Myofasziale Schmerzen und Funktionsstörungen: Diagnostik und Therapie [1. Aufl. 2020] 978-3-662-59505-3, 978-3-662-59506-0

In der Arztpraxis suchen oft Patienten Rat, deren Beschwerden funktioneller Natur sind und nicht unmittelbar über Labor

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Myofasziale Schmerzen und Funktionsstörungen: Diagnostik und Therapie [1. Aufl. 2020]
 978-3-662-59505-3, 978-3-662-59506-0

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-IX
Einleitung (Rolf Eichinger, Kerstin Klink)....Pages 1-3
Myofasziale Gelosen oder Blockaden (Rolf Eichinger, Kerstin Klink)....Pages 5-7
Pathophysiologie (Rolf Eichinger, Kerstin Klink)....Pages 9-31
Klinik myofaszialer Syndrome (Rolf Eichinger, Kerstin Klink)....Pages 33-39
Allgemeinmedizinische Diagnose- und Behandlungsansätze (Rolf Eichinger, Kerstin Klink)....Pages 41-47
Therapie des Myofaszialen Organs (Rolf Eichinger, Kerstin Klink)....Pages 49-53
Fallbeispiele (Rolf Eichinger, Kerstin Klink)....Pages 55-66
Das Knotenmodell aus physiotherapeutischer Sicht – Das KLINEA-Konzept (Rolf Eichinger, Kerstin Klink)....Pages 67-68
Die Befunderhebung in KLINEA (Rolf Eichinger, Kerstin Klink)....Pages 69-71
Pathophysiologische Betrachtung aus Sicht des Physiotherapeuten (Rolf Eichinger, Kerstin Klink)....Pages 73-74
KLINEA-Befundung (Rolf Eichinger, Kerstin Klink)....Pages 75-87
KLINEA-Therapie (Rolf Eichinger, Kerstin Klink)....Pages 89-93
Patientenbeispiel (Rolf Eichinger, Kerstin Klink)....Pages 95-101
Back Matter ....Pages 103-108

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Rolf Eichinger · Kerstin Klink

Myofasziale Schmerzen und Funktionsstörungen Diagnostik und Therapie

Myofasziale Schmerzen und Funktionsstörungen

Rolf Eichinger · Kerstin Klink

Myofasziale Schmerzen und Funktionsstörungen Diagnostik und Therapie

Rolf Eichinger Hilpoltstein, Deutschland

Kerstin Klink Roth, Deutschland

ISBN 978-3-662-59505-3 ISBN 978-3-662-59506-0  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-59506-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Fotonachweis Umschlag: ©Africa Studio/stock.adobe.com Umschlaggestaltung: deblik Berlin Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Vorwort

Seit Jahren erstaunt mich, wie viele unterschiedliche Beschwerden durch Störungen des Muskel-/Bindegewebsapparates, des „Myofaszialen Organs“, ausgelöst werden. Die Symptome eines gestörten myofaszialen Apparates sind häufig und wirtschaftlich relevant. Umso dringender wäre es erforderlich, Wissen über Diagnostik und Therapie myofaszialer Störungen in die Ausbildung von Medizinern aufzunehmen. Dieses Buch gibt einen Überblick über Pathomechanismen, Symptome, Diagnostik und Therapie myofaszialer Störungen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf manuellen Therapieverfahren, auf die im zweiten Teil des Buches näher eingegangen wird. Diese werden anhand der KLINEA-Methode erklärt, welche auch für den Arzt schnell erlernbare diagnostische und therapeutische Möglichkeiten aufzeigt. Hilpoltstein Roth im Sommer 2019

Dr. Rolf Eichinger Kerstin Klink

V

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2

Myofasziale Gelosen oder Blockaden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 2.1 Befundkriterien der myofazialen Gelose = Blockade . . . . . . . . . 6 2.2 Häufige Symptome von Blockaden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

3 Pathophysiologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 3.1 Myofasziale Knoten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 3.1.1 Kalottenknoten (= KK). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 3.1.2 Pharyngealer Knoten (= PK). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 3.1.3 Oberer thorakaler Knoten (= OTK). . . . . . . . . . . . . . . . 18 3.1.4 Unterer thorakaler Knoten (= UTK) . . . . . . . . . . . . . . . 19 3.1.5 Sakraler Knoten (= SK). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 3.1.6 Ellenbogenknoten (= EK). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3.1.7 Handwurzelknoten (= HWK). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3.1.8 Knieknoten (= KnK). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3.1.9 Fußknoten (= FK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3.2 Faszienketten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3.3 Ursachen myofaszialer Syndrome. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 4

Klinik myofaszialer Syndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 4.1 Kalottenknoten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 4.2 Pharyngealer Knoten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 4.3 Oberer thorakaler Knoten mit Kette in den Arm. . . . . . . . . . . . . 35 4.4 Unterer thorakaler Knoten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 4.5 Sakraler Knoten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 4.6 Knieknoten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 4.7 Fußknoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

5

Allgemeinmedizinische Diagnose- und Behandlungsansätze. . . . . . 41 5.1 Kalottenknoten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 5.2 Pharyngealknoten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 5.3 Oberer thorakaler Knoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 5.4 Unterer thorakaler Knoten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 5.5 Sakraler Knoten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 5.6 Periphere Knoten (EK, HK, KnK, FK). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 VII

VIII

Inhaltsverzeichnis

  6 Therapie des Myofaszialen Organs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49  7 Fallbeispiele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 7.1 Winkelfehlsichtigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 7.2 „Wachstumsschmerzen“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 7.3 Narbenstörung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 7.4 Zahnherd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 7.5 Ovarialzyste. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 7.6 Kieferfehlstellungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61   8 Das Knotenmodell aus physiotherapeutischer Sicht – Das KLINEA-Konzept. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67   9 Die Befunderhebung in KLINEA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 10 Pathophysiologische Betrachtung aus Sicht des Physiotherapeuten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 11 KLINEA-Befundung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 11.1 Sichtbefundung im Stand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 11.2 Schnelle, aussagekräftige Praxistests. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 11.2.1 Abgewandeltes Derbolowsky-Zeichen. . . . . . . . . . . . . . 78 11.2.2 Testung der Beinketten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 11.2.3 Zehentest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 12 KLINEA-Therapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 13 Patientenbeispiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 13.1 Anamnese. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 13.2 Sichtbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 13.3 Schnelltests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 13.4 Therapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 13.5 Rebefunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Nachwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Hinweis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Stichwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

Über die Autoren

Dr. Rolf Eichinger  seit 7/2002 eigene Allgemeinarztpraxis (Chirotherapie, Ernährungsmedizin, Tauchmedizin, Notfallmedizin) 5/1999–4/2002 Assistenzarzt in der Allgemeinarztpraxis Auhof/Hilpoltstein 3/1997–4/1999 Assistenzarzt im Krankenhaus Hersbruck (Innere Medizin, Gynäkologie und Chirurgie) 10/1997 Dissertation über die Filtrationsleistung der Nase (HNO Klinik Erlangen) 3/1993–10/1993 Tropenmedizin im Krankenhaus Bukoba/Tanzania 3/1990–10/1996 Medizinstudium an der FriedrichAlexander -Universität Erlangen Kerstin Klink  seit 07/2003 eigene Physiotherapiepraxis 01/2000–05/2003 freiberufliches Arbeiten 10/1997–07/1999 Ausbildung zur Manualtherapeutin 10/1997–12/1999 Median Rehazentrum Ansbach 07/1997–10/1997 Hospitation in der Edenreha/ Regenstauf 10/1994–07/1997 Ausbildung zur staatlich anerkannten Physiotherapeutin in Bad Abbach

IX

1

Einleitung

Als ich nach meiner Klinikausbildung 1998 in den niedergelassenen Bereich der Allgemeinmedizin wechselte, war ich sehr erstaunt über die Diskrepanz zwischen dem Patientenkollektiv der Klinik und den Fällen einer Allgemeinarztpraxis. Dies geht wohl jedem Einsteiger so. Hat man im Krankenhaus eher schwere internistische Krankheitsbilder behandelt, so begegnen einem im Praxisalltag zu 80 % funktionelle Erkrankungen. Dysfunktionen also, die erst einmal keiner klar definierten Krankheit, wie den im Studium erlernten, zuzuordnen sind. Dieses Phänomen kann man sicher auf den gesamten niedergelassenen Bereich ausdehnen. Organfachärzte stehen vor ähnlichen Problemen, wenn sie aus der Klinik kommen. So muss nicht jeder längere Durchfall eine Colitis ulcerosa oder einen Morbus Crohn zur Ursache haben. Die Diagnose lautet hier meist Reizdarmsyndrom, was zu keiner rationalen Behandlung führt und niemandem hilft. Ähnlich verhält es sich mit den Erkrankungen aller anderen Fachgebiete, besonders mit denen aus Chirurgie und Orthopädie. In meiner Kartei befinden sich ca. 10.000 Patienten, von denen etwa 1300 quartalsweise in der Sprechstunde erscheinen. Durch das Angebotsspektrum der Praxis habe ich vorwiegend jüngere Patienten (Abb. 1.1). Der größte Anteil meiner Patienten kommt wegen unklarer Schmerzen und anderer funktioneller, also nicht somatischer struktureller Probleme in meine Sprechstunde. Diese sehr vielfältigen Symptome betreffen alle möglichen Regionen, nehmen  verschiedene Ausprägungen an und sind in ihrer Lokalisation sehr volatil. Anders, als man es in Studium und Klinik lernt, sind ca. 80 % dieser funktionellen Syndrome weder traumatischen, noch skelettären Ursprungs. Auch der gerne angenommene Bandscheibenschaden oder gar -vorfall macht viel weniger Beschwerden als angenommen. Ich denke, man findet bei sehr vielen Patienten über 50 Spondylarthrosen, Bandscheibenprotrusionen und sogar -sequester, die absolut beschwerdelos vorliegen.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Eichinger und K. Klink, Myofasziale Schmerzen und Funktionsstörungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59506-0_1

1

1 Einleitung

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0-7Jahre 7-14 Jahre 14-25 Jahre 25-55 Jahre 55-65 Jahre >65 Jahre

Abb. 1.1  Altersverteilung der Patienten meiner Praxis

In seiner Dissertation untersuchte Torsten Pippig 2008 Wirbelsäulen-MRTs von 488 beschwerdefreien Männern in einem Alter von 17–24 Jahren. Hier ein kurzer Auszug der Arbeit: „[…]bei 81,2 % (396) wurden auffällige bzw. abnorme Veränderungen der Wirbelsäule und des Rückenmarks gesehen: 15 Spondylolysen/Spondylolisthesen (3,1 %), 51 lumbosakrale Übergangswirbel (10,4 %), 5 Blockwirbel (1,0 %), 1 Schmetterlingswirbel, 25 Wirbelsäulen (5,1 %) mit insgesamt 38 Wirbelkörperhämangiomen, 158 Wirbelsäulen (32,4 %) zeigten Scheuermann-Veränderungen und 23 Wirbelsäulen (4,7 %) zeigten Rückenmarkveränderungen (21 Hydromyelien, 2 sakrale Tarlov-Zysten und 1 sakrale Ectasie). Außerdem wurden bei 239 der Bewerber (49,0 %) asymptomatische Bandscheibenveränderungen gesehen. Bei 26 asymptomatischen Bewerbern wurden insgesamt 29 Bandscheibenvorfälle beschrieben.“1

Und das waren junge Menschen! Eigentlich kann man weder mit all den kursierenden „Diagnosen“ für besagte Syndrome etwas anfangen, noch leiten sich aus den obskuren Modellen irgendwelche sinnvollen Therapien ab. Was ist bitte eine Ischialgie, ein eingeklemmter Nerv, ein „herausgesprungener“ Wirbel, eine Nervenentzündung und was noch alles für seltsame Ursachen für Schmerzen in der gängigen Literatur zitiert werden? In den mir

1Über

die Häufigkeit von asymptomatischen Wirbelsäulen- und Rückenmarkveränderungen bei jungen Männern – eine MRT-Studie an 488 beschwerdefreien Männern zwischen 17 und 24 Jahren, T. Pippig 2008.

1 Einleitung

3

vorliegenden Leitfäden für Allgemeinmedizin findet sich absolut nichts über Myogelosen oder Blockadebeschwerden, obwohl diese sehr häufig sind. Unerkannt führen sie zu unsinniger Diagnostik und münden in erfolglosen Therapien. Die gängigen Ansichten über die Ursache von Schmerzen, Schwindel oder anderen gefühlten Sensationen münden meist in NSAR oder Kortikoid- Therapien, weil nach Ansicht vieler Kollegen hinter „Dolor“ immer eine Entzündung stecken muss. Leider vergessen die meisten über die Jahre, dass zu einer Inflammation eben auch Rubor und Calor gehören, die man bei den atraumatischen, nicht- infektiösen Schmerzzuständen praktisch nie findet. Es wundert deshalb nicht, dass antiinflammatorische Therapieansätze nur sehr wenig aus-, meist sogar Schaden anrichten. Deshalb versuche ich hier aufgrund meiner 30- jährigen Erfahrungen als Chirotherapeut und nach 20 Jahren in der Allgemeinmedizin, eine Theorie über myofasziale Syndrome vorzustellen. Meine Koautorin Kerstin Klink, Physiotherapeutin und seit 20 Jahren in eigener Praxis niedergelassen, stellt im zweiten Teil dieses Buches die physiotherapeutischen Behandlungsansätze dar. Dabei fasst sie die maßgeblichen, essenziellen Techniken vieler verschiedener physiotherapeutischer Strömungen und Lehrmeinungen in der „KLINEA“ genannten Methode zusammen. So wird auf viel „Ballast“, der im klinischen Alltag wenig Bedeutung hat, verzichtet. Der zweite Teil dieses Buches soll so den Arzt über Möglichkeiten und Indikationen von Physiotherapie informieren, da die enge und auf gegenseitigem Verständnis über das Tun des anderen geprägte Zusammenarbeit oft fehlt, aber wichtig ist. Ein koordiniertes Miteinander der ärztlichen und physiotherapeutischen Praxen erspart viel unsinnige Diagnostik, sinnlose medikamentöse Therapien und schont so Ressourcen. Vieles an dem hier vorgestellten Modell der myogelotischen Syndromen ist hypothetisch, deckt sich aber mit unseren Beobachtungen und Therapieerfolgen. Wir würden uns eine zukünftige wissenschaftliche Untersuchung unserer Hypothesen sehr wünschen, um das Wissen über eine der häufigsten Gesundheitsstörungen endlich zu erweitern und in die Ausbildung von Ärzten und Physiotherapeuten einfließen zu lassen.

2

Myofasziale Gelosen oder Blockaden

Inhaltsverzeichnis 2.1 Befundkriterien der myofazialen Gelose = Blockade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 2.2 Häufige Symptome von Blockaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

Die Analyse meiner Praxisdaten zeigt, dass ca. 70 % der Praxisbesuche wegen myofaszialen Gelosen oder Blockaden mit unterschiedlichsten Symptomen ­stattfinden. Lediglich 14 % der Kontakte passieren aufgrund von Traumata irgendwelcher Art. 56 % der Patienten kommen wegen Schmerzen als Folge von lokalen Störungen der Muskeln und Faszien in die Sprechstunde. Das sind in meiner Praxis ca. 750 Patienten pro Quartal! Die funktionelle Einheit aus Muskeln und Bindegewebe stellt ein eigenes, das sog. „Myofaziale Organ“ dar. Besagte Störungen des Myofaszialen Organs zeigen sich als Verspannungen oder Gewebsverquellungen. Diese Verquellungen möchte ich als myofasziale Gelosen oder Blockaden bezeichnen, die sich zum einen über eine „gestaute“, subödematöse Gewebestruktur zeigen, welche entweder aktiv schmerzhaft ist oder bei Manipulation schmerzhaft reagiert. Schülern hilft das Beispiel einer jungen Katze, bei der alle Gewebsschichten weich und elastisch verschieblich sind und bei der kein Schmerz ausgelöst wird, wenn man sie ordentlich „knuddelt“. Bei Myogelosen ist das Gewebe nicht, wie bei besagter Katze, elastisch, weich und verschieblich, sondern erscheint verbacken, verhärtet, verschwollen.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Eichinger und K. Klink, Myofasziale Schmerzen und Funktionsstörungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59506-0_2

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6

2  Myofasziale Gelosen oder Blockaden

2.1 Befundkriterien der myofazialen Gelose = Blockade • Verquollenes Gewebe • Verbackene Gewebsschichten, Verschieblichkeit von Haut, subcutanem Fett­ gewebe, Myom und Faszienlogen ist reduziert oder aufgehoben • Schmerzauslösung bereits durch sanfte Manipulation am Gewebe • Kettenartiger Verlauf (siehe Fasziale Ketten) Die Diagnose einer myofaszialen Gelose erfolgt also klinisch und ist nur durch die manuelle Untersuchung des Patienten zu erzielen. Man muss den Patienten also anfassen. Oft reichen schon die Berührungen bei einer Begrüßung, wie etwa ein Handauflegen auf der Schulter etc., um einen Eindruck über das Ausmaß von Blockaden des Patienten zu bekommen.

2.2 Häufige Symptome von Blockaden • Spannungskopfschmerzen • Migräne/Fibromyalgie (?) • Sehstörungen, vor allem Mouches voilantes • Vertigo • Tinnitus • Hörstürze • Dysphagien, Kloßgefühl • Insertionstendopathien (Tennisellbogen) • Arthralgien teilweise mit Reizergüssen • Muskelschmerzen • Thorakale Sensationen mit den Symptomen eines Infarktes • Oberbauchdruckgefühle oft mit Nausea • Leistenschmerzen • Rückenschmerzen • Schmerzhafte Bewegungseinschränkungen • Tendovaginitiden Es ist ein Märchen, dass Blutdruckextreme Kopfschmerzen, Schwindel oder Hörstürze auslösen. Jedenfalls habe ich es in 20 Jahren Notarztdienst nie so erlebt. Die Patienten haben meist blockadebedingte Symptome, bekommen dann Angst und reaktiv darauf einen hohen Blutdruck. Patienten mit Myogelosen sehen dabei immer relativ gesund aus, was bei Kopfschmerzen durch eine SAB oder thorakale Schmerzen durch eine KHK nicht der Fall ist. Natürlich obliegt es der persönlichen Erfahrung und erweiterter Diagnostik, harmlose Blockaden von ernsthaften Erkrankungen zu unterscheiden. Letztere sind aber glücklicherweise viel seltener. Ich schätze, dass 80 % meiner Notarzt­ einsätze wegen myofaszialer Störungen ausgelöst waren und eigentlich keinen

2.2  Häufige Symptome von Blockaden

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Notarzt, sondern einen Chiro-, Physio- oder anderen Manualtherapeuten bedurft hätten. Ich habe deshalb sehr oft als Notarzt deblockiert, was meistens funktioniert hat, nie musste ich nochmals zu einem Patienten, weil doch eine ernsthafte Störung vorlag. Nur einmal hatte ich einen 32-jährigen LKW-Fahrer, der morgens um 7 Uhr thorakale Schmerzen zeigte. Im EKG war er unauffällig. Im Krankenhaus zeigte sich dann doch ein NSTEMI. Dies war aber der einzige Fall in all den Jahren, wo hinter der vermuteten Myogelose doch eine KHK steckte. Myofasziale Störungen sind so häufig, dass alle Kulturen Massage, Gymnastikund Manipulationstechniken zur Behandlung entwickelt haben. Man denke nur an Shiatsu-Massage, Yoga, Akupunktur, Neuraltherapie, Manuelle Therapie, Osteopathie, Thai-Massagen oder Chirotherapie, welche ihren Ursprung in indianischen Kulturen Nordamerikas hat. Ich selbst habe Chirotherapie unter anderem von einem Lehrer erlernt, dem diese selbst in russischer Kriegsgefangenschaft von einer sibirischen Ärztin der Roten Armee beigebracht wurde, der er zugeteilt war. Alle diese Therapieformen identifizieren Störungen über das Ertasten von Gewebsverquellungen (z. B. Kibler’sche Falte) oder schmerzhaften Muskelverspannungen, die dann direkt massiert oder anders manipuliert werden. Auch das Setzen einer Akupunkturnadel oder die Injektion eines Lokalanästhetikums ist letztlich eine neuromanipulative Maßnahme, wie manuelle Verfahren auch. Jedem Therapeuten fällt auf, dass myofasziale Störungen oft in Ketten ver­ laufen. Dass also z. B. der klassische Tennisellenbogen immer mit einer gestörten faszialen Blockade-Kette über den M. deltoideus, M. trapezius in die Nacken­ muskulatur einhergeht, ja eigentlich meistens von den proximalen Störungen ­seinen Ursprung nimmt.

