zum Anlass genommen werden soll, um den philosophischen Weg der Erkenntnis zu beschreiten. Gleichzeitig spricht er jedoch auch von „dem heißen Erschrecken“ und der „heiligen Angst, die den Edlen befällt, wenn ein gottgleiches Antlitz, ein vollkommener Leib ihm erscheint“1018. Damit zitiert Aschenbach direkt aus dem platonischen Dialog: denn auch hier hört Sokrates „entzückt“ die Rede des Phaidros an, während er dessen

|| 1012 Man könnte sogar vermuten, dass das Motiv der Flötenspielerin, die Alkibiades am Schluss des ‚Symposion‘ begleitet, Eingang in Aschenbachs Dionysos-Traum gefunden haben: denn das „ruchlos beharrliche Flötenspiel“ spielt auch hier als Zeichen der durchbrechenden Sinnlichkeit eine zentrale Rolle. (Vgl. Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 582). 1013 Ebd. S. 554. 1014 Platon: Phaidros. 227a. 1015 Ebd. 229a. 1016 Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 554. 1017 Ebd. 1018 Ebd. S. 554f.

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„göttliche[s] Haupt“1019 betrachtet. Aschenbach selbst scheint die Doppelbödigkeit im Phaidros zu erkennen und benennt sie auch – allerdings indem er Sokrates ein Zitat des Phaidros aus dem Symposion in den Mund legt: Und dann sprach er das Feinste aus, der verschlagene Hofmacher: Dies, daß der Liebende göttlicher sei, als der Geliebte, weil in jenem der Gott sei, nicht aber im andern, – diesen zärtlichsten, spöttischsten Gedanken vielleicht, der jemals gedacht ward und dem alle Schalkheit und heimlichste Wollust der Sehnsucht entspricht.1020

Das Zitat stammt aus der ersten Rede im Symposion, die Phaidros hält. Er preist darin die Liebe als sittigende Kraft, da man sich vor niemandem so schäme wie vor dem Geliebten, wenn man „bei etwas Schlechtem gesehen“1021 werde. Phaidros fügt hinzu, dass der Liebhaber „göttlicher“ sei „als der Liebling, weil in ihm der Gott ist“1022. Diese Aussage legt Aschenbach Sokrates – dem ‚verschlagenen Hofmacher‘ – in den Mund, um dann erneut in Gedanken zum Gespräch im Phaidros zurückzukehren, in dem Sokrates in seiner eigenen Rede die Liebe als eine Form der manίa bestimmt. Der göttliche Wahnsinn, der den Liebenden befalle, sei gleichzeitig auch der Ursprung der „edelsten Kunst“1023 und gleiche der Inspiration des Dichters. Kurz darauf vergleicht Sokrates den Liebenden noch mit „Zeus, als er den Ganymedes liebte“1024. Beide Elemente aus der Sokrates-Rede werden im Tod in Venedig zusammengeführt, als Aschenbach, von der manίa ergriffen, plötzlich schreiben möchte: Er wünschte plötzlich, zu schreiben. […] Der Gegenstand war ihm geläufig, war ihm Erlebnis; sein Gelüst ihn im Licht seines Wortes erglänzen zu lassen auf einmal unwiderstehlich. Und zwar ging sein Verlangen dahin, in Tadzios Gegenwart zu arbeiten, beim Schreiben den Wuchs des Knaben zum Muster zu nehmen, seinen Stil den Linien dieses Körpers folgen zu lassen, der ihm göttlich schien, und seine Schönheit ins Geistige zu tragen, wie der Adler einst den troischen Hirten zum Äther trug.1025

Der Anspruch, die sinnliche Liebe ‚ins Geistige zu tragen‘, wird von der doppelbödigen Wort- und Motivwahl ironisch unterlaufen: Aschenbachs Schreibinspiration wird als ‚Gelüst‘ und ‚Verlangen‘ bezeichnet, und Zeus, der Ganymed aufgrund seiner jünglingshaften Schönheit in Gestalt eines Adlers entführt, ist || 1019 Platon: Phaidros. 234d. 1020 Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 555. 1021 Platon: Symposion. 178c. 1022 Ebd. 180b. 1023 Platon: Phaidros. 244bf. 1024 Ebd. 255c. 1025 Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 555f.

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auch kein recht passendes Bild für die geistige Läuterung des sinnlichen Begehrens. So schiebt der Erzähler im Tod in Venedig auch prompt nach, es sei gut, dass die „Welt nur das schöne Werk, nicht auch seine Ursprünge“1026 kenne. An einer weiter fortgeschrittenen Stelle der Erzählung wird der PhaidrosBezug noch ein letztes Mal aufgegriffen. Nachdem sich Aschenbach bei der Verfolgung Tadzios in den labyrinthischen Gassen Venedigs verirrt hat, beginnt er mit einem Selbstgespräch: ‚Denn die Schönheit, Phaidros, merke das wohl, nur die Schönheit ist göttlich und sichtbar zugleich, und so ist sie denn also des Sinnlichen Weg, ist, kleiner Phaidros, der Weg des Künstlers zum Geiste. Glaubst du nun aber, mein Lieber, daß derjenige jemals Weisheit und wahre Manneswürde gewinnen könne, für den der Weg zum Geistigen durch die Sinne führt? Oder glaubst du vielmehr (ich stelle dir die Entscheidung frei), daß dies ein gefährlich-lieblicher Weg sei, wahrhaft ein Irr- und Sündenweg, der mit Notwendigkeit in die Irre leitet?‘1027

Aschenbach selbst ist die Verkörperung dieses ‚Irrwegs‘, den er gerade bei seinem wahnsinnigen Herumirren in den Gassen Venedigs auf den Spuren Tadzios anschaulich gemacht hat. Er stellt nun das Konzept aus dem Symposion in Frage und zweifelt daran, ob der ‚Weg zum Geistigen durch die Sinne führen‘ kann. Was zuvor subtil vom Erzähler ironisiert wurde, wird Aschenbach nun auch selbst bewusst. Dabei identifiziert er sich jedoch gleichzeitig noch mehr mit Sokrates: er ahmt sein maieutisch-rhetorisches Fragen nach (‚ich stelle dir die Entscheidung frei‘) und imitiert den Sokratischen Sprachduktus, wobei die übliche Adressatenansprache mit ‚Lieber‘ oder ‚kleiner Phaidros‘ in diesem Kontext doppeldeutig und anzüglich erscheinen. Zum Schluss seines Selbstgesprächs nimmt Aschenbach noch Bezug auf Sokrates‘ Rede über das Seelengespann und dessen Rolle im richtigen Umgang mit der Liebe. Den Mythos vom Seelengespann erzählt Sokrates Phaidros, um ihm zu zeigen, dass es für die Seele letztlich besser ist, seine „Liebe zur Weisheit“1028 zu entwickeln, anstatt der sinnlichen Begierde nachzugeben. Er erklärt ihm daher, dass die Seele einem Gespann zu vergleichen sei, das aus einem Wagenlenker, einem guten und einem schlechten Pferd besteht. Das gute Pferd steht dabei für die Tugend, das schlechte für die Begierde.1029 Sofern das gute Pferd sich durchsetzt, hält der Liebende „sich selbst zurück“1030, geht es jedoch || 1026 Ebd. S. 556. 1027 Ebd. S. 588. 1028 Platon: Phaidros. 256a. 1029 Vgl. ebd. 246af. 1030 Ebd. 254a.

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nach dem schlechten Pferd, so versucht der Liebende mit aller Macht „hinzugehen zu dem Liebling und der Gaben der Lust gegen ihn zu gedenken“1031. Die edelste Art des Liebeswahnsinns sei es aber, sich beim „Anblick der hiesigen Schönheit“1032 an die Idee des Schönen zu erinnern, die die Seele nach der anamnesis-Lehre vor der Geburt geschaut hat, und sie zum Anlass für die ‚Liebe zur Weisheit‘ und die Entwicklung der philosophischen Erkenntnisfähigkeit zu nehmen. Das falle jedoch – so Sokrates – „nicht jede[m] leicht“1033. Genau von diesem Ansatz wendet sich Aschenbach in seinem Selbstgespräch ab, denn die „Erkenntnis“1034 alleine habe für den Künstler keinen Sinn: Diese [die Erkenntnis, E.K.] also verwerfen wir mit Entschlossenheit, und fortan gilt unser Trachten einzig der Schönheit […]. Aber Form und Unbefangenheit, Phaidros, führen zum Rausch und zur Begierde, führen den Edlen vielleicht zu grauenhaftem Gefühlsfrevel […], führen zum Abgrund, zum Abgrund auch sie. Uns Dichter, sage ich, führen sie dahin, denn wir vermögen nicht, uns aufzuschwingen, wir vermögen nur auszuschweifen.1035

Die Ironie dieser Textstelle liegt in einem gewitzten intertextuellen Wortspiel: denn der Gegensatz von ‚aufschwingen‘ und ‚ausschweifen‘ hat ein präzises Vorbild in Platons Phaidros. Dort beschreibt Sokrates, dass die Seele, die sich vom guten Pferd leiten lässt, dazu in der Lage ist, „befiedert“1036 in den Himmel „aufzufliegen“1037, während die Übermacht des schlechten Pferdes dazu führt, dass die Seele nicht für „zehntausend Jahre“1038 an ihren Ursprungsort zurückkehren kann. Das schlechte Pferd verhält sich beim Anblick des Geliebten im wahrsten Sinne des Wortes ‚ausschweifend‘: es „streckt den Schweif in die Höhe, beißt in den Zügel“ und zieht den Wagenlenker und das gute Ross „schamlos weiter“1039 in Richtung des Geliebten. Diese Wortwahl unterstreicht noch einmal das bereits zuvor Gesagte: Aschenbach ist als Künstler eben nicht einer von jenen, denen es ‚leicht fällt‘, in der menschlichen Schönheit das sinnliche

|| 1031 Ebd. 1032 Ebd. 249d. 1033 Ebd. 250a. 1034 Mann, Thomas: Tod in Venedig. S. 589. 1035 Ebd. 1036 Platon: Phaidros. 249a. 1037 Ebd. 249d. 1038 Ebd. 1039 Ebd. 254d.

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Scheinen der Idee zu erkennen, ohne sich auf den ‚Irrwegen‘ der Sinnlichkeit zu verlieren.1040 Die Ironie, die über die intertextuellen Bezüge zu Platons Dialogen hergestellt wird, ist eine entlarvende: immer wieder werden philosophische Konzepte – wie der Aufstieg der Erkenntnis vom Sinnlichen zur Idee – dazu genutzt, das eigentlich Gemeinte zu verschleiern. Sie steht damit eindeutig im Dienste der ‚Entlarvungspsychologie‘, die das wahre Verhältnis von Geist und Trieb aufdeckt. Dies geschieht zunächst indirekt, indem auf die Doppelbödigkeit des Prätextes angespielt wird, in dem die Diskrepanz zwischen platonischem Liebesideal und realen Verhältnissen ebenfalls in ironischem Licht erscheint. Im Lauf des Textes tritt Aschenbachs Versuch, sein wahres Begehren intellektuell zu bemänteln, immer offener zu Tage und wird immer deutlicher ironisiert. Diese Art der entlarvenden Ironie unterscheidet sich von dem eher humoristischen Tonfall im Joseph nicht nur dem Erzählstil nach, sondern beide erfüllen auch eine unterschiedliche Funktion. Während die Ironie im Tod in Venedig im Sinne der ‚Entlarvungspsychologie‘ dem ‚moralischen Ernst‘ der Erzählung dient, sind Humor und Ironie in der Romantetralogie als vermittelnde und humanistisch wirksame Gegenmacht zum Alleinherrschaftsanspruch des Mythos auf der einen und der wissenschaftlichen Rationalität auf der anderen Seite angelegt. Im Joseph ist der humorvolle Ton des Erzählers die Grundmelodie, die den gesamten Text von der ersten bis zur letzten Seite durchdringt. Diese Art zu erzählen ist für Thomas Mann schon von Beginn des Projekts an Voraussetzung für die Neubearbeitung der mythischen Geschichten um Joseph und seine Brüder. In einer seiner frühesten Äußerungen zu dem Romanprojekt macht Mann dies gegenüber Ernst Bertram deutlich: Was mich anzieht und was ich ausdrücken möchte, ist das Gegenwärtig werden der Überlieferung als zeitloses Mysterium, das Sich selbst als Mythus erleben. Das muß aber auf leichte, humoristisch-intellektuelle Art gemacht werden; auf Pathos und religiöse Inbrunst lasse ich mich nicht ein.1041

|| 1040 Damit gibt sein Schicksal Nietzsches Analyse von Sokrates als ‚theoretischem Menschen‘ recht, dessen „tiefsinnige Wahnvorstellung, […] dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche“ sich als falsch erweist und an den Punkt gelangt, wo es wieder „in Kunst umschlagen muss“ (Nietzsche, Friedrich: Geburt der Tragödie. S. 99.). 1041 Brief Manns an Ernst Bertram vom 28.12.1926. In: Briefe I. S. 262.

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Schon in diesem Brief von 1926 grenzt sich Thomas Mann von einem affirmativen, pathetischen Wiedererzählen von Mythen ab und hält nur einen humoristischen Umgang mit dem Material für angemessen. Interessant am Joseph ist jedoch, dass hier nicht nur der ‚Mythos‘ der Ironisierung unterworfen wird, sondern auch der rationale ‚Geist‘, der im philosophischen Diskurs so gerne gegen den Mythos ausgespielt wird. Dieses Vorgehen ist für Thomas Mann kein grundsätzlich neues: bereits im Schlussteil der Betrachtungen eines Unpolitischen verortet Mann die „Quelle der Ironie“ in der „Mittel- und Mittlerstellung zwischen Geist und Leben“1042, die Kunst und Künstler innehätten. Dementsprechend richte sich Ironie und Humor des Künstlers gegen beide Seiten: Ironie […] ist immer Ironie nach beiden Seiten hin; sie richtet sich gegen das Leben sowohl wie gegen den Geist, und dies nimmt ihr die große Gebärde, dies gibt ihr Melancholie und Bescheidenheit.1043

Die Ironisierung des ‚Geistes‘ wird anhand der Erzählerfigur veranschaulicht, da sie zum einen humoristisch und ironisch erzählt, zum anderen aber auch selbst ironisiert wird.1044 So erzielt beispielsweise der pseudowissenschaftliche Ton des Erzählers einen komischen Effekt: oftmals wendet er eine scheinbar wissenschaftliche Methodik auf Forschungsobjekte an, die per se gar nicht der wissenschaftlichen Erkenntnis zugänglich sind. Er errechnet z.B. den genauen Zeitpunkt des Untergangs von Atlantis1045 oder versucht, den Standort des Paradieses zu lokalisieren1046. Bei diesen Ausführungen fällt es schwer, nicht an Rosenbergs Geschichtsschreibung im Mythus des 20. Jahrhunderts zu denken, bei der pseudowissenschaftliche Atlantis-Spekulationen ebenfalls zum Programm gehören und gegen die diese ironische Spitze gerichtet sein könnte. In seinem Joseph-Vortrag kommentiert Thomas Mann seine Erzählstrategie selbst folgendermaßen: „das Wissenschaftliche, angewandt auf das ganz Unwissenschaftliche und Märchenhafte ist pure Ironie“1047. Die Nutzung von Fachtermini, wie z.B. „ithyphallisch“, „Kongestionen“ oder auch „Paroxysmus“1048, gehört darüber hinaus ebenso zum wissenschaftlichen Gestus des Erzählers, wie die || 1042 Mann, Thomas: Betrachtungen eines Unpolitischen. In: GKFA 13,1. S. 620. 1043 Ebd. S. 622. 1044 Zur Figur des Erzählers vgl. auch Assmann, Jan: Thomas Mann und Ägypten. S. 21ff.; Ewen, Jens: Erzählter Pluralismus. Thomas Manns Ironie als Sprache der Moderne. Frankfurt a. M. 2017. S. 266f.; Kurzke, Hermann: Mondwanderungen. S. 156–158. 1045 Vgl. Mann, Thomas: Joseph I. S. XXXIII. 1046 Vgl. ebd. S. XXXVIIff. 1047 Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag. S. 187. 1048 Vgl. die Auflistung bei Fischer, Bernd-Jürgen: Handbuch Joseph. S. 128.