3

Pathophysiologie

Inhaltsverzeichnis 3.1 Myofasziale Knoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 3.1.1 Kalottenknoten (= KK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 3.1.2 Pharyngealer Knoten (= PK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 3.1.3 Oberer thorakaler Knoten (= OTK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 3.1.4 Unterer thorakaler Knoten (= UTK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 3.1.5 Sakraler Knoten (= SK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 3.1.6 Ellenbogenknoten (= EK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3.1.7 Handwurzelknoten (= HWK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3.1.8 Knieknoten (= KnK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3.1.9 Fußknoten (= FK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3.2 Faszienketten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3.3 Ursachen myofaszialer Syndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

Bereits noch während meines Studiums als Neuling der Chirotherapie fand ich es auffällig, dass Rücken-, Nacken-, Schulterarmschmerzen etc. oft sofort nach einer Manipulation an den beteiligten Segmenten oder Arealen deutlich besser oder sogar völlig verschwunden waren. Es kann sich also nicht um inflammatorisch ausgelöste Prozesse handeln, diese klingen ab, aber verschwinden nicht. Genauso verhält es sich mit traumatischen Symptomen. Deshalb ist bei Blockaden immer Wärme hilfreicher als Kälte, die inflammatorische Beschwerden reduzieren würde. Myofasziale Gelosen (= Blockade) müssen also neurologischen Ursprungs sein. Ursache ist eine Fehlsteuerung von Muskelspannung, Bindegewebsstoffwechsel und vegetativer Regulation, die zentral entsteht oder vermittelt wird. Das deckt sich mit der Beobachtung, dass eine Störung Blockaden verursachen kann, die oft an völlig anderen Lokalisationen auftreten wie die auslösende ­Störung.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Eichinger und K. Klink, Myofasziale Schmerzen und Funktionsstörungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59506-0_3

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3 Pathophysiologie

Ich hatte einmal einen Schornsteinfeger in Behandlung, der eine anhaltende Achillodynie mit Tendinose hatte, die ihn fast ein Jahr lang arbeitsunfähig machte und trotz Kortisolinjektionen, NRSA und anderer orthopädischer Behandlungsversuche therapieresistent blieb. Ich vermutete einen Zahnherd als Auslöser, aber ein OPG (Odontopantomogramm) und auch ein NMR erbrachten in diesem Bereich keinen pathologischen Befund. Erst eine Thermografie zeigte eine deutliche Erwärmung an einem Zahn ohne jede Klinik. Bei Eröffnung des Zahnes ergoss sich viel Pus, der Zahn wurde extrahiert und bereits nach einer Woche war die Achillodynie verschwunden. Da wir noch viel zu wenig über unser Gehirn wissen, um schlüssige, neuroanatomisch-funktionelle Modelle der myofaszialen Störung zu entwickeln, bleibt nur ein Black-Box-Modell als Ausweg. Das Zentralnervensystem subsumiert alle Funktionen unseres Organismus zu einem Ganzen. Sensorisch- taktile, perzeptive, propriozeptive, vegetative, emotionale, psychische etc. etc. Informationen werden integrierend gemessen, analysiert, abgeglichen, gespeichert und lösen Reaktionen aus. So existieren tausende von Regelkreisen, die alle integriert und miteinander verrechnet werden müssen, um eine adäquate Steuerung des Organismus selbst in Interaktion mit seiner Umgebung zu ermöglichen. Ich finde dabei die Vorstellung eines riesigen Computernetzwerkes hilfreich, in dem es bei aller Genialität auch zu Steuerstörungen kommt. D. h. bei völlig intakter „Hardware“ kommt es doch immer wieder zu „Softwareproblemen“, was in einem Organismus zunächst in einer funktionellen Störungen mündet. Bei völliger struktureller Gesundheit kommt es doch zu Schmerzen, Bewegungseinschränkungen und anderen funktionellen Symptomen, wie Blasenentleerungsstörungen, Diarrhoe oder Sehstörungen u. v. a. m (Abb. 3.1). Kommt es zu fehlerhaften Informationen oder stören Pathologien die Verrechnung von afferenten Signalen, resultiert hieraus eine fehlerhafte Gegensteuerung in den Efferenzen. Ein einfaches Beispiel ist die Diskrepanz zwischen Lagesinn-Information und Seheindruck in einem Schiff. Aus dem Innenohr kommt die Information, dass der Organismus schwankt, was aber mit dem Seheindruck einer unbewegten Umgebung nicht übereinstimmt. Unser ZNS kommt mit dieser Situation zunächst nicht zurecht, zumal wenn ihm keine Erfahrungen über besagten Zustand vorliegen. Es verursacht dann bei vielen massive Übelkeit und Schwächegefühle, die oft zum Ruhen und Schließen der Augen zwingen, was die Situation dann wieder verbessert. Es besteht eine massive gastrointestinale Symptomatik bei völliger Gesundheit des Gastrointestinums. Ein weiteres, häufiges Beispiel ist auch der „Zug“. Patienten kommen mit Schiefhals und extremen zervikalen Verspannungen, weil sie z. B. am offenen Fenster eines Autos eingeschlafen waren. Sie sagen dann, sie hätten einen „Zug“ bekommen. Anscheinend führt ein gleichförmiger sensorischer Input zu einer Störung der Prozessierung im ZNS, welches dann Blockaden mit massiven myofaszialen Verspannungen verursacht. Sicherlich liegt kein Trauma durch den Wind vor.

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Integrierende Verrechnung Externe Informa onen aus der Umwelt

ZNS

Interne Informa onen aus dem Organsimus

Reak on nach extern, vor allem motorisch

Reak on nach Intern

Abb. 3.1  Einfaches Modell der Steuerung des Organismus

Den gleichen Mechanismus nutzt die chinesische Wassertropfenfolter, bei der einem Opfer immer in gleicher Frequenz ein Wassertropfen auf den Kopf tropft. Der so Gefolterte entwickelt in kurzer Zeit massive myofasziale Schmerzen. Ich meine, dass jeder monotone neurologische Input zu Fehlreaktionen unseres Organismus führt, die in Blockaden münden. Dies zeigt sich auch durch die Häufigkeit dieser Beschwerden bei Ausdauersportlern. Rennradfahrer, die immer in der gleichen Position und Bewegung verbleiben, sind viel stärker von Blockadebeschwerden betroffen, als Mountainbiker, die ihre Bewegung und Haltung ständig variieren. Gleiches gilt für Jogger, die auf Asphalt laufen versus derer, die auf einer Waldstrecke ihre Bewegungen variieren müssen. Die typische Unterarmtendovaginitis nach monotonen Arbeiten ist keine „Überlastung“, sondern eine Fehlsteuerung der synovialen Versorgung der Sehnenscheide aufgrund von Blockaden und eine gestörte Relaxation der Armmuskeln (siehe „Lotdurchgang“). Monotonie in der Bewegung ist meiner Meinung nach auch die Ursache der Beschwerden bei Büroangestellten. Ursache einer myofaszialen Gelose ist also eine neurologische Fehlsteuerung, die sich am myofaszialen Organ manifestiert. Ganz im Zentrum des Geschehen stehen also unsere Muskeln und das Bindegewebe. Hier hat sich wissenschaftlich in den letzten zehn Jahren viel bewegt. Bindegewebe verbindet und trennt Organ- und Muskellogen, es verspannt diese miteinander, wie die Seile einer Hängebrücke, integriert das Skelett und dient als Lager aller „Leitungen“ eines Organismus, wie Blut-und Lymphgefäße, Nervenbahnen und interstitielle, humorale Elemente, wie Mediatoren und Immunzellen.

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Abb. 3.2  Das fasziale System beinhaltet große Aponeurosen, wie die erste Lage der Thorakolumbalfaszie (a), aber es definiert auch die Kompartimente der Skelettmuskulatur (b) und aller Organe. Die interne Bindegewebsstruktur besteht aus einem Kollagengerüst, welches in eine halbflüssige, gelartige Grundsubstanz eingebettet ist (c). (Aus British Journal of Sportsmed. Fascial tissue research in sports medicine: from molecules to tissue adaptation, injury and diagnostics: consensus statement Martina Zügel et al. 2018)

Es steht unter dem Einfluss aller Abläufe dieses Organismus und bildet mit allen Teilen desselben eine Einheit (Abb. 3.2). Bindegewebe ist wie jedes Organ afferent und efferent innerviert und kann Schmerzen vermitteln. Es hat eigene glatte Muskelfibrillen, die die Bindegewebsspannung modulieren, und afferente mechano- und thermosensible sowie polymodale Nozizeptoren, die selbst wieder durch Efferenzen gesteuert werden1. Noch unverstandene Rezeptorsysteme, wie Calcitonin-Gene-Related-Peptid-(CGRP)- Rezeptoren oder Rezeptoren für Substanz-P sind an myofaszialen Schmerzsyndromen beteiligt. Auch wurden Kontraktionen der Muskelfibrillen des myofaszialen Organs unter dem Einfluss von Stresshormonen nachgewiesen2 Ich könnte mir vorstellen, dass selbst die semiliquide Matrix, in der Kollagenfasern „schwimmen“, gesteuert ihre Viskosität ändert, ähnlich dilatanter kolloidale Dispersionen, wie sie bei Stoßdämpfern Verwendung finden. Das Myofasziale Organ enthält Pacini- und Ruffini-Körperchen sowie Golgi-Sehnenorgane, welche Vibrationen, Druck, Beschleunigung und die Gewebespannung messen. Robert Schleip (Univ. Ulm), der sich besonders um die Faszienforschung verdient gemacht hat, bezeichnet das Bindegewebe als das größte sensorische Organ des sogenannten „Sechsten Sinnes“, dem sensorischen Organ der Propriozeption.3

1Tesarz

2009. 2015. 3Schleip 2003. 2Schleip

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In der ganzheitlichen Einheit eines Organismus ist das Bindegewebe, wie das Myofasziale Organ an sich, mit allem verbunden und durch alles beeinflusst. Abb. 3.3 zeigt direkte Einflussfaktoren, die Effekte am Bindegewebe auslösen. Das Myofasziale Organ ist in jede Bewegung, ob willkürlich oder unwillkürlich, eingebunden, es speichert kinetische Energie, die es auch wieder frei setzen kann, wie ein Bogen mit seiner Sehne. Da das Myofasziale Organ die Aufgabe hat, unseren Körper dynamisch im Raum auszurichten, integriert es unzählige Kraftvektoren, die zeitgleich am Körper wirken. In der täglichen Behandlungspraxis hat es sich bewährt, zwischen gestauchten und gestreckten Kompartimenten zu unterscheiden. Wobei auffällt, dass es meist in den gestreckten Arealen zu Schmerzen kommt, die über eine Therapie am gestauchten Gegenspieler behandelt werden können. Dazu später mehr. Das Myofasziale Organ ist mit allen Teilen des Körpers ganzheitlich vernetzt. Deshalb kann sich eine Störung des Myofaszialen Organs in einer Vielzahl von Symptomen äußern.

Abb. 3.3  Einflussfaktoren auf die Bindegewebskonsistenz (Bindegwebssteife). (Aus British Journal of Sportsmed. Fascial tissue research in sports medicine: from molecules to tissue adaptation, injury and diagnostics: consensus statement Martina Zügel et al.)

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3.1 Myofasziale Knoten Wie bereits beschrieben, bildet das Myofasziale Organ eine Einheit mit allen Teilen unseres Körpers. Manche Areale sind jedoch aufgrund der anatomischen und neurologischen Gegebenheiten besonders komplex und deshalb anfälliger für Störungen. Mir ist eines Tages klar geworden, dass sich Blockaden meist in identischen Arealen finden. Ich bezeichne diese Areale als Knoten, in Anlehnung an die Verwendung in der Statik. Knoten sind Orte der Spannungsübertragung, bzw. -verbindungen oder auch Umleitung unterschiedlicher Spannungsvektoren. So wie man es von Brückenkonstruktionen oder auch dem Rigg eines Schiffes aus Masten, Wanten, Salings und Stags kennt. Kraftvektoren projizieren in die dreidimensionale Struktur der Knoten. In den Knoten werden diese dynamischen Kraftvektoren integriert, neutralisiert, umgelenkt oder verstärkt, um die korrekte Ausrichtung und Bewegung unseres Körpers energiesparend und effizient zu gewährleisten. Auffälligerweise befinden sich diese Knoten immer an Gewölbestrukturen, die am besten Spannungsvektoren aufnehmen und umleiten können. Außerdem finden sich in allen proximalen Knoten wichtige Gewölbestrukturen in der Horizontalebene, welche für die Therapie äußerst wichtig sind und deshalb im Anschluss an die Bezeichnung der Knoten in der Liste unten genannt werden. Auch in neurologischer Hinsicht sind Knoten exponiert, weil hier besonders viele Informationen ins ZNS eingehen, teilweise bereits auf segmentaler Ebene prozessiert werden und in efferenten Signalen münden. In ihnen werden motorische und vegetative Efferenzen konzentriert verschalten. Man denke nur daran, dass Gehbewegungen auf sakraler Ebene generiert und von höheren ZNS-Ebenen nur modifiziert werden. Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass sich Blockaden hauptsächlich an Knoten finden. Wo viel gerechnet werden muss, passieren eben auch vermehrt Fehler. Folgende Knoten habe ich für meine tägliche Arbeit definiert: 1. Kalottenkonten Kalotte, Schädelbasis 2. Pharyngealer Knoten Gaumen/Mundboden 3. Oberer thorakaler Knoten Pleurakuppeln 4. Unterer thorakaler Knoten Zwerchfell 5. Sakraler Knoten Beckenboden 6. Ellenbogenknoten 7. Handwurzelknoten 8. Knieknoten 9. Fußknoten Wobei 1. bis 5. die Gruppe der proximalen und 6. bis 9. die distalen Knoten bilden. Die proximalen Knoten sind hierbei wesentlich wichtiger, weil von hier die

3.1  Myofasziale Knoten

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meisten Störungen ausgehen, die dann auch in den peripheren Knoten Störungen verursachen. Unter den proximalen Knoten nimmt der pharyngeale Knoten eine Schlüsselstellung ein. Hier wirken sich Pathologien besonders stark auf den myofaszialen Apparat aus, was wahrscheinlich an der hier geballt versammelten und geforderten Rechenleistung unseres ZNS liegt. Der Bereich dieses Knotens nimmt ca. je 30 % der sensorischen und motorischen Rechenleistung unseres Cortex ein, wie es Abb. 3.4 zeigt. Natürlich könnte man unzählige Knoten mehr definieren, ich möchte hier jedoch ein einfaches, bewährtes Werkzeug und Modell für die tägliche Therapie am Patienten vorstellen (Abb. 3.5). In Knoten subsumieren eigentlich nur sämtliche Funktionen der jeweiligen Region. Im Folgenden wird die Region des Knotens mit den beteiligten wichtigsten anatomischen Strukturen, Gelenken, Afferenzen und Funktionen beschrieben. Die Definition ist eine klinisch-funktionelle. Alle Knoten sind eng funktionell gekoppelt und stellen Schlüsselregionen der Spannungsaufnahme und Verteilung vektorieller Kräfte des myofaszialen Apparates dar. Da das myofasziale Organ vor allem mechanische Aufgaben im Rahmen der Bewegungen des Organismus erfüllt, ist es immer durch sklerosierende Organerkrankungen, die die Beweglichkeit, Gleitfähigkeit und Elastizität von Organen reduzieren, besonders betroffen. Eine Leberzirrhose stört mehr, als Gallenblasenkonkremente, Lungenfibrose mehr, als Asthma, Meteorismus mehr als ein Kolontumor, Perikardergüsse mehr, als KHK, Nierenzysten mehr als eine Glomerulitis etc.

3.1.1 Kalottenknoten (= KK) Region Schädelkalotte, Orbitalregion, kleine Nackenmuskeln, M. fronatalis, M. temporalis, Augenmuskeln. Afferenzen/Efferenzen Visuelle und sensomotorische Informationen der Region. Funktionen Psychomotorik, Okulomotorik, Gesichtssinn. Häufige pathologische Effektoren im Knotenbereich Fehlsichtigkeiten, Strabismus, Winkelfehlsichtigkeiten, Narben. Häufige Symptome Spannungskopfschmerzen, Migräne, Visuelle Sensationen wie z. B. Mouches voilantes, Ptosis.

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Abb. 3.4  Humunculus

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16 3 Pathophysiologie

3.1  Myofasziale Knoten

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Kalottenknoten Pharyngealer Knoten Oberer thorakaler Knoten Ellenbogenknoten Unterer thorakaler Knoten

Handwurzelknochen

Sakraler Knoten

Knieknoten

Fußknoten

Abb. 3.5  Myofasziale Knoten

3.1.2 Pharyngealer Knoten (= PK) Region Harter und weicher Gaumen mit kleiner und großer Kaumuskulatur, Zunge, pharyngeale Muskulatur, M. sternocleidomastoideus, M. digastricus, M. omohyoideus, Platysma, Eustach’sche Röhre, Ohr, NNH, Pharynx, Kiefer, obere HWS.

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3 Pathophysiologie

Afferenzen/Efferenzen Geschmacks-, Gehör-, Gleichgewicht-, Geruchssinn, sensomotorische Informationen der Region (teilweise aus den Händen), Ganglion cerv. sup. Funktionen Motorik craniozervikaler Übergang, Sprechen, Schlucken, Kauen, Schmecken, Riechen, Hören, Psychomotorik, Integration der Kopfposition. Häufige pathologische Effektoren im Knotenbereich Psychische Belastungen, Bruxismus, Sinusitis (auch allergische), Cerumen, Zahnherde, Narben (Schilddrüsenresektionen). Häufige Symptome Vertigo, Hypakusie (Hörsturz), Tinnitus, Kieferarthralgien, funktionelle Tubenbelüftungsstörungen, muskuläre Otalgien, Dysphalgie, Globusgefühl.

3.1.3 Oberer thorakaler Knoten (= OTK) Region Untere HWS, obere BWS bis ca. Th3, Schultergelenk, Pleurakuppeln, Sternoclavikulargelenk, M. trapezius, alle Schultermuskeln, Schultergelenk. Afferenzen/Efferenzen Sensomotorische Informationen der Region (teilweise aus den Händen), Ganglion cervic. med., Ganglion stellatum. Funktionen Schulter-/Arm-/Hand-Beweglichkeit. Häufige pathologische Effektoren im Knotenbereich Spannungsvektoren aus dem pharyngealen Knoten, die hier abgefangen und umgeleitet werden, Narben (Schilddrüsenresektionen), compliance-reduzierende Lungenerkrankungen, Perikarditis, hypertrophe Herzerkrankungen, KHK. Häufige Symptome Schulterschmerzen, frozen shoulder, Bewegungseinschränkungen HWS, Nackenschmerzen, thorakale Schmerzen, thorakale Beklemmungsgefühle, Tendovaginitiden an den Armen, Insertionstendopathien an den Armen (Tennisellbogen), Parästhesien der Hände, Fingergelenksarthralgien, nächtlicher lymphatischer Einstau mit Fingerschwellungen.

3.1  Myofasziale Knoten

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3.1.4 Unterer thorakaler Knoten (= UTK) Region Untere BWS, obere LWS, Nierenfaszie,Zwerchfell, Leber, Magen, Pankreas, Nieren, Milz, Colon transversum, Herz. Afferenzen/Efferenzen Sensomotorisch aus der Region, Sympathikus mit Ganglion coeliacum/mesentericum sup. Funktionen Motorik thorakolumbaler Übergang, Bauchatmung, Verdauung mit den Funktionen der Oberbauchorganen. Häufige pathologische Effektoren im Knotenbereich Gastritiden, Meteorismus, Reizdarmsyndrome, Colitiden, Lebererkrankungen (vor allem sklerosierende), Reizhusten, Perikarditis, hypertrophe Herzerkrankungen. Häufige Symptome horakale Schmerzen, thorakale Beklemmungsgefühle, Atembeklemmungen, epigastrische Druckgefühle, Nausea, Herzsensationen ohne somatisches Korrelat.