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zahllosen hebräischen, babylonischen und sumerischen Namensvariationen der Figuren und Götter und die Einflechtung von aktuellen Theorien zur Altertumsforschung. In der Höllenfahrt berichtet der Erzähler etwa von Edgar Dacqués Thesen zur Menschheitsentwicklung und gibt diese in humoristischem Tonfall wieder: So spricht er beispielsweise vom Urmenschen, der „vor aller Großhirnentfaltung, in verschiedenen zoologischen Modetrachten, amphibischen und reptilischen, auf Erden sein Wesen getrieben habe“1049. Zum ‚Expertentum‘ des Erzählers gehört darüber hinaus auch der übertrieben auktoriale Erzählstil, der immer wieder von ihm selbst in den Vordergrund gerückt wird, wenn er sich zum Beispiel damit brüstet, die Geschichten um Joseph als einziger so erzählen zu können, „wie sie sich in Wirklichkeit zutrugen“1050, oder er seine eigenen Figuren korrigiert. Einige der Ansichten Josephs muss er hin und wieder „mit voller Strenge aus dem Gebiet des Möglichen […] verweisen“1051, und an vielen Stellen präzisiert er die biblische Überlieferung, die ihm nicht exakt genug erscheint. Besonders empörend erscheint ihm z.B. die Kürze, mit der die Mut-Episode in der Bibel abgehandelt wird und die „der bitteren Minuziosität des Lebens so wenig gerecht wird“1052. Das Bild von Mut, das in der biblischen Vorlage überliefert ist, sei „so irrtümlich, daß man sich, indem man es auf dem Wege der Treulichkeit richtig stellt, ein wahres Verdienst um den Urtext“1053 erwerbe. Dieses übertriebene ‚Bescheid-Wissen‘ des Erzählers kann vom Leser nicht ernst genommen werden und führt die Idee des autoritativen Mythen-Erzählers ebenso ad absurdum wie dessen pseudowissenschaftliche Ausführungen. Der Erzähler ist aber nicht nur selbst der Ironisierung unterworfen, sondern er erzählt auch selbst auf humoristische und ironische Weise. Er baut z.B. teils altertümliche Wortwahl in den ansonsten in moderner Sprache gehaltenen Erzählfluss ein, so dass diese fehl am Platz und damit komisch wirkt. So übernimmt er etwa das Wort ‚erkennen‘ aus dem biblischen Kontext, in dem es – gerade in der Erzählung über Adam und Eva – eine sexuelle Konnotation hat, und fügt es in die Geschichte um Jakob und Rahel ein:

|| 1049 Mann, Thomas: Joseph I. S. XXX. 1050 Ebd. S. 104. 1051 Ebd. S. XV. 1052 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1035. 1053 Ebd. S. 1036.

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Da nun sieben Jahre zu Ende gingen und der Zeitpunkt sich näherte, daß Jaakob Rahel erkennen sollte, faßte er es kaum und freute sich über die Maßen, und sein Herz schlug mächtig, wenn er der Stunde gedachte.1054

Da der Wortgebrauch von ‚erkennen‘ in diesem Sinne nicht mehr üblich ist, wirkt er an dieser Stelle als eine Art ‚Widerhaken‘, der den bibelkundigen Leser schmunzeln lässt. Auch an anderen Stellen erzeugt der Erzähler über die Wortwahl einen humoristischen Effekt. Wenn er beispielsweise von Jakobs Betrug an Esau berichtet, ist es gerade die Mischung aus Umgangssprache, biblischem Tonfall und hyperbolischer Beschreibung, die den Text so amüsant macht. Nachdem Jakob sich bereits den Erstgeburtssegen von Isaak erschlichen hat, bereitet Esau weiterhin unwissend das Festmahl für den Vater vor: So trieb er’s weiter mit Mund und Hand, mit Haha und Hoho und bombastischem Fuchteln und schallenden Blähreden von des Vaters Liebe zu ihm und von Rotpelzchens großem Tage, daß die Hofleute sich nur so bogen und krümmten und Tränen lachten und den eigenen Leib mit den Armen umschlagen vor Lachen. Aber da er gar abzog mit seinem Frikassee und es vor sich hertrug wie’s Tabernakel und wieder so possenhaft die Beine warf, immerfort prahlend bis vor des Vaters Zelt, da schrien sie vor Jubel, klatschten und stampften […]. Sie schüttelten die Köpfe, weil es allzuviel war der Narretei, wischten sich mit den Fäusten das Wasser aus den Augen und schleuderten es zu Boden.1055

Die humoristische Wirkung der Episode beruht nicht nur auf dem Inhalt der Geschichte, sondern auch auf deren sprachlicher Gestaltung durch den Erzähler, der umgangssprachliche Wendungen (‚Haha und Hoho‘) mit religiöser Fachterminologie (‚Tabernakel‘) und Entlehnungen aus Fremdsprachen (‚Frikassee‘) vermengt, hyperbolische Ausdrücke wählt (‚bombastisches Fuchteln‘) und diese Mischung mit der für ihn charakteristischen gewählt-umständlichen Ausdrucksweise präsentiert (‚immerfort prahlend bis vor des Vaters Zelt‘). Diese Stilmittel werden auch für die Ironisierung des Mythos eingesetzt, wobei die ironische Entlarvungstechnik immer dann besonders spürbar ist, wenn Figuren allzu wörtlich am Mythos hängen. Bei der Beschreibung Labans spielt beispielsweise die Diagnose der sogenannten „Gottesdummheit“ eine Rolle, die Thomas Mann als fehlende Besorgnis darüber beschreibt, das, „was einmal das Rechte war, es aber nicht mehr ist, noch immer für das Rechte zu halten und ihm in anachronistischer Weise nachzuleben“1056. Laban, der aus Aberglauben seinen erstgeborenen Sohn geopfert und in den Mauern des Hau-

|| 1054 Mann, Thomas: Joseph I. S. 248. 1055 Ebd. S. 169f. 1056 Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag. S. 199.

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ses begraben hat, erfüllt diesen Tatbestand und wird daher gemeinsam mit seinen Götzenfigürchen, die er in einem Kellerverlies aufbewahrt, vom Erzähler mit beißendem Spott überzogen: Auf dem anderen dieser Podeste aber waren kleine Götzlein aufgereiht, wohl zehn oder zwölf, wunderlich zu sehen, mit hohen Mützen teils und bärtigen Kindergesichtern, teils kahlköpfig und bartlos, in Schuppenröcken und mit bloßem Oberfigürchen zum Teil, auf dem sie, hoch unterm Kinn, gar friedlich die Händchen zusammenfügten, und anderen Teils in nicht von feinster Hand modellierten Faltenkleidern, unter deren Saum ihre plumpen kleinen Zehen zum Vorschein kamen. Das waren Labans Hausgeister und Wahrsagemännlein, an denen er innig hing und mit denen der finstere Mann sich in jeder wichtigen Angelegenheit hier unten beredete. Sie schützten das Haus, wie er dem Jaakob erklärte, zeigten ziemlich zuverlässig das Wetter an, berieten ihn in Fragen des Kaufes und Verkaufes, vermochten Hinweise zu geben, welche Richtung ein verlaufenes Schaf eigeschlagen, und so fort.1057

Die durchgängig mit Diminutiven beschriebenen Götzenfiguren werden nicht nur über die ständigen Verkleinerungen wie ‚Götzlein‘, ‚Oberfigürchen‘ oder ‚Händchen‘ ins Lächerliche gezogen, sondern auch durch ihre schlechte Machart (‚nicht von feinster Hand modelliert‘, ‚plumpe kleine Zehen‘). Labans Aberglauben an ihre übernatürlichen Fähigkeiten von der Wettervorhersage bis zur Anlagenberatung wird ebenso spöttisch beschrieben wie z.B. Isaaks Widdergeblök oder später auch die Verehrung der ägyptischen Götter. Eine der komischsten Szenen im Roman ist die Beschreibung des ägyptischen Festes zu Ehren des Stiergottes Chapi. Auch dieser ‚Götzendienst‘ für den tierischen Gott wird vom Erzähler verspottet, weil er ebenfalls in die Kategorie des anachronistischen ‚Hängens an überkommenen Mythen‘ gehört. Der Sonnenstier als Fruchtbarkeitsgott soll nicht nur für die richtige Höhe des Nilhochwassers sorgen, sondern auch für die Fruchtbarkeit der ägyptischen Frauen, für die Gesundheit der Kinder, für die Verteidigung gegen die zahlreichen Feinde Ägyptens und viele weitere Wunschbereiche. Seine Anbetung durch das ägyptische Volk wird in der Beschreibung des Erzählers, der die Szene durch Josephs Augen beobachtet, zum Paradigma einer überholten Form von Religion, bei der alle Hoffnungen auf die Wundertätigkeit des angebeteten Gottes gesetzt werden: ‚Chapi! Chapi!‘ riefen sie in ängstlichem Jubel, bedrängt vom Gefühl des knapp bedingten, gefährdeten Lebens, und starrten hoffnungsvoll auf die vierkantige Stirn, die eisernen Hörner, die gedrungene, ohne Einbuchtung vom Rücken zum Schädel verlaufende Na-

|| 1057 Mann, Thomas: Joseph I. S. 212.

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ckenlinie des Gott-Tieres und seinen Geschlechtsapparat, dies Unterpfand der Fruchtbarkeit. ‚Sicherheit!‘ meinten sie mit dem Ruf. ‚Schutz und Bestand!‘, ‚Hoch Ägypterland!‘. […] Chapi kümmerte sich nicht darum. Gewöhnt an all diese ihm gewidmeten Umständlichkeiten, an ein Dasein feierlicher Langeweile, das dank einer bestimmten Körperbeschaffenheit sein melancholisches Teil geworden war, blickte er, breitbeinig dastehend, aus seinen kleinen, blutbedrängten Bullenaugen mit schwerem Lauern über den Darbringenden hinweg auf das Volk, das hüpfend und springend, die eine Hand auf der Brust, die andere ihm entgegenstreckend, seinen heiligen Namen rief.1058

Mit der Referenz auf die Verehrung des goldenen Kalbes1059 wird die Stieranbetung der Ägypter als überkommener Aberglaube dargestellt: die Verehrung des Tierkörpers, insbesondere seines ‚Geschlechtsapparates‘, wirkt besonders lächerlich aus der Perspektive des Stieres selbst, der mit überlegener Langeweile die Bemühungen des Volkes überblickt. Die Menschen, die ihn anbeten, sind so abhängig von ihrem tierischen Gott, auf den sie all ihre Wünsche, Hoffnungen und Ängste projizieren, dass sie aus seiner Perspektive – und aus der des Lesers – zu einer amorphen Masse aus ‚hüpfenden und springenden‘ Untertanen werden. Aber auch die alttestamentarische Gottesvorstellung bleibt von dieser Art des Spottes nicht verschont. Da das alttestamentarische Bild von einem eifersüchtigen und rachsüchtigen Gott ebenso rückständig erscheint wie die Götzenverehrung, spart der Erzähler auch hier nicht mit ironischen Wendungen. So beschreibt er etwa – durchaus nachsichtig – die unangenehme Lage Gottes, der angesichts der Sündhaftigkeit der Menschen immer wieder in „Verlegenheit“ gerate und dann dazu gezwungen sei, „fürchterlich aufzuräumen“1060 – beispielsweise in Form einer Sintflut. Die zweifelhafte Vollkommenheit der Schöpfung kommentiert der Erzähler erneut, wenn er nach dem Bericht über die Erschaffung Evas aus der Rippe Adams lapidar kommentiert: „Und es war sehr gut gemeint“1061. In dieser ironischen Abwandlung der Genesis-Stelle „Und Gott sah, daß es gut war“1062 erhebt sich der Erzähler zum Beurteiler der göttlichen Schöpfung, die – wenn schon nicht gut, dann zumindest doch ‚gut gemeint‘ gewesen sei. Der komische Effekt entsteht hier, indem der Erzähler sich selbst als höchste Instanz inszeniert, die die Fehler und charakterlichen Schwächen des eigentlich ‚vollkommenen und allmächtigen Gottes‘ feststellen und mit Nachsicht ‚durchgehen lassen‘ kann. Das zeigt sich besonders am Beispiel der Eifersucht als || 1058 Mann, Thomas: Joseph II. S. 773ff. 1059 Ex. 32, 1–6. 1060 Mann, Thomas: Joseph I. S. LI. 1061 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1586. 1062 Gen. 1, 11.

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prägender Charaktereigenschaft des alttestamentarischen Gottes. Angesichts eines prächtig geschmückten Gotteshauses für Bel-Charran beschleicht Jakob die Vermutung, dass […] Gott im Grunde auch recht gern in einem Haus aus Emaille, vergoldeten Zedern und Karfunkelstein, das freilich noch siebenmal schöner hätte sein müssen als des Mondgötzen Haus, hätte wohnen mögen und es nur darum verpönte, weil er es noch nicht haben konnte, weil die Seinen noch nicht zahlreich und stark genug waren, es ihm zu bauen.1063

Die Wendung ‚siebenmal schöner‘, die an das Märchen Schneewittchen anklingt, zieht die göttliche Eifersucht auf das geschmückte Gotteshaus, das er nur verschmäht, weil er selbst keines haben kann, vollends ins Lächerliche. Die Übertreibung der göttlichen Eifersucht geht sogar so weit, dass Rahels Tod als Strafe für Jakob interpretiert wird, der mit seiner übermäßigen Liebe zu Rahel eine „Neigung zur Auserwählung und zügelloser Vorliebe“1064 an den Tag gelegt habe, die eben nur Gott vorbehalten sei. Joseph geht davon aus, dass Gott seinen Zorn, der aus dieser Eifersucht erwächst, nicht recht ‚dosieren‘ könne und es deshalb gerne mit der Bestrafung übertreibe: ‚Es wäre begreiflich‘, meinte Joseph gesprächig, ‚wenn Er’s vielleicht nicht so abmessen könnte in Seiner Größe und könnte sich, der nicht Seinesgleichen hat, nicht so recht versetzen in unsereinen. Mag sein, Er hat eine etwas schwere Hand, sodaß seine Berührung gleich zermalmend ist, ob Er’s schon gar nicht so meint und nur stupfen und tupfen will.‘1065

Die Vorstellung von Gott als unbeherrschtem Grobian, der die Härte seiner Maßregelungen nicht im Griff hat, kategorisiert der Erzähler jedoch schon früh in der Erzählung als „ein geistig unverzehrtes Überbleibsel aus früheren und wilderen Werdezuständen des Gotteswesens“, die auf die Verehrung „Jahu’s, des Kriegs- und Wetterherrn“1066 zurückgehe, und paraphrasiert damit Freuds Ausführungen zum Vulkangott Jahve als ungehobelte Vorlage für das Bild des alttestamentarischen Gottes.1067 Die angeführten Beispiele sollen vorerst genügen, um deutlich zu machen, dass sich Ironie und Humor im Joseph sowohl auf mythisches als auch auf rationales Denken beziehen. Sowohl das übertriebene wissenschaftliche ‚Bescheid-

|| 1063 Mann, Thomas: Joseph I. S. 211. 1064 Ebd. S. 283. 1065 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1833. 1066 Mann, Thomas: Joseph I. S. 284. 1067 Vgl. Freud, Sigmund: Der Mann Moses. S. 484f.

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Wissen‘ des Erzählers als auch das wortgetreue Hängen an der mythischen Überlieferung wird als Dogmatismus entlarvt, der dem Spott preisgegeben ist. Im Unterschied zum Tod in Venedig erscheinen die mythischen Motive und Bezüge hier nicht als Bebilderung einer unkontrollierbaren irrationalen Macht, sondern der Leser – und teilweise auch die Romanfiguren – stehen in einer kritischen Distanz zur mythischen Überlieferung, die durch den humorvollen und ironischen Erzählton in ihrer Wirkmacht entkräftet wird.

4.2.3 Funktionale Aspekte: Die Humanisierung des Mythos Ein Vergleich zwischen dem Umgang mit mythischem Erzählen im Tod in Venedig und im Joseph lässt erahnen, wie sich Thomas Manns Einstellung zum Mythos entwickelt hat. Während in der frühen Erzählung noch gezielt mythische Erzähltechniken genutzt werden, um ein geschlossenes Netz an Beziehungen aufzubauen, das sich in einer Art Drohkulisse immer enger um den Protagonisten zieht, werden diese in der Romantetralogie reflektiert und bewusst gemacht. Der Umgang mit dem Mythos im Joseph steht im Zeichen seiner Humanisierung. Die Romantetralogie als „mythisch-humoristisches Menschheitslied“1068 soll ihrer Anlage nach das Gegenstück zum faschistischen „Pöbel-Mythos“1069 bilden und als „Geschütz“1070 gegen diesen in Stellung gebracht werden. Sie soll sich fundamental vom nationalsozialistischen Umgang mit dem Mythos unterscheiden: in seinem Vortrag Joseph und seine Brüder nennt Mann sie […] eine humanistisch getönte, ironisch abgedämpfte, ich möchte fast sagen: verschämte Menschheitsdichtung. Damit ist freilich gesagt, daß sich die Art dieses Buches, den Mythos zu traktieren, im tiefsten Wesen unterscheidet von einer gewissen zeitgenössischen Art sich seiner zu bedienen: einer feindseligen und anti-humanen Art, deren politischen Namen wir alle kennen.1071

Mit seinem Programm einer ‚Humanisierung des Mythos‘ vertritt Thomas Mann den Anspruch, den richtigen, den zeitgemäßen Umgang mit der mythischen Überlieferung zu zeigen. Damit ist jedoch zugleich auch gesagt, dass Mythen seiner Ansicht nach einer moderne Bearbeitung bedürfen, um fortschrittlich und humanistisch wirksam sein zu können. Das Konzept zu dieser modernen

|| 1068 Brief Manns an Clarence B. Boutell vom 21.01.1944. In: Briefe II. S. 354. 1069 Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag. S. 194. 1070 Ebd. S. 189. 1071 Ebd.

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Bearbeitung entwickelt Mann erst im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem Mythosbegriff, die bereits ausführlich in Kapitel III dargestellt wurde. In den Joseph-Romanen wird die Humanisierung des Mythos mithilfe von drei Strategien praktiziert, die man als Fortschritt, Ironisierung und Mittlertum bezeichnen kann. Zum einen wird anhand der Entwicklung der Figuren ein Fortschritt im Umgang mit der mythischen Überlieferung aufgezeigt; mythische Motive und Bezüge sind zum anderen auch einer ironischen Erzählweise unterworfen, und nicht zuletzt bietet die Geschichte um Joseph und seine Brüder verschiedene Vermittlungsvorschläge an, die den Konflikt zwischen mythischem und rationalem Denken überbrücken sollen. 4.2.3.1 Fortschritt Die Figuren im Joseph vollziehen einen Fortschritt im Umgang mit der mythischen Überlieferung: insbesondere Joseph beginnt damit, sich von der Bindung an das mythisch vorgegebene Schema zu lösen und dieses in einem freien Spiel zur Bildung einer eigenen Identität und Individualität zu nutzen. Während der Protagonist im Tod in Venedig von den mythischen Mächten, die in sein Leben einbrechen, geradezu überwältigt wird, bemächtigt sich Joseph der mythischen Geschichten, in die sein Leben eingebunden ist. Im Gegensatz zu Aschenbach, der sich immer tiefer in das Netz aus mythischen Todesbezügen und DionysosFiguren verstrickt, setzt sich Joseph selbst den Myrtenkranz auf und spielt virtuos mit den ihm zur Verfügung stehenden mythischen Vorlagen. Das zeigt sich besonders an seiner spielerischen Identifikation mit der Tammuz/Adonis-Rolle des geweihten Gottesopfers, deren Bezüge er im Laufe der Erzählung immer mehr ausweitet, bis er schließlich seine Rollenvorbilder wie Kostüme an- und wieder ablegen kann. Von Jesus über Osiris bis hin zu Gilgamesch und Hermes inszeniert sich Joseph in den unterschiedlichen Situationen, die er zu bewältigen hat, im jeweils passenden mythischen Kostüm. Im Gegensatz zu seinem Großvater Isaak, der sich so stark mit seinem mythischen Vorbild identifiziert, dass er noch im Tode ‚naturgetreu‘ wie ein Widder blökt, hat Joseph eine solche Freiheit im Umgang mit seinen mythischen Prä- und Postfigurationen erreicht, dass er es sich erlauben kann, seinen Namen und seine Rolle jeweils „den Umständen an[zu]passen“1072. An die Stelle des „tragischen Ernst[es]“, mit dem Cassirer die rituelle Identifikation mit dem sterbenden und wiedergeborenen Gott beschreibt, tritt bei Joseph das „ästhetische Spiel“1073.

|| 1072 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1514. 1073 Cassirer, Ernst Das mythische Denken. S. 49.

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Im Zuge dieser Entwicklung nutzt Joseph die mythische Identifikation immer mehr zur Inszenierung seiner eigenen Identität und Individualität, die das schablonenhafte ‚In-Spuren-Gehen‘ in der Nachfolge eines Rollenvorbildes ablöst. Die Formel ‚Ich bin’s‘, die er zunächst zur messianischen Identifikation seiner selbst als Verkörperung des ‚Ganzopfers‘ verwendet, wird am Schluss des Romans zum Garant seiner eigenen Individualität. Als Pharao ihn im Gespräch ein „inspiriertes Lamm“1074 nennt und damit Josephs alte Rollenidentifikation als ‚Ganzopfer‘ und ‚Lamm Gottes‘ wieder aufruft, präzisiert Joseph seine Erkennungsformel folgendermaßen: Deinen Knecht erstaunt es und trifft es rührend ins Herz, daß du geruhst, ein Lamm, nämlich das inspirierte, in ihm zu sehen. Denn ich bin dieses Namens kindlich gewohnt von meinem Vater, dem Gottesfreunde her, der mich ‚das Lamm‘ zu nennen pflegte […]. Dies aber berechtigt mich nicht, deiner Annahme, großer Herr, unbedingt zuzustimmen und zu sprechen: ‚Ich bin’s‘; denn ich bin’s und bin’s nicht, eben weil ich es bin, das will sagen: weil das Allgemeine und die Form eine Abwandlung erfahren, wenn sie sich im Besonderen erfüllen, also daß unbekannt wird das Bekannte und du’s nicht wiedererkennst.1075

Vom sich selbst im mythischen Schema wiedererkennenden ‚Ich bin’s‘ entwickelt sich Josephs Selbstbewusstsein zum individuellen Ausruf ‚Ich bin’s‘ und löst sich damit ein Stück weit von der unbewussten mythischen Identifikation, die noch die Großvätergeneration prägt. Eliezer dagegen ist im Roman der Prototyp der mythischen Identifikation: sein Ich-Bewusstsein ist „nicht ganz […] fest umzirkt“, sondern es steht „nach hinten offen“1076 und schließt das mythische Rollenbild des Ältesten Knechts in sich ein. Seine Identität ist durchsichtig für „eine unendliche Perspektive von Eliezer-Gestalten“1077, die alle dieselbe mythische Rolle erfüllen. Joseph dagegen befreit sich von der ihm schon im Mutterleib zugeschriebenen Rolle des ‚Dumuzi‘, indem er sein mythisches Schema durchschaut und es dann mit allerlei anderen Vorbildern vermengt, um sich aus der Mischung all dieser Vorlagen eine eigene Identität zu schaffen. Dieser Umgang mit der mythischen Überlieferung steht in krassem Gegensatz zu ihrem Gebrauch im Tod in Venedig: hier werden die Figuren so sehr typisiert, dass sie kaum noch individuelle Merkmale tragen. Gerade Tadzio und die Todesfiguren werden mithilfe ihrer mythischen Bezüge zu Typen bzw. Typen-Konglomeraten stilisiert, die ihrer Individualität so weit beraubt sind, dass

|| 1074 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1488. 1075 Ebd. 1076 Mann, Thomas: Joseph I. S. 72. 1077 Ebd. S. 397.

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sie als Gruppe mit den gleichen leitmotivisch wiederkehrenden Attributen charakterisiert werden können. Keine der Figuren hat hier ein Bewusstsein über ihre mythischen Vorlagen, da diese ausschließlich dazu dienen, Aschenbachs Verfall mithilfe von Todessymbolik und Dionysos-Bezügen zu bebildern. Seine Geschichte spielt sich als typisiertes Künstlerschicksal unter der Folie der Entgegensetzung von dionysischem und apollinischem Prinzip ab. Dem steht das freie ästhetische Spiel mit dem Mythos im Joseph gegenüber: hier wird der Protagonist in die Nähe des modernen „Künstlers“ gerückt, der – „insofern er spielt“1078 – die Bindekraft des mythischen Erzählens einer Säkularisierung und Ästhetisierung unterwirft, die seinen dogmatischen Wahrheitsanspruch unterläuft. Die „Geburt des Ich aus dem mythischen Kollektiv“1079 wird anhand der Josephs-Figur als Entwicklungsgeschichte dargestellt und verbindet die Freiheit des ästhetischen Spiels, die sich aus der Gebundenheit an das mythische Schema herausentwickelt, mit der individuellen Identität der Hauptfigur. Zu diesem Fortschritts-Komplex gehört im Joseph auch die Idee des Gottesbundes, der die Individualität des Menschen als Bundespartner Gottes voraussetzt. Der Gottesbund als „theologische Psychologie“1080 fußt auf der Vorstellung des Bundes als „Doppelprozeß“1081, der sowohl der ‚Mitarbeit‘ des Menschen als auch der Weiterentwicklung Gottes bedarf.1082 An die Stelle der Unterwerfung und der Abhängigkeit von einem Gott, die beispielsweise in der Chapi-Szene ironisch entlarvt wird, tritt im Gottesbund ein wechselseitiger Prozess, bei dem der Mensch seinen Gott erst „hervorgedacht“1083 hat. Der Weisheitsspruch des Mystikers Angelus Silesius, den Thomas Mann bei Schopen-

|| 1078 Mann, Thomas: Freud und die Zukunft. S. 499. 1079 Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag. S. 196. 1080 Mann, Thomas: Freud und die Zukunft. S. 490. 1081 Mann, Thomas: Joseph I. S. 284. 1082 Obwohl Thomas Mann die Idee des Gottesbundes in seinem Freud-Vortrag thematisiert, ist diese weit mehr an die Gedanken C. G. Jungs angelehnt. Manns Konzept einer „psychologische[n] Auffassung Gottes“ (Mann, Thomas: Freud und die Zukunft, S. 490) ist kein Freudsches Gedankengut, sondern findet sich bei Jung: In seiner Einleitung zum ‚Geheimnis Goldenen Blüte‘ erläutert er, dass die Idee eines „absolut und jenseits aller menschlichen Erfahrung“ stehenden Gottes keine bindende Wirkung entfalten könne, weil es keine Wechselwirkung zwischen ihm und dem Menschen gebe. Begreife man stattdessen, dass „ein Gott eine mächtige Regung meiner Seele ist“, müsse man sich ernsthaft mit dieser Gottesvorstellung auseinandersetzen (Jung, Carl Gustav: Goldene Blüte. S. 57). Dieser Absatz kehrt fast wörtlich in Thomas Manns Freud-Rede wieder: auch er wendet sich von der Idee einer Gottheit als „absolute Realität“ ab und schlägt stattdessen vor, Gott als „mit der Seele eins“ zu begreifen (Mann, Thomas: Freud und die Zukunft. S. 490). Vgl. dazu auch Kap. 3.2.2.2. 1083 Mann, Thomas: Joseph I. S. 404.

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hauer findet, könnte dieser Idee des Gottesbundes als Motto vorangestellt werden: „Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu leben kann: Werd‘ ich zunicht, er muß vor Not den Geist aufgeben“1084. Der Mensch ist in diesem Konzept ein Instrument der „Selbsterkenntnis Gottes“1085 und entwickelt sich gemeinsam mit ihm weiter, wie Thomas Mann in einem Brief erläutert: Meine Darstellung ergibt sich aus der in den Joseph-Romanen herrschenden Fortschrittsidee, dem ‚mit Gott (zusammen) über etwas hinauskommen‘. Gewisse Dinge waren einmal ganz richtig und vernünftig, hören aber auf, es zu sein und werden zur ‚Gottesdummheit‘. Religiosität besteht wesentlich darin, hierauf, auf Veränderungen im Bilde der Wahrheit und des Rechten achtzugeben. Zu wissen, was die Glocke geschlagen hat, und wo Gott mit uns hinauswill, das nennt Joseph Gottesklugkeit.1086

Mit der Idee des Bundes zwischen Gott und den Menschen ist auch die Pflicht verbunden, mit der geistigen Entwicklung Schritt zu halten und nicht in „überständig[en]“ Verhaltensmustern zu verharren, nur weil „das Alte für ehrwürdig“1087 gilt. Dazu zählt neben der Verehrung des stiergöttlichen ‚Geschlechtsapparates‘ beispielsweise auch die Kastration Potiphars durch die ‚Elterlein‘ oder Labans Opferung des Erstgeborenen, die von Jakob und Joseph als „ein Greuel vor Gott und ein Unflat“1088 tituliert werden. Aschenbachs Hingabe an die ‚dionysische Versuchung‘ im Tod in Venedig ist aus dieser Perspektive ebenfalls als ‚überständiges Verhalten‘ zu beurteilen, das dementsprechend im Joseph auf eine Nebenfigur ausgelagert wird. Die Mut-Episode kommentiert das Schema der Heimsuchung, das in der frühen Erzählung etabliert wurde, noch einmal und gibt Joseph die Möglichkeit, sich von diesem zu distanzieren. Bezeichnenderweise nutzt Joseph zur Abwehr der dionysischen Versuchung durch Mut erneut seine Technik der mythischen Identifikation: indem er sich in die Rolle Gilgameschs hineinversetzt, der sich der Avancen Iŝtars erwehren muss, findet er ein mythisches Vorbild, das er auf seine Situation anwenden kann. In der Hellsichtigkeit Josephs, mit der er mythische Schemata durchschaut und sich diese für sein eignes Leben und die Anreicherung seiner Individualität mit typischen Mustern nutzbar macht, liegt die Fortschrittsidee begründet, die einen neuen Umgang mit der mythischen Überlieferung ermöglichen soll. || 1084 Schopenhauer, Arthur: Welt als Wille und Vorstellung. § 24. S. 194. Vgl. auch eine briefliche Erwähnung dieser Stelle bei Thomas Mann im Brief an Walter Robert Corti vom 10.01.1954. Briefe III. S. 320. 1085 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1347. 1086 Brief Manns an Anni Loewenstein vom 27.10.1945. In: Briefe II. S. 455. 1087 Mann, Thomas: Joseph II. S. 702. 1088 Ebd.