3.1.5 Sakraler Knoten (= SK) Region Untere LWS, Skrum, lumbale Aponeurose, gluteale Muskulatur, kleine Muskeln des Beckens (Obturatorius, Piriforme etc.), lumbale Muskulatur, Ganglion hypogastricus inf., Sensomotorik aus der Regio, M. iliopsoas, Leiste, Blase, Uterus, Ovarien, Prostata, Beckenboden, Rektum, Urethra, Vagina. Afferenzen/Efferenzen Sensomotorisch aus der Region und aus den Beinen/Füßen, Ganglion mesent. inf, Plexus hypogastricus sup., sakraler Parasympathikus, motorisch autonome spinale Zentren. Funktionen Motorik untere LWS/Becken/Beine, parasympathische Steuerung des Darmes ab Flex. coli, sin., Defäkation, Miktion, Sexualfunktionen. Häufige pathologische Effektoren im Knotenbereich Meteorismen, Uterusmyome, Ovarialzysten, Sektionsnarben, Adhäsionen des Beckens, Prostatahyperplasien, Helminthiasis vor allem bei Kindern, Pelvic Congestion Syndrom (15 % aller Frauen >40 J).

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3 Pathophysiologie

Häufige Symptome Lumboischialgien, Blasenentleerungsstörungen, Leistenschmerzen, Insertionstendopathien an den Beinen (bis hin zu Kniegelenksergüssen), Achillodynien, „Fersensporn“ = Myogelose der Plantaraponeurose. Es folgen nun die peripheren Knoten, die eine mehr mechanische Bedeutung haben und deshalb auch eher mechanische Symptome zeigen. Die Peripherie weist wenig pathologische Effektoren auf, wenn man von offenkundigen Traumata und Fußgewölbestörungen absieht. Ich werde hier also nur die Region und typische Symptome aufführen.

3.1.6 Ellenbogenknoten (= EK) Region Ellenbogengelenk mit angrenzenden Muskelgruppen. Häufige Symptome Insertionstendopathien (Tennisellenbogen), Bewegungseinschränkungen.

3.1.7 Handwurzelknoten (= HWK) Region Radio- Ulno-Carpal-Gelenk, Handwurzelgelenke, gesamte Hand mit allen Muskeln dieser Region. Häufige Symptome Bewegungseinschränkungen.

3.1.8 Knieknoten (= KnK) Region Knieregion. Häufige Symptome Gonalgien teilweise mit Reizergüssen.

3.1.9 Fußknoten (= FK) Region Sprunggelenke und Fuß mit allen Muskeln.

3.2 Faszienketten

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Häufige pathologische Effektoren im Knotenbereich Narbenstörungen und Fußgewölbestörungen. Häufige Symptome Bewegungseinschränkungen und Schmerzen.

3.2 Faszienketten Jedem Therapeuten fällt auf, dass schmerzhafte Blockaden niemals isoliert lokalisiert sind, sondern immer in Ketten vorliegen. So findet man bei einer schmerzhaften Schulter immer eine Verbindung zum pharyngealen Knoten über den M. sternocleidomastoideus, den M. omohyoideus, die Nackenmuskeln oder die laryngeale Aufhängung und deren zugehörigen Faszien. Natürlich ist das gesamte Skelett immer in seinen kleinen segmentalen Kompartimenten in jeder anatomischen Ebene verspannt. Klinisch jedoch sind die großen Verspannungsketten viel wichtiger, weil sie, über die Knoten verlaufend, an diesen die meisten Symptome machen oder auch durch Pathologien im Knoten aktiviert werden – also in eine pathologische Spannung kommen. Diese großen Kraftvektor-Bögen, die immer auch frontal oder sagittal kreuzen, das gesamte Skelett umspannen und so dynamisch stabilisieren, bezeichnet man als Faszienketten. Abb. 3.7 und 3.8 zeigen eine schematische Darstellung der Faszienketten, wobei alle Ketten symmetrisch vorliegen. Zur besseren Übersicht sind sie jedoch nur auf einer Körperseite dargestellt. Alle Faszienketten (FK) laufen über die Knoten in Frontal- und Sagittalebene. In diesen Ebenen verspannen sie das Skelett triangulär (wie bei einem Gebäude oder dem Rigg eines Segelschiffes), sodass alle Kraftvektoren in der Ebene stabilisiert werden. Bewegung ist dann nur möglich, wenn die Ketten koordiniert verlängert oder verkürzt werden. Ich unterteile Faszienketten in unilaterale und kreuzende, wobei letztere nicht unbedingt über Kreuz, sondern oft nur schräg verlaufen, sodass sie wieder dreieckig miteinander verspannt sind. Fazienketten stabilisieren die Dynamik und fangen diese elastisch am Ende einer Bewegung ein, dabei speichern sie kinetische Energie und geben diese für die nächste Bewegung oft umgelenkt wieder frei. Meine Koautorin, Kerstin Klink, hat eine eigene physiotherapeutische Technik (KLINEA) entwickelt, die im zweiten Teil dieses Buches kurz beschrieben wird. In dieser Technik spielt der Begriff „Lot“ eine wichtige Rolle. Wir verstehen darunter einen Zustand balancierter Entspannung. „Im Lot zu sein“ bedeutet nicht, unbewegt zu entspannen, vielmehr muss jeder Organismus in Bewegung immer wieder den Lotzustand passieren, um kurz zu entspannen, und um aus diesem Moment heraus wieder in die nächste Bewegung gehen zu können. Dabei können Lotzustände auch gleichzeitig neben Spannungszuständen bestehen. So muss beispielsweise ein Fahrradfahrer, wenn er mit dem einen Bein tritt, mit dem anderen

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3 Pathophysiologie

Bein kurz ins Lot kommen, um nicht zu verspannen. Sakraler-, Knie- und Fußknoten müssen in der Aufhängung ihrer Faszienkette im Lot kurz entspannen, um eine regenerative Phase in der Bewegung zu ermöglichen. Nach dem Lotdurchgang wechselt dann die eine Seite in die Leistungsabgabe und die Gegenseite erfährt den Lotdurchgang. Dieser immerwährende Wechsel zwischen Dynamik und Lotdurchgang ist bei mechanischer Belastung zwingend notwendig, um gesund zu bleiben. Ungeübte Sportler, die in ihrer Technik noch nicht so versiert sind, betreiben ihren Sport oft ohne Lotdurchgänge. Wenn Tennisspieler oder Schwimmer „verkrampft“ bleiben, entwickeln sie die typischen faszialen Störungen, wie Tennisellenbogen oder Nackenprobleme (Abb. 3.6). Welche Ketten pathologisch verspannt sind oder besser, wo Myogelosen, also eine reduzierte Elastizität besteht, tastet man mit etwas Übung sehr schnell. Ich beschreibe in meiner täglichen Praxis pathologisch aktivierte Ketten nach ihrem Verlauf. Beispielsweise: Gonalgie links bei Blockade rechtes Kiefergelenkt (z. B. bei Bruxismus) mit lateraler FK vom OTK zum UTK kreuzend, Rippenbogen links traktionsschmerzhaft, aktivierte FK lateral links über SK mit Aktivierung des M. tensor fasciae latae. oder auch Lumbago L2-L4 bei Meteorismus mit Aktivierung der lateralen und kreuzenden FK, UTK zum SK (Abb. 3.7 und 3.8). Da sich diese Arbeit an den professionellen Therapeuten wendet, dem Anatomie und Neurologie bestens bekannt sind, verzichte ich auf die Benennung aller beteiligter Muskeln oder myofaszialen Teile einer Kette. Kapitelzusammenfassung: Ursachen myofaszialer Syndrome, Statistiken aus der Praxis.

3.3 Ursachen myofaszialer Syndrome Meiner Meinung nach liegt der Auslöser für Myogelosen des Myofaszialen Organs entweder in Konsistenz-verändernden Pathologien, die die motorische Dynamik des Gesamtorganismus stören oder in der direkte Affektion neurologischer Prozesse. Besonders störend wirken sich Complianceänderungen von Organen, d. h. Konsistenzänderungen der Organstruktur aus. Die verminderte Fähigkeit eines Organs durch Elastizitätsverlust den allgemeinen Körperbewegungen zu folgen, führt zum einen direkt zu Störungen im Tonus des Myofaszialen Organs mit direkter Aktivierung von Nocizeptoren. Zum anderen kommt es zu neurologischen Fehlsteuerungen, weil die zentralnervöse Integration des allgemeinen Körpergefühls, mit Stellungsinformationen, Bewegungsplanung und Bewegungssteuerung gestört ist. Hierdurch ist das Wechselspiel aus Tension und Relaxierung des Myofaszialen Organs nicht mehr balanciert, was wiederum die Aktivierung von Nocizeptoren auslöst.

3.3  Ursachen myofaszialer Syndrome

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Abb. 3.6  Verspannende Kraftvektoren, die dreiecksförmig miteinander „verknotet“ sind, und so Körper im Raum stabilisieren. Besagte triangulären Züge sind in jeder Aponeurose zu sehen (s. Abb. 3.2a)

Hypertensionen führen dann auch zu periostalen Reaktionen, wie z. B. beim Tennisellbogen oder auch direkt zu tensionsbedingen Fehlpositionierungen von Knochen. Das würde dem legendären „rausgesprungenen“ Wirbel entsprechen. Am Schädel führt besagter Tensionsstress zu Kopfschmerzen. Hypertension kann jedoch auch andere Folgen haben. So führen Spannungen am Os petrosum, meist über Tension am Mastoid ausgelöst, zu direkten Störungen des Innenohrs mit der Folge von Vertigo und Hypakusien. Es ist dabei wichtig zu erkennen, dass alle Verbindungen des Körpers dynamisch und beweglich sind. Selbst eine Schädelsutur ist nicht starr. Tensionsstress am Felsenbein hat Folgen und stört die Funktion des Labyrinths und der Cochlea. In einem Vortrag von mir zeigte sich ein Orthopäde völlig erstaunt, wie ich das Ileosakralgelenk als komplex beweglich auffassen könne. Für ihn war es einfach nur eine starre, statische Verbindung. Solche gibt es aber in der Natur nicht. Alles ist dynamisch und durchlässig. Man bedenke nur, dass auch ein Wolkenkratzer schwingfähig sein muss. Wie viel mehr muss dann Dynamik das Prinzip eines bewegten Organismus sein. Die Störungsquellen des Myofaszialen Organs haben somatische Anteile, wie Schwellung, lymphatische oder venöse Stauung, beispielsweise bei Inflammationen (Zahnherde, Sinusitiden, Prostatitis). Oder auch veränderte Organstrukturen, welche mit einer reduzierten Gleitfähigkeit die Dynamik des Körpers hemmen. Beispiele hierfür wären restriktive Ventilationsstörungen, Steatosis

3 Pathophysiologie

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Kalottenknoten Pharyngealer Knoten

Oberer thorakaler Knoten

Ellenbogenknoten

Handwurzelknoten

Unterer thorakaler Knoten

Sakraler Knoten

Knieknoten

Fußknoten

Abb. 3.7  Verlauf der wichtigsten Faszienketten in der Frontalebene

hepatis, Hypersplenie, Nierenzysten, Perikardergüsse, hyperthrophe Herzerkrankungen, Myome etc. Auch traumatische Verklebungen von myofaszialen Logen, wie z. B. Operationsnarben, gehören zu den somatischen Auslösern von Myogelosen (= Blockaden).

3.3  Ursachen myofaszialer Syndrome

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Kalottenknoten

Pharyngealer Knoten

Oberer thorakaler Knoten

Unterer thorakaler Knoten

Sakraler Knoten

Knieknoten

Fußknoten

Abb. 3.8  Verlauf der wichtigsten Faszienketten in der Sagittalebene

Häufiger noch sind jedoch die psycho-neurologischen Ursachen, die eine generalisierte Tonuserhöhung des Myofaszialen Organs verursachen (vgl. Abb. 3.3).

3 Pathophysiologie

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So sind Angsterkrankungen, Depressionen und Disstress immer mit Blockaden, meist im Bereich der Psychomotorik, also im Pharyngealen- oder auch Kalottenknoten verbunden. Diese führen dann über Aktivierung von Faszienketten oft an anderen Knoten zu Beschwerden. Die folgenden Diagramme zeigen die Analyse von 500 männlichen und 500 weiblichen Behandlungsfällen unterschiedlicher Patienten aus den ersten drei Quartalen (Januar bis September) 2018 in meiner Sprechstunde, aufgeschlüsselt nach Ursache des myofaszialen Syndroms. Außerdem zeige ich die Verteilung der Symptome beider Kollektive. Die ausgewählten Patienten mussten zwischen 20 bis 60 Jahre alt sein und mindestens eine der folgender Diagnosen haben: Myogelose, Blockade, Spannungskopfschmerz, Schmerzen, Migräne, Lumbago, Nacken-Schulter-Arm- Syndrom, Insertionstendopathie. Die Zahlen hinter den symptomauslösenden Organen verstehen sich in Prozent, wobei die Summe der Zahlen größer als 100 % ist, da manche Patienten mehrere Ursachen für die schmerzhaften myofaszialen Syndrome aufwiesen (Abb. 3.9 und 3.10). Auffällig ist die große Zahl psychosomatischer Ursachen als Auslöser für myofasziale Syndrome in beiden Gruppen, wobei Frauen leicht führen. Auch

Neuropathien; 59,7

Psychosom.; 64,8

Skelett; 22

Sinusitis; 17

Sehstörungen; 3,2 Zähne; 29,4

Prostata; 2,4 Darm; 55

Narben; 2,8 Lunge; 17,8 Milz; 1,4

Niere; 2,2

Leber: 9 Pankreas; 0,8

Abb. 3.9  Männer (20–60 J, n = 500), Angaben in % der Fälle

Herz; 1,6 Magen; 1,4

27

3.3  Ursachen myofaszialer Syndrome

Neuropathien; 52,4 Psychosom.; 79,6 Skelett; 26,3 Sehstörungen; 3,4 Sinusitis; 14,2 Uterus/ Ovarien; 24,6

Zähne; 22

Narben; 11,6 Darm; 71,4

Lunge; 8,4 Herz; 0,6 Magen; 2

Niere; 5,4

Leber;

Pankreas; 0,4

Milz; 0,8 6,4

Abb. 3.10  Frauen (20–60 J, n = 500), Angaben in % der Fälle

Zahnerkrankungen sind häufig, wobei diese oft druckinduzierte, aseptische Kieferostitiden darstellen, die letztlich durch einen erhöhten Bisstonus – meist nachts – verursacht werden und dann wieder eher zu den psychogenen Störungen gehören. Der erfahrene Therapeut muss deshalb immer die Strukturen im pharyngealen Knoten untersuchen, dazu muss man auch intraoral die Mm. pterygoidei tasten. Oft zeigen sich bei diesen Patienten auch Abrasionen der Zähne und sie berichten von Schlafstörungen. Typisch ist hier, dass betroffene Patienten zwischen 1 und 2 Uhr nachts erwachen und dann nur noch unruhig und fragmentiert schlafen. Außerdem muss man bei der Genese von Schlafstörungen und Bruxismus immer an Atopien denken. Die reduzierten nächtlichen endogenen Kortikoidspiegel verursachen eine Erhöhung atopischer Mediatoren wie Histamin und Prostaglandinen, die schlafstörend wirken. Besonders bei Kindern ist dies sehr häufig und oft das einzige Symptom einer Allergie. Diese Kinder sind meist verhaltensauffällig, in der Schule unkonzentriert und unausgeglichen. Diese Symptome sind mit einer antiallergischen Therapie sehr einfach zu beherrschen. Auch die häufigen Darmstörungen sind oft atopischer Natur oder haben ihren Grund in Intoleranzen gegenüber diversen Zuckern (Lactose etc.). Überhaupt spielt der hohe Zuckerkonsum in unserer Gesellschaft eine sehr große Rolle, weil er zu

28

3 Pathophysiologie

Veränderungen im Mikrobiom führt. Fehlbesiedelungen münden dann nicht selten direkt in allergischen Störungen, Nahrungsmittelintoleranzen und funktionellen Darmstörungen, wie Reizdarmsyndromen, chron. Obstipation und Meteorismus. Besonders ein überblähtes Colon transversum affiziert direkt den unteren thorakalen Knoten. Mit der Häufigkeit allergischer Störungen erklärt sich auch die Häufigkeit von Sinusitiden als myogelose-auslösende Erkrankung. Bei Männer ist die Häufigkeit von Lungen- und Lebererkrankungen zu nennen, die wohl im ungesünderen Lebensstil ihre Ursache hat. In der Lungenfunktion zeigen sich dann meist restriktive Ventilationsstörungen, oft mit deutlich reduzierter Ventilationskapazität. Die Leber ist bei diesen Patienten meist deutlich verfettet, was mittels Sonogramm schnell zu diagnostizieren ist. Der Ultraschall ist auch für die anderen Organerkrankungen das Non-PlusUltra der Diagnostik. So erkennt man Perikarditiden, Perikardergüsse, hypertrophiertes Myokard, Oberbauch- und Nierenpathologien sowie Prostata-, Uterus- und Ovarialveränderungen damit sehr leicht. Frauen entwickeln oft Blockadebeschwerden aufgrund von Narben und Adhäsionen des kleinen Beckens, meist nach Kaiserschnittgeburten oder anderer gynäkologischer Operationen. Natürlich nehmen auch skelettäre Auslöser mit ca. 22 und 26,3 % einen wichtigen Anteil als Ursache von myofaszialen Syndromen ein. Aber insgesamt finde ich die Bedeutung erstaunlich gering. Sehr viele Patienten mit posttraumatischen Beinlängendifferenzen, Wirbelversteifungen, Skoliosen, Arthrosen etc. haben sehr wenige fasziale Probleme. Natürlich führen auch Arthrosen zu Myogelosen. Sie sind jedoch einfach zu erkennen und mit Physiotherapie und moderner Prothetik meist unproblematischer als vermutet zu behandeln. Sehr häufig sehe ich Patienten mit funktionellen Beinlängendifferenzen oder Gonarthrosen, die mit längenausgleichenden oder achsenumstellenden Einlagen orthopädisch versorgt sind. Diese Einlagen erlebe ich meist als fatal, weil sie einem dynamisch- funktionellen Ausgleich entgegenstehen und viel Schaden anrichten. Einlagen müssen immer funktionell sein, solange dies möglich ist. Mit „funktionell“ meine ich, sie müssen muskuläre Mechanismen aktivieren, die zu einer motorischen Stützung oder am Fuß zur Aufrichtung der gestörten Gewölbe führen. Dies gilt vor allem bei Fußgewölbestörungen bei Kindern, die immer physiotherapeutisch mit behandelt gehören. Nur ältere Patienten mögen von der reinen Stützung etwas profitieren. Allgemein gilt, wie ich meine, dass stützende Maßnahmen, wie Bandagen, Orthesen oder gar Korsetts in der Behandlung von myofaszialen Symptomen völlig kontraproduktiv sind. Dies gilt auch für Folgen an peripheren Knoten, wie z. B. Tendovaginitiden am Unterarm oder Insertionstendopathien. Seit geraumer Zeit habe ich meine Praxis in einem großen Heim für Menschen mit Behinderungen. Ich behandle deshalb viele Patienten mit infantilen Zerebralparesen, die schlimmste asymmetrische Spastiken seit frühester Kindheit aufweisen und deshalb gravierende Skelettdeformitäten entwickelt haben.