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Im Gegensatz zum nationalsozialistischen Gebrauch mythischer Versatzstücke wird die Identifikation mit mythischen Vorbildern bei Thomas Mann zur Individualisierung der Figuren weiterentwickelt, während diese im Nationalsozialismus zur Stärkung der Gruppenzugehörigkeit genutzt werden. So versucht Rosenberg beispielsweise mit seinem Arier-Mythos eine Gemeinschaft von Auserwählten zu fingieren, die alle die gleichen Eigenschaften der ‚arischen Rasseseele‘ teilen. Die rituelle Weihung der sogenannten ‚Blutfahne‘ bei den Nürnberger Reichsparteitagen soll ebenso wie die nationalsozialistischen „Thingspiele“1089 die Zugehörigkeit zur nationalsozialistischen ‚Bewegung‘ befördern und die Gruppe der Anwesenden von anderen gesellschaftlichen Gruppen abgrenzen. Von einem ‚mythischen Kollektiv‘ dieser Art sind die Figuren im Joseph weit entfernt: und zwar nicht allein durch ihre Individualität, sondern auch durch ihren ironisch-spielerischen Umgang mit der mythischen Überlieferung. 4.2.3.2 Ironisierung und Humor Die wirksamste Strategie, sich von der Macht mythischer Bilder zu distanzieren, ist deren Ironisierung oder humorvolle Entkräftung: ein symbolischer Ausdruck, über den man lachen kann, verliert seine Deutungsmacht und Bindekraft. Im Tod in Venedig werden die mythischen Bezüge selbst nicht humorvoll durchkreuzt, sondern sie tragen zum ‚moralischen Ernst‘ der Erzählung bei. Durch die leitmotivische Verbindung der mythischen Todesfiguren und die immer enger verwobenen Bezüge zum Dionysos-Mythos wird die Suggestionskraft der mythischen Bilder dazu genutzt, Aschenbachs Verfallsgeschichte zu illustrieren und ihr ein archetypisches Gepräge zu geben. Ironisch entlarvt wird dabei sein Versuch, sein Interesse an Tadzio intellektuell zu rechtfertigen, nicht aber die mythische Bildlichkeit an sich. Anstelle von „Pathos und religiöse[r] Inbrunst“1090 wird der Mythos selbst dagegen im Joseph mit Witz und Ironie ‚traktiert‘. Diese erfüllen in den Romanen eine doppelte Funktion: sie schaffen ein enges Geflecht aus Distanz und gleichzeitiger Nähe. Das Lächerlichmachen von allzu strenger Mythen- und auch Wissenschaftsgläubigkeit ermöglicht Distanz zu einem dogmatischen Wahrheitsanspruch und die ‚liebevolle‘ Ironisierung der Figuren schafft zugleich eine Nähe zwischen Leser, Erzähler und den handelnden Figuren, die

|| 1089 Vgl. dazu Beutin, Wolfgang (u.a.): Deutsche Literaturgeschichte. S. 439. 1090 Brief Manns an Ernst Bertram vom 28.12.1926. In: Briefe I. S. 262.

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dazu genutzt wird, den Witz als Mittler zwischen den Sphären des Rationalen und des Irrationalen zu positionieren: Wir sprechen vom Witz, weil dieses Prinzip seinen Platz hat in dem kleinen Kosmos unserer Geschichte und früh die Bestimmung fiel, daß der Witz die Natur hat des Sendboten hin und her und des gewandten Geschäftsträgers zwischen entgegengesetzten Sphären und Einflüssen: zum Beispiel zwischen Sonnengewalt und Mondesgewalt, Vatererbe und Muttererbe, zwischen Tagessegen und dem Segen der Nacht, ja, um es direkt und umfassend zu sagen: zwischen Leben und Tod.1091

Die Bestimmung des Witzes als Vermittler zwischen der Sphäre des Geistes (in Bachofenscher Terminologie als ‚Sonnengewalt‘ bezeichnet) und der der Natur (‚Mondgewalt‘) taucht schon weit früher in der Erzählung auf, als Joseph sich selbst mit Thot, dem ägyptischen Gott der Schreiber, zu identifizieren beginnt. Er nennt ihn einen „leichte[n] und bewegliche[n] Gott“1092, der sich ebenfalls auf den Witz verstehe. Der Witz selbst habe wie Hermes, mit dem Joseph Thot in spielerischer Verwechslung gleichsetzt, „die Natur des Sendboten hin und her und des Unterhändlers zwischen Sonne und Mond“ oder auch zwischen „Körper […] und Gemüt des Menschen“1093. Der Witz soll also ein hermetischer Mittler zwischen Geist und Natur sein und den humanen Ausgleich zwischen der Sphäre des Rationalen und der des Irrationalen bieten. Joseph als Ironiker und ‚Segensträger‘ fällt in den Romanen die Rolle zu, dieses Mittlertum zu verkörpern: Er ist sowohl von ‚mütterlicher‘ wie von ‚väterlicher‘ Seite gesegnet und nutzt seine Gabe zu Witz und Ironie als „Unterhändler“ zwischen „Vatererbe und Muttererbe“ – also in Bachofenscher Übersetzung zwischen der „Sonnengewalt“ des väterlichen Geistes und der „Mondgewalt“1094 der mütterlichen Natur. Von Pharao wird er dementsprechend am Ende des vierten Romans zum „verbindlichen Mittler zwischen Himmel und Erde“1095 ernannt. Dabei bewahrt Joseph seine Selbstironie und die Ironisierung durch den Erzähler davor, zu einer mit Pathos aufgeladenen Messias-Figur zu werden. Er selbst besteht am Ende des Romans trotz seiner unverkennbaren Identifikation mit Jesus Christus und Hermes sogar darauf, „kein Gottesheld und kein Bote geistlichen Heils“ zu sein, sondern nur „ein Volkswirt“1096. Diese augenzwinkernde Ironie, die Joseph mit dem Erzähler teilt, ist für Thomas Mann das Insig|| 1091 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1851. 1092 Mann, Thomas: Joseph I. S. 56. 1093 Ebd. 1094 Ebd. S. 58. 1095 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1524. 1096 Ebd. S. 1774.

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nium des Künstlers, der weder die Erzeugnisse des ‚Geistes‘ noch die der ‚Natur‘ allzu ernst nimmt und so zwischen beiden vermitteln kann: Ich habe es mir angelegen sein lassen, Joseph als eine Künstlernatur zu kennzeichnen, und ein Künstlersegen ist es ja, den er vom Vater empfängt. Der humane Zauber alles Künstlertums besteht in diesem doppelten Segen: dem aus der Höhe herab und dem aus der Tiefe; es ist der Zauber der Sinnlichkeit, die Geist wird, und des Geistes, der sich verleiblicht; Begabung ist es aus mütterlichem Lebensgrunde, aus der Sphäre des Instinkts, des Gefühles, des Traumes, der Leidenschaft – und Begabung aus der väterlichen Lichtsphäre des Geistes, der Vernunft, des Verstandes, des ordnenden Urteils.1097

Mit dieser Mischung versehen kann Joseph zum „mythischen Hochstapler“1098 werden, der sich mit seinen Rollenvorlagen identifiziert und sie zugleich bewusst ironisiert. Obwohl er sich gekonnt im jeweils passenden mythischen Kostüm inszeniert, gebe es – so Thomas Mann – doch „nichts Geistigeres, als die Ironie und Humoristik, die meistens dabei obwaltet“1099. Es ist genau diese Mischung, die Mann zum Programm seines ‚neuen Humanismus‘ erhebt und die sich wiederum vom nationalsozialistischen Umgang mit dem Mythos dadurch unterscheidet, dass Ironie und Humor dessen Geltungsanspruch unterlaufen. Ein Mythos, der mit ‚Augenzwinkern‘ erzählt ist, lässt sich nicht politisch instrumentalisieren. 4.2.3.3 Mittlertum und Humanismus Thomas Mann erkennt und teilt das moderne Interesse am Mythos, obwohl er dessen politische Instrumentalisierung ablehnt. So grenzt er sich seit den zwanziger Jahren vehement gegen all jene Strömungen ab, die er dem Irrationalismus zurechnet, und verbindet seine neue Interpretation mythischer Geschichten mit der modernen Wissenschaft: Die Neugier nach dem menschlich Frühesten und Ältesten, dem Vorvernünftigen – diese anthropologische Neugier nach dem Ursprung und Ziel des Menschen ist rege in uns allen, und das Interesse für den Mythus ist im hohen Maß eine Passion unserer Zeit. Freilich: die ultra-romantische Verleugnung der Großhirn-Entwicklung, der Stufe, die wir im Prozeß der geistigen Bewußtseins-Aufhellung erreicht haben, die Verfluchung des Geistes, die wir an der philosophischen und politischen Tagesordnung sehen – in gewissen

|| 1097 Mann, Thomas: Vom Buch der Bücher und Joseph. In: Wysling, Hans (Hg.): Selbstkommentare. S. 254–261. Hier: S. 260. 1098 Brief Manns an Ernst Bertram vom 28.12.1926. In: Briefe I. S. 262. 1099 Brief Manns an Robert Faesi vom 15.11.1945. In: Wysling, Hans (Hg.): Selbstkommentare. S. 295.

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Ländern wenigstens –, dieses Opfer des Intellekts war nicht meine Sache. Mit schwebte vielmehr die Vereinigung von Sympathie und Vernunft zu einer Ironie vor, die nicht unheilig zu sein brauchte. Mythus und Psychologie – konnte das zusammengehen? Ich dachte: ja. Es konnte, schien mir, lustig sein, vermittelst einer mythischen Psychologie eine Psychologie des Mythus zu versuchen.1100

Interessant ist an dieser Stelle nicht nur die bereits thematisierte Mannsche Formel von ‚Mythus plus Psychologie‘1101, sondern auch die deutliche Zuordnung des Mythos zum ‚Vorvernünftigen‘ (also zum Prärationalen) und die Brandmarkung derjenigen Mythosphilosophien, deren Irrationalismus aus Manns Perspektive hinter den Standards der Aufklärung zurückbleibt. Unter dem Schlagwort der ‚ultra-romantischen Verleugnung der GroßhirnEntwicklung‘ versammelt er all jene Philosophen, die aus seiner Sicht den Geist zugunsten des Mythos aufgeben und vor jenem „nach modisch albernem Brauch auf dem Bauch […] liegen“1102. Damit vertritt Thomas Mann einerseits die Auffassung, dass reflexionsloses und pathetisches Mythenerzählen in der Moderne nicht mehr tragbar ist. Darauf bieten die bereits erwähnten Erzählstrategien im Joseph eine Antwort: die fortschrittliche Entwicklung der Figuren verhindert ein Untergehen im mythischen Kollektiv und die Ironisierung der mythischen Erzählungen steht einer dogmatischen Interpretation und der politischen Instrumentalisierung im Wege. Mann erkennt jedoch auf der anderen Seite auch an, dass die „antirationalistische Bewegung“ eine „geistesgeschichtliche Notwendigkeit“ gewesen sei, die als Reaktion auf den Absolutheitsanspruch der Rationalität in der Nachfolge der Aufklärung zu verstehen ist. Damit stimmt er C. G. Jungs Diagnose zu, der in der von Mann sehr geschätzten Einleitung zum Geheimnis der Goldenen Blüte die Kritik am Rationalismus als „kultürlichen Fortschritt“ bezeichnet, der die „engen Schranken eines tyrannischen Intellektes“1103 zugunsten einer neuen Ganzheit von Geist und Seele sprengen will. Die Mythos-Mode, die damit einherging, sei jedoch – so Thomas Mann – „rasch in die falschen Hände geraten“ und habe „dann in der Wirklichkeit viel Unheil gestiftet“1104. Vor allem dem nationalsozialistischen Missbrauch dieser Mythos-Begeisterung stellt er daher ein Humanismus-Konzept entgegen, das an seine Freud-Interpretation angelehnt ist:

|| 1100 Mann, Thomas: On Myself. S. 181f. 1101 Vgl. Kap. 3.2. 1102 Brief Manns an Hermann Hesse vom 16.05.1934. In: BWHM. S. 109. 1103 Jung, Carl Gustav: Geheimnis der Goldenen Blüte. S. 20. 1104 Brief Manns an Emil Bernhard Cohn vom 01.05.1942. In: Wysling, Hans (Hg.): Selbstkommentare. S. 214.

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Ich glaube, daß heute die besten Geister und Herzen in aller Welt mit der Konzeption eines Menschenbildes beschäftigt sind, das […] der Idee der Ganzheit wieder besser, ja vollkommener als jedes frühere, entspricht: daß ein neues Humanitätsgefühl im Entstehen begriffen ist, worin das Dämonische im Menschenleben, die aus dem Dunkel wirkenden Kräfte der Seele nicht verkannt und verleugnet, aber mehr und mehr von Vernunft durchdrungen, erhellt und dem Leben, der Kultur dienstbar gemacht werden.1105

Diese Durchdringung der nicht-rationalen ‚Kräfte der Seele‘ durch die Vernunft findet Mann in seiner Freud-Rezeption vorgebildet, dessen „Psychologie“ für ihn „das Mittel“ darstellt, „den Mythos den fascistischen Dunkelmännern aus den Händen zu nehmen und ihn ins Humane umzufunktionieren“1106. Im Joseph wird dieses Konzept über die zunehmende Individualisierung der Figuren und die psychologische Durchleuchtung der mythischen Überlieferung mit den Mitteln der Ironie erzählerisch umgesetzt. Entweder sind sich die Figuren – insbesondere Joseph – selbstreflexiv darüber im Klaren, welche mythische Rolle sie gerade spielen, oder sie werden vom Erzähler mit einem psychologischen Begleitkommentar versehen wie Isaak, der als blökender Widder aus Totem und Tabu zitiert. So bleibt kein Stück der mythischen Überlieferung unreflektiert oder unkommentiert, und die Figuren, die sich dennoch wortgetreu an sie halten, werden wie Laban oder die ägyptischen Chapi-Verehrer der Lächerlichkeit preisgegeben. Im Tod in Venedig dagegen steht noch ein ganz anderes Mythos-Konzept im Vordergrund: hier werden mythische Bezüge eingesetzt, um das Irrationale und Verdrängte bildlich sichtbar zu machen. Es ist auffällig, dass alle Figuren, die mithilfe mythischer Vorbilder charakterisiert sind, einen Bezug zum Irrationalen, Triebhaften und Beängstigenden haben: dominant sind neben den Dionysos-Anspielungen vor allem die Todessymbolik, mythische Opferfiguren und die Schwellenmetaphorik, die den Übertritt in eine andere, rauschhafte und dem Tode nahe Welt suggerieren. Es ist bezeichnend, dass Aschenbach selbst nicht nach mythischen Vorlagen gestaltet ist, sondern diesen stattdessen zum Opfer fällt. In der Logik der „Zweischichtenstruktur“1107, bei der unter der realistisch erzählten Ebene eine zweite mit mythischer Symbolik aufgeladene Bedeutungsebene liegt, repräsentiert diese zweite Schicht jene irrationale, ‚dionysische‘ Perspektive auf das Leben, die in Schopenhauers Konzept der ‚Welt als

|| 1105 Mann, Thomas: Vom Buch der Bücher. S. 260. Die Nähe dieses Zitats zu Adornos und Horkheimers Konzept der ‚Dialektik der Aufklärung‘ ist spürbar, auch wenn Adornos Philosophie erst in der Entstehungszeit des ‚Doktor Faustus‘ Thomas Manns Aufmerksamkeit erregt. 1106 Brief Manns an Karl Kerényi vom 18.02.1941. In: BWKM. S. 98. 1107 Dierks, Manfred: Mythos und Psychologie. S. 18.

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Wille‘ ihren Ausdruck findet und die Nietzsche als die ‚tragische Weltsicht‘ beschreibt.1108 Während Nietzsche jedoch davon ausgeht, dass der Mythos das ‚Gegengift‘ gegen die Einsicht in die wahre – dionysische – Realität des Daseins fungiert und die „glänzende Traumgeburt der Olympischen“1109 eine heilsame Reaktion gegen diese Erkenntnis bieten können, ist der Mythos im Tod in Venedig das Vehikel, mit dessen Hilfe eben jene Dimension in Aschenbachs Leben einbricht. Der mit preußischer Tugend und strengem Arbeitsethos versehene apollinische Formkünstler hat den Mächten des Todes und der Verführung des dionysischen Rausches nichts entgegenzusetzen, die ihm im Gewand des Mythos entgegentreten. Die mythischen Figuren sind Ausdruck für eben jenes ‚Dämonische im Menschenleben‘ und ‚die aus dem Dunkel wirkenden Kräfte der Seele‘, die Thomas Mann später der Erhellung durch die Vernunft für bedürftig erklärt. Für die Konnotation des Mythischen mit dem Irrationalen, Unbewussten und Verdrängten spricht auch die enge Verbindung zwischen Mythos und Traum, die im Tod in Venedig immer wieder vorkommt: am prominentesten in Aschenbachs Dionysos-Traum, aber auch in der Dschungel-Vision, die die Begegnung mit dem Fremden auslöst, oder in den Tagträumen am Strand.1110 Die „für das Bewußtsein unkontrollierbaren Erlebnisse“1111, die in Mythos und Traum zum Ausdruck kommen, stehen im denkbar stärksten Kontrast zur bürgerlichen Gefasstheit des Protagonisten und bringen nicht nur die Abgründigkeit des menschlichen Daseins im Angesicht des Todes ans Tageslicht, sondern auch Aschenbachs „durch das Bewußtsein sorgfältig verdrängte Triebwünsche“1112. Zur Verschiebung von Aschenbachs Wahrnehmung ins Traum- und Symbolhafte tragen neben den mythisch charakterisierten Figuren auch die Techniken des mythischen Erzählens bei, die dann im Joseph zugunsten einer humorvoll-heiteren Durchdringung des Irrationalen mit Reflexion, ästhetischem Spiel und Witz aufgegeben werden. Nicht aufgegeben wird jedoch die Bestimmung des Mythischen als ‚vorvernünftig‘ und nicht-rational. Auch im Joseph gilt das Mythische noch als Ausdruck des Lebens, das erst durch den Geist zivilisiert und in geordnete Bahnen gelenkt werden muss, wenn es nicht zum ‚Überständigen‘ werden soll. Dass sich an dieser Zuordnung des Mythos für Thomas Mann nichts geändert hat, ließe sich auch am Einsatz mythischen Er|| 1108 Vgl. Kap. 2.1.1 und 2.2.1. 1109 Nietzsche, Friedrich: Geburt der Tragödie. S. 35. 1110 Vgl. dazu Szendi, Zoltán: Die doppelte Optik von Versteck- und Entlarvungsspiel. Zur Funktion der mythischen Parallelen in Thomas Manns Novelle ‚Der Tod in Venedig‘. In: JuG (1995). S. 31–44. Hier: S. 32f. 1111 Ebd. S. 32. 1112 Ebd.

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zählens im Doktor Faustus zeigen, wo es erneut dazu dient, den Einbruch des Irrationalen in Adrian Leverkühns Leben zu illustrieren. Der rationalen Durchleuchtung des Mythos steht in Thomas Manns Humanismus-Konzept aber auch noch der Wunsch nach ‚Ganzheit‘ zur Seite, der seinen Ausdruck in der zentralen Stellung des Mittlertums findet, wie sie im Doppelsegen formuliert wird. Am Ende der biblischen Vorlage spricht Jakob den folgenden Segen über Joseph: Von deines Vaters Gott werde dir geholfen, und von dem Allmächtigen seist du gesegnet mit Segen oben vom Himmel herab, mit Segen von der Flut, die drunten liegt, mit Segen der Brüste und des Mutterleibes.1113

Diesen Jakobssegen bezeichnet Thomas Mann als den „eigentliche[n] und geheime[n] Text“1114, der seiner Version der Geschichte zugrunde liege. Er markiert Joseph als Mittlerfigur, die sowohl der Sphäre der Natur als auch der des Geistes verbunden ist und einen Ausgleich zwischen beiden zu schaffen vermag. Der Doppelsegen kommt gleich mehrmals in der Geschichte vor: einmal natürlich an der entsprechenden Segensstelle, die im Wortlaut etwas abgewandelt ist.1115 Der Segen beschließt die Geschichte bei Thomas Mann jedoch nicht nur, sondern er eröffnet sie auch. In der Höllenfahrt formuliert der Erzähler im Anschluss an seine gnostischen Spekulationen über das Verhältnis von Geist und Seele ein humanistisches Programm, das auf dem Doppelsegen fußt: [B]eide Teile, die naturverflochtene Seele und der außerweltliche Geist, das Prinzip der Vergangenheit und das der Zukunft, nehmen, jedes nach seinem Sinn, in Anspruch, das Wasser des Lebens zu sein […]. Das Geheimnis und die stille Hoffnung Gottes liegt vielleicht in ihrer Vereinigung, nämlich in dem echten Eingehen des Geistes in die Welt der Seele, in der wechselseitigen Durchdringung der beiden Prinzipien und der Heiligung des einen durch das andere zur Gegenwart eines Menschentums, das gesegnet wäre mit dem Segen oben vom Himmel herab und mit Segen von der Tiefe, die unten liegt.1116

Der Doppelsegen als humanistisches Programm, das zwischen Geist (als ‚Segen von oben herab‘) und Natur (als ‚Segen von der Tiefe‘) vermitteln soll, rahmt das gesamte Romangeschehen ein und steht ihr als eine Art Motto voran. Der Mythos als das ‚Vorvernünftige‘ wird dabei der Sphäre der Natur zugerechnet, das rationale Denken dagegen dem Geist. Joseph als Inhaber dieses „weltli-

|| 1113 Gen. 49, 25f. 1114 Brief Manns an Ernst Bertram vom 28.12.1926. In: Briefe I. S. 269. 1115 Vgl. Mann, Thomas: Joseph II. S. 1901. 1116 Mann, Thomas: Joseph I. S. LIf.

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che[n] Segen[s]“1117, der zwischen beiden Sphären vermitteln kann, ist als hermaphroditische Künstlerfigur gezeichnet, die mythisches und rationales Denken im ästhetischen Spiel vereinigt.1118 Sein „Künstlertum“ ist ein „beflügelthermetisch-mondverwandtes Mittlertum zwischen Geist und Leben“1119, wobei er beides nicht allzu ernst nimmt. Gerade sein ironisch-augenzwinkernder Umgang mit seinen mythischen Rollen auf der einen Seite und seiner rationalen Argumentation als ‚Volkswirt‘ und ‚Herr des Überblicks‘ auf der anderen Seite machen eine Vermittlung erst möglich. Die Idee des Mittlertums ist auch über die Figur Josephs hinausgehend eines der zentralen Motive in den Romanen und wird auf verschiedenen Ebenen aufgegriffen, die bereits im vorangegangenen Kapitel thematisiert wurden. So fungiert der Mond beispielsweise auf der Ebene der an Bachofen angelehnten Leitmotivik als Mittler zwischen der weiblich konnotierten Bedeutung des Mondes und der väterlich-geistigen Sonne. Das Motiv der rollenden Sphäre dagegen vermittelt zwischen dem mythisch-zyklischen und dem wissenschaftlichchronologischen Zeitbegriff. Witz und Ironie bilden eine vermittelnde Instanz zwischen der ‚Mondgenauigkeit‘ mythischer Geschichten und der wissenschaftlichen Exaktheit. Diese Vermittlung, die über die gesamte Erzählung hinweg praktiziert wird, ist jedoch nicht statisch, sondern befindet sich stets in Bewegung: in den Joseph-Romanen ist sie als menschheitliche Fortschrittsgeschichte beschrieben, die sich an der Grenze zwischen mythischem und rationalem Denken aus dem mythischen Denken herauszubewegen beginnt, ohne dieses jedoch ganz abzulegen. Der allgegenwärtige Humor, der diesen Prozess begleitet, bewahrt die Geschichte davor, ein einseitiges Plädoyer für ‚Geist‘ oder ‚Natur‘ zu werden und transportiert den humanistischen Ganzheitsgedanken im Gewand eines ‚Wahrheitsspaßes‘, wie Thomas Mann an Karl Kerényi schreibt: Die Idee hat einen stark humoristischen Einschlag, wie die ganze Theologie des ‚Joseph‘, und mit dem Humoristischen steht es eigentümlich: ganz unernst ist es zwar nicht, will

|| 1117 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1837. 1118 Die hermaphroditischen Züge, die der ‚hübsche und schöne‘ Joseph trägt, sind ebenfalls ein Insignium seines Mittlertums – als Figur, die zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit steht, vermittelt er zwischen beiden Sphären. Die Konnotation des Hermaphroditismus mit messianischer Heilserwartung und Mittlertum hat Thomas Mann seiner Lektüre des Gemeinschaftswerkes von Jung und Kerényi entnommen: In seinem psychologischen Teil des Werkes bezeichnet Jung den Hermaphroditen als „konfliktüberwindenden Heilsbringer“ (Jung, Carl Gustav: Zur Psychologie des Kindarchetypus. S. 115). Vgl. auch Thomas Manns Anstreichungen in seinem Exemplar von Jung, Carl Gustav/Kerényi, Karl: Das göttliche Kind. TMA. S. 62ff. und 115ff. 1119 Mann, Thomas: Schopenhauer. S. 312.

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aber auch nicht streng beim Worte genommen sein, sondern ist eine Art von ‚Wahrheitsspaß‘, der sich wohl hören lassen kann […].1120

Die Funktion des Humors als Mittler zwischen Geist und Leben besteht für Thomas Mann in der „Humanisierung der Wahrheit“1121. An seine amerikanische Gönnerin Agnes E. Meyer schreibt er als Antwort auf ihren Wunsch, der erwachsene Joseph möge „großartig“ werden, dass das Werk als „vorwiegend humoristisches Epos“ höchstens „Einschläge von Großartigkeit“ bieten könne – die Hauptsache dabei sei aber, „daß Sie lachen“1122. Thomas Manns ‚Geschütz‘ gegen die nationalsozialistische Vereinnahmung des Mythos ist – im Gegensatz zu Hermann Hesses ‚Sinceritas‘ – genau dieses: das vermittelnde und grenzüberschreitende Lachen.

|| 1120 Brief Manns an Karl Kerényi vom 07.10.1936. In: BWKM. S. 74. 1121 Mann, Thomas: Bestimmungen. In: GKFA 15,1. S. 1069. 1122 Brief Manns an Agnes E. Meyer vom 08.03.1942. In: Briefe II. S. 246f.

5 Zur Normativität mythischen Erzählens bei Hermann Hesse und Thomas Mann 5.1 Humanismus und ‚Drittes Reich‘ Mit einem Blick zurück zum Ausgangspunkt der Untersuchung lässt sich nun die dort formulierte Vermutung bestätigen und präzisieren, dass die Bewertung des Verhältnisses von Mythos und Rationalität in der Moderne bei Hermann Hesse und Thomas Mann dazu führt, mythischen Erzählen mit einem normativen Anspruch zu verbinden. Spätestens mit der Vereinnahmung mythischer Versatzstücke für die nationalsozialistische Propaganda wird die Beschäftigung mit dem Mythos zum Politikum und scheint einer Positionierung des Künstlers zu bedürfen, der mythisches Erzählen literarisch einsetzen will. Sowohl Hermann Hesse als auch Thomas Mann empfinden den Ersten Weltkrieg als Einschnitt, nach dem Kunst und Künstler sich nicht mehr auf einen unpolitischen Ästhetizismus berufen können. Zwar bezeichnet Hesse bereits 1914 das Treiben all jener Intellektuellen, die „den Krieg ins Reich des Geistes hinübertragen wollen“, als „Unrecht und einen groben Denkfehler“1, während Thomas Mann noch in seinen Gedanken im Kriege über die Analogie zwischen Künstler und Soldat phantasiert.2 Nach dem Ende des Krieges sind sich jedoch beide darüber einig, dass die „geschichtliche Wende“3 auch mit einer ästhetischen einhergeht. So spricht Mann im Rückblick davon, dass der Weltkrieg sein „Gewissen“ zum „Politischen geweckt“4 habe, und auch Hesse sieht im Nachhinein den „Sinn“ der gesellschaftlichen Umwälzungen in der Nachfolge des Krieges darin, dass sie ihn „in eine Problematik hinein führte[n], vor der das rein Ästhetische sich nicht halten konnte“5. Dennoch leiten beide Autoren aus dieser Erkenntnis keinesfalls das Konzept einer engagagierten Literatur ab: die „Politisierung des Geistes“6 – etwa im Sinne Bertolt Brechts – lehnen sie ab. Beiden geht es stattdessen um die Orientierung ihres literarischen Schaffens an der Idee eines ‚neuen Humanismus‘ – oder, wie Hesse es in einem Brief an Thomas Mann bezeichnet, um einen „Weg […] ins Überzeitliche aus

|| 1 Hesse, Hermann: O Freunde, nicht diese Töne!. S. 12. 2 Vgl. Mann, Thomas: Gedanken im Kriege. S. 29. 3 Mann, Thomas: Sechzehn Jahre. S. 366. 4 Ebd. 5 Brief Hesses an Peter Suhrkamp vom 15.01.1942. In: GB III. S. 201. 6 Brief Hesses an Thomas Mann vom 08.05.1945. In: BWHM. S. 205. https://doi.org/10.1515/9783110660421-005

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dem Aktuellen“7. Das „Streben um überpersönliche Werte“8, so wenig konkret politisch es sein mag, hat jedoch für Thomas Mann trotzdem einen direkten Bezug zur Politik, der den Zeitumständen geschuldet ist. In einem Brief an Hesse von 1945 schreibt er über die ‚Politisierung des Geistes‘ in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft: Wir haben das Böse in seiner ganzen Scheußlichkeit erlebt und dabei – es ist ein verschämtes Geständnis – unsere Liebe zum Guten entdeckt. Ist ‚Geist‘ das Prinzip, die Macht, die das Gute will, […] die auf die Annäherung an das zeitlich Rechte, Befohlene, Fällige dringt, dann ist er politisch, ob er den Titel nun hübsch findet oder nicht.9

So ist das Konzept eines ‚neuen Humanismus‘ als Antwort auf die politischen Verwerfungen in der Moderne zwar auf die tagespolitischen Ereignisse bezogen, aber sein Kern ist dennoch abstrakt am ‚Überzeitlichen‘ ausgerichtet. Im Zentrum von Hesses und Manns Humanismus-Begriff steht – in den Worten Thomas Manns – die „Stellung des Menschenwesens zwischen Natur und Geist“10, also zwischen Sinnlichkeit und Vernunft. Eine Vermittlung zwischen beiden macht ihm zufolge das Ideal des Menschen aus: Tatsächlich ist menschliche Bildung, klassische Menschlichkeit, Humanität also, weder möglich allein durch den Geist noch allein durch die Natur. Eine hohe Begegnung von Geist und Natur auf ihrem Wege zueinander, der ein Weg wechselseitiger Sehnsucht ist, das ist der Mensch.11

Eine nahezu gleichlautende Bestimmung des menschlichen Wesens in seiner Stellung zwischen Geist und Natur findet sich auch an zahlreichen Stellen bei Hermann Hesse. Am pointiertesten ist Hesses Nachdenken über den Menschen jedoch in einem literarischen Werk formuliert: in der als Tractat bezeichneten essayistischen Einlage des Steppenwolf findet sich folgende Bestimmung: Der Mensch ist ja keine feste und dauernde Gestaltung […], er ist vielmehr ein Versuch und Übergang, er ist nichts andres als die schmale, gefährliche Brücke zwischen Natur und Geist. Nach dem Geiste hin, zu Gott hin treibt ihn die innerste Bestimmung – nach der

|| 7 Brief Hesses an Thomas Mann vom 21.04.1933. In: BWHM. S. 78. 8 Hesse, Hermann: Tagebuch. S. 653. 9 Brief Manns an Hermann Hesse vom 08.04.1945. In: BWHM. S. 203. 10 Mann, Thomas: Vom Buch der Bücher. S. 261. 11 Mann, Thomas: Die geistigen Tendenzen des heutigen Deutschland. S. 1082. Zum Wandel in Thomas Manns Humanismusbegriff vgl. auch Hamburger, Käte: Thomas Mann und die Romantik. Berlin 1932. S. 79ff.