3.3  Ursachen myofaszialer Syndrome

29

Diese Patienten wurden bislang mit starren Sitz- oder auch Liegeschalen versorgt, um die Deformitäten abzufangen. Dies führt oft zu einer Zunahme der allgemeinen Spastik mit massiven Schmerzen. Wir gehen, soweit es in unserem Kassensystem möglich ist, weg von der Schalenversorgung, hin zu einer dynamischen Bettung in Tüchern, die z. B. im Rollstuhl eingearbeitet sind. Diese Versorgung erlaubt den Patienten auch rotierende Bewegungen in der Körperachse, was zu einer deutlichen Verminderung der Muskelspastik mit wesentlich weniger Schmerzen der Patienten führt. Wichtig und relativ häufig sind neuropathische Probleme. Hier sei vor allem die in unserer Gegend sehr häufige Neuroborreliose genannt. Zu den neurologischen Problemen zähle ich auch die gerne übersehenen Winkelfehlsichtigkeiten. Darunter versteht man Achsendeviationen der Augen, die sich oft gar nicht als Strabismus äußern. Diese Patienten „schielen“ meist nur, wenn sie müde sind, haben aber auch sonst immer wieder Doppelbilder, die zu wechselseitiger – oft alternierenden – Abschaltung eines Auges führen. Die Patienten sehen also phasenweise nur zweidimensional. Oft berichten sie, sich ständig zu stoßen und Mühe beim Lesen zu haben. Kinder haben häufig gravierende Schulprobleme, weil Lesen für sie wesentlich anstrengender ist, als für Kinder, deren Achsenkoordination uneingeschränkt funktioniert. Besagte Patienten leiden sehr häufig unter Spannungskopfschmerzen bis hin zur Migräne. Zur Migräne muss ich hier kurz etwas ausholen. Sicherlich ist das Myofasziale Organ in deren Genese eng involviert. Jedenfalls kann man vielen Patienten über relaxierende Maßnahmen gut helfen. Manipulierende Techniken haben zunächst keine Nachhaltigkeit, weil die Auslösung der Migräneattacke zentral erfolgt. Die Störungen nehmen meist vom Kalotten- und pharyngealen Knoten ihren Ausgang und sind oft psychogen getriggert. Wahrscheinlich spielt eine Hypertension der psychomotorischen Muskulatur und direkte Hypertension im Myofaszialen Organ eine wichtige Rolle, wobei es auch zur Ausschüttung inflammatorischer Mediatoren, wie Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) kommt. Ich kombiniere die physiotherapeutische Therapie immer sofort mit trizyklischen Antidepressiva, Triptanen, selten Betablocker, oder Kalziumantagonisten, nie Antiepileptika, dafür immer häufiger mit Cannabinoiden. All diese Substanzen wirken am zentralnervösen Auslöser von Migräne, die ich als myogelostische Störung betrachte. Vor allem Cannabinoide zeigen erstaunliche Erfolge. Übrigens auch beim Fibromyalgiesyndrom. Mein guter Freund Nemath Fazli, Neurologe, äußerte neulich den Gedanken, Fibromyalgie sei eine generalisierte Form der Migräne. Seine Vermutung, CGRP-Antikörper, die bei Migräne helfen, wirken auch bei Fibromyalgie, scheint sich zu bewahrheiten. Die beiden Erkrankungen ähneln sich also sehr und sind meiner Meinung nach eine Störung des Myofaszialen Organs mit zentraler – oft posttraumatischer – Ursache. In der täglichen Praxis kann mit myofaszialen, ganzheitlichen Therapieansätzen sicherlich 80 % der Migräne- Patienten deutlich geholfen werden.

3 Pathophysiologie

30

Da ich viele Kinder behandle, hier noch eine Analyse aus meiner Praxis. Sie bezieht sich auf 100 behandelte Kinder im Alter von 5 bis 14 Jahren aus vier Quartalen im Jahr 2017. Auch hier gab es Mehrfachdiagnosen (Abb. 3.11). Auch bei Kindern sind Blockaden häufig. Der oft zitierte „Wachstumsschmerz“ ist natürlich in Wirklichkeit ein myofasziales Geschehen. Es entsteht tatsächlich oft i. R. von Wachstumsschüben, weil es hier meist zu funktionellen, motorischen Fehlsteuerungen kommt – wahrscheinlich, weil unser Hirn erst die Steuerung eines nunmehr größeren Körpers lernen muss. Natürlich werden auch psychogene Störungen bei Kindern immer häufiger. Atopien spielen darüber hinaus eine enorme Rolle, wie bei den Erwachsenen beschrieben. Kinderspezifisch sind aber die durch Zahnspangen ausgelösten Myogelosen, die sich ganz häufig in Spannungskopfschmerzen oder Symptomen an anderen Knoten äußern. Auch parasitäre Darmerkrankungen sehe ich nahezu wöchentlich in meiner Praxis. Sie sind schwierig zu diagnostizieren, zeichnen sich aber durch die Klinik aus. Regelmäßige abdominelle Probleme mit Lumbago, Knie oder auch Fußschmerzen sind typisch. Es ist dann oft besser, „blind“ mit einem Antihelmintikum zu therapieren, als sich in Diagnostik zu versuchen. Abschließend möchte ich noch auf das häufige und gerne übersehene Pelvic-Congestion- Syndrom eingehen, das ca.

Skelett; 9 Sehstörungen; 12 Psychosom.; 23

Sinusitis; 31 Atopie; 54

Zähne; 36 Darm; 14

Abb. 3.11  Kinder (5–14 J, n = 100), Angaben in % der Fälle

3.3  Ursachen myofaszialer Syndrome

31

Abb. 3.12  Varizen am rechten Ovar einer 40-jährigen Patientin mit jahrelang bestehenden Leistenschmerzen

15 % der Frauen über 40 betrifft und sich meist durch hartnäckige Myogelosen mit Lumbago, Leisten- und Spannungskopfschmerzen – typischerweise nach längerem Sitzen – äußert. Man versteht darunter eine Varikose der Ovarial- und Uterusvenen, die zu einer Kongestion im kleinen Becken führen. Abb. 3.12 zeigt einen typischen Befund.

4

Klinik myofaszialer Syndrome

Inhaltsverzeichnis 4.1 Kalottenknoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 4.2 Pharyngealer Knoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 4.3 Oberer thorakaler Knoten mit Kette in den Arm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 4.4 Unterer thorakaler Knoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 4.5 Sakraler Knoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 4.6 Knieknoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 4.7 Fußknoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

Die Abbildungen dieses Kapitels zeigen die häufigsten Symptome von Blockaden bzw. Myogelosen an den einzelnen Knoten. All diese Störungen liefern keine anderen körperlichen Befunde, außer den tastbaren Myogelosen. Diese verursachen nicht immer nur aktive Schmerzen, ihre Folgen sind mannigfaltig, aber zunächst immer nur funktionell. Eine blockadebedingte Otalgie beispielsweise, besteht ohne sonstige Auffälligkeiten im Mittelohr – außer vielleicht einem reizlosen Erguss aufgrund der Fehlbelüftung, Sehstörungen bestehen ohne somatischen Befund am Auge. Arthralgien zeigen keine Auffälligkeiten im Labor oder in bildgebenden Verfahren. Myogelotische Beschwerden entbehren zunächst immer des somatischen Befunds. Erst wenn sie länger bestehen, kommt es zu Schäden, wie etwa Tendinosen mit Verkalkungen etc. Hinter der Auflistung der knotenspezifischen Beschwerden findet sich immer die Verteilung der besagten Symptome meiner Patienten in einem Tortendiagramm. Ich habe dazu jeweils die Daten von 100 Patienten im Alter von 20 bis 60 Jahren untersucht, die Störungen im jeweiligen Knoten zeigten, ohne nach Geschlecht zu differenzieren. Wegen Mehrfachsymptomen liegt die Summe der Prozentangaben wieder über 100 %.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Eichinger und K. Klink, Myofasziale Schmerzen und Funktionsstörungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59506-0_4

33

4  Klinik myofaszialer Syndrome

34

4.1 Kalottenknoten • Kopfschmerzen, Migräneschmerzen mit Licht-/Geräusch-Empfindlichkeit, • Sehstörungen, die meist wechselnde Flecken oder Schatten im Gesichtsfeld erzeugen, Mouches volantes, Fokussierungsprobleme • Das Gefühl, die Welt wie hinter einem Vorhang zu erleben, nicht recht denken zu können (Abb. 4.1)

4.2 Pharyngealer Knoten • Ohrenschmerzen, Tubenbelüftungsstörungen • Tinnitus • Vertigo • Hörsturz • Kieferschmerzen, Kiefersperre • Nackenschmerzen, Bewegungseinschränkungen • Kloßgefühl, Schluckstörungen • Heiserkeit, laryngealer Reizhusten • Phonationsstörungen (Abb. 4.2)

“HinterVorhang”Gefühl; 67

Kopfschmerzen; 74

Sehstörungen; 54 Migräneformen; 12

Abb. 4.1  Prozentuale Verteilung Symptome KK

4.4  Unterer thorakaler Knoten

Glomusgefühl/ Dysphagien; 42

35

Otalgie/ Tubenstörung; 45

Vertigo; 14 Hörsturz; 3 Nackenschmer zen; 78

Kieferschmerzen/ Sperre; 54

Abb. 4.2  Prozentuale Verteilung Symptome PK

4.3 Oberer thorakaler Knoten mit Kette in den Arm • Schulterschmerzen jeglicher Art und Ausprägung • Bewegungseinschränkungen • Parästhesien Arm • Athralgien, Insertionstendopathien, Tennisellenbogen • Bewegungseinschränkungen • Tendovaginitis • Schwellungen • Interkostalneuralgien • Atembeklemmungen • Angina-ähnliche Beschwerden, die jedoch meist in Ruhe auftreten • Druckgefühl (Abb. 4.3)

4.4 Unterer thorakaler Knoten • Atembeklemmung • Schmerzen unterer Thoraxbereich und obere LWS, Interkostalneuralgien • Druckgefühle Oberbauch, oft mit quälender Nausea • Gastralgien • Völlegefühle (Abb. 4.4)

4  Klinik myofaszialer Syndrome

36 Angina-ähnliche Schmerzen; 8

Druckgefühl; 10

Atembeklemmung; 22

Interkostalneuralgie; 10

Schulter; 54

Schwellung; 14

Tendovaginitis; 12

Bewegungseinschränkungen; 62 Parästhesien Arm/ Hand; 47

Arthralgien Arm/ Hand; 23

Abb. 4.3  Prozentuale Verteilung Symptome OTK

Abb. 4.4  Prozentuale Verteilung Symptome OTK

Atembeklemmung; 12

Völlegefühl; 24

Schmerzen/ Interkostalnrlg.; 24 Gastralgie; 19

Druckgefühl Oberbauch; 29 Nausea; 8

4.6 Knieknoten

37

4.5 Sakraler Knoten • Schmerzen LWS, Bewegungseinschränkungen • Leistenschmerzen, Leistenschwellungen • Skrotale Schmerzen • Harndrang • Blasenentleerungsstörungen, bei Kindern oft als Überlaufblase • Coxalgien, Bewegungseinschränkung und Schmerzen Beckenmuskulatur • Parästhesien Bein • „Schwere Beine“, Beinschwellungen • Sehr häufig mit myogelotischer Affizierung des M.tens. fasciae latae (Abb. 4.5) Bei den peripheren Knoten des Beins habe ich auf eine Aufschlüsselung der Symptomverteilung verzichtet, weil dies nicht besonders aufschlussreich ist.

4.6 Knieknoten • Gonalgien, Bewegungseinschränkungen • Reizergüsse • Begünstigung von Muskelrupturen OS, Wade

Schwere Beine; 21 Parästhesien Bein; 9

Coxalgie/ Becken; 27

LWS-Schmerzen; 67

Blasenstörung; 12

Leiste; 34

Abb. 4.5  Prozentuale Verteilung Symptome SK

Bewegungseinsch ränkung; 54

4  Klinik myofaszialer Syndrome

38

4.7 Fußknoten • Fußschmerzen • Achillodydien • Fußschwellungen Die nun folgende Diagramme zeigen die Verteilung von Symptomen auf die Knoten bei den oben gezeigten Gruppen. Durch Mehrfachsymptome ist die Summe der Prozentangaben größer als 100 (Abb. 4.6 und 4.7). Wie die beiden Tortendiagramme zeigen, bestehen wenig signifikante Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Männer leiden lediglich etwas öfter unter Störungen des oberen thorakalen Knotens, meist Schulterschmerzen und Armsymptomen. Während Frauen öfter unter Symptomen des Kalotten-Knotens, hier meist Kopfschmerzen, leiden. Auch für Störungen im sakralen Knoten scheinen Frauen etwas anfälliger, was wahrscheinlich an der wesentlich komplexeren Anatomie des kleinen Beckens liegt (Abb. 4.8). Bei Kindern kommen Symptome im Bereich der unteren Extremitäten weitaus häufiger vor, als bei Erwachsenen, dafür zeigen sie weniger Symptome im KK oder PK.

KnK; 7

FK; 2,4

KK; 20,4 SK; 17,4

UTK; 14,4

PK; 26,4

EK/ HK; 10,8 OTK; 19,6

Abb. 4.6  Symptomverteilung bei Männer in % (20–60 J, n = 500)

4.7 Fußknoten

39 FK; 2,6 KnK; 8,4

KK; 32,4 SK; 20,4

UTK; 19,4 PK; 28,4 EK/ HK; 9 OTK; 13

Abb. 4.7  Symptomverteilung bei Frauen in % (20–60 J, n = 500)

FK; 26

KK; 22

PK; 14

OTK; 5

KnK; 32

EK/ HK; 8

SK; 20

UTK; 26

Abb. 4.8  Symptomverteilung bei Kindern in % (5–14 J, n = 100)

5

Allgemeinmedizinische Diagnoseund Behandlungsansätze

Inhaltsverzeichnis 5.1 Kalottenknoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 5.2 Pharyngealknoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 5.3 Oberer thorakaler Knoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 5.4 Unterer thorakaler Knoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 5.5 Sakraler Knoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 5.6 Periphere Knoten (EK, HK, KnK, FK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

Eigentlich wäre es dringend erforderlich, bereits im Medizinstudium viel mehr Wissen über das Myofasziale Organ zu vermitteln. Augenzwinkernd würde ich sagen, man könnte das Fach Orthopädie abschaffen und durch „Myofasziologie“ ersetzen. Auch sollte bereits der Studierende viel mehr über manualtherapeutische Techniken lernen. Wünschenswert wären hier vielleicht sogar gemeinsame Ausbildungsabschnitte mit Physiotherapieschulen. Ich habe bereits mit 18, während meines Zivildienstes, mit Chirotherapie begonnen, indem ich mir selbst Lehrer suchte. Die damals erlernten Techniken haben mir oft im Klinikalltag mehr geholfen, als viele der im Studium erlernten anderen Gebiete. Da den meisten niedergelassenen Kollegen manualtherapeutische Erfahrungen fehlen, möchte ich diese in diesem Kapitel nicht beschreiben. Dies wird dann weiter unten geschehen. Natürlich steht am Anfang der Diagnostik die Anamnese, die zu 80 % zur richtigen Diagnosefindung beiträgt. So liefern fluktuierende Schmerzen, Ruheschmerzen zu wechselnden Tageszeiten, Störungen bei Tätigkeiten oder sonstige Sensationen, beispielsweise postprandiale Atembeklemmungen etc., immer schon einen Hinweis auf ein myogelotisches Geschehen. Erhärtet wird die Verdachtsdiagnose durch den körperlichen Befund.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Eichinger und K. Klink, Myofasziale Schmerzen und Funktionsstörungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59506-0_5

41

42

5  Allgemeinmedizinische Diagnose- und Behandlungsansätze

Ich hole meine Patienten im Wartezimmer ab und laufe dann mit ihnen ca. 8 m in ein Behandlungszimmer. Oft kommt es dabei bereits zu Berührungen (Hand auf die Schulter oder den Rücken legen). Dabei kann man Folgendes beurteilen: • Wie erscheint der Patient: sehr beschwert und belastet oder lächelt er? • Wie erhebt er sich aus dem Stuhl: leicht, dynamisch oder disharmonisch? • Wie ist die Körperhaltung: Schulterschiefstand, hypodynamische Wirbelsäulenabschnitte? • Wie läuft der Patient: aufrecht-dynamisch, unrund, disharmonisch, hölzern oder spannungslos? • Wie erscheint der Patient unter einer Berührung: weich, beweglich, angenehm oder verspannt, adynamisch, disharmonisch? Nach der Anamneseerhebung, die dem Leser geläufig sein wird, folgt die körperliche Untersuchung. Kalotten-, Pharyngeal- und oberen thorakalen Knoten untersuche ich am sitzenden Patienten, cranial beginnend. Ich taste mich von der Temporalregion über Kiefer, Nacken, Hals zur Schulter und Axillarregion und nehme im Thoraxbereich die Kibler’sche Falte, was alles auch beim bekleideten Patienten gut funktioniert. Den oberen thorakalen Knoten untersuche ich, indem ich von ventral nach caudal der unteren Thoraxapertur abtaste. Zur Untersuchung des sakralen Knotens lasse ich den Patienten aufstehen, setze mich selbst auf den Untersuchungshocker hinter den Patienten und untersuche die Bauch- und Leistenspannung, den Beckenstand und die Spannung der Glutealmuskulatur. Sollte ich bis hier in den oberen Knoten Myogelosen oder Blockaden finden, deblockiere ich diese chirotherapeutisch, um dann den liegenden Patienten weiter zu untersuchen. Zunächst lege ich die Patienten auf den Bauch, deblockiere ggf. den unteren Thoraxbereich und untersuche dann nochmals den sakralen Knoten von caudal. Dann dreht sich der Patient und ich überprüfe Spannungen in den Adduktoren des Oberschenkels, prüfe Ab-und Adduktion sowie die Rotation im Hüftgelenk. Danach lege ich meine Daumen auf die beiden Innenknöchel und beobachte im Aufsitzen des Patienten Beinlängen-Asymmetrien, die oft nur passager in der Bewegung auftreten. Anschließend deblockiere ich ggf. noch im sakralen Knoten chirotherapeutisch. Das ganze Prozedere dauert ca. 5 min und liefert die wichtigsten Hinweise, wo verstärkt nach Pathologien zu suchen ist. Außerdem ergeben sich Befunde über skelettäre Anomalien, Hyperkyphosen/Lordosen, Skoliosen, die jedoch meist weniger myofasziale Probleme bereiten, als vermutet. Wahrscheinlich, weil Haltungsanomalien gut kompensiert werden, zumal, wenn sie langsam entstehen.

5.1 Kalottenknoten

43

In den folgenden Organigrammen ist dargestellt, wie ich dann weiter vorgehe. Die Methode hangelt sich vom Häufigen differenzialdiagnostisch zum Selteneren hindurch. Jedes Organigramm bezieht sich auf einen Knoten. Skelettäre Störungen werden nicht berücksichtigt, weil ihre Diagnose relativ einfach ist und hier eine allgemeinmedizinische Fokussierung erfolgt.

5.1 Kalottenknoten Im Kalottenknoten sind Sinusitiden der häufigste Auslöser von Blockaden. Anamnestisch finden sich oft nächtliche Behinderung der Nasenatmung mit Mundatmung. Kinder schnarchen häufig. Übrigens führen auch Schlafapnoesyndrome oft zu Myogelosen, sind aber über eine Polysomnografie problemlos zu diagnostizieren. Findet sich eine Sinusitis, dann behandle ich diese zunächst immer. Wobei hier Methason-haltige Nasensprays gute Dienste leisten. Ggf. greife ich auch zur oralen Kortisonstoßtherapie (Antibiotika brauche ich hier fast nie). Bleibt der Erfolg aus, braucht man das CT der NNH, um Polypen, Zysten etc. ggf. einer Operation zuführen zu können. Winkelfehlsichtigkeiten kann man ebenfalls einfach erkennen. Ich setze dem Patienten dazu Yoked Prism Glasses (= Raumverschiebungsbrille, der Begriff entstammt vermutlich dem ersten Eindruck desjenigen, der eine solche Brille zum Austesten der Blick- und Haltungsflexibiltät benutzte: er fühlte sich wie unter einem „Joch“) auf, die die Umgebung verzerren, sodass der Patient nicht mehr auf optische, zentrale Erfahrungswerte zugreifen kann. Patienten, bei denen ein Auge „abgeschalten“ ist, können dann nicht mehr auf einer Linie gehen. Sie werden extrem instabil und taumeln wie betrunken. Zur genaueren Diagnostik und Therapie schicke ich diese Patienten zum Optometristen und manchmal zum Ophthalmologen. Es reicht bei den betroffenen Patienten nicht, einfach alternierend je eine Auge zu verblinden, damit die Binokularität gewahrt bleibt, vielmehr müssen sie ihre Augen beüben. Dies gilt besonders auch nach der Versorgung mit achsregulierenden Prismenbrillen, dann kommt es auch nicht zu einer Visusverschlechterung, wie oft proklamiert (Abb. 5.1). Um Innenohrfunktionen einfach mit den Mitteln der Allgemeinmedizin zu testen, ist der Versuch nach Weber und Rinne immer noch ein geniales Instrument. Er sollte jedem bekannt sein. Für die selteneren zentralen Erkrankungen, die manchmal initial Symptome eines myofaszialen Syndroms imitieren, empfiehlt sich die Suche nach einer Borreliose im Labor. MS, Tumoren etc. erfordern ein NMR, manchmal auch eine Liquorpunktion. Die Behandlung liegt je nach Diagnose dann auf der Hand.