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Natur, zur Mutter zurück zieht ihn die innigste Sehnsucht: zwischen beiden Mächten schwankt angstvoll bebend sein Leben.12

Der Gegensatz zwischen Geist und Natur ist trotz seiner Verschärfung in der Moderne durch allgegenwärtige Entfremdungserfahrungen kein rein modernes Phänomen: Hesse und Mann beziehen sich in ihrem Nachdenken über die Bestimmung des Menschen auf eine Problemhypothek aus der Romantik. Das Ziel romantischer Poesie beschreibt Ewen als Einheit von „Sinnlichkeit und Vernunft“, der der Mensch sich in einer „als unendlich gedachten Bewegung“ stets nur annähern kann, ohne sie jemals wirklich „erreichen zu können“13. Schelling fasst in der Nachfolge der romantischen Mythostheoretiker daher die „dialektische Vermittlung von Natur und Geist“ in seinem „Begriff des Absoluten“14, das in Kunst und Mythos zum Ausdruck kommen kann. Dieser Ausgangspunkt gipfelt schließlich in der Forderung nach einer ‚Neuen Mythologie‘, die Vernunft und Sinnlichkeit in einem ‚Dritten Zeitalter‘ miteinander versöhnen soll.15 Die Idee eines ‚Dritten Zeitalters‘ bzw. eines ‚Dritten Reiches‘, in dem die polaren Gegensätze miteinander versöhnt sind, gewinnt in der Moderne eine neue Relevanz. Der Terminus ‚Drittes Reich‘, der von den Nationalsozialisten als euphemistische Umschreibung ihrer Schreckensherrschaft vereinnahmt wurde, stammt ursprünglich von dem Zisterzienserabt Joachim von Fiore (1135–1202), der die Offenbarung des Johannes heilsgeschichtlich ausdeutet.16 Er bestimmt drei historisch aufeinanderfolgende Reiche: das erste ist das des Vaters, das zweite das des Sohnes und das dritte das des Heiligen Geistes, das noch nicht angebrochen ist. Dieses dritte Reich des Geistes wird in Anlehnung an das Neue Testament auch als „Tausendjähriges Reich“17 bezeichnet und beinhaltet die Heilsversprechen der Offenbarung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlangt der Begriff sowohl in linken als auch in rechten Kreisen erneute Popularität, wird jedoch nur von der Rechten als politischer Begriff im Rahmen der Ge|| 12 Hesse, Hermann: Der Steppenwolf. S. 63. 13 Ewen, Jens: Ewen, Jens: Was heißt Romantik? Was heißt Thomas Mann und die Romantik? In: Ders./Lörke, Tim/Zeller, Regine (Hg.): Im Schatten des Lindenbaums. Thomas Mann und die Romantik. Würzburg 2016. S. 7–19. Hier: S. 15. Vgl. dazu auch die Position Friedrich Schillers: Ewen, Jens: Erzählter Pluralismus. S. 178ff. 14 Kremer, Detlef: Romantik. 2. akt. Aufl. Stuttgart/Weimar 2003. S. 60. 15 Vgl. dazu ausführlich: Jamme, Christoph: Einführung in die Philosophie des Mythos. S. 36ff.; S. 58. 16 Vgl. Bärsch, Claus-Ekkehard: Die politische Religion des Nationalsozialismus. S. 54f. und Röd, Wolfgang: Der Weg der Philosophie. Bd. 1. Altertum, Mittelalter, Renaissance. München 2000. S. 382. Vgl. auch Kap. 2.2.3.3. 17 Ebd. S. 55.

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schichtsteleologie verwendet.18 Dietrich Eckart, der Hauptschriftleiter des Völkischen Beobachters und engster Vertrauter Adolf Hitlers, benutzt den Topos ‚Drittes Reich‘ bereits im Juli 1919 in einem Beitrag zur Zeitschrift Auf gut deutsch und bezieht sich auf das in der Offenbarung prophezeite Kommen eines ‚Tausendjährigen Reiches‘ der Glückseligkeit, das erst anbrechen könne, wenn die „Macht der Juden“19 gebannt sei. Diese krude Geschichtsdeutung, die dann von der nationalsozialistischen Führungsriege übernommen wurde, hat nichts mit dem theologischen Gehalt des Begriffs bei Joachim von Fiore zu tun. Hier steht der Begriff für geistige Vervollkommnung, die sowohl auf der individuellen Entwicklungsebene als auch im historischen Fortschreiten als höchstes zu erreichendes Ziel gilt. Auch Thomas Mann und Hermann Hesse verwenden den Begriff in den zwanziger Jahren im Zusammenhang mit ihrer Humanitätsidee. So spricht Thomas Mann in mehreren Briefen von einer „Humanität des Dritten Reiches“20 und meint damit „eine wissende, eine geistverbundene Gesundheit“21, die ein Bewusstsein über den Gegensatz von Leben und Tod miteinschließt und diesen in sich aufhebt. Das von seiner Mereschkowski-Lektüre22 inspirierte Konzept wird für Thomas Mann eine Zeitlang geradezu zum Schlagwort, mit dem er seinen Begriff eines ‚neuen Humanismus‘ zusammenfassend umschreibt: So spricht er beispielsweise in seiner Geburtstagsrede für Ricarda Huch (1924) von der „Zweiheit von Geist und Natur, deren Verschmelzung im Dritten Reich das Ziel der Humanität ist“23, wiederholt dieselbe Formulierung in seinem Vortrag über die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte (1929)24 und selbst noch im Bekenntnis zum Sozialismus (1933) bezeichnet er die Kunst als das

|| 18 Bärsch zeigt dies anhand einiger Beispiele auf: so verwenden Martin Wust (‚Das dritte Reich. Ein Versuch über die Grundlage individueller Kultur‘, 1905) und Gerhard Mutius (‚Die drei Reiche. Ein Versuch philosophischer Bestimmung‘, 1916) den Begriff in einem pazifistischen Kontext. Aber auch das ‚völkische‘ Lager beansprucht den Begriff für sich. Er kommt in Hermann Burtes Roman ‚Wiltfeber, der ewige Deutsche‘ (1912) vor und wird von Arthur Moeller van der Bruck verwendet, um ein neu anbrechendes politisches Zeitalter zu benennen, dass Nationalismus und Sozialismus verbindet (‚Das Dritte Reich‘, 1923). Vgl. ebd. S. 56f. 19 Ebd. S. 64. 20 Brief Manns an Hans Armin Peter vom 02.02.1925. In: Ders.: Briefe III. S. 128. Vgl. auch Brief Manns an Carl von Treeck vom 02.02.1927. In: Briefe III. S. 278. 21 Brief Manns an Carl von Treeck vom 02.02.1927. In: Briefe III. S. 276. 22 Mereschkowski stellt in ‚Tolstoi und Dostojewksi‘ Natur und Geist als polare Gegensätze dar, die in einer neuen Religion des ‚Dritten Reiches‘ miteinander vereinigt werden sollen. Vgl. dazu: Dierks, Manfred: Mythos und Psychologie. S. 71. 23 Mann, Thomas: Zum 60. Geburtstag Ricarda Huchs. In: GW X. S. 429–435. Hier: S. 431. 24 Vgl. Mann, Thomas: Stellung Freuds. S. 135.

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„vollendete ‚Dritte Reich‘, von dem große humane Geister geträumt haben und dessen Name heute so mißbräuchlich geführt wird“25. Auch Hermann Hesse verwendet den Terminus auf ganz ähnliche Weise. In seinem Aufsatz Ein Stückchen Theologie (1932) beschreibt er ein triadisches Modell der ‚Menschwerdung‘, bei dem die Zielvorstellung der menschlichen Entwicklung als „drittes Reich des Geistes“26 bezeichnet wird. Damit meint er den Zustand, in dem alle Gegensätze transzendiert sind, insbesondere jedoch der Konflikt zwischen Geist und Natur.27 Das Potential zum politischen Missbrauch dieses Begriffs haben Hesse und Mann jedoch bemerkt und sich auf schärfste von der nationalsozialistischen Terminologie abgegrenzt.28 Die Verbindung des Humanitätsideales mit der Rede vom ‚Dritten Reich‘ als Überwindung des Gegensatzes von Natur und Geist macht aber eines deutlich: in der Moderne scheint das Auseinanderfallen der geistigen Anlagen des Menschen und der Sphäre des Sinnlichen, Unbewussten und Kreatürlichen als besonders konfliktreich empfunden zu werden. Der Wunsch nach einer verloren geglaubten ‚Ganzheit‘ des Menschen ist daher auch eine mögliche Erklärung für das moderne Interesse am Mythos. Als Gegenbild eines rein rationalen Weltzugriffs scheint mythisches Denken entweder als Form eines sinnlichen, bildhaft vermittelten Zugangs zur Realität herangezogen zu werden, der sich grundlegend von der Rationalität unterscheidet, oder es wird als ganzheitliches Denken stilisiert, das den Konflikt zwischen Vernunft und Sinnlichkeit zu transzendieren vermag. Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, dass die Positionen Hermann Hesses und Thomas Manns zur Rolle des Mythos in der Moderne exemplarisch für zwei verschiedene Ansätze zu dieser Frage stehen.

|| 25 Mann, Thomas: Bekenntnis zum Sozialismus. In: Essays 3. S. 353–358. Hier: S. 353f. 26 Hesse, Hermann: Ein Stückchen Theologie. S. 152. 27 Vgl. ebd. S. 164. 28 Vgl. beispielsweise Hesses Beschreibung der „geistige[n] Stimmung“ in Deutschland von 1922: die politische Entwicklung hab etwas „Religiös-Fanatisches“ und es sei eine „Stimmung wie bei Weltuntergang und kommendem tausendjährigen Reich da“. (Brief Hesses an Romain Rolland vom 10.08.1922 In: GB II. S. 26) Er verurteilt die politische Vereinnahmung religiöser Begriffe (so im Brief an R. J. Humm vom 10.07.1938. In: SW 15. S. 549) und den damit verbundenen Führerkult (Vgl. Brief an M. A. Jordan 1932. In: SW 15. S. 389). Auch Mann bezeichnet den Nationalsozialismus als „mythische[s] Surrogat“ (Mann, Thomas: Schicksal und Aufgabe. S. 226) und dessen Propagandamaschinerie als „Massenopiat des Dritten Reiches“ (Mann, Thomas: Deutsche Ansprache. S. 269). Vgl. auch Pikulik, Lothar: Thomas Mann und der Faschismus. S. 54ff.

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5.2 ‚Mythos als Psychologie‘ vs. ‚Mythos plus Psychologie‘ Hesse und Mann verbinden das Erzählen von Mythen beide mit ihrer jeweiligen Vorstellung eines ‚neuen Humanismus‘, aber ihre Bewertung der Rolle, die dem Mythos in diesem Rahmen zukommt, ist durchaus unterschiedlich. Zwar versehen beide das Erzählen von Mythen mit einer psychologischen Komponente, aber sie tun dies auf charakteristisch verschiedene Weise: Während Thomas Manns Formel ‚Mythos plus Psychologie‘ lautet, könnte man Hermann Hesses Ansatz mit ‚Mythos als Psychologie‘ umschreiben. Mythisches Erzählen dient in Hesses Romanen dazu, psychische Prozesse zu veranschaulichen, die über ein vernünftiges Verstehen hinausgehen. Für ihn ist das Ideal des Humanismus bereits dem Mythos inhärent, da er mit Jung davon ausgeht, dass das mythische Symbol den Konflikt zwischen Bewusstsein und Unbewusstem, rationaler Erkenntnis und intuitivem Verstehen transzendiert. Der Einsatz mythischer Bilder als ‚höchstes Symbol‘ ermöglicht daher eine Synthese zwischen Geist und Natur, in der die Spannung zwischen den Gegensätzen überschritten und aufgelöst wird. Thomas Mann dagegen hält Mythen für grundsätzlich irrational und daher der aufklärerisch-analytischen Durchleuchtung für bedürftig. Seine Formel ‚Mythos plus Psychologie‘ fasst dies anschaulich zusammen, denn hier wird deutlich, dass der Mythos als „Kultus des Unteren“29 erst der rationalen Analyse durch die Psychologie bedarf, um humanistisch wirksam sein zu können. Karl Kerényi bemerkt im Rückblick auf den Briefwechsel der beiden treffend, dass Thomas Mann „kein ganz reines Gewissen bei seinem eigenen Mythologisieren“ gehabt habe, weil er es „mit der mütterlichen Sphäre der Natur verband“30. Da er den Irrationalismus in der Moderne auf dem Vormarsch sieht, der sich die Rückkehr zur mythischen ‚Welt der Bilder‘ auf die Fahnen geschrieben hat, hält er mythisches Erzählen nur noch aus ironischer Distanz für angemessen. An Kerényi schreibt er zur modernen Mythos-Mode der ‚Irrationalisten‘, er sei „ein Mensch des Gleichgewichts“, der sich „instinktiv nach links“ lehne, „wenn der Kahn rechts zu kentern droht“31. Angestrebt wird in Thomas Manns ‚Traktieren‘ des Mythos daher keine Synthese, sondern eine Balance zwischen Geist und Leben als Inbegriff eines „humanen Gleichgewichts“32. Die beiden unterschiedlichen Ansätze Manns und Hesses zum Zusammenhang von Mythos und Rationalität zeigen sich nicht nur in ihrer Rezeption des

|| 29 Mann, Thomas: Stellung Freuds. S. 138. 30 Kerényi, Karl: Vorbetrachtungen. S. 22. 31 Brief Manns an Karl Kerényi vom 20.02.1934. In: BWKM. S. 42. 32 Mann, Thomas: Die geistigen Tendenzen des heutigen Deutschlands. S. 1082f.

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modernen Mythosdiskurses, sondern auch in ihrem literarischen Mythenerzählen. So ist es beispielsweise für ihre jeweilige Rezeption des philosophischen Diskurses charakteristisch, dass in Thomas Manns Romanen auf der Inhaltsebene die ‚dionysische Versuchung‘ als festes Handlungsschema wiederkehrt, während Hesse immer wieder die mythische Heldenreise als Vorbild für den Individuationsprozess zum Thema macht. Zugrunde liegt bei Hermann Hesse die Mythos-Interpretation C. G. Jungs, der in mythischer Bildlichkeit ein transrationales Wissen vom Unbewussten verkleidet sieht, das produktiv für die psychische Entwicklung des Individuums genutzt werden kann. Mythische Bilder sind für Hesse – in Schopenhauers Terminologie – eine ‚Umkleidung‘ von Weisheit, die jenseits der Vernunft liegt und eben nicht begriffssprachlich, sondern nur bildlich vermittelbar ist. Thomas Mann dagegen nutzt mythisches Erzählen im Handlungsschema der ‚dionysischen Versuchung‘, um den Einbruch irrationaler Mächte in das gefasste Leben seiner Protagonisten zu illustrieren. Das im Tod in Venedig etablierte Handlungsmuster wird zwar im Joseph entschärft, weil es auf eine Nebenfigur ausgelagert ist, aber schon im Doktor Faustus kehrt es modifiziert wieder. Den philosophischen Hintergrund für seine mythisch bebilderte ‚Entlarvungspsychologie‘ bieten Nietzsche, Schopenhauer und Freud, die sich der ‚Nachtseite‘ des menschlichen Wesens zuwenden. Sigmund Freud wird für Mann dabei in den zwanziger Jahren zum Garanten eines aufklärerischen Umgangs mit dem Mythos, der die dominante Bildlichkeit mythischer Geschichten psychoanalytisch durchdringt und sie als Produkte von Verdrängungsprozessen sichtbar macht. Dementsprechend wird in den JosephRomanen der ‚richtige‘ Umgang mit der mythischen Überlieferung praktiziert: Versatzstücke aus Freuds Totem und Tabu werden dem sich als Opferwidder inszenierendem Großvater in den Mund gelegt, um seine ‚überständige‘ Identifikation mit dem Mythos zu entlarven, die ägyptischen Chapi-Verehrer werden dem unverhohlenen Spott des Erzählers preisgegeben und Joseph selbst übt sich im virtuosen Identifikationsspiel mit dem Mythos, der nur noch als passendes Kostüm für seine ästhetische Hochstapelei von Belang ist. Ganz anders bei Hermann Hesse: hier werden überlieferte Mythen in der Erzählung modernisiert und aktualisiert, um die in ihnen enthaltene Weisheitsidee fortzuschreiben. So erzählt er eine individualisierte Version der Buddha-Legende, in der die Wichtigkeit der eigenständigen Suche nach Weisheit im Zentrum steht, lässt seine Protagonisten im Demian die christlichen Erzählungen gegen den Strich lesen und sie durch gnostisch-psychoanalytische Bildlichkeit ergänzen, oder er zerlegt den Mythos um Narziß, um ihn neu zu arrangieren und auf zwei sich ergänzende Protagonisten zu verteilen. Getreu seinem Motto, dass „alle Mythen der Menschheit […] für uns wertlos“ seien, „solang wir sie nicht persönlich und für

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uns und unsere Zeit zu deuten wagen“33, versucht sich Hesse an der Aktualisierung mythischer Geschichten und Motive, die er für die Moderne für relevant hält. Dieser Unterschied zwischen Hesse und Mann im inhaltlichen Umgang mit Mythen zeigt sich auch hinsichtlich des Einsatzes von formalen Elementen des mythischen Erzählens. So setzen beispielsweise beide die von Bachofen etablierte Bedeutung der Gestirnsmetaphorik als Leitmotiv ein, nutzen diese aber zu ganz unterschiedlichen Zwecken: während Hesse die Entgegensetzung von Sonne und Mond als Symbole für die geistige und die natürliche Sphäre in Narziß und Goldmund dazu nutzt, die höhere Einheit der beiden Protagonisten in der Kunst Goldmunds darzustellen, ironisiert Thomas Mann die ‚Sonnenherrschaft‘ Echnatons als fehlgeleitete Phantasiespekulation eines Muttersöhnchens und macht sie damit lächerlich. Das mit der mütterlich-natürlichen Sphäre des Mondes verbundene Wassermotiv wird für Goldmund zum Spiegel der Selbsterkenntnis, während Hujis und Tujis Begeisterung für die Wasser- und Sumpfwelt im Joseph zum unverkennbaren Indikator ihrer ‚mutterrechtlichen‘ Rückständigkeit stilisiert wird. Analog zur Leitmotivik dient die Typisierung von Figuren bei Hesse dazu, sie in ihrer Bezogenheit aufeinander als Teile einer idealen Ganzheit darzustellen. Im Joseph ist es im Gegensatz dazu gerade die Lösung von mythischer Identifikation und Typisierung, die als Fortschritt beschrieben wird, obwohl sie noch im Tod in Venedig dazu herhalten musste, die Todesfiguren durch ihre typisierten und entindividualisierten Züge besonders bedrohlich erscheinen zu lassen. Auch in Bezug auf die Gestaltung von Zeit und Raum zeigt sich ein ähnliches Bild: im Tod in Venedig dienen der mythisch-zyklische Zeitbegriff und die Entgrenzung und Typisierung des Raumes dazu, das zunehmende Anheimfallen des Protagonisten an die Mächte des Irrationalen zu verbildlichen, während der Fluss im Siddhartha als symbolische Verdichtung der Schopenhauerschen Idealität von Zeit und Raum zum ‚höchsten Symbol‘ erhoben wird, der das Erleuchtungserlebnis Siddharthas erst möglich macht. Auch wenn der Erzähler im Joseph das Bild der ‚rollenden Sphäre‘ einführt, das zwischen mythischem und wissenschaftlichem Raum- und Zeitbegriff vermitteln soll, so ist diese Vermittlung doch im oben ausgeführten Sinne als ‚Balance‘ zu verstehen, bei der sowohl die mythische als auch die wissenschaftliche Vorstellung von Zeit und Raum gleichermaßen ironisiert werden. Das Symbol des Flusses im Siddhartha || 33 Brief Hesses an H.S. vom 13.04.1930. In: Michels, Volker: Materialien zu Hermann Hesses Demian. Bd.1. S. 201.

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dagegen vermittelt nicht zwischen zyklischem und linearen Zeitbegriff, sondern transzendiert den Gegensatz zwischen beiden zu einer höheren Einheit: das Fließen des Flusses erscheint Siddhartha im einen Moment als lineare Fortschrittsbewegung und im anderen als zyklische Wiederkehr – beide Perspektiven löst er schließlich in der Vision der allumfassenden Präsenz der ‚stehenden Gegenwart‘ (nunc stans) auf. Da Hesse davon ausgeht, dass Einsichten dieser Art nur in (mythischen) Bildern transportiert werden können, imitiert der Ton seiner Erzählungen darüber hinaus oftmals den Sprachduktus des Mythos als ‚hohes Wort‘: man denke beispielsweise an seine Angleichung des Sprachrhythmus im Siddhartha an die Lehrreden des Buddha oder an die wortreiche Inszenierung des Unsagbarkeitstopos in Narziß und Goldmund. Aus Thomas Manns Einstellung zu mythischem Erzählen als potentiellem Ausdruck des Irrationalen geht dagegen das Gegenstück zu Hesses ‚Sinceritas‘ hervor: mit Ironie und Humor versucht er, die Macht der mythischen Bilder zu brechen und sie humanistisch zu entschärfen.34 Im Konzept des ‚Mittlertums‘ wird die Ironie im Joseph zum zweiseitigen Schwert, das sich sowohl gegen die pseudowissenschaftlichen Spekulationen des Erzählers als auch gegen das Hängen der Figuren an überkommenen Mythen richtet. Vergleicht man abschließend das Erzählen von Mythen und auch den Einsatz mythischer Erzähltechniken bei Hermann Hesse und Thomas Mann hinsichtlich ihrer Funktion, so kommt man zu dem interessanten Befund, dass beide auf verwandten, aber doch ganz unterschiedlichen Wegen zum selben Ziel eines ‚humanen‘ Umgangs mit dem Mythos kommen wollen. Im Briefwechsel zwischen Hesse und Mann ist oft davon die Rede, dass beide sich als „Brüder“35 im Geiste verstehen, wobei sie sich ihrer Verschiedenheit dennoch stets bewusst sind. Thomas Mann formuliert angesichts der Ähnlichkeit zwischen Hesses Glasperlenspiel und seinem Doktor Faustus: „Man kann sich nichts Verschiedeneres denken, und dabei ist die Ähnlichkeit frappant – wie das unter Brüdern so vorkommt.“36 Diese Aussage trifft nicht nur auf den Vergleich zwischen den beiden Altersromanen zu, sondern auch auf Hesses und Manns Mythenerzählen. Beide greifen in ihren Romanen seit dem Ersten Weltkrieg nahezu || 34 An dieser Stelle sollte zustätzlich erwähnt werden, dass auch Hesse den Humor als Mittler zwischen den Gegensätzen ansieht. Am deutlichsten ist dies im ‚Steppenwolf‘ formuliert: Hier wird der Humor als „drittes Reich“ bezeichnet, das die bürgerliche Alternative zum Streben nach dem Absoluten darstellt und einen „versöhnliche[n] Ausweg“ aus dem Gegensatzproblem anbietet. Vgl. Hesse, Hermann: Der Steppenwolf. S. 57. 35 Mann, Thomas: Hermann Hesse zum siebzigsten Geburtstag. In: BWHM. S. 232–236. Hier: S. 232. 36 Brief Manns an Hermann Hesse vom 08.04.1945. In: BWHM. S. 203.

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durchgängig auf mythische Motive und Erzählungen zurück und setzen sich nicht nur theoretisch, sondern auch in ihrem literarischen Schaffen mit dem modernen Mythosdiskurs auseinander. Beide finden darüber hinaus in der modernen Psychoanalyse das jeweilige Mittel, um „den Mythos den fascistischen Dunkelmännern aus den Händen zu nehmen“37 und ihm eine neue Aktualität zu geben: Hermann Hesse versucht dies im Medium des Romans als ‚Seelenbiographie‘, Thomas Mann dagegen in der humorvoll-ironischen Durchleuchtung der mythischen Überlieferung. Die Stichworte ‚Synthese‘ und ‚Balance‘ charakterisieren dabei nicht nur ihre Vorstellung von der idealen Einheit von Rationalität und Sinnlichkeit (oder von ‚Geist‘ und ‚Natur‘), sondern auch die Funktion des mythischen Erzählens in ihren Romanen. Während Hesse davon überzeugt ist, dass die beschriebenen Gegensätze zu einer höheren Einheit transzendiert werden können, beschränkt sich Thomas Mann auf das Streben nach einer Mitte zwischen den Gegensätzen, zwischen denen er als „Mensch des Gleichgewichts“ 38 mit humorvoller Distanz vermittelt. Für den einen ist der Mythos ein Medium transrationaler Erkenntnis, für den anderen eine Äußerungsform des Irrationalen, das jederzeit in die vernünftige Gefasstheit des menschlichen Lebens einbrechen kann und daher einer aufklärerisch-ironischen Entschärfung bedarf.

|| 37 Brief Manns an Karl Kerényi vom 18.02.1941. In: BWKM. S. 98. 38 Brief Manns an Karl Kerényi vom 20.02.1934. In: BWKM. S. 42.

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5.3 Romantisches Erbe und Modernität Ausgehend von diesem Befund lässt sich abschließend noch fragen, in welchem Verhältnis die beiden Ansätze Hesses und Manns zur literarischen Moderne stehen. Beide werden in der Literaturgeschichtsschreibung gerne als zwei der sogenannten „großen Einzelgänger“39 bezeichnet, da sich ihr literarisches Schaffen nach dem Ersten Weltkrieg keiner Strömung der Moderne mehr eindeutig zuordnen lässt. Zwar identifiziert sich Hesse noch um die Jahrhundertwende mit den „Neuromantikern“40 und Thomas Mann liebäugelt mit der Décadence-Literatur, aber seit dem historischen Einschnitt des Ersten Weltkrieges suchen beide ihre eigenen Wege in die Moderne. Dabei wurzeln beide Autoren tief in der romantischen Tradition: so knüpft Hesse in seinen Texten zeit seines Lebens an philosophische und literarische Konzepte aus der Romantik – insbesondere der Frühromantik – an41, während Thomas Mann mit seinem an Wagner und Schopenhauer orientierten Romantik-Begriff und dessen politischen Implikationen ringt42. Relevant für ihren Umgang mit mythischem Erzählen sind neben der bereits erwähnten Problemhypothek des Gegensatzes von Geist und Natur vor allem zwei Konzepte, die nachfolgend nur andeutungsweise kurz skizziert werden: für Thomas Mann ist es die romantische Ironie und für Hermann Hesse die Vorstellung von der Kunst als Medium der Annäherung an das Absolute. Hesse knüpft an die Einheits-Idee der Frühromantiker an, die in der Kunst die Möglichkeit einer Vereinigung von „Sinnlichkeit und Vernunft“43 sehen, die sich in einer unendlichen Suchbewegung dem Absoluten nähern kann. Hesse sieht sich in der Tradition der Romantik stehend, insofern er als „Verehrer der

|| 39 Blomberger, Günter: Art. Moderne. In: Fricke, Harald (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. II. Berlin/New York 2007. S. 620–624. Hier: S. 620. 40 Hesse, Hermann: Autobiographischer Beitrag. In: SW12. S. 10–12. Hier: S. 11. 41 Vgl. ausführlich: Weibel, Kurt: Hermann Hesse und die deutsche Romantik. Winterthur 1954. 42 Zur Rolle der Romantik bei Thomas Mann vgl. Eichner, Hans: Against the grain. Thomas Mann und die deutsche Romantik. In: Kanadische Studien zur deutschen Sprache und Literatur 47 (2003). S. 315–339; Ewen, Jens: Was heißt Romantik? Was heißt Thomas Mann und die Romantik? In: Ders./Lörke, Tim/Zeller, Regine (Hg.): Im Schatten des Lindenbaums. Thomas Mann und die Romantik. Würzburg 2016. S. 7–19; Hamburger, Käte: Thomas Mann und die Romantik. Berlin 1932; Löwe, Matthias: Romantik bei Thomas Mann. Leitbegriff, Rezeptionsobjekt, Strukturphänomen. In: Ewen, Jens/Lörke, Tim/Zeller, Regine (Hg.): Im Schatten des Lindenbaums. Thomas Mann und die Romantik. Würzburg 2016. S. 21–70. 43 Ewen, Jens: Erzählter Pluralismus. S. 195.

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Bipolarität“44 in der Kunst dennoch stets nach dem Ideal der dahinter vermuteten Einheit strebt. Als ‚romantischen Standpunkt‘ bezeichnet er in seinem Essay über den Geist der Romantik (1926) die Fähigkeit, die bipolar geordnete Wirklichkeit zu hinterfragen und „jeden Augenblick alle Formen sich auflösen und ineinander übergehen zu lassen“45. Die Auflösung von rationalem Differenzierungsdenken als Teilaspekt der romantischen „progressiven Universalpoesie“46 beschreibt Ewen folgendermaßen: Kunst allein ist aus Sicht der frühromantischen Theoretiker dazu in der Lage, das Unendliche im Endlichen zur Darstellung zu bringen, im Betrachter also zumindest das Gefühl hervorzurufen, dass die Differenz zwischen Ich und Welt, zwischen Mensch und Natur, zwischen Geist und Natur überwunden und getilgt ist.47

Diese Kunst-Auffassung teilt auch Hesse: wenn in der Forschung davon die Rede ist, dass er auf den Wertepluralismus der Moderne mit der Produktion von „Sinngeschichte[n]“48 reagiert, so kann man dem zumindest dahingehend zustimmen, dass Hesse in seinen Romanen stets versucht, den „Gedanke[n] der Einheit“ allen Seins als Grundlage des „Lebens mit seinen tausend Formen“49 sichtbar zu machen. Er glaubt an die Synthese-Funktion der Kunst, die sich in der Bildsprache ‚höchster Symbole‘ an das Unsagbare, das Absolute annähern kann. Gerade in Bezug auf mythisches Erzählen geht es Hesse nicht um „Ästhetisierung“ des Mythos und den „Verzicht auf seine Funktion“50 (was die Assmanns als konstitutiv für modernes literarisches Mythenerzählen bezeichnen), sondern es geht – durchaus normativ – um die Vermittlung eines Ideals im Medium der Kunst.51

|| 44 Brief Hesses an Thomas Mann vom Mai 1955. In: BWHM. S. 312. 45 Hesse, Hermann: Geist der Romantik. S. 390. 46 Vgl. Schlegel, Friedrich: Fragmente. In: Ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler u.a. Bd. II. München (u.a.) 1967. S. 165-255. Hier: S. 182f. 47 Ebd. 48 Schärf, Christian: Hermann Hesse und die literarische Moderne. Der Dichter als Missionar. In: Solbach, Andreas (Hg.): Hermann Hesse und die literarische Moderne. Kulturwissenschaftliche Facetten einer literarischen Konstante im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2004. S. 87– 100. Hier: S. 95. 49 Hesse, Hermann: Geist der Romantik. S. 388. 50 Assmann Aleida/Assmann, Jan: Art. Mythos. S. 195. 51 Zur Modernität Hesses vgl. Huber, Peter: Alte Mythen, neuer Sinn. Zur Codierung der Moderne und Modernisierung im Werk Hermann Hesses. In: Solbach, Andreas (Hg.): Hermann Hesse und die literarische Moderne. Kulturwissenschaftliche Facetten einer literarischen Konstante im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2004. S. 175–201; Petropoulou, Paraskevi: Die Subjektkonstitution im europäischen Roman der Moderne. Zur Gestaltung des Selbst und zur

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Im Gegensatz dazu scheint sich Thomas Mann mithilfe der Ironie von Aussagen über das ‚Absolute‘ frei halten zu wollen. Aber auch er knüpft damit an eine romantische Tradition an. Ausgehend von der Erkenntniskritik Kants und Fichtes formuliert Friedrich Schlegel sein Konzept einer romantischen Ironie, die eine literarische Antwort auf die Infragestellung der objektiven Erkennbarkeit einer ‚absoluten‘ Realität bietet. Die romantische Ironie soll als „Transzendentalpoesie“ zum einen poetologische Selbstreflexion beinhalten und damit „Poesie der Poesie“52 sein, und zum anderen im stetigen Spiel von These und Antithese die „subjektiv begrenzten Erkenntnismöglichkeiten“53 reflektieren, ohne dabei jedoch den Anspruch auf die Ausrichtung am Absoluten oder an „letzte[n] Wahrheiten“54 gänzlich aufzugeben: Denn im Modus ironischer Rede kann jede Aussage mit einem Vorbehalt versehen werden, der Ansprüche auf Allgemeingültigkeit infrage stellt und relativiert. Aber auch die Gültigkeit dieser Relativierung ist nur begrenzt, so dass sich ein endloses Spiel der semantischen Gehalte beider Aussagen ergibt, das an kein Ende kommen kann und die Aussagen in einem beständigen Schwebezustand hält.55

In seiner Analyse zu Thomas Manns Verhältnis zur Romantik kommt Matthias Löwe zu dem Schluss, dass Mann dieses romantische Ironie-Konzept zwar teile, in seinem eigenen literarischen Schaffen aber auf die Ausrichtung der Kunst als Annäherung an das Absolute verzichte.56 Auch Ewen sieht in Thomas Manns Ironie das Bestreben um das „Aufrechterhalten von Differenzen“57 realisiert und erkennt gerade darin die Modernität Manns. Anstelle der Sehnsucht nach dem absolut Gültigen entscheide sich Thomas Mann „für ein Offenhalten der Positionen“ und für „ein Aufrechterhalten der Gegensätze zwischen Kunst und Leben, zwischen Geist und Welt“58, das den erkenntniskritischen Einsichten der Moderne Rechnung trage. Diese Diagnose deckt sich zum Teil mit den hier formulierten Befunden: im Gegensatz zu Hesse nutzt Thomas Mann ironisches

|| Wahrnehmung des Anderen bei Hermann Hesse und Nikos Kazantzakis. Wiesbaden 1997; Schärf, Christian: Hermann Hesse und die literarische Moderne. Der Dichter als Missionar. In: Solbach, Andreas (Hg.): Hermann Hesse und die literarische Moderne. Kulturwissenschaftliche Facetten einer literarischen Konstante im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2004. S. 87–100. 52 Schlegel, Friedrich: Fragmente. S. 182f. 53 Ewen, Jens: Erzählter Pluralismus. S. 24. 54 Ebd. 55 Ebd. S. 198. 56 Vgl. Löwe, Matthias: Romantik bei Thomas Mann. S. 64. 57 Ewen, Jens: Erzählter Pluralismus. S. 216. 58 Ebd. S. 219.