44

5  Allgemeinmedizinische Diagnose- und Behandlungsansätze

Abb. 5.1  Patientin wird bei dem Versuch auf einer Linie mit Yoked Prism Glasses zu laufen komplett instabil und taumelt nach links weg

5.2 Pharyngealknoten Meiner Erfahrung nach stören im PK Zahnherde am häufigsten, wobei ich auch eine druckinduzierte Kieferostitis bei erhöhtem Bisstonus als Zahnherd werte. Bei einer Bisskraft von ca. 800 N/cm2, werden druckbelastete Zähne durch eine aseptische Kieferknochenresorption förmlich tiefer gelegt. In solchen Fällen ist immer die enge Kooperation mit findigen Zahnärzten erforderlich, die oft über eine minimale Bisskorrektur Asymmetrien entschärfen oder auch mit Aufbissschienen viel erreichen können. Ganz wichtig ist es dabei, dass die Patienten deblockiert zur Bisseinstellung gehen, weil bei bestehenden Myogelosen aktivierte Faszienketten den Biss verschieben. Ich bestelle die Patienten direkt vor dem Zahnarzttermin ein oder koordiniere den Besuch mit Physiotherapeuten, die die Patienten vorher deblockieren. Essenziell ist auch die Behandlung depressiver Auslöser. Neben psychologischen Verfahren, ist oft ein Trizyklikum, wie z. B. Amitryptilin 12,5 bis 50 mg oder Opipramol 10 bis 25 mg, manchmal auch Mirtazapin 15 mg, zur Verbesserung der Schlafarchitektur sehr hilfreich. Wegen der geringen Nebenwirkungen versuche ich auch manchmal Agomelatin 25 mg, einen Melatoninrezeptoragonisten. Die Patienten profitieren von den Maßnahmen schnell und berichten bereits nach wenigen Tagen von einer Verbesserung der Myogelosen. Man muss also nicht drei Wochen therapieren, wie man es täte, wenn man antidepressiv behandelt. Ich sehe leider relativ häufig Patientinnen – selten Männer – mit massiven Kopfschmerzproblemen oder schweren myofaszialen Schmerzsyndromen, die meist mit der Diagnose Migräne oder Fibromyalgie kommen und immer unzählige Therapien durchlaufen haben. Viele dieser Patientinnen haben einen sexuellen

5.4  Unterer thorakaler Knoten

45

Missbrauch im Kindesalter erlebt und entwickeln oft erst im Alter von 30 Jahren ihre Symptome. Seit der Verordnungsfähigkeit von Cannabinoiden besteht endlich die Möglichkeit, diesen Patientinnen zu helfen. Ich nehme immer THC-haltige Öle, CBD ist meiner Meinung nach hier weniger entscheidend. Auch einseitiges Cerumen, z. B. bei Tauchern, Gehörgang-Ekzemen oder anatomischen Variationen, können massive Myogelosen mit z. B. Spannungskopfschmerzen auslösen. Chronische Kehlkopfreizungen beim sinubronchialen Syndrom, Reflux oder bei Atopien affizieren ebenso das Myofasziale Organ, was angesichts der Komplexität der anatomischen Kehlkopfaufhängung mit der entsprechenden neurologischen Steuerung nicht verwunderlich ist.

5.3 Oberer thorakaler Knoten Wie bereits beschrieben, sind es meist die Organ-Compliance-verändernden Erkrankungen, die zu Blockaden führen. Deshalb finden sich Myogelosen seltener bei Asthma als bei restriktiven Lungenerkrankungen. Herzerkrankungen sind gerade bei Patienten unter 60 eher selten.

5.4 Unterer thorakaler Knoten Durch den großen Einfluss des Darmes mit seinen Drüsen (Leber/Pankreas) im UTK, müssen Darmstörungen im Fokus sein. Ein enormes Problem ist hierbei der Zuckerkonsum in unserer Gesellschaft, der zusammen mit den häufigen und häufig unnötigen Antibiotikatherapien zu einer Verarmung der Darmflora führt. Es wurde und wird hierüber viel geschrieben und die Erkenntnisse sind faszinierend. Ich fasse das Mikrobiom des Darmes als eigenes Organ auf, welches genau wie Niere, Leber etc. mit seiner Funktion zu unserem Körper gehört. Darmsanierungen sind meist sehr wichtig, aber auch schwierig. Fastenkuren oder Probiotika helfen häufig nicht nachhaltig, was wahrscheinlich auch an einer sekretorischen Milieu-Störung der Mukosa liegt. Ich habe vor 21 Jahren für meine Typ-II-Diabetiker eine einfache Ernährungspyramide entwickelt, die ich mittlerweile allen Patienten empfehle, weil sie sich hervorragend bewährt hat. Der Schlüssel des Erfolges liegt wahrscheinlich in der Kohlenhydratreduktion, dem hohen Faser- und Pflanzenanteil und - ganz essenziell - an der Einführung eines „Naschtages“. Nur an besagtem Naschtag gibt es Süßes, wie Marmelade, Honig, Säfte und eben alles, was süß schmeckt. Zucker wird dadurch wieder eher zu einem Genussmittel. Wobei ich meinen Patienten augenzwinkernd immer rate, möglichst viele verschiedene Laster in Maßen zu pflegen. Für manche Menschen ist auch die Kompensation eines „Zuckerflushs“ mit scharfen Peperoni sehr hilfreich. Capsaicin aktiviert unser Endorphinsystem1 und entspannt, wie Schokolade (Abb. 5.2). 1This

study was supported by Medical Research Institute Grant (2007–01), Pusan National University.

5  Allgemeinmedizinische Diagnose- und Behandlungsansätze

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LUXUS: Führen Sie einen Naschtag ein!! D.h. nur einmal in der Woche, an einem Tag soviel Sie wollen, dann wieder 6 Tage nichts!! Auch Honig, Marmelade. Säfte, Ahornsirup etc. gehören in den Naschtag.

Modifizierte Emährungspyramide nach Dr. Eichinger Peperoni - Trick: Ersetzen Sie Süßes durch Peperoni in Salzlake. Diese entspannen, wie Schokolade

4 EL Fett ( Butter, Schmalz, Öl)

3 handvoll Beilagen ( Nudeln, Kartoffeln, Brot, alles aus Mehl) 5 Portionen Fisch, Fleisch, Milchprodukte, Eiweiß ( 1Portion= kleines Schnitzel, kleiner Becher Joghurt, was auf ein Brot geht) 5 handvoll Gem üse/ Salat, nur eine handvoll Obst, dieses nur zu den Hauptmahlzeiten Gentänke soviel Sie wollen aber nichts süßes, Bier, Wein in Maßen und nur zu den Hauptm ahlzeiten

Sie können ruhig den gesamten Inhalt der Pytamide an einem Tag essen ohne zuzunehmen. Dabei ist es ganzwichtig. die Nahrungsmittel auf 3 Mahlzeiten zu verteilen!!! Zwischen den Mahlzeiten (4-5 Stunden Pause) dürfen Sie nichts essen und auch nichts Süßes trinken. Sie würden sonst lhren lnsulinspiegel anheben, was zur totalen Blockade des Fettabbaus führt. Allergiker müssen auf ein gesunde Darmflora achten. Hierbei stört jeder Zucker ( auch Fruchtzucker). Insulinspiegel bei 3 Mahlzeiten= gut!!

7ºº Uhr

Insulinspiegel bei vielen Mahlzeiten= schlecht!!

12ºº Uhr

18ºº Uhr

Abb. 5.2  Ernährungsempfehlung, die meinen Patienten erklärt und ausgehändigt wird

Sehr häufig findet man Frauen, die um die 40 mit einer Gelbkörperinsuffizienz plötzlich Nahrungsmittelintoleranzen, Histaminintoleranzen und allergische Störungen entwickeln. Dies liegt wohl maßgeblich an der antiallergischen, kortisonähnlichen Wirkung von Progesteron. Außerdem scheinen Östrogen und Progesteron die Genexprimierung von Histaminasen zu befördern. Besteht ein

5.6  Periphere Knoten (EK,HK, KnK,FK)

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Mangel, vertragen Frauen oft keine histaminhaltigen Lebensmittel, wie gereiften Käse, Räucherfisch oder Rotwein mehr. Die betroffenen Patientinnen berichten dann, dass es ihnen in Schwangerschaften immer besonders gut gegangen sei. Es lohnt sich in dem Fall immer ein Behandlungsversuch mit Progesteron, z. B. 100 mg abends. Auch pflanzliche Mittel, wie Mexican-Wild-Yam-Extrakte oder Agnus Castus können hilfreich sein. Sind die Symptome so jedoch nicht therapierbar, muss man zu einer entsprechenden Pille greifen, wobei die Behandlung oft nur 6 Monate bis ein Jahr erfolgen muss, weil die Störungen dann von selbst verklingen.

5.5 Sakraler Knoten Im sakralen Knoten nehmen postoperative Narbenstörungen eine besonders wichtige Stellung ein. Bei vorhandenen äußeren Narben sollte stets eine Unterspritzung mit einem Lokalanästhetikum versucht werden, welches ähnlich wie die Triggerpunkttherapie wohl pathologische Afferenzen des Narben-Bindegewebes temporär blockiert und so eine Normalisierung des myofaszialen Tonus bewirkt. Bei regelmäßiger Therapie und mobilisierender Manipulation an der Narbe, scheint unser ZNS diese aus der myofaszialen Steuerung „heraus“ zurechnen. Ich nehme meist Bubivacain, weil es im Vergleich zu Lidocain oder Xylocain länger wirkt. Bei V. a. auf Adhäsionen des kleinen Beckens kommt man manchmal um die Laparoskopie nicht herum. Die Erfolge durch eine Adhäsiolyse sind jedoch oft erstaunlich.

5.6 Periphere Knoten (EK, HK, KnK, FK) Die diagnostische Abklärung der peripheren Knoten ist relativ einfach. Natürlich müssen vor allem am Knie und Daumensattelgelenk relevante Arthrosen als lokale Störungen ausgeschlossen werden. Manchmal ist es hilfreich, Afferenzen von Gelenke mit Dexamethason/Xylocain intraartikulär zu blocken. Kommt es dann zu einer schnellen, maßgeblichen Verbesserung der Myogelosen, spricht das für ein arthrotisches Geschehen. Kommt es bei bestehenden Arthrosen zu keiner Verbesserung, ist die Abnutzung nicht das Problem der Blockadesymptomatik. Und auch Fußgewölbestörungen müssen physiotherapeutisch oder mit funktionellen Einlagen behandelt werden. Ansonsten sind, wie bereits gesagt, Blockaden der Peripherie meist Folge von Störungen an zentralen Knoten.

6

Therapie des Myofaszialen Organs

Neben der Ursachenabklärung und Therapie derselben, stehen manualtherapeutische Interventionen ganz im Vordergrund der Behandlung myofaszialer Syndrome und Beschwerden. Viele Patienten gesunden bereits nach einer chiro- oder physiotherapeutischen Behandlung. Bei dieser Gruppe sind die Beschwerden meist durch monotonen, motoneuronalen Stress ausgelöst. Typisch sind Malerarbeiten, die immer die gleiche Bewegung – oft über Stunden – erfordern, oder auch Zwangshaltungen, wie beim „im Bett verlegen“. Erfahren Patienten hingegen nach einer deblockierenden Therapie zunächst eine deutliche Verbesserung, dann aber ein Wiederaufflammen der Symptomatik, müssen auslösende Ursachen, wie in Kap. 4 beschrieben, gefunden werden. Behandelt man diese nicht, haben alle manualtherapeutischen Maßnahmen keine Nachhaltigkeit. Übrigens müssen alle Therapieeffekte immer deutlich sein. Hilfreich ist es dabei, den Patienten den Beschwerdegrad auf einer visuellen Analogskala von 0 bis 10 benennen zu lassen. Jede Verbesserung um nur ein bis zwei Punkte ist eher einem Placeboeffekt geschuldet. Für den Allgemeinarzt ist unter den manuellen Therapieformen die Chirotherapie das beste Verfahren, weil sie schnell durchgeführt werden kann und gut hilft. Wie alle Manipulationen steht hier wohl die Aktivierung von Ruffini-Körperchen und Golgi-Sehnenorganen in Muskel und Bindegewebe im Vordergrund, die über Reflexbögen eine Relaxation des Myofaszialen Organs bewirken. Die Vorstellung, Kollagenfasern mechanisch in „Form“ zu bringen, halte ich für abwegig. Man kann einen spastischen Muskel mechanisch nicht weich massieren oder eine Luxation gegen Muskelspannung reponieren, solange keine neurogene Relaxation der Strukturen erfolgt ist. Sicherlich verbessern manualtherapeutische Verfahren mechanisch die Beweglichkeit zwischen den Schichten des Myofaszialen Organs. Der Haupteffekt an der Faser an sich ist aber © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Eichinger und K. Klink, Myofasziale Schmerzen und Funktionsstörungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59506-0_6

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6  Therapie des Myofaszialen Organs

auch hier eher neurologisch-reflektorisch. Es bleibt sogar zu diskutieren, ob das semiliquide „Gel“, in dem Kollagenfasern eingebettet sind, nicht auch zwischen Sol- und Gelphase gesteuert wechseln kann – oder sich vielleicht gesteuert wie eine dilatante Dispersion verhält, die zwischen flüssig und zäh wechselt (das Prinzip kommt in Stoßdämpfern zur Anwendung). So wäre die Gelose erklärbar, die meist nach der Manipulation sofort weg ist. Die chirotherapeutische Manipulation erzeugt zunächst eine meist rotierende Spannung, die in einem kurzen Dehnungsimpuls endet. Dies scheint mir eine neurologisch-reflektorische Relaxation der myofaszialen Strukturen zu bewirken. Die oft rotatorische Komponente von Tension und Impuls scheint kreuzende Afferenzen zu erregen, was anscheinend neurologisch effizienter ist. Die Beobachtung wird auch dadurch gestützt, dass rotierende gymnastische Übungen, effizienter entspannen, als unilateral bleibende Bewegungen. Wie oben bereits erwähnt, sehe ich das auch bei meinen Patienten mit schweren Spastiken. Erlaubt man Rotationsbewegungen in der Lagerung, reduziert sich die Spastik oft wesentlich. Wahrscheinlich werden hypertensive myofasziale Muster durch die Aktivierung von kreuzenden Reflexbogen-Afferenzen und -Efferenzen sowie Effekten an beiden Hemisphären besser durchbrochen, als wenn die Aktivierung nur unilateral wirkt. Obwohl die Effizienz von Chirotherapie eindeutig ist, bleibt sie eine symptomatische Therapie, die sich in der Regel auf die Behandlung der Knotenareale beschränkt, weil hier die meisten Blockaden sitzen. Es ist nicht richtig zu meinen, Chirotherapie würde bei zu häufiger Anwendung Bänder und Gelenke „ausleiern“. Natürlich kommt es durch Chirotherapie zu keinen Überdehnungen von besagten Strukturen. Sollte ein Patient jedoch nach einer Therapie sofort wieder Beschwerden haben, ist eine weitere ständige chirotherapeutische Intervention unbefriedigend, dann sollte zwingend der Physiotherapeut mitbehandeln. Auch die Angst vor einer mechanischen Dissektion der Intima media der Karotiden bei Manipulationen am Hals mit der Folge von Schlaganfällen ist gering, wenn man zart therapiert. Es scheint Patienten zu geben, die zu solchen Dissektionen neigen (Wallenbergsyndrom), mir ist diese aber nie nach einer Chirotherapie begegnet. Ich habe sogar eine Patientin, die regelmäßig zur Chirotherapie kam und kommt, welche eine TIA bekam, als ihr eine Freundin heftig um den Hals gefallen war. Chirotherapie ist meiner Meinung nach harmlos, wenn man der Vorstellung der Manipulation am Myofaszialen Organ folgend, zart manipuliert. Wer meint, „Wirbel einzurenken“, der sollte vorsichtiger sein. Auch die physiotherapeutische Intervention erfolgt häufig nicht an der schmerzhaften, gedehnten Faszienkette, sondern an der gestauchten Gegenseite. Bei Manipulation an der gestauchten Seite wird wahrscheinlich eine Spannungsafferenz über Ruffini- Körperchen und Golgi-Sehnenorgane ausgelöst, die zur Detonisierung der schmerzhaften Faszienkette führt. Ähnliche Effekte erzielt man mit Tape-Therapien. Auch diese aktivieren Spannungsafferenzen und relaxieren wahrscheinlich über reflektorische Mechanismen. Bei allen Maßnahmen ist immer entspannt und ohne großen oder gar brutalen Krafteinsatz zu manipulieren. Man „renkt“ chirotherapeutisch keine

6  Therapie des Myofaszialen Organs

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„­ rausgesprungenen Wirbel“ ein. Man detonisiert mit allen Verfahren das Gewebe, sodass pseudoluxierte Strukturen selbst wieder in Position geraten. So ist oft sofort nach der Manipulation der Schulterhochstand oder die funktionelle Beinlängendifferenz aufgehoben und auch der dislozierte Wirbel steht wieder richtig. Auch die Schröpftherapie wirkt auf Reflexbögen und Spannungssensoren. Vielleicht hat sie auch mobilisierende Effekte auf fasziale Schichten. „Entgiftungsmechansismen“, wie sie tradierte Medizinformen besonders beim „blutig“ Schröpfen postulieren, sind zweifelhaft. Auch habe ich nie einen Patienten erlebt, der von dieser Therapie mehr profitiert hätte, als von anderen manuellen Ansätzen. Gleiches gilt für die entgiftende Wirkung von Ölen. Sicherlich binden diese nicht „Gifte“ über die Haut, wie in esoterischen Modellen gerne behauptet, aber bestimmt wird das Myofasziale Organ durch olfaktorische Einrücke beeinflusst. Kein Sinn ist so sehr mit emotionalen Erinnerungen verknüpft, wie der Geruchssinn. Man bedenke, dass der N. olfactorius ein direkter Hirnnerv ist, also nicht umgeschaltet wird. Seine Fasern ziehen direkt zur primären Hirnrinde, zu den Amygdala und zum limbischen System. Olfaktorische Eindrücke haben also schnellen und direkten Zugang zu Zentren der emotionale Bewertungen unserer Umgebung. Emotionale Reize lösen hier direkt efferente vegetative Reaktionen aus und können natürlich das Myofaziale Organ ent- oder verspannen. Gute Düfte entspannen, deshalb sollten Öle im Therapieeinsatz angenehm riechen. Auch andere „exotische“ Therapien, wie z. B. Klangschalen, haben eine Wirkung, sonst würden sie sich nicht so lange in der Therapie halten. Wahrscheinlich wirken die Vibrationen der auf den Körper aufgebrachter schwingender Metallschalen direkt auf die Pacini-Rezeptoren, die reflektorisch-relaxierende Reaktionen auslösen. Sicherlich haben auch Klänge großen Einfluss auf das Myofasziale Organ, wie überhaupt alle angenehmen Sinneswahrnehmungen. Deshalb sollte man auch möglichst alle Sinne des Patienten in die Therapie mit einbeziehen. In Abb. 6.1 sind die Therapieformen über ihre Ansatzpunkte sortiert dargestellt. Zukünftige Untersuchungen werden zeigen, ob diese Auffassung so stimmt. Der Einsatz von Lokalanästhetika scheint direkt durch eine Anästhesie von Nocizeptoren zu wirken. Ich behandle damit auch meist die tonisierte Faszienkette, indem ich Triggerpunkte oder Myogelosen direkt anspritze. Dazu bevorzuge ich Bubivacain vor Xylocain, weil es lange wirkt. Procain nehme ich hingegen gar nicht, da die Substanz häufig allergische Störungen provoziert. Sehr häufig sind myogelotische Symptome nach ein- bis zweimaliger Chirotherapie und mit der Behandlung der auslösenden Störung behoben. Die Genesung sollte am besten nach behobener Ursache schnell, innerhalb einer Woche erfolgen. Ist dies nicht der Fall, muss der Patient physiotherapeutisch mitbehandelt werden. Ich denke, hartnäckige Myogelosen, die nach Beseitigung der Ursache weiter bestehen, beruhen auf neurologisch gebahnten Fehlsteuerungen. Die Myogelose ist quasi „erlernt“. Um das zu korrigieren, reicht nicht alleine Chirotherapie, diese Störungen müssen durch mobilisierende Techniken normalisiert werden und sollten dann auch nach spätestens 4 Wochen verschwunden sein. Leider herrscht

Abb. 6.1  Überblick über Therapieansätze am Myofaszialen Organ

Direkte Therapieansätze: • Manuelle Therapieformen • Gezielte Bewegung • Ultraschall ? • Elektrotherapie (TENS) ?