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Sprechen in der Tat dazu, eine Balance oder Mitte zwischen ‚Geist und Leben‘ zu etablieren, bei der beide Seiten ironisiert und damit in der Schwebe gehalten werden. Dennoch sollte man in Thomas Mann, meiner Ansicht nach, keinen modernen Relativisten sehen, denn sein Konzept eines „humanen Gleichgewichts“59 ist hochgradig normativ aufgeladen. Thomas Manns ironischer Umgang mit dem Mythos steht ebenso im Zeichen der Abwehr von Irrationalismus und politischer Vereinnahmung wie seine Rezeption des modernen Mythosdiskurses. Die Diskrepanz zwischen einer eindeutigen Positionierung für Humanität und Vernunft auf der einen Seite und der Rolle der Kunst als ironisches Mittlertum auf der anderen Seite hat Thomas Mann in einem Brief an Hermann Hesse pointiert formuliert. Im Gespräch über die Bedeutung der Bachofenschen Unterscheidung von ‚mütterlicher‘ Natur und ‚väterlichem‘ Geist für die Moderne bemerkt Thomas Mann: Mir kommt es nicht zu, es wäre eine Art von Snobismus, mich unumwunden auf die Seite des mütterlichen und der ‚Königin der Nacht‘ zu schlagen. Unter uns gesagt, gerät man auch heute in eine fürchterliche Gesellschaft dabei, und aus Ekel vor dieser habe ich das kleinere Übel vorgezogen, mich in den Ruf eines dürr humanitären Rationalisten zu bringen. In Wahrheit ist meine Produktion ein Spielen zwischen geliebten und ironisierten Gegensätzen, - wie mir denn überhaupt dieser Zwischenraum recht eigentlich als der Spiel-Raum der Kunst und Ironie erscheint.60

Das ‚kleinere Übel‘ der eindeutigen Positionierung gegen Irrationalismus und faschistische Mythos-Vereinnahmung nimmt Thomas Mann in Kauf, und relativiert damit ein Stück weit das ‚freie Spielen‘ der Kunst zugunsten seines Humanismus-Konzeptes. Hinter einem Roman wie dem Joseph steht nicht mehr Nietzsches Diktum, dass die Kunst im Sinne der romantischen Autonomieästhetik „vor Allem Reinheit in ihrem Bereiche verlangen“61 und sich daher jeglicher Normativität enthalten müsse. In seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche bezeichnet Mann diese Aussage als „zeitgebunden“ und für die Moderne nicht mehr zeitgemäß: er und seine Zeitgenossen seien „nicht mehr Ästheten genug, uns vor dem Bekenntnis zum Guten zu fürchten“62 und das Ideal einer neuen Humanität auch in der Kunst umzusetzen. Auch auf Thomas Mann trifft die

|| 59 Mann, Thomas: Die geistigen Tendenzen des heutigen Deutschlands. S. 1082f. 60 Brief Manns an Hermann Hesse vom 25.03.1932. In: BWHM. S. 70. 61 Nietzsche, Friedrich: Geburt der Tragödie. S. 152. 62 Mann, Thomas: Nietzsche’s Philosophie im Lichte unserer Erfahrung. S. 225.

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Diagnose einer „Ästhetisierung“63 des Mythenerzählens in der Moderne also nicht gänzlich zu.64 In Thomas Mann einen Vertreter des modernen Wertepluralismus zu sehen, während Hermann Hesse als unreflektierter Produzent von „Sinngeschichte[n]“65 abgestempelt wird, ist also sicherlich eine allzu holzschnitthafte Sichtweise. Stattdessen sollte man Hesses und Manns theoretische und literarische Auseinandersetzung mit dem Mythos als zwei mögliche Antworten auf die epistemologischen Herausforderungen der Moderne interpretieren.66 Betrachtet man die Entwicklung der Moderne mit Gumbrecht als „kaskadenartige Folge“67 von Prozessen der „epistemologischen Modernisierung“68, die bereits weit vor dem Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzt, so ist Hesses und Manns Umgang mit dem Mythos durchaus als modern zu bezeichnen. Im Medium des Mythenerzählens reflektieren beide Autoren die Grenzen der Rationalität und ihr Verhältnis zu den nicht-rationalen Anteilen der menschlichen Psyche. Obwohl sie das Verhältnis von Mythos und Rationalität unterschiedlich bewerten, macht die Verbindung von Mythos und Psychologie jeweils die Modernität ihres Schaffens aus. So entwirft Hesse beispielsweise ein modernes Konzept des Individuums, das nicht als abgeschlossene Ganzheit betrachtet werden kann, sondern in fragmentarische Bestandteile zerfällt, und setzt dies mithilfe von mythischer Erzähltechnik literarisch um. Die Reflexion des Individuationsprozesses, um den sein literarisches Mythenerzählen kreist, ist ebenso eine Antwort auf die kollektiven Identifikationssymbole des Nationalsozialismus wie Thomas Manns Ironisierung des Mythos. Zwar inszeniert Thomas Mann in Josephs „Geburt des Ich aus dem mythischen Kollektiv“69 die Identitätsfindung als Lösung vom mythischen Schema, während Hermann Hesse es bewahrt und modernisiert, aber || 63 Assmann, Aleida/Assmann, Jan: Art. Mythos. S. 195 64 Ein Vergleich von Hesses und Manns Art des Mythenerzählens mit anderen Beispielen aus der europäischen modernen Literatur, wie beispielsweise James Joyces ‚Ulysses‘ oder André Gides ‚Theseus‘, böte daher Stoff für eine weitere Untersuchung. So ließe sich etwa fragen, ob die Abkehr von der Ästhetisierung mythischen Erzählens zugunsten einer normativen Ausrichtung des Erzählens ein nur auf die deutsche Literatur begrenztes Phänomen ist oder allgemein als konstitutiv für die Moderne betrachtet werden kann. 65 Schärf, Christian: Hermann Hesse und die literarische Moderne. S. 95. 66 Mit Jens Ewen gehe ich hier von einem weiten Moderne-Begriff auf, der „jede mögliche Raktion auf Modernisierungserfahrungen“ mit einschließt. Vgl. Ewen, Jens: Erzählter Pluralismus. S. 16ff. 67 Gumbrecht, Hans Ulrich: Kaskaden der Modernisierung. In: Weiß, Johannes (Hg.): Mehrdeutigkeiten der Moderne. Kassel 1998. S. 17–41. Hier: S. 21. 68 Ebd. S. 19. 69 Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag. S. 196.

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beide nutzen mythisches Erzählen im Sinne einer literarischen Umsetzung eines neuen Humanismus. An die Stelle der politischen Kollektivierung, bei der einzelnen Menschen „zu einer einzigen mythischen Gemeinde zu verschmelzen“70 sollen, tritt bei beiden Autoren der Wert des Individuellen, der in Josephs Doppelsegen ausgedrückt ist: Denn das musterhaft Überlieferte kommt aus der Tiefe, die unten liegt, und ist, was uns bindet. Aber das Ich ist von Gott und ist des Geistes, der ist frei. Dies aber ist gesittetes Leben, daß sich das Bindend-Musterhafte des Grundes mit der Gottesfreiheit des Ich erfülle, und es ist keine Menschengesittung ohne das eine und ohne das andere.71

In diesem Sinne weist Hermann Hesses und Thomas Manns Nachdenken über den Mythos möglicherweise sogar über die Moderne hinaus: Beide sehen in ihm – auf charakteristisch unterschiedliche Weise – eine Form des ‚anderen‘, nicht-rationalen Denkens, das die Grenzen der Rationalität aufzeigt und im besten Fall den aufklärerischen Vernunftbegriff um das psychologische Wissen über die ‚Tiefe, die unten liegt‘, erweitert und bereichert.

|| 70 Beutin, Wolfgang (u.a.): Deutsche Literaturgeschichte. S. 439. 71 Mann, Thomas: Joseph II. S. 1489.

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Index Abraham, Karl 55, 116, 211, 350, 373, 379f., 391 Arndt, Ernst Moritz 194 Bachofen, Johann Jakob 3, 9f., 12, 28, 30, 40–54, 81f., 86, 89f., 92, 94, 98, 104, 139f., 147f., 150, 161, 163–167., 191–198, 212, 238f., 268, 288–291, 344, 351, 364–366, 373–378, 388, 422, 431 Bacon, Francis 26, 264 Baeumler, Alfred 10, 12, 40f., 44, 48–55, 91– 93, 103, 163, 191, 193–197, 373 Ben Gorion, Emanuel 333 Bernoulli, Carl Albrecht 191 Bertram, Ernst 203, 403 Blumenberg, Hans 18–21, 24, 224 Buddha 7, 32, 153, 155, 162, 228, 244–246, 248–256, 258f., 262f., 278, 287f., 297, 301f., 307–310, 430, 432 Campbell, Joseph 7, 19, 68, 239, 247, 270, 272, 274, 276f., 281, 317 Cassirer, Ernst 18, 21, 66, 109, 140, 223–226, 301, 388, 391, 411 Chamberlain, Houston Stewart 98, 102, 199 Creuzer, Friedrich 112 Deussen, Paul 155, 246 Diderot, Denis 26 Döblin, Alfred 2 Eckart, Dietrich 96, 427 Ehrenberg, Paul 214 Euripides 75f., 182, 332, 361 Fichte, Johann Gottlieb 30, 436 Flournoy, Théodore 115 Freud, Sigmund 4, 9f., 13, 28, 30, 55–65, 67, 81, 111–117, 120, 128f., 134, 144, 147, 161, 164f., 169, 182f., 186–188, 190, 197f., 201–212, 216–221, 264, 318, 347f., 377–380, 382, 394, 409, 413, 418f., 427, 429f. Frobenius, Leo 270

https://doi.org/10.1515/9783110660241-007

George, Stefan 82, 91 Gide, André 2 Goethe, Johann Wolfgang von 182f., 269f., 331f., 383 Gundert, Hermann 153 Haekel, Ernst 117 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 27, 49, 66, 193 Herodot 112, 344 Hesse, Hermann 1–9, 12–15, 66, 81, 138, 151–182, 184, 190–192, 204, 220, 222f., 226–236, 238, 240, 242–250, 252–264, 267–270, 275–278, 280–285, 287–293, 295–314, 317–329, 354, 373, 385, 392, 418, 423–439 Hitler, Adolf 49, 92f., 95–97, 108–110, 133, 168, 427 Hofmannsthal, Hugo von 2 Homer 24, 50f., 144, 154, 311 Hume, David 21 Jeremias, Alfred 333, 392 Joyce, James 2, 6, 9, 13 Jung, Carl Gustav 7f., 10, 28, 55f., 111–140, 142–144, 146f., 150f., 153, 156f., 160, 164f., 169–176, 190, 201, 207–213, 215, 222, 224, 227f., 234–241, 243, 270, 284, 297f., 314–321, 327–329, 355, 413, 418, 422, 429f. Kafka, Franz 66 Kant, Immanuel 30, 33, 49, 66, 436 Kerényi, Karl 1, 10, 18–21, 28f., 111, 138–150, 177–179, 182f., 191f., 195, 197f., 201, 203, 211–213, 215, 219, 223–225, 334, 341, 354–356, 419, 422f., 429, 433 Keyserling, Hermann Graf 151f., 176 Klages, Ludwig 10, 28, 40, 66, 81–95, 98, 103, 130, 166f., 190f., 195, 197–199, 209f., 268, 289, 311f., 328, 373 Konfuzius 156, 171

458 | Index

Lagarde, Paul de 98 Lao Tse 156, 171, 259–262, 302 Lévi-Strauss, Claude 18, 20f., 223–225 Lévy-Bruhl, Lucien 140, 209 Maeder, Alphonse 116 Malinowski, Bronislaw 140 Mann, Erika 1, 184, 192 Mann, Thomas 1, 4–6, 8–13, 23, 44, 48–49, 52f., 55, 66, 81, 91, 93, 107, 122, 138f., 144, 151, 157, 163, 165, 168f., 177, 181– 223, 225f., 228, 307, 313, 327, 330–336, 347–348, 350f., 353–358, 361f., 364, 366–368, 370–383, 385f., 388–397, 399f., 402–439 Mereschkowski, Dmitri 333, 347f., 427 Mommsen, Theodor 40, 42, 147 Musil, Robert 66 Neumann, Karl Eugen 155, 250, 307 Nietzsche, Friedrich 3, 9–11, 28, 46, 49, 66– 81, 87, 91, 93, 98, 103, 124f., 130, 140, 153, 161, 163, 166, 182f., 190, 195, 201– 204, 216–219, 241, 288, 331, 334, 357– 361, 364, 366f., 383–385, 403, 420, 430, 437

Ranke, Hermann 333 Riklin, Franz Beda 116 Rilke, Rainer Maria 2, 144 Rohde, Erwin 112, 154, 361 Rosenberg, Alfred 3, 28, 49, 66, 91–93, 95– 110, 166f., 169, 191, 196f., 199f., 404, 415 Savigny, Friedrich Carl von 41f. Schlegel, August Wilhelm 36 Schlegel, Friedrich 27f., 436 Schopenhauer, Arthur 9, 28, 30–40, 65–67, 69–75, 77–79, 98, 104, 154–157, 159– 163, 165, 170, 182f., 187f., 192, 201–203, 210, 216–219, 244, 304, 331, 358, 362, 374, 385–387, 390, 395, 414, 419, 422, 430, 434 Schröter, Manfred 44, 48, 50 Schuler, Alfred 82, 103 Sokrates 25, 76f., 80, 338, 370, 395–403 Vergil 154, 312 Vico, Giambattista 21

Platon 24f., 77, 182, 332, 338, 370, 395–397, 399–403

Wagner, Eva 98 Wagner, Richard 9f., 66, 69, 78, 98, 182f., 185, 203, 330, 368, 372f., 383f., 434 Weber, Max 2 Wilamowitz-Moellendorf, Ulrich von 145, 147 Wilhelm, Richard 130 Wolfskehl, Karl 82 Wundt, Wilhelm 58

Rank, Otto 55, 205, 270

Xenophanes 24

Oldenburg, Hermann 155 Otto, Walter Friedrich 145