Rezeptor Therapieansätze: • Manuelle Therapieformen: • Ostheopathie • Klinea • Massage • Schröpfen • Chirotherapie • Akupressur/ Akupunktur • Lokalanästhetika • Vibrationen • Gezielte Bewegung (Yoga) • Elektrotherapie (TENS)

Indirekte Therapieansätze: • Gerüche • Klänge • Mentale Techniken (Autogenes Training etc.) • Temperatur • Psychopharmaka • Opioide/Cannabis • Muskelrelaxantien ( zentrale)

Myofasziales Organ: • Muskeln • Faszien • Bindegewebe

Ruffini-Körperchen: Druck, Dehnung

Golgi-Organ: Tensionsmessung

Vater-Pacini-Körperchen: Vibration, Beschleunigung

Relaxierung über Reflexe

Relaxierung über zentrale Efferenzen

52 6  Therapie des Myofaszialen Organs

6  Therapie des Myofaszialen Organs

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bei Ärzten noch immer ein „krankengymnastisches“ Bild der Physiotherapie vor. Klassische Gymnastik mag vielleicht dem Muskelaufbau bei postoperativer Muskelatrophie befördern, für die Behandlung des Myofaszialen Organs ist sie ungeeignet. Bei hartnäckigen Myogelosen muss der Physiotherapeut manipulierende Techniken anwenden, der Patient ist dabei passiv. In meiner Praxis rezeptiere ich auf 95 % der ausgestellten Physiotherapierezepte „manuelle Therapie“, nur ein sehr kleiner Teil der Patienten benötigt Krankengymnastik. Natürlich ist ein gymnastisch trainierter, elastischer Bewegungsapparat immer in jeder Hinsicht förderlich ist und selbstredend hat Gymnastik positiven Einfluss auf das Myofasziale Organ, in der akuten Phase einer myofaszialen Störung bringt sie wenig. Da es in unserer multimedialen Welt anachronistisch wäre, Techniken in Prosa und Fotos zu beschreiben, zeigen wir alle hier angesprochenen Vorgehensweisen auf unserer Seite www.myofaszial.eu in Videos.

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Fallbeispiele

Inhaltsverzeichnis 7.1 Winkelfehlsichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 7.2 „Wachstumsschmerzen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 7.3 Narbenstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 7.4 Zahnherd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 7.5 Ovarialzyste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 7.6 Kieferfehlstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

7.1 Winkelfehlsichtigkeit Folgender Patient (*1971), Landwirt, positive Borreliose-Serologie, litt über Jahre an chronischen Rücken- und Knieschmerzen. Häufig gab er auch Sehstörungen mit Mouches volantes an und dem Gefühl, durch einen Schleier zu sehen. NMR LWS und Knie erbrachten keine Diagnose. 2017 wurde der Patient nach einer Voruntersuchung mittels Yoked Prism Glasses in meiner Praxis von einem erfahrenen Optometristen mit einer Prismenbrille versorgt, die die Winkelabweichung ausgleicht. Seither ist der Patient beschwerdefrei. Seltsamerweise hatten all seine drei Geschwister chronische Symptome mit Kopfschmerzen und Migräne. Alle drei wiesen Winkelfehlsichtigkeiten auf und waren nach entsprechender Brillenversorgung beschwerdefrei. Es ist bei der optometristischen Behandlung unbedingt erforderlich, den Patienten Übungen an die Hand zu geben, um die zentralnervöse Adaptionsphase an den neuen, dreidimensionalen Seh-Eindruck zu verkürzen, ansonsten kommen Patienten oft schlecht zurecht (Abb. 7.1).

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Eichinger und K. Klink, Myofasziale Schmerzen und Funktionsstörungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59506-0_7

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7 Fallbeispiele

Abb. 7.1  Der Patient zeigt ohne Brille einen deutlichen Schulterschiefstand rechts, mit einer Seitneigung des Kopfes nach links. Beide Fehlhaltungen verbessern sich allein durch das auf­ setzen der Sehhilfe deutlich

7.2 „Wachstumsschmerzen“ Sehr häufig finden sich Kinder mit oft gravierenden Schmerzen in meiner Praxis ein. Oft beschränken sich die Schmerzen auf die unteren Extremitäten. Natürlich muss an orthopädische Krankheitsbilder, wie M. Perthes, M. Scheuermann, Hüftschnupfen gedacht werden, meist reicht aber eine deblockierende Maßnahme, um die Diagnose einer Myogelose zu sichern und zu therapieren (Abb. 7.2, 7.3 und 7.4).

7.3 Narbenstörung Folgende Patientin (43 Jahre) leidet seit der Extirpation eines Leberhämangioms unter chronischen Rückenschmerzen. Wegen eine gleichzeitigen posttraumatischen Belastungsstörung nach einer Vergewaltigung mit 18, entwickelte sie ein Fibromyalgiesyndrom mit einem Chronique-Fatique-Syndrom. Zeitweise nahm die Patientin Oxycodon 2 × 20 mg, was nur eine insuffiziente Schmerzreduktion bewirkte. Psychotherapie und Antidepressiva brachten auch keine Entlastung. Hilfreich war letztlich nur die konsequente Manualtherapie mit regelmäßigen Narbenentstörungen durch Mobilisierung und Injektion von Lokalanästhetika. Das Chronique-Fatique-Syndrom besserten sich erst durch den Einsatz eines Canabinoids (Dronabinol, 0–0–5 Tropfen) deutlich (Abb. 7.5).

7.4 Zahnherd

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Abb. 7.2  Dieser Junge (6 Jahre) kann das rechte Bein wegen Sprungelenksschmerzen, die nach dem Aufstehen plötzlich auftraten, nicht belasten. Es zeigten sich dann Blockaden C2, C5, T1, L1,S1 und eine Kiefergelenksblockade. Sicherlich war die Ursache hier psychosomatisch, weil die Mutter zwei Tage vorher eine Reha-Maßnahme für drei Wochen angetreten hatte. Nach einer chirotherapeutischen Deblockierung kann sofort wieder belastet werden und auch der Schulter­ hochstand ist besser. Die Störung lag an einer Hypertension der faszialen Kette vom PK bei nächtlichem Bruxismus über OTK (Schulterhochstand) und letztlich dann SK mit Aktivierung des Tensors faszia lat., die dann zu den Sprunggelenksschmerzen führte. Der Patient war nach zwei Stunden komplett beschwerdefrei

7.4 Zahnherd Zu sehen ist ein Odontopantomogramm (OPG) eines Patienten (72 Jahre), der seit 6 Monaten an einer ausgeprägten Achillodynie mit Schwellungen litt. Die Region war von orthopädischer Seite bereits mit Kortikoiden angespritzt worden, außerdem hatte er Einlagen erhalten, die die Situation aber nicht verbesserten. Die Kortikoidinjektionen dämpften die Symptomatik immer nur für drei bis vier Tage. Bei der Untersuchung zeigte sich eine Myogelose im PK über die rechten Mm. pterygoidei mit einer rechts lateralen Kette zum SK. Eine eingeleitete Manualtherapie erbrachte auch keinen nachhaltigen Erfolg, verbesserte die Schmerzen aber

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7 Fallbeispiele

Abb. 7.3  Dieses Mädchen klagte ebenfalls über Beinschmerzen, die plötzlich nach dem Auf­ stehen bestanden. Sie war in den letzten Wochen deutlich gewachsen. Initial zeigt sich eine Beinlängendifferenz von ca. 1 cm. Um diese festzustellen, lege ich einfach die Daumen auf die beiden Maeolli med. und lasse die Patientin aufsitzen. Es kommt bei Blockaden zu einer funktionellen Beinlängendifferenz, die niemals durch „ausgleichende“ Einlagen behandelt werden darf, weil diese eine egalisierenden Steuerung verhindern

Abb. 7.4   Gezielte Deblockierung von L4, S1. Danach sofortige Normalisierung der ­Beinlängendifferenz

7.4 Zahnherd

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Abb. 7.5  Fehlhaltung der Patientin mit Schultertiefstand rechts, durch die Narbenstörung im uTK mit faszialer Kette nach unten und oben. Rechts die Narbe im Bereich des uTK

immerhin immer über fünf bis sechs Tage. Da sich die Symptomatik vom PK auszubreiten schien, ließ ich ein OPG anfertigen. Hier zeigte sich ein Herd an einer Wurzelfüllung im vierten Quadranten. Allgemein finden sich asymptomatische Zahnherde oft an Wurzelfüllungen. Dies liegt an der Schwierigkeit, einen Wurzelkanal überhaupt steril zu behandeln. Ich schätze die Versagerquote von Wurzelfüllungen, selbst bei bester und akribischer Behandlung, auf 20 %. Da besagte Zähe denerviert sind, scheint es immunologisch an Abwehr zu fehlen. Typischerweise machen solche Herde Spannungskopfschmerzen und häufig Achillodynien und Fersenschmerzen über Hypertensionen der Wadenloge und der Plantaraponeurose. Nach Extraktion des beherdeten Zahnes und des Weisheitszahnes daneben war der Patient nach drei Sitzungen Physiotherapie vollkommen und nachhaltig beschwerdefrei. Übrigens gibt es keine Seitengleichheit von Zahnherd und Folgesymptomen. Auch hier war der Herd rechts, die Achillodynie jedoch links (Abb. 7.6 und 7.7). Zahnherde müssen nicht zwangsläufig septisch sein. Auch Druckbelastungen bei Stress oder Bruxismus führen zu Kieferostitiden, weil Zähne auf Druck vom Kiefer weg verlagert werden. Diese Verlagerung geschieht über eine aseptische Knochenresorption, die ebenfalls eine Kieferostitis mit ihren Folgen am Myofaszialen Organ bedeutet. Oft fallen bei Patienten mit psychomotorischen Problemen und Bruxismus massive Abrasionen der Zähen auf (Abb. 7.8).

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7 Fallbeispiele

Abb. 7.6  Herd am 47er mit Aufhellung um die Wurzelspitze als Zeichen einer beginnenden Zyste. Daneben liegt auch noch ein Weisheitszahn, der am Geschehen beteiligt sein könnte

Abb. 7.7  Hier die Region vergrößert mit den Aufhellungen um die Spitze an 47, als Ausdruck der Kieferostitis

7.5 Ovarialzyste Folgende Patientin (55 Jahre) kam hinkend mit deutlicher Coxalgie links, die seit zwei Wochen bestand, in die Praxis. Es zeigte sich ein freies Hüftgelenk, allerdings bestanden isolierte Blockaden in L1 bis L5 und S1. Dies ist immer ein Hinweis für eine Störung im SK. Die Patientin hatte 2015 eine Hysterektomie, was Adhäsionen nach sich ziehen könnte, die oft zu Störungen im SK führen und

7.6 Kieferfehlstellungen

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Abb. 7.8  Patientin mit chron. Schulterarmsyndrom und Tendovaginitiden am rechten Unterarm. Es finden sich massiven Abrasionen. Die Eckzähen sind auf eine Linie mit der Zahnreihe verschliffen. Die Patientin profitierte von Amitryptillin 12,5 mg zur Nacht und einer Aufbissschiene, die den nächtlichen Beißdruck etwas besser verteilte

Myogelosen auslösen. Bei dieser Patientin fand sich dann im Ultraschall eine 37 mm große Ovarialzyste mit einem deutlich verkalkten Ovar. Nach Deblockierung war die Patientin für eine Woche beschwerdefrei, dann baute sich die Myogelose erneut auf. Erst nach laparoskopischer Ovarektomie war die Patientin wieder anhaltend ohne Symptome (Abb. 7.9, 7.10 und 7.11).

7.6 Kieferfehlstellungen Dieses Mädchen (12 Jahre) kam wegen Ohrenschmerzen rechts. Es war bereits am Vortag bei einem Kollegen gewesen, der das Trommelfell wegen Cerumen nicht einsehen konnte, aber vorsichtshalber ein Antibiotikum rezeptierte, was die Mutter aber nicht gegeben hatte.

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7 Fallbeispiele

Abb. 7.9  Patientin mit ca. 2 cm Beinlängendifferenz bei Blockaden im SK. Die Hüfte zeigt sich dabei frei, obwohl die Beschwerden zunächst wie die Folgen einer Coxarthrose wirken

Abb. 7.10  Im Ultraschall findet sich ein verkalktes Ovar mit einer 37 mm großen Zyste

Nach Entfernung des Cerumens zeigte sich ein reizloses Trommelfell. Auffällig war die deutliche Prognathie und der Schulterhochstand rechts. Fünf Tage zuvor sei die Zahnspange nachgestellt worden (Abb. 7.12). Die Untersuchung zeigte dann Blockaden in C2, C5, T1/2/3 und des rechten Kiefergelenks. Dies sind häufige Befunde bei kieferorthopädischen Behandlungen. Oft reagieren die Kinder mit Spannungskopfschmerzen oder Otalgien, i. R. der Umstellung im PK. Nach Deblockierung, vor allem auch der Kaumuskulatur, waren die Ohrenschmerzen sofort weg. Wichtig erscheint mir auch die Bedeutung von Cerumen. Ein Pfropf kann durchaus eine Irritation im PK bedeuten und Vertigo, Otalgien und Kopfschmerzen bedingen (Abb. 7.13, 7.14, 7.15 und 7.16).

7.6 Kieferfehlstellungen

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Abb. 7.11  Nach Deblockierung ist die Beinlängendifferenz aufgehoben. Nachhaltigkeit wurde bei der Patientin erst nach Ovarektomie erreicht, wobei die Histologie bereits Zellatypien des Ovars erbrachte

Abb. 7.12  Prognathie und Schulterhochstand recht mit Otalgie ebenfalls rechts

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7 Fallbeispiele

Abb. 7.13  Manipulation am M. masseter erfolgt mit der Fingerbeere lateral des Unterkiefers in der Tasche zwischen Wange und Knochen. Man federt den Masseter dabei sanft nach hinten

Abb. 7.14  Mobilisation des Kiefergelenks über federnde Zugbewegungen nach vorne unten, Zugrichtung parallel zur Zahnreihe

7.6 Kieferfehlstellungen

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Abb. 7.15  Die Mobilisation des M. pterygopalatinus erfolgt wieder mit der Fingerbeere des Zeigefinger, die man hinter dem harten Gaumen platziert und den Muskel wieder federnd nach cranial bewegt

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7 Fallbeispiele

Abb. 7.16  Deblockierung der Halssegmente. Bei allen Manipulationen darf keine Kraft ­angewendet werden. Alles muss sanft geschehen, sperrt sich der Patient, sollte man warten bis er ­entspannt

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Das Knotenmodell aus physiotherapeutischer Sicht – Das KLINEA-Konzept

Seit über zwanzig Jahren bin ich Physiotherapeutin. Wie die meisten meiner Kollegen, habe auch ich in dieser Zeit zahlreiche Fortbildungen besucht. Wenn ich mit Kollegen ehrliche Gespräche über das Thema „Fortbildungen“ führe, so kommen wir immer zum selben Ergebnis: aus jeder – oft teuren – Veranstaltung fischte man sich einige wenige Techniken heraus, die in der alltägliche Arbeit gute Dienste leisten. Oft könnte man diese „Quintessenzen“ der Fortbildungen wesentlich schneller lernen und auf zeitfressenden Ballast komplett verzichten. Den meisten Lehrinhalten und Schulungsströmungen fehlen schlüssige Konzepte, in denen die gelernten Behandlungstechniken strukturiert Erklärung finden und zu schlüssigen Behandlungsstrategien führen. Idealerweise sollte ein alltagstaugliches, prag­ matisches Konzept aus den Essenzen sämtlicher dieser Fortbildungen bestehen, ohne künstlich aufgebauscht und verkompliziert zu werden. Ich habe deshalb die KLINEA-Technik entwickelt. Das Konzept sollte vor allem folgendes leisten: • Sicherstellung eines einheitlichen Behandlungsniveaus vom Berufseinsteiger bis hin zum erfahrenen Therapeuten im Team. • Die Befundung genauso zielorientiert und effizient zu strukturieren, wie die Behandlung, sodass die Idee der Behandlungsstrategie von jedem im Team leicht zu verstehen ist und auch noch nach langer Zeit nachvollzogen werden kann. • Die Ressourcen eines ausgestellten Rezeptes sollten optimal genutzt werden und der Patient beim Verlassen der Praxis eine positive Veränderung spüren. Mit Erreichen dieser Ziele schafft man nicht nur Zufriedenheit beim Patienten, sondern auch beim verordnenden Arzt, dem behandelnden Therapeuten und dient schlussendlich durch Kostenersparnis auch der Allgemeinheit. Im folgenden Teil dieses Buches wird das KLINEA-Konzept nur in seinen Ansätzen zusammengefasst beschrieben. Es finden sich hier also kaum detaillierte Behandlungsstrategien. Vielmehr soll das funktionelle Denkmuster, mit dem © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Eichinger und K. Klink, Myofasziale Schmerzen und Funktionsstörungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59506-0_8

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8  Das Knotenmodell aus physiotherapeutischer …

Physiotherapeuten arbeiten, dargestellt werden. Eine ausführliche Version des KLINEA-Konzepts wird demnächst in einem separaten Buch von Springer veröffentlicht. Während Ärzte vorwiegend im Knotenbereich arbeiten und akute Beschwerden behandeln, erfasst das KLINEA-Konzept neben den Knotenbereichen auch die Funktionsketten (=Faszienketten) dazwischen. Diese Ketten sind oft maßgeblich in die Beschwerden eingebunden und müssen mitbehandelt werden. Das Modell geht davon aus, dass sämtliche akut auftretende Symptome ihre Ursache in Knoten haben. Werden diese nicht zeitnah auch dort behandelt, reagiert der Körper mit kompensatorischen Mechanismen, die uns aus dem Lot bringen. Dies führt wiederum zu Schonhaltung und Störungen der Funktionsketten. Im KLINEA-Konzept spielt das Lot eine tragende Rolle. Im Stand durch die Körpermitte gefällt, wird das Lot häufig als „statisch“ fehlinterpretiert. Es sollte dem Patienten immer möglich sein, sich bequem ins Lot zu bringen, da in dieser Position am wenigsten Energie aufgewendet werden muss. Es reicht jedoch bereits, den Lotzustand kurzzeitig zu passieren, um dem Myofaszialen Organ zur Regeneration und Detonisierung zu verhelfen und Pathologien so zu vermeiden. Nur wenn unser Organismus in seiner Dynamik immer wieder Lotdurchgänge erfährt, die oft nur Teile des Ganzen durchlaufen, bleibt er insgesamt im Lot und blockadefrei. Erlangt der Spielerarm eines Tennisspielers beispielsweise während des Bewegungsablaufes im Spiel nicht immer wieder das Lot, balanciert also den Arm in der Dynamik aus, so muss er vermehrt Kraft aufwenden, was zu einer schlechteren, kraftaufwendigen Technik und mit der Zeit zu Verspannung, Myogelosen und letztlich zu Überlastungssyndromen mit Tendinitiden und Insertionstendopathien führt.

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Die Befunderhebung in KLINEA

Durch die allgemeine Dynamik unseres Körpers verbietet sich eine statische Befundung und Therapie. Deshalb ist es wichtig, den Patienten schon vor Betreten des Behandlungsraumes – wenn er noch nicht damit rechnet, „befundet“ zu werden – zu beobachten. Man kann so im Vorfeld der eigentlichen Befundung folgendes beurteilen: Wie sitzt ein Patient im Wartebereich, wie erhebt er sich, wie läuft er, wie entkleidet er sich? Aus diesen Eindrücken lassen sich erste Schlüsse über die momentane Haltung und Geschmeidigkeit des Bewegungsapparates von Patienten ziehen. Bewegt sich der Patient z. B. eher hölzern, ist davon auszugehen, dass Störungen in den Funktionsketten schon länger persistieren. Diese wichtigen ersten Beobachtungen werden notiert, um sie zur Rebefundung im Therapieverlauf hinzuziehen zu ­können. Wie im ärztlichen Teil des Buches bereits beschrieben, arbeitet auch KLINEA mit dem hilfreichen Knotenmodell, welches durch die Erfassung von Kraft-/ Spannungs-Vektoren dazwischen ergänzt wird. Durch diese Darstellung in der Befundung spart sich der Therapeut zeitaufwendige wortreiche Beschreibungen, denn durch Vektoren werden dreidimensionale Achsenabweichungen verständlich dargestellt. Diese Art der Darstellung wird von sämtlichen beteiligten Therapeuten intuitiv verstanden. Die Vektoren werden durch Pfeile veranschaulicht, wobei man zwischen Störungen innerhalb der einzelnen Knoten und den Bereichen dazwischen differenziert. Im Gegensatz zur ärztlichen Sicht spielen in der Physiotherapie vor allem der Kalotten-, Sakral- und Fußknotenknoten eine tragende Rolle im Myofaszialen Organ. Befindet sich im Fußknoten eine Störung, so hat das unweigerlich Folgen auf die aufsteigende Funktionskette und muss primär mit behandelt werden. Störungen im Kalottenknoten provozieren weitergeleitete Fehlinformationen nach caudal, sodass im Sakralknoten ein weiterer physiotherapeutischer Fokus liegt. Störungen im Sakralknoten sind vor allem auch deshalb so schwerwiegend, weil hier der Körperschwerpunkt liegt, der sich direkt auf die individuelle Lothaltung auswirkt. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Eichinger und K. Klink, Myofasziale Schmerzen und Funktionsstörungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59506-0_9

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9  Die Befunderhebung in KLINEA

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Jeder einzelne Knoten kann für sich alleine eine Funktionsstörung haben. Dies wird nachfolgend als „Stauchung“ und „Hypertension“ benannt. Die gestauchte Seite ist im Befund auch als „kurze Seite“ erkennbar, auf der gegenüberliegenden Knotenseite zeigt sich das als Hypertension. Das geschieht mittels zwei Pfeilen, die sich an der Spitze treffen (Abb. 9.1). Da einer gestauchten Seite immer eine Hypertensionsseite gegenüberliegt, genügt es, die gestauchte Seite zu markieren. Veranschaulichen möchte ich das Modell von Stauchung und Hypertension mithilfe eines Bogens, dessen gestauchte Seite der Sehnenseite entspricht, die Hypertension, also Spannungsseite, entspricht der konvexen Seite des Bogens. Lässt die Spannung der Bogensehne nach, entspannt sich gleichermaßen das Bogenholz. Zieht man jedoch an der Sehne, nimmt die Spannung des Bogens sofort zu. Myofasziale Gelosen können auf beiden Seiten bestehen, der Schmerz tritt allerdings überwiegend auf der Hypertensionsseite auf. Bei einem stark kyphotischen Patienten bedeutet das, dass seine Schmerzen zwar meistens dorsal, also im Bereich des Scheitelpunktes der Krümmung, auftreten, diese Spannung aber rasch nachgibt, sobald der ventrale Thorax Entspannung findet. Die Therapie erfolgt also häufig auf der gegenüberliegenden Seite des Schmerzes (Abb. 9.2).

Hypertension

Abb. 9.1  Darstellung einer Störung im Knoten im Befund

Stauchung

9  Die Befunderhebung in KLINEA

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Abb. 9.2  Beispiel Büroarbeiter. Während bei einer kyphotischen Belastungshaltung ventral eine Stauchung entsteht, gerät die Hypertensionsseite unter Spannung. Im Lauf der Zeit nimmt die Mobilität der ventralen Faszienkette ab und der Patient schafft es nicht mehr sein funktionelles Lot bequem zu erreichen. Auch Kräftigungsübungen der dorsalen Rumpfmuskulatur führen hier zu keinem dauerhaften Erfolg. Vielmehr ist hier das Lösen der ventralen Faszienkette durch einen Therapeuten indiziert. Anschließende kräftigende Maßnahmen, die der Patient weiterführen soll, runden die Behandlung ab

Pathophysiologische Betrachtung aus Sicht des Physiotherapeuten

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In der Physiotherapie wird im Wesentlichen mechanisch am und im Bindegewebe gearbeitet. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Wirkungsweise der Therapie tatsächlich rein mechanisch ist. Ich glaube nicht. Das Myofasziale Organ ist hochkomplex auch neurologisch in alle Körper­ funktionen eingebunden, Physiotherapie wirkt also sicher nicht „nur“ mechanisch. Sämtliche Strukturen unseres Körpers wie Muskulatur, Organe, Nerven, Blutgefäße etc. sind bindegewebig umhüllt. Um jeder unserer alltäglichen Bewegungen folgen zu können, müssen diese Strukturen zwar verbunden sein, jedoch gleichzeitig geschmeidig gegeneinander gleiten können, um ihre Funktion nicht einzubüßen. Dies geschieht mittels Faszien, die durch ihre seröse Benetzung gleitfähig gehalten werden. Nimmt die Gleitfähigkeit der Faszien ab, etwa durch den natürlichen Alterungsprozess, Fehlhaltung oder Bewegungsarmut, so entstehen Gelosen oder Verklebungen im Gewebe. Die Wirkungsweise von mobilisierenden Techniken in der Physiotherapie ist also vermutlich nicht ausschließlich, wie es häufig vermutet wird, dem Mobilisieren einer einzelnen fazialen Struktur zuzuschreiben, vielmehr werden durch Verschiebetechniken Rezeptoren angesprochen. Diese Rezeptoren regen vermutlich die Produktion von Flüssigkeit der serösen Häute an und verbessern somit die Mobilität verschiedener Faszien gegeneinander. Auch mobilisierende Techniken an Wirbel- und Rippengelenken scheinen ­neurologische Reaktionen hervorzurufen, da sich die Wirkung sofort in einer verbesserten Verschieblichkeit des myofaszialen Systems zeigt. Wahrscheinlich werden vegetative Efferenzen aktiviert, die für eine Regulierung der Gewebespannung des Myofaszialen Organs sorgen. Die definierten Knoten im Befundungs- und Therapiekonzept stellen also ­neurologische Schlüsselzentren dar, von denen aus dazwischenliegende Funktionsketten beeinflusst werden. Diese Faszienketten werden physiotherapeutisch immer mitbehandelt.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Eichinger und K. Klink, Myofasziale Schmerzen und Funktionsstörungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59506-0_10

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10  Pathophysiologische Betrachtung aus Sicht des Physiotherapeuten

In unserer täglichen Praxis hat es sich bewährt, Störungen in Knotenbereichen zunächst ärztlich abzuklären. Beispielsweise sollte nach Schilddrüsenpathologien gefahndet werden, wenn rezidivierende Blockaden im zervikalen Knoten auf­ treten. Wenn physiotherapeutische Maßnahmen an der LWS erfolglos bleiben, sind genauere Untersuchungen im kleinen Becken dringend erforderlich. Deshalb ist eine enge, vertrauensvolle Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen Ärzten und Physiotherapeuten und allen anderen beteiligten Therapeuten immer zwingend erforderlich.

KLINEA-Befundung

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Inhaltsverzeichnis 11.1 Sichtbefundung im Stand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 11.2 Schnelle, aussagekräftige Praxistests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 11.2.1 Abgewandeltes Derbolowsky-Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 11.2.2 Testung der Beinketten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 11.2.3 Zehentest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

Vor jedem Befund wird eine Anamnese erstellt. Dann folgt die:

11.1 Sichtbefundung im Stand Der Patient wird nur mit Unterwäsche bekleidet auf zwei Personenwaagen gestellt, dabei steht jeder Fuß auf einer Waage. Die Anzeigen der Waagen zeigen jeweils nach außen, um das Ergebnis gut ablesen zu können. Nun wird der Patient aufgefordert bequem zu stehen und einen Punkt vor sich zu fixieren. Verwickelt man den Patienten in ein kurzes Gespräch, entspannt er sich schneller und findet seine individuelle Entspannungshaltung. Um Haltungspathologien besser zu erkennen, werden mehrere Lote gefällt: in der Frontalebene zwischen der Mitte des Hinterkopfes und dem Promotorium am Os sacrum sowie an den Beinen jeweils vom Tuber ischiadicum zur Mitte des Calcaneus (Abb. 11.1). So werden Referenzen geschaffen, die die Beurteilung der einzelnen Knoten erleichtern. Der Fokus liegt darauf, jeden Knoten auf Stauchung und Hypertension in den verschiedenen Ebenen zu beurteilen. Da jeder Stauchung automatisch eine Hypertension gegenüberliegt, notiert sich der Therapeut ausschließlich die Stauchungsseite mittels zweier Pfeile, die sich an der Spitze treffen (Abb. 11.2 und 11.3). © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Eichinger und K. Klink, Myofasziale Schmerzen und Funktionsstörungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59506-0_11

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11  KLINEA- Befundung

Abb. 11.1  Lote der Frontalebene

Im KLINEA-Konzept spielen neben den Knoten auch die internodalen Kraftvektoren, die über Faszienketten wirken, eine zentrale Rolle. Ich finde hier das evidenzbasierte Tensegrity-Modell sehr hilfreich. Nachfolgend sind zwei Auszüge aus diesem Modell in Grafiken dargestellt (Abb. 11.4 und 11.5). Finden sich am Patienten also auch zwischen den Knoten Stauchungen, werden diese ebenfalls mittels Pfeile gekennzeichnet. Zeigt sich beispielsweise bei einem Patienten (Abb. 11.6) rechtsseitig ein steilerer Winkel im Taillendreieck, so befindet sich die Stauchung rechts zwischen dem unteren thorakalen Knoten und dem Sakralknoten.

11.1  Sichtbefundung im Stand a

77 b

Rechter Fußknoten Ansicht dorsal im Lot

Rechter Fußknoten Ansicht ventral lateral gestaucht

Abb. 11.2  Befundung und Dokumentation mit Stauchung und Hypertension am Fußknoten

Die Befundung von lateral erfolgt analog (Abb. 11.7). Anschließend wird die Gewichtsdifferenz der beiden Waagen angesehen. Anfangs schwanken einige Patienten, da sie häufig ein Gefühl des „Nachgebens“ auf den Waagen haben. Nach kurzer Zeit ist es den meisten möglich, ruhig zu stehen. Ansonsten registrieren wir ein Mittel aus dem Schwankungsbereich und notieren dies. Wir räumen einen Toleranzbereich von ca. 3 % des Körpergewichtes als Differenz ein. Bestehen höhere Seitendifferenzen, liegt ein behandlungswürdiger Befund vor, da der Patient zu sehr aus dem Lot ist. Der Waagentest ist auch ein hervorragendes Mittel, den Therapieverlauf zu kontrollieren. Kapitelzusammenfassung: Schnelle Befundungstest für Ärzte und Physiotherapeuten

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11  KLINEA- Befundung

Abb. 11.3  Patient mit lateral gestauchten Fußknoten

11.2 Schnelle, aussagekräftige Praxistests In der KLINEA-Behandlung spielen drei Knoten eine besondere Rolle: • Der Kalottenknoten als höchster Punkt. • Der Sakralknoten als Zentrum unseren funktionellen Lotes. • Der Fußknoten als tiefster Punkt, der die gesamte Körperlast trägt. Vor allem diese drei Knoten geben nahezu permanent Informationen ans myofasziale Organ weiter. Weist der Fußknoten beispielsweise eine Stauchung auf, leitet er bei jedem Schritt eine Fehlinformation nach cranial über die faszialen Beinketten weiter, was zu Dysbalancen in den darauffolgenden Knoten führt. Um herauszufinden, welcher Knoten behandlungsbedürftig ist, und wie in der Behandlung die Prioritäten gesetzt werden sollten, verwenden wir drei wichtige Tests. Die Durchführung beansprucht in der Praxis nicht mehr als drei Minuten.

11.2.1 Abgewandeltes Derbolowsky-Zeichen Zur Erfassung von Störungen im Sakralknoten und Kalottenknoten Wenn nachfolgend von einer Beinlängendifferenz (BLD) gesprochen wird, ist eine funktionelle Beinlängendifferenz gemeint, die nicht mit einer anatomischen

11.2  Schnelle, aussagekräftige Praxistests

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Abb. 11.4  Oberflächliche ventrale fasziale Funktionskette nach dem Tensegrity-Modell

(z. B. nach Frakturen) verwechselt werden darf. Blockaden im Sakralknoten lassen häufig ein Bein kürzer erscheinen, weil das Becken ein Bein nach oben zieht. Die Längendifferenz ist also rein funktionell. Der Patient befindet sich in Rückenlage (RL). Der Therapeut steht am Kopfende und beurteilt zunächst die Hüftrotation mittels der Fußstellung des Patienten, Asymmetrien sind bereits ein Hinweis für Blockaden im SK und sollten im Verlauf der Therapie verschwinden (Abb. 11.8). Anschließend umfasst man von unten die Sprunggelenke und legt die Daumen auf die Malleoli mediales, dann weist man den Patienten an, beide Beine zur Brust zu ziehen, um eine Neutralstellung des Beckens zu erreichen. Hat der Patient seine Beine wieder abgelegt, wird an beiden Malleoli mediales die Beinlänge des

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11  KLINEA- Befundung

Abb. 11.5  Oberflächliche dorsale fasziale Funktionskette nach dem Tensegrity-Modell

Patienten beurteilt. Nun soll sich der Patient in den Sitz aufrichten und die Beinlänge/Differenz wird erneut beurteilt (Abb. 11.9). Das Aufsitzen wird erneut wiederholt. Bei diesem Mal wird der Patient angewiesen, während der Bewegung die Zähne zusammenzubeißen, um das Kiefergelenk zu provozieren. Auch danach wird das Ergebnis der Beinlängen notiert. Beurteilung des Tests  Funktionelle Beinlänge in Rückenlage – Aufrichtung in den Sitz

b

Abb. 11.6  Rechtsseitige Stauchung zwischen dem unteren Thorakalknoten und dem Sakralknoten, rechts die Darstellung im Befund

a

11.2  Schnelle, aussagekräftige Praxistests 81

82

11  KLINEA- Befundung

Abb. 11.7  Lot in der Befundung von lateral

• Jegliche Veränderung des Ergebnisses (egal welche Veränderung, es kann auch sein, dass eine vorherige Beinlängendifferenz im Sitz plötzlich ausgeglichen ist!) bedeutet eine Störung im Sakralknoten (z. B. eine Blockade des Sacrums oder eines ISG’s). • Keine Veränderung des Ergebnisses machen eine Beteiligung des Sakralknotens unwahrscheinlich. Funktionelle Beinlänge in Rückenlage – Aufrichtung in den Sitz mit Provokation des Kiefergelenkes

11.2  Schnelle, aussagekräftige Praxistests

83

Abb. 11.8  Linkes Bein über Hüftrotation nach links gedreht

Abb. 11.9  Handhaltung beim abgewandelten Derbolowsky-Zeichen

• Jegliche Veränderung des Ergebnisses bedeutet eine Störung des Kalotten- oder Pharyngealknotens. • Keine Veränderung des Ergebnisses macht eine Störung des Kalotten- oder Pharyngealknotens unwahrscheinlich (Abb. 11.10).

Positiv

Ausschluss einer Talusblockade

Therapiebeginn cranial

Kiefer betroffen?

Becken betroffen?

Abb. 11.10  Strukturiertes Untersuchungsorganigramm der KLINEA-Technik

Beinkettentests

Negativ

Derbolowski-Zeichen abgewandelt

Sichtbefund mit Beurteilung der Knoten und Vektoren

Stauchung des Fußknotens?

Therapiebeginn caudal

Welche Beinkette ist betroffen?

Ist der Kieferbereich betroffen? (abgewandeltes Derbolowski-Zeichen)

Wo findet sich eine Stauchung zwischen Karlottenknoten und oberen Thorakalknoten? (im Sichtbefund)

84 11  KLINEA- Befundung

11.2  Schnelle, aussagekräftige Praxistests

85

11.2.2 Testung der Beinketten Der Patient liegt in Rückenlage, die Arme befinden sich seitlich neben dem Körper. Nun gibt der Therapeut Druck auf die oberen Sprunggelenke in Richtung Plantarflexion und federt am Endpunkt elastisch nach, um die Flexibilität im Seitenvergleich zu testen. Reagiert eine Seite mit einer Bewegungseinschränkung oder federt in der Endposition nicht nach, gilt diese ventrale Beinkette als auffällig (Abb. 11.11).

Abb. 11.11  Passive Plantarflexion der Sprunggelenke bei Testung der Beinkette

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11  KLINEA- Befundung

Ebenso verfährt der Therapeut in Dorsalextension. Zeigt sich hier eine Seitendifferenz, so wird auf der betroffenen Seite das Knie ca. 30 Grad flektiert, um die dorsale Faszienkette auszuschalten, und der Test wird wiederholt. Bleibt eine reduzierte Dorsalextension, so gehen wir von einer Talusblockade aus. Diese wird gelöst und erneut in Knieflexion und -extension getestet. Wenn der Patient nach wie vor eine einseitige Einschränkung der Dorsalextension zeigt, ist von einer erhöhten Spannung der dorsalen Beinkette auszugehen. Um die mediale und laterale Faszienkette der Beine zu testen, bleibt die Ausgangsstellung gleich. Der Therapeut umgreift beide Calcanei lumbrikal (Abb. 11.12), hebt sie etwas von der Unterlage ab und bewegt die unteren Sprunggelenke in Pronation und Supination. Im Seitenvergleich wird klar, ob jeweils die mediale oder die laterale Beinkette behandlungsbedürftig ist (Abb. 11.12).

Abb. 11.12  Lumbrikalgriff zur Beurteilung der Beinketten

11.2  Schnelle, aussagekräftige Praxistests

87

11.2.3 Zehentest Ein weiterer Test zur Beurteilung der Beinketten ist der Zehentest. Auf jede Zehe wird eine maximale Traktion ausgeübt. Eine Blockade liegt vor, wenn durch die Traktion keine Separation der Zehen-Gelenkflächen möglich ist. Sind die Gelenke unauffällig, lassen sie sich minimal auseinanderziehen. Der Test ist gleichzeitig Therapie, denn mit dem Manöver lassen sich die Zehen einzeln deblockieren, was häufig als ein helles Knackgeräusch wahrnehmbar ist. Ergebnisse des Zehentests: Blockade der Metatarsale IV und V: laterale Beinkette ist affiziert Blockade der Metatarsale I und II: mediale Beinkette ist affiziert Blockade des Metatarsale III: dorsale oder ventrale Beinkette ist affiziert

KLINEA-Therapie

12

Wie alle manualtherapeutischen Behandlungsmethoden, ist auch die KLINEATechnik ein deblockierendes, mobilisierendes Verfahren. Mit den Fingerspitzen, dem proximalen Interphalangealgelenk (PIP) und teilweise auch mit der Ulnarkante des Unterarmes werden Faszien gedehnt, mobilisiert und Myogelosen gelöst. Wer täglich jahrelang eine Vielzahl von Patienten „handmade“ behandelt, läuft Gefahr, sich durch diese Belastung arthrotische Veränderungen in den Fingergelenken zuzuziehen. Besonders gefährdet sind die Daumensattelgelenke. So bekam auch ich nach 15 Jahren in der Therapie Probleme mit meinen Fingergelenken. Ich konnte phasenweise keinen vollen Teller mehr tragen. Auch manche Behandlungen am Patienten konnte ich nur unter Schmerzen durchführen. Aus diesem Grund entwickelte ich ein Behandlungstool, den „Klimmi“, mit dem die KLINEA- Behandlung überwiegend durchgeführt wird, um den Therapeuten zu schonen. Der Klimmi besteht aus medizinischen Silikon und ist in zwei verschiedenen Härtegraden erhältlich. Das Material fühlt sich auf der Patientenhaut so natürlich an, dass der Patient es nicht von der Therapeutenhand zu unterscheiden vermag. Auch die Sensitivität des Therapeuten bleibt im Gegensatz zu Behandlungshilfen aus Holz oder Metall voll erhalten. Der unschlagbare Vorteil des Klimmis aber ist, dass er nicht wie ein Stift von Fingern festgehalten werden muss, sondern einfach in die trockene Handfläche des Therapeuten gelegt wird. Die Hauptbelastung verteilt sich bei der Behandlung also auf das deutlich stabilere Handgelenk. Die Druckintensität wird über den Einsatz des Körpergewichtes ­reguliert. Um den Klimmi im Gewebe des Patienten gleitfähig zu machen, ist es notwendig, Lotion oder Massageöl zu verwenden. Die Therapeutenhand muss dabei völlig trocken bleiben (Abb. 12.1). Ein entscheidender Vorteil des KLINEA-Konzepts ist die klare Strukturierung, nach der sich ein Therapeut richten kann. Nach der Durchführung der o. g. Tests hat sich der Therapeut einen Überblick des myofaszialen Organs seines Patienten verschafft und kann direkt zur Behandlung übergehen. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Eichinger und K. Klink, Myofasziale Schmerzen und Funktionsstörungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59506-0_12

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12 KLINEA-Therapie

90 Abb. 12.1  Therapiehilfe Klimmi im Einsatz

Vorgehensweise der KLINEA- Therapie in Kurzform: Die Behandlung beginnt entweder cranial am Karlottenknoten absteigend bis zum Sakralknoten oder distal am Fußknoten aufsteigend bis zum Sakralknoten. Wurde eine Beteiligung des Sakralknotens bestätigt, findet dieser gegen Ende der Behandlung Beachtung, da er das Zentrum unserer funktionellen Statik bildet. Deshalb sollte er erst korrigiert werden, wenn es den distalen Strukturen möglich ist, das funktionelle Lot bequem zu erreichen. Die Behandlung in den Knoten beginnt immer an der gestauchten Seite, richtet sich also nach dem Sichtbefund. Hier wird erst ein Verschieblichkeitstest des Gewebes in verschiedene Richtungen und in verschiedenen Tiefen vorgenommen. Die eingeschränkte Richtung ist gleichzeitig die Behandlungsrichtung. Bei diesem Test spürt der Therapeut in der eingeschränkten Richtung nicht nur einen Widerstand im Gewebe, sondern häufig auch Krepitationen und knotenartige Veränderungen. Hierbei handelt es sich um Verklebungen oder in mancher Literatur ist auch von „Verfilzungen des Bindegewebes“ die Rede, letztlich handelt es sich aber um Spielarten von Myogelosen. In der Wahl der Mobilisationstechnik ist der Therapeut frei. Schiebetechniken mit den Fingerkuppen, den PIP’s oder mithilfe z. B. des Klimmis oder Roll- und Kneifgriffe sind nur einige Beispiele der Möglichkeiten. Hat sich die Verschieblichkeit erkennbar verbessert, wird die Stauchung im benachbarten Knoten oder die affizierten internodalen Faszienketten ebenfalls behandelt.

12 KLINEA-Therapie

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Ein typischer Behandlungsverlauf bei einer aufsteigenden Problematik, ausgelöst durch eine mediale Stauchung des Fußknotens wäre beispielsweise: I. Plantarfaszie II. Lösen einer Talusblockade III. Mediales Gleitlager Achillessehne IV. Übergang Achillessehne – Gastrocnemius V. Ischiocrurale Faszien VI. Fasziale Strukturen rund um das Gesäß z. B. M. piriformis, M. obturatorius etc. Lässt sich in einem Areal kaum eine Verbesserung erzielen, kehrt man zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal zu diesem Knoten oder Vektor zurück. Häufig ist dann schon vor einer erneuten Mobilisierung eine bessere Verschieblichkeit feststellbar, da oftmals weiter entfernte verklebte Strukturen eine Verbesserung verhindert haben. Kurz vor Beendigung der Therapie geht der Therapeut auf den Sakralknoten ein. Dieser Teil der Behandlung wird bewusst detaillierter geschildert, da sich im Sakralknoten, genauer im Promotorium unser Schwerpunkt befindet, der sich maßgeblich auf das funktionelle Lot auswirkt. War beim abgewandelten Derbolowsky-Zeichen eine Störung des Sakralknotens auffällig, so stellt sich die Frage, wo sich im Sichtbefund die Stauchungsseite zeigte. Eine Flexion der Hüftgelenke im Stand mit einer Hyperlordosierung der unteren LWS wird z. B. als ventrale Stauchung definiert. In diesem Fall wird die ventral verlaufende Nierenfaszie in Rückenlage behandelt, nachdem mithilfe des Verschieblichkeitstests die Behandlungsrichtung festgelegt wurde. Eine Entspannung der Nierenfaszie zeigt sich u. a. darin, dass der Abstand zwischen der LWS des Patienten und der Behandlungsliege geringer wird (Abb. 12.2). Nun folgt die Korrektur des Beckens in Bauchlage. Vorher sollte dringend ein Gleittest der LWS vorgenommen werden. Ist die LWS nicht in der Lage zu extendieren, so provoziert man mit einer Sakrummobilisation in Nutation einen Gleitwirbel L5/S1. Bei diesem Test wird Druck auf den Dornfortsatz L3-5 senkrecht der Lordosekrümmung ausgeübt. Gleitet dieser sanft in Extension, kann die Behandlung fortgesetzt werden. Ist ein Segment nicht fähig in Extension zu gleiten, so wird es mobilisiert, sonst ist eine Sakrummobilisation kontraindiziert (Abb. 12.3). Anschließend folgt der Ischiocruraltest in Bauchlage: der Patient winkelt ein Bein ca. 45 Grad an. Der Therapeut gibt am Calcaneus Druck gegen die Knieflexion, bis er das Kraftniveau des Patienten erreicht hat und erhöht kurzzeitig den Druck. Diesen Druck sollte ein gut funktionierender Muskel standhalten. Krampfneigung wird ebenfalls als Schwäche ausgelegt. Reagiert die Muskulatur mit Schwäche, ist der Test auf dieser Seite positiv. Ist der Test beidseits positiv, handelt es sich um eine Blockade des Sakrums. Zeigt sich ausschließlich eine einseitige

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Abb. 12.2  Mobilisation der Nierenfaszie im Bereich des Beckenkamms Abb. 12.3  Gleittest der LWS in Extension

12 KLINEA-Therapie

12 KLINEA-Therapie

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Schwäche, ist von einer ISG-Blockade auszugehen. Ein kurzer Impuls des Iliums in eine Mobilisationsrichtung, z. B. anterior und ein sofortiger Re-Test zeigt, ob die Behandlungsrichtung stimmt. Genauso wird mit dem Sakrum verfahren. So können schnell und zuverlässig sämtliche Behandlungsrichtungen des Beckens ausgetestet werden. Während der abgewandelte Derbolowsky-Test zeigt, ob das Becken eine Funktionsstörung aufweist, zeigt der Ischiocruraltest, wo sich die Blockade befindet und in welche Richtung reguliert werden muss. Nach der entsprechenden Mobilisation von Sakrum und/oder ISG, wird das Ergebnis mit dem Ischiocruraltest überprüft. Erst wenn beide Beinflexoren dem Druck und Nachdruck problemlos standhalten können, ist das Becken frei von Blockaden. Nach einer abgeschlossenen Behandlungseinheit werden alle Tests noch einmal durchgeführt. Sie sollten in der Rebefundung direkt im Anschluss der ersten Behandlung alle deutlich verbessert, im Idealfall sogar unauffällig sein. Die Gewichtverteilung zwischen rechts und links muss nach einer Behandlung nicht zwingend ausgeglichen sein. Es wird vielmehr durch die Spannungsregulierung für den Körper eine Möglichkeit geschaffen, in den verschiedenen Ebenen sein funktionelles Lot wiederzufinden. War eine Region des Patienten bei der Behandlung besonders auffällig (wobei ich unter „auffällig“ eine Anhäufung von Myogelosen verstehe), wird die Eigenmobilisation dem Patienten als Hausaufgabe mitgegeben. Hier ist die Kreativität des Therapeuten gefragt. Aus Erfahrung ist die angeleitete Anwendung von weicheren, strukturdurchzogenen Faszienrollen nützlich, auch ein Korken kann ­ zur Mobilisation der Plantarfaszie verwendet werden. Bei punktuellen Eigenbehandlungen, z. B. an den Beinen, hat sich der Klimmi als geeignetes Hilfsmittel erwiesen. Regelmäßige Streckübungen bei sitzender Tätigkeit und ausreichend Bewegung als Ausgleich in der Freizeit sollten von Therapeuten als nützliche Tipps lieber einmal zu oft weitergegeben werden. Wie mit sämtlichen Strukturen im Körper gilt auch beim Myofaszialen Organ: „use it or loose it.“

Patientenbeispiel

13

Inhaltsverzeichnis 13.1 Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 13.2 Sichtbefund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 13.3 Schnelltests . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 13.4 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 13.5 Rebefunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

13.1 Anamnese 28-jährige Patientin, abwechslungsreiche Arbeit, Hobbys: Standardtanz, joggen und (eher selten) klettern. Z. n. Tonsillektomie und Appendektomie im Kindesalter. Der Appendektomie ging eine hochakute Appendizitis voraus. Die Patientin konnte 8 Monate keinen Sport treiben. Beschwerden: • Seit 9 Monaten Schmerz in rechter Achillessehne, auch in Ruhe, beim Tanzen zieht Schmerz am Gastrocnemius entlang bis zur Kniekehle • Beim Tanzen Instabilitätsgefühl im linken Kniegelenk • Schmerz rechtes ISG seit 4 Jahren • Unspezifische Magen-Darm-Beschwerden (ärztlich abgeklärt, Diagnose: Reizdarm) seit 4 Jahren • Schmerz und Spannungsgefühl rechtes am Okziput, in den Nacken aus­ strahlend seit 2 Jahren Vor ½ Jahr suchte die Patientin einen Orthopäden auf, um ihre Achillessehne behandeln zu lassen, nach 3 Kortisoninjektionen brach die Patientin die Therapie ab, da keine Verbesserung spürbar war. Lokale physiotherapeutische Techniken blieben damals ebenfalls erfolglos. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Eichinger und K. Klink, Myofasziale Schmerzen und Funktionsstörungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59506-0_13

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13 Patientenbeispiel

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Vor 4 Monaten stellte sich die Patientin bei Dr. Eichinger vor. Nach einer ­ hirotherapie an LWS/Becken und HWS verlagerte sich der Schmerz vom ISG C in die rechte Leistengegend, wenn die Bauchmuskulatur aktiviert wurde. Die restlichen Beschwerden besserten sich unwesentlich. Nach einer Unterspritzung der Appendixnarbe mit Bupivacain und einer erneuten Chirotherapie besserten sich die Beschwerden an der Achillessehne und der Leiste um 40 %, die restlichen Beschwerden blieben nahezu unverändert. So stellte sich die Patientin in unserer Praxis zur KLINEA-Behandlung vor.

13.2 Sichtbefund Waagentest, es zeigt sich eine Seitendifferenz von ca. 14 % des Körpergewichts (Abb. 13.1, 13.2, 13.3 und 13.4)

25kg

18kg

Abb. 13.1  Dorsaler Sichtbefund mit Dokumentation im Knotenmodell: Stauchung zwischen Pharyngealknoten und oberen thorakalen Knoten links, Stauchung zwischen unteren Thorakalknoten und Sakralknoten links und laterale Stauchung des rechten Fußknotens. Die Gewichtdifferenz wird als Referenz dokumentiert

13.4 Therapie

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Abb. 13.2  Die rechte Gesäßfalte sitzt deutlich tiefer als die linke

13.3 Schnelltests Nach dem Sichtbefund begab sich die Patientin in Rückenlage. Hier zeigte sich eine deutliche Außenrotation des rechten Hüftgelenks. Der abgewandelte Derbolowsky-Test machte deutlich, dass es sich um eine Störung im Sakralknoten und Kalottenknoten handelt. Der Beinkettentest ergab eine Beteiligung der ventralen und lateralen Beinkette re > li. Auch das Lösen der Talusblockade rechts brachte kein verbessertes Ergebnis. Der Zehentest bestätigte dieses. Die stark eingeschränkte Mobilität der Beinfaszien rechtfertigt den Verdacht einer aufsteigenden Symptomatik, weshalb die Therapie zwar caudal beginnt, der Fokus sich aber später auf den Sakralknoten richtet.

13.4 Therapie • Faszienlösen der – ventralen und lateralen Beinketten bis zum Sakralknoten. – Kopfschwarte bis zur suboccipitalen Muskulatur. – ventralen Thoraxfaszie mit Zwerchfell. – linken lateralen Thoraxfaszie im Bereich des M. quadratus lumborum. • Manualtherapeutische Mobilisation des zervikothorakalen und thorakolumbalen Übergangs in Extension. Hat der Körper durch eine ventrale Faszienlösung die Möglichkeit, sich besser aufzurichten, müssen der zervikothorakale und der thorakolumbale Übergang diese neu gewonnene Beweglichkeit auch zulassen können.

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13 Patientenbeispiel

Abb. 13.3  Sichtbefund von lateral mit Dokumentation im Knotenmodell. Dorsale Stauchung zwischen Kalottenknoten und oberen pharyngealen Knoten, zwischen oberen und unteren Thorakalknoten ventral, im unteren Thorakalknoten ventral, im Sakralknoten dorsal und im ventralen Knieknoten

Danach ergab der Zwischentest auf den Waagen nur noch eine Differenz von 4 kg. • Aufgrund der Anamnese wurde die Appendixnarbe manuell auf Verschieblichkeit getestet. Die cranio-mediale Richtung war sowohl in den oberflächlichen als auch in den tiefen Schichten eingeschränkt und wurde mitbehandelt. • Im Ischiocruraltest zeigte sich eine deutliche Schwäche beidseits. Nach der Behandlung des Sakrums in Nutation war nur noch eine Schwäche der rechten Seite auffällig. Nachdem das rechte ISG in die anteriore Richtung mobilisiert wurde, war der Ischiocruraltest beidseitig negativ.

13.5 Rebefunde

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Abb. 13.4  Die Waagen zeigen eine Gewichtsdifferenz von 7 kg, wobei die linke Seite mehr belastet wird

13.5 Rebefunde • Ischiocruraltest bds.: negativ (beide Beinflexoren zeigten keine Schwäche mehr) • Abgewandeltes Derbolowsky-Zeichen: negativ. (Beinlängendifferenz war mit und ohne Kieferprovokation ausgeglichen) • Beinkettentest: negativ (beide Fußgelenke zeigten in keiner Richtung mehr Einschränkungen) (Abb. 13.5, 13.6 und 13.7) Nach 3 Wochen nahmen wir wie vereinbart Kontakt auf und die Patientin ­berichtete mir, dass nach der Behandlung kein Leistenschmerz und kein Nackenschmerz mehr aufgetreten sei, die Achillessehnenbeschwerden waren nur noch in Bewegung spürbar, in Ruhe war der Schmerz verschwunden. Die Magen-Darm-­ Symptomatik reduzierte sich laut Patientin um nur ca. 30 %. Nach weiteren 3 Wochen informierte mich die Patientin erneut über den aktuellen Stand ihres Gesundheitszustandes. Die Magen-Darm-Symptomatik sei gleich geblieben. Seit zwei Wochen sei der Schmerz in ihrer Achillessehne weg, was sie zu einem ersten Lauftrainingsversuch veranlasste. Nach dem Lauf machte sich ein leichtes „Wimmern“ in der Achillessehne bemerkbar, welches 3 h anhielt. Außerdem gab sie an, dass sich ihr Laufstil „runder“ anfühlte. Erst jetzt berichtete sie

100 Abb. 13.5  Die Stauchungen in den Knoten und den Vektoren wurden fast vollständig aufgelöst

Abb. 13.6  Die Gesäßfalte befindet sich beinahe wieder im Lot

13 Patientenbeispiel

13.5 Rebefunde

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Abb. 13.7  Die Waagen zeigten sich am Ende der Behandlung völlig ausgeglichen. Die Patientin bekam die Aufgabe, sich die Narbe regelmäßig zu mobilisieren und Übungen in die Aufrichtung in den Alltag einzubauen

von einer bisherigen Asymmetrie beim Joggen, die nach der Behandlung verschwunden sei. Das Tanzen würde für sie und ihren Partner in der nächsten Saison weitergehen.

Nachwort

Wir hoffen mit diesem Buch ein wenig zum Verständnis und der Behandlung von Myogelosen beigetragen zu haben. Die Häufigkeit der Erkrankungen des Myofaszialen Organs sollte zwingend zu einem wichtigen Thema in der Ausbildung von Ärzten und Physiotherapeuten werden. Wir sind guter Dinge, diese Entwicklungen noch zu erleben.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Eichinger und K. Klink, Myofasziale Schmerzen und Funktionsstörungen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-59506-0

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Hinweis

Viele diagnostische und therapeutische Abläufe sind in Demonstrationsvideos viel einfacher zu erfassen. Sie finden dieses auf unserer Website unter www.myofaszial.eu.

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Stichwortverzeichnis

A Abrasion, 27 Achillodynie, 95 Allergie, 27 Atopie, 30 B Befundung, physiotherapeutische, 69 Beinkette, 85 Beinlängendifferenz, 28, 78 Bindegewebe, 11 Bisskorrektur, 44 Bruxismus, 59 C Cannabinoide, 45 Chirotherapie, 41, 49 Complianceänderung, 22 D Depression, 26 Derbolowsky-Zeichen, 78 Dispersion, dilatante, 50 E Ellenbogenknoten, 20 Ernährungsempfehlung, 46 F Faszienkette, 21, 68 Fibromyalgie, 44 Funktionskette, 68 Fußknoten, 20, 38, 78

G Gelose, myofasziale, 5, 9 Gewölbestruktur, 14 Golgi-Sehnenorgan, 49 H Handwurzelknoten, 20 Hypertension, 23, 70 Knoten, 70 K Kalottenknoten, 15, 34, 43, 78 Kieferfehlstellung, 61 Kieferostitis, 44, 59 Klangschale, 51 Klimmi, 89 KLINEA, 67 Methode, 69 Klineatherapie, 5, 89, 90 Knieknoten, 20, 37 Knoten, 14 oberer thorakaler, 18, 35, 45 peripherer, 47 pharyngealer, 15, 17, 34, 44 sakraler, 19, 37, 42, 47 Stauchung, 70 unterer thorakaler, 19, 35, 45 Kollagenfaser, 50 L Lokalanästhetikum, 51 Lot, 22, 76 Lotdurchgang, 22 Lothaltung, 69 Lumbrikalgriff, 86

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108 M Maßnahme, manualtherapeutische, 49 Migräne, 44 Mobilisieren, 73 N Narbenstörung, 56 Nocizeptor, 22

Stichwortverzeichnis Stresshormon, 12 Syndrom, funktionelles, 1 T Tensegrit, 76 Trizyklikum, 44 V Vektor, 69

O Organ, myofasziales, 5 P Pacini- und Ruffini-Körperchen, 12 Pelvic-Congestion-Syndrom, 30

W Waage, 75 Waagentest, 77 Wachstumsschmerz, 56 Wallenbergsyndrom, 50 Winkelfehlsichtigkeit, 43, 55 Wurzelfüllung, 59

R Ruffini-Körperchen, 49 Y Yoked Prism Glasses, 43 S Sakralknoten, 78, 91 Schröpftherapie, 51 Spastik, 50 Stauchung, 70

Z Zahnherd, 57 Zehentest, 87